Fallstudien zum Produktionsmanagement

Klaus Bellmann/Frank Himpel Fallstudien zum Produktionsmanagement

Klaus Bellmann/Frank Himpel

Fallstudien zum Produktionsmanagement

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Univ.-Prof. Dr. Klaus Bellmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Produktionswirtschaft und Direktor des Center of Market-Oriented Product and Production Management der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dr. Frank Himpel ist Habilitand am Lehrstuhl für Produktionswirtschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz.

1. Auflage 1984 1. Auflage 1977 .

1. Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Susanne Kramer / Renate Schilling Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Ulrike Weigel, www.CorporateDesignGroup.de Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-409-14299-1 ISBN-13 978-3-409-14299-1

Vorwort

Allein im Jahr 2005 erschienen im deutschsprachigen Raum rund 150 neue Lehrbücher zum Themenfeld Produktionsmanagement. Dies zeigt, wie breit dieses Gebiet in die (außer-)universitäre Ausbildung diffundiert ist. Ein größerer Teil der Lehrbücher fokussiert auf operativ-quantitative Optimierungsmethoden, ein weiterer Teil beschäftigt sich schwerpunktmäßig durchaus auch mit strategisch-qualitativen Inhalten und Zugängen. Und nun gibt es auch ein neues Fallstudienbuch zu diesem Thema! Unsere Absicht ist in erster Linie, Studierende mit diesem Arbeitsbuch zum eigenen diskursiven Denken anzuregen, ihre Problemlöse- und Entscheidungskompetenz zu verbessern sowie das in formalisierten, theoriebeladeneren Lehrveranstaltungen dargebotene Wissen konkret "am Fall" anwenden zu lassen. Wir können und wollen mit unserem Buch also kein grundständiges Fachlehrbuch ersetzen. Betriebswirtschaftliche Ausbildung ist nicht nur graue Theorie und modellbeladene Abstraktion. Sie ist genauso auch Anwendung am realen Fall, damit das relevante Handwerkszeug umfassender erlernt werden kann. Und: Die Gestaltung eines Fallstudienbuchs vollzieht sich nicht ohne zahlreiche Kompromisse. Eine Fallstudie fokussiert immer auf einen spezifischen Situations- bzw. Problemausschnitt. Dieser kann dem einen Betrachter bzw. Bearbeiter zu eng, dem anderen zu weit gefasst sein. Dem Einen sind die dargebotenen Informationen zu ausdifferenziert, dem Anderen viel zu aggregiert. Gerade in der Findung einer für die eigene Problemlösung als geeignet erscheinenden "Systemgrenze" sowie eines als relevant erachteten Aggregationsniveaus liegt aber bereits eine lernbezogene Durchmusterungsleistung, die wir dem Bearbeiter bewusst nicht abnehmen möchten. Denn: Praxisprobleme sind selten vorstrukturiert, geordnet und auf dem "richtigen" Aggregationsniveau in der "richtigen" Systemgrenze formuliert. Praxisprobleme sind häufig nur durch eine "Milchglasscheibe" erfassbar, und die genaue Analyse von Ursache-Wirkungs-Beziehungen sowie die präzise Formulierung von Entscheidungen zur Problemlösung läuft oftmals nicht geradlinig und auf den ersten Blick auch nicht unmittelbar überschaubar ab. Wir erinnern hier an die Metapher des Schachspielers von Dietrich Dörner und das von ihm aufgezeigte Problemlöseverhalten in komplexen Situationen. Der Umgang mit solchen Problemen tut anfänglich vielleicht sogar weh. Weil die Problemlösung aufwendig, schwierig zu erarbeiten und mühsam zu begründen ist. Aber gerade in dem Prozess des "Sich-Durchbeißens" durch einen Fall in kritisch-diskursiver Argumentation und in der Erarbeitung von Lösungszugängen sehen wir eine wichtige Kompetenz für zukünftige Führungskräfte. Wir glauben durchaus, dass die Arbeit mit diesem Buch Mühe bereitet und in gewisser Weise auch anstrengend sein sollte. Wobei das US-amerikanische Prinzip des "work hard'n play hard" andererseits aber auch V

Vorwort

nicht zu vernachlässigen ist. Soll heißen: Wir hoffen, dass Ihnen die Arbeit mit den skizzierten Unternehmensstories aber auch Spaß macht. Das sollte unseres Erachtens zumindest so sein. Um beim Stichwort Praxis zu bleiben: Dieses Buch ist nicht im wissenschaftlichen Elfenbeinturm entstanden. Es haben daran zahlreiche wissenschaftsnahe Praktiker mitgearbeitet bzw. uns Einblicke in ihre realen Gegenstandsbereiche gewährt. Ebenso wurden wir von praxisnahen Personen aus der Welt der Wissenschaft unterstützt. Bedanken möchten wir uns besonders bei Dr.-Ing. René Haak, Werner Neunzig, Frank Sieren und Dr. Jochen Wittmann. Wir bedanken uns in diesem Kontext ebenso herzlich bei Nadine Bischof, Cordula Blank, Christopher Blümlein, Matthias Brechtel, Florence Buscke, Ruth Evers, Kim Fehlinger, Jana Flemke, Thomas Fredenhagen, Jessica Gepel, Sascha Glees, Nina Gottesleben, Annika Heep, Oliver Langner, Jörn Laufersweiler, Tiantian Li, Dirk Christian Marschall, Alexander Mazur, Tanja Metz, Matthias Schweikhard, Silke Steiner, Martin Tag, Florian Winter und Jiaonan Zhu. Unser besonderer Dank gilt Thiemo Kohlsdorf und Jan Wirsam vom Mainzer Lehrstuhl - nicht nur für ihre Mitwirkung an diesem Lehrbuch, sondern auch für ihre Betreuung im Rahmen der Fallstudienseminare, die wir regelmäßig für unsere Seminaristen in Mainz veranstalten. Mit diesem Punkt haben wir es schon angesprochen: Sämtliche Fallstudien sind bereits im Markt "an Studierenden" und "durch Studierende" auf Bachelor-, Master- und Diplomniveau getestet und bearbeitet. Wir haben unsere Studierenden in Mainz, aber auch internationale Studierende im Rahmen diverser Gastaufenthalte an der SGH Warsaw School of Economics in Warschau und an der DUFE - Dongbei University of Finance and Economics in Dalian in der Volksrepublik China mit unseren Unternehmensstories konfrontiert. Die zum Teil doch immer wieder lebhaft geführten Diskussionen um Lösungszugänge in Mainz, Warschau und Dalian geben uns die Zuversicht, dass unsere Cases nicht nur Arbeit verursachen, sondern auch Spaß - wir haben das bereits angesprochen. Seien Sie also ob unserer Forderung nach anspruchsvollen Cases nicht verschreckt und lassen Sie es einfach einmal auf sich zukommen. Und: An dieser Stelle ist es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht "die" Lösung für eine Fallstudie gibt. Das kann und sollte auch gar nicht so sein. Wir werden im Rahmen des Einführungsteils noch genauer formulieren, warum das unseres Erachtens so ist. Noch ein technischer Hinweis: Die Fallstudien selbst sind zwar kapitelweise nummeriert. Das bedeutet aber nicht, dass sich aus der Nummerierung irgendeine Rangreihung, etwa von leicht nach schwer (oder umgekehrt) ableiten ließe. Ganz im Gegenteil. Wir setzen bewusst auf den Mix von leichteren und schwereren Fallstudien in bunter Sequenzierung. Insofern verstehen Sie die Nummern also bitte als Ordnungsmerkmal, das Ihnen insbesondere die Arbeit mit dem Lehrbuch und das Handling der Fallstudien erleichtern soll. Das Lehrbuch ist in vier Abschnitte unterteilt. Im Einführungsteil wird das Arbeiten mit Fallstudien thematisiert und exemplifiziert. In den nachfolgenden drei AbschnitVI

Vorwort

ten stehen die einzelnen Fallstudien jeweils in einem speziellen, primären Fokus. Das Wort "primär" zeigt es bereits: Im Grundsatz berühren die Cases überwiegend sowohl Fragestellungen zum Prozess- als auch zum Programm- und/oder zum Ressourcenmanagement. Diese Sichten sind idealtypisch nicht zu separieren. Sie sind vielmehr unterschiedliche Zugänge zu ein und demselben "Managementwürfel". Unser Arbeitsbuch versteht sich als Angebot an Sie. Über Ihre Nachfrage freuen wir uns. Wir wissen zudem aber auch, dass ein statisches Festhalten an einmal Bewährtem langfristig nicht angezeigt ist. Die Zeiten ändern sich, die Bedürfnisse von Menschen und die Anforderungen an Ausbildungsformate und -inhalte auch. Insofern bitten wir Sie um Ihre Rückmeldung. Wenn Ihnen beim Arbeiten mit den Unternehmensstories Aspekte auffallen, die Ihrer Meinung nach einer Verbesserung bedürfen, ganz gleich ob inhaltlicher oder didaktischer Art, so lassen Sie uns dieses bitte wissen. Wir sind dankbar für Ihren Input - und Ihre Meinung ist uns wichtig. Für Anregungen und Ähnliches erreichen Sie uns am besten per E-Mail. Unsere Kontaktkoordinaten lauten: Univ.-Prof. Dr. Klaus Bellmann [email protected] Dr. Frank Himpel [email protected] Johannes Gutenberg-Universität Mainz Professur für Produktionswirtschaft Jakob Welder-Weg 9 D-55128 Mainz www.produktionswirtschaft.bwl.uni-mainz.de Claudia Splittgerber und Susanne Kramer haben unser Projekt von Seiten des Verlags von Anfang an begleitet und unterstützt. In durchaus kritischer, diskursiver Diskussion haben wir dabei um das geeignete Format für dieses Buch gerungen. Wir sind letztlich für die Erfahrungen dankbar, welche von beiden eingebracht wurden - und wir sind beiden dankbar für die Realisierung dieses Projekts in dieser Form. Am Ende dieses "Vorspanns" möchten wir den Spannungsbogen nicht noch weiter dehnen. Wir wünschen Ihnen für Ihre Ausbildung einen guten Wirkungsgrad und für die Arbeit, die nun folgt, zunächst einmal kreativen "Biss" und Durchhaltevermögen. Wenn Sie nach dem Bearbeiten der Fallstudien einen verbesserten individuellen Zugang zum Umgang mit komplexen Problemsituationen entwickelt haben und daraus vielleicht auch erkennen, dass viele Probleme unserer Zeit sich eben gerade nicht isoliert, nicht sequentiell, nicht monokausal und nicht unidirektional lösen lassen (und das geht dann auch weit über das Thema Produktionsmanagement hinaus), dann haben wir unser persönliches Ziel mit dieser Veröffentlichung erreicht.

Mainz, im August 2006

Klaus Bellmann und Frank Himpel

VII

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ......................................................................... IV Teil A Einführung in das Arbeiten mit Fallstudien 1

Fallstudien als Analyseinstrument ............................ 3

2

Einführung zum Strategischen Produktionsmanagement.11

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel ................19

Teil B Prozessmanagement 1

Einführung zum Prozessmanagement .......................43

2

Die chinesische Spieltheorie..................................55

3

Reorganisation Reader’s Digest Switzerland ...............61

4

Köpfe zum Lesen und Schreiben .............................67

5

Einführung von Gruppenarbeit ...............................75

6

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan..........................................................85

7

Champagne......................................................97

8

Château Imperiale en Pauillac ............................. 113

9

Coffea .......................................................... 129

10

Nie mehr 2. Liga.............................................. 149

11

National preiswertes Markenbier .......................... 159

IX

Inhaltsverzeichnis

Teil C Programmmanagement 1

Einführung zum Programmmanagement .................. 167

2

Automobilhersteller ohne eigene Marke.................. 177

3

Sorgenfall Smart.............................................. 187

4

Handysparte in Not .......................................... 193

5

Generikahersteller unter Druck ............................ 203

6

So fühlt sich Pflege an....................................... 209

7

Gegenwind für Windkraft ................................... 215

8

Auf allen Feldern zu Hause ................................. 223

9

LifeFood AG ................................................... 231

10

Controlling im Produktionsverbund........................ 243

Teil D Ressourcenmanagement 1

Einführung zum Ressourcenmanagement.................. 255

2

Automobile made in Uusikaupunki.......................... 265

3

Die Brüder Tang oder eine Blase platzt .................... 273

4

Pharmaceuticals ............................................... 281

5

Luftfahrtbranche im Umbruch .............................. 289

6

Highnoon im Kampf der Antriebs-Systeme ................ 295

7

Der gesättigte Gipsmarkt .................................... 301

8

Biotechnologie 2000 - Zwerge und Big Pharma ........... 307

9

Produktionslogistik Airbus A380 ............................. 311

10 Logistik in Brasiliens Hinterland ............................ 317 11 Privatjets in Europa ........................................... 321 12 Personalmanagment mit Schmerzen ....................... 327

X

Teil A Einführung in das Arbeiten mit Fallstudien

1

1.1

Fallstudien als Analyseinstrument

Das Wesen von Fallstudien

Eine Fallstudie stellt eine kurze, sorgfältig arrangierte, realistische Unternehmensstory mit allen für einen bestimmten Sachverhalt relevanten qualitativen und quantitativen Informationen dar. Der wiedergegebene Sachverhalt lehnt sich im Allgemeinen an eine authentische Situation an und kann aktueller oder historischer Art und sehr unterschiedlichen Inhalts sein. Die Story ist gewöhnlich nicht nur beschreibend aufgebaut. Häufig werden zur lebendigen Darstellung besondere Stilelemente wie namentlich personalisierte Aussagen, Befunde oder Meinungen sowie Gespräche, Berichte aus Zeitungen oder anderer Medien aufgenommen. Die Darstellung führt meist auch nicht geradewegs auf das Problem hin. Deshalb ist der Fall fast immer mit vielen, auch nebensächlichen oder nebensächlich erscheinenden Informationen angereichert. Die Fallstudie kann auf einen oder mehrere Funktionsbereiche in einer Organisationseinheit fokussieren (bspw. Produktion, Marketing, Finanz, etc.) und rollt dann meist ein taktisch-operatives Entscheidungs-, Gestaltungs- und Handlungsfeld auf. Andererseits kann eine Fallstudie auch aus der Vogelperspektive von Vorstand, mittlerem Management (z.B. Produktionsleiter) oder auch einer externen Perspektive eine Unternehmenssituation beleuchten und wirft dann primär strategisch-taktische Problemstellungen auf. Fallstudien können hinsichtlich des geschilderten Sachverhalts und der geforderten Bearbeitung sehr unterschiedlicher Gattung sein. Sieht man von den weniger verbreiteten Arten ab, so lassen sich die Fallstudien in den meisten Fällen drei wesentlichen Klassen zuordnen:

Die problemorientierte Fallstudie Dieser Typus von Fallstudie stellt eine Problemsituation aus Sicht des mittleren oder oberen Managements mehr oder weniger differenziert dar. In der gegebenen Konstellation sind dann meist eine oder mehrere Entscheidungen im Sinne einer Problemlösung gefordert. 3

1

Fallstudien als Analyseinstrument

Manchmal liegen die Problemstellungen auf der Hand. In anderen Fällen lassen sich die Kernprobleme erst nach einer gründlichen Analyse der Sachlage identifizieren. Eventuell wird auch nach alternativen Lösungen gefragt. Eine problemorientierte Fallstudie kann jedoch auch so angelegt sein, dass die Problemlösung bereits Teil der Darstellung ist. Andererseits kann die Fallstudie auch lösungsoffen sein, so dass die Bearbeitung erfordert, ein oder mehrere Handlungsoptionen zu erarbeiten. In allen Fällen geht es jedoch darum, die Wirkungsspektren von Handlungen oder Handlungsoptionen analysieren und diskursiv aufzuzeigen, um Entscheidungsalternativen nachfolgend zu bewerten. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es nicht nur eine "richtige" Problemlösung gibt. Gewöhnlich erscheinen mehrere Entscheidungen sinnvoll und realisierbar. Der Wert der Problemlösung liegt auf der Ebene von Argumentation und Begründung. Das Lernziel besteht darin, die (vielfach taktisch-strategischen) Problemstellungen aus den Ausführungen zu erkennen oder herauszuarbeiten, Handlungsoptionen sowie -strategien in einem theoretischen oder konzeptionellen Bezugsrahmen zu entwickeln, zu begründen und zu bewerten.

Die informationsorientierte Fallstudie Typ I (Managementperspektive) Fallstudien dieses Typs präsentieren Informationen aus einer internen Organisationsperspektive wie bspw. aus Sicht des Vorstands oder einer mittleren Leitungsebene. Gewöhnlich wird eine spezifische Situation dargestellt, in der es darum geht, Unternehmenskultur und -organisation, Personalpolitik und -führung, Markt und Technologie, Methoden und Praktiken u.a.m. mehr oder weniger radikal zu verändern. Eine Problemlösung ist hier nicht gefordert. Das Lernziel besteht darin, die Unternehmensstrategie und -politik zu analysieren und herauszuarbeiten, wie die Organisationseinheit organisiert ist und wie diese operiert. Die dargestellten Handlungen und Strategien im Kontext sind anhand der angestrebten Organisationsziele und -stärken zu erkennen und zu verstehen. Hierzu sind Strategien und Entscheidungen zu analysieren und zu erklären. Im Kontext eines geeigneten theoretischen Bezugsrahmens sind Begründungen zu suchen, Wirkungsfelder von Entscheidungen zu identifizieren sowie Wirkungen in ihrer Breite aufzuzeigen.

4

Das Wesen von Fallstudien

Die informationsorientierte Fallstudie Typ II (Vogelperspektive) Im Unterschied zum vorgenannten Typus vermitteln Fallstudien dieser Art aus einer externen Beobachtungsperspektive Informationen über das Agieren eines Unternehmens. Hierzu werden aus einer Top-Down-Perspektive bspw. Geschäfte und Märkte, Unternehmensorganisation und -prozesse, finanzielle und technologische Ressourcen, Führungsstil und Unternehmenskultur eines Unternehmens oder einer Strategischen Geschäftseinheit sowie allgemeine Entwicklungstrends (z.B. Globalisierung, Fokussierung, Outsourcing, etc.) beschrieben. Es wird dargestellt, welche Entscheidungen getroffen und welche Managementpraktiken verfolgt wurden. Eine Problemlösung steht hier ebenfalls nicht in Diskussion. Das Lernziel besteht darin, Unternehmensorganisation und -prozesse aus ganzheitlicher Sicht und in ihrer Verflechtung mit dem Umfeld zu erkennen und zu verstehen. Zu diesem Zweck sind die Unternehmensprozesse, -aktivitäten und strategien zu analysieren und zu erklären. Vor einem theoretischen Hintergrund ist nach Gründen zu suchen, warum die Organisationseinheit gerade so gehandelt hat, wie sie gehandelt hat. Anhand der realistischen, spezifischen Unternehmenssituation sollen Studierende eigene Analysefähigkeiten entfalten und diese schärfen. So sollen sie lernen, eine geeignete Analysemethode zu suchen oder zu entwickeln. Nachfolgend ist dann die Methode anzuwenden, um Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, den Fall in geeigneter Weise zu strukturieren und in einen theoretischen Bezugsrahmen einzuordnen. Hierbei sollen sie lernen, die erworbenen theoretischen Kenntnisse auf reale Situationen anzuwenden und Lösungen für reale Probleme zu finden. Gewöhnlich ist das Ergebnis der Fallstudienbearbeitung in geeigneter Weise schriftlich oder in einem Vortrag zu präsentieren. Dies erfordert die strukturierte Darstellung der Analyseergebnisse mit essentiellen Zusammenhängen und soliden Argumenten. Obwohl gemeinhin von dem Lösen von Fallstudien gesprochen wird, ist diese Adjunktion in vielen Fällen nicht angebracht. Vielmehr geht es um die tief greifende Analyse eines Falls im Hinblick auf die Lernziele. Allein bei problemorientierten Fallstudien kann die Lösung für eine Problemstellung gefordert sein

5

1.1

1

Fallstudien als Analyseinstrument

1.2

Das Arbeiten mit Fallstudien

Die Analyse eines Falls erfordert gewöhnlich das mehr als einmalige, intensive Lesen des Textes. Der Bearbeiter sollte erkennen, warum der Autor gerade diesen Fall darstellt und welches Lernziel er damit verfolgt (s.o.). Als Leitfäden für die Analyse resp. das Lösen von Fallstudien bietet sich der in Tabelle 1-1 dargestellte Leitfaden an. Fallstudien stellen i.d.R. genügend Informationen zur Verfügung, um den Fall zu bearbeiten. Es ist ein Fehler, "kreativ" weitere Informationen hinzuziehen, die nicht in der Fallstudie vorgetragen werden, es sei denn, dies wird explizit gefordert. Ebenso ist das Bewerten von Sachverhalten, die nicht in der Fallstudie wiedergegeben sind, zu vermeiden. Der Bearbeiter sollte normative Aussagen vermeiden und nicht annehmen, dass allein seine Lösung die einzige "richtige Lösung" ist. Zur Analyse von Stärken und Schwächen als interne Variable einer Organisationseinheit sowie von Chancen und Risiken als externe Determinanten ist häufig die SWOTAnalyse (Strenghts, Weaknesses, Opportunities, Threats) eine geeignete Methode. Sie fußt darauf, dass die interne und externe Situation systematisch im Hinblick auf Potenziale hinterfragt werden. Tabelle 1-2 und Tabelle 1-3 zeigen beispielhaft Fragestellungen zur Fallanalyse in Form von Checklisten auf. Diese dürfen jedoch nicht als allgemeingültig gesehen werden. Vielmehr muss der Bearbeiter die Fragestellungen situativ anpassen und auch ergänzen. Das Lernziel beim Bearbeiten von Fallstudien liegt nicht nur im Analysieren und Strukturieren der dargestellten Sachverhalte und Geschehnisse, sondern insbesondere auch in der Herstellung des Bezugs zu einem theoretischen Hintergrund. Dieser Schritt soll den Bearbeiter dahin führen, den Fall auf einer theoretischen Metaebene zu abstrahieren, um den Wert theoretischer Konzeptionen und Methoden als entscheidungs- und handlungsleitende Instrumente im Kontext der Problemstellung zu begreifen. Aus der Vielzahl an Theorien, Ansätze und Konzeptionen, die einen theoretischen Bezugsrahmen aufspannen können, werden einzelne im Kontext der Einführungen zum Prozess-, Programm- und Ressourcenmanagement vorgestellt. Zur Vertiefung sei auf die einschlägige Literatur und die dort ausgewiesenen Quellen verwiesen.

6

Das Arbeiten mit Fallstudien

Tabelle 1-1:

Leitfaden zum strukturierten Vorgehen beim Bearbeiten von Fallstudien

Problemorientierte Fallstudie

Informationsorientierte Fallstudie Typ I (Managementperspektive)

Informationsorientierte Fallstudie Typ II (Vogelperspektive)

1. Situation verstehen

1 Situation verstehen

1. Situation verstehen

Informationen strukturieren und bewerten

Informationen strukturieren, relevante Informationsobjekte identifizieren

Informationen strukturieren, relevante Informationsobjekte identifizieren

2. Probleme diagnostizieren

2. Informationen analysieren

2. Informationen analysieren

Problem- u. Handlungsfelder separieren nach Wichtigkeit; Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken analysieren

Entscheidungen, Strategien, Handlungen erkennen und im Kontext verstehen, Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken analysieren

Unternehmensorganisation und -prozesse erkennen und im Kontext verstehen, Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken analysieren

3. Alternative Lösungsvorschläge entwerfen

3. Erklärungszusammenhänge aufsuchen

3. Erklärungszusammenhänge aufsuchen

Alternativen suchen und Lösungen entwickeln

Entscheidungen und Handlungen in einen theoretischen Bezugsrahmen einordnen

Entscheidungen und Handlungen in einen theoretischen Bezugsrahmen einordnen

4. Konsequenzen projizieren

4.Vorgehen und Verhalten begründen

4. Vorgehen und Verhalten begründen

Entscheidungen und Handlungen im Kontext von Zielen und vor theoretischem Hintergrund begründen

Prozesse und Aktivitäten im Kontext von internen und externen Faktoren vor theoretischem Hintergrund begründen

5. Alternativen/ Entscheidungen/Verhalten evaluieren

5. Wirkungsfelder identifizieren

5. Analyseergebnisse präsentieren

Pro- und Contra-Argumente sammeln, nach Möglichkeit (monetär) quantifizieren

(Potenzielle) Wirkungsfelder von Entscheidungen und Handlungen identifizieren und diskutieren

Erkenntnisse strukturieren, essentielle Zusammenhänge mit soliden Argumenten klar herausstellen

6. Abrunden der Analyse

6. Analyseergebnisse präsentieren

Wirkungen für alle Alternativen abschätzen

Ergebnis der Analyse in Form essentieller Punkte strukturiert darstellen und Aussagen mit soliden Argumenten klar herausstellen

Erkenntnisse strukturieren, essentielle Zusammenhänge mit soliden Argumenten klar herausstellen

7

1.2

1

Fallstudien als Analyseinstrument

Tabelle 1-2:

Fragestellungen zur Analyse organisationaler Stärken und Schwächen

Potenzielle (interne) Stärken

Potenzielle (interne) Schwächen

í Fertigungskompetenz?

í Steigende Fertigungskosten?

í Geeignete Fertigungslogistik?

í Sinkende Produktivität?

í F&E-Fähigkeiten und -führerschaft?

í Schlechte Fertigungslogistik?

í Breite Marktabdeckung?

í Sinkende Innovationsrate?

í Viele Produktlinien?

í Obsolete, enge Produktlinien?

í Fähigkeiten im Portfoliomanagement?

í Schlechter Marketingplan?

í Markenreputation?

í Schlechtes Logistiksystem?

í Gute Vermarktungsfähigkeiten?

í Verlust an Markenreputation?

í Differenzierungsvorteile?

í Verlust an Kundenvertrauen?

í Geeignetes Warenwirtschaftssystem?

í Schlechtes Portfoliomanagement?

í Erfahrungen im Aufbau eines neuen Geschäftsbereichs?

í Ungeeignetes Warenwirtschaftssystem?

í Kompetenz im Informationssystem? í Kompetenz im Personalmanagement? í Angemessener Führungsstil? í Angemessene Organisationsstruktur?

í Ungeeignetes Personal? í Ungeeignetes Informationssystem? í Richtungsloses Wachstum? í Verlust der Organisationsstruktur?

í Angemessenes Controlling-System?

í Rivalitäten zwischen Unternehmensbereichen?

í Gutes Finanzmanagement?

í Verlust der Unternehmenssteuerung?

í Fähigkeit zum Managen eines strategischen Richtungswechsels?

í Unangemessene Organisationsstruktur und unangemessenes Controllingsystem?

í Überzeugende Unternehmensstrategie? í Sonstige

í Hohes Konfliktpotenzial? í Schlechtes Finanzmanagement? í Sonstige

8

Das Arbeiten mit Fallstudien

Tabelle 1-3:

Fragestellungen zur Analyse umfeldbezogener Chancen und Risiken

Potentielle (externe) Chancen

Potentielle (externe) Risiken

í Kerngeschäft ausweiten?

í Angriff auf das Kerngeschäft?

í Neue Marktsegmente besetzen?

í Zunehmende Wettbewerbsintensität im Inland?

í Produktprogramm ausweiten? í Kosten- oder Differenzierungsvorteile nutzen? í In neues Geschäftsfeld diversifizieren? í In ausländische Märkte gehen? í F&E-Fähigkeiten in neuen Anwendungsfeldern einsetzen? í Markenwert in neuen Geschäftsfeldern einsetzen?

í Zunehmende Wettbewerbsintensität im Ausland? í Änderung der Kundengewohnheiten ? í Steigende Eintrittsbarrieren? í Konkurrenz durch neue oder Substitutionsprodukte? í Zunehmende Rivalität? í Neue Formen des Wettbewerbs?

í Neue Geschäftsverbindungen eingehen?

í Potenzial zur Übernahme?

í Vertikale Vorwärtsintegration?

í Gefahr für feindliche Übernahme?

í Vertikale Rückwärtsintegration?

í Zunahme des regionalen Wettbewerbs?

í Ausweiten des Unternehmensportfolios?

í Veränderungen in der Demografie?

í Eintrittsbarrieren überwinden?

í Veränderungen der Produktionsfaktoren?

í Wettbewerbsrivalitäten reduzieren? í Profitable Akquisitionen realisieren? í Schnell wachsende Märkte suchen? í Sonstige

í Drohender Konjunktureinbruch? í Steigende Arbeitskosten? í Verringertes Marktwachstum? í Sonstige

9

1.2

2

Einführung zum Strategischen Produktionsmanagement

Die in einem Unternehmen gewachsene Kultur und die von einem Unternehmen entfaltete eigene Sicht der Welt prägen immanent die Unternehmenspolitik. Die Unternehmenspolitik verkörpert somit eine konsensual entwickelte und gewachsene Grundorientierung, aus der sich globale Unternehmensziele für die nachhaltige Existenzsicherung im Wettbewerb ableiten. Das Erreichen der angestrebten Position im Markt bedingt, eine zielwirksame Wettbewerbsstrategie als Weg zum angestrebten Erfolg zu entwickeln. Die Umsetzung der Strategie vollzieht sich zum einen in den Funktionsbereichen des Unternehmens durch eine Vielzahl unterschiedlicher Gestaltungsprozesse, die zu konzipieren, zu strukturieren und aufeinander abzustimmen sind. Zum anderen erfordert der hohe Grad der internationalen Wertschöpfungsvernetzung erfahrungsgemäß auch die Integration von vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen in die strategische Planung. Die Aufgabe des strategischen Managements besteht darin, zunächst die Dimension des Gestaltungsfelds zu erfassen und in diesem Kontext sowohl die innerhalb des Zeithorizonts nicht beeinflussbaren exogenen Faktoren als auch die gestaltbaren Elemente zu erkennen. Die Managementaufgabe bezieht sich nicht allein auf die strategische Ebene, sondern wirkt auch auf taktischer und operativer Ebene. Typische Aufgabenfelder betreffen das Entwickeln zukunftsträchtiger Erfolgspotentiale, das Positionieren gegenüber Wettbewerbern und Unternehmensumfeld und das Suchen nach geeigneten Strategien unter Fokussierung auf die nutzbaren Potentiale und Ressourcen. Letztlich ist die ausgewählte Strategie als gedanklich ausgearbeiteter Weg in die Zukunft programmatisch festzuschreiben, die Umsetzung zu veranlassen, die Durchführung zu kontrollieren und die Zielerreichung zu sichern.

Dimension des Gestaltungsfelds Nach Porter determinieren die Elemente Absatzmarkt, Beschaffungsmarkt, Innovationen und Konkurrenz den Wettbewerb. Die vier Elemente unterliegen bezüglich ihrer Eigenschaften einer permanenten Entwicklung und haben insbesondere in den letzten Jahrzehnten erhebliche Veränderungen erfahren. Wenn auch in vielen Märkten und Branchen ähnlich verlaufene Entwicklungen zu konstatieren sind, so haben sich nicht in allen ökonomischen Sektoren die Veränderungen in gleicher Weise vollzogen, weshalb fallweise zu differenzieren ist. Insbesondere ist auf Unterschiede in den Konstel-

11

2

Einführung zum Strategischen Produktionsmanagement

lationen zwischen Konsum- und Industriegüterbranchen achten. Die nachfolgend aufgezeigten Entwicklungsstände der Determinanten in den Industrieländern vermitteln lediglich intertemporär vergleichend statische Ausschnitte aus dem Veränderungsprozess. Viele Absatzmärkte haben sich von vormals Verkäufermärkten in den vergangenen 40 bis 50 Jahren zu Käufermärkten gewandelt. Zeichneten sich früher Verkäufermärkte durch lokale Begrenztheit der Transaktionen und Massenprodukte für anonyme Kunden aus, so sind Käufermärkte aktuell von Globalität und vielfach der Forderung nach individueller Leistungsdifferenzierung geprägt. Die Entwicklung in den Lieferantenmärkten hat sich – induziert durch den Wandel in den Absatzmärkten – in ähnlicher Weise vollzogen. Prägte früher die Macht der Lieferanten durch Bestimmung über Liefermengen und -termine in Märkten mit weitgehend standardisierten Gütern und Katalogpreisen die Beziehung, dominieren heute überwiegend die Abnehmer mit der Forderung von spezifischen, individuell zugeschnittenen Leistungen bei ausgehandelten Preisen. Infolge der Individualisierung der Vorleistungsnachfrage mit kleinen Liefermengen an spezifischen Gütern und häufigeren Anlieferungen hat sich der Fokus vom dem Bestandsmanagement für Güter auf das Prozessmanagement (bspw. Supply Chain Management) und das Zeitmanagement (bspw. Just in Time) verlagert. Mit sinkender Wertschöpfungstiefe in den Herstellunternehmen änderte sich auch der Rolle der Lieferanten. Ehemals Teile- und Komponentenlieferanten haben in Vorwärtsintegration sich zu Modul- und Systemlieferanten oder Systemintegratoren weiterentwickelt und auf die Erfüllung der spezifischen Kundenwünsche eingestellt. Ein Teil des Wandels in den Beschaffungsmärkten manifestiert sich auch in neuen beschaffungsstrategischen Ansätzen. Wurden standardisierte Güter früher vorwiegend auf lokalen Märkten beschafft, so dominiert heute die globale Beschaffung (Global Sourcing). Gleiche spezifische Güter hingegen werden nur von wenigen Lieferanten (Dual Sourcing) oder lediglich von einem (Single Sourcing) beschafft. Erfahrungsgemäß erwirtschaften erfolgreiche Unternehmen etwa 60 % ihres Umsatzes mit neuen, innovativen Produkten, so dass der Innovationstätigkeit und insbesondere dem Innovationserfolg eine hohe Bedeutung zukommt. Der forcierte Innovationswettbewerb in globaler Dimension zwingt Unternehmen zugleich zur Verkürzung des Zyklus von Produkt- und Prozessinnovationen, worauf der Einsatz der CAD- und IuK-Technologien sowie die Anwendung spezieller Managementmethoden (bspw. Simultaneous Engineering) abzielen. Die Verkürzung des Innovationszyklus induziert in der Tendenz auch die Kontraktion des Marktzyklus. Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in technische Forschungs- und Produktionseinrichtungen expandieren hingegen. Infolgedessen geraten innovative Unternehmen zwischen die Schere aus sinkender Produktlebenszeit und steigender Amortisationszeit.

12

Einführung zum Strategischen Produktionsmanagement

In vielen Märkten der Industrieländer besteht nur noch ein geringes Wachstum. Infolge der Sättigungstendenzen ist die Konkurrenzsituation durch Rivalität mit einem globalen Verdrängungswettbewerb zwischen den bestehenden Unternehmen geprägt. Weiterhin erwächst Konkurrenz durch Unternehmen, die neu in den Markt eintreten. Das können neu gegründete Unternehmen sein oder Unternehmen, die bisher in anderen Märkten aktiv waren und ihre angestammten Tätigkeiten weiterführen oder auch aufgeben. Beide Effekte führen zu einer Marktbereinigung. Durch Akquisitionen und Fusionen sowie enge Zusammenschlüsse in Netzwerken, Kooperationen und Allianzen versuchen Unternehmen Marktmacht zu gewinnen, um ihre Position zu festigen und einem Ausscheiden aus dem Markt zu entgehen. Beide Effekte führen zur Konzentration von Unternehmen und zur Quasikonzentration durch Unternehmensverbünde sowohl auf Lieferanten- als auch auf Abnehmerseite.

Entfaltung von Erfolgspotentialen Zukunftsträchtige Erfolgspotentiale sichern den Unternehmenserfolg durch komparative Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz. Bei bestehenden Erfolgspotentialen geht es darum, diese für die Zukunft zu sichern. Da Erfolgspotentiale gewöhnlich nur für eine gewisse Zeitspanne einen kompetitiven Vorteil gewähren können und infolge Aufholens der Konkurrenz das Halten des Vorteils bedroht ist, sind neue Erfolgspotentiale aufzubauen. Managementpotential, Kundennutzen, Prozesskontrolle und Soft Skills gelten als vier essentielle Erfolgspotentiale. Die Fähigkeiten des Unternehmensmanagements zeichnen sich dadurch aus, in wie weit es gelingt, die Verfügung über wichtige Ressourcen, wie bspw. Forschungskapazität, Patente, Humankapital, Lieferquellen u.a.m., zu sichern. Von Bedeutung ist, dass die Ressourcen nicht in jedem Fall von einem Unternehmen zu akquirieren sind. Vielfach ist es ausreichend, mittels enger Kooperationsbeziehungen über deren Nutzung zu verfügen. Das Ziel besteht in jedem Fall darin, durch den gebündelten Einsatz der Ressourcen einen beträchtlichen Anteil an innovativen Produkten und mit diesen Produkten einen hohen Marktanteil zu realisieren. Das letztgenannte Ziel wird durch eine auffällige Kundenzufriedenheit erreicht, ein Zeichen dafür, dass es dem Management gelungen ist, eine Leistung mit überragendem Kundennutzen hervorzubringen. Dieser manifestiert sich bspw. in überlegener Technologie und konkurrenzloser Qualität sowie in der Schnelligkeit ('Time to Market') und der Flexibilität, auf Marktforderungen zu antworten sowie Forschungs- und Entwicklungsergebnisse in innovative Marktleistungen umzusetzen. Prozesskontrolle bedingt, dass die Prozesse entlang der Wertschöpfungskette (Supply Chain, Fertigung, Montage, Vertrieb) sicher gesteuert und beherrscht werden, damit keine Unregelmäßigkeiten, Störungen oder Fehler auftreten. Sollten dennoch Prozesse

13

2

den vorgegebenen Pfad verlassen, so sind schnell wirksam Sicherungsmaßnahmen einzuleiten, um die Abweichungen zu korrigieren. Unternehmenskultur, -image, -organisation und -vernetzung sind weiche Faktoren, die über das Verhalten der Organisationsmitglieder in hohem Maße auf den Unternehmenserfolg einwirken. Diese so genannten Soft Skills haben sich in einem organisationalen Sozialisierungsprozess entwickelt, verkörpern quasi das genetische Gut eines Unternehmens. Selbst die Mitarbeiter als Träger der Werte und Eigenschaften können die Eigenheiten und die Besonderheiten des Wesens einer Organisation nur selten explizieren. Infolgedessen sind diese organisationseigenen Fähigkeiten von Außenstehenden kaum erkennbar und nicht oder zumindest nicht kurzfristig zu imitieren.

Positionierung im Wettbewerb Die Unternehmenspolitik prägt das Auftreten von Unternehmen im Wettbewerb, wobei charakteristische Verhaltensweisen erkennbar sind. Die strategische Positionierung kann sich im Spektrum von Defensive bis Offensive und in der Bandbreite von Innovation bis Imitation bewegen (vgl. Tabelle 2-1).

Tabelle 2-1:

Strategische Positionierung Bereitschaft zu Veränderungen

Strategische Positionierung

2

Einführung zum Strategischen Produktionsmanagement

progressiv

moderat

Folger

Innovationsfolger Kreativer Imitator

Technologiefolger Kopierender Imitator

Pionier

Innovationsführer

Technologieführer

Defensives Verhalten zeichnet sich durch das Verteidigen der bisherigen Position, durch Festhalten an Paradigmen und traditionellen Handlungsweisen aus. Charakteristisch ist häufig das Ausruhen auf den Erfolgen der Vergangenheit. Mitunter erfolgt reaktiv eine Orientierung am Verhalten des Wettbewerbers durch Benchmarking oder auch Nachahmung. Offensive Unternehmen suchen hingegen proaktiv nach Optionen für neue Geschäftsfelder oder der Sicherung einmaliger Ressourcen. Sie loten Adaptionspotentiale der Organisationsstruktur aus und ändern prospektiv die tradierten Verhaltensweisen.

14

Einführung zum Strategischen Produktionsmanagement

Innovationsführer wollen im Wettbewerb um Innovationen durch innovative Leistungen bestehen bspw. im Leistungsprogramm, in den funktionalen Prozessen, in der Unternehmensorganisation oder den Kooperationsbeziehungen. Pionierunternehmen versuchen Wettbewerbsvorteile durch einen frühen Markteintritt – und eventuell auch einen frühen Marktaustritt – zu erlangen, können somit Barrieren für Wettbewerber setzen. Technologieführer zeigen im Vergleich zu Innovationsführern eine eher moderate Bereitschaft zu Veränderungen. Sie positionieren sich als Pioniere in der Technologieentwicklung, zögern jedoch, Entwicklungsergebnisse schnell in innovative Leistungen umzusetzen. Vielfach verfolgen diese eher die Strategie, technologische Leistungen durch Patente abzusichern und diese zu vermarkten. Beide strategischen Positionierungen im Wettbewerb – Innovations- und Technologieführer – bergen erhebliche Risiken. Innovations- oder Technologiefolger hingegen streben eine sichere Position mit geringem Risiko an. Eintritt in und Austritt aus einem Markt bzw. einer Technologie erfolgen deshalb verzögert. Allerdings kann sich das Problem, Wettbewerbsbarrieren überwinden zu müssen, als ganz erheblich herausstellen. Hinsichtlich des imitativen Verhaltens von Verfolgern ist zwischen kreativer und kopierender Imitation zu unterscheiden. Kopierendes Verhalten zeugt gewöhnlich von einer gewissen Hilflosigkeit und ist vermehrt bei Technologiefolgern als Organisationen mit moderater Bereitschaft zu Veränderungen zu finden, wenn diese versuchen, für eine bekannte Problemlösung eine anders geartete Lösung (zur Umgehung von Patenten) zu finden. Kreativ imitierendes Verhalten kann insbesondere bei einem Innovationsfolger mit tendenziell progressivem Verhalten zum Erfolg führen und den Pionier sogar überflügeln. Erfahrungsgemäß wird etwa die Hälfte der Pionierunternehmen durch Innovationsfolger verdrängt. Demzufolge gibt es zahlreiche Beispiel für erfolglose Pioniere und erfolgreiche kreative Imitatoren (s. Tabelle 2-2). Auch ist es keineswegs sicher, dass der erfolgreiche Pionier sich auf Sicht einen größeren Marktanteil als der frühe Marktfolger sichern kann.

Strategieentwicklung im Produktionsmanagement Prozess-, Programm- und Ressourcenmanagement stehen als die drei wesentlichen Managementperspektiven im Fokus der Fallstudien. Die drei Sichten stellen keine Alternativen im Sinne eines "Entweder – Oder" dar, sondern sie ergänzen sich. Sie zeigen komplementäre Sichten auf einen Managementkubus aus drei unterschiedlichen Perspektiven, wobei jeweils die eine Sicht gegenüber den beiden anderen Sichten hervorgehoben wird, um das Themenfeld einzugrenzen und das Problemfeld herauszustellen. Bei der Entwicklung der Wettbewerbsstrategie, ausgerichtet auf eine angestrebte Wettbewerbsposition, erlangt der Fit von Prozess-, Programm- und Ressour-

15

2

2

Einführung zum Strategischen Produktionsmanagement

cenmanagement in Verzahnung von Produktions- und Absatzbereich eine hohe Relevanz.

Tabelle 2-2:

Erfolglose Innovatoren, erfolgreiche Imitatoren Produkt

Pionier

Kreativer Imitator

Light-Brause

Royal Crown

Coca Cola

Videorecorder

Ampex

Sony, Matsushita

Walkman

Andreas Pavel

Sony

Höschenwindel

Chux

Procter & Gamble

Faxgerät

Rudolf Hell

Canon, Sharp, Matsushita

Computer

Konrad Zuse

IBM

Wankelmotor

Felix Wankel/NSU

Mazda

Computerspiele

Nintendo

Sony/Microsoft

Anhand mehrerer empirischer Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Strategie und Markterfolg fand Porter heraus, dass Unternehmen mit einem sehr großen Markanteil und Unternehmen mit einem sehr kleinen Marktanteil signifikant erfolgreicher sind als Unternehmen mit einem mittleren Marktanteil. Daraus lassen sich unter Erweiterung des Konzepts von Porter vier generische Strategien für Unternehmen ableiten: Innerhalb einer Branche mit einem breitem Markt stehen kostenorientierte Differenzierung mit dem Ziel der umfassenden Kostenführerschaft oder leistungsorientierte Differenzierung mit dem Streben der Einzigartigkeit als Erfolgsstrategien für Marktführer zur Wahl. In Beschränkung auf ein engeres Marktsegment sind kostenorientierte Fokussierung mit Rückzug auf das Kerngeschäft oder leistungsorientierte Fokussierung auf Alleinstellungsmerkmale die Erfolg versprechenden Alternativen für Spezialisten (vgl. Tabelle 2-3). Porter sah lange Zeit hybride Strategien aus der Kombination von Kostenführerschaft und Differenzierung als miteinander unvereinbar, als ein "Sitzen zwischen den Stühlen". Dass auch ein Strategiemix zum Erfolg führen kann belegen bspw. die hybriden Strategien Mass Customization und Mass Differentiation. Porter schloss aus den Ergebnissen seiner Untersuchungen, dass Unternehmen mit einem mittleren Marktanteil zu klein sind, um mit Marktführern mitzuhalten, und zu groß, um mit Spezialisten zu konkurrieren. Unternehmensnetzwerke unterschiedlicher Art belegen hingegen, dass Unternehmen in mittlerer Position durch die Strategie der Wertschöpfungsvernetzung durchaus erfolgreich operieren können.

16

Einführung zum Strategischen Produktionsmanagement

Tabelle 2-3:

Generische Strategien für Unternehmen

Strategisches Zielobjekt

Strategischer Vorteil beim Käufer Kostenvorsprung

Einzigartigkeit

Branche

Kostenorientierte Differenzierung Risikostreuer

Leistungsorientierte Differenzierung Prospektor

Segment

Kostenorientierte Fokussierung Verteidiger

Leistungsorientierte Differenzierung Innovator

Literaturhinweise Kaluza, B. und Blecker, Th.: Wettbewerbsstrategien – Markt- und ressourcenorientierte Sicht der strategischen Führung. Konzepte – Gestaltungsfelder – Erfolgreiche Umsetzungen, TCW-report Nr. 16, München 2000. Porter, M. E.: Competitive Advantage: Creating and Sustaining Superior Performance, Free Press, New York et al. 2004. Porter, M. E.: Competitive Strategy, Free Press, New York et al. 2004. Welge, M.K. und Al-Laham, A.:Strategisches Management: Grundlagen – Prozess – Implementierung, 4. aktualisierte Auflage, Nachdruck Wiesbaden 2005.

17

2

3

3.1

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Fallstudienbeschreibung

Fallstudie Katharina Mönckenberg gründete vor drei Jahren das Unternehmen "Backblitz.de", mit dem sie i.S.e. Internet-Brokers diverse Torten und Kuchen über das Internet an Kunden verkauft. Unter der Internetadresse ihres Unternehmens können die Kunden aus einer vglw. eng umrissenen Vielfalt an diesbezüglichen Backwaren auswählen. Ein Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb stellt aus Sicht von "Backblitz.de" dar, dass Katharina Mönckenberg ihren Kunden die Auslieferung der Torten und Kuchen nicht beliebig im Laufe eines Tages in Aussicht stellt; vielmehr bietet sie ihren Kunden über die Maßgabe einer Internetbestellung an, die Backwaren innerhalb von plus/minus einer Stunde zu einem vereinbarten Zeitpunkt ausliefern zu lassen. Hierbei kann die Auslieferung über Logistikpartner von "Backblitz.de" zu jedem vereinbarten Zeitpunkt zwischen 7:30 Uhr morgens und 18:30 abends erfolgen. Damit diese Logistikdienstleistung für die Kunden erbracht werden kann, arbeitet "Backblitz.de" mit drei Lieferanten zusammen, welche die Auslieferung der Backwaren an die Internetbesteller übernehmen. Eine im vergangenen Jahr durchgeführte Analyse der Auslieferungspünktlichkeit über die drei Auslieferungspartner hinweg ergab, dass der durchschnittliche Auslieferungszeitpunkt 29,5 Minuten nach dem zwischen "Backblitz.de" und seinen Kunden vereinbarten Zeitpunkt erfolgt (Standardabweichung 13,3 Minuten). In ihrem ersten Geschäftsjahr verzeichnete Katharina Mönckenberg einen Umsatz von rund 30.000 Euro, mittlerweile – in ihrem dritten Geschäftsjahr – sind dies bereits 150.000 Euro. Sie beschäftigt gegenwärtig eine Büroangestellte, welche ihr u.a. dabei hilft, die über das Internet oder per E-Mail bzw. Telefon eingehenden Bestellungen von Torten und Kuchen anzunehmen. Diese Tätigkeit umfasst u.a. auch das Verfassen eines (i.d.R. elektronischen) Antwortschreibens an die Auftraggeber sowie das Auswählen eines geeigneten Bäckers, der die eigentliche physische Wertschöpfung zur Herstellung der bei "Backblitz.de" bestellten Torten und Kuchen vollzieht. Insgesamt arbeitet "Backblitz.de" mit mehreren Bäckereien zusammen. Die dort – aufgrund der 19

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

räumlichen Nähe zum Kunden quasi "vor Ort" produzierten Backwaren werden dann von einem der drei Logistikpartner des Unternehmens abgeholt und – i.S.e. Kuriertransportdienstleistung – direkt zum Kunden verbracht. Vor dem Hintergrund eines Deckungsbeitrags von weniger als 10 % besitzt Katharina Mönckenberg derzeit noch nicht über die finanziellen Möglichkeiten, eine weitere Angestellte zu beschäftigen. Ein Großteil ihrer Arbeitszeit verbringt Katharina dennoch damit, Kundenbeschwerden über unpünktliche – das heißt nicht innerhalb des vereinbarten Zeitkorridors ausgelieferten – Backwarenzustellungen zu bearbeiten. Häufig sind die Auslieferungen durch die drei Logistikpartner verspätet, in Einzelfällen auch verfrüht. In einer Analyse der Verspätungen stellt sie fast, dass die von den drei Partnern "CargoCake", "Delight" und "Express" ausgelieferten Backwaren mit Blick auf die Zustellungszeitfenster große zeitliche Schwankungen aufweisen. Trotz der teilweise stark angestiegenen Beschwerden von Kundenseite hat Katharina Mönckenberg es bislang vermieden, sich ihrerseits bei den drei Logistikpartnern zu beschweren, da sie die Liefer- und Zahlungskonditionen zwischen "Backblitz.de" und den Partnern jeweils noch immer auftragsindividuell verhandeln muss. Die Alternativlösung der Versendung der Torten und Kuchen per etabliertem Kurierdienstleister wäre sehr viel teurer für "Backblitz.de". Katharina Mönckenberg hat zur Ursachenanalyse einen Kunden, zu dem sie bereits längere Geschäftsbeziehungen unterhält, exemplarisch nach der Auslieferungszeit befragt. Dieser Kunde erhielt in den vergangenen zwei Wochen an jedem Tag (außer Sonntags) jeweils eine Auslieferung von jedem der drei Logistikpartner. Die Abweichungen – notiert in Minuten – lauten wie folgt (negative Werte indizieren eine verfrühte Anlieferung): Mo CargoCake

Di

Mi

Do

Fr

Sa

Mo

Di

Mi

Do

Fr

Sa

60

45

40

70

60

50

60

65

40

20

40

70

Delight

-15

45

70

80

0

-20

50

50

0

-20

40

70

Express

20

30

15

20

30

25

30

15

80

40

20

40

Fragen zur Fallstudienbearbeitung: 1. Evaluieren Sie die Lieferungsperformanz der drei Logistikpartner von "Backblitz.de". 2. Welche Empfehlungen geben Sie Katharina Mönckenberg zur Verbesserung der Geschäftssituation von "Backblitz.de" vor dem Hintergrund Ihrer Analyse?

20

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

3.2

Fallstudienbearbeitung

Disposition 1.

Themenöffnung

2.

Grundlagen der Qualitätsplanung und -verbesserung

3.

4.

2.1.

Stellenwert des Qualitätsmanagements für Serviceunternehmen

2.2.

Einordnung von Qualitäts- und Lieferantenmanagement in den Bezugsrahmen der Fallstudie

Darstellung der Kontextfaktoren von "Backblitz.de" 3.1.

Skizzierung der Ausgangssituation

3.2.

Identifizierung der wesentlichen Problemfelder

Formulierung eines Lösungszugangs für "Backblitz.de" 4.1.

Konzeptualisierung eines Portfolios alternativer Lösungsmöglichkeiten

4.2. Priorisierung der vorgeschlagenen Maßnahmen 5.

1.

Zusammenfassung

Themenöffnung

Der Markterfolg von Dienstleistungen ist zu einem nicht unerheblichen Teil an die von den Leistungsempfängern wahrgenommenen Kerncharakteristika des nachgefragten Service gekoppelt. Dabei spielt insbesondere die zeitliche Komponente, also die "Zeitkritizität" bzw. "Zeitadäquanz" einer Leistungserbringung, eine große Rolle im Hinblick auf die Ausprägung eines Zufriedenheitsurteils von Konsumenten.1 Am Beispiel der Fallstudie "Backblitz.de" lässt sich exemplifizieren, dass die zeitkonforme Erbringung einer Dienstleistung – im anliegenden Beispiel verdichtet auf die Herstel-

1

Die spezifische Zeitkritizität einer Dienstleistung resultiert nicht zuletzt auch daraus, dass die Herausbildung von Zufriedenheitsurteilen der Nachfrager im Gegensatz zur Evaluierung von industriellen Produkten bspw. dadurch besonders prominent beeinflusst wird, dass bei einer Dienstleistung der Zeitpunkt der Leistungserbringung und der Zeitpunkt der Leistungsnachfrage faktisch zusammenfallen, d.h. es besteht für den Leistungserbringer keine Möglichkeit zu einer "Nachbesserung" bzw. "Nachbearbeitung" seiner angebotenen Leistung. Für die Herausbildung von Zufriedenheitsurteilen hat diese Charakteristik der Dienstleistungserbringung besondere Bedeutung.

21

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

lung und Auslieferung von Torten – einen signifikanten Stellenwert für den Bestand und den Erfolg eines Unternehmens aufweist. Während Maßnahmen zur Qualitätsplanung und -verbesserung in der Industrie, bzw. in Unternehmen welche eine physische Leistungserstellung generieren, primär auf die Gewährleistung einer – aus Kundensicht wahrgenommenen und zu eruierenden – Produktqualität mit Blick auf einwandfreie physikalisch-chemisch-technische Produkteigenschaften abhebt, rückt bei Serviceunternehmen der Aspekt der zeitkonformen Leistungserstellung verstärkt in den Blickpunkt von Qualitätsmanagementbemühungen. Im Fall des Unternehmens "Backblitz.de" ist dieser Aspekt doppelt kritisch, da die Auslieferung der Torten nicht vom Unternehmen selbst, sondern von Lieferanten bzw. Logistikpartnern übernommen wird. Insofern fokussiert die vorliegende Fallstudie also einerseits auf die Akzentuierung des besonderen Stellenwerts von Qualitätsplanung und -verbesserung bei zeitkritischen Dienstleistungen, andererseits auf die spezifischen Anforderungen, die daraus erwachsen, dass ein signifikanter Teil des Leistungsangebots von Lieferanten i.S.v. Wertschöpfungspartnern erbracht wird. In Kapitel 2 werden i.d.S. die Grundlagen zur Qualitätsplanung und -verbesserung herausgearbeitet; die Ausführungen haben hier den Charakter eines "Bezugsrahmens" inhaltlicher Art. Während die Ausführungen in Kapitel 2 nicht umfassend auf die Spezifika von "Backblitz.de" zugeschnitten sind, sondern eher generischen Charakter aufweisen, fokussieren die Überlegungen in Kapitel 3 in extenso auf die Kontextfaktoren des im Blickpunkt stehenden Unternehmens. In Kapitel 4 werden darauf aufbauend Lösungsmöglichkeiten skizziert, um den qualitativen Aspekt der Serviceerbringung durch "Backblitz.de" fallstudienbezogen auszubauen. Die Überlegungen werden in Kapitel 5 zusammengefasst.

2.

Grundlagen der Qualitätsplanung und -verbesserung

2.1. Stellenwert des Qualitätsmanagements für Serviceunternehmen Qualitäts(management-)bemühungen haben für Unternehmen der leistungserstellenden Industrie bereits seit längerem einen wichtigen Stellenwert. Ausgehend von Ansätzen und Konzepten wie bspw. dem "House of Quality" und dem "Quality Function Deployment" werden seit einigen Jahrzehnten Qualitätsbemühungen in derartigen leistungserstellenden Systemen etabliert und laufend kalibriert.2 Mit anderen Worten, in Industrieunternehmen kann bei der Qualitätsplanung und -verbesserung auf eine längere Tradition zurückgeblickt werden. Doch der Qualitätssicherungsaspekt ist nicht nur für physisch greifbare Produkte erforderlich; bei der heute vorherrschenden weitgehenden Substituierbarkeit der angebotenen Produkte liegt ein Marktvorteil von

2

22

Zum Konzept des Quality Function Deployment und des House of Quality vgl. stellvertretend Herrmann / Huber (2000), S. 27ff.

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

industriellen Anbietern auch bereits wesentlich im Bereich des Service3. Somit ergibt sich die Situation, in der sowohl Unternehmen, deren originäres Kerngeschäft primär auf die Hervorbringung von physisch umschreibbaren Produkten fokussiert, als auch Leistungsanbieter, deren wesentliches Geschäftsmerkmal die Bereitstellung eines Serviceangebots umfasst, auf Qualitätsplanung und -verbesserung in besonderem Umfang achten sollten. Für Unternehmen des Dienstleistungsgewerbes wird ein Qualitätsmanagementsystem erforderlich, wenn zur Hervorbringung des Services mehrere Leistungspartiale – und ggf. entsprechende Anbieter – gekoppelt werden müssen, da die Nachfrager auf den Absatzmärkten die Priorisierung ihrer jeweiligen Leistungs- bzw. Servicenachfrage ganz wesentlich von der von ihnen wahrgenommenen Servicequalität abhängig machen.4 Insbesondere die Transportkomponente vermag einen signifikanten Beitrag zur Generierung von als positiv perzipierten Qualitätsempfindungen leisten. Dieser Aspekt ist ebenso bedeutsam für die Herausbildung von subsequenten Zufriedenheitsurteilen durch die Servicenachfrager. Zu betrachten und gegebenenfalls zu optimieren sind in diesem Zusammenhang grundsätzlich alle Stufen eines Qualitätsmanagementsystems, von der Qualitätsplanung über Qualitätslenkung und Qualitätssicherung bis hin zur Qualitätsverbesserung. Aufgabe der Qualitätsplanung ist es, die Bedürfnisse der Kunden in Anforderungen an das Produkt oder auch an eine Dienstleistung und seine Komponenten umzusetzen. Qualitätsplanung umfasst über diese Produktplanung hinaus auch die Planung der Verfahren und der Prozesse, die zu den gewünschten Produktmerkmalen führen sollen. Neben der Planung der Merkmalsausprägungen stehen bei der Qualitätsplanung, zumindest bei physischen Produkten, die Festlegung von Prozess- und Prüfablaufplänen sowie detaillierter Arbeits- und Prüfanweisungen im Vordergrund. Im Bereich der (immateriellen) Dienstleistungen ist es möglich, Prozessablaufpläne aufzustellen. Diese würden dann einen idealtypischen Ablauf der Dienstleistungserstellung darstellen. Ziel ist es, eine Optimierung der Prozesse zu erreichen; d.h. Unternehmen können eine Supply Chain bilden, bei der von der Ebene der Lieferanten bis hin zur Ebene der Endkunden die gesamte Produktionskette optimiert wird.5 Hiervon versprechen sich die Unternehmen vor allem eine bessere Position in einem globalen Wettbewerb, wobei das Hauptaugenmerk auf kürzeren Lieferzeiten, und mithin insbesondere auf der Pünktlichkeit der erbrachten Leistung, liegt. Der Kunde hat im Allgemeinen sehr spezifische Vorstellungen und Wünsche bzgl. der Leistung eines Distributionsmodells bzw. Lieferantenservices, welche sich jeweils

3

4 5

Industrielle Dienstleistungen arrondieren i.d.S. die von einem Industrieunternehmen angebotenen Produkte und generieren für die Konsumenten damit einen Zusatznutzen, der das Produktspektrum des Industrieanbieters sinnvoll ergänzt. Vgl. Pfohl (1990), S. 25. Vgl. zu diesem Aspekt Anschütz / Friedrich ( 2002), S. 15ff.

23

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

einem der Erfolgsparameter6 zuordnen lassen. Erfolgsparameter des Lieferservice7 sind Lieferzeit8, Lieferzuverlässigkeit9, Lieferungsbeschaffenheit und Lieferflexibilität10. Diese Parameter erlauben auf einfache Art und Weise eine qualitative und quantitative Beschreibung oder Beurteilung einer Logistikleistung. Der Kunde fordert – etwas vereinfacht formuliert – in Bezug auf Servicedienstleistungen damit in erster Linie Qualität und Service bei der (Zeit-) Logistik. Qualität und Service aus der Sicht der Kunden implizieren damit primär Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit der Lieferung.11 Der Endkunde hat, wie oben genannt, verschiedene Präferenzen bzgl. der Erfolgsparameter, welche sich nach Qualitäts- und Serviceaspekten aufteilen lassen. Eine geringe Lieferzeit zum Beispiel bietet einen Ansatzpunkt zur Präferenzbildung bei den Kunden und dient somit zum Aufbau von Wettbewerbsvorteilen gegenüber den Konkurrenten. In der vorliegenden Arbeit werden Lieferzeit und Lieferflexibilität als Bestandteile des Service angesehen. Unter der Voraussetzung, dass eine Warensendung den Kunden erreicht, ist die Lieferzeit ein Grundcharakteristikum der Zustellung. Eine Optimierung dieses Parameters (z.B. Verkürzung der Lieferzeit) stellt damit einen Mehrwert (Service) für den Kunden dar, der originär in Bezug auf die "Ursprungsleistung" nicht zwingend zu erbringen ist – und damit potentiell zusatznutzenstiftend und begeisterungsanforderungserfüllend ist.12 Ähnlich sieht es mit der Lieferflexibilität aus. Hier entscheiden die verschiedenen Modalitäten über das Leistungsspektrum, das dem Kunden angeboten wird. Grundsätzlich kann damit alles, was über die erfolgreiche Zustellung der Sendung hinausgeht, als zusätzliche Serviceleistung betrachtet werden.

6

Der Terminus Erfolgsparameter rekurriert hier darauf, dass die zeitnah-pünktliche Erbringung einer Leistung durch die Maßgabe ihres Einflusses auf die Kundenzufriedenheit letztlich auch den Unternehmenserfolg einer Operation beeinflusst. 7 Lieferservice ist eine Dienstleistung, die die organisierte Auslieferung von Produkten des eigenen oder eines fremden Unternehmens betreibt. 8 Die Lieferzeit beschreibt die Zeit zwischen Auftragsübermittlung vom Kunden zum Lieferanten und Ankunft der bestellten Ware beim Abnehmer. 9 Die Lieferzuverlässigkeit gibt an, ob der zugesagte Liefertermin eingehalten werden kann. Außer der Termintreue, also der Übereinstimmung zwischen Kundenwunschtermin und realisiertem Liefertermin, (d.h. sie ist ein Maß für den Grad der Einhaltung der zwischen Lieferant und Kunde abgestimmten Termine) enthält die Lieferzuverlässigkeit auch eine Aussage zur Lieferbereitschaft eines Distributionssystems. Sie drückt die Wahrscheinlichkeit aus, mit der eine Bestellung aus dem Lagerbestand bedient werden kann. 10 Zur Lieferungsbeschaffenheit wird zum einen die Liefergenauigkeit, das heißt die Genauigkeit hinsichtlich Art und Menge der bestellten Artikel einer Lieferung, und zum anderen der Zustand der Lieferung gezählt. Die Lieferflexibilität eines Distributionssystems hängt von den festgelegten Auftrags- und Liefermodalitäten, dem Grad des Informationsaustauschs und der Kompatibilität der Logistiksysteme der Partner ab. 11 Vgl. Pfohl (1990), S. 25ff. 12 Vgl. ebenda, S. 26ff.

24

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Anders verhält es sich mit den Parametern Lieferzuverlässigkeit und Lieferungsbeschaffenheit. Werden bspw. zugesagte Lieferzeitpunkte nicht eingehalten, dann werden den Kunden garantierte Leistungen nicht vollständig erbracht. Diese Parameter entscheiden also über die Qualität der Logistikleistung. Zusammenfassend bedeutet dies, dass ein reibungsloser Servicegenerierungsprozess nur dann realisiert werden kann, wenn kurze Lieferzeiten bei gleichzeitig hoher Liefertreue gewährleistet sind. Mit anderen Worten, Lieferzuverlässigkeit13 und Lieferungsbeschaffenheit14 determinieren majorell die Qualitätswahrnehmung einer Dienstleistung, wohingegen die Lieferzeit und die Lieferflexibilität15 zentrale Charakteristika eines Service als solchem darstellen.

Abbildung 3-1:

Qualität-Service-Tabelle Qualität

Lieferzuverlässigkeit

Service Lieferzeit

Lieferbereitschaft Zuverlässigkeit der Arbeitsabläufe Lieferungsbeschaffenheit

Lieferflexibilität

Liefergenauigkeit

Auftragsmodalitäten

Zustand der gelieferten

Liefermodalitäten

Produkte

Informationsverfügbarkeit

Wird innerhalb eines Logistiksystems ein Erfolgsparameter verändert, so ist es nicht zu vermeiden, dass auch andere Parameter von dieser Manipulation beeinflusst werden. Aufgrund dieser umfassenden Interdependenzen zwischen den einzelnen Parametern und Charakteristiken spricht man oftmals auch von einem sog. Wirkungsdreieck zwischen Service, Qualität und Kosten. Der Zusammenhang zwischen Lieferzeit und Kundentreue ist demnach insgesamt nicht zu unterschätzen. Dass besondere Leistungsfähigkeit auf dem Gebiet des Logistikservice die Attraktivität eines Angebots zu erhöhen vermag, unterliegt nach den oberen Ausführungen keinem Zweifel. Wird allerdings das Verhältnis der Anzahl der qualitätsrelevanten Kundenanforderungen zu der Anzahl der servicerelevanten Kundenanforderungen betrachtet, so ist festzustellen, dass hier eindeutig die Anzahl der Forderungen an den Serviceaspekt, sprich 13

Lieferbereitschaft und die Zuverlässigkeit der im Serviceunternehmen ablaufenden Arbeitsprozesse sind hier wesentliche Gestaltungsfelder für ein betriebliches Qualitätsmanagement. 14 Hierin sind insbesondere die Liefergenauigkeit und der Zustand der gelieferten Serviceprodukte zu subsumieren. 15 Diese findet ihren Niederschlag in adäquaten Auftrags-, Liefer- und Zahlungsmodalitäten sowie der grundsätzlich gewährten Informationsverfügbarkeit.

25

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Schnelligkeit der Lieferung und mit Blick auf die Auslieferung ein verhältnismäßig eng umrissenes Zeitfenster, überwiegt.16 Die Pünktlichkeit einer Lieferung ist demnach maßgebliches Kriterium, um den Endkunden bei der Warenzustellung zufrieden zu stellen. Die Endkunden betrachten die Qualität einer Lieferung vielmehr als Grundvoraussetzung einer Zustelleistung. Wird diese nicht erfüllt, so werden zukünftige Bestellungen generell in Frage gestellt. Folgekäufe bzw. Shop- und Anbietertreue sind kaum zu erwarten, wenn auch das sog. "Fulfillment"17 misslingt. Entscheidend ist vielmehr, ob bestellte bzw. gekaufte Waren tatsächlich rechtzeitig und in der richtigen Beschaffenheit ausgeliefert werden.18 Gerade wenn ein Webshop Waren anbietet, die in gleicher Form im Sortiment anderer Webshops enthalten sind, kann man über den reinen Preiswettbewerb hinaus eine solche zuverlässige Information über Lieferbarkeit und Liefertermin als Kaufargument etablieren. Die Akquisition eines Auftrags hängt in diesem Fall oftmals weniger von der Preiswürdigkeit und Qualität eines Angebots ab, die man gewissermaßen als selbstverständlich voraussetzt, als vielmehr von der Schnelligkeit und Termintreue, mit der das betrachtete Unternehmen seine Waren liefert oder eine Leistung erbringt. Die Logistik, insbesondere der Serviceaspekt der Logistik, wird damit zum zentralen Erfolgsfaktor im eCommerce19. Nur Anbieter, denen es gelingt, die von den Nachfragern bestellten Waren in kürzester Zeit zuverlässig und ohne Beschädigungen an den richtigen Ort zu liefern, können ihre Kunden von einem Wiederkauf überzeugen. Hierzu müssen eCommerce-Anbieter entweder über die entsprechenden Ressourcen oder Fähigkeiten verfügen oder aber entsprechende strategische Partnerschaften mit Logistikdienstleistern eingehen, um Lieferzeit und -zuverlässigkeit sicherzustellen. Somit kommt für Unternehmen mit derartigen Geschäftsmodellen der Liefer- und Servicebereitschaft (der kontraktierten Lieferanten) als absatzpolitisches Instrument eine Vorrangstellung zu.20

2.2. Einordnung von Qualitäts- und Lieferantenmanagement in den Bezugsrahmen der Fallstudie In einigen Wirtschaftszweigen existiert ein so hoher Wettbewerb, dass eine auch nur geringfügige Überschreitung der branchenüblichen Lieferzeit erhebliche Umsatzein16 17

Vgl. Nieschlag / Dichtl / Hörschgen (1997), S. 504. Verstanden als Gesamtheit aller Aktivitäten, die nach dem Vertragsabschluß der Belieferung des Kunden dienen. 18 Vgl. Zsifkovits ( 1993), S. 49. 19 Als eCommerce wird die Form der Geschäftsbeziehungen bezeichnet, bei der über das Internet eine unmittelbare Handels- oder Dienstleistungsbeziehung zwischen Anbieter und Abnehmer abgewickelt wird. Hier werden standardisierte Produkte in Form eines Kataloges auf der Webseite platziert und es besteht die Möglichkeit, diese auch online zu kaufen. 20 Vgl. Hochlehnert ( 2001), S. 97ff.

26

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

bußen zur Folge hat.21 Die betroffenen Unternehmen sollten daher bemüht sein, die "kritische Grenze" keinesfalls zu verletzen. Welche Zeitvorstellungen sich damit verbinden hängt von der jeweiligen Branche ab. So erwartet man bspw. im Backwarengeschäft, dass die Unternehmen eine am Vormittag eingehende Bestellung noch an demselben Tag ausführen, während die Kunden bei der Lieferung von industriellen Großanlagen u.U. bis zu fünf Jahre "Wartezeit" in Kauf nehmen.22 Da die meisten Unternehmen zwischen 50–70% ihres Nettoumsatzes für Fremdleistungen in Form von Gütern oder Dienstleistungen ausgeben,23 übersteigt der wertmäßige Beitrag der Lieferanten zur Gesamtleistung des Unternehmens fast immer die eigene Wertschöpfung. Die Performance und Qualität der Lieferanten bestimmen somit signifikant Leistungsfähigkeit und Qualität der von einem Anbieter an seine Absatzmärkte dislozierten Produkte. Die Zuverlässigkeit der Produkte ist ein wichtiger Baustein der Kundenzufriedenheit. "Defektraten" spielen eine entscheidende Rolle in der Kundenbeurteilung. Viele "Defekte" sind lieferanteninitiiert.24 "Perfekte" Lieferanten, sog. Null-Fehler-Lieferanten steigern damit unmittelbar die Kundenzufriedenheit. Diese Art von Lieferanten fallen, salopp formuliert, nicht vom Himmel. Im Gegenteil: Sie sind das Ergebnis eines langen, und das Verhältnis zum Lieferanten stark verändernden Prozesses im Lieferantenmanagement. Daher sind Lieferantenbeziehungen auch kein Selbstzweck. Sie sollten vielmehr den Zielen des Unternehmens dienen und mit ihnen kompatibel sein. Beziehungsmanagement ist besonders wichtig, weil die Lieferantenbeziehungen einen so starken Einfluss auf die Unternehmensziele wie kontinuierliche Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, Profitabilität und langfristige Unternehmensentwicklung haben.25 Da sich das in der Fallstudie betrachtete Unternehmen "Backblitz.de" nur auf wenige Kernkompetenzen konzentriert, ist es mit Blick auf die Agglomeration und Bündelung seines eigenen Leistungsspektrums stark von der Performance seiner vorwertschöpfenden und transportdienstleistenden Lieferanten abhängig.

21 22 23 24 25

Vgl. Nieschlag / Dichtl / Hörschgen (1997), S. 504. Vgl. ebenda, S. 505. Vgl. Simon / Homburg ( 1995), S. 78. Vgl. ebenda, S. 84. Vgl. Fritz ( 2001), S. 391ff.

27

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Abbildung 3-2: Kriterien für die Auswahl von Lieferanten Rangfolge Auswahlkriterien sehr wichtig

1. Qualitätsstandard 2. Preise 3. Termintreue 4. Lieferzeit 5. Service 6. Flexibilität bei Bestelländerungen 7. Integrationswilligkeit bzgl. Qualitäts- und

weniger wichtig

Prozesskontrolle

ŹQualitätsstandards, Preise und Termintreue sind oberste Auswahlkriterien für Lieferanten.

3.

Darstellung der Kontextfaktoren von "Backblitz.de"

3.1. Skizzierung der Ausgangssituation Das Unternehmen "Backblitz.de" ist zum Zeitpunkt der in der Fallstudie beschriebenen Analysesituation erst seit wenigen Jahren im Markt existent. Es hat sich auf den Bereich des "elektronischen Backwarenvertriebs" spezialisiert, und in diesem Segment in den vergangenen drei Jahren ein Umsatzwachstum von über 400% realisiert. Im gleichen Zeitraum verharrte die Umsatzrendite bzw. der Deckungsbeitrag jedoch bei weniger als 10%. Der Headcount verzeichnet außer der Inhaberin eine weitere Humanressource, wobei die Tätigkeit und das Aufgabenfeld der Mitarbeiterin nicht näher skizziert ist. Mit Blick auf die Auftragsannahme ist lediglich gegeben, dass die Kunden von "Backblitz.de" ihre jeweiligen Orders auf unterschiedlichen Wegen (Telefon, EMail usw.) an das Unternehmen herantragen. "Backblitz.de" alloziert dann in Bezug auf spezifische Torten- und Kuchenwünsche Bäckereien, welche die Backwaren physisch hervorbringen. I.S.e. Informationsbrokers im eCommerce koordiniert "Backblitz.de” dabei also die Leistungserstellung und kontraktiert mehrere Logistikdienstleister, welche die Auslieferung der Torten und Kuchen vom Geschäft an den Endkunden realisieren. Über das Internet können Kunden bei "Backblitz.de" ihre Backwarenwünsche formulieren, und sie an sich ausliefern lassen. Mit Blick auf die Absatzstruktur des Unternehmens ist ebenso keine besonders umfangreiche Information gegeben. Es ist nur skizziert, dass eine vglw. überschaubare Anzahl an unterschiedlichen Backwaren im Internet von "Backblitz.de" angeboten wird, und dass das Produktsortiment somit verhältnismäßig eng umrissen ist. Auf der anderen Seite eigenen sich die angebotenen Produktbouquets für eine Vielzahl von unterschiedlichen

28

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Verwendungszwecken, was die Produktapplikabilität und die Etablierung eines umfangreichen Leistungsspektrums sicher arrondieren dürfte. "CargoCake", "Delight" und "Express" sind die drei Logistikdienstleister, die von der Inhaberin des Unternehmens majorell ausgewählt werden, um die Torten und Kuchen von den Bäckereien zu den Endkunden zu transportieren. Über die reale Auslieferungszeit ist in der Fallstudie keine Angabe gemacht, aber die Backwaren werden innerhalb eines Zeitkorridors von plus/minus einer Zeitstunde zum vereinbarten Auslieferungszeitpunkt an den Endkunden übergeben. Die Inhaberin vermerkt zum in der Fallstudie gegenwärtigen Zeitpunkt eine Zunahme der Unregelmäßigkeiten in der Auslieferung der Backwaren an die Endkunden. Um Maßnahmen zu formulieren, die der "Standardisierung" und "Verpünktlichung" der Auslieferung an die Kunden entgegenkommen, werden in der Fallstudie Daten zur Lieferpünktlichkeit von drei ausgewählten (Haupt-)Auslieferern präsentiert. Die in der Fallstudie formulierte Aufgabenstellung befasst sich schwerpunktmäßig mit der Analyse der Lieferunregelmäßigkeiten der drei oben angeführten Auslieferungsunternehmen, "CargoCake", "Delight" und "Express" sowie der Formulierung eines Vorschlags, wie diese Unregelmäßigkeiten eingeebnet werden können. Dieser Vorschlag soll dabei im Wesentlichen in Form einer Handlungsanweisung formuliert werden. Mit Blick auf diese Aufgabenstellung ist jedoch bereits an dieser Stelle zu bemerken, dass eine Reihe an für die umfassende bzw. eine weitgehend zielführende Antwort erforderlichen Informationen in der vorliegenden Fallstudie nicht gegeben sind.

3.2.

Identifizierung der wesentlichen Problemfelder

"CargoCake", "Delight" und "Express" zeichnen sich in der vorliegenden Fallstudie durch jeweils ganz unterschiedliche Lieferperformancen aus. Auf der Grundlage einer empirischen Erhebung bei einem Kunden von "Backblitz.de" ergibt sich die in Abb. 3-3 dargestellte Tabelle hinsichtlich der Termintreue bzw. Pünktlichkeit der Auslieferungen der Torten und Kuchen. Die in Abb. 3-3 als "pünktlich" bezeichneten Torten- und Kuchenauslieferungen werden dann als zielkonform interpretiert, wenn sie innerhalb des Zeitkorridors von plus/minus einer Zeitstunde des zwischen "Backblitz.de" und dem Kunden vereinbarten Auslieferungszeitpunkts an diesen ausgeliefert werden. In einer ersten Annäherung an das generierte Tableau zeigt sich, dass alle drei (Haupt-)Lieferanten von "Backblitz.de" keine durchgängig hohe Liefertreue bzw. Pünktlichkeit – und damit keine hinreichend gute Servicequalität in Bezug auf die Auslieferung der Backwaren – hervorzubringen vermögen. Diese Situation ist insoweit unbefriedigend, als dass die Kundenzufriedenheit bei Auslieferung durch alle drei angeführten Lieferanten sehr wahrscheinlich nicht in längerer Frist auf einem für "Backblitz.de" zufrieden stellenden

29

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Niveau verbleiben dürfte, da Lieferungen regelmäßig nicht innerhalb des vereinbarten Zeitkorridors ausgeführt werden. In einer weiterführenden Betrachtung lassen sich die folgenden Erkenntnisse deduzieren:

Abbildung 3-3: Analyse der Termintreue und Pünktlichkeit von Hauptlieferanten Lieferungen insgesamt

Lieferungen pünktlich

Lieferungen pünktlich

(absolut)

(absolut)

(relativ)

Mittelwert

Standardabweichung

Standardabweichung

Spannweite

(gewichtet)

(in Minuten)

CargoCake

12

9

75%

51,67

14,48

15,13

50

Delight

12

9

75%

29,17

36,1

37,71

100

Express

12

11

92%

30,42

17,01

17,77

65

Untersuchung

29,50

13,30

„ Das Auslieferunternehmen "CargoCake" weist in der Analyse die relativ zu den beiden anderen Lieferanten "beste" Standardabweichung seiner Auslieferungszeitschwankungen auf. Dies ist einerseits ein Indikator dafür, dass "CargoCake" nur vglw. niedrige Schwankungen in seinen Auslieferungszeiten aufweist. Demgegenüber ist hier jedoch zu bemängeln, dass das Unternehmen konstant bzw. regelmäßig nicht innerhalb des zwischen "Backblitz.de" und seinen Kunden vereinbarten Zeitfensters liefert; "CargoCake" liefert regelmäßig zu spät. So sind auch nur 75% der in die Analyse aufgenommenen Lieferungen akzeptabel. Die Kombination einer relativ niedrigen Standardabweichung mit einer vglw. häufig verspäteten Auslieferungszeit durch "CargoCake" könnte ein Indiz dafür sein, dass das Unternehmen die Teilschritte seines Lieferprozesses zwar weitgehend standardisiert und "unter Kontrolle" hat, andererseits jedoch der Gesamtprozess der Auslieferung schlicht zu lange dauert.

„ Das Auslieferunternehmen "Delight" weist mit einer Maßzahl von 37 Minuten die höchste Standardabweichung mit Blick auf die Auslieferungszeitschwankungen auf. Auch hier werden ebenfalls nur 75% der analysierten Lieferungen innerhalb des akzeptablen Zeitfensters ausgeliefert. "Delight" nimmt unter den drei analysierten Lieferanten in der vorgetroffenen Untersuchung auch deshalb die schlechteste Position ein, da die Spannweite hier – verstanden als Maßzahl für die Schwankungen der Auslieferungszeiten um den akzeptablen Zeitkorridor – mit Abstand den höchsten Wert aufweist (100). Dieses ist durchaus als Indiz dafür zu

30

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

werten, dass bei "Delight" die meiste Prozessarbeit zur Kalibrierung und Verbesserung der Auslieferungszeiten erforderlich wäre.

„ Obgleich das Auslieferunternehmen "Express" ebenfalls beträchtliche Abweichungen vom als akzeptabel interpretierten Zielkorridor für die Auslieferungszeiten aufweist, erscheint es in der Analyse der drei Unternehmen noch als der "bestgeeignetste" Lieferant. In gewisser Weise ist die Situation von "Express" mit der von "CargoCake" vergleichbar; dies in der Form, dass der Lieferprozess einerseits zwar weitgehend unter Kontrolle und standardisiert zu sein scheint, andererseits aber noch immer Defizite im Hinblick auf die Termintreue der Auslieferungen vorliegen. Im direkten Vergleich zu "CargoCake" liefert "Express" schneller bzw. "termintreuerer" aus, was seine Spitzenposition definiert. Abb. 3-4 vermittelt einen graphischen Eindruck der oben vorgenommenen Analyse und zeigt die Abweichungsschwankungen entsprechend auf. Die Darstellung ist dabei so gewählt, dass nicht diskrete Zeitpunkte der einzelnen Datenerhebung aufgezeigt werden, sondern dass i.S.e. stetigen Zeitverlaufs ein Kurvenverlauf "zwischen" die einzelnen Messpunkte gelegt wird.

Abbildung 3-4: Darstellung der Zeitabweichungen der drei Logistikdienstleister

Interflower

Min

CargoCake Fleuro

Delight

70

60

50 BloomsUSA

Express

40

30

20

10

t -10

Mo

Di

Mi

Do

Fr

Sa

Mo

Di

Mi

Do

Fr

Sa

-20

31

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

4.

Formulierung eines Lösungszugangs für "Backblitz.de"

4.1. Konzeptualisierung eines Portfolios alternativer Lösungsmöglichkeiten Mit Blick auf die vorzuschlagenden Maßnahmen zur Lösung des Lieferantendilemmas von "Backblitz.de" zeigt sich, dass die drei bislang im Fokus stehenden Auslieferunternehmen allesamt Verbesserungspotential hinsichtlich der Termintreue und Pünktlichkeit der Backwarenauslieferungen aufweisen. Bevor konkrete Anregungen für "Backblitz.de" formuliert werden, erscheint es jedoch zweckmäßig, dass auf folgende Situiertheiten hingewiesen wird:

„ Die Datengrundlage zur Analyse der Lieferabweichungen beruht auf einer empirischen Erhebung, bei der lediglich ein Kunde von "Backblitz.de" herangezogen wird. Dieser Kunde mag zwar eine Reihe an Produkten aus dem Sortiment von "Backblitz.de" nachgefragt haben, gleichwohl stellt sich hier die Frage, inwieweit die Bezugnahme auf einen einzigen Kunden überhaupt repräsentativ zur Beurteilung von Lieferantenabweichungen ist. Mit einem Umsatzvolumen von derzeit 150.000 Euro ist anzunehmen, dass – mit der Einbeziehung von lediglich einem Kunden in die empirische Untersuchung – wahrscheinlich noch nicht einmal ein Prozent des Umsatzvolumens von "Backblitz.de" in der Analyse abgebildet wird.

„ Darüber hinaus vermag auch die bereits zuvor erhobene Referenzzahl bezüglich der Lieferantenpünktlichkeit nur schwer in den Kontext der Analyse von "CargoCake", "Delight" und "Express" einzubeziehen sein, da über die Struktur des Lieferanten in der Referenzuntersuchung keine Angaben in der Fallstudie gemacht werden. Damit ist eine Kommensurabilität, wenn überhaupt, nur bedingt gegeben.

„ Für weiterführende Analysen und Empfehlungen an "Backblitz.de" wäre es in summa grundlegend wichtig, auch Informationen über die qualitativen Komponenten der Lieferantentätigkeit zu erfahren. Mit anderen Worten, in die Analyse fließen bislang auf der Grundlage der in der Fallstudie angegebenen Informationen lediglich Daten über die Termintreue und Pünktlichkeit der Torten- und Kuchenauslieferungen ein. Es ist jedoch nicht möglich, zu berücksichtigen, in welchem qualitativen Zustand die Backwaren bei ihren jeweiligen Empfängern ankommen. Gerade bei einem "verderblichen" Produkt wie Torten und Kuchen erscheint es als kritisch zur Beurteilung der Auslieferungsqualität, in welchem Zustand die Backwaren ihre jeweiligen Empfänger erreichen. Da diese Information in der Fallstudie fehlt, können darüber keine tiefergehenden Überlegungen angestellt werden.

„ Bezüglich des Verhältnisses von "Backblitz.de" zu "CargoCake", "Delight" und "Express" ist lediglich die Information in der Fallstudie formuliert, wonach alternative Lieferanten teurer seien und es für die Inhaberin von "Backblitz.de" erheblich vorteilhafter sei, dass sie die Beziehungen zu den drei Lieferanten aufrecht erhalte. Mit Blick auf mögliche Maßnahmen zum Lieferantenaufbau bzw. zur Etablierung

32

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

eines Lieferantenentwicklungsprogramms von Seiten "Backblitz.de" fehlen Angaben bezüglich der Leistungs- und Finanzverflechtung der drei Lieferanten mit dem im Blickpunkt stehenden Unternehmen.

„ Gleichsam wären in der Fallstudie Informationen bzw. Angaben darüber wünschenswert, in welchen geographischen Regionen die überhaupt in Frage kommenden Lieferanten in corpore sowie "CargoCake", "Delight" und "Express" hauptsächlich aktiv werden könnten. Mit anderen Worten, eine geographische Allokation der logistischen Lieferantenkapazität erscheint auf der Grundlage der Tatsache, dass "Backblitz.de" einen vglw. weiten geographischen Radius abdeckt, unabdingbar für eine effektive und letztlich effiziente Kundenbelieferung. Darüber fehlen jedoch auch bezügliche Angaben in der Fallstudie. In diesem Kontext wäre es auch wichtig zu erfahren, inwieweit die logistischen Kapazitäten der drei fokussierten Unternehmen kommensurabel sind. Auf der Grundlage der Analyse der Zeitabweichungen und unter Rekurs auf die in der Fallstudie formulierten Sachverhalte lassen sich mehrere Kernkontexte herausarbeiten. Dabei wird nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zur umfassenden Formulierung von Lösungsvorschlägen für "Backblitz.de" Informationen der vorbezeichneten Art als erforderlich angesehen werden.

„ "Backblitz.de" sollte u.E. versuchen, die Geschäftsbeziehungen zu "Express" und "CargoCake" zu intensivieren. Dieses kann bspw. dadurch geschehen, dass längerfristige Partnerschaftsverträge abgeschlossen werden, auf deren Grundlage "Express" und "CargoCake" i.S.e. Lieferantenentwicklung ihre Auslieferungsprozesse auf das Geschäft von "Backblitz.de" verbessert "zuschneiden" und inhaltlich prozessorientiert ausrichten. "Backblitz.de" verfügt über ein erhebliches Wachstumspotential, was sich auch durch die in der Vergangenheit beobachtete Entwicklung mit einem Wachstum von rund 400% in den ersten Geschäftsjahren illustriert. Für "Backblitz.de" wird es deshalb wichtig, Strukturebenen in das eigene Geschäft einzuziehen, auf deren Grundlage mit "CargoCake" und "Express" i.S.v. Preferred Suppliers längerfristig zusammengearbeitet wird.

„ Die Strategie des Lieferantenaufbaus bedingt aber auch, dass Backblitz.de" nicht unerhebliche finanzielle Mittel und zeitliche Ressourcen in den Aufbau und die Intensivierung der Abnehmer-Lieferanten-Beziehung investiert. Es erscheint hier zunächst fraglich, inwieweit "Backblitz.de" mit einer noch immer verhältnismäßig "bescheidenen" Marge von rund 10% die Finanzkraft und mit bislang nur zwei Mitarbeiter(-inne)n zum Lieferantenaufbau aufweist. Um deshalb die Strategie der Intensivierung auf zwei (Haupt-)Lieferanten abzusichern, erscheint es sinnvoll, sich mit der (Absatz-)Marktsituation von "Backblitz.de" zu beschäftigen.

„ "Backblitz.de" verzeichnet ein hohes Umsatzwachstum von rund 400% seit Bestehen der Operation. Im Hinblick auf die Ergebniswirksamkeit des Umsatzes ist nichts ausgesagt, es ist jedoch anzunehmen, dass für "Backblitz.de" ein weiteres

33

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Wachstum erforderlich sein dürfte, um den gegenwärtig bei 10% verharrenden Deckungsbeitrag der Operation mittel- bis längerfristig noch zu steigern. Insofern bietet sich aus dieser Sicht für das Unternehmen eine grundsätzliche Wachstumsstrategie an. Sie könnte bspw. fokussiert sein auf die Erschließung neuer Kundenfelder, indem das bislang eher stark zugeschnittene Produktangebot sukzessive erweitert wird. Auch wären hier Maßnahmen denkbar wie bspw. die zusätzliche (Mit-) Auslieferung arrondierender Produkte, die zu Backwaren komplementär sind (z.B. Grußkarten für besondere Anlässe u.ä.).

„ Andererseits erscheint die gegenwärtige Situation von "Backblitz.de" insofern auch nicht als unkritisch, da der Deckungsbeitrag der Operation bei rund 10% liegt, und die Inhaberin von "Backblitz.de" u.a. deshalb nicht auf – vermeintliche zuverlässige Lieferanten – zurückgreift, da diese teurer sind. Wertet man diese Informationen in Kombination als Indikator für eine gewissermaßen "angespannte" Kostensituation, dann erscheint es zunächst relevant, dass das Unternehmen sein Wachstum verlangsamt und zunächst seine internen Prozesse und Abläufe (so insbesondere auch die Zusammenarbeit mit den Auslieferungslieferanten) ordnet und konsolidiert und im Hinblick auf Kostengesichtspunkte optimiert. In summa stehen somit in einer Analyse u.E. zwei wesentliche Strategiefelder zur Disposition; entweder "Backblitz.de" verfolgt eine Strategie des weiteren konsequenten Ausbaus seines Wachstums oder aber das Unternehmen fokussiert zunächst "nach innen" auf die Optimierung seiner Kostenstrukturen und Prozessabläufe. Beide Alternativen stehen dabei aber in einem gewissen antinomischen Verhältnis zueinander, da sich die beiden Alternativen nicht gleichzeitig realisieren lassen. Insofern erscheint es aber auch so, dass eine Konsolidierung der Kostensituation und ein weiterer Ausbau des (Umsatz-) Wachstums sich wie in Abb. 3-5 dargestellt zueinander verhalten. Wird das Ziel des Wachstums priorisiert, nimmt entsprechend das Kosten(optimierungs-) ziel eine minorelle Rolle ein und umgekehrt. Mit Blick auf die Auswirkungen der beiden herausgearbeiteten Strategiealternativen zeigt sich, dass "Backblitz.de" mithin auch leicht unterschiedliche Strategien mit Blick auf das Handling der Lieferantenunregelmäßigkeiten applizieren sollte. Während bei einer Wachstumsstrategie potentiell mehrere Lieferanten benötigt werden (schon allein wegen der geographischen Allokation der Lieferanten über mehrere Absatzmärkte), und sich deshalb eine Strategie der Konzentration auf wenige Lieferanten nicht zwingend anbietet (Informationen über eventuelle Fähigkeiten und räumliche Dispersionskapazitäten von Lieferanten fehlen in der Fallstudie), erfährt das Instrument der Konzentration auf wenige Auslieferer bei einer Kosten(optimierungs-)strategie Gewicht.

34

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Abbildung 3-5: Strategiealternativen für "Backblitz.de" Kosten(optimierungs-)strategie Fokus: Optimierung interner Abläufe und der Kosten Lieferantenstrategie: Fokussierung auf kostengünstigste, wenige Lieferanten Wachstumsstrategie Fokus: mehr Marktwachstum Liefernatenstrategie: mehrere Lieferanten, Lieferantenwickltung

Mit Blick auf die Entscheidung darüber, welcher der bislang verwendeten drei (Haupt-)Auslieferer aus dem Lieferantenportfolio eliminiert werden sollte, gibt es im Grunde keine eindeutige Antwort (nicht zuletzt, weil die qualitativen Dimensionen – wie oben angeführt – nicht berücksichtigt werden können). Auch eine analytische Untersuchung hinsichtlich der "absoluten" Vorziehenswürdigkeit von Lieferanten liefert kein einheitliches Bild (vgl. Abb. 3-6). Nichtsdestotrotz erscheint von den bislang existierenden Lieferanten "Delight" als derjenige, der am unzuverlässigsten die Auslieferungsprozesse abarbeitet.

Abbildung 3-6: Box-Plot-Diagramm zur Lieferantenbeurteilung

µ

51,67

CargoCake 30,42 29,17

Express

Delight

σ² 207,36 289

1303,21

35

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

4.2.

Priorisierung der vorgeschlagenen Maßnahmen

"Backblitz.de" sollte u.E. versuchen, folgende Arbeitsschritte mit Blick auf die Selektion der zukünftigen Strategie im Umgang mit den Auslieferungslieferanten abzuarbeiten: 1. Die Kundenzufriedenheit der Leistungsempfänger von "Backblitz.de" stellt für das Unternehmen die oberste Priorität dar. Damit diese gewährleistet werden kann, erscheint es erforderlich, die Qualität der Dienstleistung von "Backblitz.de" – die zu einem nicht unerheblichen Teil auch durch die Pünktlichkeit der Backwarenauslieferung beeinflusst werden dürfte – entsprechend zu gestalten. Für "Backblitz.de" erfährt Qualitätsplanung und -verbesserung damit den Charakter eines Lieferantenmanagements. In diesem Zusammenhang sollte das Unternehmen auch eine Befragung bei seinen Kunden durchführen, inwiefern Unpünktlichkeit als "negativ" wahrgenommen und empfunden wird. Darüber hinaus sollte eine derartige Untersuchung Aufschluss darüber geben, welches Ausmaß an Unpünktlichkeit von den Nachfragern toleriert wird. Anhand einer solchen Befragung könnte bspw. auch ermittelt werden, wie viel Geld den Kunden eine nahezu pünktliche Auslieferung "wert" ist – bzw. um wie viel ein Verkaufspreis reduziert werden müsste, damit die Nachfrager den Preisnachlass i.V.m. Unpünktlichkeit kompensieren. 2. Damit das Unternehmen eine valide und repräsentative Datengrundlage für allfällige Analysen zur Lieferantensituation erhält, sollte "Backblitz.de" zunächst eine repräsentative empirische Untersuchung initiieren, in der versucht wird, die Ergebnisse der bislang vorliegenden Analyse zu verifizieren. Erst auf dieser breiteren Grundlage erscheint es u.E. sinnvoll, umfassende Empfehlungen abzuleiten. 3. Gleichwohl kann bereits an dieser Stelle aufgezeigt werden, dass "Backblitz.de" sich Gedanken darüber machen sollte, inwieweit primär auf Wachstum oder primär auf die Kostenoptimierung i.V.m. interner Konsolidierung abgehoben wird. Dieser normative Meinungsbildungsprozess innerhalb des Unternehmens ist hier als ergebnisoffen zu interpretieren und von daher sind für die weiteren Empfehlungen beide Alternativen einzubeziehen. 4. Sofern sich "Backblitz.de" für eine weitere Wachstumsstrategie entscheidet, bietet es sich an, auch die bislang nicht in Erwägung gezogenen Lieferanten einem "Markttest" zu unterziehen. Die Performance der bislang kontraktierten drei Hauptauslieferungspartner verlief nicht notwendigerweise in jedem Punkt erfolgreich, so dass – selbst bei höheren Transportkosten – vielleicht Lieferanten, die bislang nicht berücksichtigt wurden, hier zu einer Verbesserung und "Verpünktlichung" der Backwarenauslieferung beitragen können. 5. Sofern sich "Backblitz.de" für eine Konsolidierung seiner Prozesse und seiner Abstimmungsschnittstellen mit den mit der Auslieferung der Backwaren befassten Wertschöpfungspartner entscheidet, was u.E. einhergehen sollte mit einer Kostenoptimierung, dann wären Lieferanten zu selektieren, die möglichst zuverlässig die 36

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Torten und Kuchen ausliefern. Unterstellt man hierbei, dass die qualitative Auslieferungskompetenz ceteris paribus bei den im Fokus stehenden Alternativen identisch bzw. kommensurabel ist, dann sind vor allem "Express" und "CargoCake" i.S.e. Lieferantenentwicklung aufzubauen. Bei beiden Lieferanten wären vglw. minimale Kalibrierungen an der Lieferprozessen erforderlich, um eine weitgehende Erfüllung der Zeitkorridorvorgaben zu erfüllen. 6. Sofern sich "Backblitz.de" für den Aufbau einer intensiveren Geschäftsbeziehung bspw. zu "Express" entschließt, wären Maßnahmen zu formulieren, wie die beiderseitigen Prozesse bei "Backblitz.de" und "Express" besser miteinander verzahnt werden können, um Schnittstellenprobleme – bspw. aufgrund von Kommunikations- und/oder Koordinationshürden – verbessert in den Griff zu bekommen. Diese Maßnahmen würden vermutlich aufwands- und zeitintensiv, es erscheint jedoch als unabdingbar, dass auch von Seiten von "Backblitz.de" entsprechende Anstrengungen unternommen werden, um die Lieferpünktlichkeit insgesamt zu verbessern.

5.

Zusammenfassung

"Backblitz.de" erfährt das Problem, wonach ein Großteil der von dem Unternehmen kontraktierten Backwarenauslieferungen an seine Kunden nicht innerhalb des vereinbarten Zeitkorridors ausgeliefert werden. Im Fokus der Analyse stehen die drei derzeitigen (Haupt-) Auslieferer, welche die Zustellung der Torten und Kuchen übernehmen. Es zeigt sich auf der Grundlage einer quantitativen Analyse, dass im Kern keiner der kontraktieren Lieferanten eine weitgehend zufrieden stellende Performance aufweist. Insofern stellt sich für "Backblitz.de" das Problem, Lieferanten zu selektieren und aufzubauen. Das impliziert, dass die Abstimmungsprozesse zwischen "Backblitz.de" und seinen selektierten Wertschöpfungspartnern ggf. überarbeitet werden, um so die Reaktionsqualität – und die Servicequalität von "Backblitz.de" in den Augen seiner Kunden – zu verbessern. Hier sind eine Reihe von Maßnahmen denkbar, die im Rahmen dieser Ausführungen weitgehend skizziert und priorisiert wurden. Auf der Grundlage des zur Verfügung stehenden Datenmaterials zeigt sich bspw., dass insbesondere die Zusammenarbeit mit "Express" und "CargoCake" unter den gegebenen Randbedingungen ausgebaut werden sollte. Daneben sollten aber auch weitere, bislang nicht kontraktierte Lieferanten in eine engere Auswahl kommen. Insgesamt weist die Qualitätsplanung und -verbesserung des angebotenen Services von "Backblitz.de" einen erfolgskritischen Charakter auf, da davon ausgegangen werden kann, dass die Kunden des Unternehmens Unpünktlichkeit auf Dauer wohl kaum tolerieren werden, und mithin bei Nichtabänderung der gegenwärtigen Verspätungstendenzen mit einem Umsatzrückgang zu rechnen sein müsste.

37

3

3

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Literaturhinweise Verwendete Literatur Anschütz, S.; Friedrich, S.: Supply Chain Management in der Prozessindustrie. Ergebnisse einer bundesweiten Branchenstudie, Berlin 2002. Fritz, W.: Internet Marketing - Marktorientiertes eBusiness in Deutschland und den USA, Stuttgart 2001. Herrmann, A./Huber, F.: Determinanten des Erfolges von quality function deploymentProjekten, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 70 (2000) 1, S. 27-53. Hochlehnert, B.: Internet Selling- Integrierte Online-Verkaufslösungen mit SAP, Bonn 2001. Nieschlag, R.; Dichtl, E.; Hörschgen, H.: Marketing, 18. Auflage, Berlin 1997. Pfohl, H.-Ch.: Logistiksysteme – Betriebswirtschaftliche Grundlagen, 4. Auflage, Berlin 1990. Simon, H.; Homburg, C.: Kundenzufriedenheit – Konzepte, Methoden, Erfahrungen, Wiesbaden 1995. Zsifkovits, H.: Qualitätsmanagement aktuell Erfolgsfaktor Servicequalität - Total Quality Management (TQM) im Dienstleistungsbereich, Köln 1993.

Weiterführende Literatur Bogaschewsky, R.: Informations- und Kommunikationssysteme zur Unterstützung des Beziehungsmanagements, in: Hildebrandt, H.; Koppelmann, U. (eds.): Beziehungsmanagement mit Lieferanten. Konzepte, Instrumente, Erfolgsnachweise, Stuttgart 2000, S. 137. Glaser, J.: Citylogistik für Kuriere. Bündelungspotential bei KEP-Diensten; in: KEP aktuell, ETM Euro Transport Media, Stuttgart 1999. Hoffmann, R.; Lumbe, H.J.: Lieferantenbewertung – der erste Schritt zum Lieferantenmanagement, in: Hildebrandt, H.; Koppelmann, U. (eds.): Beziehungsmanagement mit Lieferanten. Konzepte, Instrumente, Erfolgsnachweise, Stuttgart 2000, S. 87. Ossadnik, V.; Froschmayer, A. : eChain Logistics – Bündelung von Informationstechnologie und Logistikdienstleistungen, in: Buchholz, W.; Werner, H. (Hrsg.): Supply Chain Solutions, Stuttgart 2001, S. 61.

38

Bearbeitung einer Fallstudie - ein Beispiel

Weinke, K.: Management von internationalen Lieferantenbeziehungen, in: Hildebrandt, H.; Koppelmann, U. (eds.): Beziehungsmanagement mit Lieferanten. Konzepte, Instrumente, Erfolgsnachweise, Stuttgart 2000, S. 69. Werner, H.: e-Supply Chains: Konzepte und Trends, in: Buchholz, W.; Werner, H. (Hrsg.): Supply Chain Solutions, Stuttgart 2001, S. 14.

39

3

Teil B Prozessmanagement

1

Einführung zum Prozessmanagement

Das Erlangen einer Wettbewerbsposition erfordert die Entwicklung einer geeigneten Strategie, zu verstehen als der gedanklich vorweggenommene Weg aus zielführenden, aufeinander abgestimmten Maßnahmen. Neben den aus Porter's elementaren Wettbewerbspositionen ableitbaren Branchen- und Segmentstrategien sind hybride Strategien als Mix von elementaren Wettbewerbsstrategien einzelner Unternehmen sowie Wertschöpfungsvernetzung als kooperative Wettbewerbsstrategie darstellbar. Die Aufgaben des Prozessmanagements umfassen in diesem Kontext die Konkretisierung von Maßnahmen hinsichtlich der Durchführung einzelner Aktivitäten zur Erreichung einer geplanten Wettbewerbsposition. Die einzuleitenden und zu steuernden Aktivitäten, auch als Prozesse bezeichnet, bilden in ihrer Vielzahl eine Prozesskette (nach Porter) bzw. ein Prozessnetzwerk. Aus der funktionalen und zeitlichen Interdependenz der zielwirksam zu managenden Prozesse begründet sich der Begriff "Prozessmanagement", von Porter jedoch in Betonung der Marktsicht als Wettbewerbsstrategie bezeichnet. Aufgrund der vorwiegend produktionswirtschaftlichen Sicht sollen als Teilaufgaben des Prozessmanagements "Technologiemanagement", "Kostenmanagement" und "Personalmanagement" im Vordergrund der Darstellungen stehen. Unter dem Aspekt "Organisationsmanagement" werden sonstige funktionale Aufgaben zusammengefasst, die im Einzelfall von hervorzuhebender Bedeutung sind. Die Herausforderung für das Prozessmanagement besteht darin, alle Teilprozesse auf die gewählte Strategie auszurichten und zielführend zu koordinieren.

Branchenstrategien • Kostenorientierte Differenzierung Unter dem Streben nach Kostenführerschaft ist die Minimierung der Stückkosten bei angemessener Qualität und Service das taktisch dominierende Leistungsziel. Diese Strategie stellt im Hinblick auf den angestrebten Marktpreis höchste Ansprüche an eine effiziente Produktion (incl. Montage) mit strenger Kostenkontrolle. Ein hoher Marktanteil in Verbindung mit Standardisierung von Produkten und Prozessen lässt degressionsbedingte Kosteneinsparungen realisieren (Größendegression, Lern- und Erfahrungskurven). IKEA sei hier als Beispiel für einen Möbelhersteller

43

1

Einführung zum Prozessmanagement

oder OETTINGER als Brauereibetrieb genannt. Häufig umfasst das Produktionsprogramm aus Gründen der Risikostreuung eine Vielzahl gleichartiger Produkte, wie dies bspw. bei brauner Ware (Elektronikgeräte) und weißer Ware (Küchengeräte) vielfach zu beobachten ist. Die grundlegende strategische Haltung ist defensiv, indem versucht wird, eine einmal aufgebaute Position gegen die Konkurrenz nachhaltig zu verteidigen. Eine erhebliche Bedeutung liegt darin, dass es im Rahmen des Technologiemanagements gelingt, durch geeignete Prozess- und Produkttechnologien die Fixkosten zu senken und so weit wie möglich zu proportionalisieren. Demzufolge kommt der Rationalisierung von Abläufen, Stellen und Erzeugnissen eine hohe Relevanz zu. Overengineering ist zu vermeiden, Produkte werden vorzugsweise modular gestaltet. Die Montage wird dadurch ebenso vereinfacht wie Entscheidungen über die Wertschöpfungstiefe. Die Tendenz führt deshalb weg von Fertigungsprozessen hin zur Konzentration auf Montageprozesse, was die Gestaltung kundenaher Produktionsprozesse begünstigt und diese als industrielle Serviceleistung erscheinen lässt. Das Kostenmanagement fokussiert auf die kostengünstige Gestaltung der Erzeugnisse bei vorgegebener Leistung (Minimumprinzip). Die Kostenstrukturanalyse zur Ermittlung der Entstehung und zur Zurechnung von Kosten (bzpw. Grenzplankostenrechnung, Prozesskostenrechnung) in Verbindung mit Kosten gestaltenden Verfahren (bspw. Target Costing) ist deshalb eine fundamentale Aufgabe. Hinsichtlich einer intensiven Kostenkontrolle ist auch der Kostenvergleich mit der Konkurrenz (bspw. Benchmarking) von Relevanz, um permanent die relative Kostenpositionierung zur verfolgen. Aufgrund des Minimumprinzips zielt das Personalmanagement insbesondere auf den Abbau nicht benötigten Personals und auf die Flexibilisierung des Personaleinsatzes. Einfach gestaltete Montageprozesse stellen nur geringe Anforderungen an die Arbeitsqualifikation, so dass geschulte Mitarbeiter in niedrigen Lohngruppen eingesetzt werden können. Vorteilhaft ist vielfach Gruppenarbeit in klar definierten Verantwortungsbereichen in Verbindung mit Prämienlohn als Anreizsystem. Wird im Rahmen von Rationalisierung der Weg der Prozessautomatisierung gegangen, so erfordert dies hingegen den Einsatz von qualifiziertem Personal mit entsprechenden Weiterbildungsmaßnahmen unter modifizierten Anreizsystemen. Im Entwicklungsbereich müssen ausreichend Ressourcen verfügbar sein, um Detailinnovationen bei Produkten und Prozessen voranzutreiben, was den Einsatz von qualifiziertem Personal sowie laufende Qualifizierungsmaßnahmen verlangt. Das Organisationsmanagement sollte über die vorgenannten Fähigkeiten und Anforderungen hinaus über besondere Kompetenzen im Einkauf und im Vertrieb verfügen, um alle Kostensenkungspotenziale zu nutzen. Marketingkompetenzen sind hingegen von nachgeordneter Bedeutung. Wesentlich ist ferner, dass der Zugang zu Kapital gegeben ist, um die erforderlichen Investitionen in Sachmittel und qualifiziertes Personal in Produktion sowie Entwicklung zu leisten. 44

Einführung zum Prozessmanagement

Es darf nicht übersehen werden, dass die Strategie der Kostenführerschaft neben Chancen auch erhebliche Risiken birgt, die die Zielerreichung verhindern können. Diese mögen zum einen intern bedingt sein, weil die Umsetzung aufgrund fehlender Kompetenzen oder Ressourcen nicht gelingt. Gefahren drohen jedoch auch aus dem Umfeld, wenn neue Konkurrenten aus dem In- und Ausland auftreten und Eintrittsbarrieren errichten, wenn unerwartet die Faktorkosten steigen oder die Preise verfallen oder wenn aufgrund von technologischen, politischen und marktlichen Einflüssen sich die Präferenzen der Abnehmer verändern. Die Dynamik der Umwelt verdeutlicht auch, dass die einmal eingeschlagene Strategie den Erfolg nicht auf Dauer sichern kann, wie Ford, Sharp, Commodore u.a.m. beispielhaft darlegen. Deshalb ist periodisch zu überprüfen, ob die eingeschlagene Strategie in einem veränderten Umfeld weiterhin verfolgt werden sollte.

• Leistungsorientierte Differenzierung Die Strategie der Leistungsdifferenzierung stellt auf einen Vorsprung oder die Einzigartigkeit der erbrachten Leistung ab. Das Vorgehen soll zu einer deutlichen Differenzierung führen, um damit Eintrittsbarrieren für die Konkurrenz zu setzen. Infolgedessen steht bei dieser Strategie der Qualitätswettbewerb im Vordergrund. Zum einen betrifft dieser das absolute (technische) Qualitätsniveau als Erfüllungsgrad technischer Spezifikationen (bspw. DIN, EC-Norm, etc.), um, abgesehen von Kosten, Image schädigende Reklamationen und Garantiefälle zu vermeiden, was entsprechende Qualität sichernde Maßnahmen in Produktentwicklung und Produktion erfordert. Zum anderen ist das relative Qualitätsniveau als Erfüllungsgrad des Kundenbedürfnisses (technisch, ökonomisch, metaökonomisch) in Relation zur Konkurrenz von hoher Relevanz. Dies zwingt insbesondere im Entwicklungsprozess zu Einsatz von Maßnahmen zur umfassenden Qualitätssicherung. Im Rahmen des Technologiemanagements ist deshalb die erfolgreiche Produktdifferenzierung von grundlegender Bedeutung. Der Erfolg hängt davon ab, dass es gelingt, Leistungen mit Merkmalen zu entwickeln, die Kundenpräferenzen bewirken. Die hohe Relevanz der Qualitätsniveaus bedingt die umfassende Kontrolle der gesamten Prozesskette sowohl upstream als auch downstream von Fertigung und Montage. Das Paradigma der Differenzierung verfolgt das Maximumprinzip, die beste Leistung bei vorgegebenem Aufwand. Im Fokus des Kostenmanagements steht deshalb die Optimierung von Herstellkosten. Dies erfordert gleichermaßen die Analyse und Gestaltung von Kostenstrukturen. Kostensteuerung und Kostenkontrolle ist im Vergleich zur Strategie der Kostenführerschaft ein etwas geringeres Gewicht beizumessen. Bei hohen Absatzvolumina können Degressionseffekte und Kostenproportionalisierung aber nicht unbeachtet bleiben.

45

1

1

Einführung zum Prozessmanagement

Aufgabe des Personalmanagements ist die Bereitstellung von Arbeitskräften mit hoher Qualifikation. Mitarbeiterkreativität ist insbesondere in der Grundlagen- und angewandten Forschung erfolgsrelevant. Einen hohen Anspruch an die Kompetenz von Mitarbeitern stellt auch die zielorientierte Koordination von Entwicklung, Marketing und Produktion. Das Halten des Qualifikationsniveaus der Mitarbeiter erfordert Investitionen in Schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Mit dem Ziel eines innovativen Klimas sind subjektive Anreizsysteme zu entwickeln, die die Motivation der Mitarbeiter fördern. Entwicklung und Vermarktung innovativer Leistungen erfordern in beachtlichem Umfang Investitionen. Das Organisationsmanagement hat deshalb dafür zu sorgen, dass in ausreichendem Maß Sach- und Personalmittel für F&E, Marketing und Produktion zur Verfügung stehen und koordiniert eingesetzt werden. Neben der engen Kooperation mit den Beschaffungs- und Vertriebskanälen kommt einem exzellenten Marketing eine hohe Relevanz zu. Es muss gelingen, mittels der Leistungsdifferenzierung ein dauerhaft differenzierendes Unternehmensimage aufzubauen. Im Idealfall wird das Produkt zur Marke, wie dies bspw. Intel gelungen ist ("Intel inside") oder auch Mercedes anhaftet. In der Strategie der Leistungsdifferenzierung vereinen sich offensives und innovatives Verhalten. Risiken werden in prospektiver Suche nach Marktchancen bis zu einem gewissen Grad in Kauf genommen. Insbesondere im Fall des Verdrängungswettbewerbs mit Preiskämpfen, wie bei Konkurrenz um die Preisführerschaft, ist diese Strategie häufig Erfolg versprechender. Dennoch können die Risiken der Differenzierung nicht unterschätzt werden. So kann bei hohen Differenzierungskosten der Preisunterschied im Markt zu groß werden oder der Bedarf an differenzierten Produkten schwinden. Auch durch Produktveralterung und Imitation drohen Gefahren. Grundig, AEG, IBM und auch Unternehmen der europäischen Automobilindustrie können als Negativbeispiele aufgeführt werden, weil diese zu lange auf dem Durchhalten ihrer Differenzierungsstrategie beharrten.

Segmentstrategien • Leistungsorientierte Fokussierung Mit dem Ziel, Marktnischen zu nutzen, um diese zu besetzen und damit Eintrittsbarrieren für Konkurrenten zu setzen, repräsentiert die leistungsorientierte Fokussierung ebenfalls eine innovative und offensive Grundhaltung. Dies setzt eine gründliche Marktanalyse hinsichtlich Erfolg versprechender Segmente voraus. Die Konzentration auf ein Branchensegment führt letztlich zu einer mehr oder weniger engen Spezialisierung auf einen Schwerpunkt.

46

Einführung zum Prozessmanagement

Ähnlich wie bei der Differenzierung hängt der strategische Erfolg davon ab, dass es dem Technologiemanagement gelingt, Erzeugnisse mit attraktiven Alleinstellungsmerkmalen zu entwickeln, zu produzieren und zu vermarkten. Der Produktvariation, verstanden als Veränderung primär technischer und funktionaler Produkteigenschaften im Zeitablauf zur Wahrung der Nischenbesetzung, kommt eine größere Bedeutung zu. Von besonderer Relevanz sind deshalb die Art der Gestaltung von Produkten und Wertschöpfungsprozessen. Bei begrenzten Ressourcen erlangen vertrauensvolle Kooperationen in Forschung, Entwicklung und Produktion eine besondere Bedeutung. Dem Kostenmanagement liegt ebenfalls das Maximumprinzip zugrunde. Der Aufgabenfokus gleicht deshalb dem der Differenzierung, jetzt jedoch bezogen auf das besetzte Segment. Bei geringem Produktionsvolumen kommt dem Abbau von Fixkosten und der Proportionalisierung von Herstellkosten eine hohe Bedeutung zu. Degressionseffekte hingegen sind gewöhnlich nur in geringem Ausmaß realisierbar. Im Fall von Kooperationsprojekten können jedoch auch hier für beide Seiten sich nutzbare Potenziale eröffnen. Analog zur Differenzierungsstrategie obliegt dem Personalmanagement die Bereitstellung gut bis hoch qualifizierter Mitarbeiter in F&E, Produktion, Marketing und Beschaffung, die laufend zu schulen und weiterzubilden sind. Die schnell wechselnden, vielfältigen Aufgaben fordern den Mitarbeitern die Übernahme von Verantwortung, hohe Flexibilität und eine überdurchschnittliche Belastbarkeit ab. Andererseits ist Abbau einfacher Arbeitsplätze im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen zur Kosteneinsparung (Automatisierung, Outsourcing, Kooperation) nicht zu umgehen. Wesentliche Aufgaben des Organisationsmanagements sind die zielgerichtete und schnelle Umsetzung von Entscheidungen in Maßnahmen und die Bereitstellung von investiven Mitteln. Denn die Fokussierung bedingt einerseits Investitionen in Sach- und Humankapital, andererseits werden durch Desinvestionen auch Mittel freigesetzt, vergleichsweise jedoch meist in einem geringeren Umfang. Investitionen erfordert auch der Aufbau von Kooperationen, Allianzen oder Netzwerken in F&E, Produktion, Beschaffung und Absatz, die zur Verbreiterung der Ressourcenbasis einzugehen sich gewöhnlich als vorteilhaft erweist. Diese bedürfen nach dem Aufbau jedoch der laufenden Beziehungspflege. Das Unternehmen Porsche kann als positives Paradebeispiel für eine Differenzierungsstrategie genannt werden. Die Negativbeispiele der deutschen Uhrenindustrie und der deutschen Fotoindustrie veranschaulichen, dass diese Strategie keineswegs risikolos ist: So können sich die Unterschiede zwischen Segment und Markt als Ganzem im Zeitablauf verlieren, Imitatoren können auftreten und unterlassene technische Fortschritte können Know-How-Defizite verursachen. Besonders problematisch wird es jedoch dann, wenn das Management in Ignoranz der veränderten Umfeldsituation und Verkennung der Notwendigkeit eines rechtzeitigen Stra47

1

1

Einführung zum Prozessmanagement

tegiewechsels versucht, die vergangenheitlich erfolgreiche Strategie weiter durchzuziehen.

• Kostenorientierte Fokussierung Bei Rückzug auf das Kerngeschäft beschränkt sich ein Unternehmen auf die Nutzung meist nur weniger, ganz spezieller Fähigkeiten ("Kernkompetenzen") in einem schmalen Segment. Spezialisierung mit enger Schwerpunktsetzung unter Aufgabe von Rand- und Nebenkompetenzen ist deshalb als ein ausgeprägt defensives Verhalten einzustufen. Wie bei jeder Segmentierung ist eine gründliche und vorausschauende Marktanalyse die unabdingbare Vorraussetzung für den Erfolg. Im Vordergrund des Technologiemanagements stehen deshalb Produktelimination und Rationalisierung. Technologische Kompetenzen, die keinen Mehrwert mehr erbringen, sind deshalb zu veräußern oder aufzugeben. Spiegelbildlich dazu sind die verbleibenden Kompetenzen zu vertiefen und komplementäre Kompetenzen in einem dynamischen Prozess aufzubauen und zu Kernkompetenzen weiter zu entwickeln. Denn nur die in den Leistungen manifest gewordene Kompetenz ist das Alleinstellungsmerkmal, das der Kunde honoriert und damit den Erfolg sichert. Das Kostenmanagement ist vom Minimumprinzip geprägt: Auf der Grundlage analytischer Kostenuntersuchungen sind Kostensenkungspotentiale zu auszuloten, um die angestrebte Leistung unter Ausnutzung aller Einsparmöglichkeiten zu realisieren. Gleichwohl darf der Minimierungsansatz, verbunden mit intensiver Kostenkontrolle, die technologische Fortentwicklung nicht beeinträchtigen. Beim Personalmanagement steht der Abbau obsoleter Arbeitsplätze aufgrund der Produkteliminationen dem Aufbau von Arbeitsplätzen in F&E, Produktion, Beschaffung und Absatz zur Sicherung des Kompetenzvorsprungs gegenüber. Hierfür müssen hoch qualifizierte, belastbare Mitarbeiter und Spezialisten akquiriert werden, die auf dem aktiven Kompetenzgebiet geschult und weiter gebildet werden. Das Organisationsmanagement steht vor der Herausforderung, Entscheidungen zielgerichtet und schnell umzusetzen und einen ausbalancierten Weg in der Kombination von Investition und Desinvestition zu finden. Die enge Spezialisierung erfordert mehr noch als bei der Fokussierung komplementäre Partnerschaften in Form von Kooperationen, Allianzen oder Netzwerken. Die Risiken des Rückzugs in die Spezialisierung bestehen im Verlust der geschäftstragenden Kompetenzen durch Verteidigung bis zum Letzten. Häufig sind technologische Stagnation und fehlender technischer und organisatorischer Fortschritt hierfür ursächlich, was letztlich zur Geschäftsaufgabe zwingt. Beispiele für Unternehmen, die den Rückzug auf Kernbereiche vollzogen haben sind ehemals breit

48

Einführung zum Prozessmanagement

aufgestellte Unternehmen der deutschen Foto-, Optik- und elektrischen Bauelementeindustrie.

Hybride Strategien Massenproduktion als Produktion standardisierter Güter in großen Mengen ist gewöhnlich nur in Märkten erfolgreich, in denen das Angebot an begehrten Gütern knapp, die Nachfrage danach hingegen hoch ist, so dass die Hersteller den Preis setzen können. Die Preiskalkulation kann deshalb progressiv nach dem Schema "Selbstkosten plus Profit gleich Marktpreis" erfolgen. Dem "Gesetz der Massenproduktion" unterliegt die Kausalität, dass in Verkäufermärkten wachsende Produktionsvolumina die Ausnutzung von Degressions- und Lerneffekten erlauben, so dass die Selbstkosten sinken und somit auch die Preise gesenkt werden können, was wiederum die Nachfrage und via Kostendegressionen die Gewinne steigen lässt. Der Erfolg der Massenproduktion liegt also darin, unter Orientierung auf die eigenen Leistungsbereiche mittels hoher Produktionsvolumina von standardisierten Gütern profitable Preise fordern zu können. Betrachtet man die Kostenführerschaft aus Sicht der Potentialorientierung, so liegt auch hier die Fokussierung primär auf den eigenen Leistungsbereichen um die Selbstkosten standardisierter Güter niedrig zu halten. Da bei intensiver Konkurrenz der Güterpreis unter Wettbewerbsbedingungen durch den Markt jedoch vorgegeben wird, ist für den Erfolg, gemessen am Profit, das Niveau der Selbstkosten ausschlaggebend. Somit bestimmt die Relation "Marktpreis minus Profit gleich Selbstkosten" regressiv das Kostenziel. Aus gleicher Perspektive betrachtet bildet die Differenzierung quasi das Komplement dazu. Im Markt eröffnet sich aufgrund der Leistungsdifferenzierung ein konkurrenzarmer Markt mit hohem Absatzpotential, so dass ein profitabler Marktpreis verlangt werden kann. In progressiver Rechnung kann – wie im Fall der Massenproduktion – der Marktpreis deshalb durch die Gleichung "Marktpreis gleich Selbstkosten plus Profit" festgelegt werden. Sollen Kostenführerschaft und Differenzierung zu einer hybriden Strategie verschmelzen, so ergeben sich aus den vorgenannten Überlegungen zwei Optionen (s. Tabelle 1-1): Mass Customization: Erbringung kundenindividuell differenzierter Leistungen nach den Gesetzen der Massenproduktion in einem Markt mit standardisierten Gütern zu einem Preis, der gleich oder geringfügig höher als der Preis für Standardprodukte ist. Mass Differentiation: Erstellung differenzierter Leistungen nach den Gesetzen der Massenproduktion in einem Markt mit wenig differenzierten Leistungen zu einem Premiumpreis.

49

1

Tabelle 1-1:

Hybride Startegien: Mass Customization and Mass Differentiation Potentialorientierung auf …

Erfolgsorientierung

1

Einführung zum Prozessmanagement

… Leistungsbereiche

… Markt

niedrige Selbstkosten

Kostenführer

Mass Customization

profitabler Marktpreis

Mass Differentiation

Differenzierung

• Mass Customization Der Gedanke der kundenindividuellen Variantenvielfalt geht auf Davis als theoretisch-konzeptionellen Vordenker und auf Pine als Pragmatiker zurück. Im deutschsprachigen Raum wird die Idee von seinem Schüler Piller propagiert. Unter dem Begriff Agile Manufacturing geht das Konzept von Maskell in die gleiche Richtung. Das Ziel des Ansatzes besteht darin, kleine Lose bis zu Losgröße 1 mit hoher Varietät ohne wesentliche Kostensteigerungen zu produzieren. Die Erwartungen der Kunden hinsichtlich Qualität, Kosten und Service sollen übertroffen werden. Der Wettbewerbsvorteil liegt demzufolge in der individuellen Produktdifferenzierung bei nahezu gleichem Preis. Dies erfordert einerseits eine hohe Kundenorientierung mit intensiver Interaktion, andererseits aber ebenso eine hohe Lieferantenorientierung auf der Grundlage kooperativer Beziehungen, um die Varietätsanforderungen ohne wesentliche Lagerbestände schnell und flexibel zu erfüllen. Die informations- und produktionstechnische Ausstattung sowie das Potential der Mitarbeiter sind die Schlüssel zum Erfolg. Organisatorische Vorraussetzung ist die flexible Spezialisierung auf der Basis flexibler Produktionseinrichtungen. Informationstechnisch muss eine sowohl Kunden als auch Lieferanten übergreifende Datenbasis vorhanden sein, um mittels agiler Software eine schnelle Kommunikation und Ausführung zu realisieren. Multifunktionale und funktionsübergreifende Mitarbeiterteams, die für schnelle und durch ständige Verbesserung für die Beschleunigung der Geschäftsprozesse sorgen, sind die Voraussetzung für den Erfolg. Das nachfolgende, verkürzt wiedergegebene Beispiel illustriert die Anwendung. Ein Kunde will Jeans in einem individuellen Design mit perfektem Sitz. Hierzu begibt er sich zu einer Servicestation, die seine Körpermaße mit einem 3D-Scanner ermittelt. Anhand von Stoff- und Designmustern sowie modularisierten Designelementen stellt der Kunde seine Wunschhose zusammen. Der Kundenauftrag wird unverzüglich in Schnittmuster umgesetzt und zu einer Schneiderei übertra-

50

Einführung zum Prozessmanagement

gen. Nach maschinellem Zuschneiden und Vernähen der Teile werden die Jeans wenige Tage später an den Kunden geliefert. Generische und hybride Strategien können in einem Unternehmen nebeneinander in demselben Segment oder in unterschiedlichen Segmenten verfolgt werden. Generellen Lösungen existieren für diesen Ansatz jedoch nicht, sondern lediglich situative. Außer der Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie (bspw. Land's End, Levi Strauss & Co., Dolzer, Otto), sind die Elektronik- und Computerbranche (bspw. Dell) oder der Bauindustrie (bspw. Streit) Anwendungsbeispiele für diese Strategie. Mit dieser Entwicklung vollzieht die Industrie einen Wandel von der Sachgüterproduktion hin zu einem industriellen Service.

• Mass Differentiation Dieser Ansatz kann als eine Kombination von Kosten- und Innovationsführerschaft perzipiert werden, wobei Innovationen das Differenzierungsmerkmal verkörpern. Wie im vorgenannten Ansatz sind kooperative Beziehungen mit den Lieferanten gleichermaßen von Bedeutung. Die Innovationsführerschaft bezieht sich selbst erstellte Produkte, Systeme, Komponenten u.a.m., deren Eigenschaften von Kunden in besonderem Maße wahrgenommen und mit der Leistungsfähigkeit und Kompetenz des Herstellers assoziiert werden. Dieses Alleinstellungsmerkmal erlaubt Premiumpreise auf der Basis progressiver Preiskalkulation. Kostenführerschaft hingegen wird beim Herstellungsprozess sowie bei fremdbezogenen Leistungen verfolgt, also bei Prozessen und Objekten, die vom Kunden nicht direkt wahrgenommen oder als weniger bedeutend angesehen werden. Als Beispiel hierfür können die Premiumhersteller in der Autoindustrie wie Audi, BMW oder Mercedes angeführt werden. Die eingesetzten Mittel sind innovative Detailleistungen unter Fokussierung auf die eigenen Kompetenzen wie bspw. bei Design, Karosse, Motor, Fahrwerk, elektronische Assistenten u.a.m.. Die Produkttechnologie der Modularisierung in Verbindung mit Automatisierung der Fertigung und Montage ermöglicht Variantenfertigung unter Nutzung der Vorteile der Großserienfertigung. Modell- und markenübergreifend trägt die Verwendung von Gleichteilen und Baukastenelementen auf der Basis gemeinsamer Plattformen zur Kostensenkung bei. Spezialisierte Komponenten- und Systemlieferanten erbringen in enger Kooperation Leistungen, die unter dem "Hut" für Kunden nicht von primärer Bedeutung sind. Für Standardteile und -komponenten werden kostengünstige Bezugsquellen erschlossen.

51

1

1

Einführung zum Prozessmanagement

Wertschöpfungsvernetzung Die vorgenannten hybriden Strategien erfordern eine enge Kooperation der Akteure und verdeutlichen, dass angesichts der gesunkenen und der weiter sinkenden Wertschöpfungstiefe nicht mehr Unternehmen mit Unternehmen konkurrieren, sondern Wertschöpfungsnetzwerke miteinander im Wettbewerb stehen. Bei Allianzen, JointVentures, strategischen Netzwerken in Forschung, Entwicklung, Produktion, Logistik und bei anderen Erscheinungsformen von Netzwerkarrangements gewinnen vertrauensvolle Kooperationsbeziehungen eine hervortretende Bedeutung. Die Kooperationspartner bleiben in der Wertschöpfungsvernetzung rechtlich selbständig und ökonomisch weitgehend autark. Zwei grundsätzliche Ausrichtungen von Netzwerken lassen sich unterscheiden: Zum einen Wertschöpfungsverbunde, die grundsätzlich auf Dauer angelegt sind und gewöhnlich als "Allianzen" bezeichnet werden (bspw. Star Alliance); zum anderen temporäre, projektbezogene Kooperationen, vielfach als "Virtuelle Unternehmen" charakterisiert. Der Kundennutzen besteht darin, dass der Kunde nicht selbst die einzelnen Teilleistungen bei entsprechenden Anbietern erfragen, erwerben und koordinieren muss, sondern ein Netzwerkpartner das Netzwerk nach außen hin repräsentiert (one face to the customer), als Ansprechpartner die Leistung als Gesamtpaket anbietet und die Akteure diese in komplementärer Partnerschaft und interner Koordination erbringen. Die Netzwerkkooperation vollzieht sich im Wesentlichen auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens ohne umfassende Vertragswerke und führt somit zur Senkung der Transaktionskosten. Die Fokussierung der Akteure auf ihre speziellen Kompetenzen erlaubt eine flexible Spezialisierung zum Nutzen des Kunden. Die komplementäre Leistungsabstimmung ermöglicht im Innenverhältnis eine verbesserte Kapazitätsauslastung. Innerhalb des Netzwerks stehen die Partner zugleich in Kooperation und Wettbewerb (Coopetition). Infolge des Wettbewerbsdrucks werden die Netzwerkakteure gezwungen, ihre Kompetenzen dynamisch weiter zu entwickeln und sich weiter zu qualifizieren, um ein wertvoller Partner zu bleiben. Einerseits ist nicht zu vermeiden, dass Partner in enger Kooperation voneinander lernen, so dass die Gefahr besteht, dass jeweils der andere Akteur sich Kompetenzen seines Partners aneignet. Für Kompetenzen, die verlustig gehen, muss deshalb ein Ausgleich durch den Erwerb neuer Kompetenzen gesucht werden. In ähnlicher Weise besteht auch eine Substitutionsbedrohung eines Netzwerkakteurs durch externe Konkurrenten, die aufgrund ihrer Kompetenzen als Netzwerkpartner eventuell zweckmäßiger erscheinen. Wertschöpfungsarrangements in interorganisationaler Vernetzung können durch Kombination komplementärer Einzelleistungen - meist mittlerer Spezifität - eine Gesamtleistung anbieten, die ein Unternehmen allein nicht effizient erstellen könnte. Zudem kommt die zunehmende Wertschöpfungsmodularisierung in Entwicklung, Herstellung und Logistik dieser Organisationsform entgegen. Die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnik ermöglicht auch die Kooperation räum52

Einführung zum Prozessmanagement

lich weit verteilter Unternehmen. So vergeben bspw. Automobilhersteller Entwicklungs- und Fertigungsaufträge für Systeme und Module häufig komplett an ein Unternehmen, das als verantwortlicher Systemführer das Netzwerk aus verteilten Zulieferunternehmen organisiert und die Einzelprozesse der Partner koordiniert.

Literaturhinweise Biervert, B.: Unternehmensvernetzung: Konzepte und Fallstudien, Wiesbaden 1992. Bellmann, K. (Hrsg.): Kooperations- und Netzwerkmanagement: Festgabe für Gert v. Kortzfleisch zum 80. Geburtstag, Berlin2001. Maskell, B. H.: Software and the Agile Manufacturer, Computer systems and world class manufacturing, Portland 1994. Piller, F.: Kundenindividuelle Massenproduktion: Die Wettbewerbsstrategie der Zukunft, München [u.a.] 1998. Pine, B. J.: Mass Customization: The New Frontier in Business Competition, Harvard 1993. Porter, M. E.: Wettbewerb und Strategie, München 1999. Porter, M. E.: Wettbewerbsstrategie : Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten, 5. Aufl., Frankfurt [u.a.] 1988.

53

1

2

Die chinesische Spieltheorie*

Werkseröffnung in Shenyang "Was wissen Sie?", entfuhr es Helmut Panke. Der Tonfall des BMW-Chefs war aggressiv und zerriss die fröhliche Stimmung, mit der das Unternehmen die Eröffnung seines Werkes im nordchinesischen Shenyang feierte. Eine kurze Frage zu BMWs Problemen in China hatte dem Vorstandschef des Münchner Konzerns die Laune verdorben. Stocksteif und mit eingefrorener Miene saß er auf dem Podium. Sein feines Gespür und die düstere Vorahnung haben Panke nicht getrogen. Das Autogeschäft in China entpuppt sich immer mehr als kaum kalkulierbares Wagnis. Gerade erst musste Konkurrent Volkswagen erfahren, wie rasend schnell sich das Marktumfeld im Reich der Mitte verändert. Den Wolfsburgern, die 2003 in China operativ noch rund 560 Millionen Euro verdienten, droht in diesem Jahr nach einer Analyse der Investmentbank Goldman Sachs ein Verlust von rund 400 Millionen Euro. So hart wird es BMW nicht treffen. Dennoch: Ein Jahr nach Produktionsbeginn jagt in China ein Problem das nächste: Weil BMW zunächst zu sehr auf die 3er-Reihe, statt auf den 5er setzte und seine Autos zudem noch in den falschen Farben anbot, in den Kaderfarben schwarz und dunkelblau statt weiß oder silbern, wie es die Kunden wollten, stehen sich die dunklen Fahrzeuge die Reifen platt. Auf Grund des kleinen Produktionsvolumens ist es schwieriger und teurer als erwartet, Zulieferer nach Shenyang zu locken. Weil die lokal produzierten BMW im Vergleich zu etablierten Rivalen wie Audi aber auch Toyota zu teuer waren, musste BMW im Januar die Preise um bis zu 15 Prozent, je nach Fahrzeug bis zu 10.000 Euro, senken. Seitdem läuft die 5er-Reihe besser, wirft aber weniger ab. Den 3er bezeichnen Händler nach wie vor als Ladenhüter. Am meisten leidet BMW darunter, dass die Regierung schon kurz nach Aufnahme der Produktion die Staatsbanken anwies, weniger Kredite an Autokäufer zu vergeben, um

*

Quelle: Sieren, Frank: "Geld und Ärger", WirtschaftsWoche Nr. 17/ 21.04.2005. Frank Sieren ist seit zehn Jahren Bürochef der WirtschaftsWoche in Peking und Autor des Wirtschaftsbestsellers "Der China Code - Wie das boomende Reich der Mitte Deutschland verändert". Im Kapitel "Konkubinenwirtschaft" beschreibt er ausführlich weitere Fälle der chinesischen Spieltheorie.

55

2

Die chinesische Spieltheorie

so die Konjunktur abzukühlen. Seitdem hat das Wachstum des chinesischen Automarkts um 75 Prozent nachgelassen. Das trifft alle Hersteller, doch BMW besonders hart. Wenn es im Markt eng wird, sind routinierte Verkäufer ein entscheidender Wettbewerbsfaktor. BMW hat jedoch als Spätankömmling sein Vertriebsnetz nicht voll ausgebaut. Zuerst wurde die Überproduktion des Werks in Shenyang zum Teil in den Hallen des Autozulieferers Dräxlmaier zwischengeparkt. Schon in der zweiten Hälfte 2004 wurde dann auch dem letzten Optimisten klar, dass die ohnehin vorsichtig geplanten Absatzzahlen unerreichbar waren. Statt für das Jahr avisierte 18.000 Wagen baute BMW in Shenyang ganze 10.000 - in einer Fabrik, die auf 30.000 Fahrzeuge ausgelegt ist. Zu allem Unglück kamen auch noch Probleme mit dem chinesischen Zoll hinzu. Wie viele Wettbewerber importiert BMW einen Großteil der Teile und Komponenten. Doch die aus Deutschland gelieferten Komponentensätze mussten wie fertige Importautos voll verzollt werden, solange BMW keine Bescheinigung hatte, dass es sich nur um Zulieferteile handelte. Dagegen sperrte sich der Zoll mit der Begründung, im Zuge der WTO-Vereinbarung würde bald eine neue Regelung in Kraft treten, die abzuwarten sei. BMW wollte und konnte jedoch nicht warten. Inzwischen ist das Problem zwar entfallen, doch erst nachdem BMW um einen hohen Millionenbetrag ärmer war.

Chaosjahr 2004 Vier Spitzenmanager der Brilliance China Automotive Holdings und die Provinzregierung von Liaoning verbrachten den größten Teil des Jahres damit, miteinander zu streiten. Stein des Anstoßes waren Aktienoptionen der Manager, die diese nach Ansicht von Yang Baoshan, Präsident des größten staatlichen Brilliance-Aktionärs und gleichzeitig Chef der Industrieaufsichtsbehörde von Liaoning, zu Unrecht bekommen haben. Die Manager hielten empört dagegen, die Optionen seien ihnen just von jenen angeboten worden, die sie jetzt für unrechtmäßig erklärten. Im November riss eine knappe Mitteilung der Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers (PwC) den Kurs des in Hongkong und New York notierten Unternehmens endgültig in die Tiefe: "PwC legt sein Mandat nieder." Der Aktienkurs sackte ab - ebenso wie die Verkäufe der 5er- und 3er-BMWs sowie des Brilliance-Mittelklassewagens Zhonghua. Wenig später kam für drei der vier umstrittenen BrillianceManager das Aus, darunter den Präsidenten und CEO Su Qiang. Das Joint Venture, in dem die Chinesen auch das Finanz- und Personalressort kontrollieren, war gelähmt. Panke zog die Notbremse. Als neuer China-Chef der Bayern wurde Christoph Stark von DaimlerChrysler abgeworben. Ein Mann mit erheblicher Landeskenntnis: Unter seiner Führung fuhr DaimlerChryslers Bus-Joint-Venture Yaxing-Benz gegen die Wand. Am 1. Februar 2005 wurde auch der deutsche Joint-Venture-Chef Heinz Jürgen Preissler in Pension geschickt. Ihm folgte in Shenyang Eberhard Schrempf nach. Der

56

Die chinesische Spieltheorie

47-Jährige war zuvor Leiter Vertrieb Niederlassungen Deutschland und hat keine Chinaerfahrung.

Rückblende Horst Teltschik wird 1993 BMW-Vorstandsmitglied für Wirtschaft und Politik. Zuvor war er als Abteilungsleiter in der Regierung von Helmut Kohl lange für die Außenund Sicherheitspolitik zuständig. Auf der Suche nach einem chinesischen Produktionspartner für BMW rät ihm die Pekinger Planungskommission, mit einem der großen staatlichen Autohersteller zusammenzugehen. Der Manager Teltschik ignoriert den Rat. Er will lieber mit einem privaten Unternehmen zusammenarbeiten. Das passt besser zum Image von BMW. Außerdem erhoffte Teltschik sich davon mehr Kontrolle, weniger Bürokratie und niedrigere Kosten. Ein Partner ist schnell gefunden: Brilliance, der führende Minibushersteller aus Shenyang. Brilliance war vom ehemaligen Staatsmanager Yang Rong aufgebaut und stramm marktwirtschaftlich geführt worden. Wegen seiner großen wirtschaftlichen Bedeutung für die rückständige Provinz Liaoning hatte sich das Unternehmen den Regulierungsversuchen der Staatsplaner weit gehend entziehen können. Doch die Pekinger Planungsbehörde hat keineswegs die Absicht, Brilliance auch bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Firmen Sonderkonditionen zu genehmigen. Bei einem Treffen mit Teltschik sagt Planungschef Zhang Guobao, einer der erfahrensten und klügsten Wirtschaftsplaner: "Wir haben Ihnen mehrfach zu verstehen gegeben, dass dies der falsche Partner ist. Den wollen wir nicht.” Doch Teltschik hat sich in den Kopf gesetzt, den besten China-Deal aller Zeiten zu machen und macht unbeirrt weiter. Er setzt darauf, dank seiner hervorragenden Kontakte aus seiner Zeit als Kohl-Helfer, das Joint Venture mit Brilliance auch an der Planungskommission vorbei genehmigt zu bekommen. Die Zeit läuft Teltschik davon. Während er noch mit BMW verhandelt, vereinbart Manager Yang Rong eine Zusammenarbeit mit General Motors und Toyota. Die klassische Methode, die chinesische Staatsunternehmen gegenüber ausländischen Partnern einsetzen, um sie unter Druck zu setzen. Im Juni 2000 scheidet Teltschik aus dem BMW-Vorstand aus - ohne die politischen Probleme, die er für BMW lösen sollte, wirklich gelöst zu haben. Schließlich werden sich die Münchner und Yang Rong doch noch handelseinig. Die Deutschen versprechen, Brilliance bei der Entwicklung eines eigenen Fahrzeugs der oberen Mittelklasse zu unterstützen. Für die Herstellung von BMW-Limousinen verständigen sich beide Seiten darauf, nur die relativ geringe Stückzahl von 30.000 Fahrzeugen der 3er- und 5er-Reihe zu bauen.

57

2

2

Die chinesische Spieltheorie

Ein Abendessen Dass sich BMW und Brillance einig wurden, änderte jedoch nichts an der ablehnenden Haltung der Pekinger Planungskommission. Eine Produktionslizenz wollte sie weiter nicht erteilen. Auf der Suche nach politischen Verbündeten bekommen BMW und Brilliance jedoch Schützenhilfe von Liaonings Provinzgouverneur Bo Xilai. Bo, Sohn eines einflussreichen kommunistischen Altkaders, der den Langen Marsch mit Mao mitgemacht hatte, war erpicht darauf, BMW in seine rückständige Provinz zu holen. Und er weiß, dass es in der chinesischen Führungsriege nur einen gibt, der das Projekt gegen den Widerstand des Staatsapparats durchdrücken kann: der damalige Premierminister Zhu Rongji. Im Herbst 2001 sieht Bo seine Chance. Zhu hat Bundeskanzler Gerhard Schröder zu einem Abendessen im kleinen Kreis in die nordchinesische Hafenstadt Dalian eingeladen. Bo ist einer der Gäste. Vor seiner Gouverneurszeit hatte er in den Neunzigern als Bürgermeister die seinerzeit heruntergekommene Hafenstadt zu einem Vorzeigeort aufgepäppelt. Bo erklärt, mit BMW könne Liaoning an den Erfolg von Dalian anknüpfen. Zhu, ein Mann der Tat und Freund der Deutschen, gibt dem Joint Venture seinen Segen.

Spieltheorie – die chinesische Variante Doch Zhus Machtwort führt erst einmal zu gar nichts. Die düpierte Planungskommission ist stinksauer. Ihre Laune wird auch nicht besser, als der damalige BMWVorstandschef Joachim Milberg sie wenige Monate später, im März 2002, in Peking versetzt. Er sagt ein geplantes Treffen "wegen Staus” einfach ab und fährt stattdessen zu Premierminister Zhu. Die Planungsdirektoren verschleppen den Vorgang monatelang, ehe sie das Projekt schließlich dem Staatsrat zur offiziellen Genehmigung vorlegen. Mit kühlem Machtgespür hilft Gouverneur Bo dem Joint Venture schließlich über die Hürde und gibt den Pekinger Wirtschaftsplanern, was diese für ihre Zustimmung brauchen: Bo erklärt dem Unternehmensgründer und -manager Yang Rong, dass Brilliance künftig mehr Steuern zu zahlen habe. Außerdem stellt er Yangs Beteiligung an dem Unternehmen infrage. Dieser wehrt sich nach Kräften und droht damit, in eine Nachbarprovinz umzuziehen. Die Provinzregierung macht ihm ein letztes Angebot zur Güte, doch "unglücklicherweise wollte er mehr, als wir zu geben bereit waren”, fasst Regierungsvertreter Yang Baoshan den Ausgang zusammen. Im Juni 2002 bekommt Brilliance-Chef Yang, Besitzer eines Hongkonger Passes, den Tipp, sich schnell aus dem Staub zu machen, wenn er nicht verhaftet werden wolle. Yang flieht in die USA. Keinen Tag zu früh. Denn es existiert bereits ein auf seinen

58

Die chinesische Spieltheorie

Namen ausgestellter Haftbefehl, in dem ihm unter anderem Steuerhinterziehung vorgeworfen wird. Der Handel der Brilliance-Aktie in Hongkong und New York wird gestoppt. Mit dem Argument, Yang habe das Unternehmen nur als staatlicher Manager geführt, übernimmt die Provinzregierung von Liaoning die Kontrollmehrheit - zu einem Bruchteil des Marktwerts. Seitdem versucht Yang, inzwischen im Besitz einer amerikanischen Green Card, mithilfe eines prominenten Washingtoner Anwalts, dem ehemaligen US-Kongressabgeordneten Jim Slattery, seine konfiszierten Anteile im Wert von 690 Millionen USDollar vor internationalen Gerichten einzuklagen. Gleichzeitig sät er Zwietracht zwischen BMW und den neuen Herren bei Brilliance: "Herr Panke sollte sich in Acht nehmen, wenn er mit Leuten Geschäfte macht, die das Gesetz mit Füßen treten”, so Yang. "Solange ich nicht mein Recht bekomme, müssen auch andere Unternehmer davon ausgehen, dass ihre Investitionen nicht sicher sind.” Doch der BMW-Chef ließ ihm knapp ausrichten, dass die Eigentümerfrage aus Sicht von BMW geklärt sei. Anfang März 2003 weist ein amerikanisches Gericht Yangs Klage gegen die Provinzregierung von Liaoning zurück.

Die Lizenz zum Fertigen BMW ist nach vielen Irrungen und Wirrungen, viel Ärger und Geld schließlich da angekommen, wo man anfangs nicht ankommen wollte: bei einem staatlichen Unternehmen. Brilliance ist inzwischen ein ganz normaler Staatsbetrieb und voll unter der Kontrolle der Planungskommission, die dem neuen BMW-Chef Panke im Juli 2003 endlich eine Lizenz ausstellte. Die Arbeitsteilung im Joint-Venture-Vertrag ist ungünstig für BMW: Die beiden wichtigsten Funktionen, Personal und Finanzen, müssen die Bayern den Chinesen überlassen. Seitdem haben die Autobauer mit Gegenwind zu kämpfen. Bei der offiziellen Eröffnung des Produktionsstandorts im Mai 2004 ist - anders als üblich - weder ein hoher Vertreter der Zentralregierung noch der Provinzgouverneur anwesend. Geburtshelfer Bo ist Anfang 2004 zum chinesischen Handelsminister befördert worden. Nach so vielen Enttäuschungen sind Pankes Ausblicke inzwischen extrem vorsichtig. Er halte es durchaus für möglich, dass die chinesische BMW-Fabrik "erst 2010 ihre volle Auslastung von 30 000 Stück erreichen wird”, sagte er kürzlich. Panke freut sich inzwischen über kleinste Fortschritte. Auf der jüngsten Pressekonferenz von BMW Asien in Singapur gab er bekannt, dass die Regierung von Shenyang zum ersten Mal in ihrer Stadt produzierte BMW gekauft habe. Die Anzahl: 15 Stück.

59

2

2

Die chinesische Spieltheorie

Derweil plant sein chinesischer Partner, das Modell Zhonghua demnächst für unter 20.000 Euro auch in Deutschland auf den Markt zu bringen. Anfang des Monats stellten die Chinesen das Modell bei der Auto Mobil International in Leipzig vor.

Aufgabenstellung 1. Analysieren Sie die Markteintrittstrategie von BMW. 2. Beurteilen Sie das Interesse von Brilliance an dem Gemeinschaftsunternehmen mit BMW. 3. Charakterisieren Sie das Taktieren der BMW-Manager. 4. Nehmen Sie Stellung zu der Rolle der Pekinger Planungskommission. 5. Erläutern Sie den chinesischen Weg der Zielerreichung.

60

3

Reorganisation Reader’s Digest Switzerland*

Ausgangslage und Zielsetzung Das unternehmerische Umfeld der Verlags- und Medienbranche hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten wesentlich verändert. Nach Jahren enormer Zuwachsraten brachten die Jahre 2001 und 2002 einen umfassenden Paradigmenwechsel. Fortschreitende Technologisierung, Globalisierung, zusätzliche Wettbewerber, Verkürzung von Lieferzeiten und Innovationszyklen sind nur einige der wesentlichen Einwirkungsfaktoren auf die Verlagswelt und andere Medien-Branchen. Die Auswirkungen der Werbe- und Anzeigenflaute sind insbesondere in den Verlagshäusern zu spüren, die ihre üppigen Anzeigenerlöse in Multimedia und Internetinvestments riskierten. Die Verlagsbranche steht inmitten eines Umbruchs, der durch Konzentrationsprozesse, Reorganisation und strategische Neuausrichtungen gekennzeichnet ist. Veränderungsdruck entsteht insbesondere durch gewandelte Verbraucher- und Konsumgewohnheiten, verändertes Mediennutzungsverhalten, zunehmende Verdrängung der Off-line durch On-line Medien sowie durch eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Der gesamtwirtschaftliche Trend diktiert den Verlagen die Strategie zur Konzentration auf das Kerngeschäft mit den Maßnahmen zu Kostensenkung und Personalreduktion. Jedes Unternehmen muss sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit der Einschätzung von Krisen auseinandersetzen. Es gilt zu bewerten, ob es sich um eine konjunkturelle (das heißt zeitlich begrenzte) Krise handelt, oder ob diese Krise zu nachhaltigen Veränderungen der Branche führen wird. Das Unternehmen Reader’s Digest Switzerland, mit Sitz in Zürich, ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft des weltweit operierenden Konzerns Reader’s Digest (RD) mit Sitz in den USA. Reader’s Digest ist ein Medienunternehmen, das seine Produkte Zeitschriften, Bücher, Musikprodukte und Videosammlungen hauptsächlich über den Weg des Direktmarketings bewirbt und auf dem Postweg zum Kunden bringt.

*

Unter Mitarbeit von Werner Neunzig, Geschäftsführer von Reader's Digest Deutschland, Schweiz, Österreich.

61

3

Reorganisation Reader’s Digest Switzerland

RD Switzerland war eine eigenständige Gesellschaft und mit allen zur Geschäftsabwicklung notwendigen Funktionen ausgestattet. Durch Abkopplung vom weltweiten Informationsaustausch, durch zu starke lokale Konzentration sowie durch den Weggang wichtiger Leistungsträger wurde die Effizienz der gesamten Gesellschaft stark beeinträchtigt. Eine Überpenetrierung der Märkte und teure, nicht marktgerechte Produktentwicklungen ließen die Betriebsergebnisse in erheblichem Maße schrumpfen. Eine positive Entwicklung war nicht abzusehen und wurde von der lokalen Gesellschaft mittelfristig nicht prognostiziert. Die Zielsetzung des Konzerns war: Komplette Übernahme der Verantwortung für die Gesellschaft RD Switzerland durch die Gesellschaft RD Deutschland. Gemeinkosten und direkte Kosten sollten um Größenordnungen gesenkt, die Durchlaufzeiten (time to customer) für Werbematerial- und Produktentwicklung signifikant reduziert werden. Eine Einbindung der Mitarbeiter der Schweizer Gesellschaft in den weltweiten Informationsaustausch war sicherzustellen, damit eine operative Umsetzung der "Best Practices" gewährleistet werden konnte. Synergien, günstige Konditionen und Bedingungen, die von RD Deutschland bereits genutzt wurden, sollten auch im Schweizer Markt angewandt werden können. Durch die Zielsetzung war klar, dass eine grundlegende Hinterfragung aller bisherigen betrieblichen Abläufe notwendig wurde. Die Kostensenkungen in Größenordnungen sowie die signifikante Reduzierung der Durchlaufzeiten ließen eine inkrementelle Vorgehensweise als nicht zielführend erscheinen. Durch das Hinterfragen aller Abläufe und durch die bewusste Nutzung von Synergien mit der deutschen RD Gesellschaft wurde das gesamte Schweizer Unternehmen vom Reengineering erfasst. Die Verantwortung des Projektes lag beim deutschen Management.

Ansätze des Reengineering Im Mittelpunkt des Business Reengineering steht die grundlegende Neugestaltung von Prozessen eines Unternehmens zur Wertsteigerung für den Kunden. Im Gegensatz zu Business Process Reengineering umfasst Business Reengineering nicht nur die Neugestaltung der Geschäftsprozesse, sondern schließt auch die Neudefinition des Geschäftszweckes ein. Mit dem Konzept des Business Reengineering wird beabsichtigt, die Geschäftsprozesse zu vereinfachen, zu standardisieren und somit zu beschleunigen, die Kostensituation zu verbessern sowie die Handlungsgeschwindigkeit des Unternehmens zu erhöhen, um den Unternehmenswert (shareholder value) und den Nutzen für den Kunden zu steigern. Hammer/Champy definieren Business Reengineering als "...fundamentales Überdenken und radikales Redesign von Unternehmen oder wesentlichen Unternehmensprozessen. Das

62

Reorganisation Reader’s Digest Switzerland

Resultat sind Verbesserungen um Größenordnungen in entscheidenden heute wichtigen und meßbaren Leistungsgrößen in den Bereichen Kosten, Qualität, Service und Zeit."1 Das Konzept des Total Quality Management zielt darauf ab, den Qualitätsgedanken über alles zu stellen und auf alle Abläufe, Vorgehensweisen und Leistungen auszudehnen, um in kleinen Schritten innerhalb der bestehenden Prozesse Verbesserungen zu erzielen.2 Die Philosophie des Total Quality Management Konzeptes ist die absolute Qualitätsorientierung, die sich dynamisch verändert, indem sie stetig an die Kundenwünsche angepasst wird und dadurch zu höherer Kundenorientierung führt. Die Qualitätsorientierung erstreckt sich auf Produkt-, Prozess-, Service- und Kommunikationsqualität in allen Unternehmensbereichen.3 Ebenso wie das Total Quality Management Konzept, stellt der Ansatz des Lean Management ein Konzept dar, das sich auf die strategischen Erfolgsfaktoren Qualität, Kosten und Zeit konzentriert. Der Lean Management Ansatz, aus dem Ansatz der Lean Production entstanden, strebt präzise Kundenorientierung an, um eine Zielübererfüllung, die vom Kunden nicht honoriert wird, zu vermeiden. Die qualitäts- und kostenorientierte Erfüllung des Kundenwunsches soll über schlanke Denkweisen, schlanke Prinzipien, schlanke Maßnahmen, schlanke Strategien und schlanke Organisationen erfolgen. Dem Konzept liegt zugrunde, das alle Prozesse effektiver und effizienter gestaltet werden können, was zu einer überwiegend organisatorischen Betrachtung der Prozesse führt.4 Davenport stellt mit seinem Ansatz der Process Innovation die analytische Überprüfung und Weiterentwicklung der wichtigsten Unternehmensprozesse in den Mittelpunkt seiner Betrachtung.5 Dabei werden Prozesse hierarchisch strukturiert und in Gesamtprozesse, Teilprozesse und Aktivitäten gegliedert. Nach Festlegung der quantifizierbaren Prozessziele erfolgt die Umsetzung in fünf Stufen. Im Gegensatz zu anderen Reengineering Konzepten beschränkt sich Harrington mit der Methode des Business Process Improvement auf die signifikante Steigerung der Effektivität und der Effizienz von Geschäftsprozessen.6 Er baut auf den bestehenden Abläufen auf und entwickelt sie weiter. Infolgedessen Durch bleiben auch die funktionalen Strukturen weitgehend erhalten.

1 2 3 4 5 6

Hammer, M.; Champy, J.: Business Reengineering. Die Radikalkur für das Unternehmen. Frankfurt/M., München 1994, S. 52. Vgl. Ischikawa, K.: What is Total Quality Control?, New York 1985, S. 91. Vgl. Keuper, F.; Burchert, H.; Hering, T. (Hrsg.): Strategisches Management. München, Wien 2001, S. 102f. Vgl. Womack, J.P.; Jones, D.T.: Lean Solutions: How Companies and Customers Can Create Value and Wealth Together von James P., Daniel T. Vgl. Davenport, T.: Process Innovation – Reengineering Work through Information Technology, Boston 1993, S. 5. Vgl. Harrington, H. J.: Business Process Improvement. The Breakthrough Strategy for Total Quality, Productivity, and Competiveness. New York 1991, S. 20ff.

63

3

3

Reorganisation Reader’s Digest Switzerland

Das Konzept des Business Process Reengineering greift den Ansatz der kontinuierlichen Prozessverbesserung auf und überprüft die Einbettung in die Aufbauorganisation ohne jedoch die gesamte Organisation eines Unternehmens zu verwerfen. Ein Vertreter dieses Ansatzes ist Johansson, der sein Konzept in drei Phasen (Discover, Redesign, Realize) gliedert. Dabei handelt es sich um einen Top-Down-Ansatz, der die Strategieals auch Prozessgestaltung berücksichtigt und sich dabei auf wenig identifizierte Kernprozesse konzentriert.7

Change Management Change Management (auch strategic change oder organzational change genannt) bezeichnet die Planung, Koordination und Steuerung von tief greifenden Veränderungsprozessen im Unternehmen, die die kontinuierliche Entwicklung des Unternehmens unterbrechen. Change Management bezeichnet auch den Vorgang, durch den Mitarbeiter eines Unternehmens, die Veränderung der Unternehmensstrategie mit den Veränderungen von Systemen, Prozessen, der Organisationsstruktur sowie der Unternehmenskultur in Einklang bringen.8 Häufig folgen auf evolutionäre Wachstumsphasen revolutionäre Krisen, die zu einem hohen Veränderungsdruck führen Alle Prozesse der globalen Veränderung, sei es durch Evolution oder Revolution, fallen in das Aufgabengebiet des Change Management. Grundlegende und tief greifende Restrukturierungsmaßnahmen gehen stets mit einer Überprüfung oder Neuausrichtung der Unternehmensstrategie, einer Veränderung der Unternehmenskultur sowie einer Anpassung der eingesetzten Technologie und Systeme einher. Daher ist es eine essentielle Aufgabe des Change Management, zwischen den vier Handlungsfeldern Strategie, Organisation, Kultur und Technologie einen unternehmensoptimalen ‚fit’ herzustellen. Der Erfolg von Transformationsprozessen kann jedoch nur durch die simultane Betrachtung des Gesamtzusammenhangs erreicht werden.9 Bei der Umsetzung des Change Management lassen sich vier wesentliche Veränderungsstrategien unterscheiden.

„ Top-Down-Ansatz: Das Vorgehen setzt bei der obersten Führungsebene an, und die initiierten Veränderungen werden nach ‚unten’ in die Organisation getragen. Mit diesem Ansatz wird am ehesten die nötige Unterstützung durch das TopManagement erreicht.

7 8 9

64

Vgl. Johansson H.J.et al.: Business Process Reengineering. Breakpoint Strategies for Market Dominance. Chichester 1993, S. 80ff. Vgl. Reiß, M.: Change Management. Programme, Projekte und Prozesse, Stuttgart 1997, S. 9. Vgl. Vahs, D.; Leiser, W.: Change Management in schwierigen Zeiten. Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von Veränderungsprozessen, Wiesbaden 2003, S. 273.

Reorganisation Reader’s Digest Switzerland

„ Bottom-Up-Ansatz: Veränderungsanstrengungen gehen von der untersten Hierarchiestufe aus und sollen sich bis zur Führungsspitze durchsetzen. Entscheidend dabei ist, die notwendige Unterstützung sowohl vom Top- als auch vom Middlemanagement zu bekommen.

„ Center-Out-Ansatz: Hier bildet die mittlere Führungsebene den Ausgangspunkt des Veränderungsprozesses. Die Führungskräfte dieser Ebene verfügen über genügend Handlungsspielraum, um die Veränderungen nach oben und unten durchsetzten zu können.

„ Multiple-Nucleus-Ansatz: Meist entstehen Veränderungsanstöße gleichzeitig an verschiedenen Stellen im Unternehmen. Hierbei entsteht die Schwierigkeit, die unabhängigen Aktivitäten der verschiedenen Interventionsebenen miteinander in Einklang zu bringen.

Aufgabenstellung 1. Arbeiten Sie die Unterschiede der Reorganisationsansätze anhand geeigneter Merkmale und Prinzipien heraus. 2. Klassifizieren Sie die Reorganisationsansätze nach der Art der angestrebten Veränderung (evolutionärer vs. revolutionärer Prozess). 3. Zwecks Aufbaus einer strategischen Erfolgsposition ist die Verzahnung der Unternehmensstrategie mit den Strategien zur Prozessgestaltung (Prozessstrategien) ein entscheidender Schritt vor der Implementierung von Reorganisations-Projekten. Erörtern Sie, wie strategisch relevante Prozesse ermittelt und mit der Unternehmensstrategie verzahnt werden können. 4. Bei Reorganisations-Projekten erscheint es wenig sinnvoll, die Unternehmensstrategie völlig losgelöst von der Unternehmensstruktur und -kultur zu betrachten. Arbeiten Sie die wechselseitigen Interdependenzen zwischen Strategie, Struktur und Kultur, die einer ausgewogenen Abstimmung bedürfen, heraus. 5. Entwickeln Sie eine Konzeption (Vorgehen, Methodik, Maßnahmen) für das Change Management-Projekt "Reader’s Digest Switzerland". 6. Diskutieren Sie die Chancen und Risiken eines Change Management-Projekts.

65

3

4

Köpfe zum Lesen und Schreiben *

Ausgangssituation Sie sind Mitarbeiter in einem Halbleiterwerk der US-amerikanischen Firma IBM, die weltweit Standorte für Produktion und Vertrieb unterhält. Am Standort Mainz, an welchem Sie beschäftigt sind, werden Festplatten produziert und montiert. Diese werden in eigenen Laptops und Großrechnersystemen oder in Produkten von OEMKunden verbaut. Der Markt für Festplatten ist gekennzeichnet durch die Forderung nach kurzen Lieferzeiten und immer kürzer werdende Produktlebenszyklen. Dem gegenüber stehen die Bemühungen Ihres Unternehmens, die Kapazität der sehr teuren Fertigungsanlagen möglichst hoch auszulasten. Indes sind die Halbleitererzeugnisse auch bei IBM von den branchenüblichen hohen Ausschussraten in den einzelnen Produktionsstufen betroffen.

Die Mitarbeiterzeitschrift Im Werk Mainz erscheint in regelmäßigen Abständen eine Mitarbeiterzeitschrift. Diese enthält Informationen über Werk, Produkte, Prozesse, Kunden und Kollegen. Aus den letzten Ausgaben liegen Ihnen auszugsweise verschiedene Beiträge vor:

Dürfen wir vorstellen: Der Speicher-Riese Unser Mainzer Werk ist um eine Attraktion reicher: die Terabyte-Festplatte kommt auf den Markt. Darauf haben nicht nur wir gewartet, sondern vor allem auch unsere OEM- Kunden. Diese werden den Speicher-Riesen in ihren Produkten weiterverkaufen, aber auch im Direktvertrieb und in unseren eigenen Produkten soll die leistungsstarke Festplatte eingesetzt werden. Dass die erwartete Nachfrage nicht falsch eingeschätzt wurde, zeigt das Erreichen der Limited Availability (begrenzte Lieferfähigkeit). Von diesem Zwischenziel lässt sich die Produktion nun wie geplant bis zur General Availability ausweiten. In vier verschiedenen Ausführungen wird dieses Laufwerk nun produziert. Dabei ist zu beachten, dass die Unterschiede vor allem in der Anzahl der Platten liegen. Die Platten werden in *

Unter Mitarbeit von Kim Fehlinger

67

4

Köpfe zum Lesen und Schreiben

der fünften und letzten Montagestufe zusammen mit der Komponente 2 in das Gehäuse eingebaut. Dies geschieht nur, wenn ein Kundenauftrag vorliegt. Zum Verständnis: die Komponente 2 entsteht in der vierten Montagestufe: dort wird die Komponente 1 auf die mit der elektronischen Steuereinheit verbundenen Zugriffskämme aufgesetzt. Die Komponente 1 wird aus der vorgelagerten Montageeinheit gezogen. Hier werden Flyer an die Schreib-Lese-Köpfe angebracht. Zu der Entscheidung, das Produkt in Mainz zu produzieren, bemerkt unser Manager Jochen Häußer: "Durch die Konzentration aller Produktions-Abschnitte vom Wafer, Köpfen, Flyer, Steuereinheit und über die Platte bis zum Gehäuse haben wir in Mainz die Verantwortung für das komplette System. Wir erwarten daraus selbstverständlich Kosten- und auch Qualitätsvorteile, da die Kommunikationswege kürzer werden."

Abbildung 4-1: Der Speicher-Riese

Die Ära des 320X geht zu Ende Wie bereits in unserer letzten Mitarbeiterzeitschrift berichtet, wird zu Ende dieses Jahres die 320X Festplattenproduktion nach fast 10 Jahren in Mainz auslaufen. In dieser Zeit wurden fast 200.000 Festplatten dieses Typs verschiedener Generationen installiert. Weltweit wird nun nur noch in San Jose/Kalifornien/USA produziert, die auch die restlichen auf Lager liegende Festplatten aus Mainz übernehmen. Werden in Zukunft also noch 320Xer benötigt, müssen sie aus USA importiert werden. Dies kostet nicht nur Zeit, sondern auch den dreifachen Preis. Eine Arbeitsgruppe wurde in Mainz gegründet, die sich mit diesem Problem und auch der Weiternutzung der vorhandenen Reinräume und Maschinen beschäftigt. Ein Teil der Mitarbeiter wird nun für die Produktion der neuen Terabyte-Festplatte geschult. Für 10 Kollegen mit besonders großem Know-how über die 320X ist noch kein neues Aufgabengebiet gefunden. Es

68

Köpfe zum Lesen und Schreiben

wird nun überlegt, dass diese Kollegen einen Teil der vorhandenen Betriebsmittel zur Reparatur von alten 320X nutzen. Dass man mit Reparaturleistungen Geld verdienen kann, hat eine Studie nun erwiesen. Besonders wichtig ist dies im Bereich von Großrechnersystemen. Hintergrund In Großrechnersystemen sind, wie die Grafik zeigt, mehrere Platten zu einem so genannten RAID (Redundant Array of Independent Discs) verbunden. Fällt nun eine Platte aus, sind wir unseren Kunden verpflichtet, ihnen Ersatz zu liefern. Haben wir die Platten noch auf Lager, werden sie einfach ausgetauscht. Ist dies nicht der Fall, der Plattentyp wird z.B. nicht mehr produziert, tritt der Reparaturdienst in Aktion. Es wird versucht aus defekten Feldrückläufern eine funktionierende Einheit zusammenzusetzen. Im Moment liegt die Rate bei 3 zu 1. Ist dies nicht möglich, wird dem Kunden ein kompatibles Modell geliefert, wenn möglich wird die Platte ausgetauscht, ansonsten das ganze RAID. In diesem Fall muss dann die CU (Control Unit) neu programmiert werden und unser Kunde kann wie gewohnt arbeiten.

Abbildung 4-2: RAID

Control-Unit

Aus Schrott mach neu Wird eine fehlerhafte Festplatte z.B. in der letzten Montagestufe identifiziert, wird sie im Reworkbereich wieder demontiert und die einzelnen Teile werden getestet, nachbearbeitet und gegebenenfalls wieder in die Bevorratungsebene eingefügt. Auf diese greift die Endmontage nach Eingang des Kundenauftrags zu. Aber nicht alles kann repariert werden, und es bleiben Schrottteile übrig. Aus Dünnfilmplatten wurde nun ein neues Produkt geschaffen: eine außergewöhnliche Tischuhr. Die 5 ¼ Zoll-Platte ist darüber hinaus noch mit echten Slidern anstelle der Ziffern versehen. Beide Ausführungen kosten € 15,00 und können bei Horst See unter Tel. 5543 bestellt werden.

69

4

4

Köpfe zum Lesen und Schreiben

Abbildung 4-3: Zwei Modelle – ein Preis

Machen wir uns selbst Konkurrenz? In den letzten Mitarbeiterzeitungen war immer wieder über OEM zu lesen. In diesem Artikel möchten wir Ihnen einige Hintergründe zum besseren Verständnis aufzeigen. OEM bedeutet: Original Equipment Manufacturer und heißt, dass Kunden wie z.B. Dell und Siemens unsere Produkte in ihre Geräte einbauen und unter ihrem Namen weiterverkaufen. Dadurch entsteht eine Wettbewerbssituation, in der wir mit unseren eigenen Produkten in Konkurrenz treten. Auf den ersten Blick scheint dies nicht von Vorteil, aber trotzdem gewinnt das OEM Geschäft immer mehr an Bedeutung und immer mehr Produktteile werden dem Kunden angeboten. So z.B. neuerdings auch Schreib-Lese-Köpfe, die direkt aus den produzierten Wafern gesägt und gearbeitet werden (aus einem Wafer entstehen ca. 6.400 Köpfe). Der Grund für das OEM-Geschäft liegt im Volumen. Mainz wird noch in diesem Jahr ca. 500.000 Speicherplatten an OEM Kunden verkaufen und die Verhandlungen für das nächste Jahr laufen schon. Mit Vertragszusagen in dieser Größenordnung kann die Waferproduktion langfristig geplant und die Auslastung sichergestellt werden. Generell geht ca. die Hälfte der europäischen Plattenproduktion in das OEM-Geschäft. Für unsere Kunden sind Produktqualität und unsere Liefertreue besonders wichtig. Der Preis spielt nicht mehr die Hauptrolle. Kommt es dann zum Vertragsabschluß, werden die Produkte in der Endmontage kundenindividuell zusammengesetzt. Durch einen engen Kontakt zu den OEM Kunden erfahren wir viel über die Qualität und Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte und können frühzeitig auf Marktveränderungen und zu erwartende Entwicklungen reagieren. 70

Köpfe zum Lesen und Schreiben

Ein verrücktes Jahr für die Produktgruppe Speichersysteme Die Mitarbeiterzeitschrift (MZ) sprach mit Kerstin Lipp (KL), Leiterin der Produktgruppe Speichersysteme. MZ: Frau Lipp, ein turbulentes Jahr liegt hinter Ihnen. Was ist alles passiert? KL: Im Grunde war das letzte Jahr auch nicht viel turbulenter als die Jahre zuvor. Allerdings waren die Auslastungsschwankungen der vorhandenen Kapazitäten bei Mitarbeitern, Fertigungsstraßen und Testmaschinen ungewöhnlich hoch. In der Regel garantieren uns die Absatzprognosen eine gleich bleibende Auslastung der Produktion. Zu Jahresbeginn waren die Kapazitäten jedoch nicht voll ausgelastet und zum Jahresende hin mussten wir Sonderschichten fahren, da die aufgebauten Bestände nicht genügten. Kundenwünsche konnten nur mit vereinten Kräften aller beteiligten Funktionen, interner und externer Lieferanten, sowie Lieferungen aus San Jose erfüllt werden. MZ: Auf was führen Sie diese Probleme zurück? KL: Leider ist dies nicht so einfach zu sagen. Unsere Produktion wird wie bereits erwähnt anhand einjähriger Absatzprognosen geplant. Diese kommen durch Marktbeobachtungen, Erfahrungswerte, "offene Ohren" bei unseren OEM Kunden, den erwarteten irreparablen Feldrückläufern und eventuell vorhandene Lagerbestände zustande. Auf Grundlage dieser Daten wird die erwartete Stückzahl an benötigten Festplatten bestimmt und der Produktionsplan erstellt. Dieser beinhaltet unter anderem Vorgaben für das Produktions- und Verkaufsvolumen, Personalbedarfszahlen und Platzbedarf. Jeden Monat machen wir dann einen Plan-/ IstVergleich. MZ: Bei diesen Gesprächen geht es ja bekanntermaßen hitzig zu... KL: Oh ja! Die Leute vom Vertrieb möchten natürlich die Wünsche des Kunden so schnell wie möglich zufrieden stellen. Oft wird eine hohe Stückzahl an Festplatten mit einer Lieferzeit von zwei bis drei Wochen gefordert. Es kommt aber auch vor, dass wir Laufwerke innerhalb von 48 Stunden liefern. Bedenken Sie aber, dass wir allein für unseren ersten Fertigungsschritt, die Waferproduktion, ca. 80 Tage benötigen. Da treffen immer wieder verschiedene Interessen aufeinander. MZ: Also die Waferproduktion als Flaschenhals? KL: Auch dies ist so zu einfach. Die Waferproduktion ist ein hochtechnischer teurer Prozess, der seine Zeit benötigt, die wir im Moment nicht weiter reduzieren können. Das Problem ist, dass man Wafer nicht einfach schnell nachbauen kann und der Vertrieb Kunden auch mal Ersatzprodukte anbieten muss, wenn ein bestimmter Wafer nicht mehr vorhanden wird. Natürlich könnten wir auch Neustarts der Produktion machen, aber bei einem durchschnittlichen Produktlebenszyklus von drei Quartalen wäre das Produkt bereits überholt. Außerdem rüsten wir direkt nach Durchlauf des geplanten Volumens für die nächste Generation um. MZ: Frau Lipp, vielen Dank für das informative und interessante Gespräch.

71

4

4

Köpfe zum Lesen und Schreiben

Wir wollen, dass der Kunde zurückkommt und nicht das Produkt Unser Ziel kann daher nur sein, 100% fehlerfreie Produkte auszuliefern. Um dies zu erreichen, werden die Testkriterien in allen Simulationsstufen verschärft. Dadurch sollen mögliche Fehler möglichst frühzeitig entdeckt und behoben werden. Der 48 Stunden dauernde InstallationsSimulations Test ist die letzte Hürde, die unsere Produkte nehmen müssen. Tritt dort ein Fehler auf, so wird das Teil in der Montagestufe nicht einfach ausgetauscht, sondern direkt in die Fertigung zurückgesendet. Dieser Test bedeutet für unsere Kunden maximale Qualitätssicherheit, aber auch eine Mindestlieferzeit von zwei Tagen. Die Erfahrung was es heißt, wenn trotzdem fehlerhafte Teile ausgeliefert werden, machte im letzten Jahr die Produktgruppe Speichersysteme. Herr Rüdiger Lau dazu: "Ein Teil unserer Plattenspeicher verhielt sich im Betrieb bei unseren Kunden anders als erwartet. Der Aufwand zur Bereinigung dieser Situation und zur Betreuung unserer Kunden war erheblich und kostenträchtig." Aufgrund dieser Erfahrung muss der Anteil an fehlerhaften Teilen, der durch die Prüfstellen hindurchschlüpft, ständig reduziert werden. Aber nicht nur unsere Speicherplatten müssen der ständigen Kontrolle unterliegen, auch die Simulationsmaschinen selbst müssen zuverlässig arbeiten. Daher werden auch diese ständig gewartet. Lässt ihre Leistung auch nur minimal nach, werden Teile ausgetauscht. Dies ist immer ein Bestandteil der Verträge mit unseren Maschinenlieferanten. Es werden vor der Auftragserteilung Vereinbarungen über die Schulung des Wartungspersonals, Ersatzteile und Service-Leistungen getroffen, um im Reparaturfall kurze Stillstandzeiten sicherzustellen. Aber um unser Ziel 100% fehlerfreier Produkte zu erreichen, ist das Unternehmen vor allem auf Sie, die Mitarbeiter angewiesen, denn auch Sie haben eine Qualitätsverantwortung und zwar an Ihrem Arbeitsplatz. Aus diesem Grund möchte die Geschäftsleitung Sie nochmals dazu animieren, an unserer Aktion DU-Punkt ("Denken und Umsetzen") teilzunehmen. Teilen Sie Ihre Verbesserungsvorschläge mit, um so zu einer ständigen Verbesserung unserer Produktionsabläufe, zu Kosteneinsparung aber auch zur Verbesserung unseres Arbeitsklimas beizutragen.

Einführung des "VENDOR PULL" Systems geglückt Mit der Einführung des "VENDOR PULL" Systems ist eine der letzten Lücken in der Materialabrufsteuerung geschlossen. Mit Hilfe dieses Systems werden die Bedarfsmengen direkt an die Lieferanten elektronisch übermittelt. Auf Grundlage der Bedarfsrechnung wird eine voraussichtliche Bedarfsmenge für 24 Monate errechnet und den Lieferanten mitgeteilt. Die nun vorhandene Menge an Teilen kann täglich mit der Anzahl der benötigten abgeglichen werden. Gegebenfalls können Nachbestellungen direkt aus der Fertigung an den Lieferanten verschickt werden. Dadurch wird eine genaue und effektive Materialversorgung gewährleistet, ohne unnötig große Lager aufzubauen. Ziel ist es nun, vor allem die Lieferanten für Produktionsteile von den Vorteilen unseres Systems zu überzeugen und sie zu einem EDI-Anschluss (Electronic Data Interchange) zu bewe-

72

Köpfe zum Lesen und Schreiben

gen. Denn nur so ist eine effektive Übermittlung der Daten zu gewährleisten und eine erhebliche Verbesserung der Reaktionszeit möglich. Dies bedeutet für uns: Schnellere Zufriedenstellung der Wünsche unserer Kunden. Als Vorlage diente unsere interne Produktionssteuerung. Einzelne Fertigungsteile werden nicht mehr automatisch in eine nachgelagerte Produktionsstufe gegeben, sondern von dieser angefordert. Dies bedeutet allerdings, dass nach jeder der fünf Stufen des Herstellungsprozesses von Festplatten Zwischenlager eingerichtet werden müssen. Vor allem bei der Meldung von Fehlteilen aus der Montage (d.h. einzelne benötigte Komponenten sind nicht vorhanden) haben wir gute Erfahrungen mit diesem System gemacht, denn die Fertigungsdauer konnte verkürzt werden und dies ist von strategischer Bedeutung.

Abbildung 4-4: VENDOR PULL

EPRG Bedarfsermittlung

PICS Bestandsführung

VENDOR PULL

POCS Auftragsführung

EDI / FAX

Lieferant

Was noch zu sagen wäre... í Holger Seidel ist nach einem Jahr im Werk San Jose nach Mainz zurückgekehrt. Er über-

nimmt den Verantwortungsbereich Gehäuse. "Der Glaube, das Gehäuse sei nur eine Verpackung der Technologie, ist durch die Realität komplexer Testverfahren und Funktionszusammenhänge längst überholt" so Seidel. Der Einbau des Magnetplattenstapels in das Gehäuse ist der letzte Montageschritt der Festplattenproduktion. In dieser Stufe können spezielle Kundenwünsche noch berücksichtigt werden. Danach müssen die Festplatten den Finaltest bestehen, bevor sie nach 109 bis 229 Tagen Produktion (die Produktionsdauer hängt von der Anzahl der eingebauten Platten ab) dem Kunden ausgeliefert werden können. Wir wünschen ihm viel Erfolg in seinem neuen Aufgabengebiet. 73

4

4

Köpfe zum Lesen und Schreiben

í Eigentlich sollten die Plattenspeicher 665X verschrottet werden. Sie waren dafür vorgese-

hen, Ausfälle bei Erstinstallationen beim Kunden abzudecken. Nachdem Sie nun 1 Jahr eingelagert waren, werden sie nicht mehr benötigt. Da sie nicht mehr den neusten technischen Standards entsprechen, können sie nicht mehr am Markt verkauft werden. Die Produktionsmanager haben sich darauf hin zu einem einmaligen Mitarbeiterkaufprogramm entschlossen und die voll funktionsfähigen Festplatten allen IBM-Mitarbeitern zu einem Vorzugspreis angeboten. Keiner hatte jedoch mit einem solchen Andrang gerechnet. Innerhalb weniger Stunden waren alle Speichereinheiten verkauft. í Im Bereich der Schreib-Lese-Kopfproduktion ist ein Projekt zur Senkung des Ausschuss

angelaufen, denn mit 29,9% Ausschuss, ist dieser der fünf Fertigungsbereiche trauriger Spitzenreiter.

Aufgabenstellung 1. Welche Managementstrategie wird im Artikel "Wir wollen, dass der Kunde zurückkommt und nicht das Produkt" angesprochen, und warum ist diese für das Unternehmen von großer Bedeutung? 2. Stellen Sie die Bedeutung des Reparaturdienstes im Artikel "Die Ära des 320X geht zu Ende" heraus. 3. Analysieren Sie die verschiedenen Probleme und Herausforderungen, vor denen das Management steht. Beachten Sie dabei auch die Erwartungen des Kunden an das Unternehmen. 4. Betrachten Sie den Fertigungsprozess von Festplatten. a. Zeigen Sie die einzelnen Fertigungsstufen auf. b. Wo liegen die kritischen Faktoren? c. Welchen Schwierigkeiten und Unsicherheiten ist die Fertigungsplanung ausgesetzt? d. Wie könnte diese Unsicherheit verringert werden? 5. In welchen Branchen treten vergleichbare Probleme auf?

74

5

Einführung von Gruppenarbeit*

Das Unternehmen Die YMOS AG ist seit ihrer Gründung 1926 zu einem bedeutenden Entwickler und Hersteller von Komponenten aus Metall und Kunststoff aufgestiegen. Ihr Kerngeschäft ist die Produktion von hochwertigen Außenteilen (z. B. Stoßfängern), komplexen Innenraumteilen (z. B. Instrumententafeln), Türrahmenteilen und Schließsystemen für die Automobilindustrie. Außerdem beliefert die YMOS AG die Hausgeräteindustrie und den Schienenbau mit Verriegelungssystemen sowie die Sanitärarmaturenindustrie mit Zinkdruckgussprodukten. Vier deutsche und sechs europäische Standorte versorgen Kunden in der ganzen Welt. Gerade die Automobilzulieferbranche steht unter einem enormen Konkurrenzdruck, da die Automobilhersteller höchste Anforderungen an ihre Lieferanten stellen: Hohe Qualität, niedrige Preise, hohe Lieferbereitschaft und die Fähigkeit der Just-in-Time Anlieferung bei stetig steigenden Produktvarianten. Dies erfordert höchste Produktivität und Flexibilität seitens der Zulieferer. Folgendes Beispiel verdeutlicht die komplexen Anforderungen an die Organisation des Produktionsprozesses der YMOS AG: Alle 1,5 Minuten geht im Werk Obertshausen online die Information ein, welcher Stoßfänger der Mercedes C-Klasse, in welcher Farbe und mit welchen Nebelleuchten gefertigt und sechs Stunden später in Sindelfingen angeliefert werden muss. Ende der 80er Jahre sah sich die YMOS AG daher vor dem Problem, dass ihre bisherige verrichtungsorientierte Organisationsform zu starr war und an die Grenzen ihres Rationalisierungspotentials stieß. Gerd Brusius, Leiter der Kunststoffproduktion der YMOS AG stellt fest: "An der Notwendigkeit des Überdenkens der Gestaltung industrieller Produktion kann angesichts der wirtschaftlichen Lage vieler Unternehmen kein Zweifel bestehen, denn die üblichen Formen der hierarchischen Aufbau- und Ablauforganisation haben die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht. Wir müssen umdenken und die Maschine nicht weiterhin als Selbstzweck, sondern als technische Hilfe für den Mitarbeiter verstehen und den Menschen im Mittelpunkt der Arbeit sehen. Dazu ist die Umwandlung der bestehenden verrichtungsorientierten Produktionsorganisation in eine produktorientierte Prozessorganisation nötig. "

*

Unter Mitarbeit von Cordula Blank

75

5

Einführung von Gruppenarbeit

Von der Verrichtungsorientierung zur Produktorientierung 1988 entschied sich die YMOS AG zur Einführung von Gruppenarbeit in ihrem Werk in Idar-Oberstein. Bereits seit etwa einem Jahr bereitete eine Projektgruppe des Unternehmens in Zusammenarbeit mit dem Kölner Institut für angewandte Arbeitswissenschaft die Einführung von Fertigungsinseln vor, betreute und steuerte den Einführungsprozess. In der Kunststoffproduktion wurde eine Pilotinsel, bestehend aus acht Jungfacharbeitern, die zeitgleich ihre Ausbildung beendet hatten und sich somit auf dem gleichen Bildungsstand befanden, eingeführt. Ihnen wurde die Fertigung einer Schutzzierleiste übertragen, die zuvor an einem anderen Standort in herkömmlicher, verrichtungsorientierter Produktionsweise nicht mehr kostendeckend hergestellt werden konnte. Bereits nach kurzer Zeit wurde festgestellt, dass die Produktivität, Qualität und Kundenzufriedenheit stiegen. Die Entwicklung der Vorgabezeiten in Tabelle 5-1 zeigt die Steigerung der Produktivität dieser ersten Fertigungsinsel. 1

Tabelle 5-1:

Entwicklung der Vorgabezeiten der Pilotinsel Kunststoff in Prozent

Jan.

Feb.

März

April

Mai

Juni

Juli

Aug.

Sept.

Okt.

Nov.

Dez.

100

96

93

81

78

75

72

70

66

51

46

40

Kritiker im Unternehmen sahen diesen Fortschritt skeptisch. Ein Bandarbeiter merkt an: "Das sind doch alles bloß frisch Ausgelernte, im ganzen Betrieb kann man das so nicht machen. Warum auch, hat doch bisher ganz gut geklappt." Um dieser Kritik zu begegnen wurde 1989 eine zweite Pilotinsel in der Kunststofffertigung eingeführt. Dazu wurden Mitarbeiter zusammengestellt, die in der herkömmlichen, verrichtungsorientierten Produktion arbeiteten und über unterschiedliche Qualifikationen verfügten. Unter diesen 13 Mitarbeitern waren sowohl Facharbeiter als auch angelernte Arbeiter vertreten. Diese Insel arbeitete ebenfalls mit großem Erfolg. Daraufhin wurden 1991 die gesamte Kunststofffertigung und 1992 auch die Zinkdruckgussfertigung organisatorisch auf Fertigungsinseln umgestellt. Die räumliche Zusammenfassung der Inseln war jedoch aufgrund technischer, logistischer und finanzieller Bedingungen vorerst noch nicht möglich, da die Produktionsmittel, für die verrichtungsorientierte Produktion geplant und gebaut, teilweise nicht verlagert werden konnten und außerdem von mehreren Gruppen zur Produktion benötigt wurden. Im Laufe der Zeit wurden die Inseln jedoch im Zuge von Produktwechseln und damit verbundenen Investitionen auch räumlich integriert. Die Fertigungsinseln wurden um ein Produkt herum gebildet, so dass die Verantwortung für das gesamte Erzeugnis bei einer Gruppe lag, die es möglichst vollständig fertigte und auch mit dem Kunden in 1

76

Quelle: Antoni, C. H./ Eyer, E.: Kunden- und prozessorientierte Arbeitsorganisation bei der YMOS AG, in: Antoni, C. H./ Eyer, E./ Kutscher, J.: Das flexible Unternehmen, Düsseldorf 1997, Kapitel 8.1.

Einführung von Gruppenarbeit

direktem Kontakt stand. Im Rahmen der Übernahme der Aktienmehrheit der YMOS AG durch den belgischen Stahlkonzern Cockerill Sambre 1991 wurde das gesamte Unternehmen umstrukturiert. Die bestehende funktionale Organisation mit strikt getrennten Abteilungen und Verantwortungsbereichen wurde durchbrochen und produktorientierte Geschäftsbereiche eingeführt. Diese wurden in Profit-Center gegliedert, die jeweils für ein Produkt oder eine Produktgruppe die volle Kostenverantwortung tragen sollten. Somit wurden Material- und Verantwortungsfluss in die gleiche Richtung gelenkt. Während vorher der Materialfluss entlang eines Produktes, der Verantwortungsfluss aber innerhalb einer Abteilung lag, führte die produktorientierte Fertigung zu einem Verantwortungsfluss entlang des Materialflusses (s. Abb. 5-1 und 5-2).

Abbildung 5-1: Material- und Verantwortungsfluss bei Verrichtungsorientierter Produktionsstruktur (Quelle: Antonioni et. al., a.a.O.) Produkte Abteilungen

A

B

C

Arbeitsvorbereitung und Fertigungssteuerung Qualitätssicherung

Materialfluss

Gießerei

Mechanik

Verantwortung

Vormontage

Montage

Organisation der Fertigungsinseln Den Fertigungsinseln wurde die gesamte Verantwortung für ihr Produkt übertragen. Die Arbeitsgruppe ist nun dafür zuständig, "ihre" Kunden zufrieden zu stellen und ihnen den bestmöglichen Service zu liefern. Dazu wurde der Gruppe ein gewisser Handlungs- und Entscheidungsspielraum eingeräumt. So konnten sie von Anfang an die Schichtpläne erstellen und selbständig entscheiden, welche Gruppenmitglieder welche Tätigkeiten übernehmen und ob und in welchem Rhythmus die Arbeitsplätze gewechselt werden. Auch die Qualitätssicherung, Materialbereitstellung, Transportaufgaben und die Reinigung der eigenen Arbeitsplätze fallen in den Verantwortungs-

77

5

5

Einführung von Gruppenarbeit

bereich der Mitglieder der Fertigungsinseln (s. Abb. 5-3). Zur Koordination finden wöchentlich Sitzungen statt, bei denen möglichst alle Gruppenmitglieder anwesend sein sollten. In ihnen werden der Ablauf der nächsten Woche, aktuelle Fragen und Probleme erörtert und ggf. Verbesserungsvorschläge erarbeitet und diskutiert. Eines der Gruppenmitglieder, der Gruppenleiter oder Koordinator, moderiert die Gruppensitzungen und dient als interner und externer Ansprechpartner der Gruppe. In Konfliktsituationen besteht seine Aufgabe darin, Gespräche zu moderieren und gemeinsam mit der Gruppe Lösungen zu erarbeiten. Der Gruppenleiter sorgt für die Organisation der Zusammenarbeit mit anderen Funktionsbereichen wie Instandhaltung, Einkauf und Logistik und ist direkter Ansprechpartner für den Meister. Anfangs wurde er durch den Betriebsrat und das Management aufgrund von Qualifikation und Einschätzung der Akzeptanz durch die Gruppe bestimmt und erst nach einer Anlaufphase von den Inselmitarbeitern selbst gewählt. Seine intensive Kommunikation innerhalb und außerhalb der Gruppe war ein wichtiger Faktor des Erfolgs der Neuorganisation und spielt auch für die weitere Verbesserung der Prozesse eine wichtige Rolle.

Abbildung 5-2: Material- und Verantwortungsfluss bei Produktorientierter Prozessstruktur (Quelle: Antonioni et. al., a.a.O.) Produkte und Fertigungsinseln Tätigkeitsbereiche

A

B

C

Arbeitsvorbereitung und Fertigungssteuerung Qualitätssicherung Gießerei

Mechanik

Vormontage

Materialfluss und Verantwortung

Montage

Wie bereits an der Rolle des Gruppen-Koordinators zu erkennen ist, mussten die Werker neue Tätigkeiten und ungewohnte Verantwortung übernehmen. Im Laufe der Zeit wurden immer mehr Funktionen in den Aufgabenbereich der Fertigungsinseln verlagert. Gerade durch die Integration indirekter Funktionen aus den Bereichen des Personalwesens, der Arbeitsvorbereitung, Instandhaltung, Planung, Logistik und der Qualitätssicherung gewannen die Aufgaben der Gruppe an Vielseitigkeit und Ab-

78

Einführung von Gruppenarbeit

wechslung. Letztendlich verblieben nur noch wenige zentrale Funktionsbereiche, die zunehmend die Rolle von Dienstleistern und Beratern für die Inseln übernahmen. Abb. 5-3 verdeutlicht die Verteilung der Aufgaben auf zentrale Bereiche und auf die teilautonomen Arbeitsgruppen.

Abbildung 5-3: Aufgaben der Gruppe und zentrale Funktionen (Quelle: Antonioni et. al.) Führung Personalwesen • Personal - Einstellungen - Versetzungen

• Mitsprache bei einstellungen • Qualifizierung

• • • • •

Zielvereinbarung Feedback Koordination Beurteilen Arbeitseinteilung

• Urlaubsplanung • Schichtplanung

Fertigungssteuerung • Programmplanung

Arbeitsvorbereitung • Ablaufplanung

• Feinplanung

• Personaleinsatzplanung • Rationalisierungsprojekte

Teilautonome Arbeitsgruppe • Störbeseitigung • Wartung • Vorbeugende Instandhaltung

• Instandhaltung • Elektrowerkstatt

Instandhaltung

• Fertigungsleitstand • Materialumschlag • Transport

• Fertigungskontrolle • SPC

• Logistikplanung

• Audit • Prüfplanung

Logistik

• Serienbetreuung • Serienoptimierung • Mitsprache bei Serienplanung

• Neuplanung • Serienplanung

Planung

Qualitätssicherung

Vorraussetzung für die Umgestaltung der Arbeitsplätze war und ist die umfassende Qualifizierung der Mitarbeiter. Diese erfolgt bei der YMOS AG teilweise innerhalb der Gruppe durch Anlernen, sodass möglichst mehrere Arbeiter pro Schicht den gleichen Arbeitsplatz übernehmen können, um Ausfälle durch Urlaub oder Krankheit zu kompensieren. Außerdem vermitteln Kollegen indirekter Bereiche die nötigen Kenntnisse für die neuen Anforderungen. Anhand einer Qualifikationsmatrix (s. Abb. 5-4) werden für jeden Mitarbeiter die vorhandenen und erwünschten Kenntnisse festgehalten. Insbesondere die Gruppenleiter werden zudem durch Schulungen in sozialen Kompetenzen wie Kommunikationstechniken, Problemlöseverhalten, Konfliktlösung und Teamentwicklung qualifiziert. Durch diese Maßnahmen wird erreicht, dass die Mitarbeiter flexibel einsetzbar sind, wodurch die Anpassung der Produktion an Nachfrageschwankungen und Produktumstellungen vereinfacht wird.

79

5

5

Einführung von Gruppenarbeit

Abbildung 5-4: Schema einer Qualifikationsmatrix (Quelle: Antonioni et. al.) Mitarbeiter

Tätigkeiten Spritzgießen

A B …. …. Z

Aktivieren

Rollen

X X

X /

X L

X

L

/

SMrüsten

Transport

XYZ

/ X

Disposition L

X

X = beherrscht Tätigkeit; / = wird angelernt; L = will angelernt werden

Die Fertigungsinseln der YMOS AG organisieren sich weitgehend autonom. Um trotz dieser zunehmenden Selbstregulation die Unternehmensziele durchsetzen zu können, werden seit 1993 mit den Gruppen durch die Vorgesetzten Ziele vereinbart. Diese Gruppenziele sind das Ergebnis einer kaskadenförmigen Verteilung der obersten Unternehmensziele auf die jeweils nächst untere Organisationsebene. Zur Erleichterung der Einhaltung und Kontrolle der Gruppenziele wird ein für die jeweilige Insel maßgeschneidertes, PC-gestütztes Informations- und Produktionssteuerungssystem eingesetzt. Dieses ermöglicht es den Teammitgliedern, die spezifischen Kennzahlen für ihre Gruppe, wie z.B. Fehlerteile, Soll- und Ist-Produktion, Auftragbestand, usw., visuell aufgearbeitet, tages-, wochen- oder monatsgenau zu verfolgen. Sie erhalten so Zugang zu Informationen, die früher nur höheren Mitarbeitern der Produktion und dem Management zugänglich waren, aber prinzipiell eine große Rolle für die Fertigung spielen und einen Motivationsfaktor darstellen. Zu dieser neuen Art der Organisation ist ein neues Verständnis von Führung notwendig. So müssen Vorgesetzte eine Balance zwischen aktiver Führung und Akzeptanz von Handlungsspielräumen finden und jeweils situationsbedingt entscheiden, ob ihr Eingreifen erforderlich ist. Wenn eingegriffen wird, soll dies möglichst nicht in Form von Problemlösungen des Vorgesetzten erfolgen, sondern dieser sollte vielmehr als Berater die Gruppe dazu bringen das jeweilige Problem selbständig zu bewältigen. Außerdem müssen die Vorgesetzten bereit sein, ihre Aufgaben teilweise an die Gruppe zu delegieren und dafür andere Pflichten zu übernehmen. Seitens der Mitglieder der teilautonomen Arbeitsgruppen erfordert diese Führungsstruktur Selbstkontrolle und gegenseitige Regulation, da keine direkte Überwachung durch einen Meister o. a. mehr erfolgt. Vorraussetzung zum Erfolg des kooperativen Führungsstils ist eine gute Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern und den Vorgesetzten.

80

Einführung von Gruppenarbeit

Rolle des Betriebsrates Ohne die Initiative des Betriebsrates und die enge Zusammenarbeit der Unternehmensleitung mit dessen Vertretern wäre eine Umstrukturierung des Betriebes in diesem Ausmaß nicht möglich gewesen. Bereits seit Anfang der 80er Jahre wurde Kritik an der tayloristischen Arbeitsorganisation geübt und beobachtet, dass Arbeiter mit ihren eintönigen Tätigkeiten nicht zufrieden waren und es an Motivation fehlte. Es mangelte an Qualifizierungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in der bestehenden Massenproduktion. Daher sah der Betriebsrat der YMOS AG in einer Umstrukturierung eine Chance für die Belegschaft und unterstützte die Einführung von Gruppenarbeit als Beitrag zur Humanisierung der Arbeit. Der Betriebsrat übernahm die Rolle als Mittler zwischen Belegschaft und Unternehmensleitung, vor allem bei kritischen Punkten wie der Anpassung der Löhne an das neue Organisationsmodell. Das traditionelle Lohnsystem der YMOS AG sah einen individuellen Grundlohn kombiniert mit einem ebenfalls individuellen Akkordlohn vor. Dieses Entgeltmodell war für die Gruppenarbeit nicht mehr geeignet, da der hohe Akkordanteil es für die Arbeiter unattraktiv machte, dispositive und andere nicht produktive Arbeiten zu übernehmen. Es hemmte außerdem die Bereitschaft zur Fortbildung während der Arbeitszeit, da während der Zeit der Qualifizierung kein oder nur ein geringer Akkordlohn erzielt werden konnte. 1991 einigte sich der Betriebsrat, in Zusammenarbeit mit der IG Metall, mit der Unternehmensleitung auf eine Betriebsvereinbarung, die zusätzlich zu den bestehenden Grund- und Akkordlöhnen noch eine Gruppenerfolgsprämie vorsah. Diese berücksichtigte die Produktivität der Insel, sowie die Qualität der erstellten Produkte. 1994 wurde dieses neue Entgeltsystem weiterentwickelt und der Akkordanteil fiel weg. Seitens des Unternehmens wird darauf vertraut, dass die Arbeiter weiterhin genauso viel arbeiten, daher wird als Grundlohn der Tarifecklohn gezahlt. Hinzu kommt eine individuelle Leistungszulage, die die zeitliche, räumliche und qualifikative Flexibilität des einzelnen Mitarbeiters berücksichtigt. Dazu werden die Kollegen in der Gruppe zweimal jährlich gebeten, die anderen Gruppenmitglieder zu bewerten. Mit dem neuen Entlohnungsmodell ging auch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit einher. Um den Kundenwünschen entsprechen und Auslastungsschwankungen ausgleichen zu können, war es notwendig, das Arbeitszeitsystem an die individuellen Bedürfnisse der Arbeitsgruppen anzupassen. Die Regelarbeitszeit beginnt am Sonntag 19:30 Uhr und endet Samstag 18:00 Uhr. Alle Mitarbeiter arbeiten in Gleitzeit ohne Kernzeit, der maximale Stundensaldo darf +/- 50 Stunden betragen. Die Gruppen können in diesem System ihre Arbeitszeiten also individuell gestalten und optimal an die jeweiligen Marktanforderungen anpassen. Die Mitarbeiter haben den Vorteil, dass sie, unabhängig von den geleisteten Stunden, monatlich ein gleich bleibendes Gehalt bekommen. YMOS profitiert von dieser Regelung, da sie so auch kurzfristige Aufträge termingenau liefern kann und dafür keine Mehrkosten für Überstunden in Kauf nehmen muss.

81

5

5

Einführung von Gruppenarbeit

Um eine möglichst hohe Akzeptanz der Neuorganisation bei den Mitarbeitern zu erreichen, wurden diese von Anfang an in den Umstrukturierungsprozess eingebunden. Sie sind als Mitglieder von Projektteams vertreten und werden bei wichtigen Entscheidungen konsultiert. Georg Wolf, Standortleiter der YMOS AG Idar-Oberstein, beschreibt die Bedeutung der Kenntnisse der Fertigungsmitarbeiter folgendermaßen: "Die Werker sind täglich direkt mit der Produktion beschäftigt, sie wissen am Besten, welche Probleme bestehen, wie man sie vermeiden oder beheben kann und wo Potential zur Verbesserung der Prozesse vorhanden ist. Daher ist es für den Erfolg unseres Unternehmens wichtig, sie in Entscheidungen mit einzubeziehen und Verbesserungsvorschläge ihrerseits ernst zu nehmen und zu fördern." Demzufolge wurde 1992 das betriebliche Vorschlagswesen (BVW) attraktiver gestaltet. Die eingereichten Vorschläge wurden schneller bearbeitet und die Prämien erhöht. So erhielten die Mitarbeiter für jeden Vorschlag sofort 20 DM, gleichgültig ob er realisiert werden konnte oder nicht. Bei Umsetzung der Vorschläge erhielten die Einreicher außerdem 25 Prozent der Einsparung in den nächsten drei Jahren, also insgesamt 75 Prozent der jährlichen Ersparnis. Weiterhin erhielten Gutachter Prämien für eine schnelle Bearbeitung oder Verbesserung der Vorschläge und Vorgesetzte einen Bonus für die rasche Umsetzung. Dadurch wurde erreicht, dass die Beteiligung am BVW sprungartig von 13 % 1992 auf 78 % 1995 stieg und auch die Umsetzungsquote um 10 % auf ca. 50% gesteigert wurde. In den Jahren 1991 bis 1995 konnten durch realisierte Vorschläge von Mitarbeitern allein im Werk Idar-Oberstein durchschnittlich 1 Mio. DM pro Jahr eingespart werden. Eine weitere Beteiligungsmöglichkeit der Mitarbeiter am Erfolg des Unternehmens besteht in der Mitarbeit in Gruppen des "Permanenten Verbesserungsprozesses". Getreu nach dem Motto "Stillstand ist Rückschritt" sollen in diesen Teams gezielt Verbesserungsvorschläge erarbeitet und umgesetzt werden. Allerdings findet hier keine finanzielle Beteiligung der Mitarbeiter statt. Die Motivation zur Mitarbeit ist der eigene Anteil am Erfolg des Unternehmens und die damit verbundene Sicherung von Arbeitsplätzen.

Erfolge der Gruppenarbeit Durch die Einführung der Gruppenarbeit und der fortwährenden Weiterentwicklung ist es der YMOS AG gelungen ihre Konkurrenzfähigkeit zu sichern. Die Kosten sind durch die Integration indirekter Tätigkeiten in die Gruppe und das Selbstverständnis der Gruppen als "Subunternehmer" gesunken, während die Kundenzufriedenheit durch die höhere Qualität der Produkte und kürzere Lieferzeiten gestiegen ist. So sanken die Kundenreklamationen von absolut 100 im Jahr 1989 auf 1 im Jahr 1994 (vgl. Tab. 5-2). Fast um 50 % konnte auch die Arbeitsproduktivität gesteigert werden (s. Tabelle 5-3).

82

Einführung von Gruppenarbeit

Tabelle 5-2:

Entwicklung der Kundenreklamationen von 1989 bis 1994 in Absolutzahlen (Quelle: Antonioni et. al.)

1989

1980

1991

1992

1993

1994

100

113

19

1

2

1

Tabelle 5-3:

Entwicklung der Gesamtleistung je Arbeitsstunde von 1988 bis 1994 (1988 = 100) (Quelle: Antonioni et. al.)

1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

100

108

111

122

140

145

148

Allerdings wurde im Verlauf der Einführung der Gruppenarbeit deutlich, dass sich die Erfolge schneller eingestellt hätten, wenn manche Aspekte, wie beispielsweise die Entgeltregelung oder die Flexibilisierung der Arbeitszeit, anhand eines langfristigen Strategieplanes früher bedacht und eingeführt worden wären.

Aufgabenstellung 1. Die Akzeptanz durch die Mitarbeiter ist bei dieser Form der Umstrukturierung besonders wichtig. Welche Rolle spielen sie und warum kann stiller und aktiver Widerstand weder bei Vorgesetzten noch bei Arbeitern toleriert werden? 2. Welche sozial-psychologische Problematik ergibt sich aus der produktorientierten Prozessorganisation und der damit verbundenen Reduktion hierarchischer Strukturen bei der YMOS AG? Was kann dagegen getan werden bzw. wie kann dem vorgebeugt werden? 3. Kennzahlen spielen insbesondere bei der Umstrukturierung von Organisationen eine wichtige Rolle. Welcher Zweck wird durch ihren Einsatz verfolgt? 4. Bei vorliegendem Beispiel wurde Business Reengineering mit einer kontinuierlichen Vorgehensweise unter Einbezug der Mitarbeiter verbunden. Welche Alternative(n) hätte(n) gewählt werden können und welche Vor- und Nachteile sind mit den verschiedenen Möglichkeiten verbunden?

83

5

6

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan *

Einführung Der Entwicklungs- und Durchsetzungsprozess der Automatisierungstechnologie in Japan war mit entscheidend für den rasanten Aufstieg der japanischen Industrie in den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch Steigerung von Produktivität und Flexibilität sowie durch Verbesserung der Fertigungsqualität von Produktionseinrichtungen bildete die Automatisierungstechnologie Grundlage und Motor des japanischen Wirtschaftswunders. Noch heute ist der hohe Stand der japanischen Prozesstechnologie zentraler Wettbewerbsvorteile vieler Unternehmen auf internationalen Märkten. Das Engagement der japanischen Techniker und Ingenieure in den Betrieben der Elektrotechnik und des Maschinenbaus sowie in den Laboratorien produktionswissenschaftlicher Forschung um die Verbesserung des Vorgefundenen und die Anstrengungen zur Umsetzung der Erkenntnisse in praktische Anwendungen charakterisierten diesen frühen Entwicklungsprozess der Automatisierungstechnologie. Die marktgerechte industrielle Integration innovativer Automatisierungstechnologie und neuer Formen der Arbeitsorganisation kennzeichnen noch heute das Technologiemanagement erfolgreicher japanischer Unternehmen. Die produktionswissenschaftliche Forschung in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit den frühen fünfziger Jahren, wurde durch die fortschreitende Automatisierung des Fabrikbetriebes bestimmt. Der Einsatz innovativer Automatisierungstechnologie in den sich wandelnden Produktionsprozess prägte nachhaltig die Arbeit des Produktionsmanagements und der Werkzeugmaschinenkonstrukteure. Dabei bereitete der rasche wirtschaftliche Aufschwung der japanischen Industrie den Boden für einen systematischen Übergang von der automatisierten Werkzeugmaschine, der Einzelmaschine oder auch Sondermaschine, zur Automatisierung des gesamten Fertigungsprozesses.

*

Unter Mitarbeit von Dr.-Ing. René Haak, Bundesministerium für Bildung und Forschung, vormals stellvertretender Institutsdirektor Deutsches Institut für Japanstudien (DIJ), Tokyo.

85

6

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

Wirtschaftlicher Aufschwung Japans Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war Japan mit dem Aufbau und Gestaltung neuer Wirtschaftsstrukturen beschäftigt. In wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht stand zunächst die Rekonstruktion der Wirtschaft im Vordergrund. Preiskontrollen, Subventionen und Rohstoffzuteilungen zählten kurz nach dem Krieg zu den wichtigsten industriepolitischen Instrumenten, mit denen die Regierung zunächst die Förderung der Kohle und Stahlproduktion unterstützte. Der wichtigste Faktor für die rasante Wirtschaftsentwicklung Japans war der rapide industrielle Aufschwung bis in die frühen siebziger Jahre, der im Kern durch Massenproduktion und Automatisierungstechnologie getragen wurde. Für die weitere dynamische Entwicklung der japanischen Wirtschaft hatten vor allem die Reformen im Verlauf der amerikanischen Besatzungszeit Bedeutung. Darüber hinaus stimulierte und beschleunigte vor allem die ausländische Nachfrage nach japanischen Gütern die wirtschaftliche Entwicklung der frühen fünfziger Jahren. Beeinflusst wurde die Entwicklung der japanischen Werkzeugmaschinenindustrie durch ein dramatisches weltpolitisches Ereignis, den Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juni 1950, der im Spannungsfeld des Kalten Krieges zu einer weltweiten Nachfragesteigerung führte. Als besonders durchschlagend wirkte er sich für den japanischen Maschinenbau aus, da er über mehrere Jahre hinweg zu umfangreichen USamerikanischen Aufträgen führte. Dieser Nachfrageboom trug zur Erholung der japanischen Wirtschaft bei, die sich noch zu Beginn der fünfziger Jahre in einem labilen Zustand befand. Nach einer kurzen Phase, in der sich nach dem Korea-Boom die Wachstumsrate etwas verringerte, vor allem bedingt durch die nachlassenden privaten Anlageinvestitionen, begann von 1956/57 an die Periode des so genannten Investitionsbooms, der das kôdo seichô (rapides Wachstum) brachte. Die hohen Investitionssummen waren auf die Entwicklung der Schwerindustrie ausgerichtet. Die Produktionskapazitäten sollten gesteigert, die Modernisierung und Rationalisierung der Produktionsanlagen weiter vorangetrieben werden. Die Wirtschaftspolitik war auf Wachstum festgelegt. Bis in die fünfziger Jahre hinein überwogen im verarbeitenden Gewerbe jene Zweige, die auch in der Vorkriegszeit vorherrschend waren beispielsweise die Textilindustrie. Doch zu den Hauptträgern der Hochwachstumsphase entwickelten sich neben den Grundstoffindustrien vor allem die Montageindustrien, wie der Automobilbau, die Elektrotechnik, der Maschinenbau, besonders der Werkzeugmaschinenbau, und die Feinmechanik. In diesen Industriezweigen waren die Anforderungen an die Automatisierungstechnik besonders hoch. Diese Branchen wurden durch den wechselseitigen Austausch mit der nationalen und internationalen fertigungstechnischen Forschung zum Träger und Motor der japanischen Automatisierungsanstrengungen.

86

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

Der japanische Staat förderte bestehende und neue Industriezweige durch steuerliche Vergünstigungen und durch die Vergabe günstiger Kredite. Für den Import von Rohstoffen und fortschrittlicher Maschinentechnologie wurden gezielt Devisen zugeteilt. In der japanischen Industrie dienten die Investitionsmittel in erster Linie der Rationalisierung und Modernisierung von Produktionsanlagen mit entsprechenden Anforderungen an die Werkzeugmaschinenindustrie. Als Produktionsmittellieferant stellte der Werkzeugmaschinenbau die technologischen Entwicklungsgrundlagen für andere Industriebereiche bereit. So profitierte vor allem die japanische Automobilindustrie von den technologischen Fortschritten in der Werkzeugmaschinenbranche. Für die japanische Werkzeugmaschinenindustrie kamen Wachstumsimpulse sowie spezifische produktionstechnische Anforderungen an das System Werkzeugmaschine in den 50er und 60er Jahren zum großen Teil aus der nationalen Industrie. Erst später, mit dem Beginn der siebziger Jahre bildeten allmählich westeuropäische und amerikanische Unternehmen für japanische Werkzeugmaschinen größere Kundengruppen. Doch zunächst mussten in den fünfziger und sechziger Jahren durch die Einfuhr fortschrittlicher Werkzeugmaschinentechnologie grundlegende technologische Lücken geschlossen werden. Interessant ist die Tatsache, dass ab 1957 die japanische Industrie als Nachfragefaktor für den deutschen Werkzeugmaschinenbau an Bedeutung gewann. Sie bildete sogar kurzzeitig in den Jahren 1961 und 1962 die weltweit größte Käuferfraktion deutscher Werkzeugmaschinen. Die Einkäufer der großen japanischen Handelshäuser trafen in der Bundesrepublik Deutschland auf eine breite Angebotspalette. Anwendungsorientierte konstruktive Lösungen in Verbindung mit solider fertigungstechnischer Forschung und ein hoher Qualitätsstandard bildeten grundlegende Stärken des bundesdeutschen Werkzeugmaschinenbaus. Von der japanischen Industrie erkannt, richteten sie Ende der fünfziger Jahre und zu Beginn der sechziger Jahre ihre Einkaufsstrategien auf den bundesdeutschen Werkzeugmaschinebau aus. Zu den wichtigsten Stimuli für die Inangriffnahme und Durchsetzung produktionstechnischer Innovationen im Werkzeugmaschinenbau zählte die durch die wirtschaftliche Entwicklung Japans bedingte zunehmende Nachfrage an Werkzeugmaschinen. Aufgrund der Einfuhr modernster Werkzeugmaschinentechnologie, vor allem aus Westeuropa und den USA, engen Kooperationen zwischen japanischen Werkzeugmaschinenbetrieben und ihren Zulieferern, und einer langfristigen Zusammenarbeit mit der produktionswissenschaftlichen Hochschulforschung verfügte die japanische Werkzeugmaschinenindustrie Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre über die technologischen Grundlagen, um den gestiegenen nationalen und internationalen Markterfordernissen entsprechen zu können. Aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen jener Jahre konzentrierten sich die Bemühungen zur Automatisierung der Fertigung in Japan mittels konventioneller Werkzeugmaschinen überwiegend auf Anwendungen im Bereich der Großserien- und Massenfertigung. Die Automatisierung des Fertigungsprozesses bei den Anwendern 87

6

6

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

von Werkzeugmaschinen, insbesondere in der Automobilindustrie, wurde durch Entwicklung und Durchsetzung des Baukastensystems im Zuge des wirtschaftlichen Booms mit seiner enormen Nachfrage vorangetrieben. In so genannten Maschinenfließstraßen wurden mehrere Werkzeugmaschinen, im wesentlichen hochproduktive Sondermaschinen, nach dem Fließprinzip miteinander verkettet und bei automatisierter Werkstückhandhabung mehrere Fertigungsvorgänge in einer Station zusammengefasst. In den fünfziger und sechziger Jahren dominierte in der japanischen Industrie zunächst die starre Verkettung von Fertigungseinrichtungen, die dadurch charakterisiert war, dass der automatische Transport des Werkstückes durch gemeinsam gesteuerte Zubringeinrichtungen in einem festgelegten Takt erfolgte, der durch die längsten Arbeitszyklen festgelegt war. Der Einsatz starrer Maschinenfließstraßen fand aufgrund der großen Stückzahlen der jeweiligen Werkstücke in erster Linie in der Kraftfahrzeugindustrie statt. Kurbel- und Nockenwellen, Ventile, Achsschenkel und Getriebegehäuse, um nur einige Beispiele zu nennen, wurden in dieser Zeit bereits auf starren Maschinenfließstraßen produziert. Seit den späten fünfziger Jahren wurden elektrische Steuerungen, die das Kernstück einer Transferstraße bildeten, eingesetzt, so dass die Entwicklung von Maschinenfließstraßen auch von Fortschritten in der Elektroindustrie abhängig wurde. Technologische Innovationen der japanischen Werkzeugmaschinenzulieferer wurden damit für den technologischen Stand der Werkzeugmaschinen zu einer dominierenden Einflussgröße. Das grundlegende Element einer jeden Maschinenfließstraße war die Steuerung, die zum Gegenstand vertiefter Forschungsanstrengungen amerikanischer, westeuropäischer und japanischer Ingenieure wurde. Unterstützt und ermöglicht wurde die technologische Realisierung starrer und später flexibler Maschinenfließstraßen durch die sich rasch entwickelnde Zulieferindustrie, die in Japan durch die spezifischen Formen der Keiretsu wichtige Impulse erhielt. Aus dem Bereich der Elektrotechnik kamen in Japan grundlegende innovative Anstöße. Während die Einführung und Verbreitung der Maschinenfließstraße in erster Linie durch die Anforderungen der Massen- und Großserienfertigung bedingt waren, diente die numerische Steuerung der Werkzeugmaschinen in den späten fünfziger und sechziger Jahren vorwiegend der Einzel- und Kleinserienfertigung. Zuvor hatte man für die Einzel- und Kleinserienfertigung mechanische, elektrische und hydraulische Kopiersteuerungen mit Schablonen als starren Programmträger benutzt. Der Einfluss der numerischen Steuerungstechnologie auf den Werkzeugmaschinenbau führte in Japan im Verlauf von wenigen Jahren zu völlig neuen Maschinentypen. Neue konstruktive Lösungen wurden von den Konstrukteuren und Fertigungsingenieuren gefordert. Die numerische Steuerungstechnik, welche die technologische Weiterentwicklung der Werkzeugmaschine grundlegend bestimmte, wurde zum Motor in der gesamten Produktionstechnik.

88

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

Die Anfänge der rechnergeführten automatisierten Fertigung gehen auf die Entwicklung der numerisch gesteuerten Werkzeugmaschine in den USA zurück, die ausführlich dokumentiert ist. Die numerische Steuerung als erfolgreiche Innovation und grundlegendes technologisches Paradigma basiert auf dem von Parsons erdachten und mit dem MIT entwickelten System einer digitalen Werkzeugmaschinensteuerung. Die grundsätzliche Idee zur Steuerung einer Werkzeugmaschine nach Zahlen, also die numerische Steuerung, reifte im Zusammenhang mit dem Herstellungsprozess von Rotorblättern heran.

Japan und die Anfänge der NC-Technologie Einschneidend für die Gestaltung des japanischen Fabrikbetriebes seit den späten sechziger Jahren und war die Entwicklung der numerischen Steuerung von Werkzeugmaschinen, die sich hauptsächlich auf die schnell fortschreitende Entwicklung der Rechnertechnik und der Elektronik in den USA und Japan stützte. Im Jahre 1952 wurde das technologische Konzept der numerischen Steuerung in Japan erstmals bekannt. Über die Entwicklung von numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen in den Vereinigten Staaten berichtete Professor Takahashi von der Tôkyô Universität. Kurze Zeit später begann eine intensive Forschung in den japanischen Werkzeugmaschinenbetrieben und in der Elektroindustrie sowie an Universitäten und staatlichen Institutionen auf diesem neuen Gebiet der Produktionstechnik. Erstes Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen war eine 1956 von der Firma Fujitsu vorgestellte numerisch gesteuerte Werkzeugmaschine, eine Revolverlochstanzmaschine.

Tôkyô Institute of Technology In schneller Folge ergaben sich weitere Entwicklungen auf dem Gebiet der NCTechnologie. Das Tôkyô Institute of Technology gab schon 1957 den Aufbau einer numerisch gesteuerten Drehmaschine für Versuche und weiterführende Untersuchungen bekannt. Der Werkzeugmaschinenhersteller Makino Milling Machine entwickelte bald darauf die erste japanische Vertikalfräsmaschine mit numerischer Steuerung in Kooperation mit Fujitsu. In den Anfängen der japanischen NC-Technologieentwicklung waren die numerisch gesteuerte Drehmaschine der Firma Ikegai und ein vom Mechanical Engineering Laboratory des MITI im Rahmen eines dreijährigen Forschungsprojektes konstruiertes Lehrenbohrwerk weitere wichtige Entwicklungsschritte. Im Jahre 1958 hatte Hitachi Seiki eine hydraulisch getriebene numerisch gesteuerte Fräsmaschine konstruiert, ebenfalls in Kooperation mit Fujitsu, von der zwei Stück an die Heavy Industries Nagoya Aircraft Plant geliefert wurden.

89

6

6

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

Hitachi Seiki, gegründet 1936 unter dem Namen Kokusan Seiki in Tôkyô, gehört zu den ältesten und traditionsreichsten Werkzeugmaschinenproduzenten Japans. Das Unternehmen begann mit der Herstellung von Revolverdrehbänken und wurde schnell zum Technologieführer in diesem Geschäftsfeld. Ende der dreißiger Jahre gelangte das Unternehmen unter die Leitung von Hitachi Ldt. und wurde im Verlauf des Zweiten Weltkrieges durch zahlreiche Fusionen zum größten Hersteller von Werkzeugmaschinen in Japan. Die sechs Fabriken des Unternehmens produzierten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit etwa 10 000 Mitarbeitern in erster Linie Drehund Fräsmaschinen. Im Zuge der Entflechtungspolitik verblieb dem nun wieder selbständigen und 1953 an der Börse notierten Unternehmen nur noch eine Fabrik. Zwischen 1953 und den frühen siebziger Jahren konzentrierte sich Hitachi Seiki, wie so viele andere japanische Werkzeugmaschinenhersteller auch, auf die Fertigung von preiswerten Standard- und Allzweckwerkzeugmaschinen zur Massenfertigung im Schiffsbau, von Haushaltsgeräten, von Dieselmotoren und für den Einsatz von Maschinenfließstraßen besonders im Automobilbau. Seine konstruktiven Anstrengungen richtete das Unternehmen besonders auf die serienmäßige Herstellung von Standardmaschinen. Hierzu zählten automatische Fräsmaschinen und Revolverdrehmaschinen, Technologiefelder, die das Unternehmen schon lange beherrschte und auf vielfältige wirtschaftliche und produktionstechnologische Erfolge zurückblicken konnte. Neben den eignen konstruktiven Werkzeugmaschinenlösungen nahm Hitachi Seiki ab 1963 die Lizenzfertigung für Mehrspindeldrehautomaten von Gildemeister auf, in jener Zeit deutscher Technologieführer. Hitachi Seiki konnte in den sechziger und siebziger Jahren schnell wachsen, nicht zuletzt aufgrund der dauerhaft hohen Nachfrage nach hochwertige und produktiven Werkzeugmaschinen. Mit 2200 Beschäftigten gehörte das Unternehmen 1970 zum Spitzenfeld des japanischen Werkzeugmaschinenbaus, der sich anschickte weitere internationale Märkte zu durchdringen. Die Fertigung von Revolverdrehmaschinen und Fräsmaschinen bildete doch weiterhin das Kerngeschäft. Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sich Hitachi Seiki dem Bau von Sondermaschinen für Transferstraßen, die vor allem in der japanischen Lastwagen- und PKW-Produktion zum Einsatz kamen. Getragen von den besonderen Nachfragebedingungen im Verlauf des Koreakrieges schuf sich das Unternehmen ein weiteres produkt- und produktionstechnologisches Standbein: die Herstellung großer Werkzeugmaschinen und die Bereitstellung von Sondermaschinen für Transferlinien. Hitachi Seki zählte, und dies macht das Unternehmen besonders interessant, in den sechziger Jahren zu den Pionieren der numerischen Steuerungstechnologie im Werkzeugmaschinenbau. Angesichts hoher Entwicklungskosten und der unzureichenden Leistungsfähigkeit der ersten numerischen Steuerungen sah man von weiteren Entwicklungsanstrengungen in diesem Technologiefeld jedoch ab. Diese Entscheidung führte in den späten siebziger Jahren in dem Unternehmen zu erheblichen Problemen. Hitachi Seiki konnte mit der schnellen Entwicklung nicht Schritt halten. Der Boom der 90

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

NC-Technologie, getragen von dynamischen Unternehmen wie Yamazaki Mazak oder Mori Seiki, überforderte die halbherzigen Anstrengungen von Hitachi Seiki. Erst in den späten siebziger Jahren gelang es Hitachi Seiki sich eine führende Position im Markt für NC-gesteuerte Drehmaschinen zu sichern. Betrachtet man den Fall Mori Seki so konnte sich dieses Unternehmen anders als Hitachi Seiki schon frühzeitig als Spezialist für numerische Steuerungen durchsetzen. Gegründet im Jahre 1948 wurde zunächst der Bau von Textilmaschinen forciert. Rund eine Dekade später gab der Familienbetrieb das Textilmaschinengeschäft auf und konzentrierte sich von nun an auf die Herstellung konventioneller Werkzeugmaschinen. Zu Beginn der sechziger Jahre konnte sich das Unternehmen mit seinen Produkten schon gut im Markt behaupten, Drehmaschinen mit hoher Fertigungsgenauigkeit bildeten das Kerngeschäft. Als Mori Seiki dann im Jahre 1968 eine numerisch gesteuerte Drehmaschine auf den Markt brachte, gehörte es neben den Werkzeugmaschinenherstellern Makino Milling, Okuma, Hitachi Seiki, Ikegai und Yamazaki Mazak zu den japanischen Vorreitern der numerischen Steuerungstechnologie. Obwohl sich die japanischen Hersteller von numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen zu Beginn der sechziger Jahre noch mit erheblichen Entwicklungskosten und enormen Qualitätsproblemen kämpfen mussten trat doch Ende der sechziger Jahre eine Trendwende ein. Die Marktwiderstände wurden allmählich gebrochen, die schnell wachsenden Märkte verlangten nach flexibler Fertigungstechnik, und der japanische später vor allem der amerikanische und westeuropäische Markt wurden für numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen aus Japan aufnahmefähig.

Fujitsu und FANUC Eine der zentralen Innovationen für die japanische NC-Maschinenindustrie war die Entwicklung des elektrischen und elektrohydraulischen Schrittmotors durch die Firmen Fujitsu und FANUC (Fujitsu Automatic Numerical Control). Der große Vorteil der Schrittmotoren gegenüber konventionellen Antriebstechniken bestand darin, dass sie die Konstruktion präziser, zuverlässiger, leistungsstarker und in erster Linie vergleichsweise preiswerter numerisch gesteuerter Maschinen, die auch in größeren Serien herstellbar waren und nicht zuletzt den großen wirtschaftlichen Erfolg der japanischen Werkzeugmaschinenindustrie begründeten, ermöglichten. Aber nicht nur auf dem für die Produktionstechnik so wichtigem Gebiet der Antriebstechnik erarbeiteten sich die japanischen Ingenieure in kurzer Zeit schnell ein eigenes Know-how. Auch in der Steuerungskonstruktion gewannen sie sehr schnell Anschluss an die USamerikanischen und westeuropäische Entwicklung. So stellten japanische Werkzeugmaschinenbetriebe zwischen 1965 und 1969 erste NC-Steuerungen mit eingebautem Minicomputer vor. Der Aufstieg der Firma FANUC kann als Beispiel für eine japanische Erfolgsgeschichte in der Entwicklungslinie der Automatisierungstechnologie angesehen werden. FANUC entstand 1972 als Ausgründung aus der Mutterfirma Fujitsu. Das Unternehmen 91

6

6

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

Fujitsu hatte wesentlichen Anteil an der Entwicklung und Verbreitung der NCTechnologie in Japan. Bereits im Jahre 1956, als Folge einer Strategieentscheidung der Geschäftsführung von Fujitsu, konzentrierte sich die Firma auf das Geschäftsfeld Rechner und Steuerungen. Das Unternehmen begann damit eine langfristig angelegte produktionswissenschaftliche Entwicklung zu forcieren, die erst eine Dekade später zu geschäftlichen Erfolgen führte. Auch heute noch gehört FANUC zu den Technologieführern der Automatisierungstechnik. Neben CNC-Steuerungen fertigt das Unternehmen Schrittmotoren, Industrieroboter, Präzisionsmaschinen wie Drahterodiermaschinen, CNC-Bohrmaschinen, Kunststoffformmaschinen und Laserbearbeitungsmaschinen. Die Unternehmensstrategie der Firma ist darauf ausgerichtet, einen Technologievorsprung zu erarbeiten und gleichzeitig ein moderates Preisniveau zu halten. Ein wesentliches Ziel der Unternehmensstrategie ist die weltweite Vermarktung von Produkten der Fertigungsautomatisierung, in weiterer Perspektive der Fabrikautomatisierung, um so zum globalen Technologieführer im Markt für Fabrikautomatisierung zu werden. Die Idee zur Entwicklung einer NC-Steuerung wurde in der Firma Fujitsu in erster Linie von Dr. Inaba propagiert, der auch im Wesentlichen mit der Ausführung beauftragt wurde. Die Entwicklung der Steuerung warf für das Forschungs- und Entwicklungsteam erhebliche technische Probleme auf. An erster Stelle ist hierbei der Aufbau von Rechnerschaltkreisen zu nennen. Es gelang jedoch nach zehnjähriger Entwicklungszeit, eine kostengünstige, leistungsfähige numerische Steuerung herzustellen. Die NC-Steuerung FANUC 260 für die Punkt- und Streckensteuerung war mit drei elektrohydraulischen Motoren gekoppelt. Ihre Vorstellung Ende der sechziger Jahre in Japan löste einen erheblichen Verkaufsboom aus.

Anwendungsforschung In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren konzentrierten sich die japanischen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten vor allem auf die Anwendungsforschung und den Transfer der neuen numerischen Steuerungstechnologie in die industrielle Praxis der verarbeitenden Industrie. Im Werkzeugmaschinenbau, in der Automobilproduktion und der Elektroindustrie gelangten erste numerisch gesteuerte Maschinen zum Einsatz. Jedoch erst mit der wachsenden Erfahrung gewann die eigene Erschließung neuer Technologien an Bedeutung für die Produktionstechnik. Der Technologietransfer aus Westeuropa und den USA vollzog sich in den frühen Jahren der NC-Technologie sehr unterschiedlich. So nutzte die japanische Maschinenbauindustrie recht intensiv die Möglichkeit, Patente und Lizenzen zu erwerben sowie Kooperationsverträge mit technologisch führenden Unternehmungen des Maschinenbausektors und der Elektroindustrie abzuschließen. Die Kooperation mit europäischen

92

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

und amerikanischen Unternehmungen erleichterte nicht nur den Technologietransfer, sondern vereinfachte zusätzlich die Erschließung fremder Märkte.

Human Resource Management Die japanischen Unternehmen zeigten sich für die NC-Technik sehr aufnahmebereit. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der mit der Einführung der neuen NCTechnologie in den Fertigungsprozess verbundene Fort- und Weiterbildungsbedarf in den japanischen Unternehmungen ein geringeres Hindernis als in den deutschen Betrieben darstellte. Dies resultierte einerseits aus der Tatsache, dass die japanischen Fertigungsingenieure zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn zunächst im Unternehmen im Bereich der Fertigung eingesetzt wurden und damit auch auf der Benutzerebene eine oft hohe Qualifikation erwarben. Darüber hinaus führten die Steuerungs- und Maschinenhersteller zu Beginn der NC-Entwicklung intensive Schulungs- und Betreuungsprogramme durch, im Rahmen derer die Mitarbeiter der Kunden über den Zeitraum eines halben Jahres geschult und betreut wurden. Vor allem in der Einführungsphase standen dem Kunden Ingenieure des Herstellers zur Unterstützung der ersten Anwendungsschritte sowie bei der Problemanalyse zur Seite. In produktionstechnischer und arbeitsorganisatorischer Hinsicht leisteten die Japaner vor allem seit den siebziger Jahren erhebliche Beiträge zur Automatisierung des Produktionsprozesses, die sich in der Weiterentwicklung der numerischen Steuerungstechnologie manifestieren. So lässt sich festhalten, dass seit Mitte der sechziger Jahre der Einfluss von Automatisierung, Rechnertechnik (NC-Technologie), Flexibilisierung und Dezentralisierung der Fertigungsprozesse, zu einem grundlegenden Wandel des betrieblichen industriellen Arbeitssystems und seiner wissenschaftlichen Reflexion führte. Neue Formen der Arbeitssystemgestaltung gewannen in jenen Jahren in der japanischen Industrie an Bedeutung, die durch integrativen Aufgabenzuschnitt auf eine Verringerung funktionaler Arbeitsteilung zielten. Durch die Rechnerunterstützung in der Fabrik, insbesondere durch den Einsatz von CNC gesteuerten Maschinen, ergaben sich seit dem Ende der siebziger Jahre und mit Beginn der achtziger Jahre neue Möglichkeiten einer soziotechnischen Arbeitssystemgestaltung. Verschiedene Formen und Spielarten der Gruppenarbeit konnten sich in der Fabrik, genauer im automatisierten Fertigungsprozess, erst mit der Verbreitung rechnerunterstützter Produktionsmittel als rationale arbeitsorganisatorische Alternative behaupten. Festhalten lässt sich, dass die sozio-technische Arbeitssystemgestaltung seit den siebziger Jahren nicht nur durch innovative Fortschritte in den USA und Westeuropa geprägt, sondern nachhaltig durch die eigenständigen japanischen Entwicklungen in der Fertigungstechnologie, in Produktions- und Personalmanagement sowie in der Unternehmensführung.

93

6

6

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

Heute sind Entwicklung und Einsatz moderner Produktionsmittel in der japanischen und deutschen Industrie durch die Integration mit der Informationstechnik geprägt, die in erster Linie auf amerikanische Basisentwicklungen und auf japanische und westeuropäische produkt- und prozessorientierte Anwendungen zurückzuführen sind. Aus dieser Entwicklung resultierten einschneidende Veränderungen der herkömmlichen Organisationsweise. Die verschiedenen Möglichkeiten fertigungstechnischer und organisatorischer Gestaltung des automatisierten oder teilautomatisierten Fertigungsprozesses sind eine Herausforderung an die produktionswissenschaftliche Forschung und an die industrielle Praxis. Es gilt, unter dem Blickwinkel der gestiegenen Anforderungen im Zuge der Globalisierung, internationale Wettbewerbsvorteile durch die marktgerechte und integrative Gestaltung von Arbeitsorganisation und Automatisierungstechnik zu realisieren. Seit den sechziger Jahren erweitern neue rechnerunterstützte Produktionsmittel den arbeitsorganisatorischen Spielraum. Es galt, die Arbeitsorganisation in Abstimmung mit der Produktionstechnik, dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit folgend, so zu gestalten, dass sich technische, wirtschaftliche und personelle Potentiale im Fabrikbetrieb entfalten konnten. Die verschiedenen Möglichkeiten fertigungstechnischer und arbeitsorganisatorischer Gestaltung des Fertigungsprozesses stellen Herausforderungen an Forschung und industrielle Praxis dar, um die in Zukunft zu lösenden Probleme industrieller Produktion erfolgreich zu bewältigen.

Aufgabenstellung 1. Welche wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen förderten den Wiederaufstieg der japanischen Werkzeugmaschinenindustrie in den 1960er und 1970er Jahren? 2. Woher kamen die Impulse für Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen im Bereich der Automatisierungstechnologie? 3. Welche Bedeutung hatte die nationale und internationale produktionswissenschaftliche Forschung für die Durchsetzung der NC-Technologie in Japan? 4. Welche Rolle kam dem Technologietransfer bei der Entwicklung und Verbreitung der NC-Technologie in Japan zu?

94

Entwicklungslinien der Automatisierungstechnologie in Japan

Literaturhinweise Asanuma, B.: Manufacturer-supplier relationships in Japan and the concept of relation-specific skills, in: Journal of the Japanese and International Economies, Vol 3, 1989, S. 1-30. Abegglen, J. C.; Stalk, G. Jr.: Kaisha – Das Geheimnis des japanisches Erfolgs, Düsseldorf und Wien 1986. Beason, R.; Weinstein, D. E.: Growth, economies of scale, and industrial targeting in Japan (1955-1990). Harvard Institute of Economic Research Discussion Paper 1644, Boston, June 10, 1994. Chalmers, J.: MITI and the Japanese Miracle. The Growth of the Industrial Policy, 19251975, Stanford 1986. Chokki, T.: A History of the Machine Tool Industry in Japan. In: Fransman, Martin (Hg.): Machinery and Economic Development, New York 1986, S. 124-152. Freedman, D.: The misunderstood miracle – Industrial Development and political change in Japan, Ithaca, London 1988. Ito, T.: The Japanese Economy. Cambridge und London, The MIT Press 1992. Koshiro, K.: The employment system and human resource management, in: Imai, Kenichi; Koyama, Ryutaro: Business enterprises in Japan – Views of leading Japanese economists, Cambridge, Massachusetts, London 1994, S. 247-249. Kuba, Y.: Meister der Fertigungstechnologie – die 70 jährige Geschichte von Mazak, Tôkyô 1989. Nakamura, T.: Lectures on Modern Japanese Economic History 1926-1994, Tôkyô 1996. Nonaka, I.: Redundant, overlapping organization: A Japanese approach to managing the innovation Process, in: California Management Review, Vol. 32, Nr. 3, 1990, S. 27-38 Spur, G..: Vom Wandel der industriellen Welt durch Werkzeugmaschinen. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung der Fertigungstechnik, München, Wien 1991. Tsuruta, T.: The Rapid Growth Era, in: Komiya, Ryutaro; Okuno, Masahoro; Suzumura, Kotaro (Hrsg.): Industrial Policy in Japan, Tôkyô 1988, S. 49-87. Vestal, J. E.: Planning for Change. Industrial Policy and Japanese Economic Development 1945-1990, Oxford 1993.

95

6

7

Champagne*

Anbau des Champagne Champagne kommt aus dem Herzen Frankreichs. Die Champagne ist das Gebiet, in dem der Champagne seine Heimat hat. Ihr Zentrum liegt etwa auf halbem Weg zwischen Lothringen und Paris, rund 130 km östlich von Paris. Hier, um den großen Bogen der Marne, dehnen sich auf sanften Hängen die Weingärten der Champagne. Obwohl eine der berühmtesten Weingegenden der Welt, ist die Champagne die kleinste Weinregion Frankreichs: Mit rund 34.000 Hektar Fläche – wovon rund 31.000 Hektar als Anbaufläche gelten – umfasst sie nur rund 3 % der Weinanbaufläche des Landes. Die Menschen in der Champagne pflegen seit mehr als 300 Jahren das Kulturgut Champagnewein. Genauer gesagt sind hier rund 15.000 Winzer, rund 150 Genossenschaften und rund 120 Champagne-Häuser mit der Herstellung des Champagne befasst. Der Vierklang aus besonderem Boden, speziellem Klima, ausgesuchten Rebsorten und der besonderen Kultivierung sowie des handwerklichen Geschicks in der Weinbereitung machen dabei das Besondere des Champagne aus. Der Ruhm des Champagne ist auf Kreide gebaut: Vor 100 Millionen Jahren war am geographischen Ort der heutigen Champagne ein Meer. Seine Ablagerungen liegen heute als Sedimentgestein an der Oberfläche und bilden den Boden der Champagne. Auf diesem Belemnit-Kreidegrund aus der Sekundärzeit (Mesozoikum) lagert eine lockere, fruchtbare 20 bis 50 cm dicke Humus- und Lehmschicht, die einen hohen Mineralienreichtum aufweist. Die Rebwurzeln durchdringen sie und tauchen tief in den kreidigen Untergrund ein. Dieses begünstigt das Gedeihen der Reben außerordentlich. Denn die Kreide hält die Feuchtigkeit, verhütet aber stehende Nässe, speichert die Tageswärme und gibt sie Nachts langsam frei. Zudem verteilt der Kreideboden das Regenwasser gleichmäßig auf die Reben. Die Kreide kann dabei bis zur Hälfte ihres Eigengewichts an Wasser speichern (bis zu rund 300 Liter Wasser pro Kubikmeter Kreide). Damit bildet der Kreideboden eine einzigartige Bodenklimaanlage, und in dieser Eigenschaft die Basis für den einzigartigen Charakter des Champagne. Um den Wert einer Weinbaufläche zu ermitteln, wurde 1952 ein Klassifizierungssystem eingeführt, welches maximal werthaltige Flächen mit einem Wert von 100 versieht. Auf diesen Lagen müssen Bodenfläche, Himmelsrichtung, Ausrichtung zur Sonne, Höhe und Neigungswinkel der Rebflächen in einem perfekten Zusammenspiel zueinander stehen. Weine von diesen Lagen dürfen als Grand Crus (Catégorie hors classe) be*

Unter Mitarbeit von Florence Buscke

97

7

Champagne

zeichnet werden. Wenn die Werthaltigkeitsbestimmung einen Indexwert zwischen 90 und 99 für eine zu untersuchende Lage ergibt, dürfen Weine dieser Lage als Prémiers Crus bezeichnet werden. Sofern die Lagenwerthaltigkeit einen Index unter 60 ergibt, dürfen die Weine dieser Lage nicht zu Champagne ausgebaut werden. Nach diesem Klassifizierungsindex werden die über 320 Lagen (Crus) der Champagne bewertet.

Herstellung des Champagne Der Herstellungsprozess des Champagne ist durch eine Vielzahl an strengen Vorschriften reglementiert, es gibt weltweit keinen Wein, dessen Herstellung einer ähnlichen Vielzahl und einer ähnlichen Stringenz an Vorschriften und Gesetzen unterliegt. Die Einhaltung der strengen Qualitätsregeln werden vom französischen Landwirtschaftsministerium (Ministère de l'Agriculture), der staatlichen Weinkontrolle und Gewerbeaufsicht (La Direction Générale de la Concurrence, de la Consommation et de la Répression des Fraudes), vom Nationalen Institut für Ursprungsbezeichnungen (Institut National des Appellations d'Origine, kurz INAO), von Zoll- und Steuerbehörden (La Direction Générale des Douanes et des Droits Indirects) sowie vom Champagne-Gesamtverband (CIVC) kontrolliert. Diese Qualitätsnormen wurden im Lauf der Zeit immer weiter ausgedehnt und haben mittlerweile Gesetzeskraft erlangt. Für das Wachsen und Werden des Champagne gilt demnach ein besonders strenges Prinzip, vergleichbar einer Art von Grundgesetz: Qualität vor Quantität. Das heißt der Ertrag an Qualität, Feinheit, Rasse und Eleganz hat immer Vorrang vor dem Ertrag an Menge. Deshalb ist die Anbaufläche für Champagne seit 1927 durch Gesetz auf die besten Böden und Lagen begrenzt – die sog. Zone Délimitée. Außerhalb dieser gesetzlich festgelegten Grenzen darf kein Champagne hergestellt werden. Innerhalb der Zone Délimitée bildet der Champagne-Anbaubereich keine einheitliche Fläche, sondern gliedert sich in fünf verschieden große Gebiete: Die Reimser Berge (Montagne de Reims), das Marnetal (Vallée de la Marne), den Weißen Hang (Côte des Blancs), das Gebiet der Aube (Côte de l'Aube) sowie das Gebiet Rosé de Riceys (Côte de Sezanne). Im Marnetal liegen die Städte Epernay und Châlons-sur-Marne (heute Châlons-enChampagne), in der Montagne de Reims die dritte wichtige Stadt der Champagne, Reims. Das Wetter in der Champagne ist veränderlich und abwechslungsreich, doch insgesamt weder zu kalt noch zu heiß – die durchschnittliche Jahrestemperatur liegt bei rund 10 Grad Celsius. Gleichwohl pflegen die Winzer ihre Rebstöcke besonders intensiv. Die Sonneneinstrahlung in der Champagne ist mit rund 1.700 Stunden pro Jahr relativ gering. Der Boden mit seinem Kreidegrund sorgt für gute Drainage und bestes Bodenklima. Die Wälder auf den Höhen halten harte Winde ab und gleichen Schwankungen der Luftfeuchtigkeit aus. So reifen die Trauben in der Champagne auf vollendete Weise. Allerdings können durch die Witterungsbedingungen im gleichen Jahr die Trauben einer Lage besser sein als die einer anderen. Und bei derselben Lage können die Trauben des einen Jahres besser sein als die eines anderen Jahres.

98

Champagne

Das Typische des Champagne ist, dass er durch das sog. Vermählen verschiedener Gewächse und Jahrgänge bereitet wird. Diese Vermählung der unterschiedlichen Jahrgänge und Gewächse zielt darauf ab, eine möglichst gleichbleibend hohe Qualität im Champagne zu erzielen. Deshalb werden die einzelnen Champagne-Stillweine aus verschiedenen Lagen und verschiedenen Jahrgängen zu besonderen Kreszenzen (Cuvées) kombiniert. Die Assemblage von Weinen aus verschiedenen Lagen und Jahrgängen gilt nicht zuletzt als Besonderheit des Champagne, weil je nach Art und Umfang des vertikalen (Vermählung von Reserveweinen verschiedener Jahrgänge) und horizontalen (Vermählung von Weinen aus den rund 320 Lagen) Verschnitts – sowie ihrer Kombinationen hieraus – zwischen 10, 20, 30 oder gar im Einzelfall mehr als 100 oder gar 200 Stillweine entsprechend kombiniert werden. Als einzige Ausnahme hiervon gelten die Millésimés oder Vintages, die Jahrgangschampagne, welche aus Trauben von Lagen nur eines einzigen, besonders guten Jahrgangs entstehen. Allerdings machen die Jahrgangschampagne nicht einmal 10 % des gesamten Produktionsvolumens aus. Voraussetzung für beste Ergebnisse bei der Vermählung sind natürlich Trauben, deren Sortencharakteristika so gut miteinander harmonieren und deren Eigenschaften sich gegenseitig dabei noch so steigern, dass das Ergebnis miteinander noch besser ist als das Ergebnis einer Einzelsorte. Gemäß dem sog. Champagne-Grundgesetz sind daher nur drei Traubensorten zugelassen, aus denen Champagne gekeltert werden darf: Spätburgunder (Pinot Noir) und Schwarzriesling (Pinot Meunier), zwei blaue bzw. rote Sorten, und Chardonnay, eine weiße Sorte. Die beiden blauen Sorten werden weiß gekeltert und ergeben weißen Wein. Sie verleihen dem Champagne Körper, Fülle und Lebensdauer. Champagne aus überwiegend blauen Trauben schmeckt daher eher kräftig und füllig. Der weiße Chardonnay gibt dem Champagne seine Frische, Feinheit und Rasse. Etwa drei Viertel der Rebfläche sind mit blauen Trauben, etwa ein Viertel mit Chardonnay bestockt. Diese Aufteilung entspricht dabei auch der Zusammensetzung des Champagne: In der Regel wird ein Champagne aus etwa drei Vierteln blauen Trauben und etwa einem Viertel weißen Trauben erzeugt. Eine Spezialität sind die Champagne Blanc de Blancs, nur aus Chardonnaytrauben; diese sind besonders edel, fein und elegant. Während die Blanc de Blancs nur aus weißen Trauben gekeltert werden, entstehen die Blanc de Noirs im Umkehrschluss nur aus blauen Trauben, also nur aus Pinot Noir und/oder Pinot Meunier. Roter Champagne ist verboten, das heißt, selbst die Blancs de Noirs stellen sich in einer weißen Farbe vor. Rosé-Champagne entsteht, etwas vereinfacht formuliert, durch die Zugabe von Rotwein zu herkömmlichem, weißem Champagne. Das Prinzip Qualität vor Quantität fordert auch, dass die Reben mehrmals im Jahr gestutzt werden. Dadurch sollen weniger Trauben hervorgebracht werden, die aber dafür umso bessere Qualitätseigenschaften aufweisen; alle Kraft des Bodens soll in die Traube gehen, nicht ins Grüne. Hierbei sind nur vier verschiedene Schnittmethoden zugelassen (Taille Guyot, Taille Cordon de Royat, Taille Vallée de la Marne und Taille Chablis). Das Champagne-Grundgesetz beschränkt aber nicht nur die Anbaufläche, limitiert die Anzahl der Traubensorten auf drei sowie die Anzahl der Schnittmethoden 99

7

7

Champagne

auf vier, sondern es greift auch bei Lese und Kelterung der Trauben streng ein: Nicht alle Trauben, die heranreifen, dürfen auch zu Champagne werden. Die Traubenmenge pro Hektar, die zur Champagne-Herstellung verwendet werden darf, wird jedes Jahr vor der Ernte gesetzlich reglementiert. Jeder Ertrag über das gesetzliche Limit hinaus darf nicht mehr zu Champagne ausgebaut werden. Dazu bestimmt der ChampagneGesamtverband (Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne, kurz CIVC) in Epernay vor jeder Lese den Mindestalkoholgehalt im Wein, den der Most erbringen muss. Was dieses Minimum nicht erreicht, darf auch nicht zu Champagne werden. Die Höchstmenge für den Hektarertrag ermittelt man durch eingehende Prüfung der Ernteaussichten und wiederholte Probeuntersuchungen. Sie beträgt in der Regel rund 10.000 kg pro Hektar, variiert aber von Jahr zu Jahr – im Jahr 2003 wurden bspw. 11.400 kg Trauben pro Hektar erlaubt. Die Mindestmenge für den Alkoholgehalt im Wein wird durch genaue Labortests auf Zucker- und Säuregehalt bestimmt. Der potentielle Alkoholgehalt im Most musste im Jahr 2003 bspw. 9 Volumenprozent betragen. Das Jahr 2003 war allerdings für die Champagne kein sehr gutes Jahr, da zu Beginn des Jahres Frostverluste auftraten, und dann im Sommer die sehr hohen Temperaturen die Lese schon Mitte August erforderlich machte. Die Stillweine als Ausgangsgrundlage zur Herstellung von Champagne sind schon von Haus aus Ausleseweine. Nur reife, gesunde und unbeschädigte Trauben dürfen in die Kelter. Deshalb wird bei der Ernte – übrigens immer per Hand – nicht nur mit strenger Sorgfalt gelesen, sondern auch ohne Rücksicht auf Verluste ausgelesen. Die optimale Reife wird in der Champagne dabei in der Regel Ende September – also in etwa 100 Tage nach der Blüte – erreicht. Alle zur Kelterung für hinreichend geeignet befundenen Trauben werden in große Körbe (Mannequis) gelegt, und auf weichgefederten Wagen vorsichtig in die immer nahe gelegene Kelter gefahren, wo sie sofort in die Presse kommen. Auch beim Pressen der Trauben gilt der Grundsatz Qualität vor Quantität. Aus rund 160 kg Trauben dürfen höchstens rund 102 Liter Most gepresst werden, woraus nicht mehr als 100 Liter Wein entstehen dürfen. Das entspricht also einem Anteil von rund zwei Dritteln. So verlangt es das Gesetz. Der Druck beim Pressen muss relativ gering sein, damit der Saft aus den Beeren gekeltert wird, ohne dass die Haut ihren roten Farbstoff abgibt. Damit die reifen Beeren am besten gepresst werden, ist nur die Ganztraubenpressung erlaubt, das heißt, die Trauben dürfen nicht entrappt werden. In den Pressen mit einem Fassungsvermögen von 4.000 kg Trauben (ein Marc) dürfen nur 2.550 Liter Most gepresst werden, von denen die ersten 2.050 Liter die Cuvée-Bestandteile (1. Pressung; Tête de Cuvée) und die letzten 500 Liter die Taille (2. Pressung; Première Taille) darstellen. Das Pressen der Beeren geht dabei so sachte wie möglich vor sich. Kommt es doch bei drei Vierteln der ganzen Ernte darauf an, weiß zu keltern – also aus blauen Trauben weißen Most zu erhalten. Das vorsichtige und sanfte Verfahren des Pressens beeinflusst zu etwa 70 % die Endqualität des Champagne. Ebenso wenig wie Farbpigmente aus den Schalen dürfen Gerb- und andere (Bitter-)Stoffe in den Most geraten und die Feinheit des Weins beeinflussen. Deshalb sind die Keltern in der Champagne großflächig und flach. So kann der Most die

100

Champagne

Pressmasse schnell durchfließen und nichts Falsches mitnehmen. Nach dem Keltern ruht der Most eine Nacht in Tanks, damit sich Schwebeteilchen absetzen können. Der frisch gekelterte Most kommt danach sofort in die Champagne-Kellerei zur ersten Gärung – vom Most zum stillen Wein. Sie läuft entweder in den traditionellen Holzfässern oder in modernen Stahltanks ab. Nach drei Wochen etwa ist ein stiller junger Wein durch alkoholische Gärung entstanden. Im ersten Abstich wird er von der Hefe getrennt und im Laufe des Winters noch mehrmals umgefüllt und gefiltert. Er wird solange abgezogen, bis er vollständig geläutert ist. Danach hat sich der neue Wein geklärt und seine spezifischen Eigenschaften können bestimmt werden. Diese Phase kann sich bis in den Frühling des auf das Lesejahr folgenden Jahres erstrecken. Bis zu diesem Prozessschritt unterscheidet sich der Ausbau im Prinzip nicht von den Arbeitsgängen in anderen Weinbaugebieten. Ab diesem Prozessschritt jedoch beginnt die Méthode Champenoise, das Champagne-Verfahren im engeren Sinn. Die Méthode Champenoise umfasst fünf Arbeitsschritte. Die Vermählung (auch Cuvée, Assemblage oder Verschnitt genannt) von Stillweinen unterschiedlicher Sorte, von unterschiedlichen Lagen und unterschiedlichen Jahrgängen soll Champagne hervorbringen, die ein reiches Bouquet aufweisen. Das Ziel ist es, eine gleichbleibend hohe Qualität des Champagne sowie – und das ist aus vermarktungstechnischer Sicht kritisch – einen weitgehend gleichbleibenden, markentypischen Charakter eines Champagne eines Hauses zu erzeugen. Über die Jahre hinweg soll so sichergestellt werden, dass Champagne eines Anbieters einen möglichst gleichbleibenden Grundcharakter aufweist. Der ausgewogene Markencharakter eines Champagne resultiert aus dem Verschnitt von mehreren Stillweinen, wobei die Kunst und das handwerkliche Ge-schick bzw. das Gespür darin bestehen, Jahre voraus den Geschmacksverlauf eines Verschnitts zu antizipieren; eine Aufgabe, die neben Talent und Erfahrung auch reichlich Zungenspitzengefühl erfordert. Die Kunst der ChampagneHerstellung geht maßgeblich zurück auf Dom Pérignon (Pierre Pérignon; 1638 bis 1715), der als Prokurator der Abtei Hautvillers oberhalb von Epernay den ersten klaren weißen Wein aus blauen Trauben kreierte, dabei spanischen Kork als Verschluss verwendete und das englische Glas als Füllbehältnis. Dom Pérignon erfand die Kaltlese (also den Vorläufer der heutigen Nachtlese), das Prinzip der Vertikalpressung und gilt als Begründer der Assemblage. Nach dem Verschnitt wird die Cuvée durch Kälte stabilisiert und mehrfach gefiltert. Champagne wird durch zwei Gärungen erzeugt, wobei die zweite Gärung grundsätzlich in der Flasche erfolgt. Was im Labor bereits zuvor im Kleinen zusammengestellt wurde, kommt im Weinkeller in große Fuder und wird großvolumig miteinander vermischt. Dann wird der Grundweinmischung eine kleine Menge Fülldosage beigegeben. Diese besteht aus Hefe und in Wein aufgelöstem Zucker. Sie dient dazu, eine zweite Gärung einzuleiten. Die Fülldosage wird der Cuvée vor dem Abziehen auf Flaschen zugesetzt, und wandelt sich während des zweiten Gärprozesses – jetzt in der Flasche – langsam in Alkohol und Kohlensäure um. Das Abziehen der Cuvée auf Fla-

101

7

7

Champagne

schen darf dabei nicht vor dem 1. Januar des auf die Lese folgenden Jahres vorgenommen werden. Der Gasdruck im Innern der Flasche steigt dabei auf bis zu 6 Bar bzw. Atmosphären an. Während die erste Gärung rund drei Wochen dauert, erfordert die zweite Gärung in etwa drei bis vier Monate Prozesszeit (Prise de Mousse). Durch die langsame Gärung unter hohem Druck verbindet sich die Kohlensäure mit dem Wein besonders gut. Dieses ist eine Ursache für den besonders feinen Schaum und das lang anhaltende Perlen eines Champagne. Die zweite, und vielleicht wichtigere, Ursache liegt in der besonderen Form der Lagerung des Champagne. Die Kombination von Druck- und Lagerungsbedingungen lässt sich vier unterschiedliche Ausprägungen von cremiger Kohlensäure emergieren: Perlant, Pétillant, Crémant und Mousseux. Nur die beiden Letztgenannten sind dabei für Champagne angestrebt. Nach Abschluss der zweiten Gärung ist der Wein hell und klar. Auf der Innenwand der Flasche hat sich ein Satz aus Gärungsrückständen gebildet. Auf diesem Satz lagert der Champagne noch mehrere Monate. Laut Gesetz müssen die Flaschen mindestens 15 Monate (davon mindestens 12 Monate auf dem Satz) gelagert werden (ReserveChampagne). Durchschnittlich sind es jedoch rund zweieinhalb bis fünf Jahre Lagerzeit. Das Gesetz schreibt darüber hinaus für die Millésimés vor, dass diese mindestens drei Jahre in den Kellern gelagert werden. Das langsame Altern und Reifen durch Lagerung in der Flasche ist eine der signifikantesten Voraussetzungen für die unvergleichliche Feinheit des Champagneweins. Zur weiteren Verarbeitung muss der Satz aus Gärungsrückständen aus der Flasche hinaus. Dafür muss er sich zunächst im Flaschenhals ansammeln. Deshalb werden die Flaschen am Ende der Reifezeit horizontal in schräge Rüttelpulte gesetzt. Jeden Tag wird jede Flasche leicht geschüttelt und gedreht, so dass sie immer steiler fast vertikal im Rüttelpult steht. So gleitet der Satz langsam von der Innenwand in Richtung Flaschenhals, wo er sich nach rund 6 bis 12 Wochen angesammelt hat. Die Flaschen stehen nach dieser Zeit auf der Spitze, sie sind bereit für den fünften und letzten Arbeitsgang. Der Prozessschritt des Rüttelns auf Rüttelpulten von 1805 geht dabei zurück auf die damals 27-jäh-rige Witwe Nicole-Barbe Clicquot-Ponsardin. Das Rüttelpult besteht aus zwei gegeneinander gestellten Holzladen mit einer Reihe an ausgeklügelten Bohrungen. Hier werden die Flaschen allmählich von der waagrechten in eine senkrechte Position gebracht. Beim Degorgieren (Dégorgement) wird der Satz aus dem Flaschenhals entfernt, und zwar ohne das er viel Champagne mitnimmt. Dazu wird der Flaschenhals in eine Gefrierlösung getaucht, und bei minus 25 Grad Celsius gefriert der Satz zu einem Eisklotz. Die Flasche wird geöffnet und der Druck jagt den gefrorenen Satzklotz hinaus; der Champagne ist jetzt vollkommen klar und rein. Dabei geht insgesamt nur wenig Champagne verloren; der geringe Verlust wird durch die Versand-Dosage wieder ersetzt. Sie besteht aus demselben Grundwein, in dem allerdings Rohrzucker gelöst ist. Das Mischungsverhältnis der Dosage richtet sich nach der Geschmacksrichtung, die der Champagne haben soll: Brut Nature (naturherb; unter 3 g Restzucker pro

102

Champagne

Liter), Extra Brut (extra herb; zwischen 0 g und 6 g Zuckergehalt pro Liter), Brut (herb; weniger als 15 g Zuckergehalt pro Liter), Extra Dry (extra trocken; zwischen 12 g und 20 g Zuckergehalt pro Liter), Sec (trocken; zwischen 17 und 35 Zuckergehalt pro Liter), Demi Sec (halbtrocken; zwischen 33 g und 50 g Zuckergehalt pro Liter) oder Doux (mild; mehr als 50 g Zuckergehalt pro Liter). Mit anderen Worten, das Einbringen der Dosage bestimmt, welchen Charakter der fertige Champagne ausprägen soll – eher trocken oder eher lieblich. Als nächste Takte in demselben Arbeitsgang folgen das Verkorken, welches grundsätzlich mit Naturkork erfolgt, sowie das Anbringen der Agraffe zur Korksicherung. Portugiesischer und spanischer Kork wird häufig zum verkorken der Flaschen verwendet, da die mühsam gewonnenen Aromen und Geschmacksnuancen optimal erhalten werden müssen. An der Form eines Korkens lässt sich auch das Alter einer Cuvée ablesen: Eine nach unten breiter werdende Form (Juponne) weist auf eine erst kürzlich erfolgte Enthefung hin, während bei nach unten spitzer zulaufenden Korkformen (Cheville) darauf geschlossen werden kann, dass die Enthefung länger zurückliegt. Die Agraffe dient zur Sicherung des Korkens auf der Flasche, so dass dieser sich durch den Innendruck nicht eigenständig lösen kann. Die Technik des Verkapselns in der heutigen Form geht zurück auf Adolphe Jacqueson und wird seit gut 150 Jahren angewendet. Letztlich werden die Flaschen etikettiert und der Champagne ist fertig. Nach einigen Wochen Ruhezeit kann er zum Versand kommen. Diese Ruhezeit ist dabei einzuhalten, damit sich der Champagne mit dem zugesetzten Dosierungslikör optimal verbinden kann. Die Standardgröße der 1/1-Flaschen für den Champagne beträgt 0,75 Liter (Imperial oder La Champenoise). Daneben haben sich aber auch eine Reihe an weiteren Größen etabliert: 1/4-Flasche mit 0,2 Liter (Piccolo oder Le Quart), 1/2-Flasche mit 0,375 Liter (Demi), 2/1-Flasche mit 1,5 Liter (Magnum), 4/1-Flasche mit 3 Liter (Jéroboam), 6/1Flasche mit 4,5 Liter (Rehoboam), 8/1-Flasche mit 6 Liter (Mathusalem), 12/1-Flasche mit 9 Liter (Salmanazar), 16/1-Flasche mit 12 Liter (Balthasar) und 20/1-Flasche mit 15 Liter (Nabuchodonozor). Das Grundgesetz der Champagne regelt auch das weitgehende Produktionsverbot für andere Schaumweine als Champagne in Anlehnung an die Méthode Champenoise in der Champagne. Sofern Ausnahmsweise Sekte produziert werden, dürfen dann allerdings nicht die Herkunftsbezeichnung sowie der eigentliche Name Champagne auf die Flasche aufgebracht werden. Der Champagne wird ausschließlich in Räumlichkeiten erzeugt, in denen nur Weine aus der Zone Délimitée lagern dürfen. Der fertige Champagne darf das Weinbaugebiet der Champagne nur abgefüllt in Flaschen, also ausdrücklich nicht in Fässern und/oder Tanks, verlassen. Somit soll die Verarbeitung von Champagne-Grundweinen außerhalb des umrissenen Gebiets unmöglich gemacht werden.

103

7

7

Champagne

Vertrieb des Champagne Im Jahr 2003 wurden mehr als 293 Millionen Flaschen zu je 0,75 Liter weltweit abgesetzt. In den Export gelangten davon mehr als 119 Millionen Flaschen (rund 40 %). Großbritannien, die USA und Deutschland bildeten die drei Hauptabnehmerländer für den Champagne, mit respektive rund 29 %, rund 16 % und rund 10 % des Exportabsatzes. Damit der Champagne auch nach seiner Fertigstellung für Qualitätskontrollen zugänglich bleibt, sind zwei zusätzliche Kontrollmöglichkeiten auf den Flaschen vorgeschrieben: Einerseits muss die Bezeichnung Champagne auf dem Teil des Naturkorkens, welcher in der Flasche steckt, vorhanden sein; zweitens sind die Etiketten außen mit einer Erzeuger-Nummer versehen. Diese enthält jeweils zwei Buchstaben, welche die Herkunft des Champagne aufzeigt. Dabei gelten die Buchstaben NM (NégociantManipulant) für ein Champagnehaus, welches in der Rechtsform einer natürlichen oder juristischen Person Trauben, Most oder Grundwein ankauft und die weitere Verarbeitung in seinem Betrieb vornimmt. Die Buchstaben RM (Récoltant-Manipulant) stehen für einen Champagnewinzer, der ausschließlich aus eigenen Grundweinen im eigenen Betrieb Champagne herstellt. Die Buchstaben RC (Récoltant-Cooperateur) indizieren, dass ein Genossenschaftswinzer die Trauben seiner Ernte an seine Genossenschaft liefert und von dieser im Umkehrschluss verkaufsfertigen Champagne geliefert bekommt; dabei darf er auch Champagne erhalten, der noch auf der Hefe liegt und noch zu degorgieren und zu dosieren ist. Das Buchstabenpaar CM (CoopérativeManipulante) weist auf eine Genossenschaft hin, die in ihrem Betrieb Trauben ihrer Mitglieder vinifiziert, zu Champagne verarbeitet und ihn unter ihrer eigenen Marke vertreibt. Die Buchstaben ND (Négociant-Distributeur) deuten an, dass eine Vertriebsgesellschaft die verkaufsfertigen Champagne-Flaschen nach Durchlaufen der Méthode Champenoise ankauft und sie im eigenen Betrieb mit Etiketten versieht. Champagne wird insgesamt in Form von rund 8.000 unterschiedlichen Markenbezeichnungen angeboten, weshalb es Champagne praktisch in unüberschaubarer Sortenvielfalt und zahlreichen Variationen gibt. Allerdings stehen nur wenige große Anbieter hinter dieser ausgeprägten Markenvielfalt. Im Hinblick auf das Wechselspiel zwischen Anbau der Weinreben, Herstellung sowie Vertrieb des Champagne gilt, dass die großen Champagne-Häuser nur rund 15 % der Anbaufläche besitzen, aber mehr als 90 % des Exportabsatzvolumens von Champagne bewegen. Den weitaus größten Teil ihrer Trauben müssen die Champagne-Häuser deshalb von den rund 15.000 Winzern zukaufen. Ein Großteil dieser Winzer besitzt dabei oftmals weniger als einen Hektar Anbaufläche und betreibt den Weinbau in Nebentätigkeit; nur wenige Betriebe haben mehr als fünf ständige Mitarbeiter. Nach der Ernte erwerben die großen Häuser Anfang Oktober die Trauben von den Winzern, wobei ein spezieller Richtpreis berücksichtigt wird. Je nach dem, ob und wie viel der Rebfläche eines Winzers als Grand Cru oder Premier Cru ausgezeichnet sind, bekommt der Winzer einen besseren Preis. 100 % des ausgehandelten Preises erhält demgemäß nur derjenige Winzer, der ausschließlich über Grand Cru-Lagen verfügt. Der Mindestpreis für alle Winzer ist allerdings bei 80 % dieses Preisniveaus taxiert. 104

Champagne

Etwas mehr als 32.000 Menschen arbeiten in der Champagne an der Herstellung der Schaumweine, aber nur rund 6.000 davon sind im engeren Sinn mit dem Weinbau befasst. Einer der traditionsreichen Récoltant-Manipulants, also der Winzerbetriebe, ist das Unternehmen Laurence Leroc et Fils im Örtchen Bouzy, welches in der Montagne de Reims im Dreieck zwischen den Städten Reims, Epernay und Châlons-enChampagne liegt. Der Betrieb existiert seit fast 230 Jahren, und die Tradition der Weinerzeugung geht von Generation auf Generation über. Die Weinberge des Betriebs Laurence Leroc et Fils erstrecken sich über rund 10 Hektar und liegen zur Gänze im berühmten Anbaugebiet von Bouzy, welches zu 100 % Grand Cru-Lagen aufweist (Côtes de Bouzy). Bouzy gilt als Domäne des Pinot Noir, und die Assemblage mit Chardonnay – der auf eigenen Parzellen angebaut wird – ermöglicht die Herstellung eines sehr ausdrucksstarken Champagne. Das Unternehmen kennt keine Absatzschwierigkeiten, mehr als drei Viertel der Jahresproduktion werden in den Export – hauptsächlich an Kunden in Deutschland – geliefert. Laurence Leroc et Fils verfügt seit 1869 über einen eigenen Gärkeller, 1958 wurde eine eigene Coquard-Presse angeschafft. Der Betrieb erwirtschaftet seit 1994 jedes Jahr etwas mehr als eine Million Euro Umsatz, Tendenz steigend.

Aufgabenstellung 1. Stellen Sie den Prozess der Champagne-Herstellung möglichst präzise in Makround Mikrosequenzierung dar. Welche Arbeitsschritte sind dabei besonders kritisch für das spätere Qualitätsergebnis? Kennzeichnen Sie (soweit möglich) die Zeiterfordernisse für die einzelnen Arbeitsschritte. 2. Wie beurteilen Sie den Herstellungsprozess von Champagne allgemein mit Blick auf die ökonomischen Aspekte Kapitalbindung, Lagerhaltung, Fixkosten sowie Nutz- und Leerkosten für die Produktion? Wie beurteilen Sie den Herstellungsprozess in dieser Sicht konkret am Beispiel des Betriebs Laurence Leroc et Fils?

105

7

7

Champagne

Glossar Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne Das CIVC ist eine quasi halböffentliche Organisation unter der Aufsicht und Entscheidungshoheit der französischen Regierung mit Sitz in Epernay. Sie gilt als Interessenvertretung der Winzer (Vignerons) und der Kellereien (Négociants, Maisons) in der Champagne. Ihre Hauptaufgabe ist die Formulierung und Überwachung der qualitätsorientierten Vorschriften und Richtlinien zur Herstellung von Champagne. Vignerons und Maisons sind dabei paritätisch sowohl im Präsidium als auch in der Comission Consultative der CIVC vertreten. Coquardpresse Die traditionelle Coquardpresse gilt als das standardmäßige Werkzeug zur Traubenkelterei in der Champagne. Die Presse ist großflächig rund, und hat ein Fassungsvermögen von 4.000 kg Trauben. Das Eigengewicht der Maschine beträgt dabei zwischen 3.500 kg und 6.000 kg, so dass das Bruttogewicht einer gefüllten Coquardpresse zwischen 7.500 und 10.000 kg liegt. Cru Cru steht für Gewächs und für Lage sowie für die auf einer Lage wachsenden Weine. In Anlehnung daran existieren Klassifizierungssysteme, die in Abhängigkeit der Qualität der Lage einen Wein bspw. in Grand Cru, Premier Cru und Cru Classé differenzieren. In der Champagne werden die Lagen dabei mit Weinbaugebieten von ganzen Orten gleichgesetzt.

106

Champagne

Anhang Tabelle 7-1:

Übersicht über die Erzeugerstrukturen in den Jahren 1995 bis 2003*

Maisons – Négotiant Manipulant

Winzer – RécoltantManipulant

Jahr

in Stück

in %

in Stück

in %

Genossen-schaften – RécoltantCooperateur in Stück

Gesamter Absatz

1995

179.477.700

71,99

51.459.140

20,64

18.357.348

7,36

249.294.188

1996

183.669.546

71,80

51.973.701

20,32

20.157.982

7,88

255.801.226

1997

192.697.902

71,65

54.256.845

20,17

21.985.224

8,17

268.939.971

in %

in Stück

1998

204.975.456

70,09

60.671.102

20,75

26.811.534

9,17

292.458.092

1999

221.862.638

67,82

79.156.299

24,20

26.102.524

7,98

327.121.461

2000

168.056.621

66,42

65.784.323

26,00

19.190.016

7,58

253.030.960

2001

172.250.744

65,59

67.111.786

25,56

23.250.920

8,85

262.613.450

2002

195.114.444

67,83

67.839.635

23,58

24.697.296

8,59

287.651.375

2003

197.779.350

67,43

68.357.860

23,31

27.171.559

9,26

293.308.769

* gemessen in Stück 1/1-Flaschen

Tabelle 7-2:

Übersicht über die Nachfrage in den Jahren 1993 bis 2003*

Jahr

Gesamter Absatz in Stück

Exportnachfrage in Stück

in %

Absatz in Frankreich in Stück

1993

229.089.728

76.420.634

in %

33,36

152.669.094

66,64

1994

241.582.563

84.435.029

34,95

157.147.534

65,05

1995 1996

249.294.188

91.386.052

36,66

157.908.136

63,34

255.801.226

95.205.653

37,22

160.595.573

62,78

1997

268.939.971

103.833.858

38,61

165.106.113

61,39

1998

292.458.092

113.453.686

38,79

179.004.406

61,21

1999

327.121.461

136.591.291

41,76

190.530.170

58,24

2000

253.030.960

103.533.945

40,92

149.497.015

59,08

2001

262.613.450

98.240.890

37,41

164.372.560

62,59

2002

287.651.375

112.743.584

39,19

174.907.791

60,81

2003

293.308.769

119.274.922

40,67

174.033.847

59,33

* gemessen in Stück 1/1-Flaschen

107

7

7

Champagne

Tabelle 7-3:

Übersicht über den Exportanteil der Nachfrage in Deutschland in den Jahren 1993 bis 2003*

Jahr

Gesamter Absatz in Stück

Exportnachfrage in Stück

in % vom gesamten Absatz

Absatz in Deutschland in Stück

in % der Exportnachfrage

1993

229.089.728

76.420.634

33,36

15.190.000

19,88

1994

241.582.563

84.435.029

34,95

18.845.000

22,32

1995

249.294.188

91.386.052

36,66

17.748.000

19,42

1996

255.801.226

95.205.653

37,22

18.405.000

19,33

1997

268.939.971

103.833.858

38,61

19.458.000

18,74

1998

292.458.092

113.453.686

38,79

19.313.000

17,02

1999

327.121.461

136.591.291

41,76

17.497.000

12,81

2000

253.030.960

103.533.945

40,92

14.236.000

13,75

2001

262.613.450

98.240.890

37,41

12.825.000

13,05

2002

287.651.375

112.743.584

39,19

11.387.000

10,10

2003

293.308.769

119.274.922

40,67

12.053.665

10,11

* gemessen in Stück 1/1-Flaschen

Tabelle 7-4:

Anbaufläche und Weinernte in der Champagne

Jahr

Anbaufläche in Hektar

Weinernte in Hektoliter

Weinernte in Hektoliter/Hektar

Weinernte in Liter/Quadratmeter

1993

29.109

1.925.958

66,16

0,66

1994

30.012

1.793.403

59,76

0,60

1995

30.659

2.103.782

68,62

0,69

1996

30.717

2.023.402

65,87

0,66

1997

30.544

1.798.852

58,89

0,59

1998

30.216

2.492.093

82,48

0,82

1999

30.147

2.495.560

82,78

0,83

2000

30.396

2.389.260

78,60

0,79

2001

30.590

2.091.209

68,36

0,68

2002

30.911

2.357.042

76,25

0,76

2003

31.198

1.608.842

51,57

0,52

108

Champagne

Tabelle 7-5:

Übersicht über die von den französischen Behörden erlaubten Obergrenzen für den Ernteertrag der Weintrauben*

Zeitraum bzw. Jahr

behördlich erlaubter Ertrag in kg Trauben/Hektar

behördlich erlaubter Ertrag in Liter Wein/Hektar

behördlich erlaubter Ertrag in Liter Wein/Quadratmeter

1970-1979

10.400

6.500

0,65

1980-1989

11.675

7.297

0,73

1990-1999

11.450

7.156

0,72

2000

12.600

7.875

0,79

2001

11.000

6.875

0,69

2002

12.200

7.625

0,76

2003

11.400

7.125

0,71

* jeweils als Durchschnittswert für die angegebenen Zeiträume

Tabelle 7-6:

Übersicht über die Entwicklung der Absatzzahlen des Champagne in Deutschland sowie des Durchschnittspreises für eine 1/1-Flasche Champagne*

Jahr

Absatz in Deutschland in Stück

Realwert (inflationsbereinigt) insgesamt in EUR

Durchschnittspreis (frei deutsche Grenze) in EUR/Stück

Durchschnittspreis frei deutsche Grenze) in EUR/Liter

1993

15.190.000

153.260.000

10,09

13,45

1994

18.845.000

178.660.000

9,48

12,64

1995

17.748.000

172.410.000

9,71

12,95

1996

18.405.000

172.410.000

9,37

12,49

1997

19.458.000

178.980.000

9,20

12,26

1998

19.313.000

193.300.000

10,01

13,35

1999

17.497.000

201.630.000

11,52

15,36

2000

14.236.000

167.880.000

11,79

15,72

2001

12.825.000

143.130.000

11,16

14,88

2002

11.387.000

130.430.000

11,45

15,27

2003

12.053.665

139.370.000

11,56

15,42

* Realwerte und Durchschnittspreise sind jeweils inflationsbereinigt und gelten ohne Steuern

109

7

7

Champagne

Tabelle 7-7:

Übersicht über die Aufteilung der Champagne-Nachfrage in Deutschland in Abhängigkeit von der Flaschengröße in den Jahren von 1993 bis 2003*

Maßeinheit

Absatz insgesamt

Absatz Imperial (1/1)

Absatz Magnum (2/1)

Absatz Demi (1/2)

Absatz Piccolo (1/4)

in Stück

15.190.000

14.005.180

136.710

637.980

2.107.613

in Liter

11.392.500

10.503.885

205.065

239.243

421.523

in Stück

18.845.000

17.751.990

122.493

640.730

1.908.056

in Liter

14.133.750

13.313.993

183.739

240.274

381.611

in Stück

17.748.000

16.505.640

133.110

674.424

2.329.425

in Liter

13.311.000

12.379.230

199.665

252.909

465.885

1996

in Stück

18.405.000

17.300.700

119.633

588.960

2.070.563

in Liter

13.803.750

12.975.525

179.449

220.860

414.113

1997

in Stück

19.458.000

18.387.810

136.206

661.572

1.678.253

in Liter

14.593.500

13.790.858

204.309

248.090

335.651

in Stück

19.313.000

18.289.411

125.535

695.268

1.448.475

in Liter

14.484.750

13.717.058

188.302

260.726

289.695

in Stück

17.497.000

16.289.707

244.958

769.868

1.049.820

in Liter

13.122.750

12.217.280

367.437

288.701

209.964

in Stück

14.236.000

13.481.492

106.770

569.440

800.775

in Liter

10.677.000

10.111.119

160.155

213.540

160.155

in Stück

12.825.000

12.081.150

115.425

564.300

769.500

in Liter

9.618.750

9.060.863

173.138

211.613

153.900

in Stück

11.387.000

10.703.780

68.322

546.576

982.129

in Liter

8.540.250

8.027.835

102.483

204.966

196.426

in Stück

12.053.665

11.438.928

90.402

458.039

723.220

in Liter

9.040.249

8.579.196

135.604

171.765

144.644

Jahr 1993

1994

1995

1998

1999

2000

2001

2002

2003

Absatz Jéroboam und >

22.785

14.134

13.311

13.804

14.594

28.970

39.368

21.354

19.238

8.540

9.040

* die Größe "Absatz insgesamt" ist umgerechnet auf 1/1-Flaschen; die Angaben für die Größe "Absatz Jéroboam und >" sind umgerechnet auf Flaschen, die von der Größe Jéroboam oder größer sind

110

Champagne

Tabelle 7-8:

Übersicht über die Aufteilung der Champagne-Nachfrage in Deutschland in Abhängigkeit von der Sortencharakterstik des Champagne (eher trocken oder eher lieblich) in den Jahren von 1993 bis 2003 * Brut Nature; Extra Brut; Brut in Stück

Extra Dry

Sec

Demi Sec

Doux

Jahr

Absatz in Deutschland insgesamt in Stück

in Stück

in Stück

in Stück

in Stück

1993

15.190.000

14.871.010

0

136.710

167.090

15.190

1994

18.845.000

18.468.100

0

150.760

207.295

18.845

1995

17.748.000

17.357.544

17.748

230.724

141.984

0

1996

18.405.000

17.981.685

18.405

220.860

184.050

0

1997

19.458.000

18.874.260

19.458

389.160

165.393

9.729

1998

19.313.000

18.849.488

19.313

289.695

144.848

9.657

1999

17.497.000

17.217.048

17.497

122.479

139.976

0

2000

14.236.000

13.709.268

71.180

284.720

170.832

0

2001

12.825.000

12.671.100

51.300

38.475

51.300

12.825

2002

11.387.000

11.102.325

56.935

148.031

74.016

5.694

2003

12.053.665

11.860.806

12.054

108.483

60.268

12.054

* gemessen in Stück 1/1-Flaschen

Tabelle 7-9:

Ertragsstruktur von Laurence Leroc et Fils in Bouzy

Jahr

Anbaufläche in Hektar

Ertrag in Liter Wein/Hektar

Ertrag in Liter Wein/Quadratmeter

Gesamter Ertrag in Liter

1996

9,20

6.190

0,62

56.948

1997

9,20

5.870

0,59

54.004

1998

9,20

6.250

0,63

57.500

1999

9,20

7.090

0,71

65.228

2000

10,30

7.670

0,77

79.001

2001

10,30

6.420

0,64

66.126

2002

10,30

6.890

0,69

70.967

2003

10,30

6.550

0,66

67.465

111

7

7

Champagne

Tabelle 7-10: Vertriebsstruktur von Laurence Leroc et Fils in Bouzy*

Jahr

Gesamter Ertrag in Liter

Gesamter Ertrag in Stück

Absatz insgesamt in Stück

Absatz Frankreich in Stück

in %

Absatz Export in Stück

in %

1995

53.295

71.060

64.967

17.541

27

47.426

73

1996

56.948

75.931

73.295

20.523

28

52.772

72

1997

54.004

72.005

71.993

17.998

25

53.995

75

1998 1999

57.500

76.667

69.893

15.376

22

54.517

78

65.228

86.971

79.998

15.200

19

64.798

81

2000

79.001

105.335

89.395

16.091

18

73.304

82

2001

66.126

88.168

87.943

17.589

20

70.354

80

2002

70.967

94.623

92.385

21.249

23

71.136

77

2003

67.465

89.953

80.832

19.400

24

61.432

76

* gemessen in Stück 1/1-Flaschen

Tabelle 7-11: Übersicht über die Kapazitätsauslastung unterschiedlicher Anlagen von Laurence et Fils in Bouzy* Monat

Coquardpresse

Filteranlage

Flaschenabfüllanlage

Weinbergbearbeitung

Januar

0%

10 %

10 %

35 %

Februar

0%

20 %

70 %

35 %

März

0%

10 %

70 %

45 %

April

0%

15 %

40 %

50 %

Mai

0%

0%

40 %

85 %

Juni

0%

0%

40 %

80 %

Juli

0%

0%

30 %

90 %

August

0%

0%

25 %

95 %

September

75 %

75 %

10 %

100 %

Oktober

75 %

100 %

10 %

85 %

November

0%

75 %

10 %

5%

Dezember

0%

85 %

5%

5%

* Angaben jeweils im Monatsdurchschnitt über die Jahre von 1993 bis 2003

112

Teil B Prozessmanagement

8

Château Imperiale en Pauillac*

Rotweinanbau in der Haut-Médoc Das Château Imperiale ist ein traditionsreicher Erzeuger von französischem Rotwein. Die bearbeitete und genutzte Weinanbaufläche liegt in und um Pauillac, welches sich im Haut-Médoc in der Region um die Stadt Bordeaux – zwischen dem Fluss Garonne und der französischen Atlantikküste an der Gironde – im Südwesten Frankreichs befindet. Die vom Château Imperiale hervorgebrachten Rotweine zählen regelmäßig zu den weltweit angesehensten und meistbeachteten Rotweinen. Thierry Marquis de Fleur führt das Château nach erwerbswirtschaftlichen und traditionellen Grundsätzen seit 1961 und wird im laufenden Tagesgeschäft bereits seit einigen Jahren von seiner heute achtundzwanzigjährigen Tochter Madeleine unterstützt. Damit sich das Problem der Unternehmensnachfolge für den Marquis de Fleur nicht stellt, soll seine Tochter in etwa zwei bis drei Jahren die Verantwortung für das Château Imperiale übernehmen. Madeleine weist langjährige, extensive praktische Erfahrungen im Weinanbau auf, die sie sowohl auf dem Château ihres Vaters sowie durch eine Reihe an Praktika in Weinanbaugebieten Frankreichs (u.a. im Languedoc im Süden Frankreichs, einem Gebiet, welches die älteste Weinbautradition Frankreichs aufweist und das hauptsächlich – auf "Masse" produzierte – Tafelweine hervorbringt), Deutschlands (u.a. im Rheingau, einem Gebiet westlich von Frankfurt am Main, das zu den besten und weltweit bekanntesten Anbaugebieten Deutschlands zählt und in dem hauptsächlich Rieslingweine kultiviert werden) und Kalifornien (u.a. im Napa Valley, welches als "das" Weinbaugebiet der USA gelten kann und in dem intensive Cabernet Sauvignon und Chardonnay angebaut werden) gesammelt hat. Zusätzlich zu ihrer praktischen Erfahrung hat Madeleine Weinbau studiert. Als Diplom-Önologin hat sie in der Appellation Contrôlée von Pauillac auch bei den anderen Chateaux des Haut-Médoc Anerkennung für ihre Arbeit gefunden. Madeleine erläutert Grundsätzliches zur herausgehobenen Stellung des Weinbaus in Frankreich: "Frankreich gilt als das bedeutendste Weinbauland der Welt. Im internationalen Maßstab existieren nur zwei Weinstile, die weltweit Beachtung finden, die nicht aus Frankreich stammen. Das eine ist der gespritete Dessertwein aus Spanien, das andere der Rieslingwein aus Deutschland. Überall in der Welt, wo Weinerzeuger nach internationaler Anerkennung streben, versuchen sie, die "klassischen" Weine aus Bordeaux – aber auch der Champagne und der Bourgogne – zu kopieren. Die geographischen und klimatischen Bedingungen für *

Unter Mitarbeit von Florence Buscke

113

8

Château Imperiale en Pauillac

den Weinanbau sind in weiten Teilen Frankreichs nahezu ideal. Die in großen Teilen Frankreichs kultivierten überregionalen und lokalen Rebsorten holen nahezu aus jedem Weinberg harmonische Weine mit einem ausgewogenen Verhältnis von Süße und Säure hervor. Die französischen Weinbaugebiete liegen so in etwa zwischen dem 42. und 50. Grad nördlicher Breite – ganz grundsätzlich lässt sich der Wein auf der nördlichen Erdhalbkugel in etwa zwischen dem 30. und dem 50. Breitengrad kultivieren. Eine kleine Anmerkung: Nahezu drei Viertel aller französischen Weine sind Rotweine, nur etwa ein Viertel Weißweine – auch der Champagner wird zum überwiegenden Teil aus roten Trauben hergestellt. Oder in Zahlen einmal anders ausgedrückt: In Frankreich werden derzeit in etwa 900.000 Hektar Gesamtrebfläche bestellt; davon sind rund 600.000 Hektar mit Rotweinreben bestockt. Von den 900.000 Hektar französischer Rebfläche stehen in etwa 100.000 Hektar in der Region Bordeaux. Frankreich produziert insgesamt pro Jahr in etwa so um die 60 Millionen Hektoliter des leckeren Rebensafts." Der Weinbau hat in Frankreich zudem eine lange Tradition. Die Erfahrung beim Weinbau ist an vielen Stufen des Herstellungsprozesses oftmals entscheidend. Thierry Marquis de Fleur erläutert hierzu: "Unter dem Einfluss der Römer begannen die Gallier vor knapp 2000 Jahren in der Provincia Gallia Narbonensis in größerem Umfang Wein anzubauen. Vor allem an den warmen Tälern von Flussläufen begannen die Römer dann auch nach und nach, Weinreben zu kultivieren. Schon bald hatte der in Frankreich angebaute Wein einen besseren Ruf als die Weine aus Rom. Aber nicht nur die Römer verhalfen dem Weinbau in unserem Land und in unserer Region zu einem starken Impuls, nein, auch die Benediktiner- und Zisterziensermönche bauten im 12. und 13. Jahrhundert weitere wichtige Anbaugebiete Frankreichs aus. Wenn ich dann konkret in die Region Bordeaux schaue, so möchte ich sagen, dass vor allem die verkehrsgünstige Lage der Anbaugebiete an den Flussläufen sowie das für den Weinbau so wichtige Klima als zwei wichtige Ursachen für die frühe Kultivierung von Weinbau im Bordeaux gelten. Ach ja, noch etwas zum Thema Wetter und Klima: Wir in Frankreich sind der Ansicht, dass vor allem die lokalen geographischen Verhältnisse und das lokale Kleinklima entscheidend für die Qualität und den Charakter eines Weins sind; deshalb sprechen wir in diesem Zusammenhang auch von einem Terroir. Wo ich gerade dabei bin: Ein Terroir wird im Wesentlichen bestimmt durch geographische und geologische Faktoren, wie bspw. Neigung eines Hanges, seine Lage zur Sonne, seine Ausrichtung zu kalten und warmen Luftströmungen, seine Drainage, seine Belüftung und viele weitere, andere Faktoren. Diese haben ihrerseits einen Einfluss auf die kleinklimatischen Bedingungen in diesem Terroir. Das ganze Weinbaugeschäft ist somit ein äußerst kompliziertes und vielschichtiges Thema. Nur ein Beispiel: Die Farbe bzw. die strukturelle Beschaffenheit – und da spreche ich noch gar nicht einmal über weitere Eigenschaften – eines Bodens auf einem Hang entscheidet mit über seine Fähigkeit, Wärme zu speichern und wieder abzustrahlen – und somit letztlich auch über die Traubenreife."

114

Château Imperiale en Pauillac

Eine weitere Komponente beim Weinbau, die den Geschmack eines Weines wesentlich beeinflusst, ist der "Ausbau" in geeigneten Behältnissen. Hierzu verwendet man grundsätzlich entweder – modern – Edelstahltanks oder – traditionell – Holzfässer. Madeleine erläutert diesen Sachverhalt etwas genauer: "Wenn wir davon sprechen, dass der Geschmack eines Weins bspw. in Bezug auf die Traubenreife unter anderem von der Farbe des Bodens, auf dem die Rebe bestellt wird, abhängig ist, dann ist natürlich stark zu unterstreichen, dass es eine ganze Reihe an weiteren Faktoren gibt, die ebenfalls entlang des Herstellungsprozesses von Wein seinen Geschmack ganz wesentlich beeinflussen können. Dazu gehört auch der Ausbau in Barriquefässern. Wir im Château Imperiale bauen unseren Cabernet Sauvignon grundsätzlich nur im Barrique aus. Wir beherrschen die Vergärung und den Ausbau des Rotweins in Eichenholzfässern perfekt. Auch dadurch festigen wir unsere Markstellung als Erzeuger von hochwertigsten Rotweinen. Unsere Weine schmecken so gut wie nie vordergründig nach Eichenholz, das die Frucht des Weins eventuell überlagern oder sogar – im schlimmsten Fall – erschlagen könnte. Unser Kellermeister François hat eine sehr lange Erfahrung im Umgang mit dem Eichenholz. Unser eigener Küfer Charles-Philippe gibt die Küferei-Tradition auch an unsere Lehrlinge – und diejenigen von befreundeten Chateaux im Haut-Médoc sowie in Sauternes – weiter. Während die meisten unserer Konkurrenten ihre Barrique-Fässer drei Jahre lang nutzen, erneuern wir jährlich unsere Fässer. Dadurch erzielen wir regelmäßig Spitzenergebnisse für unsere Rotweine. Die Qualität ist uns das wert. Die jährlich aufgebrauchten Fässer verkaufen wir an kleinere Châteaux in der Nähe." Der französische Bordeaux gilt – insbesondere in den höheren Klassifikationsstufen – wegen einer Reihe an Eigenschaften als ein weltweit angesehenes Spitzenprodukt. Der Marquis de Fleur skizziert in diesem Zusammenhang die Besonderheiten der Rotweinproduktion in der Region um Bordeaux: "Die Anfänge des Weinbaus im Bordelais gehen zurück in das 1. Jahrhundert. Heute ist das Anbaugebiet sicherlich das bemerkenswerteste der Welt. Nirgendwo sonst entstehen in einer so nennenswerten Anzahl herausragende Rotweine sowie trockene und edelsüße Weißweine wie in unserer Region. Unser Château kultiviert nur Rotwein auf der Grundlage der Rebsorte Cabernet Sauvignon. Doch zurück zur Region Bordelais. Da unsere Region hier um Bordeaux nahezu genauso groß ist wie alle deutschen Rebflächen zusammengenommen, ist das Bordelais kein einheitliches Gebiet; wir unterscheiden hier in rund 50 Teilappellationen. In unterschiedlichen Teilen unserer Region unterscheiden wir darüber hinaus in unterschiedliche CruKlassifizierungen. Wenn ich das anführen darf: Wir bei Château Imperiale sind stolz darauf, zu den Premiers Crus Classés zu zählen. Diese Klassifizierung halten wir seit dem Jahr 1855. Wir haben vorhin über die Bedeutung des Klimas für den Wein gesprochen. Nun, hier im Bordelais gilt dazu folgendes: Der Golfstrom im Atlantik ist für uns so etwas wie eine Heizung: Die warme Meeresströmung mildert im Winter die Temperaturen, während die Nähe zum Atlantik und der riesigen Wassermenge klimatisch im Sommer mäßigend und kühlend wirkt. Durchschnittlich haben wir hier rund 900 mm Niederschlag pro Jahr. Das kann problematisch sein, muss es aber nicht. Außerdem haben wir hier im Bordelais ausgeprägte Kiefernwälder, die 115

8

8

Château Imperiale en Pauillac

unsere Weinberge vor heftigen Winden und Stürmen schützen. Als dritter Faktor gilt, dass die Wasserfläche der Flüsse Garonne und Dordogne insgesamt für ein geeignetes Kleinklima sorgt. Die Rebe benötigt insgesamt ein mildes Klima; sie mag es weder zu warm – dann sind die Trauben zwar süß, aber es fehlt dem Wein an Fruchtaromen, noch zu kalt – dann reifen die Trauben nämlich nicht richtig aus und der Wein ist zu säurereich. Scheint zuwenig Sonne, reifen die Trauben ebenfalls nicht richtig heran. Ach ja, wir haben ja auch schon über die Weinberge und die Hänge gesprochen. Nun, hier in der Region um Bordeaux haben wir eigentlich keine richtigen Berge. Es sind allenfalls Hügel mit ein paar Metern Höhenunterschied. Mehr oder weniger flaches Land, also. Wichtig für Art, Charakter und Qualität unserer Weine sind aber die Böden, auf denen unsere Reben wachsen. In Anbetracht der großen Regenmenge haben wir bei Château Imperiale große Anstrengungen gemacht, um unsere Flächen entwässern zu können und wir haben die Gewinne der 90er Jahre mitgenommen, um neue Technik einzukaufen. Die Natur ist aber nach wie vor ein wesentlicher Qualitätsgarant, denn Kiesschichten bieten bspw. eine perfekte Drainage und sorgen dafür, dass unsere Trauben keine nassen Füße bekommen." Madeleine ergänzt seine Ausführungen zu den Besonderheiten der Weinproduktion in und um Bordeaux mit Bezug auf die Arten an Rebsorten, die angebaut werden: "Die meisten der Winzer im Bordelais bauen aufgrund der geologischen und klimatischen Besonderheiten zumeist mehrere Rebsorten auf ihren Flächen an; insgesamt haben sie also mehrere Weinberge mit jeweils unterschiedlich bestockten Reben. Dieser Rebsortenmix ist für viele Winzer deshalb sehr wichtig, da so Einbußen in der Ernte bei einer Sorte durch Risikostreuung auf mehrere Sorten vermindert werden können. Also zum Beispiel, in Jahren, in denen der Merlot durch seinen frühen Austrieb Frostschäden erleidet, kann der Cabernet Sauvignon trotzdem noch sehr gut heranreifen und die Frostschäden des Merlot mindern. Andererseits, ein anderes Beispiel, kann die Gefahr, dass der Cabernet Sauvignon aufgrund des insgesamt doch etwas kühleren Wetters nicht voll zur Reife gelangt – was zu Ernteertragseinbußen führt, dadurch gemindert werden, dass man auf Cabernet Franc setzt und den Cabernet Sauvignon lediglich als Zusatzsorte verwendet. Also die Zusammensetzung der in den einzelnen Châteaux im Bordelais angebauten Rebsorten ist individuell, und immer auch von der individuellen Einschätzung von ganzjährigem Wetterverlauf im Verhältnis zu Kleinklima und Boden abhängig. Grundsätzlich sind bei uns im Bordelais nur die Rebsorten Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc, Merlot, Malbec, Petit Verdot und Carmenère zugelassen. Petit Verdot und Carmenère werden allerdings kaum noch angebaut. Aus diesem Rebsortenmix resultiert letztlich aber auch ein weiterer, wichtiger Punkt: die Assemblage. Der Verschnitt der verschiedenen Rebsorten wird bei uns als Assemblage bezeichnet. Dabei steht eine Rebsorte im Vordergrund, eine oder mehrere andere werden als Zusatzsorten beigemischt. Unsere Rotweine im Château Imperiale basieren auf dem Cabernet Sauvignon, und sie gelten als fest im Kern und gerbstoffbetont. Wir bauen 85% der Fläche unseres Bodens mit Cabernet Sauvignon an. Bei mittlerem Körper und moderatem Alkoholgehalt sind unsere Weine wohl nie schwer und auch nahezu immer elegant. Unsere Roten besitzen aufgrund dieser Assemblage ein betörendes Bukett mit Johannisbeer- und Kräuteraromen."

116

Château Imperiale en Pauillac

Was auf den ersten Blick vermeintlich wie eine unregulierte, von individuellen Usançen abhängige "Durchmischung" verschiedener Rebsorten zu einem Rotwein aussieht, ist in Wirklichkeit ein streng behördlich reglementiertes Verfahren. Madeleine erläutert zum Kontext der Assemblage noch Folgendes: "Neben der Beschränkung auf die von mir ja schon genannten Rebsorten gibt es für jede einzelne Appellation exakt festgelegte Höchstertragsgrenzen. Der einfachste im Bordelais hervorgebrachte Rotwein trägt die Bezeichnung Appellation Bordeaux. Beim Bordeaux Supérieur werden bei niedrigeren Erträgen höhere Anforderungen an das Traubengut gestellt. Von den Weinen im Bordelais liefern die aus den Anbaugebieten Haut-Médoc, Graves, St.-Emilion, Pomerol und Sauternes die Leistungsspitzen. Wir im Château Imperiale liegen in Pauillac, einem Ort in der Region Haut-Médoc, und gehören – nicht ohne Stolz – zu den Spitzenweingütern. Ein Großteil der Premiers Crus Classés des Haut-Médoc ist in Pauillac beheimatet. Unser Ort ist für viele die Weinbaugemeinde der Welt schlechthin. Wir haben hier 1.000 Hektar Rebfläche in und um den Ort. Der gute Ruf unserer Weine – also sowohl die vom Château Imperiale wie auch der von unseren beiden benachbarten Weingütern, dem Château de Villeneuve und dem Château Foufour et Fils, ist auch darin begründet, dass unsere Weine – ich habe es oben ja schon einmal gesagt – kernig, kraftvoll und sehr elegant sind. Unsere Weine sind extrem langlebig, und die besten Weine aus den guten Jahrgängen können bis zu 25 Jahre reifen, um ihr volles geschmackliches Potential zu entfalten." Thierry Marquis de Fleur schließt die Bemerkungen seiner Tochter mit einem Kommentar zur Rebsorte Cabernet Sauvignon ab: "Cabernet Sauvignon ist die wichtigste Rebsorte für Rotweine der Welt, da die Sorte unter nahezu allen Umständen ihre individuelle Sortencharakteristik beibehält. Sie ist unter allen Rotweinen am leichtesten zu identifizieren. Die Kombination von Cabernet Sauvignon, seiner Vergärung im Holzfass und dem Barriqueausbau ist vom Ergebnis des Weins her konkurrenzlos. Weine aus dem Cabernet Sauvignon sind zumeist gut strukturiert und straff. Im Weinberg ist die Sorte nicht problematischer als andere Sorten auch. Allerdings reift sie erst verhältnismäßig spät, so dass der Cabernet Sauvignon in kühleren Jahren regelmäßig Reifeprobleme bekommt. Ein Verwandter des Cabernet Sauvignon ist der Cabernet Franc. Diese Sorte treibt rund zwei Wochen früher aus, und auch die Traubenreife setzt ein bis zwei Wochen früher ein als beim Cabernet Sauvignon. Ampelographen gehen davon aus, dass der Cabernet Franc eine alte Mutation des Cabernet Sauvignon darstellt, die speziell an feuchtere Böden und kühleres Klima angepasst ist. Der Cabernet Franc wird auch als Bouchet bezeichnet und eigentlich hauptsächlich in Kalifornien sortenrein gekeltert. Wir im Bordelais nehmen ihn eigentlich nur als Zusatzsorte." Damit Madeleine in einigen Jahren die eigenverantwortliche Leitung des Château Imperiale übernehmen kann, ist der Marquis de Fleur bestrebt, ihren Kenntnisstand über ökonomische Gegenstandsbereiche aufzubessern. Madeleine hat zwar einen hervorragenden Abschluss als Diplom-Önologin, aber den Erwerb von betriebswirtschaftlichem Wissen hat sie bislang eher gescheut. François Térreur, der langjährige Kellermeister des Château Imperiale, ist ebenfalls kaum mit wirtschaftsbezogenen Fachkenntnissen befasst – allerdings gilt er als einer der besten Önologen Frankreichs.

117

8

8

Château Imperiale en Pauillac

In dieser Situation beschließen der Marquis de Fleur und der Kellermeister, die grundlegenden Prozesse für die Hervorbringung von Rotwein zu skizzieren und niederzuschreiben. Der Kellermeister bespricht dabei mit Thierry Marquis de Fleur folgendes: "Grundsätzlich läuft die Kelterung von Rotwein nach anderen Prioritäten ab als die Kelterung von Weißwein. Wir im Château stellen nur Rotwein her, so dass im Weiteren auch nur der Prozess der Hervorbringung von Rotwein zu betrachten ist. Neben der Erzeugung eines geeigneten Aromas ist auch die Farbe des Rotweins als Ziel des Erzeugungsprozesses zu nennen. Die Farbstoffe sind ja auch nur in den Trauben-schalen zu finden, also müssen diese extrahiert werden. Darüber hinaus ist auch der Charakter des Weins vorab zu skizzieren, also ob man einen leichten oder schweren Wein möchte. Wir im Château Imperiale bringen dabei überwiegend Weine mit einem schweren Charakter hervor. Der Vollständigkeit halber erwähne ich die Aspekte für die leichten Weine gleich mit. Der Prozess, den ich hier beschreibe, beginnt mit der Lese der Trauben im Weinberg. Das machen wir immer im Herbst eines jeden Jahres. Möchte man einen leichten Rotwein kreieren, ist es wichtig, die Gerbstoffe zu begrenzen; dazu sind die gelesenen Trauben zunächst einmal zu entrappen, so dass nur die Beeren übrig bleiben. Möchte man jedoch einen schweren, lange lagerfähigen Rotwein, dann bleiben die Stiele nach der Lese am Traubengut dran. Die Beeren – für den leichten Rotwein – oder die kompletten Trauben – für den schweren Rotwein – werden dann jeweils getrennt gemahlen; das Ergebnis ist die Maische. Sie ist ein Brei aus Fruchfleisch, Beerenschalen und Kernen sowie unter Umständen – also wenn wir einen schweren Rotwein wollen – den Stielen. Die Trauben gelangen derart behandelt nach der Lese in die Gärfässer, die bei uns ausschließlich aus Barrique bestehen. In modernen Massenproduktionen werden dazu oftmals Edelstahltanks eingesetzt. Dort wird die Maische mit Hefe versetzt, der Gärprozess setzt ein. Sobald im Gärfass die Gärung einsetzt, steigen die Beerenschalen an die Oberfläche. Das dabei entstehende Gebilde nennt man Tresterhut. Der Tresterhut wird immer wieder untergetaucht, bei uns im Château nach einem ganz ausgeklügelten Verfahren und in einem bestimmten Rhythmus. Der sich bildende Alkohol sorgt dafür, dass die Farbstoffe aus den Beerenschalen gelöst werden. Der zentrale Prozess-Schritt bei der Umwandlung von Traubensaft in Wein ist die alkoholische Gärung. Die für den Prozess der alkoholischen Gärung verwendeten Barriques sind speziell für diesen Zweck hin behandelt, insbesondere was den Sauerstoffaspekt angeht. Ich will an dieser Stelle nicht die Geheimnisse unseres Château herausplaudern, aber die Umwandlung von Traubenzucker in Äthylalkohol und Kohlendioxid verläuft bei uns auf einem qualitativ ausnehmend hohen Niveau. Bei der Zugabe der Hefe wollen wir nämlich gewährleisten, dass die Hefen in einem sauerstofffreien, anaeroben Milieu arbeiten können; daraus entsteht letztlich der Alkohol. Wenn man einen leichten Rotwein haben möchte, wird die so genannte Maischegärung dabei nur ein paar Tage lang durchgeführt. Die Maische wird in diesem Fall abgepresst und gärt im Gärbehälter dann weiter. Will man jedoch einen gehaltvolleren, schweren Wein erhalten, gärt der Most bis zum Schluss auf der Maische und wird erst dann abgepresst. Der so entstandene Jungwein muss – egal ob leicht oder schwer im Charakter – anschließend jeweils im Barriquefass reifen. Hierfür wird er vom Gärfass in das Ausbaufass umgelegt. Wir

118

Château Imperiale en Pauillac

im Château verwenden für Gärung und Ausbau zwei unterschiedliche Arten von Barriquefässern. Eine Besonderheit unserer Rotweine ist die zweite Gärung, auch malolaktische Gärung oder biologischer Säurebau genannt. Hierbei wird die im Wein enthaltene aggressive Apfelsäure von Bakterien in Milchsäure umgewandelt, die weitaus milder ist. Sobald der Ausbau des Rotweins in diesem Sinn beendet ist, wird er filtriert und mit Schwefel versetzt, um übergebliebene Hefe bzw. Essigbakterien abzutöten. Schließlich erfolgt die Abfüllung in Flaschen. Grundsätzlich ist hier noch anzumerken, dass die Frage danach, die lange ein Wein letztlich im Fass oder in der Flasche reift, eine Preisfrage ist. Da unsere Weine regelmäßig Spitzenpreise erzielen, können wir uns diesen aufwendigen Prozess in dieser Form in vollem Umfang leisten, wir lagern unsere guten Rotweine zwischen 4 und 15 Jahren. Welche Weine genau als Lagerweine ausgebaut werden, und welche für den baldigen Verzehr bestimmt sind, wird zwar unter anderem durch den Tanningehalt schon vorzeitig vorbestimmt, die letztliche Entscheidung darüber treffe ich aber immer im Keller." Der Marquis de Fleur weist in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Umstand hin, der die Interdependenz der Prozesse bei der Weinerzeugung noch betont: "Es ist wichtig zu wissen, dass der Geschmack und der Charakter eines Weins von vielen einzelnen Einflussfaktoren abhängt, im Großen gesehen vom Wetterverlauf über das gesamte Jahr hinweg, von der Rebsorte, von den Bedingungen auf dem Boden, auf dem die Rebe steht, von der Drainage des Bodens, den Sonnenscheinstunden und anderen Faktoren, im Kleinen gesehen von der Art der Vergärung und des Ausbaus des Rotweins wie von François ja geschildert. Keiner der Prozessschritte kann dabei einen anderen Prozessschritt ersetzen bzw. ein Fehlfunktionieren eines Prozessschritts durch eine Übererfüllung eines anderen Prozessschritts wieder gutgemacht werden. Wenn also bspw. der Boden feucht war, der Wein dadurch zu säurehaltig geworden ist, und das Süß-Sauer-Verhältnis nicht mehr stimmt, dann kann man diese Eigenschaft des Rebensafts nicht durch einen nachgelagerten Prozessschritt, also bspw. durch besondere intensive Wiedereinbringung des Tresterhuts oder durch besondere Variationen von Maische- und malolaktischer Gärung wieder ausgleichen. Wenn der Boden zu feucht gewesen ist, wird man diese Tatsache dem Wein später immer anmerken und es geschmacklich herausschmecken. Man wird es dem Wein aber auch immer anmerken, wenn im Prozess im Weinkeller Arbeitsschritte so oder so ablaufen. Also wenn an einem Prozessschritt etwas nicht richtig funktioniert, besteht keine Möglichkeit dieses zu einem späteren Zeitpunkt im Sinne einer Geschmackskorrektur abzuändern. Damit ist der Wein, so wie Sie ihn im Glas stehen haben, ein Produkt der Arbeit im Weinberg und im Weinkeller, sowie der unterschiedlichen Arbeitsschritte, die dort jeweils lücken- und reibungslos aufeinander abgestimmt ablaufen müssen. Und, ehrlich gesagt, letztlich sind es verschiedene Charakteristika der Sensorik, also Geschmack und Geruch, sowie der Optik die über die Qualität eines Weins und die Akzeptanz beim Kunden entscheiden. Lassen wir den Preis heraus aus diesen Überlegungen, unsere Kunden sind preisinsensitiv." Zusätzlich zum dargestellten Prozess der Weinerzeugung im Weinkeller, der einsetzt nachdem die Trauben im Herbst eines Jahres gelesen sind, stellt sich natürlich auch die Frage nach der "strategischen Ausrichtung" eines Weinguts im Hinblick auf die Bestel-

119

8

8

Château Imperiale en Pauillac

lung der vorhandenen Flächen mit selektierten Rebsorten, der Aufbereitung des Bodens sowie der laufenden Pflege der heranwachsenden Reben an den Stöcken über das Jahr hinweg. François Térreur erläutert hierzu kurz: "Unser Arbeitsjahr beginnt im Januar mit dem Rebschnitt. Damit meine ich, dass wir im Januar mit einer Schere das im vergangenen Jahr gewachsene Rebholz zurück. In diesem Punkt spielen drei Faktoren eine ganz wichtige Rolle, und stehen in einem engen Wechselspiel zueinander: Die unterschiedlichen Pflanzendichten, die Erziehungssysteme und die Formen des Rebschnitts müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Wichtig in dieser Phase der Weinerzeugung ist folgender Punkt: Wir können mit der Art des Rebschnitts Einfluss darauf nehmen, wie ertragreich die einzelnen Rebstöcke in diesem Jahr werden. Lassen wir bspw. viele Fruchtansätze stehen, dann ist davon auszugehen, dass die Pflanze viele Fruchttriebe entwickelt und einen entsprechend hohen mengenmäßigen Ertrag liefert. Schneiden wir das einjährige Holz aber weiter zurück, können sich entsprechend weniger Fruchttriebe ausbilden und der mengenmäßige Ertrag der Rebe wird geringer. Dafür erhält die Rebe aber die Möglichkeit, ihre Kraft voll und ganz auf die wenigen Fruchttriebe zu konzentrieren und diese gezielt auszutreiben. Diese Arbeit reicht oft bis in den Februar hinein. Im März pflanzen wir gegebenenfalls an notwendigen Stellen neue Weinreben ein. Darüber hinaus renovieren wir die Weinberge. Umzäunungen und schützende Gitter halten Tiere von den heranwachsenden Rebstöcken fern, zudem müssen wir Wege, Treppen und Mauern wieder in Stand setzen für die kommende Saison. Im April beginnen wir im Château Imperiale mit den Arbeiten am Boden der Weinbaufläche. Wir lockern den Boden auf, und sofern wir das für notwendig achten, düngen wir ihn auch. Die jung austreibenden Reben befestigen wir mit kleinen Drähten an den Pfählen, um sie gleich in die richtige Form zum weiteren Wachstum zu bringen. Wir verwenden dazu die Technik von Flach- und Pendelbogen als Erziehungssystem für unsere Reben. Im Mai versuchen wir, die Gescheine zu pflegen, und vor Spätfrost zu schützen. Im Juni schließlich gipfeln wir unsere Reben das erste Mal, wobei wir stark wachsende Einzeltriebspitzen manuell zurückschneiden. Hierzu setzen wir – wie andernorts üblich – keine Maschinen ein. Im Juni und Juli können zudem umfangreiche Laubauslichtungsmaßnahmen erforderlich sein. Auf unseren Lagen haben wir damit jedoch eigentlich nicht so große Probleme. Im August schließlich stoppen wir das Wachstum der Reben vollständig durch Abschneiden aller Triebspitzen. Diese Phase ist für uns besonders kritisch, da von nun an unsere volle Konzentration der Gesundheit des Traubengutes gilt. In dieser Phase entscheide ich manuell vor Ort, ob wir aus unseren Reben weiteres Trauben-gut herausschneiden oder nicht. Das erscheint kontraintuitiv. Ich will Ihnen aber eine alte Bauernregel mit auf den Weg geben, die besagt, dass je niedriger die Menge der Trauben an einem Rebstock ist, desto höher ist ihre Güte. Und da wir qualitativ nur das Beste akzeptieren, kann es schon sein, dass wir im August noch Traubengut herausschneiden. Im September naht schließlich die Zeit der Lese der Trauben. Wir im Château Imperiale verteilen das auf die Monate September und Oktober. Kritisch in dieser Phase ist, dass mit der Weinbereitung unverzüglich begonnen werden muss, nachdem das Traubengut gelesen wurde. Etwas salopp formuliert, die Weinlese ist so etwas wie die Schnitt-

120

Château Imperiale en Pauillac

stelle und das Scharnier zwischen Weinberg und Weinkeller. Da ich für den Weinkeller verantwortlich bin, übernehme ich deshalb die Verantwortung für die Arbeiten im Weinberg gleich mit. Ich achte auch darauf, dass die Weinlese von Hand vorgenommen wird. Lediglich in einigen wenigen Lagen unseres Château setzen wir mechanische Hilfsmittel ein. Ich kann der Technik von heute noch immer nicht so viel abgewinnen." Diese Aussage – wonach François Térreur der modernen Technik nicht so viel abgewinnen könne – geht einher mit einer grundsätzlichen Verhaltensantezedenz im Château Imperiale, wonach die international erfahrene Madeleine als progressiv gilt, die gerne bereit ist, neue Ideen einzubringen und neue Konzepte und neue Anbaumethoden auszuprobieren. Ihr Vater hingegen sowie der Kellermeister – neben einem Großteil der rund dreißigköpfigen Mannschaft – gelten als Traditionalisten, die von den früheren Erfolgen des Château Imperiale nahezu unreflektiert auf den zukünftigen Erfolg schließen – vollkommen ungeachtet der Konkurrenz aus Kalifornien, Chile und Australien. Besonders stolz ist der Kellermeister auf den weiteren "Lebenslauf" seiner Rotweine, also den Prozess der Flaschenweinreife: "Nun, unsere Jungweine werden nach der Gärung und dem Ausbau auf den Barriques auf Flaschen gezogen und in unseren Kellern weiter gelagert. Hier bringen wir in die Weine eine Reifeentwicklung hinein. Unsere durchschnittliche Kellerlagerung zur weiteren Ausreifung beträgt fünf Jahre. Bedingt durch die Herkunft unserer Weine, unsere Vinifikation und den Ausbau sowie durch die hervorragenden Lagerbedingungen hier in unseren Kellern führt die Flaschenreife nach vier bis 25 Jahren zur vollen Entfaltung des Geschmacks unserer BordeauxRotweine. Hierzu werden die jungen Rotweine, nachdem wir sie auf Flaschen gezogen haben, in unseren ersten Keller gebracht. Dieser liegt rund 30 Meter unter der Erde, und bietet Sommer wie Winter immer dieselben Temperaturbedingungen für die Lagerung. Auch die Luftfeuchtigkeit und weitere Parameter werden hier ständig optimal gehalten. Nach ein bis zwei Jahren lagern wir die Besten in ihren Flaschen noch einmal um in unseren zweiten Keller. Dort sind die temperatur- und luftfeuchtigkeitsbezogenen Bedingungen noch ein wenig optimaler, aber der Platz dort ist begrenzt. Deshalb kommen dort nur die allerbesten Gewächse hinein. Unsere besten Rotweine zerfallen auch nach mehreren Jahrzehnten der Flaschenreifung nicht. Das macht uns weltweit so leicht niemand nach." Um sich auf die Übernahme der Gesamtverantwortung für das Château vorzubereiten, reflektiert Madeleine auch darüber, welche Optimierungspotentiale der oben beschriebene Prozessablauf bietet. Da der logische Ablauf der Weinerzeugung auf dem Château nicht wesentlich verändert werden kann, da nach wie vor der traditionsbewusste Vater die Verantwortung inne hat, beschließt Madeleine, sich zumindest die ökonomischen Optimierungspotentiale einmal genauer anzuschauen. Dieser Vorschlag findet den Gefallen von Thierry Marquis de Fleur, da er wie eingangs erwähnt Madeleine’s Verständnis über die ökonomische Seite des Geschäfts stärken möchte. Gemeinsam arbeiten sich beide durch die kaufmännischen Unterlagen des Château und konsultieren dabei Chantal Valrose, die als Steuerberaterin und Wirtschaftsprüferin in Bordeaux arbeitet und regelmäßig die Jahresabschlüsse – sowie interne be-

121

8

8

Château Imperiale en Pauillac

triebswirtschaftliche Berichte – für das Château Imperiale ausarbeitet. Chantal berichtet über die wirtschaftlichen Begleitumstände der Weinproduktion des Châteaus: "Unsere Weine stehen von zwei Seiten unter Druck. Robert P. Arker, der US-amerikanische Weinguru – der mit nahezu orakelartiger Finesse das Kaufverhalten unserer nordamerikanischen Kunden durch seine Empfehlungen lenken kann – hat einen Großteil der Grand Crus Classés nicht in seinem Empfehlungsportfolio. Und entsprechend können wir mit diesen hochwertigen und hochklassigen Weinen gar nicht erst auf den umsatzbezogen so wichtigen nordamerikanischen Markt gehen. Wie gesagt, dieses Problem betrifft nicht nur unsere hochwertigen Produkte, auch die Grand Crus Classés anderer Bordeaux-Châteaux sind davon massiv betroffen. Qualität zählt halt nicht mehr. Lange Lagerfähigkeit auch nicht. Von der zweiten Seite kommen wir immer mehr durch die Billigweine à la Beaujolais Primeur unter Marktdruck. Fassverkauf und Billigproduktion dieser Weine setzen uns quasi von unten her unter Druck weil die Masse der potentiellen Käufer unserer Weine sich vom Etikett Bordeaux-Wein in Ermangelung besonderer Sachkenntnis ganz einfach blenden lässt – dazu trägt nicht zuletzt das aggressive Vermarktungssystem der Primeurs bei. Hier geht Quantität vor Qualität. Bei allem." Auf Rückfrage von Madeleine erläutert Chantal Valrose weiterführend das Vermarktungssystem der "Primeurs": "Bei den Primeurs kaufen die Abnehmer den Jahrgang im Voraus ohne vorherige Probe – sie kaufen ihn quasi blind. Die Hersteller liefern erst einige Monate später den Jahrgang an die Abnehmer, was für diese aber den ökonomischen Vorteil hat, dass sie sofort über Cash verfügen. Der Abnehmer zahlt nämlich bei Vertragsabschluß. Die breite Einführung eines solchen Vermarktungssystems und das tiefere Eindringen in den Primeur-Markt könnte unsere Kundenbasis – und damit auch unsere finanzielle Situation – mehr und mehr angreifen und gar gefährden, Madeleine. Aber auch der Abnehmer profitiert von diesem System: Er realisiert aus seiner Sicht Einkaufspreise, die in etwa 20 bis 30 % unterhalb seiner Endverkaufspreise liegen. Das ist ein netter Deckungsbeitrag für ihn, nicht? Daraus erklärt sich der ökonomische Druck von unten, der durch die Billigweine ausgeübt wird. Also noch mal kurz zur Wiederholung, Madeleine: Wir stehen einerseits von oben unter Druck, weil wir die Grand Crus Classés nur noch sehr schwer auf den Exportmärkten absetzen können, und andererseits von unten, weil die Primeurs dafür sorgen, dass die Wertschätzung für unsere hoch stehenden Produkte bei den breiten Käuferschichten stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Was können wir tun? Was sollten wir tun? Nun, meine eigene Einschätzung ist, dass die Châteaux im Haut-Médoc zu lange ein Einzelkämpferdasein geführt haben. So etwas wie zum Beispiel Allianzenbildung und gemeinschaftliches Vorgehen kannten und kennen viele gar nicht. Jeder bastelt und vermarktet seine Weine nach eigenem Ermessen. Dabei ist die eigene Nase immer die Orientierungsrichtschnur. Aber viele haben halt kurze Nasen. Und jetzt merken sie, dass der Markt ihre hochqualitativen Weine nicht mehr von alleine abnimmt. Werbung ist hier ein Zauberwort, Madeleine. Wir im Château Imperiale können maximal rund eine Million US-Dollar für solche Maßnahmen investieren. Pro Jahr. Das hört sich viel an, aber ist es zur Finanzierung von Exportkampagnen ganz und gar nicht. Hier müssten wir eigentlich 122

Château Imperiale en Pauillac

mit anderen Châteaux aus Haut-Médoc sinnvollerweise zusammenarbeiten und unsere – finanziellen – Ressourcen poolen. Doch nicht nur Finanzen könnten wir poolen. Auch die Bearbeitung der Weinberge, die gemeinsame Anschaffung von Technik und vieles mehr. Na ja, aber das funktioniert irgendwie nicht. Jedes der einzelnen Châteaux kocht wie schon gesagt sein eigenes Süppchen – und anstatt konsolidiert auf dem Exportmarkt in den USA aufzutreten, verzetteln wir uns in Einzelkämpfen – jeder kämpft für sich. Aber so verlieren wir einer nach dem anderen immer häufiger Marktanteile und ..." Thierry Marquis de Fleur fällt Chantal ins Wort: "... in die Niederungen der PrimeursPanscherei begeben wir uns aber keinesfalls herab. Für wahre Kenner und Weinexperten gibt es zu unseren edlen Tropfen keine Alternative. D'accord?!"

Aufgabenstellung 1. Skizzieren Sie die angesprochenen Prozesse der Erzeugung von Rotwein im Detail. Gehen Sie dabei insbesondere auf den beschriebenen Prozess im Weinberg (vor der Weinlese), auf den Prozess im Weinkeller (nach der Weinlese) sowie auf den Prozess der Flaschenreife ("Lebenslauf") ein. Stellen Sie die Ergebnisse Ihrer Analyse in einem Prozessablaufdiagramm dar, aus dem die Interdependenzen der einzelnen Teilschritte ersichtlich werden. Verknüpfen Sie drei Teilprozesse in einem einheitlichen, übergeordneten Prozessschema. 2. Welches sind aus produktionswirtschaftlicher Sicht die strategisch-taktischen, langfristigen Gestaltungsparameter im Weinbau und an welchen Stellen in den skizzierten Prozessen schlagen diese an? Welches sind demgegenüber die eher operativ, kurzfristig planbaren Gestaltungsparameter im Weinerzeugungsprozess und an welchen Stellen in den skizzierten Prozessen schlagen diese an? Welches Wechselspiel besteht zwischen den eher strategisch-taktischen Eingreifpunkten und den eher operativen Aufgabenfeldern? 3. Welche Auswirkungen hätte die Ausdehnung des Anbaus der Rebsorte Cabernet Franc auf den bisherigen Produktionsprozess des Château Imperiale? Wie würde sich dieses Ihrer Meinung nach auf die Absatzmarktsituation auswirken? Wie aufwendig wäre die Umbestückung des Großteils der Rebstöcke des Château Imperiale mit Cabernet Franc anstelle des Cabernet Sauvignon? In welchem Verhältnis sehen Sie in diesem Kontext grundsätzlich ökonomischen Aufwand und ökonomischen Ertrag? 4. Welches ökonomische Optimierungspotential bietet sich in Anlehnung an die von Madeleine angestrengte Analyse der ökonomischen Prozessperformanz unter Berücksichtigung der von Chantal Valrose skizzierten Situation? In welchem Zusammenhang sehen Sie hier Möglichkeiten, durch Kooperationen zwischen den

123

8

8

Château Imperiale en Pauillac

einzelnen Châteaux zu einer Verbesserung der Situation zu kommen? Welche Arten der Kooperation bieten sich Ihrer Meinung nach besonders an?

Glossar Ampelographie Die Ampelographie ist die wissenschaftliche Lehre von den Rebsorten, ihren individuellen Unterscheidungsmerkmalen sowie ihrer Deskription und Klassifizierung. Appellation (d’Origine) Contrôlée Die kontrollierte Ursprungsbezeichnung Appellation (d’Origine) Contrôlée für französische Qualitätsweine wird vom Pariser Institut National des Appellations d’Origine des Vins et Eaux-de-Vie (INAO) festgelegt. Heute gibt es in Frankreich rund 400 Weine dieser Klassifizierung. Weine der Appellation Contrôlée nehmen rund 45 % der in Frankreich bebauten Rebflächen in Anspruch, liefern – aufgrund von mit dem Status und einem Qualitätsdenken verbundenen Ertragsbegrenzungen – nur rund 35 % der französischen Weinerzeugung. Das Bordelais mit 100.000 Hektar Fläche gilt als größte Appellation Contrôlée, die 3 Hektar große Appellation Contrôlée Château-Grillet an der Rhône als die kleinste. Assemblage Der Verschnitt verschiedener Weinsorten zum gewünschten Endprodukt wird als Assemblage bezeichnet. Weine aus unterschiedlichen Rebsorten können untereinander vermischt werden, aber auch unterschiedliche Partien von Weinen aus einer einzigen Rebsorte. Während die Assemblage überwiegend in der Schaumweinherstellung durchgeführt wird, findet sie unter anderem auch bei den Weinen aus dem Bordelais ihre Anwendung. Die Assemblage gilt als hochwertige Form des Verschnitts. Alle Grundweine stammen aus demselben Keller und wurden von Anfang an konsequent für den Zweck ihrer späteren Vermischung geschaffen. Ausbau Als Sammelbezeichnung für eine Reihe an Weinkellerarbeiten, die aus einem frisch vergorenen Jungwein einen marktfertigen Wein machen, gilt der Ausbau des Weins. Klärung und Filterung, Azidifikation, Schönung, Schwefelung, Verschneiden und andere Tätigkeiten fallen in diese Rubrik. Dieser Prozessschritt bezeichnet die Phase zwischen der Gärung eines Weins und seiner Abfüllung in Flaschen. Der Ausbau nimmt erheblichen Einfluss auf die spätere Entwicklung eines Weines. Grundsätzlich kann er in Edelstahltanks oder in Barrique-Fässern erfolgen. Barrique Das Barrique stammt ursprünglich aus Bordeaux. Es ist genormt und hat ein Fassungsvermögen von 225 Litern. Barriques können grundsätzlich aus verschiedenen Holzsorten hergestellt werden, jedoch hat sich heutzutage vor allem das Holz der

124

Château Imperiale en Pauillac

Amerikanischen Weißeiche durchgesetzt. Beim so genannten Barrique-Ausbau nimmt der Wein Gerbstoffe aus dem Eichenholz auf, was den Geschmack des Weins günstig beeinflussen soll. In den Anfangsjahren ist das Barrique sauerstoffdurchlässig, wodurch sich die Tannine verfeinern und die Farbe des Weins sich intensiviert. Cabernet Sauvignon Eine der wichtigsten roten Rebsorten der Welt ist der Cabernet Sauvignon. In Frankreich werden rund 40.000 Hektar und in Kalifornien rund 25.000 Hektar mit dieser Rebsorte bestockt. Cru Besitzt ein (französischer) Wein das Gütesiegel "Cru", dann benötigt er keine aufwendige Verarbeitung oder einen raffinierten Verschnitt, um markante Qualität hervorzubringen. Die wesentlichen Charaktereigenschaften werden durch den i.e.S. durch den Weinberg und i.w.S. durch das Terroir geprägt. Ertrag Als Ertrag bezeichnet man die Menge der von einer landwirtschaftlichen Nutzpflanze in einem Jahr hervorgebrachten Frucht. Es ist üblich, den Ertrag eines Weinbergs in Tonnen/Hektar oder in Hektoliter/Hektar anzugeben. Erziehung Damit eine Weinrebe nicht die Form einer wild wuchernden Schlingpflanze annimmt, werden im Rahmen ihrer Erziehung verschiedene Verfahren angewendet, um den Wuchs der Rebe gezielt steuern zu können. Das Erziehungssystem ist wichtig für den späteren Ertrag, da es gleichzeitig ein Stützsystem für die Rebe und ihr Laub anlegt, an dem sich die Pflanze so ausbreitet, dass sie einerseits leicht im Weinberg bearbeitet werden kann, und andererseits die Trauben optimal zur Sonne ausgerichtet sind. Gärung Der chemische Prozess der Gärung beschreibt die Umwandlung von Traubenzucker in Äthylalkohol, Kohlensäure, Glycerin, Bernsteinsäure, flüchtige Säuren und Acetaldehyd. Diese Umwandlung wird hervorgerufen durch die von Hefezellen erzeugten Enzyme/Stoffwechselprodukte. Beim Gärprozess wird Energie in Form von Wärme freigesetzt. Das Temperatur-Optimum für die Gärung von Rotweinen liegt üblicherweise bei 28 bis 32 Grad Celsius. Wird die Gärung unkontrolliert vorgenommen, können hingegen Temperaturen bis rund 40 Grad Celsius entstehen. Hieraus resultiert im Weinerzeugungsprozess die Notwendigkeit zur Gärführung, bei der nicht nur die Temperatur, sondern auch die Gärungsgeschwindigkeit kontrolliert wird. Grand Cru / Grand Cru Classés Die Bezeichnung eines Weins als Grand Cru bzw. (insbesondere im Bordelais) Grand Cru Classés gilt als höchste Stufe der Klassifikation.

125

8

8

Château Imperiale en Pauillac

Klassifizierung von 1855 Napoleon III befahl im Jahr 1855 seinem Landwirtschaftsminister anlässlich der Pariser Weltausstellung, die besten Weine – unter anderem aus dem Haut-Médoc – in eine offizielle Rangliste – die Klassifizierung von 1855 – zu bringen. Grundlage für diese Rangreihung waren jedoch nicht qualitativ-organoleptisch bewertbare Eigenschaften der Weine, sondern die Marktpreise, welche die einzelnen zu bewertenden Weine in den Jahren vor 1855 erzielen konnten. Im Grunde ist die Klassifizierungsliste von 1855 damit eine Rangreihung der 63 teuersten Weine des Haut-Médoc sowie von Sauternes und Barsac. Die Klassifizierung differenziert in Premiers Crus Classés, Deuxièmes Crus Classés, Troisièmes Crus Classés, Quatrièmes Crus Classés sowie Cinquièmes Crus Classés. Lebenslauf Mit dem Lebenslauf eines Weins wird auf die Tatsache rekurriert, dass ein Wein ein lebendiges Erzeugnis ist, welches im Zeitablauf verschiedene Phasen durchläuft. Nach dem Abklingen des Gärprozesses ist ein Jungwein entstanden, der noch instabil ist und – im Fall von Rotwein – zumeist im Barrique ausgebaut wird. Danach wird er auf Flaschen gezogen. Diese Phase kann zwischen einigen Monaten und einigen Jahren in Anspruch nehmen. In der Flasche entwickelt sich der Wein jedoch noch weiter und strebt seinem geschmacklichen Höhepunkt entgegen. Insbesondere verändern sich im Lauf der Zeit Farbe, Bukett und Geschmack des Weins, da der Wein oxidiert und allmählich firn wird. Am Ende seines Lebenslaufes zersetzen sich alle charakterbestimmenden Inhaltsstoffe. Maische Die Traubenmasse vor ihrer Kelterung – aber nach dem Maischen oder Mahlen – wird als Maische bezeichnet. In ihr befinden sich die zerriebenen Trauben und gegebenenfalls auch die Kämme. Diese können mitunter ein für den geschmacklichen Ausbau des Weins bedeutendes Problem darstellen, wenn sie aufgrund ihres hohen Gerbstoffgehalts Geschmack und Färbung eines Weins verfälschen. Diesen Prozess kann der Kellermeister durch die Länge der Standzeit beeinflussen. Malolaktische Gärung Durch den Fermentierungsprozess der malolaktischen Gärung wird die aggressivere Apfelsäure in die mildere Milchsäure umgewandelt. Sie setzt häufig im Frühjahr ein, wenn sich die Keller erwärmen. Dieser Prozessschritt verlangt besondere Beobachtung, weil während des Fermentierungsprozesses dieser Art ein Geruch entstehen kann, der stark an den von Sauerkraut erinnert. Pauillac Der Ort Pauillac gilt als weltberühmter Weinbauort im Haut-Médoc. Mehr als die Hälfte aller Premiers Crus Classés kommen aus diesem Ort. In und um den Ort wachsen auf rund 1.000 Hektar vor allem rote Reben der Sorte Cabernet Sauvignon. Die Kiesböden werden hier bis zu 3 Meter dick und garantieren beste Drainage und Tem-

126

Château Imperiale en Pauillac

peraturausgleich. Weine aus Pauillac können oftmals 15 bis 25 Jahre lagern, um ihren vollen Geschmack zu entfalten. Terroir Die Kombination der Einflüsse von den Weinbergböden, der Topographie und den kleinklimatischen Verhältnissen sowie die lokal gebräuchlichen Formen der Weinbergspflege bestimmen von Anfang an die Qualität eines Weines. Das Terroir, also das genaue Wechselspiel dieser Einflussfaktoren und ihre letztliche Auswirkung auf die Weinqualität, ist dabei in der Fachwelt des Weins nicht endgültig und nicht einheitlich interpretiert.

127

8

9

Coffea*

Plantagenproduktion in den Erzeugerländern Die reife, rote Frucht von Sträuchern der Pflanzenfamilie Coffea enthält typischerweise zwei Samen: die Kaffeebohnen. Nach der botanischen Systematik gehört die Gattung Coffea zu den Rötegewächsen (Rubiazeen). In diese Gattung sind zahlreiche mehrjährige Sträucher und Bäume subsumiert, wobei für die Produktion von Kaffee nur vier Kaffeevarietäten in Frage kommen: Coffea Arabica, Coffea Canephora (auch Robusta genannt), Coffea Liberica und Coffea Excelsa. Alle Coffea-Arten haben ihren Ursprung in Afrika (Coffea Arabica im äthiopischen Hochland um Addis Abeba und Coffea Canephora in der Nähe des Victoriasees in Uganda); volkswirtschaftliche Relevanz weisen lediglich die Sorten Arabica und Robusta auf, die zusammen mehr als 98 % der Weltkaffeeproduktion ausmachen (Arabica rund 60 % und Robusta rund 38 %). Coffea Arabica wächst baumartig wild bis zu 4 m hoch. Durch ständigen Rückschnitt wird die Pflanze in den Kaffeeplantagen aber in Strauchform gehalten, was u.a. auf Erntearbeitseffektivitätserfordernisse und Ertragsvorteile zurückzuführen ist. Die Pflanze reicht voll ausgewachsen bis zu 2,5 m in den Boden, wobei sich zahlreiche Nährwurzeln nahe der Oberfläche ausbilden. Bereits die Blütephase der Kaffeepflanze hat für die Preisbildung von Kaffee erhebliche Bedeutung: vom Blüten- und Fruchtansatz lassen sich erste Einschätzungen über den zukünftigen Ernteertrag ableiten; diese Approximation wiederum spielt gerade in den großen Erzeugerländern eine tragende Rolle für die Markteinschätzung und damit auch für die Preisbildung auf diesen Märkten. Coffea Arabica ist nicht auf Fremdbestäubung angewiesen, alle anderen Coffea-Arten schon. Nach der Befruchtung bilden sich in einem Zeitraum von sieben bis neun Monaten die elliptischen, zwei Samenkerne enthaltenden, Steinfrüchte der Coffeapflanze aus, die kirschenähnlichen Charakter aufweist. Aufgrund der langen Blütezeit erstreckt sich die Ernte über ein Zeitfenster von mehreren Monaten pro Jahr in einigen Fällen kann eine Pflanze gleichzeitig Blüten und Früchte tragen. Der erste systematisch vorangetriebene Anbau von Coffea Arabica wurde im 15. Jahrhundert im Südjemen etabliert. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde die Monopolstellung der Araber im Arabica-Anbau gebrochen und die Nutzung der Kaffeepflanze verbreitete sich sukzessive nach Asien und Südamerika. Heutzutage wird Coffea-Arabica nahezu überall in Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien angebaut, dessen Anbaugebiete zwischen dem 23. Grad nördlicher und 25. Grad südlicher Breite liegen. Vor allem Brasi*

Unter Mitarbeit von Nadine Bischof

129

9

Coffea

lien (75 % Arabica, 25 % Robusta), Kolumbien (100 % Arabica) und Vietnam (95 % Robusta, 5 % Arabica) gelten als Haupterzeugerländer. Coffea Canephora ist noch kälteempflindlicher als die ohnehin schon kältesensible Arabica-Sorte, so dass Robusta nur zwischen dem 10. Grad nördlicher und dem 10. Grad südlicher Breite kultiviert wird. Vor allem in Vietnam und Indonesien (hier insbesondere Java; 90 % Robusta, 10 % Arabica) werden dabei relativ große Mengen Robusta hervorgebracht. Arabica gedeiht am Besten auf Plantagen in 600 bis 1.200 m Höhe über dem Meeresspiegel; Robusta hingegen erzielt optimale Ergebnisse in Höhenlagen von 300 bis 800 m über dem Meeresspiegel. Besonders wertvoll sind aber Hochlandkaffees (ausschließlich Arabicas), die auf Höhen von mehr als 1.500 m wachsen. Die weltweiten Anbauflächen für Arabica und Robusta sind auf rund 80 Länder verteilt, wovon allerdings nur 50 Länder Kaffee in wirtschaftlich zweckmäßigen Größenordnungen hervorbringen. Insgesamt werden rund 11 Millionen Hektar bearbeitet, und auf dieser Fläche stehen rund 15 Milliarden Kaffeepflanzen (Arabica 10,5 Milliarden, Robusta 4,5 Milliarden). Die bedeutendsten Anbauflächen der Welt liegen mit 4 Millionen Hektar in Südamerika. In Nord- und Mittelamerika sowie in Afrika wird auf jeweils 2 Millionen Hektar Kaffee produziert; in Asien und Ozeanien auf 3 Millionen Hektar. In den letzten zehn Jahren wurden pro Jahr jeweils zwischen 100 und 115 Millionen Sack zu je 60 kg Kaffee hervorgebracht. Rund ein Viertel der Kaffeeproduktion der Erzeugerländer wird als Eigenverbrauch in diesen Ländern vermarktet, rund drei Viertel der Weltkaffeeproduktion gehen in den Export. Allerdings werden in den Erzeugerländern nicht immer die guten bzw. hohen Qualitäten vermarktet; diese gehen wegen der auf dem Weltmarktparkett erzielbaren höheren Preisspannen überwiegend in den Export.

Anbauvoraussetzungen Arabica und Robusta unterscheiden sich jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer geographischen Dispersion und ihrer Blüten- und Fruchtentwicklung, sondern bspw. auch im Hinblick auf ihre jeweiligen Ansprüche an die Beschaffenheit und die Eigenschaften des Bodens. Die geographischen Bedingungen, die Temperatur, die Anzahl der Sonnenscheinstunden, die Niederschlagsmenge, die Bodenzusammensetzung sowie die Windverhältnisse beeinflussen in subtil aufeinander wirkender Weise die Qualität und Ertragslage für die beiden großen Coffea-Sorten. Arabica gedeiht am Besten bei Durchschnittstemperaturen zwischen 18 und 25 Grad Celsius (Temperaturminimum bei 13 Grad, Temparaturmaximum bei 30 Grad), wohingegen Robusta durchschnittlich höhere Temperaturen verträgt. Beide Coffea-Sorten sind in hohem Maß kälte- und frostempfindlich: schon bei Temperaturen von etwas über dem Gefrierpunkt von Wasser können irreparable Schäden an den Kaffeepflanzen auftreten, was nicht nur die laufende, sondern auch zukünftige Ernteerträge beeinträchtigt. Wenngleich die Coffea-Sorten warme Temperaturen bevorzugen, werden zu viel Sonneneinstrahlung und

130

Coffea

zu große Hitze kaum von ihnen toleriert. Deswegen werden auf großen Kaffeeplantagen in der Regel Schattenbäume gepflanzt, in deren Schatten die Coffeapflanzen unter optimalen Bedingungen heranwachsen können. Für das Wachstum der Kaffeepflanze sind darüber hinaus die durchschnittliche Jahresniederschlagsmenge, deren zeitliche Dispersion sowie der Grad an Luftfeuchtigkeit von hohem Stellenwert. Jede Kaffeepflanze fordert einen Wasserbedarf von 250 bis 300 mm Niederschlag pro Quadratmeter pro Jahr ein. Dieser Bedarf schöpft sich optimalerweise aus einer Jahresniederschlagsmenge von 1.500 bis 2.000 mm. Die künstliche Bewässerung von Kaffeeplantagen ist bereits ab einem Niederschlagsdurchschnitt von weniger als 1.000 mm pro Jahr erforderlich. Während Arabica eine gemäßigte Niederschlagsmenge und eine gemäßigte Verteilung der Wasserzufuhr bevorzugt, gedeiht Robusta auch in regenreicheren Regionen. Der Mindestjahresniederschlag liegt für die Robusta bei 2.000 mm pro Quadratmeter. Der Boden sollte tief, locker, gut belüftet, durchlässig und mit einem neutralen bis leicht sauren ph-Wert ausgestattet sein. Die obere Bodenschicht sollte dabei einen relativ hohen Humusgehalt aufweisen; dieses aus Gründen des Nährstoffangebots, der Feuchtigkeitsbewahrung und zur Verhinderung von Bodenabschwemmung bei tropischen Regengüssen. Damit eine Kaffeepflanze auf diesem Grund einen optimalen Ertrag hervorbringt, sind nach der Anpflanzung der kleinen Kaffeebäumchen drei bis fünf Jahre erforderlich; dafür produzieren sie in den folgenden 10 bis 20 Jahren maximale Ernteerträge. Dazu muss der Boden um die Pflanzen herum regelmäßig sorgsam gejätet werden. Darüber hinaus ist auf einen geeigneten Pflanzenschutz zu achten, da die Coffea-Arabica und Robusta im (sub-)tropischen Klima vermehrt Schädlingen und Krankheiten (bspw. Kaffeerost, einer Mikropilzart) ausgesetzt sind. Aus produktionswirtschaftlicher Sicht sind hier biologische, chemische und anbautechnische Maßnahmen zum Schutz der Pflanzen angezeigt.

Flächenbedarf Nur knapp 0,8 % der weltweit kultivierten Flächen von 1.500 Millionen Hektar werden für den Kaffeeanbau verwendet. Damit steht der relativ niedrige Flächenbedarf für die Coffea-Pflanze in einem verhältnismäßig starken Gegensatz zur hohen (sozio-) ökonomischen Bedeutung, da die Kaffeeanpflanzung (insbesondere auf Plantagen) für die Erzeugerländer wichtige Exportgüter generieren, deren Herstellung hohe Beschäftigungseffekte induziert. Neben Kaffee zählen insbesondere Tee, Kakao, Bananen, Kautschuk, Palmöl, Kokosöl, Kopra, Zucker und Jute zu den Plantagenkulturpflanzen. Innerhalb dieser Gruppe ist die Anpflanzung von Kaffee nach Tee in Bezug auf den erforderlichen Arbeitseinsatz pro Quadratmeter am arbeitsintensivsten. Gleichwohl stehen gestiegener Ertrag an Kaffeebohnen, Flächenproduktivität und Flächenausdehnung in einem nicht notwendigerweise linearen Zusammenhang, da die Produktion in

131

9

9

Coffea

den neu ausgewiesenen Plantagenkulturgebieten oftmals stark mechanisiert wird, weshalb dort menschliche Arbeit von Maschinen übernommen wird. Während zum Beispiel zwischen 1970 und 1980 der Kaffeeertrag um mehr als ein Drittel gesteigert wurde, stieg die Flächenproduktivität in diesem Zeitfenster nur um ein Fünftel, die Flächenausdehnung hingegen nur um ein Siebtel. Mit Blick auf den Ernteertrag liegt der Weltdurchschnitt bei etwas weniger als 700 kg pro Hektar, wobei große Spannweiten länder- und plantagenübergreifend existieren: während in Angola bspw. nur etwas mehr als 30 kg pro Hektar geerntet werden, sind im brasilianischen Bahia Plantagen angelegt worden, auf denen mehr als 4.000 kg je Hektar Ertrag realisiert werden. Der Landesdurchschnitt in Brasilien liegt bei rund 1.000 kg je Hektar, in Kolumbien bei rund 800 kg je Hektar, in Vietnam bei etwa 1.500 kg je Hektar (bezogen auf das Jahr 2003). Um dabei einen Sack Rohkaffee der Sorte Arabica mit 60 kg zu füllen, müssen rund 100 gut tragende Coffea Arabica-Sträuche geerntet werden, da jeder strauchförmig zurückgeschnittene Baum nicht mehr als ein bis zwei Pfund Rohkaffee pro Jahr hervorbringt.

Ökonomische Implikation des Preis-Ertrag-Zusammenhangs Die Produktion auf den Plantagen wird durch verbesserte Düngemethoden, den Anbau ertragreicherer Sorten, höheren Arbeitseinsatz pro Flächeneinheit, höheren Pflegeund Pflanzenschutzaufwand tendenziell stetig gesteigert. Während so der mengenmäßige Ertrag sukzessive ausgebaut werden kann, verfällt dadurch der Weltmarktpreis für Kaffee: bei zunehmendem Angebot geht der Preis auf den Weltmärkten zurück. Durch den sinkenden Preis können viele Kaffeebauern aber letztlich die aufwendiger gewordene Produktion nicht mehr hinreichend finanzieren, was seinerseits unter Umständen zur Einstellung der Produktion in den Erzeugerländern führen kann. Durch diesen Prozess werden in den Erzeugerländern einerseits Konzentrationstendenzen in der Anbieterstruktur offensichtlich, die sich in kooperativen Genossenschaftsstrukturen manifestieren. Mit anderen Worten, die Zeiten großer Einzelplantagen, die direkt an internationale Händler verkaufen, sind mehr oder weniger vorbei. Demgegenüber entstehen immer mehr kleinbäuerliche Betriebe, die in einer immer arbeitsteiliger werdenden Wirtschaftsstruktur in komplizierte, vielschichtige Produktions- und Vermarktungssysteme über Genossenschaften oder Kooperativen eingebunden sind, in denen dann den Pflanzern wertschöpfungsseitig nachgelagert Verarbeiter, Händler und Exporteure längere Vermarktungswege etablieren. Die Kultivierung von Kaffee ist sehr arbeitsintensiv, weshalb in den Erzeugerländern zwischen 20 und 25 Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt mit dem Kaffeeanbau verdienen; weltweit sind es rund 100 Millionen Menschen. Mit dem Export von Kaffee erwirtschaften die Exportländer wichtige Devisenerlöse, die sie für den Import von Investitions- und Konsumgütern benötigen oder für den Schuldendienst aufbrauchen.

132

Coffea

Aus Sicht eines Kaffeeerzeugers werden in Einzelfällen bis zu 20 Jahre benötigt, ehe sich die Anfangsinvestitionen zur Kaffeeanpflanzung amortisiert haben. Die Höhe der anfänglichen Investitionskosten werden hierbei vor allem von der angebauten Kaffeesorte (Arabica oder Robusta), der Art der Anpflanzung (Großplantage mit entsprechenden Economies of Scale oder kleinbäuerlicher Betrieb), der grundsätzlichen Bodenbeschaffenheit sowie den Ernte- und Bearbeitungsmethoden (nasse oder trockene Aufbereitung) bestimmt. Für Baumbeschnitt, Düngung, Pflanzenschutz, Jätarbeiten, Bewässerung, Ernte und Verarbeitung fallen darüber hinaus jährliche, laufende Produktionskosten an. Diese sind beim Coffea Arabica deutlich höher als beim Robusta, da dieser regelmäßig mit dem aufwendigeren Verfahren der Nassaufbereitung exportfertig gemacht wird. Mit Blick auf die Kostenstruktur zum Kaffeeanbau ist eine einheitliche Aussage zu den durchschnittlich anfallenden Kosten nur schwer formulierbar. Von Land zu Land, von Region zu Region innerhalb eines Landes, von Plantage zu Plantage innerhalb einer Region bestehen mitunter große Unterschiede. Vor allem die Farmgröße, der Mechanisierungsgrad sowie die Pflanztechnologie, die Art der Kultivierung (Schattenpflanzung oder Monokultur), das eingebrachte Material und die erforderliche Arbeit, die Arbeits- und Finanzierungskosten sowie ein allfälliger Verschuldungsgrad sind maßgeblich dafür, dass die Kostenstrukturen von Farm zu Farm praktisch stark heterogen ausgeprägt sind. Cum grano salis lässt sich jedoch ableiten, dass die Kaffeeerzeuger in Ländern mit niedrigen Lohnkosten und höherem Mechanisierungsgrad im Anbau Kostenvorteile realisieren können. Benachteiligt sind hingegen diejenigen Kaffeepflanzer, die keine hinreichenden staatlichen Finanz(bei-)hilfen erhalten, nur mit hohem Fremdkapitaleinsatz produzieren können und durch ungünstige Wechselkurse teure Importzahlungen für ihre aus dem Ausland beschafften Düngemittel finanzieren müssen. Insgesamt gilt, dass der Rohkaffeehandel ein nur wage kalkulierbares Geschäft darstellt, da bspw. nicht vorhersehbare Frosteinbrüche in einem Jahr komplette Ernteerträge zunichte machen können. Auch werden in den Erzeugerländern teilweise Ernteerträge absichtlich vernichtet, um in Zeiten von Überproduktion die Marktpreise nicht sukzessive erodieren zu lassen. Die Internationale Kaffee-Organisation (ICO) mit Sitz in London ist ursprünglich damit beauftragt gewesen, die zum Ausgleich von Produktions- und Preisschwankungen abgeschlossenen Kaffeeabkommen zu verwalten. Partner der Abkommen sind Anbau- und Verbraucherländer, welche das Ziel verfolgen, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage zu stabilisieren. Das Herzstück dieser Abkommen waren entsprechend regulierbare Exportquoten.

133

9

9

Coffea

Prozess der Plantagenproduktion von Kaffee Am Beginn der Kaffeeproduktion steht in einer übergeordneten Betrachtung zunächst die Anpflanzung von Coffea-Bäumen. Nach in etwa drei bis vier Jahren bringen diese die ersten Erträge, wobei die maximalen Erträge erst nach etwa acht Jahren realisiert werden. Nach 20 Jahren gehen die Ernteerträge der angepflanzten Coffea-Bäumchen zurück; sie werden durch neue ersetzt. Bei Bäumen, die ihr volles Ausreifungspotential erreicht haben, benötigt die Frucht mehrere Monate (Arabica sechs bis acht Monate; Robusta neun bis elf Monate), bis nach der Befruchtung eine erntereife Frucht gewachsen ist. Die reifen Früchte werden in der Regel einmal pro Jahr abgeerntet (nur in ausgewählten Tropenregionen kann es eine Haupt- und eine Nebenernte geben), wobei die Erntezeit sich über eine Periode von 10 bis 12 Wochen erstreckt (Hauptanteil des Ernteanfalls innerhalb eines Zeitfensters von sechs bis acht Wochen). Da in der Regel große Mengen der Kaffeepflanzungen auf einer Plantage zur selben Zeit erntereif werden, bedeutet die Ernte einen hohen organisatorischen und finanziellen Aufwand, da ggf. zusätzliche Erntearbeiter befristet eingestellt werden müssen. In den Gebieten nördlich des Äquators wird in der Regel im Zeitraum zwischen September und Dezember geerntet, südlich des Äquators demgegenüber im Zeitraum zwischen Mai und August. Nur in Gebieten, die sich unmittelbar um den Äquator gruppieren, kann praktisch das ganze Jahr hinüber auf unterschiedlichen Plantagen mit eigenen Erntereifezyklen geerntet werden. Die Zeit der optimalen Ernte unterscheidet sich bei Arabica und Robusta. Damit hohe Qualitätsansprüche in den Abnehmerländern erfüllt werden, erfolgt die Ernte der reifen Kaffeekirschen per Hand. Das selektive Pflücken, bei dem nur die besten, reifen Kirschen geerntet werden, wird in dem Erntezeitfenster in etwa einmal pro Woche solange wiederholt, bis alle Kaffeekirschen abgeerntet sind. Neben der Ernte per Hand, die vor allem bei der Coffea Arabica Anwendung findet, wird, insbesondere bei der Coffea Canephora, auch die Strip-Pflückung vorgenommen: hier werden alle Kaffeekirschen in einem Arbeitsvorgang von den Zweigen abgestreift, unabhängig vom konkreten Reifegrad der Früchte. Die derart abgetragenen Früchte werden dann auf große Tücher gebreitet und luftgetrocknet. Die unausgelesene Durchmischung des Ernteertrags mit unreifen, reifen und überreifen Kaffeekirschen bei der Strip-Pflückung wirkt sich unkorrigiert negativ auf die Qualität des Endprodukts aus; dieser Faktor kann jedoch durch nachträgliche Sortierung auf der Plantage ausgeglichen werden. Nach der Ernte müssen die Kaffeekirschen vor ihrer Weiterverarbeitung von losem Schmutz, Blättern und Zweigteilen gesäubert werden. Dabei ist zu beachten, dass die frisch geernteten Kaffeekirschen nur äußerst kurze Zeit lagerfähig sind und so schnell wie möglich weiterverarbeitet werden müssen. Die Samen bzw. die eigentlichen Kaffeebohnen machen dabei weniger als 40 % des Volumengewichts einer Kaffeekirsche aus: rund 40 % sind Pulpe und knapp 20 % Fruchtschleim und Pergamenthaut.

134

Coffea

Der sich anschließende Prozessschritt erstreckt sich auf das Entfernen der kompletten Umhüllung der Kaffeekirschen. Bei diesem Aufbereitungsverfahren werden Fruchthaut, -fleisch und -schleim, Pergamenthaut, Silberhäutchen sowie ein großer Teil des Wassers in den Samen entfernt, so dass am Ende des Aufbereitungsprozesses die saubere, trockene Kaffeebohne übrig bleibt. Der Aufbereitungsprozess kann dabei in trockener, nasser oder halbtrockener Form durchgeführt werden. Bei der trockenen Aufbereitung werden die Kaffeekirschen von der Sonne so lange getrocknet, bis die in ihnen enthaltenen Samen bzw. Kaffeebohnen rückstandsfrei herausschälbar sind. Diese Methode ist die ältere Form der Kaffeeaufbereitung. Vor allem der Robusta-Kaffee wird auf diese Art getrocknet und aufbereitet. In Brasilien wird der Arabica aufgrund der trockenen, hohen Temperaturen aber auch trocken aufbereitet. Zum Trocknen werden die Kaffeekirschen ausgebreitet, wobei die ausgebreitete Schicht nicht zu dick sein darf, denn ansonsten faulen die Kirschen durch Übereinanderlagerung. Die Früchte müssen ständig gewendet werden und vor Regen und Temperaturschwankungen geschützt werden. Nach drei bis fünf Wochen sind die geernteten Kaffeekirschen getrocknet; sie weisen eine Restfeuchtigkeit von etwas mehr als 10 % auf (eine reife, frische Kaffeekirsche besteht bis zu 60 % aus Wasser). Der Prozess der Trocknung könnte auch maschinell unterstützt werden (maschinelle Schnelltrocknung), doch ist dieser Arbeitsvorgang sehr kapitalaufwendig und arbeitsmaschinenintensiv. Bei der nassen Aufbereitung, die hauptsächlich für Coffea Arabica angewendet wird, benötigt man in etwa 150 Liter Quellwasser zur Aufbereitung von einem Kilo marktfertigen Rohkaffee. Die frischen Kaffeekirschen werden in Wassersilos oder Schwemmkanälen vorsortiert und durch den Trommelentpulper geschickt; dieses sollte optimalerweise spätestens 12 Stunden nach der Ernte erfolgen. Mit einem Entpulper wird das Fruchtfleisch dergestalt von den Samen abgequetscht, dass diese unbeschädigt in ihrer noch von einer Fruchtschleimschicht umgebenen Pergamenthaut verbleiben. Nach der Entpulpung gelangen die Fruchtkerne im Schwemmkanal durch weitere Siebung in spezielle Fermentationsbehälter. Hier wird der an der Pergamenthaut haftende Fruchtschleim in einem Gärungsprozess (Fermentationsvorgang) gelöst und abwaschbar gemacht. Dieser Vorgang benötigt zwischen 12 und 36 Stunden. Insbesondere an diesem Prozessschritt ist auf absolute Sauberkeit von Anlagen und Aggregaten zu achten, denn durch überfermentierte Bohnen können ganze Kaffeepartien unbrauchbar gemacht werden. Nach der Fermentation wird der Kaffee gewaschen, um alle Reste von der Pergamenthaut zu entfernen. Danach wird der Kaffee bis auf rund 12 % Feuchtigkeitsgehalt heruntergetrocknet. Dies geschieht typischerweise in Patios oder Trockenhorden und dauert in der Regel zwischen 10 und 15 Tage. Die halbtrockene Aufbereitung ist als Mischform beider zuvor beschriebenen Prozessvarianten auf einigen Plantagen und in einigen Regionen sehr beliebt; hier werden durch einen maschinellen Arbeitsvorgang das Fruchtfleisch im Entpulper abgetrennt, wobei keine Fermentation durchgeführt wird. Anstelle dessen trocknet der Perga-

135

9

9

Coffea

mentkaffee, in der Regel nach einer Waschung, zusammen mit den an ihm haftenden Fruchtfleischresten und wird entsprechend der trockenen Prozessvariante weiterbearbeitet. Alle bis hierher verbliebenen Umhüllungen um die eigentlichen Kaffeebohnen werden im Schälgang entfernt. Eventuell verbliebenes Fruchtfleisch, die Pergamenthülle sowie das Silberhäutchen werden von den Kaffeebohnen durch Schälmaschinen getrennt. Das Schälgut wird dabei entweder durch hohen Druck aufgebrochen oder innerhalb einer Schältrommel gegen einen Widerstand geschleudert. An den Schälgang schließen sich zahlreiche weitere Reinigungs- und Sortierarbeiten an, wobei nach dem Schälgang eine Endklassifizierung des Kaffees vorgenommen wird. Liegt der Coffea schließlich in ausdifferenzierten Qualitätsabstufungen vor, wird er in Säcke abgefüllt oder kommt als Schüttgut in entsprechende Transportcontainer. Nach diesem Prozessgang ist der Coffea vorbereitet für seine Reise zur Rösterei, die sich in den Abnehmerländern befindet. Die Hauptexportländer für Rohkaffee sind Brasilien, Kolumbien und Vietnam. Um einen Teil löslichen Kaffee zu erhalten, werden etwas mehr als zweieinhalb Teile Rohkaffee benötigt; um entsprechend ein Teil Röstkaffee zu erhalten, müssen rund eineinfünftel Teile Rohkaffee eingesetzt werden. Die im Vergleich zu den produzierenden Exportländern verbesserte Technik, die Vermarktungssysteme und die insgesamt leistungsfähigere Verarbeitungsinfrastruktur führt aus Sicht der importierenden Konsumländer dazu, dass so gut wie kein löslicher und Röstkaffee importiert wird, sondern weit überwiegend Kaffee in seiner Rohform, der in den Konsumländern weiterverarbeitet wird. Der Rohkaffee wird als Bulkware in Containern für loses Schüttgut in die Abnehmerländer transportiert, oftmals über mehrere tausende Kilometer. Von Südamerika bis nach Europa beispielsweise dauert die Reise per Schiff drei bis sechs Wochen.

Industrielle Verarbeitung in den Abnehmerländern Die kaffeeverarbeitenden Betriebe in den Abnehmerländern kaufen den Rohkaffee in der Regel beim Importeur, der eine verhältnismäßig große Angebotspalette unterschiedlicher Rohkaffees aus unterschiedlichen Ländern täglich vorhält. Die Einkäufer der Röstereien kaufen stets mehrere Sorten aus unterschiedlichen Rohkaffeeprovenienzen, da durch die Mischung ein in Bezug auf die aus Vermarktungsgründen wichtige Markencharakteristik ein stets gleichbleibendes Geschmacksbild und eine kontinuierliche Qualität in Entsprechung der Rezepturen und Tassenprofile der industriellen Verarbeiter gewährleistet werden soll. Eine Röstkaffeemischung besteht meistens aus drei bis acht verschiedenen Kaffeeprovenienzen. Durch das Mischen soll eine standardisierte Markenqualität hervorgebracht werden, die markentypische und endnachfragerbezogene Geschmacksmustererwartungen im Sinne eines im Zeitablauf

136

Coffea

identischen, gleichbleibenden Tassenprofils erfüllt. Der Einbrand der gerösteten Bohnen bestimmt wesentlich das spätere Tassenprofil des Kaffees. Dabei können die unterschiedlichen Provenienzen jede für sich zunächst geröstet werden, und die einzelnen Röstungen anschließend markentypisch gemischt werden. Oder die Rohkaffeeprovenienzen werden zuerst entsprechend gemischt, und die Mischungsgebinde dann geröstet. Dieses ist bei löslichem Kaffee das häufiger angewendete Verfahren. Vermehrt ist es neuerdings auch möglich, dass sortenreine, nicht vermischte, Kaffees angeboten werden. Im Hinblick auf die industrielle Verarbeitung wird nachfolgend unterschieden in die Produktion von Röstkaffee und von löslichem Kaffee. Beide Kaffeevariationen erfordern unterschiedliche industrielle Verarbeitungsprozesse, bspw. in Bezug auf Entkoffeinierung, weitere Trocknung usw.; von der Ernte an werden die Kaffeebohnen dabei immer wieder an einzelnen Prozessschritten umfangreichen Qualitäts- und sensorischen Geschmacksüberprüfungen unterzogen. Die Qualitätskontrolle erstreckt sich dabei sowohl auf technische überprüfbare Eigenschaften als auch auf Artefakte, die von menschlichen Sinnesorganen wahrnehmbar sind (bspw. Geschmack, Geruch, Haptik).

Röstkaffee In einem exemplarisch skizzierten Produktionsprozess für Röstkaffee werden die vom Importeur gekauften Kaffeebohnen zunächst gereinigt, und sämtliche Fremdstoffe und -körper, Steine, Staub und sonstige Zusätze entfernt. Die Zwischenlagerung erfolgt in Silobehältern, wobei die für die Lagerhaltung üblichen Grundsätze gelten. Der Rohkaffee wird aus den Silobehälterzellen den Röstanlagen zugeführt. Das Rösten ist der Prozess des trockenen Erhitzens der Kaffeebohnen. Durch den Prozessschritt des Röstens entsteht das kaffeetypische Aroma und der von den Nachfragern markenbezogen geschätzte Geschmack und die Farbe. Temperatur und Dauer der Röstung müssen mit Blick auf Einbrand und Röstgrad dabei unbedingt exakt aufeinander abgestimmt sein. Die Austarierung und Wahl von Temperatur und Dauer der Röstung richten sich dabei nach den eingebrachten Rohkaffees bzw. Rohkaffeemischungen sowie den Geschmacksvorstellungen, die die gerösteten Gebinde erfüllen sollen. Bei Temperaturen zwischen 400 und 600 Grad Celsius werden die Kaffeebohnen geröstet, wobei die Bohnen selbst dabei eine Temperatur zwischen 200 und 260 Grad Celsius erreichen. Durch den Röstvorgang ändern Kaffeebohnen ihre Farbe in dunkelbraun, verlieren den größten Anteil an Feuchtigkeit, und werden größer (bis zum doppelten Volumen). Die Röstwärme wird durch Kontakt- oder Konvektionsprinzip übertragen: bei der Kontaktröstung erfolgt die Wärmeübertragung von der Wandung auf die Kaffeebohnen nur an der Berührungsstelle, während bei der Konvektionsröstung das Röstgut mit heißer Luft ganzflächig umspült wird. Gegenüber der Kontaktröstung weist die Konvektionsröstung den Vorteil auf, dass die Röstzeit bei unbeeinträchtiger Produktqualität verringert werden kann. Nach Ablauf des Röstprozesses wird das Röstgut heruntergekühlt; dies geschieht entweder durch Zuführung von kalter Luft oder von Wasser. Danach erfolgen eine nochmalige Reinigung sowie eine Qualitäts-

137

9

9

Coffea

kontrolle. Hiernach werden die gerösteten Kaffeebohnen in Silos zwischengelagert. Sofern der Röstkaffee sortenrein abgegeben wird, erfolgt keine weitere Mischung; sofern der Markenkaffee jedoch als Mischung aus verschiedenen Sorten zusammengestellt wird, was üblicherweise der Fall ist, erfolgt vor dem Abpacken noch die markentypische Mischung unterschiedlicher Provenienzen. Anschließend wird differenziert, ob der Röstkaffee in Form von ganzen Kaffeebohnen oder in Form von gemahlenem Kaffee vertrieben werden soll. Die Art der Mahlung bestimmt das spätere Geschmackserlebnis nicht unerheblich: zu fein gemahlener Kaffee ist tendenziell stärkervoller im Geschmack, zu grob gemahlener Kaffee ist tendenziell dünner-leerer schmeckend. Das fertige Kaffeegut, entweder ungemahlen in Form ganzer Bohnen oder gemahlen in Form eines Kaffeepulvers, wird anschließend verpackt, wobei heutzutage üblicherweise die Folien-Vakuum-Verpackung eingesetzt wird. Entscheidend bei der Verpackung ist, dass das fertige Kaffeeprodukt vor Sauerstoff und Feuchtigkeit geschützt wird, da der Sauerstoff dem Kaffee die Sekundäraromen durch Oxidation entzieht. Bei unbeschädigten Vakuumverpackungen ist eine Haltbarkeit und volle Genusstauglichkeit von bis zu eineinhalb Jahren technisch realisierbar. Die Haltbarkeit von Kaffeebohnen, die in Papierverpackungen vertrieben werden, ist mit eineinhalb Monaten viel kürzer. Über Handel oder Direktvertrieb werden die Packungen an Konsumenten abgegeben.

Löslicher Kaffee Der lösliche Kaffee wird aufgrund seiner schnellen Zubereitung in den Endverbraucherhaushalten, seiner vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten sowie seiner guten Haltbarkeit in vielen Konsumentenländern nachgefragt. In Japan gehört rund 50 % des getrunkenen Kaffees zur Variation löslicher Kaffee, in den USA rund 33 %. Der Markt für löslichen Kaffee in Deutschland ist ausbaufähig, da derzeit nur gut 10 % des Gesamtkaffeemarkts durch löslichen Kaffee abgedeckt werden. Der Impuls zur Produktinnovation von löslichem Kaffee basierte ursprünglich auf der Erkenntnis, dass gerösteter Kaffee in Zeiten von Überangeboten auf den Weltmärkten aufgrund seiner begrenzten Haltbarkeit unnötigerweise verkommt und somit nach einer Alternative gesucht wurde, den Kaffee noch länger haltbar zu machen. In einem exemplarisch skizzierten Produktionsprozess für löslichen Kaffee erfolgt als erster Prozessschritt zunächst eine gründliche Reinigung der frisch gerösteten Kaffeebohnen. Analog der Darstellung des Röstkaffeeproduktionsprozesses wird auch hier angenommen, dass die Mischung der Provenienzen nach erfolgter sortenreiner Röstung vorgenommen wird (wenngleich die sortenreine Röstung im industriellen Verfahren eher eine Ausnahme darstellt). Die zur Herstellung von löslichem Kaffee vorgesehenen Röstkaffeebohnen werden anschließend gemahlen und aufgebrüht. Bei löslichem Kaffee kommt das Extraktionsverfahren zur Anwendung, bei dem im Gegenstromprinzip ein industriell hergestellter Aufguss angereichert wird. Bei löslichem Kaffee wird also in einem Extraktionsverfahren dem grob gemahlenen Kaffeekorn durch heißes, perkolierendes Wasser die löslichen Inhaltsstoffe entzogen und 138

Coffea

dabei das Kaffeekonzentrat hergestellt. Löslicher Kaffee besteht zu 100 % aus reinem, gemahlenem Bohnenkaffee. Damit aus dem Konzentrat schließlich Pulver gewonnen wird, können zwei Verfahren eingesetzt werden: bei der Sprühtrocknung wird der konzentrierte flüssige Kaffee in einem Sprühturm fein zerstäubt. Heißluft verwirbelt die Kaffeetröpfchen, wobei das Wasser sekundenschnell verdampft und trockene, warme Kaffeepartikel übrig bleiben. Diese werden anschließend gekühlt und in der Regel in einem weiteren Prozessschritt agglomeriert. Agglomerierter löslicher Kaffee hat den Vorteil, dass er bei der späteren Zubereitung in den Endverbraucherhaushalten sich noch schneller in Wasser löst und noch leichter dosierbar ist. Aus technischer Sicht ist das Verfahren der Sprühtrocknung insofern ausgesprochen anspruchsvolldiffizil, da die Temperatur der Heißluft, die Höhe des Kühlturms, die Fallgeschwindigkeit der Kaffeetröpfchen, der Druck, mit dem die Kaffeelösung durch die Einspritzdüse im oberen Teil des Kühlturms eingebracht wird und weitere Parameter fein aufeinander abgestimmt sein müssen, damit die Kaffeepartikelchen in erforderlicher Qualität emergieren. Sofern dieses Verfahren allerdings gut beherrscht wird, besteht kein qualitativer Unterschied zur Gefriertrocknung. Bei der Gefriertrocknung wird das Kaffeekonzentrat aufgeschäumt und bei minus 40 Grad Celsius schockgefroren. Anschließend wird die gefrorene Kaffeemasse zerkleinert. Im Kältevakuum werden durch Übergang vom festen, gefrorenen in den gasförmigen Zustand die Wasserteilchen sublimiert, übrig bleibt ein besonders schonend getrockneter löslicher Kaffee mit grober Körnung. Auch von dem löslichen Kaffee muss der Sauerstoff und eventuell einwirkende Feuchtigkeit ferngehalten werden. Das fertige Produkt wird entweder in Gläser oder in Folien-Vakuum-Verpackungen abgepackt. Auch hier wird eine Haltbarkeit von rund eineinhalb Jahren bei ungeöffneten Verpackungen erreicht. Über die Handelspartner der Hersteller oder im Direktvertrieb werden die Packungen schließlich an die Endnachfrager abgegeben.

139

9

9

Coffea

Aufgabenstellung 1. Stellen Sie den Prozess der Kaffeeproduktion von der Anpflanzung in den Erzeugerländern bis zur Verschiffung in die Nachfragerländer graphisch in einem Ablaufdiagramm dar. Versehen Sie die einzelnen Prozessschritte mit einer Zeitleiste. Stellen Sie gleichsam den Prozess der Herstellung von Röstkaffee und von löslichem Kaffee in jeweils einem Diagramm dar (Anmerkung: von der tassenprofilgerechten Mischung bis zur Trocknung vergehen im Fall der Herstellung von löslichem Kaffee rund 6 bis 8 Stunden Prozesszeit, also in etwa eine Schicht). Welche zeitlichen Flexibilitätspotentiale bietet die gesamte Prozesssequenz in produktionswirtschaftlicher Interpretation? 2. Welche Arbeitsschritte auf den Plantagen und in den Werken sind dabei für die spätere Qualität des Kaffeegetränks besonders bedeutsam? Welchen Stellenwert weist der produktionswirtschaftliche Parameter Qualität in dem gesamten Prozess auf? An welchen Stellen im Prozess greift bzw. liegt er an? 3. Diskutieren Sie aus Sicht der Plantagenbetreiber und aus Sicht der industriellen Verarbeiter die ökonomischen Kontexte, die mit der Kaffeeproduktion verbunden sind. Gehen Sie dabei auch auf das Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage ein. 4. Gehen Sie davon aus, dass in einem modernen industriellen Verarbeitungsprozess mindestens 50.000 Tonnen Rohkaffee pro Jahr verarbeitet werden müssen, damit die industrielle Verarbeitung ökonomisch sinnvoll durchgeführt werden kann. Aus jedem Kilogramm verkauften löslichem Kaffee entsteht ein Deckungsbeitrag von weniger als einem Euro, der in Summe zur Deckung der Kosten für die ökologische Nachhaltigkeit, für die gesamte Transportlogistik, die Vermarktungskette und den Handel sowie für die industrielle Wertschöpfung ausreichen muss. Welche Implikationen hat diese Situiertheit für die Kostensituation bereits existierender industrieller Verarbeiter? Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Möglichkeiten für neue industrielle Anbieter, mit eigener Produktionskapazität auf den Markt für Kaffeeprodukte einzutreten?

140

Coffea

Anhang Abbildung 9-1: Prozess der industriellen Herstellung von löslichem Kaffee

Rohkaffee Reinigung

Qualitätsprüfung

Silolagerung Tassenprofilgerechte Mischung und Röstung Waage

Qualitätsprüfung

Silolagerung Mahlvorgang Waage Extraktion Konzentration

Qualitätsprüfung

Kühlung und Separation Flüssigkaffeelagerung Einfrierband Mühle Trockner Waage

Qualitätsprüfung

Abfüllung und Bulkwarenlager Geftriergetrocknet-löslicher Kaffee

141

9

9

Coffea

Tabelle 9-1:

Übersicht über Anbauflächen und Ertragssituationen auf dem Kaffeeweltmarkt*

Land

Anbaufläche in Hektar

in %

Ertrag in kg

in %

2.615.000

24

2.105.075.000

29

805

0,08

107.000

1

165.850.000

2

1.550

0,16

1.215.000

11

188.325.000

3

155

0,02

El Salvador

178.000

2

88.110.000

1

495

0,05

Guatemala

263.000

2

238.015.000

3

905

0,09

Indien

347.000

3

312.300.000

4

900

0,09

Indonesien

1.110.000

10

388.500.000

5

350

0,04

Kolumbien

805.000

7

696.325.000

9

865

0,09

Mexiko

730.000

7

328.500.000

4

450

0,05

Uganda

300.000

3

180.000.000

2

600

0,06

Vietnam

520.000

5

702.000.000

10

1.350

0,14

10.828.900

100

7.363.652.000

100

680

0,07

Brasilien Costa Rica Elfenbeinküste

Welt

Ertrag Ertrag in kg/Hektar in kg/Quadratmeter

* Werte gerechnet auf das Jahr 2002

Tabelle 9-2:

Ökonomische Parameter der Kaffeeproduktion auf Plantagen in ausgewählten Erzeugerländern (Kostensituation)* Herstellkosten in US$/kg

Verwaltungs- und Vertriebskosten in US$/kg

0,8 bis 1

0,2 bis 0,4

1 bis 1,4

Arabica

1,1 bis 1,8

0,15 bis 0,4

1,25 bis 2,2

Arabica

1 bis 1,1

0,15 bis 0,5

1,15 bis 1,6

Arabica

Uganda

0,3 bis 0,4

0,15 bis 0,35

0,45 bis 0,75

Robusta

Vietnam

0,3 bis 0,5

0,15 bis 0,4

0,45 bis 0,9

Robusta

Land El Salvador Mexiko Nicaragua

* Werte gerechnet auf das Jahr 2002 auf die angegebene Sorte

142

Selbstkosten in US$/kg

Sorte

Coffea

Tabelle 9-3:

Ökonomische Parameter der Kaffeeproduktion auf Plantagen in ausgewählten Erzeugerländern (Ertrags- und Erlössituation)* Exporterlöse in 1.000.000 US$

Land Brasilien

Ertrag in kg

Exporterlöse pro kg Ertrag in US$

1.271

2.105.075.000

0,60

Costa Rica

159

165.850.000

0,96

Elfenbeinküste

147

188.325.000

0,78

El Salvador

101

88.110.000

1,15

Guatemala

252

238.015.000

1,06

Indien

211

312.300.000

0,68

Indonesien

285

388.500.000

0,73

Kolumbien

871

696.325.000

1,25

Mexiko

249

328.500.000

0,76

Uganda

86

180.000.000

0,48

Vietnam

266

702.000.000

0,38

* Werte gerechnet auf das Jahr 2002; aggregiert über die Sorten Arabica und Robusta

Tabelle 9-4: Jahr

Übersicht über Kaffeeangebot und -nachfrage in den Jahren von 1994 bis 2003* Kaffeeangebot Kaffeenachfrage Überangebot Übernachfrage in Säcken zu 60 kg in Säcken zu 60 kg in Säcken zu 60 kg in Säcken zu 60 kg

1994

91.783.250

98.405.200

6.621.950

1995

86.846.500

96.892.825

10.046.325

1996

98.432.750

99.816.750

1.384.000

1997

98.432.750

102.337.375

3.904.625

1998

106.996.500

103.446.450

3.550.050

1999

115.459.500

105.059.650

10.399.850

2000

113.142.250

105.866.250

7.276.000

2001

110.422.000

108.487.700

1.934.300

2002

119.791.750

108.790.175

11.001.575

2003

101.000.500

111.950.000

10.949.500

* gerechnet auf weltweitem Maßstab

143

9

9

Coffea

Tabelle 9-5:

Übersicht über Exporte ausgewählter Erzeugerländer im Zeitraum 2000 bis 2003* Exportierte Hauptsorte

Juli 2000 - Juni 2001

in %

Juli 2001 - Juni 2002

Juli 2002 in % - Juni 2003

Brasilien

Arabica

19.549.000

22

24.547.000

29

29.307.000

33

Vietnam

Robusta

14.195.000

16

11.756.000

14

11.534.000

13

Kolumbien

Arabica

9.727.000

11

10.412.000

12

10.353.000

12

Indonesien

Robusta

5.538.000

6

4.983.000

6

4.097.000

5

Elfenbeinküste

Robusta

4.927.000

5

3.766.000

4

2.607.000

3

Guatemala

Arabica

4.703.000

5

3.162.000

4

4.000.000

4

Mexiko

Arabica

3.850.000

4

2.848.000

3

2.508.000

3

Indien

Arabica

3.846.000

4

3.423.000

4

3.277.000

4

Robusta

2.837.000

3

3.163.000

4

2.992.000

3

Honduras

Arabica

2.666.000

3

2.296.000

3

2.745.000

3

Peru

Arabica

2.333.000

3

2.701.000

3

2.771.000

3

Costa Rica

Arabica

2.078.000

2

1.913.000

2

1.759.000

2

El Salvador

Arabica

1.844.000

2

1.510.000

2

1.463.000

2

Äthiopien

Arabica

1.612.000

2

1.802.000

2

2.114.000

2

Kenia

Arabica

1.385.000

2

800.000

1

870.000

1

8.633.000

10

6.464.000

8

6.651.000

7

89.723.000

100

85.546.000

100

89.048.000

100

Land

Uganda

Rest-of-World Weltexport

in %

* jeweils gerechnet ohne Eigenverbrauch in den Erzeugerländern; jeweils angegeben in Stück Säcken zu 60 kg

144

Coffea

Tabelle 9-6:

Lieferländer für die Kaffeeverarbeitung in der Bundesrepublik Deutschland*

Jahr

Gesamtimport

Brasilien

in %

Kolumbien

in %

Vietnam

in %

1996

11.975.000

922.889

7,71

2.476.980

20,68

747.656

6,24

1997

12.438.333

2.299.546

18,49

1.954.786

15,72

914.765

7,35

1998

12.326.667

2.456.777

19,93

1.189.465

9,65

935.765

7,59

1999

12.963.333

3.339.176

25,76

1.697.003

13,09

1.189.564

9,18

2000

12.910.000

2.674.900

20,72

1.376.847

10,66

1.354.879

10,49

2001

13.865.000

3.513.786

25,34

1.602.867

11,56

1.954.879

14,10

2002

14.281.667

4.789.002

33,53

1.516.784

10,62

1.850.962

12,96

* jeweils angegeben in Stück Säcken zu 60 kg

Tabelle 9-7:

Land

Rohkaffeepreise, die die Plantagen bzw. die Kaffeebauern in den Erzeugerländern als Durchschnittspreise in US$/kg in den Jahren von 1998 bis 2003, erhalten* Sorte

1998

1999

2000

2001

2002

2003

Arabica

1,959

1,710

1,414

0,868

0,608

0,928

Robusta

1,585

1,161

0,844

0,389

0,406

0,617

Robusta

1,712

1,090

0,628

0,355

0,427

0,604

Kolumbien

Arabica

2,178

1,961

1,613

1,236

1,182

1,032

Guatemala

Arabica

2,665

1,818

1,591

1,124

1,070

1,130

Mexiko

Arabica

2,190

1,833

1,412

1,221

0,794

1,565

Indien

Arabica

2,014

1,516

1,466

1,063

0,864

0,930

Robusta

1,818

1,269

0,851

0,520

0,559

0,755

Honduras

Arabica

1,970

1,302

1,160

0,768

0,912

0,879

Peru

Arabica

1,791

1,378

1,225

0,849

0,661

0,730

Costa Rica

Arabica

2,101

1,750

1,704

1,021

0,964

1,105

El Salvador

Arabica

1,681

1,316

1,008

0,416

0,389

0,514

Äthiopien

Arabica

1,925

1,466

1,231

1,082

0,564

0,747

Kenia

Arabica

3,473

1,953

1,389

1,663

1,391

1,035

Brasilien

Vietnam

Uganda

* gerechnet als gewichtete Durchschnittswerte pro Erzeugerland

145

9

9

Coffea

Tabelle 9-8:

Absatzmarktpreise für Kaffee in der Bundesrepublik Deutschland* Jahr

Absatzpreise in EUR pro kg

1993

6,82

1994

7,84

1995

8,22

1996

7,12

1997

7,84

1998

8,08

1999

7,14

2000

6,92

2001

6,52

2002

6,14

2003

6,02

* Werte aggregiert gemittelt für Röstkaffee und löslichen Kaffee als Durchschnitt

Tabelle 9-9: Land

Übersicht über die Nachfrage nach Rohkaffee in den Jahren 1997 bis 2000* 1997

in %

1998

in %

1999

in %

2000

in %

USA

17.771.000 17,37

18.549.000 17,93

19.204.000 18,28

18.560.000 17,53

Deutschland

12.438.333 12,15

12.326.667 11,92

12.963.333 12,34

12.910.000 12,19

Japan

6.095.000 5,96

6.122.000 5,92

6.343.000 6,04

6.693.000 6,32

Frankreich

5.550.000 5,42

5.291.000 5,11

5.437.000 5,18

5.361.000 5,06

Italien

4.866.000 4,75

4.952.000 4,79

4.936.000 4,70

5.163.000 4,88

Spanien

3.035.000 2,97

3.070.000 2,97

3.385.000 3,22

3.058.000 2,89

Kanada

2.229.000 2,18

2.317.000 2,24

2.303.000 2,19

2.377.000 2,25

Niederlande

2.390.000 2,34

1.979.000 1,91

1.504.000 1,43

1.911.000 1,81

Polen

2.274.000 2,22

1.797.000 1,74

1.768.000 1,68

1.765.000 1,67

163.000 0,16

190.000 0,18

168.000 0,16

186.000 0,18

Neuseeland Weltweit

102.337.375

* in Stück Säcken zu 60 kg

146

100 103.446.450

100 105.059.650

100 105.866.250

100

Coffea

Tabelle 9-10: Importe von Rohkaffee in die Bundesrepublik Deutschland* Jahr

Rohkaffee-Importe in Säcken zu 60 kg

1991

9.835.000

1992

10.370.000

1993

12.338.333

1994

11.940.000

1995

11.646.667

1996

11.975.000

1997

12.438.333

1998

12.326.667

1999

12.963.333

2000

12.910.000

2001

13.865.000

2002

14.281.667

* aggregiert über Arabica und Robusta und unterschiedliche Provenienzen

Tabelle 9-11: Distributionsallokation von industriell verarbeitetem Kaffee in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2003* Gesamtabsatzvolumen

Vertriebsfähiger Kaffee in Tonnen

Rohkaffee in Tonnen

Röstkaffee, entkoffeiniert

42.500

51.000

Röstkaffee, koffeinhaltig

369.500

443.400

löslicher Kaffee, entkoffeiniert

1.000

2.600

löslicher Kaffee, koffeinhaltig

14.750

38.350

Summe

535.350

* 1 kg Röstkaffee = 1,2 kg Rohkaffee; 1 kg löslicher Kaffee = 2,6 kg Rohkaffee; bei den löslichen Kaffees geht lediglich der Kaffeeanteil in die Berechnung ein

147

9

10 Nie mehr 2. Liga*

Heimspiel im Bruchweg-Stadion Es ist Samstag, der 16.10.2004 und der 1.FSV Mainz 05 hat heute ein schwieriges Heimspiel gegen den amtierenden Deutschen Meister SV Werder Bremen. Der Geschäftsführer J. Zimmerer, der Leiter des Referats Presse/ Medien A. Müller und der Leiter der Marketingabteilung, F. Weiß, geben einen Einblick in ihren Tagesablauf.

8.35 Uhr Zimmerer (Z): Das Stadion wird heute ausverkauft sein. 20.300 Menschen wollen das Spiel sehen, darunter knapp 2.000 Fans von Werder Bremen. Die Verantwortlichen von Werder haben signalisiert, dass ein Großteil ihrer Fans mit dem Bus anreisen wird. Der Parkplatz unmittelbar vor dem Stadion ist seit 6 Uhr morgens für den öffentlichen Verkehr gesperrt, aber die knapp 500 Plätze reichen nicht einmal für alle VIP-Gäste und Angestellten aus. Zusätzlich stellt unter anderem die Universität ihr Gelände zur Verfügung, da die Parkplätze am Bruchweg rar gesät sind. In Verbindung mit ortsunkundigen Gästen führt dies in der Regel zu einem erhöhten Verkehrsaufkommen rund um das Stadion. Den Plan mit den Busparkplätzen erhält der Fanbeauftragte der Bremer rechtzeitig vor dem Spieltag. Es lässt sich jedoch nicht vermeiden, dass die gegnerischen Fans noch eine gute Wegstrecke zurücklegen müssen, um zum Stadion zu gelangen. Die Polizei ist deswegen an jedem Spieltag mit rund 300 Mann im Einsatz um Ausschreitungen zu verhindern. Müller (M): Heimspieltag bedeutet immer Hektik und Stress. Die letzten Neuigkeiten müssen noch gesammelt werden und die Daten, die der Presse dann zugänglich gemacht werden, müssen noch aufbereitet werden. Die Vertreter der Fernseh- und Hörfunkstationen erreichen in Kürze das Stadion am Bruchweg und positionieren sich. Mit dem Aufstieg in die Erste Bundesliga ist das Interesse am 1.FSV Mainz 05 enorm gestiegen. Premiere sendet umfassender und die ARD ist sowohl mit Fernseh- als auch mit Hörfunkreporter vor Ort. Interessierten sich letztes Jahr vorwiegend die lokalen Medien, wie z.B. der SWR und die Allgemeine Zeitung, für den Verein, sind es in dieser Saison auch überregionale Medien, wie z.B. der Spiegel, die FAZ und die Zeit, die in regelmäßigen Abständen berichten. Die gestiegene Bekanntheit erfreut bestimmt den Leiter des Marketings. *

Unter Mitarbeit von Christopher Blümlein, Oliver Langner und Jan Wirsam

149

10

Nie mehr 2. Liga

9.30 Uhr Z: Anruf eines entfernten Bekannten mit der Frage, ob es noch Eintrittskarten für das Spiel heute gibt. Leider nicht der Einzige, der enttäuscht wird. Auch wenn die Eintrittskartenpreise um 10 – 15% erhöht wurden, hätten doppelt so viele Dauerkarten abgesetzt werden können. Aber das kleine Stadion setzt dem eben Grenzen. Dennoch wurden diese Saison 15.000 Dauerkarten abgesetzt, 8.000 mehr als in der Zweiten Liga. Die restlichen knapp 3.000 Tageskarten werden nur an Mitglieder vergeben. Dies sorgt zum einen bei den restlichen Fans für Ärger und zum anderen können damit die knapp 5.000 Mitglieder auch nicht ausreichend bedient werden. Bei den Dauerkarten war alleine die Nachfrage fast doppelt so hoch wie das Angebot, es hätten ohne Probleme 25.000 Karten abgesetzt werden können. Manche übernachteten am Tag vor der Vergabe sogar vor dem Kartenhaus und demnach erschien es am fairsten, die Dauerkarten nach Eingang zu vergeben und nicht auszulosen. Auch wenn dies viel Kritik einbrachte, besonders von all denen, die werktätig sind und sich somit nicht anstellen konnten.

Tabelle 10-1: Zuschauerzahlen

Saison 1991/1992 1992/1993 1993/1994 1994/1995 1995/1996 1996/1997 1997/1998 1998/1999 1999/2000 2000/2001 2001/2002 2002/2003 2003/2004 2004/2005

Schnitt 3994 3907 5500 3958 4271 7124 7959 7255 7515 6042 9866 12977 14809 20100

maximal 5500 5500 9500 6783 12000 13551 14638 14730 15600 11834 15500 18700 18700 20300

minimal 2500 2000 1932 2896 2500 3346 4638 4060 4558 4115 6258 9000 12000 18700

Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 2. Liga 1. Liga

Platz 7. 12. 13. 14. 11. 4. 10. 7. 9. 14. 4. 4. 3. 11.

M: Kurzfristiger Anruf von der Allgemeinen Zeitung Mainz mit der Frage, ob noch eine weitere Akkreditierung für einen ihrer Journalisten möglich sei. Für diese Fälle hält der Verein Arbeitskarten zurück, um solche Wünsche kurzfristig noch decken zu können. Der Vergabe dieser Akkreditierungen sind durch die DFL enge Grenzen gesetzt. So dürfen, bis auf wenige

150

Nie mehr 2. Liga

Ausnahmen, die Karten nur für eine ganze Saison vergeben werden, nicht spieltagsweise. Auch wenn dies allen Journalisten bekannt ist, kommt es immer wieder zu Enttäuschungen, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden können. Dabei wird gerne vergessen, dass durch die Veränderungen in der Medienwelt auch in diesem Bereich die Nachfrage nach Zugang das Angebot an Arbeitsplätzen im Stadion überschreitet. Denn die Spiele der Bundesliga werden im Vergleich zur Zweiten Liga ausschnittsweise im Radio und im Internet übertragen, was zwangsweise zu einer Ausweitung der Medienvertreter führt. Heute müssen ca. 100 Pressevertreter versorgt werden. Im Vergleich zur zweiten Liga ist das knapp das Doppelte.

10.00 Uhr Z: Letzte Rücksprache mit den Sicherheitskräften. Zu den 300 Einsatzkräften der Polizei kommen noch zwei Ordnungsdienste. 150 Mann stellt Seco, 150 Mann stellt der FSV. Sie sollen für den reibungslosen Ablauf am Spieltag sorgen, was in der Vergangenheit auch immer funktioniert hat. Zu Beginn einer neuen Saison setzen sich Vertreter des Vereins mit den Sicherheitskräften zusammen und diskutieren Maßnahmen und Vorgehensweisen, so dass am Spieltag die Abläufe festgelegt sind. Falls es dennoch einmal zu Problemen kommt, ist unser Fanbeauftragter der richtige Ansprechpartner. Jedoch gilt es zu beachten, dass in der letzten Zweitligasaison das Stadion insgesamt nur zweimal ausverkauft war, am 10. Spieltag gegen Cottbus und am 34. Spieltag gegen Trier. Ausverkauftes Stadion – in dieser Saison ist das die Regel!

11.00 Uhr Weiß (W): Anruf von Hilton Mainz; das Hilton ist für das Catering der VIP-Gäste zuständig und ist am Spieltag mit 30 Einsatzkräften vertreten. Es wird sehr professionell gearbeitet, aber es kann dennoch zu Problemen kommen. Ein Kühlaggregat ist über Nacht ausgefallen und ein Teil der belegten Brote sieht wohl sehr mitgenommen aus. Die Mitarbeiter von Hilton geben aber ihr Bestes. Dennoch wird es zu einer Verzögerung bei der Lieferung kommen.

13.15 Uhr Z: Das Stadion – ein wahres Schmuckkästchen, aber etwas zu klein. Zwar wurde es in den letzten Jahren kontinuierlich umgebaut und die DFL-Auflagen werden weitestgehend erfüllt. Die Pflege des Rasens unterliegt dem Grünamt der Stadt Mainz, aber es gibt noch keine Rasenheizung. Die muss nach der jetzigen Spielzeit eingebaut werden, noch mal gestattet die DFL eine Saison ohne Rasenheizung nicht. Und der Winter steht noch bevor. Die Kosten von knapp 650.000 Euro wird die Stadt nicht aufbringen, vielmehr ist der Verein dafür verantwortlich. Ähnlich verhält es sich mit den beiden Zusatztribünen, durch die die Kapazität um je 800 weitere Sitzplätzen erweitert werden konnte. Diese erforderten ein hohes Maß an Flexibilität, mussten sie doch kurzfristig geplant werden und eng mit der Stadt und der DFL abgesprochen und genehmigt werden. Es besteht jedoch die Hoffnung, dass die Kosten durch die Eintrittspreise gedeckt werden können.

151

10

10

Nie mehr 2. Liga

Tabelle 10-2: Stadionkapazität

Tribüne

Block

Kapazität

Haupttribüne

A-E

3500 Sitzplätze, überdacht

Nordtribüne

F-J

3400 Sitzplätze, überdacht

Osttribüne

M-O

1800 Sitzplätze, überdacht

Gästeblock

3300 Stehplätze, überdacht

Südtribüne

P-S

6700 Stehplätze, überdacht

Zusatztribüne 1

SW

800 Sitzplätze, nicht überdacht

Zusatztribüne 2

NW

800 Sitzplätze, nicht überdacht

W: Durch den Aufstieg und das gestiegene Zuschauerinteresse ist klar, dass es zu Enttäuschungen auf Seiten der Fans kommen musste, wenn nicht alle eine Eintrittskarte erhalten. Die Zusatztribünen mussten gebaut werden, um den Fans ein Zeichen zu geben und um die Euphorie um die Dauerkarten weiter zu beflügeln. Der Ausbau ist für das Image sehr wichtig – so können 1.600 weiteren Fans Karten für die Heimspiele angeboten werden. Zum Leidwesen einiger versperren die Flutlichtmasten teilweise die Sicht auf das Spielfeld, aber dennoch werden die Zusatztribünen von einem Großteil der Zuschauer positiv aufgenommen. Der Verein hat diese Tribünen auch nur gemietet, so dass die Flexibilität bei geringerem wirtschaftlichem Risiko gewährleistet ist.

13.30 Uhr Z: Die Stadiontore werden zwei Stunden vor Spielbeginn für die Fans geöffnet. Der Ansturm ist noch relativ gering, aber innerhalb der nächsten Stunde wird sich das ändern.

13.45 Uhr Z: Der Andrang vor den Stadiontoren nimmt nun zu, besonders im Bereich der Stehplätze. Ein großes Problem ist der Schwarzmarkt vor dem Stadion. Eben kam die Nachricht, dass einer der verdeckten Ermittler, die wir an jedem Heimspieltag um das Stadion einsetzen, einen Händler entdeckt hat, der seine Stehplatzkarte für 60 Euro verkaufen wollte. Über die Konsequenzen wird nach dem Spiel noch zu sprechen sein - die Restriktionen reichen dabei bis zu einem Entzug der Dauerkarte oder einem Stadionverbot. Der Schaden, insbesondere für das Image des Vereins, ist dabei immens.

152

Nie mehr 2. Liga

14.10 Uhr Z: Vor den Stadiontoren stehen die Fans nun Schlange. In den nächsten dreißig Minuten wird ein Großteil der heute anwesenden Zuschauer die Tore passieren. Gerade in diesen Kernzeiten, unmittelbar vor dem Spiel, in der Halbzeitpause und nach Abpfiff, herrscht ein reges Durcheinander. Ein Großteil der Fans strömt zu diesen Zeitpunkten in Richtung Verpflegungsstände, sanitäre Einrichtungen oder Fanshop. Mit dem gewachsenen Zuschauerinteresse war die Notwendigkeit gegeben, die sanitären Einrichtungen aufzustocken und zusätzliche Imbissstuben einzurichten. Dem Unternehmen Gauls Gastronomie, das für die Imbissstuben verantwortlich ist, kam dies sehr entgegen. Auch sie haben ihre Kapazitäten ausgebaut und sind nun mit knapp 100 Beschäftigten am Bruchweg vertreten. Dennoch berichtet unser Fanbeauftragter von manch unzufriedenem Fan, der in der Halbzeitpause so lange anstehen muss, dass er den Wiederanpfiff verpasst. Leider setzt auch hier die Stadionkapazität mit dem limitierten Stadionareal enge Grenzen. Insgesamt stehen nun auf dem Stadionareal 15 Toilettenanlagen zur Verfügung, was schon einmal eine Milderung der Umstände brachte. Dennoch ist auch hier der Prozess der Modernisierung noch nicht abgeschlossen. W: Für die Marketingabteilung des 1. FSV Mainz 05 ist das gestiegene Interesse an dem Verein natürlich enorm wichtig. Auf dem Gelände des Stadions wurden zusätzlich zwei Fanshops aufgebaut, die am Spieltag geöffnet haben. Auch ein Fanmobil ist an Spieltagen auf dem Gelände positioniert. Das war mit dem vorhandenen Personal aus Zweitligazeiten nicht mehr zu bewerkstelligen und neue Mitarbeiter mussten eingestellt werden. Aber die Resonanz rechtfertigt diesen Schritt: So besitzen mittlerweile 93 % aller Dauerkartenbesitzer heute schon einen Schal. Trotzdem muss überlegt werden, wie die Aktivitäten im Bereich Fanartikel verbessert werden können. Es wurde z.B. herausgefunden, dass 22 % aller Dauerkartenbesitzer keine Ausgaben mehr im Stadion tätigen und weitere 33 % Ausgaben in einer Höhe von nur 5 Euro tätigen. Wer schon einmal einen Schal gekauft hat, wird sich in der Regel keinen zweiten mehr zulegen. Hinzu kommt, dass 90% aller Dauerkartenbesitzer aus Mainz oder der Region Rheinhessen kommen, so dass der Markt regional und somit auch schnell gesättigt ist. Bayern München hat seine Fans im gesamten Bundesgebiet – davon kann ein Verein wie der FSV nur träumen.

15.00 Uhr M: 30 Minuten vor Spielbeginn herrscht eine gewisse Hektik. Die anwesenden Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen, müssen, ebenso wie der Stadionsprecher, mit den Mannschaftsaufstellungen versorgt werden. Es gab in letzter Zeit vermehrt den Wunsch, zusätzliche Informationen aufzubereiten. Jedoch gibt es vor den Spieltagen donnerstags immer eine Pressekonferenz, wo umfassend informiert wird. Hinzu kommt, dass der 1.FSV Mainz 05 ein "Verein zum Anfassen" ist. Das bedeutet auch, dass es relativ einfach für Journalisten ist, an die handelnden Personen wie Präsident Harald Strutz, Manager Christian Heidel oder aber auch Trainer Jürgen Klopp heranzukommen. Leider brachte uns dies in letzter Zeit häufig den Vorwurf ein, der interne Kommunikationsfluss müsse effizienter gestaltet werden, und zwar dahingehend, dass die einzelnen Informationen besser gebündelt werden. Eine Alternative wäre 153

10

10

Nie mehr 2. Liga

täglich ein Bulletin für die Presse zu veröffentlichen. Das wird in den nächsten Tagen noch zu besprechen sein. W: Das Hilton ist noch mit einem Kleintransporter mit Essen für das Catering angekommen. So kurz vor dem Spiel ist das sehr schwer zu koordinieren, da viele Menschen nun in ihre Blöcke wollen. Der Transporter muss jedoch unmittelbar vor die Haupttribüne gefahren werden, um das Essen von dort direkt in den VIP Bereich zu bringen. Der Sicherheitsbeauftragte wurde angewiesen, dies zu koordinieren und die Sicherheit zu gewährleisten.

Tabelle 10-3: Kapazitäten der Bundesligastadien

Verein

Stadion

Kapazität

Sitzplätze

Logenplätze

Borussia Dortmund

Westfalenstadion

82.208

55.749

162

Hertha BSC Berlin

Olympiastadion

76.000

76.000

1.303

FC Bayern München

Olympiastadion

69.466

58.066

k.A.

FC Schalke 04

Arena AufSchalke

61.524

45.217

k.A.

Hamburger SV

AOL Arena

55.989

46.351

580

Borussia Mönchengladbach

Borussia-Park

53.466

36.846

k.A.

Hannover 96

AWD Arena

49.000

42.000

k.A.

VfB Stuttgart

Gottlieb Daimler-Stadion

48.600

45.200

675

1. FC Kaiserslautern

Fritz Walter-Stadion

46.615

27.982

k.A.

SV Werder Bremen

Weserstadion

43.087

32.187

720

1. FC Nürnberg

Frankenstadion

42.500

34.700

124

VfL Bochum

Ruhrstadion

32.645

15.889

k.A.

VfL Wolfsburg

Volkswagen Arena

30.000

22.000

384

Hansa Rostock

Ostseestadion

29.000

20.500

k.A.

DSC Arminia Bielefeld

Schüco Arena

26.601

15.451

k.A.

SC Freiburg

Badenova Stadion

25.000

14.000

k.A.

Bayer Leverkusen

BayArena

22.500

22.500

130

1. FSV Mainz 05

Stadion am Bruchweg

20.300

10.300

80

45.250

34.497

Bundesliga durchschnitt

154

Nie mehr 2. Liga

Tabelle 10-4: Sponsoren der Saison 2004/05

Verein

Sponsor

Euro

Deutsche Telekom

bis zu 20 Mio.

Borussia Dortmund

E.ON

bis zu 12 Mio.

Bayer 04 Leverkusen

RWE

9,5 Mio.

Bayern München

Hertha BSC Berlin

Arcor

bis zu 8 Mio.

Victoria Versicherungen

7,5 Mio.

Volkswagen AG

bis zu 7 Mio.

SV Werder Bremen

KiK Textildiscount

bis zu 5 Mio.

Hamburger SV

ADIG Investment

4,5 Mio.

Borussia Mönchengladbach

Jever

3,5 Mio.

VfB Stuttgart

debitel

3,5 Mio.

Schalke 04 VfL Wolfsburg

1. FC Kaiserslautern

DVAG

3 Mio.

SC Freiburg

Suzuki

3 Mio.

Thüringer Waldquell GmbH

2,7 Mio.

Hansa Rostock Hannover 96

TUI

2,5 Mio.

VfL Bochum

DWS Investmentfonds

2,5 Mio.

DBV Winterthur

2 Mio.

Krombacher

1,5 Mio.

mister+lady jeans

???

1. FSV Mainz 05 DSC Arminia Bielefeld 1. FC Nürnberg

15.30 Uhr Z: Anstoß. Das organisatorische Prozedere ist soweit abgeschlossen. Jetzt gilt es, dass die Mannschaft punktet.

16.17 Uhr W: Halbzeit. Es steht noch 0:0. Jetzt beginnt das Halbzeitprogramm der Sponsoren. Die Sponsoren sind auch ein Indikator für die gestiegene Attraktivität des Vereins. Erstaunlicherweise hat kein Bundesligist mehr Sponsoren als der 1. FSV Mainz 05, nämlich annähernd 70. Einschränkend jedoch muss angeführt werden, dass diese oftmals regionale Vertreter sind. Aber dies entspricht voll und ganz der Philosophie des Vereins, für jeden offen zu sein. Und für die Sponsoren lohnt sich der Einsatz allemal: So nennen 98% aller Dauerkartenbesitzer die DBV Winterthur als Hauptsponsor, 75% erinnern sich an Telco und 90% nennen Media Markt als Sponsor des Halbzeitprogramms. Telco konnte seinen Bekanntheitsgrad bei den Dauerkartenbesitzern um 575% erhöhen, bei den VIPs immerhin noch um 227%. Das zahlt sich natürlich 155

10

10

Nie mehr 2. Liga

auch für den Verein aus – die Einnahmen durch das Sponsoring stiegen im Vergleich zur Zweiten Liga um etwa 60%. Die Einnahmen aus dem Sponsoring sind in Anbetracht der erstmaligen Bundesligazugehörigkeit marktgerecht, jedoch würde ein Verbleib in der ersten Liga auf eine dynamische Entwicklung hoffen lassen, so dass es gilt, Potentiale aufzubauen und auch auszuschöpfen. Schließlich sind die Spielergehälter im Vergleich zur Vorsaison auch um 3040% gestiegen.

Tabelle 10-5: Etats der Bundesligavereine

Etat 04/05 in Mio €

Etat 03/04 in Mio €

60

60

0,00%

54,7

49,2

11,18%

VFL Wolfsburg

50

50

0,00%

Werder Bremen

45

35,5

26,76%

40,1

35,9

11,70%

39

57

-31,58%

38,5

40

-3,75%

VfB Stuttgart

38

32,5

16,92%

VfL Bochum

27

24

12,50%

Bayer Leverkusen

26

30

-13,33%

1. FC Nürnberg

26

8,4

209,52%

Hansa Rostock

26

25

4,00%

Hamburger SV

25

23

8,70%

SC Freiburg

25

25

0,00%

Hannover 96

25

22

13,64%

Arminia Bielefeld

24

11

118,18%

1. FSV Mainz 05

20

8,6

132,56%

1. FC Kaiserslautern

15

22

-31,82%

Verein Bayern München Hertha BSC Berlin

Borussia Mönchengladbach Borussia Dortmund Schalke 04

156

Änderung

Nie mehr 2. Liga

17.18 Uhr M: Abpfiff. Das Spiel endet 2:1 für den FSV. Drei sehr wichtige Punkte. Unmittelbar nach dem Spiel gehen die Spieler und das Betreuerteam in die so genannte "Mixed-Zone", wo sie den Journalisten Rede und Antwort stehen müssen. Nach den Statuten der DFL muss gewährleistet sein, dass die Erstverwerter der Übertragungsrechte (ARD, Premiere) Zugang zu Spielern und Trainer haben. Darauf folgen dann die Zweitverwerter, z.B. der Hörfunk und andere Fernsehanstalten. Im letzten Schritt muss noch die Presse versorgt werden. Die Mainzer Allgemeine Zeitung wünscht sich, dass sie schnelleren und auch längeren Zugriff auf die Spieler hat, aber das Prozedere ist von der DFL vorgeschrieben und ein Verein kann nicht so handeln, wie er es am liebsten hätte, auch wenn er damit einen Sponsor verärgern muss. Auch ist es schwierig, so unmittelbar nach dem Spiel die Spieler dazu zu bringen, allen Medienvertretern Rede und Antwort zu stehen. Aber sie sind nun mal die Hauptakteure. Z: Das Stadion leert sich nun wieder schnell. In spätestens dreißig Minuten haben auch die letzten Fans ihre Plätze geräumt und ein weiterer Spieltag ist abgeschlossen. Es ist zu keinen größeren Zwischenfällen gekommen und was die Organisation betrifft, wird an jedem Spieltag hinzugelernt. Fehler müssen identifiziert und am nächsten Spieltag abgestellt werden. Oder, um es mit Sepp Herberger zu halten: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Aufgabenstellung 1. Innerhalb der Fallstudie können mehrere Parteien identifiziert werden, mit denen der 1. FSV Mainz 05 in Kontakt steht. Welche Art von Beziehungen liegt dabei vor? Kennzeichnen Sie die charakteristischen Merkmale dieses Systems. 2. Was "produziert" der 1. FSV Mainz 05? Kennzeichnen Sie, was als Input in den Produktionsprozess eingeht, was innerhalb des Produktionsprozesses im Rahmen des Throughput umgewandelt wird und worin zu guter Letzt der Output liegt. 3. Identifizieren Sie wesentliche Geschäftsprozesse und zeigen Sie auf, welche Möglichkeiten es gibt, diese zu verbessern. Gehen Sie dabei vom Ist – Zustand aus und entwickeln Sie Alternativen. 4. Vergleichen und diskutieren Sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen einem Profifußballverein und einem typischen Unternehmen. Gehen Sie dabei auf die Tatsache ein, dass immer mehr Vereine ihre Fußballabteilung aus dem Verein ausgliedern.

157

10

11 National preiswertes Markenbier *

Der Tradition verpflichtet Die Tradition der Oettinger Brauerei kann weit zurückverfolgt werden. Nach der Gründung durch die Grafenfamilie wurde das Brauhaus in Oettingen bereits im Jahre 1333 erstmals urkundlich genannt. Die Stadt Oettingen wurde von den Brüdern Ludwig XI. und Friedrich III. von Oettingen in zwei Herrschaftsbereiche aufgeteilt. Diese Teilung ist bis heute an den architektonischen Besonderheiten, wie Barockgiebeln und Fachwerkbauten des Marktplatzes deutlich erkennbar. Selbst Johann Wolfgang von Goethe und Spitzweg kamen in den Genuss des Oettinger Bieres. Johann Wolfgang von Goethe trank es auf seiner zweiten Italienreise in Oettingen und Spitzweg genoss sein Oettinger Bier während er im Hofgarten den Herkulesbrunnen zeichnete. Im 20.Jahrhundert wurde das >>Fürstliche Brauhaus zu Oettingen, Oettinger Bier<< zur Genossenschafts-Brauerei umfunktioniert. Schließlich übernahm die alteingesessene Brauer-Familie Kollmar 1956 die Oettinger Brauerei. Von dort an begann die Erfolgsgeschichte des Oettinger Bieres. Heute wird Oettinger Bier in hochmodernen Brauanlagen nach dem Deutschen Reinheitsgebot von 1516 gebraut. In den 70er Jahren wurde die heutige Unternehmensgruppe geprägt. Nach dem Beginn der Ära der Supermärkte richtete die Oettinger Brauerei ihr Produktsortiment bis heute daran aus.

Der Aufstieg zur größten deutschen Brauerei Günther Kollmar steht vom Besprechungstisch in seinem Büro auf, greift auf einen Schrank zwischen Dosen, Krügen und Flaschen. ,,Da habe ich was Nettes’’, sagt er und präsentiert einen alten Keramik-Aschenbecher, in dessen Mitte ein Löwe die Pranken zeigt. ,,Löwenbräu – größte Brauerei Bayerns’’ steht darauf. ,,Tempora mutantur, so ändern sich die Zeiten’’, räumt Kollmar ein. Die größte Brauerei Bayerns steht nicht mehr in der Bier-Metropole München, sondern hinter Kollmars Büro in der 5000Einwohner-Stadt Oettingen. Im Jahre 2004 betrug der Gesamtausstoß des Oettinger Bieres 6,4 Mio. Hektoliter, was ein Plus von 23% zum Vorjahr bedeutet. Dadurch ist Oettinger im Konkurrenzkampf

*

Unter Mitarbeit von Martin Tag und Jan Wirsam

159

11

National preiswertes Markenbier

mit führenden und bekannten Biermarken, wie Krombacher, Bitburger, Warsteiner und Veltins zur größten Deutschen Biermarke aufgestiegen. Dieser Erfolg ist umso beachtlicher, wenn man bedenkt, dass dieses Ergebnis in einem schrumpfenden Markt erzielt worden ist. Denn seit den 70er Jahren ging der Bierkonsum der Deutschen von jährlich knapp 150 auf inzwischen 113 Liter pro Kopf zurück. Trotz der Prognose des sinkenden Preisbewusstseins der Deutschen (,,Geiz ist geil’’), stieg die Nachfrage nach Preiseinstiegsmarken in der Bierbranche. Innerhalb der letzten 10 Jahre konnten die Kollmars Ihre Produktion vervierfachen und die Zahl ihrer Mitarbeiter auf 1200 verdoppeln. Außerdem besitzt das Unternehmen 180 LKW, die ca. 10.000 Supermärkte, Tankstellen und Getränkemärkte beliefern. ,,Es bleibt dabei’’, so auch Volker Kuhl, Geschäftsführer Marketing und Vertrieb bei Veltins, ,,der deutsche Biermarkt durchlebt in den nächsten Jahren einen fortschreitenden Konzentrationsprozess.’’ Im Jahre 2003 übernahm beispielsweise die belgische Interbrew nach Diebels, Beck’s, Gilde und Hasseröder noch Spaten-Franziskaner-Bräu. Sailer Bräu ging in die Frankfurter Radeberger-Gruppe ein und Oettinger kaufte die Hannen-Brauerei. Der dänische Brauriese Carlsberg griff unlängst nach dem HolstenKonzern und Bitburger beabsichtigt die Übernahme der Holsten-Marken König und Licher. Weiter wird Bitburger großes Interesse an einer Weißbiermarke nachgesagt. Langfristig wird dadurch die Luft für mittelpreisige Konsummarken regionaler Prägung immer dünner. Aufgrund des wachsenden Erfolges der Oettinger Braugruppe, versuchen die entsetzten Konkurrenten durch ,,Trendgetränke’’ den Umsatz zu retten. Vorreiter dieser ,,Trendgetränke’’ war das mittlerweile etablierte Bier-Misch-Getränk ,,Mixery’’ der Karlsberg Brauerei. Warsteiner beispielsweise produziert neuestens ein OrangenLimetten-Bier und Krombacher ein ,,Extra-mild’’-Bier. Auf solche neuen Trendprodukte reagiert Kollmar skeptisch: ,,Die nehmen damit nur ihren anderen Produkten den Umsatz weg. Und wenn da etwas wirklich erfolgreich ist, machen wir es einfach nach.’’ Das neue BierCola Mischgetränk ,Oettinger Mixed’ erweitert die Produktpalette auf 17 verschiedene Biersorten, neben den sieben Softdrinks.

Logistik und Standortwahl Die hauseigene Logistik ist als einer der wichtigsten Faktoren für den günstigen Preis des Oettinger Bieres anzusehen. Mit 180 firmeneigenen LKW und ca. 400 uniformierten Bierfahrern gelingt es der Oettinger Braugruppe konsequent alle Zwischenhändler auszuschalten. Dieser Direktvertrieb ermöglicht es Oettinger, bis zu drei Handelsstufen einzusparen. Die Einzigartigkeit dieses Direktvertriebes eröffnet dem Unternehmen durch die Einsparung der Transport-, Lager- und Verladekosten einen Preisvorteil von ca. 4 € pro Kiste im Vergleich zur Konkurrenz. Die Firma lässt damit bis auf Kun-

160

National preiswertes Markenbier

den – und dazu zählen neben Getränkemärkten die Lebensmittelschwergewichte Metro, REWE, Edeka, Lidl, Spar oder Wal Mart – niemanden mitverdienen. Ein weiterer Erfolgsfaktor der hauseigenen Logistik ist es, kurze Transportwege zu den Kunden zu sichern. Kurze Transportwege sind neben einer strategisch guten Positionierung des Unternehmens das Fundament einer soliden Logistik-Strategie. Deshalb verbreitete es sich wie ein Lauffeuer in der Presse, als das Oettinger Brauhaus die Hannen-Braustätte in Mönchengladbach im Jahre 2003 vom dänischen Carlsberg kaufte. Laut der Meinung von einigen Experten ist der Braugigant aus Oettingen durch diesen Kauf auf dem Weg nach ganz oben, während andere Brauereien um ihre Existenz kämpfen. "Die Strategie, die wir dabei verfolgen, ist eben die Positionierung im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo wir derzeit die größten Umsatzzuwächse zu verbuchen haben’’, erklärte Firmenchef Günther Kollmar. Die Oettinger Braugruppe umfasst heute fünf Braustätten, die im Hinblick auf kurze Transportwege äußerst gut positioniert sind. Es handelt sich im Einzelnen um die Brauerei in Oettingen, die Brauerei in Gotha, die Brauerei Dessow, die Zweite Schweriner Schlossbrauerei, ein Lager in Walldorf und die neu erworbene Hannen-Brauerei in Mönchengladbach. Mit der fünften Braustätte in Deutschland gelang es Oettinger nicht nur die dringend benötigten Produktionskapazitäten zu erweitern, sondern auch eine logistische Lücke zu schließen. Kurz vor der Einführung der LKW-Maut, die zum 01. Oktober 2003 geplant war, konnte mit der Hannen-Brauerei in Mönchengladbach ein strategisch optimaler Standort gefunden werden. Nicht nur die Versorgung des Westens Deutschlands und die Lage mitten im 17 Mio. Einwohnerland Nordrhein-Westfalen, sondern auch die Nähe zu Belgien und Holland sind besonders attraktiv. Die Hannen-Brauerei wurde vor zwanzig Jahren in einem Industriegebiet – also keine innerstädtische Lage – ebenerdig mit Autobahnzufahrt gebaut: ,,Und das passt zu unseren Vorstellungen von einer Brauerei, die man kostenbewusst betreiben kann’’, so Günther Kollmar. Zusätzlich konnte Oettinger die parallele Aufrechterhaltung eines Auslieferungslagers, das man bis dato in Dinslaken betrieben hatte, einsparen. Der stetige Aufstieg der kostenbewussten Oettinger Brauerei kennt offenbar keine Grenzen, wenn gleich man an selbige stoßen könnte. Die kostenerhöhende LKW-Maut muss der Konzern, zumindest in den ersten Wochen selber tragen. Auch für den Branchenprimus ist derzeit eine Preiserhöhung nicht durchsetzbar.

Einführung des Dosenpfands Mit der Einführung des Dosenpfands zum 01. Januar 2003 schien der Aufstieg der Oettinger Braugruppe erheblich gebremst zu werden. Der inländische Markt für Dosenbier war mit sofortiger Wirkung kaum noch existent. Günther Kollmar sprach von

161

11

11

National preiswertes Markenbier

einer ,Kriegserklärung’ der Bundesregierung an die Lebensmittelbranche, gespeist aus dem Trittin’schen Gedankengut der Plan- und Zwangswirtschaft kommunistischer Prägung. Er verurteilt dieses Gesetz als den schlimmsten planwirtschaftlichen Eingriff seit der Kolchosierung durch Stalin. Diese Verärgerung ist jedoch kein Wunder, berücksichtigt man, dass Oettinger erst Ende 2001 in eine neue hochmoderne Dosenabfüllanlage investiert hatte und somit zu einem der größten Getränkedosenanbieter in Deutschland geworden war. Nicht nur, dass Oettinger noch einen Dosenbieranteil von ca. 35% produzierte, sondern auch das Geschäft als Dienstleister, in dem sich Oettinger einen guten Namen erarbeitet hatte, schien vorbei. Es beauftragten einige Brauereien mit Hochpreis-Strategie, wie z. B. Krombacher, Flensburger und auch die international renommierte Budweiser-Brauerei aus Tschechien, Oettinger zur Abfüllung ihrer Dosen. Die Abfüllanlagen von Oettinger wurden deshalb keineswegs stillgelegt. Sie waren weiterhin weitestgehend ausgelastet und es gelang immer mehr den internationalen Markt mit dem Einweggebinde zu erobern. In über 30 Ländern dieser Erde ist es möglich, Oettinger zu genießen. Diese internationale Kompetenz ist auch für die Partner, wie Lidl, REWE, Edeka, Metro und Wal Mart äußerst wichtig. Dadurch kann Oettinger Bier seine Partner über die deutschen Grenzen hinaus begleiten. Nicht nur in Europa, selbst in Taiwan, der Elfenbeinküste oder in der Mongolei, wo Oettinger mit 60% Marktanteil führend ist, kann man das Bier in Dosenform konsumieren. Das Oettinger zum meistverkauftesten Bier 2004 avancierte, ist im Nachhinein evtl. sogar ein Verdienst des Dosenpfands. Kunden, die früher preiswertes Dosenbier beim Discounter kauften, suchen nun eine vergleichbar günstige Mehrwegalternative und fanden immer häufiger Oettinger Bier. Dadurch hat der Rückgang beim Dosengeschäft andere Brauereien erstaunlicherweise viel härter getroffen als die Oettinger Braugruppe, so dass sich Konkurrenten gegenüber Oettinger verärgert zu Wort meldeten: ,,Der Kollmar müsste Umweltminister Trittin ein Denkmal errichten.’’ In der ersten Jahreshälfte 2003 konnte Oettinger ein Absatzplus von ca. 30% verbuchen.

Saisonale Schwankungen In Betrieben, die beispielsweise Fahrräder, Düngemittel, Eiscreme oder Getränke herstellen, unterliegt der Absatz rhythmischen, saisonalen Schwankungen. Durch das jahreszeitlich unterschiedliche Bedürfnis der Kunden und des daraus resultierenden unterschiedlichen Kaufverhaltens, unterliegt auch die Oettinger Braugruppe saisonalen Schwankungen. Aufgrund der Eröffnung der Biergärten und der Grillsaison kommt es in den Sommermonaten bekanntlich zu einem vermehrten Bierkonsum. Dies zwingt die Oettinger Braugruppe zur Verwendung eines der wohl bedeutendsten Anpassungsinstrumente im Industriebetrieb: die Anpassung der Planung sowie der Produktionsmenge.

162

National preiswertes Markenbier

Kostenführerschaft Während ein Kasten Warsteiner oder Beck’s etwas mehr als 11€ kostet, kann man für den selben Preis zwei Kisten Oettinger Bier kaufen. In einer Zeit, in der die Kunden zunehmend preisbewusster werden und die Bierpreise ständig steigen, scheint dies der richtige Weg zu sein den eigenen Marktanteil weiter auszubauen. Seit der Einführung des Euros stieg der Bierpreis im Schnitt um 7%, während Oettinger den Absatz um fast 20% steigern konnte bis zur Mitte des Jahres 2003. Die gesetzte strategische Aufgabe der Oettinger Braugruppe ist ganz offensichtlich die umfassende Kostenführerschaft. Man versucht durch Unterbieten der Wettbewerberpreise erfolgreich am Markt zu agieren und zwar äußerst erfolgreich. Von dem Wort ,billig’ will man jedoch in Oettingen nichts hören. Laut Kollmar ist dies nur ein Versuch der Konkurrenz das Bier abzuqualifizieren. Es soll dem Kunden einen Mangel an Qualität und Kompetenz suggerieren. Vergegenwärtigt man sich aber die hochmodernen Produktionsanlagen, die gut organisierte Logistik, die extrem schlanke Organisationsstruktur und die gut ausgebildeten hochmotivierten Mitarbeiten sowie die Tatsache, dass ausschließlich qualitätsgeprüfte Rohstoffe nach Deutschem Reinheitsgebot verwendet werden, scheinen diese Anschuldigungen haltlos. Eine futuristisch wirkende Produktionsstätte, die fast vollautomatisch läuft und mit einer äußerst geringen Anzahl von Mitarbeitern fast 25% vom bayrischen Bieraustoß produziert, haben die Kollmars Ende der 80er in ihrem Heimatort erstellt. Sie ermöglicht pro Mitarbeiter drei- bis viermal so viel Ausstoß wie andere Betriebe. Nicht nur Kostengründe veranlassen die Oettinger Braugruppe zu einer ressourcenschonenden Produktion, sondern auch verantwortungsvoller Umgang mit der Umwelt. Eine Zertifizierung nach der europaweit gültigen DIN ISO Norm 9001: 2000-12 unterstreicht den hohen Qualitätsanspruch, wodurch die Oettinger Produkte Premium-Markenprodukten in Nichts nachstehen. Dies ist neben dem Produkt an sich, der hohen Präsenz und einem hervorragendem Preis-Leistungs-Verhältnis die einzige werbende Maßnahme. Mund- zu Mund-Propaganda, die Marke und ihr Wiedererkennungswert sind die Basis für Oettinger. Auf Werbung in den Medien verzichtet das Unternehmen mit der Begründung: ,,Unsere Werbung steht auf dem Tisch.’’ Trotz der immensen Einsparungen an Werbekosten gegenüber anderen bekannten Biermarken, muss eine Verankerung im Bewusstsein der Konsumenten auf Dauer gewährleistet bleiben. Nur so können eine Listung im Handel und eine gute Platzierung der Ware dauerhaft gesichert werden.

163

11

11

National preiswertes Markenbier

Aufgabenstellung 1. Worin besteht die zentrale Wettbewerbs-Strategie der Oettinger Braugruppe? 2. Diskutieren Sie anhand einer SWOT-Analyse die Stärken und Schwächen sowie die Chancen und Risiken der aktuellen Marktpositionierung der Oettinger Braugruppe! 3. Schätzen Sie anhand der bearbeiteten SWOT-Analyse und der Fallstudie die zukünftige Entwicklung der Oettinger Braugruppe ein!

164

Teil C Programmmanagement

1

Einführung zum Programmmanagement

Die Gestaltung des strategischen Leistungsprogramms ist der Kern der strategischen Planung. Die Planung vollzieht sich üblicherweise auf der Geschäftsfeldebene, eingebettet in die Planung der Geschäftsfelder auf Unternehmensebene. Eine strategische Geschäftseinheit (SGE) bezeichnet einen Unternehmensbereich, der sich durch die abgegrenzte Markttätigkeit im strategischen Geschäftsfeld und die eigenständige Ergebnisverantwortung auszeichnet. Das heißt, dass die Marktaufgabe unabhängig von den anderen strategischen Geschäftseinheiten des Unternehmens ist und der SGE einer eindeutig bestimmbaren Konkurrenz gegenüber steht. Die SGE kann autonom ihre Ziele, Strategien und Handlungsprogramme zur Erzielung von Wettbewerbsvorteilen festlegen und ihre Strategien sowie Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen eigenständig durchsetzen. Die Entwicklung von Strategien setzt die Kenntnis von Erfolgspotentialen voraus, die anhand systematischen Vorgehens zu ermitteln sind. Wesentliche Aufgaben bestehen hierbei in der Analyse der Produktlebenszyklen, der Erfahrungskurven, der Positionierung gegenüber der Konkurrenz sowie der langfristigen Markt- und Absatzprognose. Auf Grundlage der Analyse- und Prognoseergebnisse sind zwecks nachhaltiger Sicherung der Unternehmensexistenz erfolgsträchtige Märkte und Leistungen aus strategischer Sicht zu bestimmen. Die Planung umfasst nachfolgend die Auswahl der Ressourcen und die Festlegung der Geschäftsprozesse, die zur Erbringung des Leistungsprogramms erforderlich sind. Schließlich sind Maßnahmen zur Realisierung der Zielerreichung festzuschreiben und finanzwirtschaftliche Kriterien zu definieren, an denen der Umsetzungserfolg beurteilt werden kann. Bei der Strategieentwicklung steht ein umfangreiches methodisches Instrumentarium zur Beurteilung des Werts von Handlungsprogrammen und -alternativen zur Verfügung. In Auswahl nach der Anwendungshäufigkeit seinen einzelne hier aufgeführt, ohne jedoch in die Tiefe zu gehen: Die Szenariotechnik ermöglicht die Entwicklung und Analyse möglicher Zukünfte, indem aus Annahmen und kausalen Zusammenhängen eine logische Folge von Konsequenzen, Ereignissen und Zuständen konstruiert wird. Wertanalysen fördern mittels des Denkens in Wirkungen und Funktionen kreative Lösungen für komplexe Probleme, die quantitativen Methoden nicht zugänglich sind. Statische und dynamische Kalkulationsmethoden sowie Shareholder- und Stakeholder-ValueAnsatz sind hilfreich bei der Ermittlung (meist) monetärer Wertigkeiten von Programmen. Anhand von Wirkungsanalysen können die Effekte von Handlungspro167

1

Einführung zum Programmmanagement

grammen abgeschätzt und beurteilt werden. Bei multidimensionalem Zielsystem des Entscheidungsträgers kann mittels Nutzwertanalysen die Wertigkeit alternativer Handlungsprogramme beurteilt werden. Die SWOT-Analyse dient der Beurteilung und Auswahl von Handlungsfeldern durch Beurteilung der (internen) Stärken und Schwächen (Strenghts, Weaknesses) sowie der (externen) Chancen und Risiken (Opportunities, Threats) einer SGE. Portfoliotechniken dienen zur Reduzierung der realen Umfeldkomplexität durch Filterung, Verdichtung und Visualisierung in zwei Dimensionen. Im Weiteren werden das Produktlebenszykluskonzept, das Erfahrungskurvenkonzept sowie das Konzept der Portfoliotechnik als typische Instrumente der strategischen Programmplanung detaillierter betrachtet. Als Grundstrategien der strategischen Programmplanung stehen schließlich Innovations-, Renovations- und Eliminierungsstrategie im Fokus der Diskussion.

Strategische Programmplanung • Produktlebenszykluskonzept Der Produktlebenszyklus ist eine praktische Erfahrung, die jedoch theoretisch nicht belegt ist. Das Konzept unterteilt den Lebenszyklus eines Produkts oder einer Produktgruppe bei normalem Verlauf in vier bis fünf charakteristische Phasen (vgl. Abb. 1-1): In der (a) Einführungsphase erfolgt mit allmählich steigendem Umsatz der Aufbau der Produktion und des Vertriebs, wodurch zunächst Einführungsverluste entstehen. Wird zum Ende der Einführungsphase die Gewinnschwelle erreicht, beginnt die (b) Phase des Wachstums mit steigender Marktdurchdringung. Der Wendepunkt der s-förmig verlaufenden Umsatzkurve markiert den Beginn der (c) Reifephase, die bei allmählicher Umsatzstagnation in die (d) Sättigungsphase übergeht. Mit deutlichem Absinken des Umsatzes beginnt die (e) Degenerationsphase an deren Ende die Eliminierung oder Substitution des Produkts steht oder – bei Produktgruppenbetrachtung – die Nachfrage in den Ersatzbedarf übergeht. Einschränkungen in der Anwendung des Konzepts bestehen insofern, dass die Phasen nicht eindeutig gegeneinander abgrenzbar und – durch absatzpolitische Maßnahmen – die Phasendauern auch beeinflussbar sind. Zum Ende der Sättigungsphase ist der komplette Lebenszyklus durchlaufen, so dass erst ex post eine Abgrenzung der Phasen darstellbar ist. Insbesondere besteht keine Allgemeingültigkeit des heuristischen Konzepts, was Absatz- und Umsatzprognosen unsicher macht. Dennoch ist das Produktlebenszykluskonzept in Abgrenzung auf Produkte, Produktgruppen oder auch Branchen ein einfaches, qualitativ anwendbares Instrument.

168

Einführung zum Programmmanagement

a) Einführungsphase b) Wachstumsphase c) Reifephase d) Sättigungsphase e) Degenerationsphase

Produktgruppe

Fertigungskosten Lohnkosten pro Stück

Absatz Cash Flow

Abbildung 1-1: Produktlebenszyklus- und Erfahrungskurvenkonzept

Mit Verdopplung der kumulierten Produktionsmenge sinken die Lohnkosten potentiell um ca. 15 %

Produkt a

c

b

d

e

Zeit

Kumulierte Produktion

a) Einführungsphase b) “Preisschirm” c) Preiseinbruch d) Marktbereinigung und Stabilisierung

a

b

c

Mit Verdopplung der kumulierten Produktionsmenge sinken die realen Wertschöpfungskosten potentiell um 20 - 30 %

d

Kumulierte Produktion

Preis-Erfahrungskurve

•

Lernkurve Stückkosten

Stückpreis Stückkosten

Lebenszyklusanalyse

Kumulierte Produktion

Kosten-Erfahrungskurve

Erfahrungskurvenkonzept Lernkurve, Kosten-Erfahrungskurve und Preis-Erfahrungskurve sind drei weitere heuristische Konzeptionen, die ebenfalls keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können (vgl. Abb. 1-1). Bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde in der Industrie die Erfahrung gemacht, dass die Lohnkosten pro produzierte Einheit mit kumulierter Produktionsmenge sinken. In Ausprägung der 85 %-Lernkurve bedeutet dies bspw., dass bei Verdoppelung der kumulierten Produktionsmenge die Lohnkosten um 15 % sinken. Ursächlich hierfür sind Lerneffekte, aufbau- und ablauforganisatorische Verbesserungen, verbesserte Arbeitsmethoden und -koordination sowie verbesserte Produktionstechnik und Instandhaltung. Zu beachten ist, dass die Lernkurve keine Fixkostendegression einschließt. Die Lernkurve muss auch vor dem Hintergrund der Produktionssituation in den 30er Jahren und danach gesehen werden: Der überwiegende Anteil der Herstellkosten waren seinerzeit Lohnkosten. In heutigen kapitalintensiven Produktionssituationen, in denen Maschinenkosten meist bei Weitem überwiegen, ist deshalb bei Anwendung des Konzepts Vorsicht geboten.

169

1

1

Einführung zum Programmmanagement

Die Kosten-Erfahrungskurve wurde in den 60er Jahren vor dem Hintergrund der Massenproduktion formuliert: Bei Verdoppelung der kumulierten Produktionsmenge sinken die in der Wertschöpfung enthaltenen realen Stückkosten potentiell um 20 - 30 %. Der Effekt nimmt jedoch mit zunehmender kumulierter Menge ab. Die Lernkurve, Größendegressionen, Rationalisierung und technische Fortschritte sind die Ursachen für den Degressionseffekt. Vor- und Fremdleistungen zählen nicht zu den Wertschöpfungskosten, so dass bei aktuell geringer Fertigungstiefe der Effekt nur auf den eigenen Wertschöpfungsanteil bezogen werden kann. Die Erfahrungskurve ist in fast allen Industriezweigen bei Bauteilen, Produkten, Produktgruppen, Geschäftsfeldern oder auch Branchen zu beobachten. Vielfach liegen Preisverhandlungen mit Zulieferern antizipierte Degressionseffekte zugrunde. Der Preis-Erfahrungskurve liegt analog die Beobachtung zugrunde, dass die realen Stückpreise mit kumuliertem Produktionsvolumen sinken, wie dies nahezu exemplarisch bei brauner Ware festzustellen ist. Allgemein lassen sich vier Phasen unterscheiden: In der (a) Einführungsphase ist eine Kostendeckung gewöhnlich noch nicht realisierbar, so dass der Preis aus taktischen Gründen attraktiv gesetzt wird. Mit zunehmender kumulierter Produktionsmenge wird infolge der Kostendegression die Gewinnschwelle erreicht. In der (b) Phase des Preisschirms versucht der Marktführer, das bestehende Preisniveau bis zum Eindringen neuer Anbieter zu halten ("first mover's advantage"). Treten schließlich neue Anbieter in den Markt ein, so ist der Preisschirm nicht mehr zu halten und ein (c) Preiseinbruch erfolgt. Weitere Anbieter treten im Markt auf, wodurch eine Marktkrise entsteht, die letztlich über Geschäftsverkäufe und Austritte zu einer (d) Marktbereinigung führt. Mit der Marktkonsolidierung wird schließlich wieder eine Phase der Stabilität in dem nunmehr gereiften Markt erreicht. Das Erfahrungskurvenkonzept legt nachstehende Folgerungen nahe: (1) Ein im Vergleich zu Wettbewerbern hoher (relativer) Marktanteil ist eine günstige Vorraussetzung für den Erfolg. Zwar ist keine Erfolgssicherheit gegeben, jedoch kann die Lernkurve infolge hoher kumulierter Produktionsmengen schneller durchlaufen werden. (2) Märkte mit hoher Zuwachsrate sind vorteilhaft, weil auch bei einem konstanten relativen Marktanteil die Stückkosten sich potentiell schnell senken lassen. (3) Günstig ist ein hoher Anteil an Wertschöpfungskosten, um die Degressionseffekte in vollem Umfang nutzen zu können. Dies legt die vertikale Integration entlang der Wertschöpfungskette oder die Quasi-Internalisierung nahe. Auch die Standardisierung von Leistungen ist vorteilhaft, jedoch bei Variantenfertigung nur begrenzt realisierbar. Das Erfahrungskurvenkonzept darf keinesfalls als "Naturgesetz" perzipiert werden. Bei der Anwendung zu Zwecken der strategischen Programmplanung ist es deshalb stets kritisch zu hinterfragen. Die Verdichtung komplexer Sachverhalte zu einfachen Erfahrungskurven blendet zwangsläufig eine Vielzahl von Wirkungszu170

Einführung zum Programmmanagement

sammenhängen aus. Auch darf nicht übersehen werden, dass der Erstanbieter eventuell eine Pionierleistung für Nachahmer erbringt.

• Grundkonzeption der Portfoliotechnik Große Unternehmensberatungen wie The Boston Consulting Group (BCG), McKinsey&Company (McK) oder Arthur D. Little (ADL) haben Anfang der 70er Jahre im letzten Jahrhundert die Grundidee von Wertpapierportfolien in der strategischen Finanzplanung auf die Geschäftsfeldplanung (und andere Planungsobjekte) übertragen. In gleicher Weise wie im Finanzbereich sollen anhand von Geschäftsfeldportfolien die Chancen und Risiken von Geschäften beurteilt und Strategien zur Geschäftsfeldentwicklung konzipiert werden. Der Grundkonzeption der Portfoliotechnik basiert auf dem Erfahrungskurvenkonzept und (implizit) auf dem Produktlebenszykluskonzept. Dem Konzept liegt der Gedanke zugrunde, dass ein interner, direkt beeinflussbarer und ein externer, nicht (direkt) beeinflussbarer Faktor den Erfolg einer Geschäftseinheit bestimmen. Der externe Faktor repräsentiert die Attraktivität des Marktes, gegeben bspw. durch das Marktwachstum (BCG). Der Wettbewerbsvorteil zur Konkurrenz, bspw. in Ausprägung des relativen Marktanteils (BCG), gilt als interner Faktor, der durch absatzpolitische Maßnahmen gestaltbar ist. Bezogen auf ein Geschäftsfeld besteht der Zweck des Portfolios darin, die aktuellen oder geplanten Produkte oder Geschäfte aufgrund von Markt- und Geschäftsfeldanalysen in einer Matrix mit dem internen und dem externen Faktor als Achsen zu visualisieren. Die Positionierung in der Matrix mit vier (BCG) oder neun Feldern (McK), als Portfolio bezeichnet, erfolgt in Form von Kreisscheiben, deren Durchmesser jeweils den Umfang eines einzelnen Geschäfts repräsentiert. Aus der Position und der für die Zukunft erwarteten Positionsveränderung sind schließlich strategische Folgerungen zu ziehen. Normstrategien wie bspw. "Progressiv entwickeln", "Selektieren", "Sanieren" oder "Rückzug", die über die Felder des Portfolios gelegt werden, sollen Hinweise für Maßnahmen zur Erhaltung und Schaffung von Erfolgspotentialen vermitteln (vgl. Abb. 1-2) Das Ziel besteht darin, unter Beachtung der im Produktlebenszyklus jeweils erreichten Phase das Produktportfolio hinsichtlich des Cash-Flow ausgewogen zu gestalten. Produkte in der Reife- und Sättigungsphase ("stars" und "cash cows" nach BCG) sollen den Cash generieren, der für die Entwicklung von Innovationen sowie zur Promotion von jungen Produkten in der Einführungs- und Wachstumsphase ("dogs" und "question marks" nach BCG) verbraucht wird. Bei Produkten, die sich der Degenerationsphase nähern, ist rechtzeitig mit Desinvestition der Rückzug anzutreten.

171

1

Abbildung 1-2: Produkt-Markt-Portfolio mit Normstrategien (nach BCG)

cash-cows

Relativer Marktanteil (RMA)

hoch

(Interner Faktor)

1

Einführung zum Programmmanagement

niedrig

stars Pro gres s

Sele k San ie

dogs niedrig

iv e

Entw ickl

ung

tiere n

re n

Rück zug

Marktwachstum (MW)

??? hoch

(Externer Faktor)

Das Geschäftsfeldportfolio hebt die Bedeutung des relativen Marktanteils (der relativen Wettbewerbsposition nach McK) und des Marktwachstums (der Marktattraktivität nach McK) als die zwei wesentlichen strategischen Erfolgsfaktoren hervor. Den relativen Marktanteil kann ein Unternehmen über Preis, Qualität und Service beeinflussen. Die Relevanz des Faktors Marktwachstum betont die Vorteilhaftigkeit des Wettbewerbs in Wachstumsmärkten. Marktwachstum und relativer Marktanteil erklären jedoch nur einen geringen Anteil der Cash-Flow-Varianz, weshalb weitere Einflussfaktoren zwar zu berücksichtigen wären, in dem traditionellen Ansatz jedoch unberücksichtigt bleiben. Auch wenn heute noch der Portfolioansatz als das klassische Instrument der strategischen Planung angesehen wird, so sollte dieser jedoch nicht unkritisch adaptiert werden. Der Portfolioansatz ist ein Instrument unter vielen; und wie jeder Ansatz sollte dieser vor dem Hintergrund des Umfelds in der Entstehungszeit gesehen werden. Unter den gegebenen Prämissen gilt der Ansatz nur für Volumengeschäfte, bei denen Erfahrungen zur Wirkung kommen können. Wachstumsmärkte sind nicht in jedem Fall am attraktivsten; denn auch Verdrängungswettbewerb kann vorteilhaft sein. Die Punktpositionierung im Portfolio mag Präzision suggerieren, jedoch fehlt die Operationalisierung. So ist lediglich eine qualitative Betrachtung möglich, die nur eine Stoßrichtung aufzeigen kann.

172

Einführung zum Programmmanagement

Trotz dieser Einschränkungen sind Geschäftsfeldportfolien und in Übertragung auf weitere Problemfelder modifizierte und verfeinerte Portfolioansätze (bspw. Unternehmensportfolio mit Geschäftsfeldern, Technologieportfolio mit Markt- und Technologiedimension, Portfoliofilter u.a.m.) nützliche Hilfsmittel zur Versachlichung des Diskurses und zur Förderung kausalen Denkens bei Programmentscheidungen.

Grundstrategien der Programmplanung Während Produktlebenszyklus-, Erfahrungskurven- und Portfoliokonzept primär die Marktseite der Leistungserstellung beleuchten, stellt der Technologiezyklus auf den Entwicklungsstand der Produkt- und Prozesstechnologien ab, die den Erzeugnissen zugrunde liegen. Bei Markteinführung einer Innovation dominiert gewöhnlich die funktionsbezogene Technologiesicht, weil das Produkt die funktionalen Erwartungen von Kunden erfüllen oder übertreffen muss. Mit eintretendem Umsatzwachstum gewinnt in den Leistungsbereichen die Standardisierung bei Produkt und Prozessen zwecks Kostensenkung an Bedeutung. Sind funktionsbezogen die Rationalisierungspotentiale weitgehend ausgereizt, so bieten sich aus funktionsübergreifender Sicht – unter Einbeziehung externer Wertschöpfungspartner – Potentiale für Verbesserungsinnovationen. Ist das Potential an inkrementellen Innovationen erschöpft, so erfolgt in der letzten Phase des Technologiezyklus vorwiegend bei komplizierten Erzeugnissen der Übergang zur Produktmodularisierung, um weitere Produktivitätspotentiale – auch durch Veränderung der Wertschöpfungsstruktur – zu erschließen.

Tabelle 1-1:

Technologiezyklus

Technologiesicht

Potentialorientierung auf …

funktionsübergreifend funktionsbezogen

… Leistungsbereiche

… Markt

Verbesserungsinnovationen

Modularisierung

Standardisierung

Innovation

Voraussetzung für sie nachhaltige Sicherung der Existenz einer SGE ist ein ausgewogenes, zukunftssicheres Produktportfolio. Die Positionierung der Geschäfte der SGE im Markt sowie im Lebens- und im Technologiezyklus soll Defizite aufdecken und Anstoß für die Entwicklung von marktorientierten Programmstrategien geben. Inno-

173

1

1

Einführung zum Programmmanagement

vation, Renovation und Eliminierung verkörpern drei Grundstrategien, die produktbezogen eingesetzt aber innerhalb der SGE unter dem Ziel eines ausgewogenen Portfolios produktübergreifend ausbalanciert sein müssen.

• Innovationsstrategie Empirische Untersuchungen belegen, dass innovative Unternehmen i.d.R. besonders erfolgreiche Unternehmen sind. Häufig sind mehr als die Hälfte der Produkte im Produktprogramm jünger als fünf Jahre. Die Anregung zur Innovation kann von der Nachfrageseite (market pull) oder aus den Leistungsbereichen des Unternehmens kommen (technology push). Der Prozess von der Lösungssuche (Invention) bis zur erfolgreichen Umsetzung in eine marktfähige Leistung (Innovation) kann – in Abhängigkeit von der Branche – bis zu 20 Jahren dauern. Die Innovationsstrategie bedarf aus diesem Grunde einer besonders sorgfältigen Vorbereitung und Umsetzung. Im Vorfeld von Produktentwicklung und -gestaltung ist deshalb die Programmstrategie in enger Abstimmung mit der Prozessstrategie zu entwickeln (s. oben).

• Renovationsstrategie Bei der Renovationsstrategie können drei Untertypen unterschieden werden: Die Intensivierungsstrategie ist angebracht, wenn sich die Wettbewerbsposition entscheidend verbessert hat, weil bspw. ein Konkurrent ausgeschieden ist oder die Absatzchancen infolge Bedarfsverschiebung gestiegen sind. Die Weichenstellung in Richtung Wachstum bedingt gewöhnlich eine Kapazitätserweiterung und demzufolge Investitionen in Produktionsanlagen. Zur Unterstützung des Wachstums sind flankierend absatzpolitische Maßnahmen zweckdienlich. Die Variationsstrategie zielt mittels sukzessiver Produktanpassung an allgemeine Entwicklungen im Geschäftsumfeld (bspw. technischer Fortschritt, Umweltpolitik, Mode, Geschmack etc.) auf die Wiederbelebung des Absatzes (Relaunch). Das Produkt wird deshalb überarbeitet und mit (leicht) veränderten Funktionen oder mit veränderten formalen Attributen wieder in den Markt gebracht. Bei Fahrzeugbaureihen ist dieses Vorgehen im größeren Schritt beim Modellwechsel und in kleineren Schritten bei den jährlichen Modellpflegemaßnahmen zu beobachten. Die Differenzierungsstrategie hat zum Ziel, von einem Grundprodukt unterschiedliche Varianten abzuleiten, um die Käuferschicht breit abzudecken. Bei Fahrzeugbaureihen lässt ich diese Strategie gut verfolgen, wenn bspw. Stufenhecklimousine, Schräghecklimousine, Cabriolet, Caravan u.a. Varianten auf das gleiche Grundmodell zurückzuführen sind. Während bei der Variationsstrategie die Varianten in zeitlicher Abfolge im Markt eingeführt werden, werden bei der Differenzierungs-

174

Einführung zum Programmmanagement

strategie die Varianten gleichzeitig im Markt angeboten, wodurch die Komplexität der Produktions- und Logistikprozesse vergleichsweise erheblich gesteigert wird.

• Eliminierungsstrategie In der Degenerationsphase steht schließlich Eliminierung eines Produkts oder einer Produktgruppe zur Diskussion. Die kann der Fall sein, wenn Erzeugnisse ihren Wettbewerbsvorteil aufgrund von technischen Fortschritten oder überlegenen Konkurrenzprodukten verloren haben. Aber auch gesetzliche Vorschriften, veränderte Sicherheitsanforderungen oder negative Ergebnisse von Warentests können Produkte obsolet werden lassen. Das Ziel in dieser Phase ist deshalb die Desinvestition.

Literaturhinweise Gerpott, T. J.: Strategisches Technologie- und Innovationsmanagement, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2005. Pepels, W.: Produktinnovation, Markenpolitik, Programmplanung, Prozessorganisation, München [u.a.] 2003. Talke, K.: Einführung von Innovationen: Marktorientierte strategische und operative Aktivitäten als kritische Erfolgsfaktoren, Wiesbaden 2005. Kuß, A.: Marketingplanung: Einführung in die marktorientierte Unternehmens- und Geschäftsfeldplanung, 3., überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2002.

175

1

2

Automobilhersteller ohne eigene Marke*

Die Automobilbranche im Wandel Der Automobilmarkt hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten vom Verkäufer- zum Käufermarkt gewandelt. Die zunehmende Globalisierung der Märkte, das Zusammenwirken von stetig steigendem Wettbewerbs- und Kostendruck in Verbindung mit einer wachsenden Umweltdynamik haben insbesondere in der Automobilbranche dazu geführt, dass die Schaffung und Erhaltung langfristiger Erfolgspotentiale entscheidend von der Anpassungsfähigkeit der Unternehmen an die sich ändernden Marktbedingungen abhängt. Automobilhersteller reagieren auf die Veränderung des Umfelds mit einer wachsenden Marken- und Modellvielfalt sowie der Verkürzung der Modelllebenszyklen (s. Tabelle 2-1). So haben die Zahl der Serienanläufe aber auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in den letzten 20 Jahren signifikant zugenommen. Kürze Modellebenszyklen führen zu sinkenden Pay-off-Perioden und zwingen auch zur Senkung der Entwicklungsdauer. Zur Abkürzung der Entwicklungszeit setzen die Automobilunternehmen (OEM) vorwiegend auf die Strategie der Verringerung der Entwicklungs- und der Fertigungstiefe (vgl. Tabelle 2-2). Beides lässt den Koordinationsaufwand über die Unternehmensgrenzen hinweg in qualitativer sowie quantitativer Hinsicht steigen. Die hieraus resultierende Komplexität macht eine Reorganisation der logistischen Prozesse erforderlich. Während in den 90er Jahren primär Kostensenkung und Rationalisierung ("LopezEffekt"), im Fokus standen, müssen die Zulieferunternehmen den Wandel von Komponentenlieferanten zum Entwicklungs- und Systempartner (OES) des Kunden bewältigen. Stellten Zulieferer in der Vergangenheit Teile und Komponenten noch in Form reiner Auftragsfertigung her, so wird heute zunehmend die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit in der Form einer strategischen Partnerschaft mit ausgeprägten Entwicklungs-, Produktions- und Logistikkompetenzen gefordert (s. Tabelle 2-3).

*

Unter Mitarbeit von Florian Winter

177

2

Automobilhersteller ohne eigene Marke

Infolge des steigenden Kostendrucks und stagnierenden Absatzes erscheint vielen Automobilunternehmen eine Produktionsverlagerung an Standorte mit niedrigen Lohn- und Lohnnebenkosten und schnell wachsenden Märkten, insbesondere nach Osteuropa oder Asien/Pazifik, zunehmend attraktiv. In der Praxis werden die Erwartungen aufgrund von Logistikproblemen im Produktionsnetzwerk, Qualitätseinbrüchen und zum Teil massiven Produktionsausfällen oft nicht erfüllt. Das Konzept eines transnationalen Unternehmens – im vorliegen Fall der Konzern Magna International Inc. – bietet ohne Produktionsverlagerung eine Option zur Realisierung von Wettbewerbsfähigkeit durch Effizienz und Flexibilität sowie Marktnähe und Innovationsfähigkeit als Ergebnis ganzheitlicher, integrierter Lernprozesse. Das Angebot von Magna International Inc., Zulieferer von Systemen, Komponenten und kompletten Modulen, fertigt mit seinen verbundenen Unternehmen (s. Abb. 2-1) folgende Produkte: Pressteile, Fahrzeugrahmen- und Chassissysteme (Cosma), Anbauteile und Außenverkleidungen z.B. Kühlergrill, Stoßfänger (Decoma), Innenausstattungs- und Schließkomponenten, Systeme und Module (Intier Automotive), Spiegelsysteme (Magna Donnelly), Allrad- und Antriebssysteme (Magna Drivetrain), z.T. vollständige Automobilentwicklung und Produktion, Class A Pressteile (Magna Steyr), Motor- und Getriebekomponenten sowie Tank- und Kühlsysteme (Tesma). Die Magna Steyr AG & Co KG mit Firmensitz in Oberwaltersdorf, Österreich, ist eine hundertprozentige Tochter der Magna International Inc., Ontario, Kanada. Der Konzern als der weltweit am höchsten diversifizierte Automobilzulieferer besitzt 224 Produktionsstätten und 60 Entwicklungs- und Konstruktionszentren in 22 Ländern (USA, Kanada, Mexiko, Europa, Südamerika und Asien Pazifik). Der Umsatz im Geschäftsjahr 2005 belief sich auf 22,8 Mrd. US $. Insgesamt sind mehr als 82.000 Mitarbeiter für das Unternehmen tätig (Dezember 2005).

Abbildung 2-1: Globale Struktur Magna International Inc.

Decoma

Intier Automotive

Executive Strategy Commitee

Cosma

Magna Drivetrain

Tesma Magna Steyr 178

Magna Donelly

Automobilhersteller ohne eigene Marke

Der Automobilbau in Steyr Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts fertigte Johann Puch sein erstes Fahrzeug in Serie, die Voiturette, die durch ihre "hervorragenden Bergsteigeigenschaften" bekannt wurde und begründete damit die 100jährige Tradition des steirischen Automobilbaus. Im Jahre 1957 wurde am Standort Graz-Thondorf die erste größere Serienfertigung des Kleinwagens Marke "Steyr-Puch 500" aufgenommen. Durch einen Assembling Vertrag mit Fiat war es möglich, die Rohkarosserie sowie Teile der Lenkung des Fiat 500 zu verwenden und auf eine entsprechende Eigenentwicklung zu verzichten. Von 1969 bis zu Produktionseinstellung 1975 führte die kontinuierlich sinkende Nachfrage dazu, dass sämtliche Teile bis auf den Motor von Fiat übernommen wurden. Im Auftrag des Österreichischen Bundesheeres, dem die günstigen Geländeeigenschaften des Puch 500 aufgefallen waren, wurde 1957 der Haflinger als erstes leichtes allradgetriebenes Universalfahrzeug entwickelt und von 1959 bis 1974 in Serie produziert. Mit der Entwicklung und Fertigung des Haflingers sowie des Nachfolgemodells, dem Pinzgauer, gelang Steyr-Daimler-Puch der Erwerb führender Kompetenzen im Bereich von Allradfahrzeugen. Die Wurzeln des Unternehmens Magna Steyr lassen sich bis in das Jahr 1864 zurückverfolgen. Die seinerzeit gegründeten "Josef und Franz Wendl & Comp., Waffenfabrik und Sägemühle" wurde im Jahre 1926 zur "Steyr-Werke AG". Aus der Fusion der Austro-Daimler AG mit den Steyr-Werken (1928) und der nachfolgenden Fusion mit den Puchwerken (1934) ging das Unternehmen "Steyr-Daimler-Puch AG" hervor, das 1935 in das Handelsregister in Wien eingetragen wurde. Im Jahre 1957 gründete der österreichische Wahlkanadier Frank Stronach die Firma "Multimatic Investments" in einer Garage in Toronto, die Werkzeuge an die Automobilindustrie lieferte. Zwölf Jahre später fusionierte Multimatic mit der börsennotierten "Magna Electronics" und wurde 1973 in "Magna International Inc." umbenannt. 1998 gelang Magna die Übernahme der bis dahin im Besitz der österreichischen Creditanstalt befindlichen (und somit öffentlich-rechtlichen) Steyr-Daimler-Puch AG. Im Jahre 2001 gingen aus dem Traditionsunternehmen mit Gründung der "Magna Steyr AG & Co KG" die Geschäftsbereiche "Fahrzeugtechnik", "Powertrain" (seit 2004 "Drivetrain") und "Automotive Engineering" hervor. Hierzu erfolgte in 2002 eine Umbenennung von "Steyr-Daimler-Puch Fahrzeugtechnik" (SFT) in "Magna Steyr Fahrzeugtechnik"; aus "Steyr Powertrain" wurde "Magna Steyr Powertrain". "Unser wichtigstes Erbe ist eindeutig unsere Allradkompetenz. Und davon stecken in diesem Unternehmen mehr als 100 Jahre Erfahrung" erzählt stolz Hubert Hödl, Marketingvorstand Magna Steyr. Magna Steyr nimmt eine Doppelrolle in der Automotive Branche wahr: Zum einen ist das Unternehmen als First-tier Supplier und Entwicklungspartner zahlreicher OEM wie Daimler-Chrysler (Mercedes-Benz, Chrysler, Jeep), VW (Audi, VW), General Motors (Saab) und BMW tätig, zum anderen verfügt es gleichzeitig als strategischer Wert-

179

2

2

Automobilhersteller ohne eigene Marke

schöpfungspartner der Automobilhersteller in der Automobilproduktion über alle Fähigkeiten, die einen Fahrzeughersteller auszeichnen. "Das Ziel sind nicht sechs bis acht einzelne Bäume, sondern ein schöner kleiner Wald", so Harald Wester, Entwicklungschef Magna Steyr, zu der Aufstellung des Unternehmens. So wurde im Oktober 2001 im Rahmen einer Kooperation das von Ingenieuren der BWM Group ausgearbeitete Fahrzeugkonzept des "X3 Sports Activity Vehicle" an Magna Steyr übergeben. Das Unternehmen übernahm die vollständige Serienentwicklung des Fahrzeuges und begann Anfang 2004 mit der Produktion. Zur Fertigung des X3 werden, wie bei allen BMW Fahrzeugen, Teileumfänge aus dem "BMW Baukasten" verwendet. Dr.-Ing. Göschel, Mitglied des Vorstandes im Bereich Produktion und Einkauf bei BWM, bemerkte hierzu: "Wir stellen schon im Entwicklungsprozess sicher, dass der X3 durch und durch ein BMW sein wird. Teilekomponenten, bei denen BMW einen Know-how Vorsprung hat, werden weiterhin ausschließlich von BMW Ingenieuren entwickelt." Die Zusammenarbeit umfasst auch Schulungen von SFT Mitarbeitern bei der BMW Group. Magna Steyr Fahrzeugtechnik (SFT) fertigt derzeit am Standort Graz-Thondorf neben dem BMW X3 die Fahrzeuge Mercedes E350 (4MATIC) sowie Mercedes G-Klasse, Jeep Grand Cherokee, Chrysler Voyager und Saab 9-3. Der Umsatz in 2004 stieg von 2,72 Mrd. $ im Vorjahr auf 6,17 Mrd.$, das EBIT von 49 auf 206 Mio. $ bei einem gleichzeitigen Anstieg der Fahrzeugproduktion um 91%. Damit konnte Magna seine Position als weltweit größter Auftragshersteller von Automobilen weiter ausbauen. Der Fertigungsprozess von Magna erfordert eine unterbrechungsfreie Versorgung mit Zulieferteilen, die sowohl Just-in-Time als auch Just-in-Sequence erfolgen muß. Komplexe Teile der Montagematerialversorgung erfolgen daher über das nahegelegene Logistikareal. Hier werden auf einer Fläche von etwa 50.000qm die von einer Vielzahl an Zulieferern angelieferten Teile vereinnahmt, konsolidiert und eingelagert. Auf Abruf werden die erforderlichen Warenkörbe kommissioniert und durch beauftragte Transporteure an den Bestimmungsort angeliefert. "Wo gebaut wird, hängt von den Bedürfnissen der Kunden ab; Voraussetzung ist, dass wir mehrere Kunden und mehrere Plattformen über wenigstens zwei Zyklen haben" charakterisiert Manfred Remmel, CEO Magna Steyr, die Standortpolitik. Seit Juli 2004 liegt die Verantwortung für die Inbound Logistik in den Händen der "lila Logistik AG". Der Vertrag mit dem Logistikdienstleister hat eine Laufzeit von sechs Jahren und ein Volumen von 65 Mio. €. Seit dem 2.Quartal 2005 wird in Graz zusätzlich die Produktion der Chrysler Modelle 300 C als Limousine und Kombi aufgenommen; die Kapazitätsgrenze des Standortes liegt bei etwa 250.000 Fahrzeugen pro Jahr. Eigenen Angaben zufolge plant Magna im Falle weiterer Großaufträge ein neues Werk, vorzugsweise in Osteuropa, zu errichten; ein weiteres Werk neben Graz-Thondorf kommt hierbei nicht in Betracht. Statt eines beabsichtigten Börsenganges für Magna entschied sich Firmengründer Stronach, nun

180

Automobilhersteller ohne eigene Marke

auch die Töchter Intier, Decoma und Tesma von der Börse zu nehmen. Manfred Remmel verteidigte die Entscheidung und ließ verlauten, dass das Unternehmen ohnehin sein "Wachstum grundsätzlich aus eigener Kraft bewältige". Anlässlich des 6. internationaler Allradkongresses zeigt Manfred Remmel auf, wo er die Zukunft von Magna sieht: "Das Engineering ist die Eintrittskarte beim Kunden und ermöglicht uns den Zugang zu allen wichtigen OEM." Im Juli 2002 eröffnete Magna mit dem "Magna Steyr Engineering Center Hungaria KFT" in der Universitätsstadt Györ, Ungarn, seine erste Engineering Niederlassung in Osteuropa. Vor vier Jahren hatte das Unternehmen bereits vor Ort die Produktionsaufnahme des Audi TT durch einen "Resident Engineer" unterstützt, nachdem zuvor die vollständige Entwicklungsarbeit in Graz durchgeführt worden war. Im Juni 2004 erfolgte der Aufbau fünf weiterer Engineering Standorte in Frankreich durch die Übernahme der "Group Duarte" mit 300 Mitarbeitern. Im Rahmen der Entwicklungsarbeit bei der Realisierung von Komplettprojekten (wie im Falle des BWM X3 oder Saab 9-3 Cabriolets) nimmt Magna eine Aufteilung des Gesamtfahrzeuges in sechs bis acht Module vor (z.B. Karosserie, Fahrwerk und Antriebsstrang). Zusätzlich arbeiten gleichzeitig zwischen zwei und drei projektübergreifende Teams als Korrekturfaktor, um den Überblick über das Ganze zu behalten, an der Entwicklung des Gesamtsystems.

Der "Mercedes" unter den Puch Im Jahre 1973 schlossen Steyr-Daimler-Puch und Daimler-Benz einen Kooperationsvertrag zur gemeinsamen Entwicklung, Produktion und zum Vertrieb geländegängiger Fahrzeuge ab. Zuvor durchgeführte Studien hatten ergeben, dass eine Marktnische im Bereich leichter Geländefahrzuge mit guter Straßentauglichkeit bestand. Obwohl die Absatzprognosen, insbesondere im Bereich der privaten Nutzung mit großer Unsicherheit behaftet waren, wurde das Projekt zielstrebig auf den Weg gebracht. War ursprünglich eine Vermarktung als Nachfolgemodell des Haflingers ("H II"), später dann unter dem Namen "Askari" (arab.: Soldat) geplant, setzte sich jedoch letztlich die neutralere Bezeichnung "G" wie Geländewagen durch. Andreas Langenbeck, Leiter strategisches Design Mercedes-Benz, bemerkt hierzu: "Wir haben die Form der G-Klasse praktisch neu erfunden. Vergleichbare Fahrzeuge, die den Charakter eines echten Geländewagens mit den Erfordernissen eines sicheren und komfortablen Straßenfahrzeugs vereinten, gab es damals nicht." Im Jahre 1977 gründeten die beiden Unternehmen gemeinsam die "Geländefahrzeug Gesellschaft m.b.H" (GFG), an der sie zu jeweils gleichen Teilen beteiligt waren. Die Serienproduktion wurde 1979 in dem eigens dafür errichteten Werk in Graz aufgenommen. Die verwendeten Stanz- und Pressteile sowie Verteilergetriebe stammten

181

2

2

Automobilhersteller ohne eigene Marke

von SFT; Daimler-Benz lieferte die übrigen Komponenten, insbesondere Motor und Antriebsstrang, aus deutschen Werken zu. "In der Produktion setzten wir viel auf Handarbeit. Dabei ist es auch bis heute geblieben. Wir haben zwar im Laufe der Zeit versucht, alles mehr zu mechanisieren, aber die Vielzahl der Modellvarianten können wir bei der vergleichsweise kleinen Serie nur mit einem hohen Anteil qualifizierter Handarbeit in der gewünschten Qualität und auch kaufmännisch vertretbar realisieren" beschreibt Günter Tangemann, Produktionsleiter der G-Klasse in Graz bis 2001, die Situation. In Österreich, der Schweiz, Lichtenstein, im Baltikum sowie in England wurden die G-Modelle bis Ende 1999 unter dem Markennamen "Puch G" vertrieben; in allen übrigen Ländern wurde die Markenbezeichnung "Mercedes G" verwendet. Daimler-Benz nutzte zum Absatz sowohl die Sparte Personenwagen als auch Nutzfahrzeuge. 1981 wurde die GFG aufgelöst; während sich SFT nun vollständig auf die Produktion konzentrierte, übernahm Mercedes die Weiterentwicklung und den Vertrieb. Die G-Klasse wird weiterhin bis zur voraussichtlichen Produktionseinstellung Ende 2005 in Graz gefertigt.

Das Projekt Eurostar Im Oktober 1991 wurde in Graz die "Eurostar Automobilwerk GmbH & Co. KG" als "50/50"-Joint-Venture zwischen SFT und Chrysler Austria gegründet. Der erklärte Zweck bestand in der Fertigung des Chrysler Voyager, der im April 1992 in Serie ging. Im Laufe der folgenden zehn Jahre wurden knapp 440.000 Voyager hergestellt, der als das meistverkaufte Fahrzeug in der Kategorie "Minivan" gilt. Bereits 1994 folgte im benachbarten Stammwerk der Produktionsstart des Jeep Grand Cherokee. Sämtliche Diesel- und Rechtslenkermodelle werden bis heute ausschließlich in Graz gefertigt und in alle Welt (außer Nord- und Südamerika) exportiert. Im darauf folgenden Jahr präsentierte SFT Daimler-Benz ihre in Eigeninitiative weiterentwickelte Allradtechnologie, die nun speziell für den Einsatz in leistungsstarken PKW konzipiert war. Wenige Monate später wurde ein Vertrag über die serienmäßige Entwicklung des allradgetriebenen Mercedes E210 4MATIC abgeschlossen, der schließlich Ende 1996 vom Band lief. Auf Grund der äußerst günstigen Absatzlage erweiterte Daimler-Benz kurze Zeit später die vertraglich festgelegte Stückzahl erheblich; zudem fertigte Magna ab dem Jahr 2000 "außer Programm" 25.000 heckgetriebene Standardmodelle ("T-Modell"). Noch im selben Jahr wurde der Vertrag über die Fertigung der E-Klasse bis zum Jahr 2010 verlängert. Gegen Ende der 90er Jahre begann Daimler-Benz weltweit mit dem Bau neuer Automobilwerke. So wurde unter anderem in Tuscaloosa im US-Bundesstaat Alabama ein neues Werk zur Fertigung der M-Klasse (1997) und in Brasilien ein weiteres Werk zur Fertigung der A-Klasse (1999) errichtet. Im Juni 1999 übernahm Daimler-Chrysler

182

Automobilhersteller ohne eigene Marke

überraschend 100% der Anteile am Eurostarwerk*; das Unternehmen ließ verlauten, dass gemäß Joint-Venture-Vertrag diese Übernahme ohnehin für das Jahr 2004 geplant gewesen sei. Trotz der geänderten Besitzverhältnisse wurde die bisherige Produktion unverändert weitergeführt. "Nachdem wir bereits in unserem amerikanischen Werk in Tuscaloosa die Produktionskapazität um 30 Prozent erweitert haben, starten wir jetzt die Produktion der M-Klasse in Graz, um der überaus großen Nachfrage [...] in Europa gerecht zu werden und die Wartezeiten zu verkürzen" informierte hierzu Jürgen Hubbert, Mitglied des Vorstandes Daimler Chrysler bis 2004. Zwischen Mai 1999 bis zur planmäßigen Produktionseinstellung im Juli 2002 wurden 77.000 Fahrzeuge der M-Klasse für den europäischen Markt gefertigt. Dabei erfolgte ein Großteil der Produktion zusammen mit dem Jeep Grand Cherokee auf derselben Fertigungslinie. Nach Investitionen in Höhe von 58 Mio. € in den Ausbau des Eurostar Werkes und weiteren 82 Mio. € bei Zulieferern nahm Daimler im Juli 2001 die Produktion des PT Cruiser im Eurostar Werk auf, ergänzend zu der Fertigung, die bislang auf den Standort Toluca, Mexiko beschränkt war. Weniger als fünf Monate später gab das Unternehmen bekannt, dass die Produktion am Standort Graz eingestellt und wieder vollständig nach Mexiko verlagert wird. In der Presseerklärung von Daimler-Chrysler im Dezember 2001 wurde die Produktionseinstellung mit den Worten begründet: "Das ist eine wirtschaftliche Entscheidung. Es ist effizienter, die Produktion des PT Cruiser für alle Märkte an einem Ort zu bündeln." Noch an demselben Tag wurde bekannt, dass Daimler-Chrysler Verhandlungen über den Verkauf des Eurostar Werkes an Magna Steyr aufgenommen hatte. Bereits zwei Monate später wurde eine vorläufige Übereinkunft erzielt; schließlich wurde das Werk im Juli 2002 endgültig übergeben. Der Vertrag beinhaltete die Übernahme von 800 der 2000 Beschäftigten, die fortan die Produktion des Voyagers, im Stammwerk von Magna Steyr weiterführen sollten. Die übrige Belegschaft wurde in eine Stiftung übernommen, um später die Produktion des BMW X3 zu übernehmen. Innerhalb von acht Wochen wurde die Voyager-Fertigung in das nebengelegene Stammwerk transferiert. Dabei wurde die Fertigungslinie zum Rohbau des Voyagers vollkommen neu aufgebaut; die Endmontage hingegen vollständig in die bereits vorhandenen Anlagen zur Fertigung des Jeep Grand Cherokee integriert. Die Fortführung der Produktion des Voyagers wurde vertraglich bis 2006, die des Cherokee bis 2009, bei einer durchschnittlichen Jahresproduktion von 35.000 bzw. 30.000 Fahrzeugen vereinbart. Zum Jahreswechsel 2004/2005 wurde anlässlich der Umstellung des Cherokee auf die neueste Modellreihe eine Modernisierung der Fertigungsanlage (Investitionsvolumen 23 Mio. €) durchgeführt. Dabei wurden 75% der *

Im Sept. 1998 wurde die Fusion der Daimler-Benz AG mit der Chrysler Corp. von den Aktionären beider Unternehmen gebilligt. Seit Nov. 1998 ist die Aktie des Konzerns "DaimlerChrysler" börsennotiert.

183

2

2

Automobilhersteller ohne eigene Marke

Förderanlagen und der Montage ersetzt. "Dies erlaubt dem Werk, neue Fahrzeuge hinzuzufügen, ohne die Produktion der bestehenden Modelle zu unterbrechen" erläutert Manfred Remmel die Entscheidung.

Tabellenanhang Tabelle 2-1:

Anzahl in Deutschland angebotener Pkw-Marken

1982

1985

1988

1991

1994

1997

2000

36

35

37

47

47

46

50

Quelle: Automobil Produktion (Marketing Systems)

Tabelle 2-2:

Entwicklungsverlagerung auf die Zulieferer; Schätzungen in % Getriebe

Achsen

Innenraum

Chassis

Motor

Karosserie

2005

44

33

26

11

7

7

2010

74

61

53

29

24

20

Quelle: Automobil Entwicklung (Arthur D. Little: Wachstumsfinanzierung in der Automobil-Zulieferindustrie)

Tabelle 2-3:

Entwicklung der Wertschöpfungsanteile von Herstellern und Zulieferern; Durchschnittswerte in Prozent Hersteller

Zulieferer

2000

35

65

2005

30

70

2010

25

75

Quelle: Automobil Produktion (AP-Archiv))

184

Automobilhersteller ohne eigene Marke

Tabelle 2-4:

Fahrzeugproduktion Magna-Steyr in Tsd. pro Jahr; Volumina geschätzt 1999

2000

2001

2002

2003

2004

4,1

4,0

5,8

9,0

6,7

Jeep Grand Cherokee

35,8

36,4

24,8

29,9

Mercedes-Benz E-Klasse 4MAtic (1996-2006)

17,7

19,0

17,4

22,8

Mercedes-Benz M-Klasse (1999-2002)

14,9

25,8

23,0

13,9

Mercedes-Benz G-Klasse

Chrysler Voyager

15,6

Saab 9-3 Cabrio

2005

2006

6,1

X

X

29,4

24,0

X

X

23,5

25,9

X

X

40,5

40,1

X

X

9,8

18,3

X

X

112,8

X

X

X

X

BMW X3 Chrysler 300C Jeep Commander Gesamtfahrzeugproduktion

X 72,5

85,2

71,0

91,2

109,9

227,2

>250

Aufgabenstellung 1. Welche Gründe könnten ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass Magna Steyr die Produktion unter eigenem Markennamen einstellte? 2. Worin besteht das Geschäftsmodell von Magna Steyr? Welche Chancen und Risiken ergeben sich daraus in Bezug auf die Automotive Branche? 3. Worin liegt der besondere Nutzen einer Kooperation von Magna Steyr mit OEM wie Daimler-Chrysler aus Sicht der jeweiligen Partner bzw. aus übergeordneter, gemeinsamer Sicht? 4. Welche Gründe sprechen für die Übertragung der Verantwortung für die Inbound Logistik von Magna Steyr auf die "lila Logistik AG"? 5. Warum verfügt Magna Steyr über Entwicklungsstandorte in Ungarn, Indien und Japan, nicht jedoch über Produktionsniederlassungen in diesen Ländern?

185

2

3

Sorgenfall Smart*

Die Geschichte von Smart ist länger als gedacht Smart steht für ein ganz neues Mobilitätskonzept, das insbesondere ein hohes Maß an Wendigkeit, Sicherheit und Umweltfreundlichkeit bietet. Obwohl man den Smart erst seit etwa sieben Jahren kaufen kann, hat er schon Jahre vorher die Planer beschäftigt. Bereits im Jahr 1972 begann Johann Tomforde mit seinem Team bei der damaligen Daimler-Benz AG damit, einen völlig neuen städtischen Kleinwagen zu entwerfen. Erst 1989 verkündete Nicholas G. Hayek, Vorsitzender der Swatch-Gruppe und ungekrönter Uhrenkönig in der Schweiz, ein günstiges Auto mit originellem Design zu entwerfen und einige Jahre später wurde es konkret: Im April 1994 wird die Micro Compact Car AG (MCC) in Biel (Schweiz) gegründet. Im Juni des gleichen Jahres beginnt die Entwicklungsphase des Smart und ein Produktionswerk entsteht zwölf Monate später im französischen Hambach. Im Juli 1998 startet die Produktion und im Oktober die europäische Markteinführung des Smart Fortwo, wie er mittlerweile heißt. Die Daimler-Benz AG übernimmt im gleichen Monat die restlichen von der Swatch Group gehaltenen Anteile an der Micro Compact Car AG, die damit ein hundertprozentiges Tochterunternehmen von Daimler-Benz wird. Die logische Konsequenz aus dieser Übernahme ist die Anfang 1999 stattfindende Übertragung der Geschäftsaktivitäten von Biel nach Stuttgart und die Umbenennung in "Smart GmbH". Im Zuge des im darauf folgenden Jahres startenden Smart Roadster wird die Smart GmbH von der Einprodukt- zur Mehrproduktmarke. 2003 wird ein modifiziertes Firmenlogo etabliert, das ein graphisches Symbol mit dem Schriftzug Smart zu einer Wort-Bildmarke verbindet. Der neue Markenclaim "open your mind" steht dabei sowohl für die Kunden und Produkte als auch die Unternehmensphilosophie von Smart. Die Modellpalette wird im April 2004 durch den Smart Forfour, einen Viersitzer, erweitert. Ulrich Walker ist seit Oktober 2004 Geschäftsführer der Smart GmbH. In zwei Wochen hält er im Rahmen der nächsten DaimlerChrysler-Vorstandssitzung einen Vortrag, in dem er, zusammen mit Eckhard Cordes, Mercedes-Chef, für den Erhalt der Tochter Smart plädieren möchte. Diese wurde in den letzten Monaten zum Sorgenkind des Unternehmens, denn sie schreibt seit fünf Jahren rote Zahlen. Schwarze Zahlen sind für 2006 geplant, zurzeit sieht es jedoch so aus, dass dieser Plan nicht eingehalten *

Unter Mitarbeit von Silke Steiner

187

3

Sorgenfall Smart

werden kann. Walker analysiert die Verkaufszahlen des letzen Jahres; doch um sich umfassend vorzubereiten, holt er Meinungen einiger enger Mitarbeiter ein.

Die Verkaufszahlen lassen zu wünschen übrig Ulrich Walker beschließt, zuerst mit Anja Kuckulenz, Leiterin Controlling, zu sprechen. Sie hat eine Übersicht der verschiedenen Smart-Modelle vorbereitet, in der sie die Verkäufe aus dem vergangenen Jahr mit denen des Vorjahres, 2003, vergleicht. Frau Kuckulenz erläutert: "Rund 80.000 Forfours müsste Smart pro Jahr absetzen, um mit diesem Fahrzeug einen profitablen Gewinn zu erzielen. 2004 und dem damit ersten Jahr des Forfours verkauften wir jedoch nur 59.000 Stück. Allerdings konnten wir den gesamten SmartAbsatz mit Hilfe des neuen Modells um 22 Prozent steigern. Somit belaufen sich die gesamten Absatzzahlen auf 139.000 Fahrzeuge im letzten Jahr. Ziel war jedoch, mindestens 155.000 zu verkaufen." "Der europäische Kleinwagenmarkt ist hart umkämpft", so Walker, "er schrumpfte im betrachteten Jahr sogar um ganze 7 Prozent. Meinen Sie nicht, dass wir trotz der nicht ganz erreichten Erwartungen einen soliden Start hatten?" "Teilweise stimme ich Ihnen zu", zögerte Anja Kuckulenz, "jedoch müssen wir auch berücksichtigen, dass neben höherer Marketingaufwendungen und Entwicklungskosten gerade die Anlaufkosten für den Forfour dazu führten, dass der Ergebnisbeitrag des gesamten Geschäftsbereichs Smart für die Mercedes Car Group meines Erachtens deutlich negativ ausgefallen ist." "Und wie sieht es mit unserem Klassiker Fortwo aus? Worauf lassen sich die schlechten Umsätze im letzten Jahr zurückführen?" Auch hier sieht Anja Kuckulenz die schwierige Situation im europäischen Kleinwagenmarkt als Ursache: "Im Vergleich zu 2003 sind im letzten Jahr die Zahlen um 25.000 Fahrzeuge zurückgegangen. In der Zulassungsstatistik belegte der Fortwo in Deutschland aber weiterhin den ersten Platz." "Bleibt noch der Roadster…", bemerkt Walker. "Nun ja, wie Sie wissen, hat sich das Ergebnis leider auch hier verschlechtert", fährt Anja Kuckulenz fort. "Im Jahr 2003 konnten wir 20.100 Roadster absetzen, wohingegen 2004 mit 13.600 Fahrzeugen ebenfalls ein deutlicher Rückgang hinzunehmen war. Das ist ein Einbruch von über 30 Prozent." Ulrich Walker hat sich alle Zahlen übersichtlich notiert und bittet abschließend noch um einige länderspezifische Informationen. Frau Kuckulenz hat auch hier eine Übersicht vorbereitet: "Die zur Zeit bedeutsamsten Märkte sind weiterhin Deutschland mit 48.800 und Italien mit 39.800 abgesetzten Fahrzeugen. Überdurchschnittliche Zuwächse konnten wir in Frankreich und Spanien verzeichnen. Dort legten wir um 53 Prozent beziehungsweise um 75 Prozent zu. Diese Märkte sollten daher auch künftig im Fokus unserer Vertriebsoffensive stehen."

188

Sorgenfall Smart

"Vielen Dank für die umfassende Zahlenübersicht. Ihre Informationen und Einschätzungen helfen mir sehr weiter", bedankt sich Ulrich Walker und eilt zum nächsten Termin. Denn 30 Minuten später ist er mit Astrid Wolff, Leiterin Marketing und Vertrieb, zum Arbeitsessen verabredet.

Vertriebsoffensive in neue Märkte Er trifft sie in einem Restaurant in der Stadt und möchte ihre Meinung zu einer geplanten Vertriebsoffensive hören und die aktuellen Vertriebswege besprechen. "Der Vertrieb in unseren Kernmärkten, wie zum Beispiel Deutschland und Italien, muss meiner Meinung nach in der Tat offensiver gestaltet werden. Hier besteht noch eine Menge Optimierungspotential und die Marke Smart braucht dringend mehr Volumen. Es muss gut überlegt sein, in welchen neuen Märkten wir uns stärker etablieren können", so Astrid Wolff. Ulrich Walker hakt nach: "An welche neuen Märkte denken Sie?" "Wie Sie ja wissen, bieten wir unsere Fahrzeuge seit dem letzten Jahr zusätzlich in Kanada, Malaysia, Malta, Norwegen und Rumänien an. Mit Kanada wurde nach Mexiko der zweite Markt der NAFTA-Region für die Marke Smart erschlossen, und mit Malaysia sind wir mit Smart erstmals in einem südostasiatischen Markt vertreten. Hier muss es unsere Aufgabe sein, das Potenzial optimal auszuschöpfen." "Eine intensivere Nutzung der Vertriebswege ist auch in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Ich denke da unter anderem an einen Ausbau der Händlernetze", sagt Ulrich Walker. "Ja, ganz meine Meinung. Genau in diesem Punkt könnte sich Smart noch verbessern. Zwar sind unsere Smart Center in hochfrequentierten, städtischen Gebieten optimal platziert und auch unsere Außenstellen werden gut genutzt, aber eine stärkere Einbindung in das Händlernetz von Mercedes-Benz sehe ich als realistische Möglichkeit, effizientere Vertriebswege aufzubauen. Unter welchen Konditionen das stattfinden kann, muss zu gegebener Zeit verhandelt werden." Ulrich Walker ist von Astrid Wolff’s grobem Entwurf sehr überzeugt und möchte diesen Plan auch in seinem Vortrag einbinden. Die genauen Details wird er in den nächsten Tagen erarbeiten. Walker: "Es gibt da noch eine andere Sache, über die ich mit Ihnen gerne sprechen möchte, Frau Wolff. Ich mache mir derzeit große Sorgen um die Verkaufsrückgänge bei dem Smart Fortwo. Es ist mir bewusst, dass der europäische Kleinwagenmarkt schon bessere Zeiten erlebt hat. Aber der Fortwo, der als Zweisitzer in seinem Segment bereits ein deutliches Alleinstellungsmerkmal besitzt, braucht meiner Einschätzung nach noch weitere Attribute, die ihn von potentiellen Wettbewerbern herausheben und eindeutig abgrenzen." Astrid Wolff teilt diese Meinung und steht diesbezüglich bereits mit der Entwicklungsabteilung in engem Kontakt. In diesem Bereich ist im letzten Jahr schon einiges unternommen worden: "Um zusätzliche Käufer für den Smart Fortwo zu begeistern, wurde

189

3

3

Sorgenfall Smart

das Angebot bereits um innovative Sondermodelle erweitert. Hierzu zählt die Edition i-Move, bei der der digitale MP3-Player Apple iPod erstmals serienmäßig in einem Automobil angeboten wird. Das in der Stückzahl limitierte Modell war innerhalb von wenigen Wochen ausverkauft. Deswegen möchten wir diesen Weg weiter verfolgen, indem wir dieses Sondermodell in Zukunft langfristig anbieten, weitere innovative Leistungen entwickeln und diese dann selbstverständlich auch umsetzen." Nach diesem Gespräch entscheidet Ulrich Walker, dass die erhaltenen Informationen aus den Bereichen Controlling, Marketing und Vertrieb, die im Wesentlichen und zum größten Teil auch mit seinen eigenen Eindrücken und Meinungen übereinstimmen, für seinen Vortrag ausreichend sind, um die anderen Vorstandmitglieder von dem Fortbestand von Smart zu überzeugen. Einzelne Maßnahmen und Veränderungen muss er in den nächsten Tagen natürlich noch ausarbeiten und konkret definieren. Ulrich Walker sieht der Vorstandsitzung zuversichtlich entgegen, obwohl es seit der Entscheidung, sich nicht an der gemeinsamen Produktionsstätte Nedcar von Mitsubishi Motors (MMC) im holländischen Born zu beteiligen, einige negativen Stimmen im Unternehmen gibt, die das Ende von Smart voraussagen.

Gemeinsame Sache mit Mitsubishi In dem Werk werden der Mitsubishi Colt sowie der Smart Forfour auf einer gemeinsamen Plattform gefertigt. MMC gründete das Werk einst mit Volvo. Nachdem DaimlerChrysler bei MMC einstieg, gab Volvo seinen 50-Prozent-Anteil an Mitsubishi ab. Diesen Teil sollte DaimlerChrysler 2004 übernehmen. Bisher haben DaimlerChrysler und MMC gemeinsam etwa eine Milliarde Euro in das Werk investiert. Yoichiro Okazaki, Vorstandvorsitzender von MMC, machte DaimlerChrysler im vergangenen Jahr ein deutliches Angebot: "Vielleicht können wir DaimlerChrysler eine Mehrheit, eventuell 51 Prozent einräumen", so Okazaki, "schließlich werden 58 Prozent der Kapazitäten dafür genutzt, den Smart zu bauen, 42 Prozent hingegen nur für unser Modell Colt." Doch Eckhard Cordes und Ulrich Walker verzichten auf eine Beteiligung an Nedcar, um sich damit alle Optionen bei Smart offen halten zu halten. Ulrich Walker ist sich bewusst, dass noch einiges getan werden muss, um Smart wieder profitabel zu machen. Die Einführung des Smart Formore, einem Geländewagen, der den Weg in den US-amerikanischen Markt ebnen soll, wird Smart als Mehrprodukt-Marke noch weiter stärken. Dieser ist aber momentan noch in der Entwicklungsphase. Walker möchte mit seinem Vortrag auf der nächsten Vorstandssitzung auch den letzten Skeptiker bei DaimlerChrysler überzeugen. Er macht sich umgehend an die vertiefende Arbeit.

190

Sorgenfall Smart

Aufgabenstellung 1. Welche Ursachen könnten Ihrer Meinung nach für den Rückgang der Verkaufszahlen des Fortwo und des Roadsters ausschlaggebend sein? Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um Smart wieder bessere Zeiten erleben zu lassen? 2. Mit dem Smart Forfour, der im April 2004 in den Markt eingeführt wurde, etablierte sich Smart als Marke mit einem breit aufgestellten Modellprogramm. Welche Probleme könnten auf dieses Modell in den nächsten Jahren zukommen? 3. Mit ihren Produkten hat sich die Marke Smart trotz der aktuellen Verkaufsrückgänge in nur wenigen Jahren in zahlreichen Märkten gut etabliert. Könnte man das Potenzial dieser Marke künftig noch besser ausschöpfen? Und wenn ja, wie?

Quellenverweis Herz, C.: Smart sagt Mitsubishi Motors Sayonara, in: Handelsblatt, Nr. 28/6, 09.02.2005. Katzensteiner, T.: Baustelle Böblingen, in: Wirtschaftswoche, Nr. 3, 13.01.2005. Mainzer Allgemeine Zeitung: Hartes Sparprogramm soll Smart voranbringen, in: Mainzer Allgemeine Zeitung, 02.02.2005. ARD-Börse: Viel zu tun bei DaimlerChrysler. http://www.boerse.ard.de/druck.jsp? key=dokument_80887> , download 18.04.2005. DaimlerChrysler: Geschäftsbericht 2004, http://www.daimlerchrysler.com/Projects/c2c/ channel/documents/629780_gb_2004.pdf, download 02.04.2005. smart: Fünf Fragen an Ulrich Walker, http://www.smart.com/smartimdetail/news, download 02.04.2005. smart-club e.V.: Die smart Story. http://www.smart-club.de/index.php?mode=infos, download 04.04.2005.

191

3

4

Handysparte in Not*

Protokoll der außerordentlichen Vorstandsitzung vom 01.02.2005 Beginn: 10.00 Uhr Sitzungssaal Hauptgebäude, Bereich München Anwesende:

Heinrich v. Pierer, Klaus Kleinfeld, Edward Krubasik, Rudi Lamprecht, Thomas Ganswindt, Claus Weyrich, Uriel J. Sharef, Klaus Wucherer, Erich Reinhardt, Johannes Feldmayer, Heinz-Joachim Neubürger Bereichsvorstände Udo Niehage, Wolfgang Dehen, Hans Schabert, Johann Löttner, Lothar Pauly, WolfDieter Bopst, Helmut Gierse, Joergen Ole Haslestad, Heinrich Hiesinger, Herbert Lohnneiß, Klaus Voges Top 1:

Begrüßung

Herr v. Pierer begrüßt die anwesenden Vorstandmitglieder und die Bereichsvorstände zu dieser außerordentlichen Sitzung bezüglich des Jahresabschlusses. Top 2:

Eckdaten des Geschäftsjahres 2004

Der Vorstand lobt den Zielerreichungsgrad der Vorgaben für das Geschäftsjahr 2004. Die Devise "Go for Profit and Growth" wurde durch die Entwicklung des Cash flows gut umgesetzt. Der Mittelzufluss aus Geschäfts- und Investitionstätigkeit ergab 3,3 Millionen EUR. Des Weiteren lobte Herr von Pierer den Anstieg des Auftragseingangs um 8,0 % auf 80,8 Milliarden EUR. Neben dieser positiven Veränderung betonte Herr von Pierer das um 1 Milliarde gestiegenen Konzernergebnis von 3,4 Milliarden EUR. Top 3:

Bewertung operativer Bereiche des Unternehmens durch die jeweiligen Bereichsvorstände

Der erste operative Bereich, bestehend aus Automation and Drives (Helmut Gierse), Medical Solution (Erich Reinhardt), Power Generation (Klaus Voges), Osram (WolfDieter Bopst), Siemens VDO Automotive, Siemens Financial Service (Herbert Lohnheiß), Power Transmission and Distribution (Udo Niehage) erwirtschaftete im vergangenen Jahr die vereinbarten Zielmargen sogar über 150%.

*

Unter Mitarbeit von Annika Heep

193

4

Handysparte in Not

Zweiter Bereich: Siemens Building Technology (Heinrich Hiesinger), Industrial Solutions and Services (Joergen Haslestad) und Logistics and Assembly Systems (Johann Löttner). Die Vorstände dieser Unterbereiche legten eine Verbesserung der Performance vor. Der Bereich ist durch die neuen Richtlinien auf gutem Wege, die Unternehmensziele zu erreichen (vgl. Protokoll vom 14.01.2005). Der vierte Unternehmensbereich mit Tranportation Systems (Hans Schabert) ist nach dem Aufschwung im Geschäftsjahr 2003/2004 wieder in die Verlustzone gerutscht. Schabert begründet dies mit den Mängeln bei den Niederflurstraßenbahnen vom Typ Combino und deren Rückstellungen. Eine Problemlösungsstrategie liegt allerdings vor. Der dritte Bereich Information und Communication, vertreten durch Herrn Pauly, hat nach der Zusammenlegung im Mobilfunkbereich weiterhin Probleme. Der Verlust im vergangenen Quartal erreichte 143 Mill. EUR. Eine genaue Problemdiagnose wurde vorgenommen und es werden Verbesserungen im Bereich Innovation, Technik, time to market vorgenommen. Eine längerfristige Lösung der Krise in diesem Bereich wird noch diskutiert. Pauly berichtet über etwaige Verhandlungsoptionen mit Ningho Bird, NEC, Motorola und Huawie. Samsung hat schon abgelehnt. Weitere Gespräche bezüglich des COM-Bereiches werden in einer separaten Sitzung geführt. Ende 11.30 Uhr

Memo zum Telefongespräch Kleinfeld und von Pierer am 14.02.2005 „

Zwischenabsatzzahlen des Marktes mit prozentualer Verschlechterung

„

Marktanteil sinkt weiter zugunsten von Samsung und LG Electronics

„

Marktakzeptanz des neuen UMTS-Handys nur mäßig, da Preis zu hoch

„

Überlegungen bezüglich des US-Marktes und des Handymarktes in Israel und anderer relevanter Märkte

Tagung in Genua am 25.02.2005; Gespräch Kleinfeld und Pauly Kleinfeld (K): "Herr Pauly, gut Sie zu treffen, ich wollte Sie diese Woche noch zum Gespräch bitten, bezüglich unseres Sorgenkindes."

194

Handysparte in Not

Pauly (P): "Sorgenkind ist zur Zeit wirklich der richtige Ausdruck. Der Sparkurs in diesem Bereich wird immer heikler und die Sanierung durch diesen hinkt unseren Erwartungen leider auch etwas nach." K: "Haben Sie betreffend der Kooperation schon die besprochenen Verhandlungen aufgenommen?" P: "Ningho Bird und LG Electronics haben sich leider schon anderweitig orientiert. Samsung hat keinerlei Interesse. Verhandlungen mit NEC, Matsushita und Huawie stehen noch aus." K: "Diese Entwicklung war abzusehen. Lamprecht war auch der Ansicht, dass wir erst fixen und eine Gegensteuerung zu den Verlusten gewährleisten müssen. Die Kunden werden auch langsam unruhig und der Druck von außen wird immer stärker. Wir müssen schnellst möglichst wenigstens ein Konzept präsentieren." P: "Ich teile Ihre Meinung. Allerdings wird es schwierig werden 1 Mrd. EUR in diesem Bereich einzusparen. Der betroffene Marketingbereich hat jetzt schon zu kämpfen." K: "Eine andere Möglichkeit sehe ich zur Zeit nicht. Vielleicht können wir durch die Vorstellung der neuen Modelle bei der Cebit noch positive Verbesserungen erreichen."

Bericht der Innovationsabteilung (IAB) Verantwortlicher: Michael Meyer Innovationsvorschläge mit Kostenanalyse für das Geschäftsjahr 2003/2004 und das Geschäftsjahr 2004/2005 Kosteneinschätzung Klapphandy

3 Millionen EUR

Fotohandy

5 Millionen EUR

UMTS-Handy

9 Millionen EUR

Handy mit MP3-Player

7 Millionen EUR

Handy mit Palmfunktionen

9 Millionen EUR

Strahlengeschütztes Handy

9 Millionen EUR

Elegantes und Sportliches Design

4 Millionen EUR

Umweltabbaubares Handy

9 Millionen EUR

Verknüpfung mit Microsoft oder iTunes

8 Millionen EUR

Größere Internetnutzung (Mail, Downloads, Kommunikation)

5 Millionen EUR

Handy mit Fernsehfunktion

9 Millionen EUR

Seniorenhandy

7 Millionen EUR

195

4

4

Handysparte in Not

Realisierungseinschätzung Klapphandy: Realisierung möglich, keine weiteren Produktionskosten, Modellerweiterung nicht geplant. Fotohandy: Realisierung möglich, allerdings nicht mit der aktuellsten Technik. Neue Innovationen für cebit 2005 möglich – Spiegelfunktion, wenn Fotofunktion über Display nicht benötigt wird. Design variabel zwischen Blumen für Damen und Nadelstreifen für Herren. UMTS-Handy: Realisierung in 2004/2005 endlich möglich. 1. Modell wird zur Cebit fertiggestellt, 2. Modell folgt im Herbst 2005. Technik ist noch nicht voll ausgereift, aber in Arbeit. Problem: Zu späte Markteinführung Handy mit Palmfunktion: Funktionen prinzipiell nach Innovationsbericht möglich, allerdings ist die Umsetzung in die Produktion zu kostenintensiv, da eine völlig neue Technik und maschinelle Umsetzung initiiert werden müsste. Fazit: Derzeitige Ablehnung Strahlengeschützes Handy: Innovationsberichte liegen vor. Technisch möglich, Probleme mit der Außenisolierung. Weiterer Innovationsbedarf erforderlich, allerdings fehlende finanzielle Mittel. Umweltabbaubares Handy: Einschätzung der Zielgruppe noch nicht ausgereift, Umsetzung bisher unmöglich durch Laborschwierigkeiten. Markteinführung ungewiss. Größere Internetnutzung: Es wurde Verbindung zu Microsoft aufgenommen, nur liegen bereits Verträge zwischen Microsoft und einem Mitbewerber vor. Alternative wird gesucht. Handy mit Fernsehfunktion: Im Testbetrieb, allerdings noch Schwierigkeiten bei einer kostengünstigen Variante. Seniorenhandy: Erste neuere Modelle in Arbeit, Aufarbeitung alter Modelle. Konzept über Markteinführung fehlt.

196

Handysparte in Not

Kurznotizen der Strategierunde des Mobilfunkbereiches vom 04.03.2005 Moderator: Siemens: Nokia: Motorola: Samsung: LG Electronics: Sony Ericsson:

Herr Pauly Herr Müller, Frau Oliveri Herr Lindström, Frau Nettersen Frau Heinrich, Frau Obbit Herr Miller, Herr Drake Herr Arbucks, Herr Costa Frau Enski, Frau Andermann

Kurze Situationsbeschreibung Nach einem erfolgreichen Jahr 2004 mit einem unerwarteten Absatzsprung von 30 % wurde ein Handyabsatz von 674 Mio. Geräten erreicht. Das Marktforschungsinstitut Ganther rechnet für das Jahr 2005 mit einem Wachstum von knapp 8,3 Prozent auf 730 Mio. absetzbare Geräte. Allerdings sehen sich die Akteure auf diesem Markt vermehrt Schwierigkeiten gegenüber. Das Wachstum nimmt durch die gestiegene Sättigung weiter ab und verläuft nur noch langsam. Im vergangenen Jahr konnte noch vom Umstieg der Kunden auf Handy mit Kamera profitiert werden. Des Weiteren wächst der Druck der Mobilfunkanbieter auf die Handyproduzenten, da zunehmend mehr Features zu günstigeren Preisen angeboten werden sollen. Ein gravierendes Problem ist allerdings die zunehmende Anzahl von Billiganbietern aus China, die mit Imitationsstrategien auf den Handymarkt drängen. Erste Auswirkungen lassen sich aus Abb. 1 erkennen, die die Verschiebung der Marktanteile zeigt. In der heutigen Strategierunde sollen die Strategien der Mitbewerber und unsere eigenen diskutiert werden, um sich den wechselnden Marktgegebenheiten anzupassen. Nokia: Wir sind zurzeit Marktführer und möchten dies auch bleiben. Allerdings liegen wir im UMTS-Bereich nur auf Platz 4. Eine Verbesserung der Platzierung ist natürlich ein primäres Ziel. Wir werden also die Entwicklung in diesem Bereich forcieren. Des Weiteren werden wir dieses Jahr ein Handy mit Bezahlfunktion auf den Markt bringen, das NFC unterstützt. Motorola: Motorola möchte in diesem Geschäftsjahr den Abstand zum Marktführer Nokia verkürzen und insbesondere die Aktivitäten auf den boomenden Märkten der Schwellenländer in Asien verstärken. Somit rückt der Auftrag zur Produktion von Billighandys unter 40 $ in den Blickpunkt, den wir als erster Handyproduzent erhalten haben.

197

4

4

Handysparte in Not

Zudem haben wir Verhandlungen mit Apple abgeschlossen und werden iTunesMusik-Software in unsere Handys einbringen. Damit sind wir die ersten auf dem Markt. Ein weiterer Angriffspunkt in unserer Strategie ist unser Technologievorsprung im UMTS-Bereich. Hier sind wir führend und Nokia hinkt hinterher.

Abbildung 4-1: Weltweiter Marktanteil führender Handy-Hersteller (Angaben in %) 34,2

Nokia

30,9 14,7 13,4

Motorola

11,2

Samsung Siemens

13,8 9,1 7,6

Sony Ericson

5,3 6,4

LG

5,3 6,7

Sonstige

20,2 21,2

3. Quartal 2003 3. Quartal 2004

Quelle: Handelsblatt 26. Januar 2005

Samsung: Wir werden unsere Technologie verbessern und so im UMTS-Bereich eine gute Position erreichen. Dieses Ziel fokussieren wir in diesem Geschäftsjahr durch hohe Investitionen in neue Handyfabriken, damit wir unsere Handys auf höchstem Niveau produzieren können. LG Electronics: Unser Ziel ist, eine große Offensive auf dem Handymarkt zu starten. Wir haben auch schon erste Erfolge erzielt und sogar Siemens überholt, wie die Verteilung der Marktanteile im letzten Quartal deutlich zeigt. An unserer Strategie mit der Einführung hoch innovativer Produkte werden wir weiter festhalten. Im UMTS-Bereich bringen wir ein Handy mit 1,3 Megapixel heraus und zudem noch ein LT 1000 Handy mit Fernsehfunktion, das T-DMB unterstützt. Mit diesen zwei Produkten sind wir die ersten und wir hoffen somit, einen Marktvorteil erzielen zu können. Sony Ericsson: Wir haben unseren Marktanteil im letzten Quartal erneut verbessern können. Dies möchten wir auch weiterhin tun. Als besondere Strategie in diesem Bereich streben

198

Handysparte in Not

wir eine Erhöhung der Ausgaben für die Produktentwicklung und im Bereich des Marketing an. Siemens: Den freien Fall unseres Marktanteils zu stoppen, ist ein wichtiger Punkt. Um diesen jedoch zu erreichen, müssen wir einige tief greifende Veränderungen durchführen. Da wir im Durchschnitt die Markteinführung um 3 Monate verpasst haben, streben wir eine kürzere time to market an. Des Weiteren werden wir uns mehr den Gegebenheiten des Marktes, den Kundenwünschen nach Internetnutzung und Musiknutzung anpassen, indem wir Verbindungen mit den entsprechenden Dienstleistern in Erwägung ziehen. Eine optimale Strategie zur Lösung unserer Krise haben wir allerdings zurzeit nicht. Die strategische Positionierung der in der Strategierunde teilnehmenden Handyhersteller fasst Abb. 4-2 zusammen.

stark

Abbildung 4-2: Strategie und Ertragsstärke der Handy-Hersteller

Strategie

Sony

Motorola

Samsung

LG

Nokia

schwach

Siemens

schwach

Ertragsstärke

stark

Auszug aus der Mitarbeiterzeitung "Siemens Welt" vom 09.03.2005 Nach Zusammenlegung der Sparten Mobilfunk und Festnetz im Oktober 2004 entstand der große Bereich COM mit 18 Mrd. EUR Umsatz und rund 60 000 Mitarbeitern. Vorstandziel war eine Einsparung der Entwicklungskosten um ca. 15 % und natürlich 199

4

4

Handysparte in Not

eine positive Auswirkung auf den Mobilfunkbereich. Sechs der acht Teile des COMBereich haben die gesetzten Zielvorgaben bereits erfüllt. Das Handygeschäft hat die Erwartungen bisher nicht erfüllt und Pauly kündigte gegenüber Siemens Welt Einsparungen im aktuellen Geschäftsjahr in Höhe von 1 Mrd. EUR an. Diese sollen vor allem im Bereich Marketing erreicht werden. Ein Personalabbau ist nicht geplant und liegt nicht im Sinne des Vorstands. (...).

E-Mail-Korrespondenz Anfrage an den Press Officer bei Siemens, Anja Klein Hallo Frau Klein, im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer Fallstudie haben wir folgende Fragen zur weiteren Entwicklung des Handysegments: 1. Wo sehen Sie die Ursachen für die Krise im Handybereich? 2. Hätte diese vermieden werden können? 3. Welche Position strebt Siemens auf Dauer in diesem Marktsegment an? 4. Welche Strategien verfolgt Siemens, um den Marktänderungen zu begegnen? 5. Welche der angedachten Lösungsmöglichkeiten (Sanierung, Verkauf, Kooperation, Auflösung) halten Sie für sinnvoll? 6. Es gibt zurzeit Gerüchte über einen möglichen Verkauf. Was ist daran real? Vielen Dank für Ihre Antwort. Mit besten Grüßen Annika Heep

Antwort auf die E-Mail-Anfrage vom 11.04.2005 Hallo Frau Heep, bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir derzeit Fragen in diese Richtung nicht beantworten können. Grundsätzlich gilt das Statement, dass es für die Handysparte von Siemens 4 Optionen (Sanierung, Kooperation mit Dritten, Verkauf oder Schließung) gibt, die alle geprüft werden. Eine Wertung oder Kommentierung kann ich von meiner Seite aus nicht geben. Beste Grüße Anja Klein --------------------------------------------------------Anja Klein Press Officer Siemens AG Communications / Group Communication Press Department COM GC PD D 200

Handysparte in Not

Interview mit Herrn Kleinfeld Herr Kleinfeld, als neuer Vorstand von Siemens haben Sie jetzt die Verantwortung für den kriselnden Handybereich. Wie wollen Sie dem sich stetig verstärkenden Wettbewerb begegnen und gleichzeitig eine Lösung der Krise erreichen? "Mit der Veränderung der Marktgegebenheiten haben zurzeit alle Mitbewerber zu tun. Es müssen neue Märkte erschlossen und schnell auf die Bedürfnisse der Käufer reagiert werden. Damit sich Siemens selbst in diesem Segment behaupten kann, müssen wir versuchen unsere aktuelle Position zu festigen und den Abwärtstrend bezüglich der Markanteile zu stoppen oder dem entgegenzuwirken. Eine schnelle und optimale Lösung für die Probleme unseres Mobilfunkbereiches gibt es nicht. Die Sanierungen der letzten Jahre haben nicht viel bewirkt, aber gleichzeitig hohe Kosten verursacht." Welche Möglichkeiten gibt es derzeit für Sie? Es kursieren Gerüchte über einen möglichen Verkauf oder eine Kooperation mit Dritten. "Zurzeit möchte ich dazu keine klaren Auskünfte erteilen. Wie Sie bestimmt unserem Presseportal entnommen haben, gibt es für unseren Mobilfunkbereich vier Möglichkeiten. Ich kann nur insoweit bestätigen, dass der Vorstand unseres COM-Bereiches, Herr Pauly, Verhandlungen mit anderen aufgenommen hat und dass eine Schließung dieses Segmentes vorerst nicht geplant ist. Wie mein Vorgänger von Pierer schon immer betonte, ist es auch eine Imagefrage, die uns ein jugendliches Flair gibt." Kommen wir kurz zu einem Thema, das im letzten Jahr in aller Munde war. Welche Rolle spielt UMTS für Ihre Handypolitik? "UMTS ist die Anforderung der Zukunft und auch die neue Anforderungen an uns als Handyhersteller. Wir müssen Geräte bauen, die dieses leisten können. Die Konsumenten wollen jederzeit ihre Mails, Kontakte und alle Internetfeatures nutzen. Leider sind wir diesen Anforderungen zu spät gerecht geworden und haben dieses Jahr unser erstes UMTS-Handy vorgestellt, während Motorola schon absolute High-Tech-Geräte entwickelt. Siemens wird allerdings versuchen, den Anschluss noch zu erreichen und dieses Jahr ein kostengünstiges UMTS-Handy auf den Markt bringen." Wie stehen Sie zu der Verbindung Motorola mit Apple, als Partnerschaft? "Eine Verbindung zwischen Handyproduzenten und Anbieter von mobilen Inhalten ist sicherlich eine gute Idee, die vor allem die jüngeren Kunden über Musik-Software anspricht. Motorola war mit dieser Idee am schnellsten, wir haben am entsprechende Vorschläge zur Disposition vorliegen und eine Umsetzung wird schnellst möglich erfolgen. Unsere Handys der neueren Generation basieren softwaremäßig auf Linux, was schon eine erhebliche Verbesserung darstellt." Vielen Dank für das Gespräch.

201

4

4

Handysparte in Not

Aufgabenstellung 1. Analysieren Sie die dargestellte Lage der Handysparte von Siemens. Wo steht Siemens gerade? 2. Welche Probleme haben die Krise verursacht? Nehmen Sie hier auch Bezug auf die früheren Geschäftsjahre. 3. Welche Lösungsansätze gibt es, um die Krise zu stabilisieren und zu bewältigen? Diskutieren Sie diese anhand einer SWOT-Analyse. 4. Welche Zukunftsprognosen sehen Sie für die Handysparte von Siemens?

Information zur Unternehmensstruktur von Siemens Siemens lässt sich grob in drei übergeordnete große Bereiche aufteilen: Vorstand der Siemens AG: Dieser besteht aus dem Zentralvorstand unter der Leitung von Klaus Kleinfeld und 11 weiteren Vorständen, die bestimmte Teile von Siemens betreuen. Zentralabteilungen: Corporate Development (CD), Corporate Finance (CF), Corporate Personnel (CP), Corporate Technology (CT). Operatives Geschäft: Automation and Control, Power, Transportation, Medical, Lightning, Finanz- und Immobiliengeschäft und schließlich der Teilbereich, der in dieser Fallstudie interessiert – Information and Communications.

Quellenverweis Bönsch, R.: Handyriese im Spekulationsstrudel, in: VDI Nachrichten, Nr. 4, S. 17, 28.01.2005. Grünberg, F.: Siemens saniert sich langsam reich, in: VDI Nachrichten. Nr. 5, S. 18, 04.02.2005. Hennersdorf, A.: Unternehmen: Mobiltelefone, in: Wirtschaftswoche, Nr. 4, S. 37- 46, 20.01.2005. Handelsblatt online: http://www.handelblatt.de, download 18.03.2005, 11.04.2005, 15.04.2005. Siemens Aktiengesellschaft: Kurzbericht 2004. München. Stand 01.01.2005.

202

5

Generikahersteller unter Druck *

Das Unternehmen Hexal Die Hexal AG mit Sitz in Holzkirchen bei München gehört mit weltweit 7400 Beschäftigten, davon 3000 allein in Deutschland, und einem weltweiten Jahresumsatz von (est.) 1,3 Mrd. € zu den weltweit führenden Pharmaunternehmen, die insbesondere im Bereich der Generikamärkte tätig sind. Hexal ist einer der größten Arzneimittelhersteller im deutschen Apothekenmarkt und zweitgrößtes Generika-Unternehmen in Deutschland sowie einer der umsatzstärksten Generikahersteller weltweit.

Abbildung 5-1: Umsatzentwicklung der Hexal-Gruppe (Quelle: Hexal)

Umsatz in Mio. Euro

1400

1300 1110

1200 941

1000 758

800 574

600 346

400 200

89

671

446

257 292

28

19 88 19 92 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04

0

Jahr

*

Unter Mitarbeit von Thiemo Kohlsdorf und Mathias Schweikhard

203

5

Generikahersteller unter Druck

Man entwickelt, produziert und vermarktet moderne Generika und teilweise auch innovative Pharmazeutika. Die Produktpalette von Hexal bedient dabei sowohl den rezeptfreien OTC-Markt als auch das Segment für verschreibungspflichtige Generika und Pharmazeutika. Dabei werden alle großen Indikationsbereiche auf Basis von mehr als 250 Arzneiwirkstoffen berücksichtigt, was Hexal von fokussierten Pharmaunternehmen unterscheidet. Das Unternehmen Hexal wurde 1986 von den Brüdern Andreas und Thomas Strüngmann gegründet. 1995 wurde das Unternehmen in die Hexal AG umgewandelt, eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft, die zu 100% den Gründerbrüdern und Vorstandsvorsitzenden Strüngmann gehörte. Hexal ist heute mit seinen Tochtergesellschaften und strategischen Partnern in über 40 Ländern tätig.

Abbildung 5-2: Umsatzverteilung der Hexal-Gruppe 2003 (Quelle: Hexal)

Europa (ohne Deutschland) 28%

Am erika 4%

Deutschland 63%

Asien/Afrika/ Australien 5%

Das Problem des Dr. Schaefer Schon im Juli 2003 hatten die beiden Unternehmenseigner Andreas und Thomas Strüngmann klargestellt, dass sie langfristig Hexal zum Verkauf anbieten möchten. Dieser Entschluss beruhte nicht zuletzt auf den Ankündigungen großer Pharmaunternehmen, verstärkt in den Generikamarkt vorzudringen. Dr. Gerhard Schaefer, Mitglied im Hexal- Vorstand und dort zuständig für die Bereiche Forschung & Entwick-

204

Generikahersteller unter Druck

lung sowie Unternehmensentwicklung, wurde mit der Erstellung von Konzepten für einen Börsengang beauftragt, der aber später wieder auf Eis gelegt wurde. Im Februar 2005 traten die beiden Vorstandsvorsitzenden erneut an ihn heran. Sie beauftragten ihn, Szenarien zu entwickeln, wie Hexal zukünftig seine Position im Generikamarkt stärken könnte – unter Berücksichtigung der zu erwarteten Marktentwicklung. Schaefers erster Weg führt zu Hubert Mayr, dem Vorstand für Marketing und Vertrieb. Dieser verweist ihn an den Leiter der Marktforschungsabteilung. Um sich einen aktuellen Überblick über die wesentlichen Konkurrenten zu verschaffen, erhält Schaefer von Mayr eine Auflistung der fünf umsatzstärksten Generikaanbieter in Deutschland und eine zweite Übersicht, die die fünf führenden Pharmakonzerne auf dem deutschen Arzneimittelmarkt mit den dort erzielten Umsätzen zeigt:

Tabelle 5-1:

Tabelle 5-2:

Die umsatzstärksten Generikaanbieter in Deutschland (nach IMS Health) Rang

Generikaanbieter

Umsatz 2004

1.

Ratiopharm

970.767.524,00 €

2.

Hexal

924.335.286,00 €

3.

Stada

280.443.172,00 €

4.

Betapharm

156.672.404,00 €

5.

Sandoz

126.692.642,00 €

Die umsatzstärksten Pharmakonzerne in Deutschland (nach IMS Health) Rang

Generikaanbieter

Umsatz

1.

Pfizer

1.254.953.000 €

2.

Sanofi-Aventis

1.254.731.000 €

3.

Merckle

1.184.981.000 €

4.

Novartis

1.148.930.000 €

5.

Hexal Group

1.016.029.000 €

205

5

5

Generikahersteller unter Druck

Herr Mayr verweist ihn zusätzlich auf die Skandale um Lipobay und Vioxx, Produkte der großen forschenden Pharmaunternehmen Bayer und Merck&Co, deren Auswirkungen sowohl den Umsatz als auch den Ruf beider Unternehmen schlagartig einbrechen ließen. Diese Skandale haben in der Pharmabranche eine seit langem geführte Diskussion um den potentiellen Marktsegmenteintritt von bisher vor allem im innovativen Marktsegment tätigen Pharmakonzernen wieder angefacht. Um deren Produktpalette weniger abhängig von den Erfolgen einzelner Präparate, so genannter Blockbuster, zu machen, begannen in den Jahren 2003 und 2004 verstärkt große forschende Pharmaunternehmen in den Generikamarkt einzudringen. Mayr ist der Meinung, dass dieser Markt aufgrund zweistelliger Wachstumsraten und dem zunehmenden Trend zu Einsparungen im Gesundheitswesen in Deutschland eine lohnende Investition darstellt. Aus einer firmeninternen Analyse geht dabei unter anderem hervor, dass die forschenden Pharmaunternehmen ihren Markteintritt dabei auf zweierlei Art vollziehen. Entweder akquirieren sie Unternehmen, die bereits erfolgreich im Generikamarkt agieren oder sie bringen eigene Generikaprodukte auf den Markt. Beispiele für die erste Variante sind Schaefer bestens bekannt. Von Kollegen aus der Schwestergesellschaft Eon-Labs in den USA war ihm im Juli 2004 gemeldet worden, dass dort das größte Generika-Pharmaunternehmen – Mylan Laboratories – seinen Konkurrenten King Pharmaceuticals aufgekauft hatte. Schaefer kennt solche Bestrebungen auch aus dem deutschen Pharmamarkt. Anfang 2004 war das Übernahmeangebot der französischen Sanofi Synthelabo an die Konkurrentin Aventis in der Presse groß als "feindliche Übernahme" angeprangert worden. Es gab viel Wirbel in der Öffentlichkeit, bis beide Unternehmen am 25. April 2004 die einvernehmliche Übernahme bekannt gaben. Damit war plötzlich der größte Pharmakonzern Europas "Sanofi-Aventis" entstanden. Von Relevanz war diese Elefanten-Hochzeit auch deswegen, weil Sanofi-Aventis nun gemeinsam über einige Tochterunternehmen auch auf dem Generikamarkt vertreten ist. Als Beleg für die zweite Variante, den Eigenaufbau einer Generikasparte durch innovative Pharmaunternehmen, erhält Schaefer später eine Zusammenstellung über die Produktplatzierungen anderer Pharmaunternehmen auf dem Generikamarkt, die der Leiter der Marktforschungsabteilung kürzlich erst erstellt hatte. Diese besagte, dass Sanofi-Aventis ankündigt, seine Generikamarke "Wintrop" wieder zu beleben, während die israelische Teva, der weltweit führende Generikahersteller aus Israel, in Deutschland eher geringes Engagement zeigte. Ebenso hat der Pharmariese Pfizer nach Patentablauf seines Schmerzmittels "Neurontin" seine eigene Generikavariante auf den Markt gebracht um Umsatzeinbußen zu kompensieren. Auch das Unternehmen Abbott startet offensichtlich eine neue Strategie, nach der es alle Medikamentenpreise nach deren Patentablauf auf Generikaniveau herabsetzt, um Marktanteile zu halten. Gerhard Schaefer ist klar, dass die steigende Zahl von Generikaanbietern und der damit verbundene Preisdruck eine weitere Verschärfung des Wettbewerbs in der Branche bedeuteten. Es gilt nun, schnell zu agieren, statt später reagieren zu müssen. Als nächsten Schritt spielt Schaefer verschiedene Szenarien durch, wie Hexal seine Marktposition unter Berücksichtigung der verstärkten Investitionstätigkeit forschen-

206

Generikahersteller unter Druck

der Pharmaunternehmen auf dem Generikamarkt sichern und ausweiten könnte. Um die Frage nach externen Wachstumsmöglichkeiten zu erörtern, wendet er sich an den Leiter der Finanzabteilung. Dieses Gespräch ergibt, dass Hexal finanziell gut dasteht und aufgrund der hohen Eigenkapitalfinanzierung eine hohe Kreditwürdigkeit genießt. Die freien Mittel sollten jedoch vorsichtig eingesetzt werden. Der Finanzleiter gibt Schaefer zu bedenken, dass eine Erhöhung des Fremdkapitalanteils das Unternehmen mit künftigen Zinszahlungen belasten würde. Seiner Einschätzung nach, wäre eine Akquisition eines mittelgroßen Konkurrenzunternehmens oder Anteile daran das Äußerste, was sich Hexal leisten sollte. Für Akquisitionen, die aus den laufenden Erträgen mitfinanziert würden, sei eine negative Beeinflussung der F&E-Projekte mit der daraus resultierenden Abnahme der Innovationskraft des Unternehmens zu befürchten. Daraufhin beruft Schaefer für den folgenden Tag ein Meeting mit dem Leiter der Produktions- sowie dem Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung ein. Schaefer will dort erfahren, ob eine Sicherung der Marktanteile auch über eine Erweiterung des Produktportfolios möglich sei. Der Leiter der Produktionsabteilung äußert sich optimistisch über die Mitte 2004 neu erworbenen Produktionsanlagen im sächsischen Radebeul. Hexal benötige jährlich mehr als 1000 Tonnen Wirkstoff für seine über 250 verschiedenen Präparate. Mit den neuen Kesselanlagen und der neuen ZytostatikaAnlage, sei man nun in der Lage, selbst Wirkstoffe herzustellen. Diese Kompetenz mache Hexal zunehmend unabhängiger von Wirkstofflieferanten und erschließe dem Unternehmen neue Produktionskapazitäten. An dieser Stelle meldet sich der Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung Emming zu Wort. Seiner Ansicht nach sei die eigene Wirkstoffproduktion sehr hilfreich bei der Entwicklung innovativer Präparate. Nicht selten fänden sich bei der Entwicklung bzw. Verbesserung der Wirkstoffe Ideen für zusätzliche Produkte, indem man sich an den individuellen Bedürfnissen bestimmter Kundengruppen orientiere. Während die Produktion und der Vertrieb solcher spezifischen Wirkstoffe für die großen Pharmakonzerne des innovativen Marktsegmentes nicht genügend Marge generieren würden, könnte sie die Präsenz von Hexal auf dem Generikamarkt erweitern und damit zur Sicherung des Marktanteils beitragen. In der Praxis sei dies schon erfolgreich umgesetzt worden. Schaefer hackt noch einmal bei der Produktentwicklung nach und bittet den F&E-Leiter um ein Beispiel für die Emergenz von spontanen Produktideen der F&E-Abteilung. Emming erzählt, dass der Hustenlöser ACC® akut früher in den meistverschriebenen Dosen 200 mg und 600 mg produziert wurde. Der Generikahersteller Sandoz konkurrierte ebenfalls in dieser Sparte mit dem NAC® Sandoz Hustenlöser, ebenfalls in den Dosen 200 mg und 600 mg. Bei der Variation der Dosierungen zeigte eine Verringerung des Wirkstoffes bei den erwachsenen Patienten keine deutliche Linderung der Verschleimung. Die Hexal-Forscher fanden jedoch heraus, dass eine Dosis von 100 mg bei Kleinkindern und Kindern bis 14 Jahren eine deutlichere Verbesserung der Schleimlösung hervorrief. Sofort entwickelte man die nach Brombeeren schmeckenden ACC® akut junior Brausetablette für Kinder, die sich seitdem erfolgreich am Markt bewährt.

207

5

5

Generikahersteller unter Druck

Damit war ein neues Produkt entdeckt, über das andere Hersteller nicht verfügten. Die Produktgruppe der ACC® akut Hustenlöser ist mittlerweile der Marktführer unter den Hustenlösern in Deutschland. Der Forschungs- und Entwicklungsleiter bekräftigt, dass weitere innovative Produkte zur Ergänzung der bestehenden Produktpalette erforscht würden oder derzeit in der Entwicklungsphase seien. Hexal investiere jährlich etwa 12% des Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Als Schaefer die Thematik Kosteneinsparung anspricht, versicherten beide Leiter, dass Mitarbeiter der Produktions- und der Forschungsabteilung Hand in Hand arbeiten, um durch Optimierungen im bestehenden Produktionsablauf bei der Wirkstofferstellung und der Fertigung der Präparate Kosteneinsparungen zu erzielen. Nach dem Meeting ist Dr. Schaefer klar, dass Hexal eine Sicherung der Marktanteile auch durch interne Maßnahmen wie die Ausweitung des bestehenden Produktportfolios erreichen kann. In der folgenden Woche lässt ein Anruf aus der Marktforschungsabteilung Gerhard Schaefer aufhorchen: Der Schweizer Pharmariese Novartis sei an Hexal interessiert. Schon Ende 2003 hatte Novartis bekannt gegeben, dass eine Marktführerschaft im Bereich Generika mithilfe interner Maßnahmen und Akquisitionen angestrebt werde. Die Hexal-Marktforscher hätten allerdings unbestätigte Informationen, wonach Novartis nicht der einzige Interessent für Hexal sei. Hatten nicht die Konkurrenten Stada und Ratiopharm in der Vergangenheit Ankündigungen über Zukäufe in der Presse verlautbaren lassen? Würde eine Fusion mit einem Branchenkonkurrent Hexal nützen oder sollte Hexal selbst aktiv werden und Aufkäufe tätigen, um die eigene Marktposition zu stärken? Andererseits, könnte ein Kauf von Hexal durch einen finanzkräftigen Pharmakonzern das Unternehmen künftig im Markt stärken – oder es schwächen, da es sich Konzerninteressen unterordnen müsste oder gar mit einem anderen Unternehmen verschmolzen würde? Einem solchen Kauf konnte man lediglich durch eigenes Handeln zuvorkommen, wenn dies von der Unternehmensleitung angestrebt würde. Für Gerhard Schaefer war es nun höchste Zeit, seinen Bericht an die Unternehmenseigner über die künftigen Marktentwicklungen und seine Handlungsempfehlungen für Hexal fertig zu stellen.

Aufgabenstellung 1. Wie stellt sich der Generikamarkt in seinen Prozessen und seiner Struktur zum Zeitpunkt des Falls dar? Mit welchen Problemen sieht sich das Unternehmen Hexal auf dem Generikamarkt konfrontiert? 2. Welche Chancen und Risiken bieten sich dem Unternehmen im Markt? Welche Stärken und Schwächen hat es dabei zu berücksichtigen? 3. Welche strategischen Handlungsoptionen bieten sich für Hexal an? Welche würden sie präferieren und warum? 208

6

So fühlt sich Pflege an *

Generationswechsel bei Beiersdorf Im Mai 2005 ging der damalige Vorstandsvorsitzende der Beiersdorf AG Dr. Rolf Kunisch nach elf Jahren an der Spitze des Unternehmens in den Ruhestand. Es folgt eine Überraschung: die Nachfolge übernahm Thomas-Bernd Quaas, langjähriger Manager aus eigenem Hause. Dr. Rolf Kunisch skizzierte seinem Nachfolger die wesentlichen Treiber des Kosmetikmarktes sowie die Situation der Marke Nivea, die ihm besonders am Herzen liegt. Ihm war es besonders wichtig, seinen Nachfolger bestmöglich auf die ihn erwartenden Aufgaben und Verantwortungen vorzubereiten: "Lieber Herr Quaas..."

"...es begann im Jahre 1911. Die Anfänge von Nivea" Das Geburtsjahr der Nivea Creme ist das Jahr 1911. Damals nutzte Dr. Oskar Troplowitz die Entdeckung des aus Schafswollfett gewonnenen Emulgators Eucerit und rührte aus Wasser, Öl, Glycerin, ein wenig Zitronensäure, Maiglöckchen- und Rosenduft die erste stabile Fett- und Feuchtigkeitscreme der Welt - die "Mutter aller Cremes" zusammen. Diese Rezeptur ist bis heute noch fast unverändert. Die Creme besaß wegen ihrer stabilen Konsistenz ein schneeweißes Aussehen, aufgrund dessen sie zu dem Namen Nivea, abgeleitet von dem lateinischen Wort nix, nivis - der Schnee, kam. Sechs Jahre nach Toplowitz´ Tod im Jahre 1918 wäre die Nivea-Erfolgsstory beinahe schon zu Ende gewesen. Die Beiersdorf-Direktoren hatten vor, die Creme unter dem Namen Pebecco weiterzuführen, eine damals erfolgreichere Marke des Unternehmens. Gerettet wurde Nivea von einem Marketing-Mann. Juan Gregorio Clausen, damals Werbeleiter, setzte den Relaunch durch: Die zuvor im Jugendstil gehaltene gelb-grüne AluDose bekam das berühmte Blau und den weißen Schriftzug. In den zwanziger Jahren entwickelte sich die Nivea-Creme zu einem Massenprodukt: Pflege ohne Firlefanz, erschwinglich für alle - das Erfolgskonzept bis heute.

*

Unter Mitarbeit von Nina Gottesleben und Jan Wirsam

209

6

So fühlt sich Pflege an

Dank Nivea läuft´s bei Beiersdorf wie geschmiert Heute ist Nivea die bekannteste Körperpflegemarke der Welt. Um die klassische blaue Nivea- Creme-Dose, welche immer noch unser Markenzentrum bildet, hat sich mit der Zeit eine Markenfamilie gesellt, die den kompletten Bereich der Kosmetik abdeckt: Im Bereich Hand- und Körperpflege unsere Marken Nivea Creme und Nivea Body, im Bereich Gesichtspflege die Marken Nivea Visage und Nivea Vital, im Bereich Babypflege Nivea Baby, im Bereich der Sonnenkosmetik Nivea Sun, im Bereich der Herrenkosmetik Nivea for Men, beim Deodorant die Marke Nivea Deodorant, im Bereich Bath Care die Marke Nivea Bath Care, im Haarpflegemarkt die Marke Nivea Hair Care und im Bereich der dekorativen Kosmetik die Marke Nivea Beauté und zuletzt seit 2003 die Marke Nivea Young im Bereich der Pflege junger Haut. Der große Erfolg der Marke Nivea liegt in dem richtigen Zusammenspiel zwischen Konstanz und Innovation und der Ausnutzung von Synergien der Markenfamilie. Es wird auf qualifiziertes Markenwachstum in drei Dimensionen gesetzt: konsequenter Ausbau der Marktanteile, Etablierung neuer Marktsegmente und das Erschließen neuer Verkaufsregionen. Dabei wird eine international einheitliche Strategie verfolgt, die von den Tochtergesellschaften perfekt lokal angepasst werden, wie etwa in der klassischen Werbung bei den Models und in der Sprache. Dadurch werden die Marken oft als lokale Marken wahrgenommen, wie zum Beispiel Nivea in Mexiko. Da inzwischen mehr als 30% des Umsatzes mit Produkten erwirtschaftet wird, die nicht älter als fünf Jahre alt sind, sind die Investitionen in Forschung und Entwicklung von besonderer Bedeutung, was im Jahr 2004 einem Investitionsvolumen von über 100 Mio. € entsprach. Im August 2004 wurde das neue Forschungszentrum in Hamburg eingeweiht. In diesem Zentrum verfügt der Beiersdorf-Konzern über beste Voraussetzungen, um auch in Zukunft innovative Forschung- und Entwicklungsarbeit zu leisten. In der Hautforschung wird konsequent daran gearbeitet, die Verbraucherwünsche zu erfüllen. Dabei geht es vor allen darum, die Hautalterungsprozesse zu analysieren und Forschungsergebnisse in konkrete Produkte umzusetzen. So enthält zum Beispiel die Nivea Body Milk & Lotion Inhaltsstoffe, welche die Haut anregen, mehr eigene Feuchtigkeit zu produzieren.

Nivea ist europaweit die vertrauenswürdigste Hautpflegemarke Dass die von Beiersdorf gewählte Strategie richtig ist, zeigen verschiedene Verbraucherstudien. So ist Nivea europaweit die Hautpflegemarke, der die meisten Verbraucher vertrauen. So genießt Nivea in der Produktkategorie Hautpflege ein so großes Vertrauen wie keine andere Marke. Zu diesem Ergebnis kam die Verbraucherstudie "Reader´s Digest European Trusted Brands 2005". Die Konsumenten kürten die Marke Nivea erstmals in allen teilnehmenden Ländern zur vertrauenswürdigsten Marke ihres

210

So fühlt sich Pflege an

Produktfeldes. Die Nivea-Produktfamilie strebt nicht nur quantitatives Wachstum an, es wird auch sehr viel Wert auf gesteigerte Qualität gelegt. Dies spiegelt sich in den führenden Marktpositionen in den verschiedenen Produktkategorien, in den einzelnen Ländern wider. Von weltweit 57 systematisch untersuchten Ländern hielten wir 2003 bereits 173 von insgesamt ca. 650 möglichen Spitzenpositionen, 2004 waren es dann sogar 183 erste Plätze. Dieser große Erfolg spiegelt sich auch in den Umsatzzahlen der Beiersdorf AG wider: Das Jahr 2004 brachte für uns erneut Rekordwerte bei Umsatz und Ertrag. Der Umsatz von Nivea-Produkten stieg im vergangenen Jahr auf 2,73 Mrd. €, wechselkursbereinigt betrug die Steigerungsrate 4,4 %. Gegen den rückläufigen Trend des Marktes für Hautcremes in Deutschland konnte sich Beiersdorf behaupten. Das Unternehmen war mit den Marken Nivea Creme, Nivea Soft und Nivea Hand mit 37 % wertmäßigem Marktanteil mit weitem Abstand die Nr. 1. Auf dem Hautlotion-Markt sah es in Deutschland ähnlich gut für Beiersdorf aus. Der Markt stagnierte 2004 zwar auf 240 Mio. €, Nivea body konnte aber auch hier die Marktführungsposition mit knapp 30 % Marktanteil weiterhin halten. Auf Platz zwei im Markt folgte Dove (Unilever) mit einem Marktanteil von 13%. Im Bereich der Gesichtspflege führen die Nivea Produkte mit 23 % Marktanteil die Spitze an, weit vor L`Orèal Paris mit 9 % und Oil of Olaz mit 6 %. Innerhalb des Nivea- Gesichtspflegesortiments konnten die Produkte für reife Haut, unter der Submarke Nivea Vital, weiter stark wachsen. Im Markt für dekorative Kosmetik zeichneten sich in Deutschland rückläufige Wachstumsraten aus. Nivea Beauté, konnte den Produktumsatz dennoch um 8 % im Vergleich zum Vorjahr steigern. Die Einführung im umsatz- und wachstumsstärksten Segment "Mascara" hat die positive Entwicklung von Nivea Beauté vorangetrieben. Alle wesentlichen Wettbewerber mussten Marktanteilsverluste verzeichnen. Ähnliche Verhältnisse waren im Haarpflege-Markt, zu dem Shampoos, Spülungen und Kuren gehören, vorzufinden. Dieser stagnierte bei einem Umsatzvolumen von 640 Mio. €. Die Produkte der Sparte Nivea Hair Care konnten dem extremen Wettbewerbsdruck im Markt dennoch standhalten und hielten ihren Marktanteil von 9 % und die Position drei zusammen mit den Pantene-Produkten von P&G. Marktführer ist Elvital von L´Orèal mit 12% gefolgt von Schauma mit 11%. Der deutsche Haarstyling-Markt mit den Produkten Haarspray, Schaumfestiger und Gel/Creme/Wachs, hat sich mit -2% ebenfalls rückläufig auf ein Umsatzvolumen von 480 Mio. € entwickelt. Nivea war hier die am stärksten gewachsene Marke und schnitt erstmals besser als der Konkurrent Studio Line von L´Orèal ab. Innerhalb der letzten zwei Jahre konnte Nivea Styling somit von Platz fünf auf Platz drei mit jetzt 10 % Marktanteil verbessern. Marktführer in diesem Segment ist nach wie vor Taft von Henkel mit 24 % Marktanteil vor Wellaflex mit 12 % Marktanteil. Der Markt für Duschbäder war mit 1,5 % gering rückläufig. Das Sortiment zeichnete sich weiterhin durch eine aggressive Vermarktung über den Preis aus. Nivea konnte sich von diesem Trend durch innovative Produktentwicklungen abkoppeln. Die im Januar 2004 eingeführte hautstraffende Massagedusche mit individuell verstellbarem Massagekopf war die erfolgreichste Einführung des Marktes in 2004.

211

6

6

So fühlt sich Pflege an

Nivea möchte mehr Männer pflegen Verschiedene Studien über den Markt der Herrenkosmetik prophezeien hier ein nahezu zweistelliges Marktwachstum in den nächsten Jahren. Den größten Anteil daran machen dabei die Gesichtspflege, Cremes gegen vorzeitiges Altern, Anti-Stress Masken und Augengele aus, welche zunehmend auf den Markt der Herrenkosmetik drängen. Im Rahmen der Studien wurde festgestellt, dass Männer eine unkomplizierte Anwendung schätzen. Solange Hersteller dies berücksichtigen, dürfte der positiven Entwicklung in diesem Segment nichts im Wege stehen. Im Jahr 2004 wurde mit den Produkten der Männerkosmetik ein Marktvolumen von insgesamt 600 Mio. € erzielt. Um 5 % wuchs dabei der Markt für Gesichtspflegeprodukte. Nivea for Men war in diesem Marktsegment mit 63 % eindeutiger Marktführer. Im April 2004 wurden Waschgele und Gesichtscremes für sensible Haut erfolgreich eingeführt. Der Markt der Rasiermittel entwickelte sich leicht rückläufig. Die Nivea for Men Produkte behaupteten dennoch ihre Marktführerschaft mit 27 % Marktanteil noch vor Gillette mit 26 % und Palmolive mit 18 %. Auch der After-Shave Markt stagnierte. Nivea for Men konnte hier die Marktführerschaft gegen den Trend mit 18 % weiter ausbauen. Es folgten Tabac mit 9 % und Adidas mit 8 % Marktanteil. Auch auf internationaler Ebene kann sich die Nivea for Men-Serie gut behaupten. Bei der "2005 Best New Product Awards”-Gala in Kanada gewann ein Nivea For Men Produkt schon das zweite Jahr in Folge den ersten Platz. Im Jahre 2004 wurde der Nivea For Men After Shave Balm zum "Best New Product" seiner Klasse gekürt, 2005 war es die Nivea For Men Sensitive Lotion. Zudem hat das Nivea for Men After Shave inkl. Men´s Face 2004 in 23 Ländern die Marktführungsposition übernommen. Diese Ergebnisse belegen den großartigen Erfolg der Beiersdorf Forschung und Entwicklung. Sie bestätigen die konsequent verfolgte Strategie der Innovationsführerschaft.

Nivea Sun – einsam an der Spitze Im Vergleich zum heißen Sommer 2003 in Deutschland führte der verregnete Sommer 2004 zu einem deutlichen Rückgang von 18 % im Markt für Sonnenpflege. Das Marktvolumen 2004 betrug somit nur noch 110 Mio. €. Anfang des neuen Jahrtausends etablierten sich auch im Markt der Sonnenkosmetik preiswerte Handelsmarken. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und die Position der Nivea-Sun-Serie zu sichern, entschied sich Beiersdorf für die Strategie, Nivea Sun von der degressiven Preisentwicklung abzukoppeln. Statt den Preis für die Produkte zu senken, wurden Nivea Sun Produkte in attraktiven Urlaubsgrößen bei konstanten Preisen vertrieben. Der Erfolg der Strategie zeichnete sich durch eine gefestigte Marktposition aus, denn Nivea Sun ist 2004 trotz dieser Entwicklung mit 24 % Marktanteil klarer Marktführer vor Ambré Solair (L´Oreal) mit 12 % und Delial (Sara Lee) mit 10 % Marktanteil. Um den Qualitätsabstand zum Wettbewerb halten zu können, wird kontinuierlich an neuen Produk-

212

So fühlt sich Pflege an

ten gearbeitet. Die letzte Innovation aus dem Hause Beiersdorfer in diesem Markt ist ein Sonnenschutzprodukt, das sofort ohne Einwirkzeit gegen die gefährlichen Sonnenstrahlen schützt.

Nivea versus Handelsmarken Die Entwicklung des Körperpflegemittel-Marktes in Deutschland war 2004 im Vergleich zum Vorjahr knapp rückläufig. Dieser Rückgang spiegelte die in Deutschland anhaltende Konsumflaute wider. Viele Verbraucher griffen zudem zu den immer beliebter werdenden Billigprodukten der Handelsketten. Gerade die Nivea-Produkte wurden dabei gerne und oft vom Handel imitiert. So hatte beispielsweise die Drogeriemarktkette DM eine Handelsmarke mit dem Namen "Balea" im Sortiment. Die Verbraucher werden mit den günstigen Handelsmarkenprodukten preissensibel gemacht. Das Markenbewusstsein wird reduziert ebenso wie die Preisbereitschaft der Verbraucher. Dieser Trend wird durch verschiedene Studien belegt. Demnach sinken die monatlichen Ausgaben für Kosmetik und Körperpflege deutlich und gerade Frauen werden in diesem Bereich wesentlich sparsamer und greifen immer öfter zu den Handelsmarken. Die Zeit in denen eine Konsumentin nur Wasser und ein Markenprodukt an ihre Haut ließ sind vorbei, die Handelsmarke ist mittlerweile auch bei der Kosmetik salonfähig. Zudem werden Kosmetik- und Körperpflegeprodukte auch vermehrt in Discountern gelistet. Dies erhöht den Konkurrenzdruck auf die Markenhersteller enorm, denn die dort eingeführten Produkte haben zum Großteil auch Handelsmarkencharakter. Die Nivea Produkte können sich gegenüber dem wachsenden Druck, der von Seiten der Handelsmarken ausgeht wesentlich besser behaupten als konkurrierende Marken im Hochpreis- oder Billigsegment. Nivea ist im oberen Feld der Mittelpreislage positioniert. Dadurch sind sie ein Sammelbecken für wechselbereite Verbraucher. Gründe für einen Produktwechsel hin zu Nivea sind mannigfaltig. Verbraucher wechseln, weil ihnen Marken wie L´Orèal oder Wella zu teuer geworden sind. Diese landen auf der Suche nach preiswerteren Markenprodukten oft bei Nivea. Konsumenten, die es auf Dauer zu langweilig finden, sich mit Billigmarken einzudecken, betrachten Nivea hingegen als willkommenen Aufstieg. Nachgewiesen ist, dass Verbraucher von Handelsmarken keine große Markenloyalität gegenüber diesen Marken haben und somit wechselbereit sind. Hier liegt unsere Chance. Dem Druck, der sowohl von billigeren Handelsmarken als auch von anderen Markenherstellern auf die Nivea-Produkte einwirkt, wird mit immer wieder neuen Wegen entgegengewirkt. Zuletzt wurde ein für unsere Produkte neuartiges Präsentationskonzept eingeführt. Die neuen Nivea-Shops in großen Kaufhäusern Deutschlands präsentieren auf einer Fläche von ca. 30 m² die gesamte Produktpalette von Nivea an einem Ort. Sie sind ein Gegenentwurf zu herkömmlichen Markenpräsentationen in manchen Handelsregalen, grenzen die Nivea-Produktpalette von denen der Wettbewerber und von der Welt der Handelsmarken ab. Diese Shops, welche sehr hochwertig ausgestat-

213

6

6

So fühlt sich Pflege an

tet sind, stellen eine ideale Plattform dar, um durch professionelle Beratung und Aktivitäten, wie beispielsweise Hautanalysen, neue Verbraucher zu gewinnen und an unsere Marke zu binden. Im schon erwähnten zunehmenden Preiswettbewerb sind dies entscheidende Vorteile. Zudem können die Handelspartner die Attraktivität ihrer Angebote erhöhen, dies wiederum schafft neue Kaufimpulse. Eine Verbraucherbefragung ergab, dass es 97 % der Befragten gut gefällt, alle Produkte an einem Platz zu finden, 98 % lobten die optische Gestaltung der Shops.

Aufgabenstellung 1. Bestehen zwischen den Nivea-Produktfamilien in Bezug auf die Befriedigung der Kundenbedürfnisse Interdependenzbeziehungen? 2. Betrachten Sie den Markt der Herrenkosmetik und den Markt der Sonnenschutzprodukte genauer: • Wie sehen Sie die Entwicklung dieser beiden Märkte? • Wie konkurrenzfähig sind die Nivea-Produkte? 3. Bewerten Sie die Ansätze zur Bekämpfung der wachsenden Konkurrenz der Handelsmarken. 4. Analysieren Sie die Wettbewerbsstrategie des Beiersdorf-Konzerns für die NiveaProdukte.

214

Teil C Programmmanagement

7

Gegenwind für Windkraft*

Der Windenergiemarkt Die Windenergie nahm in Deutschland 1982 ihren Anfang. Damals speiste die erste private Windkraftanlage Strom in das öffentliche Netz ein. Diese Anlage leistete 20 Kilowatt, was im Vergleich zu heutigen Anlagen, die Nennleistungen im MultiMegawatt-Bereich aufweisen, verschwindend gering erscheint. Im Verlauf der 80er Jahre war wenig Bewegung im Windenergiemarkt. Erst im Jahre 1991 mit der Verabschiedung des Stromeinspeisungsgesetzes (Gesetz über die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien in das öffentliche Netz), durch welches die Stromkonzerne zur Abnahme des Stroms aus erneuerbaren Energien zu festgelegten Mindestvergütungen verpflichtet wurden, und 2004 mit der Novellierung im Erneuerbare-EnergienGesetz (Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien) wurde die Basis für den Boom auf dem Windenergiemarkt politisch geschaffen. Seitdem befindet sich die Branche im Aufwind. Anfang der 90er Jahre waren in Deutschland lediglich 1.211 Windkraftanlagen installiert. Bis Ende 2004 stieg diese Zahl auf 15.797 an. Bis 2010 soll die Nutzung der Windkraft noch einmal verdoppelt werden. Allerdings stößt die Branche auch zunehmend auf Gegenwind, der aus verschiedenen Richtungen weht.

Die REpower Systems AG Die REpower Systems AG entwickelt Windkraftanlagen mit dem Ziel, die Erzeugung von Strom aus Windenergie wettbewerbesfähig zu machen. Im Geschäftsjahr 2004 konnte die REpower Systems AG den Marktanteil in Deutschland auf 9,2 % ausbauen und ist damit auf Rang 3 der Hersteller hinter Enercon, Vestas und vor GE gerückt. Auf dem Weltmarkt nimm REpower derzeitig Rang 6 ein. REpower begreift sich dabei als ein langfristig orientiertes Unternehmen, dessen dauerhafter Erfolg nur dann gewährleistet werden kann, wenn es die Erwartungen erfüllen kann, die die Gesellschaft an das Unternehmen stellt. Das Unternehmen wurde im Jahre 2001 gegründet. Dabei schlossen sich fünf Mittelständler zusammen, um unter einem gemeinsamen Dach der so genannten "REpower*

Unter Mitarbeit von Sascha Glees

215

7

Gegenwind für Windkraft

Systems Gruppe" ihre Geschäftsaktivitäten zu bündeln. Orientiert an den Kernkompetenzen der REpower in den Bereichen Technologie, Produktion und Service werden von ihr die Geschäftsfelder Systementwicklung, Anlagenproduktion sowie Betrieb und Wartung entlang der Wertschöpfungskette innerhalb des Windenergiemarktes abgedeckt. Nicht abgedeckt werden von ihr die Bereiche Komponentenbau, Projektentwicklung, Windpark-Fonds-Management sowie Windparkeigentümer-Tätigkeiten. Das Unternehmen sieht die Qualität seiner Produkte, die geringe Fertigungstiefe sowie die internationale Ausrichtung als entscheidende Erfolgsfaktoren an, die den Unternehmenserfolg nachhaltig sichern sollen. REpower verfügt in Bezug auf seine Produkte über ein starkes Know-how in der Technologieentwicklung von Windenergiesystemen und -komponenten, welches ihr angesichts ihres vorhandenen Anlagenspektrums die Rolle des Technologieführers auf dem Windenergiemarkt sichert. Am 13.11.2004 wurde von REpower die größte, höchste und leistungsstärkste Windkraftanlage (WKA) der Welt an das Stromnetz angeschlossen. Diese Windkraftanlage des Typs "REpower 5M" ist 180 Meter hoch und hat einen Rotordurchmesser von 126 Metern. Sie verfügt über eine Nennleistung von 5 Megawatt, womit ihre Jahresleistung theoretisch ausreichen würde, um 6.000 Haushalte mit Strom zu versorgen. Die Anlage soll zukünftig vor allem in Off-Shore-Windparks installiert werden kommen, und in diesem Bereich die Wettbewerbsfähigkeit von REpower sichern. Die Produktionsstrategie von REpower legt den Fokus auf das Systemdesign und die Fertigung von Windenergieanlagen mit dem Ziel einer geringen Fertigungstiefe. Komponenten und Baugruppen der WKA wie z.B. Türme, Generatoren, Rotoren und Getriebe werden deshalb nicht selbst hergestellt, sondern von Dritten zugeliefert. Bei wesentlichen Komponenten verfügt die REpower über mehrere Zulieferer, um nicht von einem abhängig zu werden. Daraus ergeben sich eine geringe Kapitalbindung bei der Herstellung sowie die Möglichkeit, flexibel in ausländische Märkte einzutreten, weil zur Verlagerung des Produktionsstandortes nur wenige Schritte notwendig sind. Die internationale Ausrichtung erfolgt über verschiedene Markteintrittsstrategien. Je nach dem welche Erfordernisse auf dem jeweiligen ausländischen Markt gegeben sind, kann der Markteintritt über eine Lizenzvergabe, Joint Ventures oder eigene Tochterund Beteiligungsgesellschaften erfolgen. Über die Lizenzvergabe gelang es REpower z.B. sich den chinesischen Markt zu eröffnen. Japan, Kanada und Australien sind weitere außereuropäische Märkte, in denen das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit ausübt. Einige REpower Produkte sind als komplettes Lizenzpaket erhältlich, d.h. der Lizenznehmer erhält dann Zugang zu einer fertigen Windkraftanlage mit vollständiger technischer Dokumentation für Herstellung und Einkauf. REpower ist über diese Strategien in viel versprechenden Märkten im europäischen Ausland wie Spanien, England, Frankreich und Griechenland tätig.

216

Gegenwind für Windkraft

Das Unternehmensumfeld Der Pressemitteilung der REpower Systems AG vom 07.04.2005 ist zu entnehmen, dass Veränderungen im Vorstand des Unternehmens bevor stehen. Auf einer außerordentlichen Sitzung des Aufsichtsrates wurde am Vortag beschlossen, im Rahmen des Restrukturierungsprogramms "REact" das Management von fünf auf drei Mitglieder zu reduzieren. Die Aufgaben des Vorstands werden künftig von Prof. Dr. Fritz Vahrenholt als Vorstandsvorsitzender, Pieter Wasmuth als Finanzvorstand und Matthias Schubert als Verantwortlicher des operativen Geschäfts wahrgenommen. Thomas Franck und Olaf Struck scheiden aus dem Vorstand aus. Der nunmehr umstrukturierte Vorstand des Unternehmens beschließt, als Einstieg in seine Tätigkeit eine Analyse des Unternehmensumfeldes durchführen zu lassen. Hierbei sollen aktuelle sowie zukünftige Probleme, Markttrends und Veränderungen der Rahmenbedingungen des Windenergiemarktes aufgezeigt werden, die der Branche und somit zwangsläufig auch der REpower Systems AG Gegenwind bescheren bzw. bescheren könnten. Zu diesem Zweck wird ein Stab gebildet, der die Analyse durchführen und dem Vorstand beratend zur Seite stehen soll. Dem Stab, bestehend aus jungen Führungskräften des Unternehmens, wird ein Zeitfenster von zwei Wochen gegeben, um dann die ersten Ergebnisse dem Vorstand präsentieren zu können. Am Freitag, den 22.04.2005 präsentieren Fritz Magnus und Holger Simkat als Mitglieder des Stabs in einem Meeting mit dem Vorstand die Ergebnisse: Fritz Magnus eröffnet die Präsentation mit einem Bericht zur allgemeinen Situation des Windkraftmarktes: Die Stromkonzerne sind seit 1991 zum Einspeisen der Windkraft verpflichtet. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz garantiert uns seit April 2000 sogar, dass die etablierten Stromkonzerne unseren durch Windkraft erzeugten Strom zu einer Vergütung von nunmehr 8,8 Cent pro Kilowattstunde (kWh) abnehmen und verteilen müssen. Das bedeutet, dass der Käufer unserer Anlagen mit sicheren Einnahmen durch die Stromerzeugung rechnen kann. Reichen die vorhandenen Netzkapazitäten der Stromversorger nicht aus, müssen E.ON, RWE, Vattenfall, EnBw u.a.m. auf eigene Kosten die Netzkapazitäten erweitern. Das EEG räumt den Betreibern von Windkraftanlagen sogar eine grundsätzliche Vorfahrt im deutschen Stromnetz ein. Dies bedeutet, dass wann immer sich in Deutschland ein Windrad dreht, fließt der von ihm erzeugte Strom automatisch und völlig unabhängig von der aktuellen Nachfrage ins Netz zu der im Gesetz festgelegten Vergütung. Unter dem Aspekt, dass für konventionellen Strom nur 3,5 Cent gezahlt werden, ergibt sich daraus eine Differenz, die sogar das Betreiben von eigentlich ineffizienten Windmühlen in windschwachen Gebieten lohnenswert macht. Am 01.08.2004 trat nach langer Diskussion allerdings ein novelliertes EEG in Kraft. Die wichtigste Neuerung für die Windenergie-Brache ist die Absenkung der Vergütung für Strom aus Windkraftanlagen auf 8,7 Cent/kWh beträgt und eine Degression von 2% pro Jahr enthält, die mit Wirkung vom 01.01.2005 in Kraft tritt. Das bedeutet konkret, dass eine Anlage, die 2005 in Betrieb genommen wird, nur noch mit 8,53

217

7

7

Gegenwind für Windkraft

Cent/kWh vergütet und eine die 2006 in Betrieb genommen wird nur noch mit 8,36 Cent/kWh vergütet wird. In unserer Branche herrscht eine Konsolidierungswelle. Wir schätzen, dass es langfristig wie bei den Gasanbietern nur noch fünf Unternehmen geben wird. Ende letzten Jahres hat Vestas wie wir alle wissen der weltweit größte Windanlagenbauer – NEG Micon, die Nummer drei, geschluckt. Auch in Bezug auf unser Unternehmen kamen Übernahmespekulationen auf, weil unser Firmenmitbegründer und ehemaliges Vorstandsmitglied Hugo Denker sein Aktienpaket von 15% veräußern wollte bzw. veräußert hat. Zu einer Übernahme kam es zum Glück nicht, denn die portugiesische Martifer-Gruppe hat Ende Januar dieses Jahres Denkers Anteil erworben. Damit haben wir einen wichtigen strategischen Großinvestor gewonnen. Das im Bereich Stahl- und Metallbau tätige Unternehmen erhöhte in diesem Zug seinen Anteil von bislang 5,05% auf 19,05%. Somit ist die Martifer-Gruppe unser größter Einzelaktionär geworden. Diese Beteiligung kommt uns nicht ungelegen, denn einen solchen kapitalkräftigen Partner können wir gut gebrauchen, wenn wir weiter wie geplant im Ausland expandieren wollen. Nunmehr spiegelt sich unsere internationale Ausrichtung auch in der Aktionärsstruktur wider. Es bleibt weiterhin abzuwarten, wen die Konsolidierungswelle noch treffen wird. Gegenwind erhalten wir und unsere Branche auch durch die Medien. Nehmen wir die Sendung Spiegel TV vom 19.10.2003 und den Spiegel-Artikel vom 29. März 2004 als Beispiele. Die Sendung "entlarvte" fünf mutmaßliche Windkraft-Lügen. Zum Beispiel Windkraft sei weder ökologisch noch billig. Unabhängig vom wirklichen Hintergrund der jeweiligen "Lüge" sind solche Aussagen angesichts eines Millionen-Publikums für uns nicht förderlich. Der SpiegelArtikel prangerte unter dem Titel "Die große Luftnummer" die "Verspargelung" der Landschaft an. Der Artikel startete auch gleich mit der Errichtung unserer "REpower 5M", was neben der allgemeinen Kritik an der Windkraftbranche, vor allem unserem Unternehmen schadet. Für steigende Akzeptanz der Windkraftanlagen in der Bevölkerung sorgt solch eine Presse bestimmt nicht. Abgesehen davon nimmt auch die Anzahl der Bürgerinitiativen gegen die Windkraft zu. Mit Namen wie "Gegenwind" oder "Sturm gegen Wind" protestieren sie gegen die Errichtung von neuen Windkraftanlagen ebenso wie gegen bereits installierte. Die Bürgerinitiativen beschweren sich über Schattenwurf, Lärm und die Verschandelung der Landschaft. Über die Medien verschaffen sich die Bürgerinitiativen Gehör bei einer Vielzahl von Menschen und über weite Teile Deutschlands. In einem Spiegel-Essay wird der Dichter Botho Strauß zitiert: "Eine brutalere Zerstörung der Landschaft, als sie mit Windkrafträdern zu spicken und zu verriegeln, hat zuvor keine Phase der Industrialisierung verursacht." Solche Aussagen, veröffentlicht in viel gelesenen Zeitschriften und Zeitungen, führen natürlich zu einem Akzeptanzverlust in der Bevölkerung gegenüber der Windkraft. Oft ist auch von Leuten zu hören, die durch Windkraftanlagen um ihren Schlaf gebracht werden. Ein dumpfes Dröhnen gehe ihrer Meinung nach von den Windkraftanlagen aus, gegen das keine Ohrstöpsel und keine schallisolierten Fenster helfen. Diese "tieffrequente Geräuschemission" ist schwer nachzuweisen, führt aber auf jeden Fall nicht nur bei Betroffenen zu einer sehr kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema "Windkraft".

218

Gegenwind für Windkraft

Holger Simkat setzt den Vortrag fort und fokussiert in seinem Beitrag auf die Errichtung von Windfarmen vor der Küste: In den nächsten Jahren werden vor den Küsten Deutschlands die größten Windfarmen der Welt entstehen. Diese so genannten "Off-Shore-Windparks" werden vermutlich ab 2007 vor der deutschen Nord- und Ostseeküste sich ausbreiten. Der Gesetzgeber verlangt allerdings von uns, dass wir die Anlagen in 30-40 km Entfernung von der Küste und in 30-40 Meter tiefem Gewässer aufstellen. Wenn wir schon in so tiefem Gewässer bauen müssen, dann ist es ratsam, dies mit den größten Anlagen im Multi-Megawatt-Bereich zu unternehmen, weil so die Fixkosten für Fundament und Kabel etc. anteilig sinken. Die Gesamtleistung der schon beantragten Off-Shore-Windkraftanlagen beläuft sich auf 9.000 Megawatt. Dies entspricht ungefähr 2.000 Windmühlen. Damit könnten vier große Atomkraftwerke ersetzt werden – ein enormes Potential auch für uns! Die Windpark-Entwickler müssen allerdings nachweisen, dass die Windmühlen auf See weder die Schifffahrt noch die maritime Umwelt nachhaltig beeinträchtigen. Zum Beispiel tritt auch auf hoher See bei Off-Shore-Anlagen das von meinem Kollegen schon angesprochene Phänomen der tieffrequenten Geräuschemission auf. Wie sich das auf Fische und andere Meeresbewohner auswirken könnte, die diese Töne wahrnehmen können, ist noch völlig unklar. Auch könnten Vögel von den riesigen Anlagen bedroht werden. Windkraftanlagen erhalten in diesem Zusammenhang oft den Beinamen "Vogelschredder". Der Landesnaturschutzverband schätzt, dass den Anlagen bis zu 400.000 Zugvögel zum Opfer fallen könnten. Aber auch viele Reeder fürchten die Kollisionen ihrer Frachter mit den künstlichen Hindernissen. Wir werden uns auch mit einigen Problemfeldern beim Bau der Anlagen beschäftigen müssen: Die Herstellung der Fundamente in bis zu 40 Meter Wassertiefe ist äußerst aufwendig. Sie müssen den Kräften von Wellen, Stürmen und Eisschollen standhalte. Neue Kapsel-Techniken sind zu entwickeln, um Hightech-Getriebe und Steuerelektronik vor Salzwasser-Korrosion zu schützen. Auf hoher See muss jeder Windpark mit einer vollständigen Wartungs- und Reparaturlogistik ausgestattet sein. Schließlich müssen sehr teure Seekabel verlegt werden, um den Windstrom ins Festlandnetz einzuspeisen. Die Option "Off-Shore-Windpark" hat jedoch auch ihre positive Seiten: Für On-Shore-Anlagen wird es in Deutschland mit Standorten sehr eng und das Missbehagen sowie die Abneigung sowohl gegen bestehende Anlagen als auch gegen solche im Bau oder in Planung nehmen unerfreulicherweise zu. Off-Shore-Anlagen verkörpern eine realistische Zukunfts-Alternative, zumal Prognosen davon ausgehen, dass die Stromausbeute auf hoher See 20-40% höher ausfällt als an Land. Ein hoch brisantes Thema ist eine Studie, die von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement in Auftrag gegeben wurde. Diese Studie könnte für die zukünftige Entwicklung des Windenergiemarktes von entscheidender Bedeutung sein. Die Studie soll Antwort auf Fragen geben wie: Ist die von der Bundesregierung geplante Menge an zusätzlichem Windstrom überhaupt noch zu verkaufen? Welche Kosten entstehen? Welche Technik muss eingesetzt werden, um den Ökostrom einzuspeisen? Welche Auswirkungen hat der Windstrom auf die Energiever-

219

7

7

Gegenwind für Windkraft

sorgung in Deutschland? Doch Clement hält die Ergebnisse dieser Studie noch unter Verschluss. Nur vereinzelt dringen Teile der Studien-Ergebnisse an die Öffentlichkeit. Stimmen diese Berichte, dann könnten für uns schwere Zeiten anbrechen! Das nüchterne Fazit der Wissenschaftler sei, dass die positiven ökologischen Auswirkungen der Windkraft eher bescheiden ausfallen würden. Gesamtwirtschaftlich drohten bei einer weiteren exzessiven Förderung sogar negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt – in der Öffentlichkeit ein ganz sensibles Thema. Um die von der Bundesregierung bis zum Jahr 2015 geplante Ökostrommenge überhaupt in das deutsche Festnetz einspeisen zu können, wäre ein finanzieller und technischer Kraftakt notwendig. Allein 845 Kilometer Hochspannungstrassen müssten in den nächsten Jahren für 1,1 Milliarden Euro gebaut werden, um die in der Bundesrepublik aus dem Boden schießenden Windparks in das Stromnetz eingliedern zu können. Die Kosten, die der Verbraucher für den Ökostrom bezahlen müsse, lägen deutlich höher als bisher angenommen. Für die geplante Steigerung der Windstrommenge, die von der Bundesregierung bis 2015 geplant ist, würden sich die "Netto-Zusatzkosten" auf 12-17 Milliarden Euro summieren. Darin sind keine Investitionen für das Netz und die Förderung des Altbestandes enthalten. Die endgültige Veröffentlichung dieser Ergebnisse wäre ein gefundenes Fressen für Windkraftgegner, das uns gehörigen Gegenwind verschaffen könnte. Zum Schluss seines Vortrags geht Holger Simkat auf die Konkurrenzsituation zur konventionellen Stromerzeugung ein: Ein weiterer Faktor, der das Geschäft mit Windkraftanlagen negativ beeinflussen könnte, sind neue Technologien im Bereich der Kohle- und Gaskraftwerke. Für die nächsten Jahre ist geplant, die meisten Kraftwerke dieser Art zu modernisieren. Auch der Neubau von einigen Kohle- und Gaskraftwerken ist in Planung. Diese modernisierten bzw. neu gebauten Kraftwerke werden einen wesentlich höheren Wirkungsgrad als die heute vorhandene haben. Dadurch wird sich auch deren Ausstoß von CO2 erheblich verringern. Diese Verringerung dieses Treibhausgases ist eigentlich das Argument unserer Branche. Zudem sind die Stromkonzerne zwangsläufig zum weiteren Betreiben von Kohle- und Gaskraftwerken "gezwungen", weil in windschwachen Zeiten der Anteil von Windstrom durch konventionellen Strom erzeugt werden muss. Die Konkurrenz durch diese so genannten "Schattenkraftwerke" könnte in der Zukunft zunehmen und damit den Druck auf uns verstärken.

220

Gegenwind für Windkraft

Aufgabenstellung 1. Strukturieren Sie die vom Stab herausgearbeiteten aktuellen und zukünftigen Sachverhalte und Probleme für das Unternehmen REpower Systems AG im politischen, marktlichen und technischen Umfeld. Arbeiten Sie Interdependenzen zwischen Sachverhalten und Problemfeldern heraus. 2. Führen Sie eine SWOT-Analyse durch, indem Sie die (internen) Stärken und Schwächen des Unternehmens sowie die (externen) Chancen und Risiken im Umfeld herausarbeiten. Begründen Sie Ihre Sichten und Einordnungen. 3. Sammeln und ordnen Sie die Argumente, die für und gegen die REpower Systems AG in der Rolle des Technologieführers oder in der Rolle des Kostenführers sprechen. 4. Welchen Stellenwert für die REpower Systems AG messen Sie der Flexibilität im Bereich der Produktion bei? 5. Entwickeln Sie auf der Grundlage der SWOT-Analyse eine Unternehmensstrategie für die REpower Systems AG, die den erwarteten energiepolitischen, -wirtschaftlichen und -technischen Entwicklungen angepasst ist.

221

7

8

Auf allen Feldern zu Hause*

Erfolgreiche Ernte Im Jahre 1913 gegründet als Reparaturbetrieb für Strohbinder, ist CLAAS heute einer der bedeutendsten Hersteller von Agrarmaschinen weltweit. Die gesamte Prozesskette in der Landwirtschaft wird von Produkten aus dem niedersächsischen Harsewinkel abgedeckt. CLAAS-Maschinen ernten Weizen in Frankreich, Polen und Russland; verarbeiten Stroh und Grünpflanzen in Chile oder den USA; schneiden Zuckerrohr in Zimbabwe und Brasilien und sind auf den Reisfeldern in Indien und China zu finden. Stets ist CLAAS vor Ort und setzt Maßstäbe in Punkto Qualität und technischer Leistungsfähigkeit. In den letzten Jahren konnte die CLAAS-Gruppe ein starkes Wachstum verzeichnen. Mit der Übernahme von Renault- Agriculture 2003 hat CLAAS seine bisher schon bedeutende Stellung als Komplettanbieter in der Landwirtschaft noch weiter ausbauen können. Dadurch konnte CLAAS das Produktangebot erweitern und das Fundament für ein weiteres Wachstum sichern. CLAAS beschäftigt etwa 8000 Mitarbeiter auf dem gesamten Globus. Jeder dritte verkaufte Mähdrescher in Europa wurde von CLAAS ausgeliefert. Weltmarktführer ist CLAAS mit seinen selbstfahrenden Feldhäckslern. Sie sind seit einem Monat Assistent der Geschäftsführung und insbesondere mit strategischen Zielsetzungen des Unternehmens und der Programmpolitik beauftragt. Eine erste Dienstreise führt Sie von Harsewinkel nach Russland. Sie treffen dort Gunther Feilhammer, Manager für den Bereich Ost- Europa, insbesondere Russland. Auf einer Fahrt vom neuen Werk in Krasnodar zu einem Pilotkunden im Landesinneren berichtet er: "Das neue Werk für Mähdrescher in Krasnodar in Russland ist seit einem Jahr in Betrieb. Von diesem Standort aus werden die Felder in der gesamten russischen Föderation mit Mähdreschern beschickt. Die durch Landwirtschaft geprägten Gebiete werden heute noch zum großen Teil mit sehr traditionellen Arbeitstechniken bewirtschaftet. Dies stellt ein Riesenpotential für die CLAAS- Unternehmensgruppe dar. Sehen Sie doch: Die Strassen sind voll mit Pferdewagen, die Landwirtschaft ist zu großen Teilen noch auf dem Stand von vor 50 Jahren in Deutschland. Riesenpotentiale! Das Werk in Russland wird Schritt für Schritt ausgebaut. Zunächst werden wir hier Mähdrescher montieren. Die Komponenten beziehen wir nach wie vor aus Deutschland. Der russische Wertschöpfungsanteil soll jedoch signifikant erhöht werden. Die *

Unter Mitarbeit von Jan Wirsam

223

8

Auf allen Feldern zu Hause

Produktion ist derzeit auf eine Kapazität von 1000 Maschinen ausgelegt. Insgesamt wurden bisher 20 Mio. Euro investiert. Weitere Investitionen sind anvisiert, sofern sich die Geschäftsentwicklung positiv entwickelt. Das Werk hier in Russland sichert auch Arbeitsplätze in Deutschland. In den deutschen CLAAS- Werken wird zusätzliches Volumen generiert, da zentrale Komponenten aus Deutschland kommen. Das Werk ist daher ein Teil des internationalen CLAAS- Produktionsnetzwerkes." CLAAS ist bereits seit 1992 auf dem russischen Markt tätig. Eine eigene Repräsentanz in Moskau stellt das Fundament des Service- und Vertriebsnetzes dar. Seit 1999 gibt es eine weitere Tochterunternehmung, die ein zentrales Ersatzteilelager betreibt. Der Bau des Werkes in Krasnodar ist daher die erfolgreiche Fortsetzung der Investitionen in den russischen Markt. Auf dem Rückflug von Russland nach Deutschland studieren Sie zum wiederholten Male die Bilanzzahlen des Unternehmens.

Tabelle 8-1:

CLAAS Konzern in Zahlen

(nach IFRS)

2005 in Mio. €

2004 in Mio. €

Umsatz

2.175,30

1.928,40

12,8

davon Ausland

1.634,10

1.480,80

10,4

Zahl der Mitarbeiter* (30.9.)

8.134

8.127

0,1

Cashflow nach DVFA/SG

130,7

94,2

38,7

EBITDA

186,7

142,4

31,1

Ergebnis vor Ertragsteuern

86,4

36,1

139,3

Jahresüberschuss

54,7

21,9

149,8

Sachinvestitionen

70,7

64,6

9,4

484,9

374,4

29,5

1.611,70

1.445,90

11,5

Eigenkapital Bilanzsumme

Veränderung in %

Angekommen in Harsewinkel möchten Sie erfahren, was hinter den einzelnen Zahlen steckt. Eine Einladung Ihres Chefs zur Teilnahme an der Sitzung zum Thema "Erfolg ernten" mit Investoren und Kreditgebern nehmen Sie gerne an. Vortragen werden die Geschäftsführung, Prokuristen, Abteilungsleiter sowie Verkaufrepräsentanten aus den wichtigsten Absatzregionen der Welt. Prokurist und Finanzexperte des Unternehmens 224

Auf allen Feldern zu Hause

ist Dr. Möllering. Er eröffnet die Sitzung und gibt Einblicke in die Geschäftsentwicklung des letzten Jahres: "Erfolg ernten! Und zwar auf allen Feldern der Welt! Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen heute einen Einblick in unsere Geschäftsentwicklung geben: Der Umsatz hat sich um 12,8% auf 2,18 Mrd. Euro erhöht. Wir konnten die Marktposition in der Erntetechnik weiter ausbauen und im Traktorengeschäft weiter zulegen. Das Ergebnis vor Steuern ist um 36,1 Mio. Euro auf 86,4 Mio. Euro angestiegen. Das internationale Produktionsnetzwerk wird weiter ausgebaut. Zuletzt haben wir ein neues Werk in Krasnodar/ Russland eröffnet. Die Integration von Renault Agriculture erfolgt weiterhin erfolgreich. Die Eigenkapitalquote wurde nachhaltig gestärkt. Ein Wachstum ist auch im Jahre 2006 zu erwarten. In allen drei Geschäftssegmenten konnte ein Umsatzplus verzeichnet werden. Im Segment Landtechnik erhöhte sich der Umsatz um 12,5% auf 1,998 Mrd. Euro. Der Bereich Fertigungstechnik, der vor allem Fertigungsanlagen für die Luft- und Raumfahrtindustrie herstellt, konnte ein Umsatzplus von 15,4% auf 148,1 Mio. Euro verzeichnen. Der Umsatz des Segments Industrietechnik mit Antriebselementen und Getrieben ist um 21,7% auf 29,2 Mio. Euro gestiegen. Das Ergebnis vor Steuern konnte von 50,3 Mio. Euro im Vorjahr auf 86,4 Mio. Euro im Jahre 2005 erhöht werden. Der Jahresüberschuss erhöhte sich von 21,9 Mio. Euro auf 54,7 Mio. Euro. Das Eigenkapital stieg von 374,4 Mio. Euro auf 484,9 Mio. Euro. Die Erhöhung ist auf die Emission des als Subordinated Perpetual Securities ("Equity Bond") ausgestalteten Eigenkapitalinstruments im Oktober vergangenen Jahres zurückzuführen. Das Nominalvolumen betrug 80 Mio. Euro. Die Eigenkapitalquote von 30,1% unterstreicht die solide Ausfinanzierung von CLAAS. " Nachdem die Bilanzzahlen ausführlich diskutiert wurden vertieft Peer Torentrack, Bereichsleiter Landtechnik die Angaben des Prokuristen: "Erfolg ernten! Der Landtechnikmarkt, größter und wichtigster Geschäftszweig des Unternehmens, präsentiert sich insgesamt sehr positiv. Man muss aber differenzieren. Es gibt geographische Unterschiede in der Entwicklung. Der bedeutendste Markt ist nach wie vor Westeuropa. Der Umsatz stieg in dieser Region um 5,1% auf 1,48 Mrd. Euro. Der Traktorenmarkt ist in Westeuropa insgesamt rückläufig. CLAAS kann aber gegen den Trend seine Marktstellung behaupten. Ein Umsatzanstieg ist in dem Bereich der Erntemaschinen zu verzeichnen. In Deutschland konnte auf Basis eines kräftig gewachsenen Gesamtmarktes ein Plus von 22,4% im Landtechnikbereich erzielt werden. Die Investitionsbereitschaft ist aufgrund der guten Ernte im Jahre 2005 wieder zurückgekehrt. Dadurch konnten nahezu alle Produkte der Erntetechnik Zuwächse verbuchen. Sehr erfreulich ist es, dass das Traktorengeschäft überproportional zunahm. CLAAS Traktoren gibt es erst seit der Übernahme von Renault Agricole in unserem Produktprogramm. Im abgelaufenen Jahr konnten 1350 CLAAS Traktoren verkauft werden, was in etwa einem Marktanteil von 7% entspricht. Anders sieht es in Frankreich und Groß- Britannien aus. Frankreich ist der größte Markt für CLAAS. Auf hohem Niveau konnte der Umsatz weiter ausgebaut werden. Das Traktorengeschäft entwickelte sich verhalten. In England führen die niedrigen Preise für Weizen zu einer geringeren Investitionsbereitschaft. Das Traktorengeschäft konnte, durch die erfolgreiche Integration der früheren Renault- Traktorensparte in den CLAAS- Vertrieb, ausgeweitet werden.

225

8

8

Auf allen Feldern zu Hause

Der Landtechnikumsatz in den übrigen Gebieten entwickelte sich uneinheitlich. Nennenswerte Zuwächse waren in Skandinavien zu verzeichnen, Rückgänge waren aufgrund der langen Trockenheit auf der iberischen Halbinsel nicht zu vermeiden." Nach einer kurzen Kaffeepause werden die Märkte außerhalb West- Europas besprochen. Von Ihrem letzten Besuch in Russland kennen Sie bereits den Manager für Osteuropa, Gunther Feilhammer. Er geht auf die Entwicklung in Zentral- und Osteuropa ein: "˔˓ʾˆˑʲ˘˪ ˔ˏ˓ʹ˩ ˙˖˔ʺˠʲ! Der Osten boomt. Die EU- Osterweiterung und gleichzeitig höhere Betriebseinnahmen der Agrarbetriebe begünstigen ein starkes Wachstum und schlagen sich durch eine erhöhte Investitionsbereitschaft nieder. In den jungen EU- Beitrittsländern, Tschechien und Slowakei sowie in den baltischen Staaten ergaben sich jeweils beachtliche Umsatzsteigerungen. In Ungarn, den für CLAAS bislang größten Markt im zentraleuropäischen Bereich konnte der Umsatz auf einem hohen Niveau gehalten werden. Besonders erfreulich ist die Entwicklung in Osteuropa, wobei sich Umsatzzuwächse um die 25% in Russland und in der Ukraine ergaben. In Weißrussland und in Kasachstan konnte der Umsatz sogar mehr als verdoppelt werden. Das Werk in Krasnodar ist ein deutliches Bekenntnis zu unserer OstEuropa Expansionsstrategie." Besondere Aufmerksamkeit ist auch den großen Agrarregionen außerhalb Europas gewidmet. Peter J. Wheatman, internationaler Verkaufsleiter erläutert die Entwicklungen in Amerika und Übersee. "Succesfull harvesting! Die Vereinigten Staaten von Amerika sind der für CLAAS wichtigste Markt in Übersee. Das Umsatzniveau in den USA konnte gehalten werden. Eine deutlich höhere Nachfrage nach Mähdreschern begünstigte dieses Ergebnis. Die Nachfrage lag daher erneut über der Vorjahresnachfrage. Insgesamt konnte in Übersee ein Umsatzplus von 37,6% erzielt werden. Allerdings brach der Markt für Landtechnik in Südamerika ein. Nur unsere Tochtergesellschaft in Argentinien konnte gegen den Trend Marktanteile hinzugewinnen. In weiteren Ländern wie Kanada oder Neuseeland konnten Umsatzzuwächse realisiert werden." Anwesende Vertreter aus der Bankenwelt beglückwünschen CLAAS zu der insgesamt erfreulichen Entwicklung. Die Kreditgeber konfrontieren die Geschäftsleitung mit Fragen hinsichtlich der Investitionspolitik im vergangenen Jahr. Die Geschäftsführung erläutert dazu: "Die Gesamtinvestitionen beliefen sich im Geschäftsjahr 2005 auf 86,1 Mio. Euro und befinden sich dadurch auf dem Vorjahresniveau. Die Investitionen in Sachanlagen und immaterielle Vermögenswerte betrugen 70,7 Mio. Euro und liegen damit auch geringfügig über dem Vorjahresniveau von 64,6 Mio. Euro. Schwerpunkte der Investitionsaktivitäten sind in der Modernisierung und Neustrukturierung sowie der weiteren Optimierung der Produktionsabläufe zu sehen. Ein weiterer Schwerpunkt bildet der neu initiierte Bereich Traktorenfertigung. Neben den Standorten in Harsewinkel und Le Mans sind Investitionen überwiegend im Werk in Krasnodar zu verbuchen, um die strategisch- bedeutsame Stellung in Osteuropa weiterhin zu

226

Auf allen Feldern zu Hause

etablieren. Weitere Investitionen sind im Bereich der kundenspezifischen Finanzierungslösungen zu vermelden. Der Anteil an CLAAS Financial Services wurde aufgestockt." Die Geschäftsführung betont weiterhin die besondere Bedeutung der Abteilung Forschung und Entwicklung und verweist auf Alfons Dreschmann aus dem Bereich Forschung und Entwicklung. Er gibt einen kurzen Einblick in die Investitionen in seinem Bereich: "Die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung sind im laufenden Jahr auf 78,9 Mio. Euro angestiegen. Das bedeutet einen Anstieg von 8,5%. Bezogen auf den Umsatz entspricht das in etwa 3,6%. Weltweit konnten im Vergleich zum Vorjahr 13% mehr Patente angemeldet werden." Die Geschäftsführung lädt abschließend die geladenen Gäste zum Umtrunk ein. Im Anschluss wagt der Geschäftsführer Karl Käfermann einen Blick in die Zukunft und skizziert die Marktentwicklungen in naher Zukunft: "Es wird von einem insgesamt stabilen Landtechnikmarkt im kommenden Jahr ausgegangen. Regionale Unterschiede sind bei dieser Entwicklung zu berücksichtigen. Der westeuropäische Markt wird als stabil eingeschätzt. EU- weite Regulierungs- Vorhaben unterstützen eher den Absatz von Landtechnik, als ihn zu behindern. Die Investitionsbereitschaft wird eher steigen. Die Folgen anhaltender Dürre in Teilen Südeuropas werden sich negativ auf den Absatz von Landtechnik auswirken. Der Strukturwandel in der Landwirtschaft in den neuen EU- Beitrittsländern im Osten Europas wird positive Effekte erzielen. Die längst überfällige Modernisierung wird hier wohl zügig voranschreiten. In Nordamerika wird es nach dem Rekordjahr 2005 eine kleine Abschwächung geben. In Südamerika ist mit einer spürbaren Erholung nach der Dürrezeit in 2005 nicht zu rechnen. Unbefriedigende Ernteergebnisse, insbesondere in Bezug auf Weizen und Mais, in Verbindung mit sinkenden Getreidepreisen sowie gestiegene Produktionskosten werden auch in 2006 nachhaltig den Absatz beeinflussen. In Indien dürfte aufgrund der positiven Ernteergebnisse durch den außerordentlich guten Monsun mit einem weiterhin moderaten Wachstum zu rechnen sein. Das positive wirtschaftliche Umfeld in Indien dürfte die Investitionsbereitschaft steigern. Für 2006 wird mit einem weiteren Wachstum gerechnet. Wachstumsfördernd ist vor allem die Integration der Traktorensparte von Renault. Durch die Integration des Traktorengeschäftes in das CLAAS Vertriebsnetz ist mit weiteren Umsatzzuwächsen zu rechnen. Weiterhin werden die Aktivitäten in Russland und den anliegenden Staaten und auch in Indien für Wachstum sorgen. Als Risiken sehen wir vor allem die hohen Energie- und Stahlpreise. Produktpolitisch werden wir mit einer Produktentwicklungsoffensive Markterfolge erzielen können. Verbesserungen der Kostenstrukturen und Optimierung von Geschäftsprozessen werden auch im Jahr 2006 fortgesetzt. Erfolg ernten! Das ist unser Anspruch, den wir in den kommenden Jahren weiterhin verwirklichen wollen!" Nach der Sitzung nehmen Sie sich Zeit und verarbeiten die Zahlen. Einiges ist neu, andere Themen sind schon bekannt. Am Abend gehen Sie noch mit Ihrem Kollegen Gunther Feilhammer essen. Eine angeregte Diskussion über das Wachstum des Unternehmens und die Diskrepanz zwischen traditioneller Landwirtschaft und den Errun227

8

8

Auf allen Feldern zu Hause

genschaften der neuesten Forschung aus dem Hause CLAAS begleitet die Unterhaltung. Am nächsten Morgen haben Sie in Ihrem E-Mail Account eine Einladung erhalten, einen Vortrag vor akademischem Publikum über das Thema "Landwirtschaft im Wandel der Zeit" erhalten. Nach einem Telefongespräch mit dem Vorsitzenden der Konferenz haben Sie sich die folgenden Fragen notiert:

Aufgabenstellung 1. Stellen Sie die Geschäftsbereiche und die Produktpalette der CLAAS-Gruppe und die strategische Bedeutung der einzelnen Produkte dar. 2. Strukturieren Sie die genannten Bilanzzahlen und werten Sie diese aus. Welche Informationen würden Sie noch einfordern, um ein konkreteres Bild von der Geschäftsentwicklung zu erhalten? 3. Wovon ist die Investitionsbereitschaft der Kunden von CLAAS im Landtechnikbereich maßgeblich abhängig? Gibt es regionale Unterschiede? 4. In welchen Bereichen können Sie durch unternehmerische Entscheidungen der CLAAS-Gruppe Synergieeffekte erkennen? 5. Die CLAAS-Gruppe befindet sich auf einem Wachstumskurs. Identifizieren Sie die wesentlichen Triebkräfte des Wachstums. 6. Akquisitionen in der Luft- und Raumfahrtindustrie wurden von CLAAS getätigt. Welchen Zweck könnte diese Akquisition für einen Landtechnik- Hersteller haben? 7. Die EU-Beitrittsländer sind durch einen Strukturwandel in der Landwirtschaft geprägt. Welche sozialen Konsequenzen kann dies auf die Bevölkerung der betroffenen Länder haben? 8. Globalisierung in der Landwirtschaft zieht weltweit Konsequenzen nach sich. Diskutieren Sie Dimensionen der Globalisierung und die jeweiligen Vor- und Nachteile für die einzelnen beteiligten Parteien.

Quellenverweis CLAAS Geschäftsbericht 2005. Als Download über www.claas.de

228

Auf allen Feldern zu Hause

Tabelle 8-2:

Produktpalette der CLAAS Landtechniksparte

Mähdrescher

Feldhäcksler

Traktoren

LEXION 600

JAGUAR

XERION TRAC

LEXION 580-570

FIELD SHUTTLE

XERION SADDLE TRAC

LEXION 560-510

JAGUAR Holzhäcksel

ATLES

MEGA

ARES 800

MEDION

ARES 600

DOMINATOR

ARES 500 CELTIS NECTIS

Pressen

Futterernte

Teleskoplader

QUADRANT 2200/2100

Mähen

SCORPION

QUADRANT 1150

Wenden

VARIANT 280-260

Schwaden

ROLLANT 255

Laden

ROLLANT UNIWRAP ROLLANT 250/240 CLAAS SELECT Ballenverpackung Schmierstoffe Batterien Werkzeug DIN- & Normteile PROFI CAM OPTITRAC Serie

229

8

9

LifeFood AG*

Geschäftsfeld der LifeFood AG Die LifeFood AG ist ein international aufgestellter Hersteller von Konsumgütern in der Nahrungsmittelindustrie; sie hat ihren Konzernhauptsitz in der Schweiz. Der Konzernumsatz im Jahr 2003 betrug mehr als 85 Milliarden Schweizer Franken. In Bezug auf das Chinageschäft der LifeFood AG liegen folgende Informationen vor: Die LifeFood AG erzielte im Jahr 2003 einen Umsatz von gut 1 Milliarde US$ im Chinageschäft (rund 9 Milliarden Renminbi); ein Drittel des Umsatzes wird dabei in der Region um die Metropole Hongkong realisiert. Im Zeitraum von 1997 bis 2003 hat sich der Umsatz vervierfacht. In 20 Werken, die mit der Produktion von Nahrungsmitteln und Getränken (Kakao- und Milchpulver, diverse Milch(mix-)getränke, Eiscreme, Schokoladeprodukte, Yoghurt und ähnliches sowie Wasserabfüllanlagen) befasst sind, werden derzeit mehr als 10.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Im Geschäftsjahr 2002 hatte die LifeFood AG in Form ausländischer Direktinvestitionen (Foreign Direct Investments) rund 6 Milliarden Renminbi in das Chinageschäft investiert; im Geschäftsjahr 2003 wurde das Volumen auf 7 Milliarden Renminbi aufgestockt. In 2002 und 2003 flossen jeweils rund 0,8 Milliarden Renminbi in Form von Steuerzahlungen an die Volksrepublik China. Die LifeFood AG unterhält seit rund einhundert Jahren Kontakte zur Volksrepublik China: 1908 wurde das erste Verkaufsbüro in Shanghai eröffnet. Seit 1920 ist die LifeFood AG in Hongkong mit einer eigenen Tochtergesellschaft vertreten. 1990 wurde das erste Werk in China (in Shuangcheng, in der Mandschurei im Nordosten des Landes) eröffnet. Mitte der neunziger Jahre wurde das chinesische Head Office in Beijing eröffnet. In Form von Joint Ventures, aber auch in Form von eigenständigen Foreign Direct Investments, wird das Chinageschäft seither durchgeführt. Das 1990 in Shuangcheng eröffnete Werk war ursprünglich als Joint Venture mit einem chinesischen Partner ausgestaltet. Mittlerweile gehören mehr als 95 % des Werks der LifeFood AG, da die Beteiligung des chinesischen Joint Venture-Partners zurückgefahren werden konnte und die Bindung an den einst staatlich vorgegebenen Partner gelockert wurde. Dort werden von etwas weniger als 1.000 Arbeitnehmern Milchprodukte produziert. Das Werk bewegte als Wirtschaftsfaktor im Jahr 2003 ein Volumen von mehr als 120 Milli-

*

Unter Mitarbeit von Nadine Bischof und Tiantian Li

231

9

LifeFood AG

onen US$ (rund 1 Milliarde Renminbi) in Form von Steuerzahlungen, Personalkosten und Rohstoffeinkaufsaufwendungen. Die LifeFood AG produziert bislang keinen Kaffee in eigenen Werken in der Volksrepublik China. Allerdings werden die unterschiedlichen Märkte mit Importen aus europäischen und asiatischen Werken der LifeFood AG bearbeitet. In Bezug auf den Vertrieb von löslichem Kaffee gilt die LifeFood AG mittlerweile als Marktführer, ebenso wie in Bezug auf Eiscreme und Milchpulverprodukte. Für Schokoladeprodukte wird eine starke Marktstellung erreicht. Die Operational Efficiency wurde im Zeitraum von 1997 bis 2003 um 30 % verbessert. In den Werken werden die Lagerbestände auf dem für einen geordneten Ablauf auf hohem Qualitätsniveau minimal erforderlichen Mengenniveau gehalten. Auch wird darauf geachtet, dass das Working Capital optimiert wird. Im Jahr 2001 hat die LifeFood AG ein eigenes Research & Development Center in Shanghai eröffnet; dort werden neben Arbeiten an Produktinnovationen auch die Geschmackspräferenzen der chinesischen Konsumenten erforscht. Die LifeFood AG unterhält in China ein relativ engmaschiges Vertriebsnetz, um eine hohe Produktverfügbarkeit im Angebot sicherzustellen. In über 500 Städten, die mehr als 100.000 Einwohner haben, sind eigene Vertriebscenter etabliert. Insgesamt werden die Produkte der LifeFood AG in China in über 1 Million Outlets verkauft. Dieses Vertriebsnetzwerk vor Ort ist ein entscheidender Standortvorteil der LifeFood AG gegenüber anderen Wettbewerbern derselben Branche. Dabei hat die Abteilung Konzernsteuerung und planung des Unternehmens ein Konzept ausgearbeitet, wie dieses Netzwerk durch Einpassung regionaler Zentren und "retail hubs" im kommenden Jahr spezifischer auf die jeweiligen Konsumentenbedürfnisse in den einzelnen Regionen ausgerichtet werden kann. Für das Jahr 2010 rechnet die LifeFood AG mit einer Bevölkerungszahl von 1,4 Milliarden Chinesen, wovon je die Hälfte in urbanen Siedlungen und in ländlichen Regionen leben dürfte. Die LifeFood AG möchte beiden Anspruchsgruppen mit entsprechenden Produktangeboten gerecht werden; für die Kundenbasis in den Städten werden verstärkt innovative, State-of-the-art-Produkte entwickelt und angeboten; für die Kundenbasis in den ländlichen Regionen wird der Fokus auf die Zurverfügungstellung von preiswerten Grundnahrungsmitteln gelegt. Nach Analysen der Abteilung Konzernsteuerung und -planung der LifeFood AG entsteht ein Großteil des neuen Wachstums in China in den Städten aus der dritten Reihe sowie im ländlichen Hinterland der reicheren Ostküstenmetropolen. Für die Märkte in den bereits weiter entwickelten Regionen sowie in den Ost-Metropolen werden deshalb andere Produkte konzeptualisiert als für die Regionen im Hinterland sowie die Städte aus der dritten Reihe.

232

LifeFood AG

Rahmenbedingungen für die Kaffeeproduktion in China Die LifeFood AG arbeitet in Bezug auf die Bearbeitung des chinesischen Marktes eng mit der Unternehmensberatung China Consulting Group, Inc. (CCG) zusammen. Maxine Chou ist Vice President der CCG und betreut von ihrem Büro in Shanghai aus die Klienten der Global Consumer Goods Practice. Maxine Chou stellt folgende Daten zusammen: Grundsätzlich lässt sich weltweit beobachten, dass die Kaffeenachfrage pro Kopf gleichgerichtet-positiv korreliert ist mit der Höhe des individuellen Einkommens. Makroökonomisch ausgedrückt heißt das: je höher das Bruttosozialprodukt pro Kopf, desto höher die Kaffeenachfrage pro Kopf. Insofern ist der Kaffeekonsum also ein Indikator für den Wohlstand einer Gesellschaft. Nach Analysen der CCG trifft dieser Sachverhalt auch für China zu. Der Kaffeeanbau hat in China bereits eine hundertjährige Tradition. Auf Taiwan wurden bereits um 1885 erste Kaffeepflanzen kultiviert; der Kaffeeanbau auf dem chinesischen Festland wird etwa seit 1915 in der Provinz Yunnan in Südchina betrieben. Wenngleich der Kaffeeanbau heutzutage in den Provinzen Yunnan, Hainan, Guizhou und Sichuan betrieben wird, stammen mehr als 80 % der chinesischen Kaffeeproduktion aus der Provinz Yunnan. Die Naturbedingungen in Yunnan ähneln denen in Kolumbien, und auch in Yunnan wird zu 100 % ArabicaKaffee angebaut. Derzeit wird der überwiegende Großteil der chinesischen Kaffeeernte von rund 13.000 Tonnen im Jahr 2003 nach Europa sowie in die USA und nach Japan exportiert; der Eigenverbrauch im Land selbst ist noch ausnehmend gering. In der Volksrepublik China gibt es – im Gegensatz zur Teekultur – keine gewachsene, traditionelle Etablierung des Kaffees. Eine Kaffeekultur hat sich bislang nicht spürbar ausgeprägt. Mit Unterstützung der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme) wurden Mitte der 90er Jahre in der Provinz Yunnan in den Gebieten Simao und Linjiang Entwicklungsprogramme für Kaffeebauern aufgelegt, um die Etablierung einer Kaffeekultur vom Anfang der Wertschöpfungskette an mit einer entsprechenden Ausbildung der Kaffeebauern zu initiieren. Dennoch wurden im Jahr 2003 rund 6.500 Tonnen Kaffee in China verkauft. Das entspricht einem Wachstum von rund 90 % im Zeitraum von 1998 bis 2003. Bis 2008 wird mit einem Anstieg auf mehr als 12.000 Tonnen gerechnet. Hierbei ist auffällig, dass nahezu ausschließlich löslicher Kaffee dominiert; Bohnenkaffee ist noch teurer – zudem ist die Zubereitung aus Sicht der Endverbraucher aufwendiger. Kaffee wird in China derzeit noch vorwiegend in entsprechenden Cafeterias und Restaurants in großen Städten wie bspw. Beijing, Guangzhou und Shanghai angeboten; der dort konsumierte Kaffee ist überwiegend Kaffee, der in Europa zuvor industriell verarbeitet wurde und nach China als Fertigprodukt importiert wird. Die Preise für Kaffee in diesen Cafeterias sind gemessen an den Lebenshaltungskosten hoch, weshalb sich den Kaffeekonsum in der Regel nur Chinesen mit höherem Einkommen oder im Land lebende Ausländer leisten können. Der von Chinesen im Einzelhandel erworbene Kaffee ist zum weitaus größten Anteil löslicher Kaffee.

233

9

9

LifeFood AG

Für das "Konkurrenzprodukt" Tee gilt, dass es fest in der chinesischen Kultur verankert ist, eine jahrtausendealte Getränkekultur prägt, heimisch erzeugt wird, preisgünstiger als löslicher Kaffee ist, und dass ihm zahlreiche gesundheitlich positive Wirkungen zugesprochen werden. Die CCG geht deshalb davon aus, dass es rund zwanzig Jahre dauern dürfte, bis Kaffee in breiten Schichten in China etabliert werden kann.

Generelles Marktumfeld in China Aufbauend auf fundierten Analysen stellt Timothy Tang, als Vice President von CCG nicht nur Leiter des Büros in Beijing, sondern auch deren Global Account Manager für die LifeFood AG, folgende Aspekte über das allgemeine Marktumfeld in China dar: Rund 60 % der Weltbevölkerung leben gegenwärtig in Asien. Im Jahr 2010 werden mehr als 100 Millionen Menschen in Asien zusätzlich in der Lage sein, verpackte und industriell produzierte Nahrungsmittel regelmäßig zu erwerben; das entspricht einer Steigerung von gut 8 % gegenüber dem Jahr 2000. Mehr als 600 Millionen Menschen zusätzlich werden im Jahr 2010 in Asien Nachfragebedarfe nach Nahrungsmitteln ausprägen, die über den reinen Grundbedarf hinausgehen. Damit ist gemeint, dass für diese Menschen Nahrungsmittel nicht mehr nur Grundnutzen stiftend sind, sondern darüber hinaus auch abstrakte Nutzenkomponenten zur Erfüllung individueller Werthaltungen maßgeblich werden - bspw. werden die Aspekte Bequemlichkeit des Kaufens und Konsumierens sowie Spaß beim Kaufen und Konsumieren für diese Menschen immer wichtiger. Das entspricht einer Steigerung um rund 90 % gegenüber dem Jahr 2000. Darüber hinaus werden mehr als 100 Millionen Menschen in Asien zusätzlich über eine Pro-Kopf-Kaufkraft von mindestens 30.000 US$ verfügen (eine Steigerung von rund 75 % gegenüber dem Jahr 2000), und weitgehend nur fortgeschrittenste Produktangebote nachfragen. In der Volksrepublik China gibt es derzeit mehr als 10 Millionen Menschen mit einem Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 25.000 US$. Bis zum Jahr 2010 wird diese Zahl auf 50 Millionen Menschen ansteigen. In Bezug auf China als Markt gilt, dass China nicht ein monolithisches System darstellt, sondern aus vielen kleinen, distinkten Einheiten besteht, zwischen denen mitunter große Unterschiede existieren. So prägen sich in den Provinzen Chinas mitunter sehr starke – durchaus auch stark unterschiedliche – Kulturen und Bräuche aus. Die Konsumgewohnheiten sind in vielen Regionen anders, und unterscheiden sich oftmals auch innerhalb einer Region. Das Konsumentenverhalten ist stark heterogen ausgeprägt und mit Blick auf die Nahrungsmittelindustrie gilt, dass insbesondere auch die regionalen und lokalen Geschmäcker in den Regionen und Provinzen stark unterschiedlich sind. In der Volksrepublik China gilt im überzeichneten Sinn die Regel der "4-2-1-Gesellschaft": im Jahr 1980 hatte die chinesische Regierung ein Edikt erlassen, wonach der Einkindhaushalt als Regelfall angesehen wird. Ein Kind hat zwei Elternteile und vier

234

LifeFood AG

Großelternteile. Derzeit gibt es rund 100 Millionen junge Chinesen (im chinesischen Sprachgebrauch umgangssprachlich auch als "xiao huangdi" - als kleine Kaiser - bezeichnet), die in einem "4-2-1-System" sozialisiert werden. Das führt auch dazu, dass die jungen, von Eltern und Großeltern verwöhnten, Menschen der "Ich-Generation" mit einer Akkumulation von Vermögen und einer zunehmenden Kaufkraft versehen werden. Dabei ist der Anteil von männlichen Kindern größer als der Anteil weiblicher Kinder, ein langfristig mit Blick auf die Demographiestruktur durchaus problematischer Sachverhalt. Insbesondere die "xiao huangdi", gegenwärtig im Kindesalter bis zu Mitte zwanzig Jahre alt, stellen für Konsumgüterhersteller eine beachtliche Konsumentenschicht dar, da gerade diese Gruppe einerseits mit einer stattlichen Kaufkraft pro Kopf ausgerüstet ist, andererseits auch stark motiviert ist, neue Produkte aus dem Westen auszuprobieren. So geben die "xiao huangdi" in Anlehnung an eine Untersuchung der CCG in Beijing und Shanghai monatlich rund 50 bis 60 US$ pro Monat für nichtlebensnotwendige, aber bequemlichkeitsverheißende und spaßbringende Konsumgüter aus. Ein Teil dieses Konsums ist so genannter Risikokonsum, also der Kauf von noch unbekannten Produkten, im Wesentlichen vor allem um Neues, Unbekanntes einmal auszuprobieren. Neben den "xiao huangdi" sind insbesondere auch die Konsumentengruppen der "chengshi xingui" für Konsum von exklusiven Edelmarken und hochpreisigen Westprodukten offen. Das Bruttosozialprodukt hat sich während der Jahre von 1950 bis 2000 bereits mehr als vervierfacht. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf für das Jahr 2002 beträgt chinaweit noch immer etwas weniger als 1.000 US$. Allerdings ist festzuhalten, dass die Entwicklung des Wohlstands sich primär auf Schlüsselstädte und -regionen fokussiert und sich das Wachstum nicht gleichverteilt über das ganze Land erstreckt. So betrug im Jahr 2002 das Bruttosozialprodukt pro Kopf in Zhongshan 1.860 US$, in Chengdu 1.960 US$, in Wuhan 2.370 US$, in Tianjin 2.666 US$, in Beijing 3.350 US$, in Shanghai 4.905 US$, in Guangzhou 5.065 US$ und in Shenzhen 5.560 US$. In Hongkong und Macau betrug es im Jahr 2002 jeweils über 15.000 US$. Insgesamt ist das Wohlstandsniveau in China in den vergangenen Jahren durch die vollzogene Entwicklung für alle im Durchschnitt angehoben worden. Das führt zwar dazu, dass die Armut insgesamt landesweit im Durchschnitt reduziert werden konnte, aber die Schere der getrennten Wohlstandsentwicklung zwischen ärmeren und reicheren Regionen hat durch diese Entwicklung eher zugenommen und wird zukünftig wahrscheinlich weiter auseinander gehen. So gibt es gegenwärtig in China einerseits bereits über 170.000 Menschen mit einem Vermögen von mehr als einer Million US$ (andere Rechnungen der CCG gehen von 230.000 Dollarmillionären aus, sofern Immobilienoptionen in die Vermögensermittlung einbezogen werden) und rund 3 Millionen Menschen mit einem Einkommen und Vermögen von jährlich mehr als 100.000 US$. Andererseits stehen diesen rund 20 Millionen Chinesen, die an der absoluten Armutsgrenze leben, gegenüber.

235

9

9

LifeFood AG

Aus Sicht der CCG steht somit zwar zunächst zu befürchten, dass China durch die vollzogene Entwicklung in sich noch "ungleicher" wird, insbesondere was die Allokation von Einkommen und Wohlstand auf Regionen und Personen angeht. Andererseits ist man bei der CCG überzeugt, dass diese Phänomene nur kurz- bis mittelfristigen Charakter haben und als Begleiterscheinung des Wachstums als solches gewissermaßen wachstumsimanent auftreten. In den USA verzeichnet man beispielsweise einen vergleichbaren Gini-Koeffizienten als Maß für die Einkommensverteilung einer Gesellschaft. Nach ökonometrischen Modellrechnungen der CCG wird China im Jahr 2015 ein höheres Bruttosozialprodukt aufweisen als Japan; und im Jahre 2040 ein höheres als die USA. Dabei sind allerdings linearisierte Fortschreibungsannahmen getroffen. Im Jahr 2003 hat die Volksrepublik China Waren im Wert von 60 Milliarden US$ an Japan exportiert (Hauptanteil Computerkomponenten und -bauteile), Waren im Wert von 90 Milliarden US$ an die USA exportiert (Hauptanteil Computerkomponenten und -bauteile), Waren im Wert von 75 Milliarden US$ in die Sonderverwaltungsregion Hongkong geliefert (Hauptanteil Computerkomponenten und -bauteile), Waren im Wert von 25 Milliarden US$ (Hauptanteil Computerkomponenten und -bauteile) an Taiwan, Malaysia und Singapur geliefert. Aus Japan, Taiwan und Malaysia werden im Gegenzug vorwiegend elektronische Bauteile importiert. Mit Deutschland unterhält die Volksrepublik China einen bedeutenden Außenhandel: nach Japan, den USA und Südkorea ist Deutschland der viertwichtigste Handelspartner, in 2003 wurden Waren im Wert von 17,4 Milliarden US$ aus China importiert (Hauptanteil elektronische Komponenten) und im Wert von 24,3 Milliarden US$ nach China exportiert (Hauptanteil Automobile). Die chinesischen Arbeitnehmer haben während der vergangenen 20 Jahre eine große (Arbeitsplatz-)Mobilität gezeigt, weshalb viele Arbeitskräfte aus den wirtschaftlich schwächeren Regionen in die wirtschaftlich stärkeren Regionen migriert sind, insbesondere in die stark wachsenden Städte sowie Regionen um sie herum. Die CCG schätzt, dass derzeit rund 40 % der Chinesen in den zuvor angeführten Städten und Regionen leben. Allein in Südchina, am Delta des Pearl River, am Küstenstreifen um die Sonderverwaltungsregionen Hongkong und Macau sowie in den Provinzen Guangdong, Guangxi, Yunnan, Sichuan, Chongoing, Guizhou, Hunan, Jiangxi, Fujian leben rund 30 % aller Chinesen. In diesem, diese neun Provinzen plus Hongkong und Macau umfassenden, Gebiet wird ein Bruttoinlandsprodukt von mehr als 600 Milliarden US$, ein Drittel aller chinesischen Exporte sowie rund 40 % der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes hervorgebracht. In der Region um die Stadt Zhongshan in der Provinz Guangdong produzieren bereits 20 Unternehmen aus der Liste der Fortune 500. China gilt auf globalem Maßstab mittlerweile als "manufacturing hub" (die Hälfe der weltweit vertriebenen und getragenen Kleidung ist in China produziert sowie ein Drittel der weltweit vertriebenen und eingesetzten Mobiltelefone), und innerhalb von China wiederum gilt diese Provinz seit längerem als "manufacturing hub". 236

LifeFood AG

Nicht nur die Arbeitskräfte sind sehr mobil, aber auch das Wachstum verlagert sich nach Ansicht von Timothy Tang zukünftig dennoch auch auf das Hinterland der Megastädte und -regionen: In der Region um den Fluss Yangtze, also im Hinterland von Shanghai, erstreckt sich das wirtschaftliche Wachstum bereits mehrere hundert Kilometer vom Küstenstreifen in das Landesinnere hinein. Ähnliche Anstrengungen sind auch für das Delta um den Fluss Pearl River angedacht, um das Wachstum und den Wohlstand in das dortige Hinterland zu tragen. Timothy Tang merkt hierzu an, dass dieser Prozess aber gleichfalls bis zu 30 Jahre dauern könne, wenngleich die Zentralregierung in Beijing dieses stark unterstützen dürfte. Binnenwirtschaftlich gesehen konkurrieren das Yangtse River Delta-Gebiet (YRD) und das Pearl River Delta-Gebiet (PRD). Die Exporte aus dem PRD um Guangzhou haben sich im Zeitraum von 1998 bis 2003 verdoppelt (auf 153 Milliarden US$ im Jahr 2003), die Exporte aus dem YRD um Shanghai im gleichen Zeitraum nahezu auf dasselbe Niveau vervierfacht. Die ausländischen Direktinvestitionen in das YRD betrugen allein im Jahr 2003 21 Milliarden US$, während diejenigen in das PRD etwas weniger als acht Milliarden US$ betrugen. Während in der Provinz Guangdong (PRD) verstärkt arbeits- und maschinenkapitalintensive Fertigung angesiedelt ist, lassen sich in Shanghai (YRD) primär (Hoch-)Technologieunternehmen nieder. Guangzhou in der Provinz Guangdong gilt als strategischer "hub" für japanische Automobilhersteller wie bspw. Honda und Toyota. Im Zuge der Niederlassung der japanischen Automobilproduktion in der Provinz Guangdong kommen viele Automobilzulieferunternehmen mit ihrer Wertschöpfung in diese Region. Royal Dutch Shell errichtet gegenwärtig einen petrochemischen Industrie-komplex in dieser Provinz, um die Region mit bestimmten Konsumgütern zu versorgen, die bislang importiert werden mussten (bspw. Plastikgeschirr, Plastikkleinteile, Haushaltswaren usw.). Diese Entwicklung führt dazu, dass in den industriellen Fabriken in der Provinz Guangdong auf die Kapazität gerechnet derzeit rund 2 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Diese sind im PRD jedoch reichlich vorhanden, bspw. in den Provinzen Hunan und Guangxi, so dass mobile Arbeitskräfte diesen Effekt mittelfristig kompensieren können. Die Konkurrenz zwischen YRD und PRD spiegelt sich jedoch auch in Konkurrenzentwicklungen innerhalb jeder der beiden angeführten Wirtschaftsregionen Chinas: selbst innerhalb dem YRD gibt es von Provinz zu Provinz Wettbewerbs- und Eigenständigkeitsbestrebungen, wie auch innerhalb dem PRD. So sind bspw. nahe der Stadt Zhongshan in der Provinz Guangdong (PRD) in einem Radius von 90 km fünf Verkehrsflughäfen gebaut worden. Auch ist interprovinzieller, intrachinesischer Handel noch nicht zugelassen. Sofern also neue Werke etabliert werden, müssten diese derzeit noch für jede Provinz bzw. größere Region eigens errichtet werden, um die Nachfrager in diesen Regionen erreichen zu können. Die Region um die Stadt Shenzhen (PRD) war die erste Sonderwirtschaftszone, die von Deng Xiaoping eingerichtet wurde; sie gilt als Nukleus der modernen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Heutzutage hat Shenzhen mit acht Millionen Einwoh-

237

9

9

LifeFood AG

nern eine größere Stadtpopulation als Hongkong. Zudem weist Shenzhen seit fünfzehn Jahren Wachstumsraten im zweistelligen Prozentbereich auf; stellenweise wurden bis zu 100 % Wachstum verzeichnet. Durch die dynamische Wirtschaftskraft dieser Region ist es gelungen, mehr als 250 Millionen Menschen aus ärmlichen Lebensverhältnissen herauszuführen. Damit dieser Effekt aber nachhaltig wirkt, müssten in der Region um Shenzhen in den nächsten Jahren nach Einschätzung der CCG weitere 15 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Chinesische Konsumenten, allen voran die "xiao huangdi", fragen verstärkt Produkte aus der Kommunikationstechnologie nach, so gilt das mobile Telefon mittlerweile in urbanen Regionen als das wichtigste "personal accessory". Die Anzahl der Kunden mit einem Festvertrag bei chinesischen Mobilfunkanbietern stieg von rund 3.000 im Jahr 1995 auf über 90.000 im Jahr 2004. Gleichzeitig sind die Verbindungspreise und die Grundgebühren für die Mobiltelefonie im gleichen Zeitraum um über 80 % gesunken. Auch die Nachfrage nach Internettechnologien steigt rapide. Seit 1998 sind die Verbindungspreise für Internetzugänge ebenfalls um rund 80 % gesunken. Im Jahr 2000 gab es in Anlehnung an Analysen der CCG mehr als 17 Millionen Internet-Benutzer. Insgesamt sind die chinesischen Konsumenten gegenwärtig nicht nur kommunikationstechnisch mobiler, sondern auch mit Blick auf entsprechende werbetechnische Vermarktungsstrategien verbessert erreichbar. Vor allem die jüngeren Konsumenten sind entsprechenden Werbebotschaften, vor allem für westliche Produkte, auch ausgesprochen aufgeschlossen gegenüber. Im Softdrinkmarkt bspw. erreicht vor allem der US-Hersteller The Coca-Cola Company mit seinen Produkten im Konsumgüterbereich mehr als 600 Millionen Chinesen und besetzt einen Marktanteil von rund 55 %. Der Markt für Biergetränke ist der zweitgrößte weltweit hinter den USA und wies im Jahr 2003 ein Umsatzvolumen von rund 6 Milliarden US$ auf. Der japanische Fotokamerahersteller Olympus ging 1991 in die Region um die Stadt Shenzhen und beschäftigt mittlerweile mehr als die Hälfte seiner weltweiten Belegschaft in den Werken in China. 40 % aller von Olympus hergestellten Digitalfotokameras werden in China produziert. Neue Produkte werden von Olympus zunächst in Japan entwickelt und nachfolgend in den Fertigungseinheiten in China produziert. Olympus konzipiert derzeit auch ein Programm, um Entlohnungs- und Motivationssysteme für Arbeitnehmer (insbesondere hochqualifizierte Ingenieure) in China und Japan aneinander anzugleichen. Durch geeignetes Training und geeignete Motivationsmaßnahmen für die chinesischen Belegschaften ist es Olympus gelungen, die Herstellkosten in der Produktion um 40 % gegenüber einer Produktion in Japan zu reduzieren. Dabei arbeiten die Arbeitnehmer in den chinesischen Werken mit einer sehr hohen technischen Qualitätsrate. China bietet für Hersteller zwar nach wie vor niedrige Löhne; ein wesentlicher weiterer Standortvorteil ist aber auch, dass die Universitäten des Landes pro Jahr allein 500.000 umfassend ausgebildete Ingenieure verabschieden – neben Akademikern anderer Fachdisziplinen. Der chinesische Markt bietet den Absolventen vielfältige

238

LifeFood AG

Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen weiter auszubauen, so dass ein Großteil der hier Ausgebildeten eine vergleichsweise steile Lernkurve "on the job" durchläuft. Die Rückübertragung von Gewinnen ausländischer Investoren in deren Heimatländer ist aber gleichsam nicht einfach zu bewerkstelligen, da die Gewinne oftmals – auch im Fall des Foreign Direct Investment – in China verbleiben müssen. Das hat einerseits rechtliche Gründe. Aber auch marktliche; denn oftmals ist das Wachstum in China so rasant, dass selbst die Marktführer die von ihnen realisierten Gewinne unmittelbar wieder in China für Erweiterungs- und Ausbauinvestitionen binden müssen, um nicht im Wettbewerb durch Effekte der Wachstumselongation von anderen auf den Markt strömenden Akteuren verdrängt zu werden. Auch die rechtliche Situation ist für viele ausländische Unternehmen noch nicht abschließend überschaubar. Beispielsweise ist die "rule of law" stellenweise nur rudimentär ausgeprägt und die Rechtsprechung in China stellenweise sehr uneinheitlich. Patentgeschützte Produkte und Prozesse ausländischer Investoren werden trotz Patentschutz von chinesischen Unternehmen vergleichsweise schnell adaptiert, imitiert und kopiert, weshalb der Absatz von Originalprodukten im Zeitablauf schnell verwässern kann. Zwar hat die Volksrepublik China alle wichtigen internationalen Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums anerkannt und unterschrieben. Auf regionaler, lokaler Ebene kann es aber nach wie vor Schwierigkeiten bei der Einforderung seines Rechts im Falle einer Rechtsverletzung kommen. Die CCG empfiehlt ihren Klienten deshalb derzeit, bei der Etablierung und dem Aufbau von Kapazitäten die Arbeitsprozesse und das Know-How zu trennen. Für die Zukunft ist allerdings auch davon auszugehen, dass die Achtung und Einhaltung der Eigentumsrechte und des geistigen Eigentums auch aus chinesischem Eigeninteresse heraus stärkeres Gewicht erlangen dürfte, da mittlerweile auch in China weltmarktfähige Produkt- und Prozessinnovationen entwickelt und entsprechend zu schützen sein werden.

Ergänzende Aspekte zur Markteinschätzung Benjamin Li ist Principal im Asia Pacific Office der CCG mit Sitz in Hongkong. Zuvor hat er die LifeFood AG seit rund 3 Jahren in verschiedenen strategischen Fragestellungen im europäischen Markt betreut, hauptsächlich vom Londoner Büro der CCG aus. Benjamin Li stellt folgende Aspekte abschließend vor: Die chinesische Wirtschaft vermag aus europäischen Augen betrachtet derzeit unkoordiniert zu wuchern, anstatt systematisch zu wachsen. Europäische Investoren verbinden damit oftmals die Wahrnehmung, dass die wirtschaftliche Aktivität Chinas im Zeitablauf wieder verebben könnte. Nach Analysen der CCG ist es aber so, dass alle wichtigen volkswirtschaftlichen Indikatoren, bspw. die hohe Sparquote, massive Investitionen sowie die schnellen Produktivitätszuwächse das erwartete Wachstum in den nächsten 10 bis 20 Jahren tragen werden. Insbesondere für ausländische Investo-

239

9

9

LifeFood AG

ren ist der chinesische Markt überaus lukrativ, die ausländischen internationalen Investoren realisieren in der Regel hohe Gewinne im Chinageschäft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des YRD-Gebiets (insbesondere Shanghai, Jiangsu und Zhejiang) betrug im Jahr 2003 etwa 310 Milliarden US$ (allein Shanghai realisierte davon 70 Milliarden US$); dasjenige des PRD-Gebiets (insbesondere Guangdong) etwa 160 Milliarden US$. Im gleichen Zeitraum betrug das BIP des so genannten DreiProvinzen-Ecks (es umfasst die Provinzen Liaoning, Jilin und Heilongjiang) im Nordosten des Landes rund 150 Milliarden US$, dasjenige der Region um die Hauptstadt Beijing in etwa genauso viel. Damit entspricht die Wirtschaftskraft von YRD- und PRD-Gebiet, Drei-Provinzen-Eck und Beijing zusammengenommen bereits der Summe der BIP von Russland, Ungarn, der Tschechischen Republik und der Slowakei zusammengenommen. Das Drei-Provinzen-Eck hat früher wesentlichen Anteil an der Wirtschaftskraft des Landes gehabt, da dort große Erdöl- und Kohlevorkommen abgebaut wurden. Insbesondere die Klienten der Global Consumer Goods Practice der CCG haben in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, dass der Wettbewerb um die Konsumenten in der neuen chinesischen Mittelschicht stark zugenommen hat. Zu dieser Käuferschicht zählen nach Analysen der CCG derzeit etwa 50 Millionen Haushalte; im Jahr 2010 werden rund 120 Millionen Haushalte dazugehören, das sind über 300 Millionen Menschen. Sie verfügen bereits heute durchschnittlich über 3.000 Euro Jahreseinkommen pro Haushalt. Sowohl chinesische als auch internationale Akteure konkurrieren um die Nachfrage dieser Käuferschichten.

Aufgabenstellung 1. Die LifeFood AG steht vor der Entscheidung, eigene Produktionskapazitäten in konzerneigenen Werken in der Volksrepublik China für die industrielle Verarbeitung von Rohkaffee aufzubauen. Welche Empfehlung geben Sie der LifeFood AG aufgrund der Ihnen zur Verfügung stehenden Informationen? Formulieren Sie zur Fundierung Ihrer Analyse eine Stärken/Schwächen/Chancen/Risiken-Untersuchung, in der Sie auch auf die strategischen Planungsaspekte sowie Gestaltungsmerkmale der in Frage stehenden Kaffeeproduktion eingehen. 2. Das potentielle Investment der LifeFood AG zum Aufbau eines eigenen Werks zur industriellen Verarbeitung von Rohkaffee beträgt nach Schätzungen der Abteilung Konzernsteuerung und -planung rund 75 Millionen US$. Diese Summe wäre aus Sicht der chinesischen Behörden vollständig als Foreign Direct Investment investierbar. Die strategische Vorgabe aus der Konzernleitung der LifeFood AG lautet dabei, dass das Investment eine Amortisationszeit von 5 Jahren aufweisen soll. Erfahrungen aus den europäischen kaffeeverarbeitenden Werken der LifeFood AG zeigen, dass pro Jahr mindestens 50.000 Tonnen Rohkaffee verarbeitet werden

240

LifeFood AG

müssen, damit die industrielle Verarbeitung von Rohkaffee überhaupt ökonomisch sinnvoll ist. In welcher Form konkretisieren Sie unter Berücksichtigung dieser Rahmeninformationen Ihre Empfehlung zum Chinageschäft der LifeFood AG?

Anhang Tabelle 9-1:

Chinesischer Konsum in % des Weltkonsums im Jahr 2003

Waren / Produkte

Wachstumsrate von 1998 auf 2003 in %

Jahr 1998

Jahr 2003

7,5

20,1

168,0

10,4

19,7

89,4

3,3

6,1

84,8

Aluminium

10,3

18,6

80,6

Waschmaschinen

10,6

18,0

69,8

Stahl

16,2

26,9

66,0

Mikrowellen

7,9

12,1

53,2

Baumwolle

22,2

32,7

47,3

Fisch

22,1

32,3

46,2

5,5

7,7

40,0

Mobiltelefone Kupfer Personal Computer

Petroleum Sojabohnen

14,2

19,6

38,0

Eiscreme

14,1

19,1

35,5

Erfrischungsgetränke

2,9

3,9

34,5

Rindfleisch

9,8

12,6

28,6

Elektrizität

8,0

10,2

27,5

Kohle

27,2

31,0

14,0

Zigaretten

30,8

34,8

13,0

3,7

3,9

5,4

Schweinefleisch

48,8

50,8

4,1

Geflügelfleisch

18,6

19,2

3,2

Fernsehgeräte

23,6

23,2

-1,7

Reis

34,5

32,8

-4,9

1,3

1,1

-15,4

Haarpflegeprodukte

Staubsauggeräte Quelle:

Cherry, B.: What China eats (and drinks and ...), in: Fortune, Europe Edition, Volume 150, Nummer 6, 4. Oktober 2004, S. 68-69.

241

9

9

LifeFood AG

Tabelle 9-2:

Anteil der Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes in % im Jahr 2003

Branche

Wertschöpfung in % als Anteil der gesamten Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes

Chemische Industrie

3,0

Büromaschinen und Computer

3,0

Nahrungsmittel, Getränke und Tabak

2,7

Textil, Bekleidung und Leder

2,5

Eisen und Stahl

2,3

Radio-, TV- und Kommunikationsgeräte

2,1

Nicht-metallische Mineralprodukte

1,7

Metallerzeugnisse

1,1

Kraftwagen und Kraftwagenteile

1,0

Elektrogeräte und Haushaltswaren

0,9

Quelle:

o.V.: Computermacht China, in: McK Wissen 10, Das Magazin von McKinsey, 3. Jahrgang, 09/2004, S. 19.

Tabelle 9-3:

Wachstum der Bruttowertschöpfung in ausgewählten Wirtschaftsbereichen in % im Zeitraum von 1993 bis 2003

Branche

kumulierte durchschnittliche Wachstumsrate in %

Büromaschinen und Computer

49,6

Elektrische Industriemaschinen

21,2

Sonstiger Fahrzeugbau

20,6

Fotoapparate und optische Geräte

19,1

Elektrogeräte und Haushaltswaren

18,2

Energieversorgung

17,4

Radio-, TV- und Kommunikationsgeräte

15,2

Kraftwagen und Kraftwagenteile

14,0

Arzneimittel und Medizinprodukte

13,0

Metallerzeugnisse

12,4

Quelle:

242

o.V.: Computermacht China, in: McK Wissen 10, Das Magazin von McKinsey, 3. Jahrgang, 09/2004, S. 19.

10 Controlling im Produktionsverbund*

Fallstudie am Beispiel einer Fahrzeugbaureihe der Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG

Das Unternehmen Im Jahre 1996 begann für die Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG in Stuttgart, genannt Porsche, eine neue Ära im Sportwagenbau. Mit der Einführung der neuen Fahrzeugbaureihe sollte das Produktangebot um einen Roadster mit Boxer-Mittelmotor ergänzt werden, um das wachsende Marktsegment der Roadster mit einem Sportwagen zu bedienen. Heute gilt im Rückblick die erfolgreiche Markteinführung als wesentliche Ursache für den Turnaround und die eingeleitete Wachstumsstrategie von Porsche. Die Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG, heute der größte Sportwagenhersteller der Welt, geht auf ein vor 75 Jahren von Ferdinand Porsche sen. in Stuttgart gegründetes Konstruktionsbüro, die "Dr. Ing. h. c. F. Porsche GmbH, Konstruktion und Beratung für Motorenund Fahrzeugbau" zurück. Als bekanntestes Kundenprojekt gilt der VW Käfer. Im Jahre 1948 begann der Sportwagenbau unter der Marke "Porsche" mit dem Modell 356, der bis 1965 insgesamt ca. 78.000 Mal verkauft wurde. Sein Nachfolger, der Porsche 911, ist heute die Sportwagen-Ikone schlechthin und macht die Marke "Porsche" zum Synonym für Sportwagen weltweit. Seit dem Turnaround im Jahre 1996 hat Porsche weitere Maßnahmen hinsichtlich seiner Wachstumsstrategie eingeleitet, u. a. das Kooperationsprojekt eines Sport-Utility-Vehicle (SUV) mit der Volkswagen AG, das 2003 auf den Markt gebracht wurde, und die Einführung der Baureihenorganisation in den Jahren 1998/99.

Das Ziel Im Hinblick auf den verschärften Wettbewerb und die engen Preisspielräume, insbesondere auch im Roadster-Segment, gilt es, marktgerechte Fahrzeuge unter dem Ge-

*

Quelle: Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG, Dr. Jochen Wittmann, Leiter Preisbildung (bis Februar 2005 Leiter Controlling Baureihe Boxster), Entwicklungszentrum Weissach.

243

10

Controlling im Produktionsverbund

sichtpunkt einer an Kundenbedürfnissen ausgerichteten Variantenvielfalt und Produktkomplexität, eines wettbewerbsfähigen Technologiegrades und last but not least einer beschaffungs-, produktions- und logistikeffizienten Leistungstiefe ergebnisoptimal zu entwickeln, herzustellen und zu vermarkten.

Die Linien- und Baureihenorganisation Vielfältige Herausforderungen sind im Rahmen des Produktentstehungsprozesses zu meistern, um dieses Ziel zu erreichen. Hierzu ist es notwendig, den Blick auf die Aufbau- und Ablauforganisation von Porsche zu werfen. Der Vorstand ist in sechs Ressorts aufgegliedert und umfasst den Bereich des Vorstandsvorsitzenden, Forschung und Entwicklung, Produktion und Logistik, Finanz- und Betriebswirtschaft, Vertrieb und Personalwesen. Die Vorstandsressorts sind über mehrere Standorte verteilt: In Stuttgart-Zuffenhausen befindet sich die Verwaltung und Produktion für den Premiumsportwagen Carrera. Dort wird seit Mitte der neunziger Jahre ebenso der Roadster gebaut, der teilweise auch bei einem Auftragsfertiger im Ausland montiert wird. In Weissach befinden sich das Entwicklungszentrum und die Rennsportabteilung. Der weltweite Vertrieb hat sich in Ludwigsburg niedergelassen. Seit Einführung des SUV verfügt Porsche über einen weiteren Fertigungsstandort in Leipzig. Die Baureihenorganisation umfasst drei Baureihen, deren Fahrzeuge sich in Serienherstellung befinden: Roadster, Premiumsportwagen und SUV. Die Baureihe verantwortet zum einen den gesamten Produktentstehungsprozess – von der Produktidee bis zur Serienreife des Fahrzeugs, der mit der Serienherstellung abschließt und zum anderen die anschließende Serienbetreuung bis zum Modellauslauf, in der alle produktbezogenen Maßnahmen seitens der Baureihe gesteuert werden, wie z. B. Facelift- und Modellpflegemaßnahmen. Dieser Verantwortungsumfang folgt der Überlegung, dass Entscheidungen in den frühen Phasen der Produktentstehung erhebliche Auswirkungen auf Kosten, Zeit und Qualität der Produkte haben und das Management entsprechend frühzeitig die möglichen Konsequenzen seiner Entscheidungen nachvollziehen und (nach-)steuern kann. Die Baureihe berichtet entsprechend in das höchste Gremium des Herstellers/Original Equipment Manufacturer (OEM), das sich mit allen produktseitigen Entscheidungen befasst, den Vorstandsausschuss Produkte. Die Baureihenorganisationen bilden mit den klassischen Linienbereichen Entwicklung, Produktion, Vertrieb sowie Finanz- und Betriebswirtschaft eine Matrixorganisation. Dabei spielt die Baureihe grundsätzlich den Part des Auftraggebers und die Linienbereiche den Part des Auftragnehmers. Diese Aufgaben- und Rollenverteilung führt zu einer spezifischen Zusammensetzung der Baureihe. Neben dem Baureihenleiter verfügt die Baureihe über Projektleiter, die als Ansprechpartner und Koordinatoren der Baureihe für die Linienbereiche fungieren und die Zielerreichung der Fachbereiche, z.

244

Controlling im Produktionsverbund

B. für Antriebsentwicklung oder Einkauf, nachhalten. Unterstützt wird die Baureihe durch eine Funktion "Qualität", die das Qualitätsmanagement für die Baureihe verantwortet, und eine Funktion "Controlling", die für das umfassende und ganzheitliche Kosten- und Budgetmanagement der Fahrzeugbaureihe verantwortlich zeichnet. Im Rahmen dieser Abhandlung steht die Baureihe Roadster im Fokus; dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Produktionsverbund Roadster. Im Anschluss gilt es, eine typische Aufgabenstellung des Baureihencontrollings im Bezug auf den Produktionsverbund in der frühen Phase der Produktentstehung zu behandeln.

Das Produkt Der Roadster ist ein Fahrzeug mit einem 6-Zylinder-Boxer-Mittelmotor und wurde Mitte der neunziger Jahre im Markt eingeführt. Gegen Ende der neunziger Jahre wurde dieser durch eine leistungsstärkere Variante ergänzt. Nach mehreren Jahren Laufzeit wurde diese Modellreihe durch die neue Generation abgelöst. Die Entwicklungsziele der neuen Roadster-Generation orientierten sich daran, die Führungsposition des Roadsters im Marktsegment weltweit mindestens zu halten bzw. auszubauen. Hauptwettbewerber dieses Preissegments im weltweiten Roadster-Markt sind vergleichbare Fahrzeuge deutscher Premiumhersteller, wie Mercedes-Benz, etc.

Produktion im Verbund Neben den in der strategischen Produktplanungsphase des Produktentstehungsprozesses festgelegten Produktmerkmalen und –features, die aus dem Marketingkonzept des Fahrzeuges abgeleitet werden und durch entsprechende Entwicklungsinhalte belegt werden, kommt dem Festlegen des Fertigungskonzepts im Rahmen des Simultaneous Engineering eine hohe Bedeutung zu. In den frühen Entwicklungsphasen besteht mit vergleichsweise geringem Aufwand die Möglichkeit, Entwicklungsumfänge auf ihre Fertigungs- und Montagetauglichkeit hin abzuprüfen. In dieser Phase ist es umso wichtiger, die Leistungstiefe festzulegen. Als eine wesentliche innovative Strategie im Rahmen der Restrukturierung und des Reengineerings verfolgt der OEM die Kooperation mit anderen Fahrzeugherstellern. Das spiegelt sich einerseits darin wider, dass bis Mitte der neunziger Jahre der OEM selbst als Auftragsfertiger für verschiedene deutsche Premiumhersteller aufgetreten ist und andererseits ab Mitte der neunziger Jahre Karosserieteile von einem deutschen Premiumhersteller erhielt.1 Aufgrund von Kapazitätsengpässen im Montagewerk des

1

Vgl. Wiedeking, W.: Reengineering und Restrukturierung am Beispiel der Porsche AG, in: Schmalenbach-Gesellschaft - Deutsche Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. (Hrsg.): Reen-

245

10

10

Controlling im Produktionsverbund

OEM, ausgelöst durch eine sehr hohe Nachfrage nach dem Roadster, fiel die Entscheidung den Roadster in Parallelfertigung bei dem Auftragsfertiger herstellen zu lassen. Dieser zeichnete sich durch einen schnellen Produktionsbeginn innerhalb weniger Monate aus und durch die Erfüllung der hohen Qualitätsanforderungen des OEM. Fertigungstechnisch stellte sich der Status quo für die Baureihe Roadster folgendermaßen dar. Der OEM fertigt den Roadster seit der 1. Generation sowohl in seinem Montagewerk als auch beim Auftragsfertiger. Im Montagewerk wird der Roadster mit einem anderen Sportwagen auf demselben Produktionsband montiert. Der Eigenfertigungsanteil beläuft sich nach Aussage des Produktionsvorstandes zwischen 10 und 20%.2 Das Floating-Konzept sieht vor, dass je nach Kapazitätsauslastung des Montagewerkes durch die Sportwagen die verbleibende Kapazität durch RoadsterFahrzeuge ausgelastet wird und die übrige Produktionsmenge an RoadsterFahrzeugen mit einer Parallelfertigung beim Auftragsfertiger abgewickelt wird. Die Vollauslastung des Montagewerkes genießt dabei Vorrang. So kann der OEM nach Aussage des Auftragsfertigers nach einer bestimmten Vorlaufzeit die Ausbringungsmenge beliebig variieren. Aus organisationaler Sicht handelt es sich bezüglich der Fertigungszusammenarbeit zwischen dem OEM und dem Auftragsfertiger um eine zwischenbetriebliche Kooperation, da beide Partner wirtschaftlich und rechtlich selbständig sind und lediglich die wirtschaftliche Aufgabenerfüllung freiwillig unter ein gemeinsames Ziel gestellt wird. Da jedoch der Auftragsfertiger mittlerweile ausschließlich für den OEM produziert, gilt die sog. Auftragsfertigung als Quasi-Kooperation. Die Vorteile einer Kooperation liegen einerseits in dem Realisieren von Effizienzzielen, z.B. Verbinden von Transaktionskostenvorteilen mit Flexibilitäts- und Spezialisierungsvorteilen, andererseits in dem Realisieren von Machtzielen, z. B. Erschließen von nicht vorhandenen Produktionskapazitäten durch Zusammenarbeit mit einem Partner. Die Qualität der Zusammenarbeit bildet letztendlich die Kernkompetenz für die Interessengemeinschaft der Kooperationspartner. Als Kooperationsrisiken schlagen u. a. der höhere Abstimmungs-, Planungs- und Steuerungsaufwand sowie die Möglichkeit der einseitigen Beendigung während der Kooperationsphase zu Buche. Zwischen beiden Kooperationspartnern besteht ein langfristiges Vertragsverhältnis mit Verlängerungsoption, das sowohl die Übernahme der Investitionen beim Auftragsfertiger durch den OEM regelt als auch die mit entsprechenden Stückzahlschwankungsbreiten versehene Unitregelung (Pay-as-Built) für die Auftragsabrechnung mit dem Auftragsfertiger,3 das zur

2 3

246

gineering - Konzepte und Umsetzung innovativer Strategien und Strukturen, Stuttgart 1995, S.205-217, hier: S.216. Vgl. o. V.: Nun müssen die Zulieferer ran, in: Automobil-Produktion Juli 2005, S.26-27, hier: S.26. Vgl. Bellmann, K.: Pay-as-Built - Innovative Organisationsmodelle in der Automobilproduktion, in: Albach, H.; Kaluza, B.; Kersten, W. (Hrsg.): Wertschöpfungsmanagement als Kernkompetenz, Wiesbaden 2002, S219-237, hier: S.227. Vgl. Härter, H. P.: Chancen und Risiken

Controlling im Produktionsverbund

Reduzierung des Kooperationsrisikos auf beiden Seiten führt. Der OEM bildet im Rahmen dieser Kooperation den fokalen Netzwerkpartner, da die Steuerung der Kooperationsbeziehung im Wesentlichen durch den OEM erfolgt. Für das Verständnis der bestehenden Kooperationsbeziehung zwischen dem OEM und dem Auftragsfertiger ist es wichtig, die verschiedenen Subjekte des Produktionsverbundes vorzustellen.

a) Montagewerk des OEM Das Montagewerk fertigt sämtliche Derivate des Premiumsportwagens sowie des Roadsters nach Kapazitätsverfügbarkeit auf einer Fertigungslinie. Die Aggregate werden direkt just-in-time aus dem Motorenwerk des OEM an das Band geliefert und verbaut.

b) Motorenwerk des OEM Das Motorenwerk, in unmittelbarer Nähe zu dem Montagewerk des OEM gelegen, montiert sämtliche Motoren für den Roadster, den Premiumsportwagen und das SUV. Für die Roadster-Antriebsstränge erhält es noch von zwei Zulieferern Getriebe, die in den Antriebstrang verbaut werden. Dabei handelt es sich um ein 5-Gang- und ein 6Gang-Schaltgetriebe, die wahlweise durch ein 5-Gang-Automatgetriebe ersetzt werden können.

c) Montagewerk Auftragsfertiger Das Montagewerk des Auftragsfertigers montiert in Parallelfertigung mit dem Montagewerk des OEM die Derivate des Roadsters. Fast sämtliche Teile werden vom OEM bzw. Zulieferern direkt zugeliefert. Die Antriebsstränge stammen aus dem Motorenwerk des OEM.

Selbstverständlich zählen zu dem Produktionsverbund auch die zahlreichen Zulieferer, die direkt die Werke des OEM und des Auftragsfertigers beliefern. Bei einigen Umfängen tritt das Montagewerk des OEM als Komponentenlieferant für den Auftragsfertiger auf, nachdem von Zulieferern Teile an das Montagewerk des OEM zur Vormontage geliefert wurden.

für Zulieferer aus der Sicht von Porsche, in Automotive Engineering Partners, 4/2003, S.22-27, hier: S.27.

247

10

10

Controlling im Produktionsverbund

Controlling im Produktionsverbund aus Sicht des fokalen Unternehmens Das Controlling der Baureihe Roadster hat vor dem Hintergrund seiner Funktionen Informationsversorgung, Planung, Koordination, Steuerung und Kontrolle dem Management der Baureihe sowie dem Vorstand Handlungsempfehlungen zur Sicherung und Steigerung der Profitabilität der Baureihe und des Unternehmens als Ganzes zu unterbreiten. Die Baureihe wird ähnlich einem Geschäftsfeld mittels einer Zielrendite auf Basis einer dynamischen Wirtschaftlichkeitsrechnung gesteuert. Diese Zielrendite entspricht einer dynamischen Renditezahl, dem internen Zins, und gilt ab dem Projektstart bis Projektende. Jegliche Änderungen im Hinblick auf die zu Projektstart geplante Produktsubstanz sowie auf die Wertschöpfungsinhalte sind durch das Controlling vollständig zu bewerten und im Hinblick auf die Auswirkung des Baureihenund Unternehmensergebnisses dem Vorstand darzustellen. Baureihencontrolling nimmt den Blickwinkel des fokalen Netzwerkunternehmens OEM ein und bildet aus dieser Perspektive alle relevanten betriebswirtschaftlichen Größen des Produktionsverbundes ab, die zur Steuerung nötig sind. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist zu klären, welche Parameter zu identifizieren und in einer Entscheidungsrechnung zu berücksichtigen sind. Dies ist z. T. abhängig von dem Produktionsverbundpartner. Mögliche Wirtschaftlichkeitsentscheidungen setzen vergleichbare Bewertungen der Leistungstiefenpartner und -situationen voraus, ohne die eine adäquate Entscheidung unter dem Gesichtspunkt der Ergebnisoptimierung nicht möglich ist. So sind Leistungstiefenentscheidungen stets zu bewerten, da sie insbesondere in der frühen Phase der Produktentstehung je nach Umfang strategischen Entscheidungscharakter besitzen. Vor dem Hintergrund des Produktionsverbundes ist es aus betriebswirtschaftlicher Sicht notwendig, die relevanten Wertgrößen genauer zu betrachten. Die wesentlichen Größen sind für das Montagewerk des OEM Materialeinzelkosten, Logistikkosten, Fertigungskosten, Produktionsinvestitionen und Anlaufkosten. Für Zulieferumfänge spielen insbesondere noch Kaufteil- oder Werkzeuginvestitionen eine Rolle. Aus Sicht des Auftragsfertigers sind sowohl Produktionsinvestitionen, die überwiegend vom Auftraggeber übernommen werden, als auch der Transferpreis, der die Montagedienstleistung pro Fahrzeug abgilt und Einzelkostencharakter hat, von Bedeutung. Im Rahmen des Produktionsverbundes müssen bei Wertschöpfungstiefenänderungen zwischen den Verbundteilnehmern entsprechende aussagekräftige Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen vom Controlling angestellt werden, um die wirtschaftlichste Wertschöpfungstiefe zu ermitteln. Kooperationsbeziehungen sind von Zeit zu Zeit auf den Prüfstand zu stellen, um Ziel und Ergebnisbeitrag für die Partner zu verdeutlichen. Eine solche Gelegenheit besteht beispielsweise in der Phase der Neuplanung des Nachfolgemodells einer Modellreihe.

248

Controlling im Produktionsverbund

Im Grunde machen Wertschöpfungstiefenänderungen im Produktionsverbund für das fokale Unternehmen insbesondere dann Sinn, wenn sich dadurch die Wirtschaftlichkeit eines Projektes verbessert. Hier ist festzustellen, dass sich Wertschöpfungstiefenänderungen im Produktionsverbund nicht nur auf das fokale Unternehmen beziehen können, sondern sie können sich auch gänzlich nur bei den Wertschöpfungspartnern materiell und finanziell niederschlagen.

Fallbeispiel zum Controlling im Produktionsverbund Im Zusammenspiel zwischen dem Baureihenmanagement, dem Einkauf sowie der Gesamtfahrzeugplanung der Produktion sind die Eckdaten für den Produktionsverbund mit dem Auftragsfertiger festgelegt worden. Des Weiteren gilt es, die im Produktionsverbund anfallenden Logistikkosten auf Einsparpotentiale zu überprüfen. So sieht die Situation bezüglich eines Rohbauumfanges vor dem Hintergrund des bestehenden Produktionsverbundes folgendermaßen aus: Ein Zulieferer A liefert ein Pressteil (Rohbauumfang) direkt an das Montagewerk des OEM, Zulieferer B, C und D liefern Komponenten, die in diesem Montagewerk mit dem Pressteil zu einer Baugruppe vormontiert werden. Im Anschluss wird diese Baugruppe sowohl im Montagewerk des OEM endmontiert als auch zur Endmontage beim Auftragsfertiger geliefert. Im Rahmen von Überlegungen zu Wertschöpfungstiefenänderungen bezüglich des Auftragsfertigers können folgende drei Szenarien geprüft und vom Controlling wirtschaftlich bewertet sowie mit Maßnahmenvorschlägen belegt werden: a) Die bisherige Kooperationsbeziehung bleibt erhalten. b) Die Vormontage der Baugruppe erfolgt beim Auftragsfertiger anstatt in Montagewerk des OEM. c) Die Vormontage übernimmt ein Systemlieferant der als Baugruppenlieferant an das Montagewerk des OEM und an den Auftragsfertiger liefert. Anhand des Szenario b) sollen die betriebswirtschaftlichen Spezifika herausgearbeitet werden. Die Vormontage der Baugruppe beim Auftragsfertiger führt dazu, dass dieser als Zulieferer gegenüber dem OEM fungieren kann und dadurch die Kooperationsbeziehung zu dem OEM zu seinen Gunsten stärkt. Hierdurch wird der Auftragsfertiger direkter Konkurrent gegenüber Zulieferer A bei der Vergabe des Rohbauumfangs. Des Weiteren tritt der Auftragsfertiger zusätzlich als möglicher Zulieferer auf. Hierdurch entsteht eine intensivere Verflechtung der Lieferbeziehung zwischen Auftragsfertiger und dem OEM. Der OEM muss die Auftragsabrechnung gegenüber diesem erweitern, da der Auftragsfertiger einerseits als Lieferant der Baugruppe an das Montagewerk

249

10

10

Controlling im Produktionsverbund

des OEM Material- und Logistikkosten in Rechnung stellt und andererseits durch den Direktverbau eine Transferpreiserhöhung berechnet, da der Montage- und damit Wertschöpfungsumfang beim Auftragsfertiger erhöht wird. Die Transferpreiserhöhung partizipiert u. a. die Material- und Logistikkosten, die beim Auftragsfertiger für den zusätzlichen Wertschöpfungsumfang anfallen. Relevante Werkzeuginvestitionen werden von dem OEM getragen. In Ihrer Aufgabe als Produktionscontroller erhalten Sie den Auftrag, in einem Abstimmungsgespräch mit Vertretern aus den Bereichen Einkauf, Produktion und Baureihe verschiedene Szenarien zu Wertschöpfungstiefenänderungen im Produktionsverbund Roadster zu überprüfen.

Aufgabenstellung 1. Hierzu sollen Sie auf Basis der oben genannten Szenarien a-c die wirtschaftlichste Lösung anhand des folgenden vereinfachten, fiktiven Zahlenbeispiels ermitteln (vgl. Tab. 10-1)! Es gilt, dass die Szenarien a und b dieselbe Höhe an Werkzeuginvestitionen und Anlaufkosten aufweisen und das Szenario c zusätzlich 1 Mio. € Werkzeuginvestitionen und 0,05 Mio. € Anlaufkosten benötigt. In den Materialkosten sind die unterschiedlich hohen Logistikkosten von den Zulieferern an den für die Vormontage jeweils verantwortlichen Wertschöpfungspartner enthalten und deshalb auch unterschiedlich. Die Endmontagekosten der Baugruppe betragen je Fertigungsstandort 10 €/Fzg. Die Stückzahlbasis der Derivate des Roadsters beläuft sich auf 120.000 Fzg. über 6 Jahre und 20.000 Fzg. pro Jahr. Das Floating-Verhältnis zwischen dem Montagewerk des OEM und des Auftragsfertigers ist für das 1. und 2. Produktionsjahr 60:40, für das 3., 4. sowie 5. Jahr 40:60 und für das letzte Jahr 20:80. Die Logistikkosten an den endmontierenden Wertschöpfungspartner ändern sich bei Produktionsmengen > 15.000 Fzg. um -5 €/Fzg. und bei Produktionsmengen < 5.000 Fzg. um +5 €/Fzg. Für das Abschlussgespräch und die Ergebnispräsentation sollen Sie sich noch hinsichtlich folgender Fragen vorbereiten, die im Rahmen eines Kurzvortrages von Ihnen beantwortet werden sollen: 2. Interpretieren Sie die Ergebnisse vor dem Hintergrund Ihres Lösungsansatzes zu Frage 1)! 3. Diskutieren Sie Vor- und Nachteile von Wertschöpfungstiefenverlagerungen generell und anhand des Fallbeispiels!

250

Controlling im Produktionsverbund

4. Erläutern Sie das Konzept der "atmenden Fabrik" und diskutieren Sie dessen Vorund Nachteile! 5. Diskutieren und klassifizieren Sie die besonderen Kooperationsbeziehungen im Produktionsnetzwerk OEM-Auftragsfertiger! 6. Diskutieren Sie mögliche Auswirkungen auf den Produktionsverbund vor dem Hintergrund eines neuen zusätzlichen Fahrzeugprojektes der Baureihe!

Tabelle 10-1: Kostensituation (Kostenangaben in €/Fzg.)

Szenario a

Szenario b

Szenario c

145

150

140

Fertigungskosten Vormontage

25

25

25

Fertigungskosten Endmontage

20

20

20

--

30

30

40

--

60

Materialkosten

Logistikkosten zum OEM Logistikkosten zum Auftragsfertiger

251

10

Teil D Ressourcenmanagement

1

Einführung zum Ressourcenmanagement

Die Ressourcen eines Unternehmens manifestieren sich in den Verfügungsrechten über Quellen und Potentiale der Wertschöpfung. Als Strategische Ressourcen gelten Potentiale, die für die nachhaltige Unternehmensentwicklung von überragender Bedeutung sind. Solche betreffen Sachpotentiale (bspw. Produktions-, IuK-Technik), Finanzpotentiale, Organisationspotentiale (bspw. Organisationsstruktur, -prozesse, Managementpotential), Wissenspotentiale (Patente, Information, eigenes und Zugang zu fremdem Know-How), Human- und Sozialkapital (Kultur, Kompetenzen, Soziabilität) und weitere mehr. Kompetenz charakterisiert die Fähigkeit und Fertigkeit von Menschen und Organisationen, Ressourcen zielgerichtet zu kombinieren und erfolgswirksam einzusetzen. Kernkompetenzen sich als solche Schlüsselfähigkeiten und -fertigkeiten von Menschen und Organisationen zu verstehen, die von Dritten nur sehr schwer nachzuahmen sind und deshalb über längere Zeit einen Kompetenzvorsprung sichern können. Im Prozessmanagement, in geringerem Umfang auch im Programmmanagement, dominiert tendenziell die sog. "Market Based View", quasi als Blick von außen auf die SGE. Diese stellt bei der kundenorientierten Analyse die Struktur des relevanten Marktes als erfolgsbestimmenden Faktor in den Fokus und versucht nachrangig die Frage zu beantworten, welche Ressourcen zur Leistungserstellung eingesetzt werden müssen (Outside-in-Perspektive). Ressourcenmanagement verfolgt hingegen die umgekehrte Sicht, die als "Resource Based View" bezeichnet wird. Hier wird die Frage gestellt, welche Wettbewerbsposition durch den Einsatz der einzelnen oder die Kombination der verfügbaren internen und externen Ressourcen realisiert werden kann (Inside-out-Perspektive). Im Vordergrund der Analyse stehen deshalb die Potentiale der Leistungsbereiche einer Geschäftseinheit oder – organisationsübergreifend - einer Wertschöpfungskette bzw. eines -netzwerks. Ohne tiefer gehen zu wollen, sei hier nur ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Ressourcensicht gegeben. In Gegenposition zur Market-Based-View (StructureConduct-Performance-Paradigma), welche die Sicht der 60er Jahre dominierte, entwickelten namentlich Wernerfelt und Barney im nächsten Jahrzehnt die Resource Based View, die unterstellt, dass die Einzigartigkeit der Ressourcenausstattung – und nicht die Struktur des relevanten Marktes – den Unternehmenserfolg determiniert (Resources-Conduct-Performance-Paradigma).

255

Die Weiterentwicklung des Ansatzes führte in den 80er Jahren zu der von Pfeffer und Salancik vertretenen These, dass nicht die Einzigartigkeit der Ressourcenausstattung einer Organisation allein für den Erfolg maßgeblich ist, sondern ebenso die zielgerichtete Nutzung externer Ressourcen (Resource Dependence View). Somit wurde in Erweiterung der Sicht auf externe Ressourcen der Entwicklung sinkender Wertschöpfungstiefe Rechnung getragen. Wiederum ein Jahrzehnt später erweiterten Hamel und Praland den Ansatz mit der These, dass die dynamische Entwicklung von Kernkompetenzen den Unternehmenserfolg determiniert (Competence Based View) und erweiterten damit die vorwiegend statische Sichtweise um die dynamische. Aus Ressourcensicht determinieren Qualität und Einsatzflexibilität der Potentiale über die Strategie als Variable das Leistungsprogramm und somit den Erfolg (vgl. Abb. 1-1). Dies gilt sowohl für Unternehmen als Alleinakteur als auch für Akteure in netzwerkartigen Organisationsformen.

Abbildung 1-1: Interdependenz von Ressourcenflexibilität, Strategie und Leistungsprogramm Umfang des Leistungsprogramms eng

Einsatzflexibilität der Ressourcen

1

Einführung zum Ressourcenmanagement

flexibel

breit

economies of speed

economies of scope economies of span

starr

economies of scale

economies of skills

Ist das Einsatzflexibilität eines (Sach-)Potentials sehr gering, so besteht nur eine geringe Anpassungsfähigkeit an wechselnde Aufgabenstellungen. Die Spezialisierung für einen engen Zweck hat jedoch eine hohe Potentialeffizienz zur Folge. Bei der Strategie der Massenproduktion steht deshalb aus ökonomischer Sicht der starre Einsatz des Potentials mit dem Ziel der Vollauslastung im Vordergrund, um die "economies of scale" in vollem Umfang auszuschöpfen. Dies erfordert jedoch die exakte Planung der Leistungsprozesse, die gewöhnlich nur zentral zu bewältigen ist. Falls hingegen das Potential flexibel für ein breites Leistungsprogramm einsetzbar ist, so besteht eine hohe Anpassungsfähigkeit an wechselnde Aufgaben, was allerdings die Effizienz mindert. Die wirtschaftliche Nutzung des Flexibilitätspotentials verlangt deshalb eine angepasste Strategie zur Realisierung unterschiedlicher, typischerweise kundenorientierter Leistungen. Modularisierungs- und Plattformstrategien stehen 256

Einführung zum Ressourcenmanagement

hierfür als (nicht nur produktionswirtschaftliche) Beispiele. Erfahrungsgemäß lassen sich in diesem Fall die "economies of scope" nur bei situativer, dezentraler Einsatzplanung zu nutzen. Die zentrale Planung ist deshalb auf grobe Rahmenpläne zu beschränken. Während die beiden vorgenannten Konstellationen mehr oder weniger klassische Situationen repräsentieren, erscheinen die beiden anderen Kombinationen (Ressourcen starr / breites Programm sowie Ressourcen flexibel / enges Programm) widersprüchlich in Bezug auf eine effiziente Strategie. Auch wenn keine universellen Lösungen existieren, so können in beiden Fällen angepasste Strategien dennoch zum Erfolg führen. Flexibel einsetzbare Ressourcen sind bei engem Leistungsprogramm nützlich, wenn durch die Fokussierung des Leistungsprogramms Geschwindigkeitsvorteile, die der Kunde honoriert, realisiert werden können ("economies of speed"). Durch die Spezialisierung wächst die Produktivität, so dass die Stückkosten sinken. Dies gilt für viele Anbieter von Dienstleistungen wie bspw. Innovations- und entwicklungsorientierte Organisationen, Logistikdienstleister u.a.m.. Im diametralen Fall (starre Ressourcen und breites Programm) geht es darum, auf starrer Ressourcenbasis standardisierte Leistungen zu erstellen, die erst zum Ende des Wertschöpfungsprozesses entkoppelt und kundenspezifisch differenziert werden (economies of skills"). Beispiele hierfür sind Software- und Hardwarehersteller. Problematischer ist die Strategiefindung im mittleren Bereich zwischen den vorgenannten Extremen. Die Strategie müsste "economies of scale, scope, speed und skills" vereinen und somit Spezialisierung und Differenzierung, was auf den ersten Blick unvereinbar erscheint. Virtuelle Organisationen stehen jedoch als Beispiele für die Realisierung von "economies of span". Durch Nutzung von Informationstechnik lassen sich Wertschöpfungsstufen interorganisationaler Gebilde virtuell integrieren und effizient koordinieren wodurch die Transaktionskosten sinken. Nachfolgend werden Kompetenz-, Produktions- und Logistikstrategien als Grundstrategien des Ressourcenmanagements in diversen Facetten exemplarisch in einem Überblick vorgestellt.

Kompetenzstrategien • Kernkompetenzstrategie i.e.S. Die Strategie zielt darauf ab, die Kernkompetenzen einer Organisation gezielt zu nutzen, um innovative Kernprodukte zu schaffen, die in einer Vielzahl von Prozessen und Produkten zum Einsatz kommen. Die gebündelten Kompetenzen sollen zu patentrechtlich schützbaren Innovationen führen und damit Alleinstellungsmerkmale für einen längeren Zeitraum schaffen. Vergangenheitlich realisierte bspw. So257

1

1

Einführung zum Ressourcenmanagement

ny diese Strategie recht gut. Sony verfügt über Patente auf innovative Bauelementen, Komponenten und Systeme, auf die in elektronischen Geräten der unterschiedlichsten Art mangels Alternativen nicht verzichtet werden konnte. Das "Wurzelwerk von Schlüsselfähigkeiten" soll deshalb werden, um die Stärken weiter auszubauen und die Schwächen zu vermindern. Dies bedingt die dynamische Weiterentwicklung der Kompetenzen, um die Kompetenzen, die im Laufe der Zeit durch Patentablauf oder Veralterung obsolet werden, durch neue Kernkompetenzen zu substituieren. Die erforderlichen Kernkompetenzen betreffen insbesondere den Marktzugang, die Funktionalität der Erzeugnisse und die Prozesse der Wertschöpfung. Marktzugangsbezogene Kernkompetenzen fokussieren primär auf Kundennähe, wie Service- und Kooperationsfähigkeit sowie auf Händler- und Markenmanagement. Vorraussetzung für individuellen Kundennutzen sind überlegen Qualität und überragender Service in Verbindung mit einzigartiger Funktionalität. In Qualitäts- und Zeitkompetenz manifestieren sich prozessbezogene Kernkompetenzen, die darauf abstellen, die Leistung besser, flexibler, schneller und preiswerter zu erbringen als die Konkurrenten. Hierbei geht es nicht allein um die Beherrschung der Kompetenzen und Technologien, sondern insbesondere um die Fähigkeit, die Kernkompetenzen zielgerichtet zu kombinieren und in erfolgreiche Marktleistungen umzusetzen. Permanentes Lernen ist deshalb im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Kompetenzen die conditio sine qua non.

• Virtuelle Organisation Während die Kernkompetenzstrategie auf der Spezialisierung der Ressourcen gründet, stellen virtuelle Organisationen auf die Flexibilisierung des Ressourceneinsatzes ab. Das Ziel ist ein zeitlich begrenzter Kooperations- oder Leistungsverbund von Wertschöpfungspartnern, jedoch ohne langfristig bindende Investitionen in spezifische Leistungsinfrastrukturen. Ein Virtuelles Unternehmen konstituiert in dieser Konzeption keine rechtlich-materielle Einheit; es ist deshalb nur logisch und nicht physisch als ein Unternehmen vorhanden. In der Außenbeziehung gegenüber dem Kunden soll die Virtuelle Organisation jedoch eine Einheit verkörpern. Auf umfassende formale Vertragswerke zur Kooperation wird verzichtet, um die Flexibilität zu sichern und die Transaktionskosten niedrig zu halten. Grundlage der Kooperation sind deshalb neoklassische oder relationale Verträge, die nur einen vertraglichen Rahmen konturieren. Die Akteure verpflichten sich, im Falle von Streitigkeiten durch den Willen zur Schlichtung einen Interessensausgleich zu finden. Die Gestaltungsparameter der Virtuellen Organisation sind die modulare Leistungserstellung mit Aufgabenteilung in komplementärer Zusammenarbeit. Wissen ist lediglich dezentral vorhanden. Auf der Basis der lokalen, proprietären Kern258

Einführung zum Ressourcenmanagement

kompetenzen wird die Leistung in verteilten Operationen erbracht. Die Koordination der Teilleistungen erfolgt überwiegend durch nicht-hierarchische Mechanismen wie Selbststeuerung, Verantwortung, Reziprozität und Vertrauen. Logistikund F&E-Netzwerke und auch die SMART-Produktion sind Beispiele für virtuelle Organisationen.

Produktionsstrategien • Lean Production Das Ziel der Strategie ist die Flexibilisierung der Leistungserstellungsprozesse bei hoher Produktivität und niedrigen Stückkosten. Die Wertschöpfung erfolgt unter Konzentration auf die Kernprozesse. Kompetenz- und kostengetriebene Make or Buy Entscheidungen bestimmen deshalb die Wertschöpfungsstruktur. Flache, flexible Organisations- und Produktionsstrukturen und innovative Verbesserungen sollen zu schnellen Prozessen bei niedrigem Ressourcenverbrauch führen. Die Konzeption, von Toyota entworfen und weiterentwickelt, sieht die Produktion als integrierten Prozess durch enge Integration der Zulieferer und konsequente Marktorientierung. Das integrierte Qualitätsmanagement und stabile Prozesse haben hohe Qualität bei geringem Ausschuss zum Ziel. Besondere Bedeutung erlangt der humane Produktionsfaktor in Verbindung mit der Teamorganisation. Dem Team wird Entscheidungsspielraum und Ergebnisverantwortung übertragen. Auch die operative Instandhaltung ist an das Team delegiert. Anreizsysteme und die Rückkopplung von operativen Statusinformationen flankieren die Selbststeuerung der Teams. Wichtiges Element ist der Einsatz von IuK-Techniken zur Koordination der Produktions- und Zulieferprozesse. Der Automatisierungsgrad hält sich in Grenzen: Nur einfache und gefährliche Arbeiten werden automatisiert, um die Flexibilität der Prozesse effizient zu sichern. Die Philosophie der Lean Production hat im Laufe der Zeit eine Weiterentwicklung zu einem Management- und Führungssystem erfahren.

• Total Quality Management Die Strategie erhebt die totale Beherrschung der Leistungserstellungsprozesse mit dem Ziel der Null-Fehler-Produktion zum Paradigma. Die Konzeption fokussiert deshalb mit höchster Priorität auf die Sicherung der Erzeugnisqualität. Die Qualitätssicherung beginnt bereits bei der Konstruktion und setzt sich über die Produktentwicklung und die Produktionsprozesse fort. Der Einsatz präventiver Sicherungsinstrumente wie Quality Function Deployment (QFD), Fehlermöglichkeitsund Einflussanalyse (FMEA) und Statistische Prozesskontrolle (SPC) in den genannten Phasen soll die Built-in-Quality von Erzeugnissen sichern. Die Wertschöp259

1

1

Einführung zum Ressourcenmanagement

fungskette übergreifend wirkt der Prozess der kontinuierlichen Verbesserung (KVP, CIP). Unter dem Paradigma sind formalisierte Managementsysteme entwickelt worden, die auf dem Rückkopplungsprinzip gründen wie beispielsweise das Deming-Rad oder der PDCA-Cycle (Plan-Do-Check-Act): Die Planung erfolgt unter dem Dictum der Strategie (Policy) zyklisch. Zwei Zyklen sind zu unterscheiden: Im schnellen inneren Rückkopplungskreis werden nach Umsetzung der Pläne (Do) die Ergebnisse hinsichtlich der Zielerreichung überprüft (Check). Aus den Prüfresultaten werden im Sinne kontinuierlicher Verbesserung Maßnahmen abgeleitet (Act), die als Vorgaben in den neuen Zyklus einfließen. Im langsamen äußeren Zyklus steht – ebenfalls im Kontext der kontinuierlichen Verbesserung – auch die Strategie zur Disposition. Schulung, Training und Anreizsysteme sind wesentliche flankierende Maßnahmen in diesem Managementansatz.

Abbildung 1-2: Plan-Do-Check-Act-Cycle

PO LIC Y M A KIN G A CT

PLAN Kont inuierliche V erbesserung

C H EC K

DO

• Total Productive Maintenance Auch der Ansatz der TPM (Total Productive Maintenance) stellt mit dem Ziel, die Anlageneffizienz durch hohe Verfügbarkeit zu steigern, auf die totale Beherrschung der Prozesse ab. Wesentliche Elemente der Konzeption sind die vorbeugende Instandhaltung und die Integration der operativen Instandhaltung in die Produktion. Instandhalter sind lediglich für die Instandsetzung bei Maschinenausfällen und für die strategische Instandhaltung erforderlich. Im Zentrum des Managementansatzes steht die Messung der Verfügbarkeit, der Leistung und des Ausschusses als Determinanten für die Produktivität eines Produktionssystems. Konzipiert als Anreizsystem soll die informationelle Rückkopplung der Messergebnisse forcieren, Ursachen aufzudecken und Maßnahmen zu er260

Einführung zum Ressourcenmanagement

greifen, die zu kontinuierlichen Verbesserungen der Anlageneffizienz führen. Auch bei diesem Ansatz sind Schulungen des Personals ein wesentliches Gestaltungselement. Der Zweck ist Beseitigung der sechs großen Verlustquellen in der Produktion: Maschinenausfälle sowie Rüst- und Justierzeiten verschlechtern den Verfügbarkeitsfaktor (Availability); Maschinenleerlauf und kleine Störungen sowie Geschwindigkeitsverluste vermindern den Leistungsfaktor (Performance Rate); fehlerhafte Teile bei Maschinenanlauf und Produktion verschlechtern den Qualitätsfaktor. Die drei Kennzahlen werden multiplikativ zu der Spitzenkennzahl OEE (Overall Equipment Effectiveness) als Maß für die Gesamtanlageneffizienz verdichtet.

Logistikstrategien • Just in Time Das Ziel der Strategie ist die Synchronisierung von Belieferung, Produktion und Absatz, um durch Beschleunigung der Logistikprozesse die Lagerbestände und damit Kapitalbindungskosten zu senken. Die Spezialisierung auf schnelle und synchronisierte Materialflüsse basiert – wie auch die KANBAN-Steuerung der Produktion – auf dem Pull-System. Im Idealfall soll nur das in richtiger Menge und zum richtigen Zeitpunkt angeliefert werden, was an einer Fertigungsstelle gerade benötigt wird. Die effiziente Implementierung der Strategie setzt Produktionsprozesse mit nicht oder nur gering schwankendem Güterverbrauch und einen höherem Verbrauchswert der Güter (sog. A-Teile) voraus. Der Lagerbestand an einer Fertigungsstelle (Senke) deckt die Beschäftigung nur für wenige Stunden oder auch einen Tag. Rechtzeitig bevor der Bestand verarbeitet ist, muss die Nachbelieferung durch die vorgelagerte Fertigungsstelle (Quelle) mit gleicher Liefermenge erfolgen. Handelt es sich um homogene Güter (bspw. Karosseriepressteile), so kann bei konstanter Verbrauchsrate die Nachbelieferung periodisch in gleich bleibenden Mengen erfolgen. Bei schwankender Verbrauchsrate genügt unter Berücksichtigung der Transportzeit und – sofern die Güter nicht auf Lager sind – auch der Produktionszeit der Quelle ein Pull-Impuls zum Abruf der Lieferung. Bei artgleichen Gütern, die sich in gewissen Ausstattungsmerkmalen unterscheiden, wie bspw. Pkw-Sitzen, sind zusätzlich Informationen über die variablen Gütermerkmale und – bei Perfektion der Strategie durch Just in Sequence– über die Sequenzierung der Güter im Transportbehälter erforderlich. Da erst beim Eintreffen des Pull-Signals der Quelle Informationen über die Ausstattungsmerkmale vorliegen, kann erst zu diesem Zeitpunkt mit der Fertigung begonnen werden. Dies

261

1

1

Einführung zum Ressourcenmanagement

setzt i.d.R. das Vorhalten eines Lagerbestands an Rohmaterial und Einzelteilen jeweils in einer Höhe voraus, die die Nachbestellungsdauer überbrückt. Quelle und Senke bilden in Abstimmung auf Güterqualität und bei Abruf zu liefernde Gütermengen jeweils einen sich selbst steuernden Regelkreis. Die Regelkreise lassen sich über mehrere Produktionsstufen linear zu einem System mit dezentraler Steuerung verketten.

• Supply Chain Management Das Ziel dieser Strategie ist die schnelle und kostengünstige Koordination der Leistungserbringung in einer logistischen Kette. Damit soll durch Anpassungsfähihkeit an wechselnde Marktanforderungen einerseits die Kundezufriedenheit (Effektivität) gesichert und andererseits die Rentabilität (Effizienz) gesteigert werden. Eine gewisse Verwandtschaft besteht zwar zur Just in Time-Strategie, jedoch stehen beim Supply Chain Management (SCM) Varietät und Variantenvielfalt im Vordergrund. In der temporären oder längerfristigen Verkettung der Informations- und Warenflüsse zwischen aufeinander folgenden Prozessstufen, die jeweils ihren Kernkompetenzen in die Leistungserstellung einbringen, werden wiederum Ähnlichkeiten mit der virtuellen Organisation sichtbar. Die Konzeption des SCM fokussiert auf Optimierung und totale Kontrolle des Flusses von Material, Information und Serviceleistung entlang der logistischen Kette. Ein charakteristisches Gestaltungselement ist die Segmentierung der Kunden nach den Serviceanforderungen (Auftragserfüllung, Warenbedarf, Lieferhäufigkeit, etc.). Die Konfiguration der logistischen Kette erfolgt sodann unter Berücksichtigung des geforderten Servicegrads und der erzielbaren Rentabilität. Eine wichtige Rolle spielen die Zeitspanne der Auslieferung (Postponement) und die Leistungsdifferenzierung (Entkopplung). Transporte sollen so spät wie möglich vollzogen werden, die Güter aber dennoch fristgerecht dem Kunden geliefert werden. Der Entkopplungspunkt von undifferenzierter zu differenzierter Leistung soll möglichst nah beim Kunden liegen, um Degressionseffekte zu nutzen. Besondere Bedeutung erfährt deshalb die Integration von Planung und Management mit akkurater Bedarfs- und Terminplanung, um den Durchlauf zu beschleunigen und die Bestände in der Kette niedrig zu halten. Der Einsatz von IuK-Technik verhilft zu Transparenz und Steuerung von Material-, Informations- und Serviceleistungsflüssen in der Kette unterstützt die rasche Entscheidungsfindung. Wie bei TPM dient die überprüfende Leistungsmessung anhand von Kennzahlen zur Kontrolle von Effektivität und Effizienz. Der Aufgabenumfang des Managements betrifft nicht nur die Gestaltung und Steuerung der Kette vom internen und externen Lieferanten zum internen und externen Kunden,

262

Einführung zum Ressourcenmanagement

sondern umfasst auch die Lieferanten der Lieferanten sowie die Kunden der Kunden.

Literaturhinweise Albers, S. (Hrsg.): Management virtueller Unternehmen, Wiesbaden 2003. Bellmann, K. u.a. (Hrsg.): Aktionsfelder des Kompetenz-Managements: Ergebnisse des II. Symposiums Strategisches Kompetenz-Management, Wiesbaden 2002. Bürki, D. M.: Der "resource-based-view"-Ansatz als neues Denkmodell des strategischen Managements, St. Gallen 1997. Freiling, J.: Resource-based view und ökonomische Theorie: Grundlagen und Positionierung des Ressourcenansatzes, Wiesbaden 2001 Hammann, P. u.a. (Hrsg.): Die Ressourcen- und Kompetenzperspektive des Strategischen Managements, Wiesbaden 2000. Konrad, G.: Theorie, Anwendbarkeit und strategische Potenziale des Supply Chain Management, Wiesbaden 2005. Krüger, W. u.a. (Hrsg.): Kernkompetenz-Management Steigerung von Flexibilität und Schlagkraft im Wettbewerb, Wiesbaden 1997. Müller, R.: Lean Management in der Praxis: Beiträge zur Gestaltung einer schlanken Produktion, Zürich1993. Rohde, M. (Hrsg.): Auf dem Weg zur virtuellen Organisation: Fallstudien, Problembeschreibungen, Lösungskonzepte, Heidelberg 2001. Rothlauf, J.: Total-Quality-Management in Theorie und Praxis: Zum ganzheitlichen Unternehmensverständnis, 2., neubearb. und erw. Aufl., München [u.a.] 2004. Womack, J. P. u.a. (Hrsg.): Machine That Changed the World: The Story of Lean Production, 1991. Zerbst, M.: Total Productive Maintenance: Strategische Instandhaltung mobiler Anlagen, Wiesbaden 2000. Westkämper, E. (Hrsg.): Instandhaltungsmanagement in neuen Organisationsformen, Berlin [u.a.] 1999.

263

1

2

Automobile made in Uusikaupunki*

Die Valmet Automotive Inc. Wenn Sie an finnische Unternehmen denken, kommt Ihnen vermutlich der weltbekannte Mobiltelefonhersteller Nokia in den Sinn, sicherlich jedoch kein Automobilproduzent. Der Grund dafür ist, dass es sich bei der finnischen Valmet Automotive Incorporation nicht um einen Automobilproduzenten im klassischen Sinn handelt, sondern um einen Komplettzulieferer, der Nischenmodelle aller Art in geringen Stückzahlen und ohne eigene Marke fertigt. Valmet Automotive wurde im Jahr 1968 unter dem Namen Saab-Valmet als ein Joint Venture zwischen der schwedischen Saab-Scania AB und der finnischen Valmet Corp. gegründet. Im Laufe der Jahre waren bedeutende Veränderungen der Besitzverhältnisse zu verzeichnen. Im Jahr 1992 wurde das Unternehmen komplett von der Valmet Corp. übernommen und in Valmet Automotive Inc. umbenannt. Seit der Fusion der Valmet Corp. mit der Rauma Corp. im Jahr 1999, gehörte Valmet Automotive zu 100 Prozent der neu entstandenen Metso Corp., dem Weltmarktführer in Papierverarbeitungstechnik. 2001 übernahm die ThyssenKrupp AG 10 Prozent der Anteile an der Metso Tochter. Der Übernahmevertrag sah eine Kaufoption der restlichen Anteile zum Jahresende 2003 vor, von der ThyssenKrupp jedoch kein Gebrauch machte. Im Gegenteil, der deutsche Konzern verkaufte am 6. Juli 2004 seine Minderbeteiligung, die wiederum von Metso übernommen wurden. Seit der Gründung von Valmet Automotive wurden im finnischen Uusikaupunki über eine Million Fahrzeuge gefertigt, davon ca. 200 000 Cabriolets oder Coupés. Zunächst fertigte Valmet Automotive, damals Saab-Valmet, lediglich den Saab 96, einen der ersten Kombis seiner Zeit. Später kamen etliche bekannte Modelle hinzu, darunter der Chrysler Talbot, der von 1979 bis 1985 in einer Auflage von über 30 000 Fahrzeugen produziert wurde, oder der Opel Calibra mit einer Auflage von 90 000 Fahrzeugen. Selbst der russische Lada Samara verließ die Werkshallen von Valmet. Im Jahr 2000 profitierte Valmet von der allgemeinen Individualisierung der Nachfrage auf dem Automobilmarkt und konnte 38 000 Fahrzeuge an Saab und Porsche verkaufen, was einem Wachstum von 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprach. Als Saab 2003 den *

Unter Mitarbeit von Dirk Christian Marschall

265

2

Automobile made in Uusikaupunki

Vertrag über die Endmontage der Cabrio-Modelle aus der 900er und 9-3er Serie kündigte und den Auftrag an die österreichische Magna Steyr AG und Co KG vergab, verlor Valmet seinen wichtigsten Kunden. Da bisher ¾ der produzierten Fahrzeuge an Saab geliefert wurden, musste Valmet seine Belegschaft um mehr als die Hälfte auf 750 Mitarbeiter reduzieren. Das 225 Kilometer nördlich von Helsinki gelegene Werksgelände von Valmet ist 82 400 qm groß und vereint eine Lackierstraße, Schweißanlagen sowie mehrere Endmontagelinien unter einem Dach. Alle Anlagen weisen einen hohen Automatisierungsgrad auf. Zusätzlich unterhält Valmet ein Produktentwicklungszentrum, indem seit der Unternehmensgründung 43 Konzept-Cars entwickelt wurden, jedoch nie in Serienproduktion gingen. Die meisten davon Cabriolets oder Coupés. Die Kapazität des Werks beläuft sich auf 300 Fahrzeuge pro Tag. Der Produktionsstandort ist für 4 Wochen im Sommer, sowie eine Woche im Winter geschlossen. In dieser Zeit werden zeitintensive Wartungs- und Instandhaltungsmaßnahmen durchgeführt, um einen fehlerfreien Betrieb der Anlagen während den Arbeitszeiten zu gewährleisten. Die Materialwirtschaft sowie die Logistikprozesse liegen im Verantwortungsbereich von Valmet und sind nach dem Kanban-Prinzip organisiert. Valmet hält dabei einen 12-Stunden-Vorrat an Motoren, sowie einen 3-Tages-Vorrat an Karosserieteilen auf Lager. Die Motoren sind bereits komplett montiert und werden von den OEMs bzw. deren Zuliefern bezogen.

Der Geschäftsbericht Tapio Kuisma rief am Morgen des 14. Januar 2005 seine E-Mails ab. Kuisma war Vorstandsvorsitzender von Valmet Automotive, einem Posten um den ihn niemand beneidete, wie er vor zwei Wochen auf einer Silvesterparty scherzhaft verkündet hatte. Der vorläufige Geschäftsbericht für das Jahr 2004 hätte bereits am Montag vorliegen müssen. Wenn er auch heute nicht unter den Emails war, müsste er ein ernstes Wort mit Rainer Karjalainen, dem Finanzvorstand von Valmet reden. Immerhin würde Kuisma am 21. Januar auf einer Konferenz mit Satu Huber, der bei der Metso Corp. für die Finanzen zuständig ist, zusammentreffen und die Zahlen rechtfertigen müssen. Die Zeit drängte also. Aber auf Karjalainen war Verlass. Da war der Bericht, heute Morgen um 3:05 Uhr rausgegangen und mit einem Ausrufezeichen markiert. Kuisma öffnete den Anhang der Email und scrollte zum Jahresvergleich, der die wichtigsten Informationen und Entwicklungen kompakt wiedergab. Ihm bot sich folgendes Bild: Kuisma war klar gewesen, dass 2004 kein Erfolgsjahr gewesen war, aber mit einem Betriebsverlust in dieser Höhe hatte er nicht gerechnet. Obwohl die Umsatzerlöse um nicht einmal die Hälfte zurückgegangen waren, hatte sich der Verlust im Vergleich zum Jahr 2003 fast verdreifacht. Und dies trotz massiver Einsparungen im Entwicklungsbereich. Kuisma berief eine Krisensitzung des Vorstands für den Nachmittag ein.

266

Automobile made in Uusikaupunki

Anschließend bearbeitete er zügig die restlichen Emails. Die beiden Studien für den Genfer Auto Salon im März waren fertiggestellt worden: eine Offroadversion des Ford Focus, sowie eine Coupé-Cabriolet-Version der C-Klasse. Eine Nachricht von Ilpo Korhonen beunruhigte ihn. Porsche hatte erneut die Tagesproduktion des Boxster und des Boxster S reduziert. Kuisma wollte deshalb mit Korhonen sprechen, der bei Valmet für das Porsche-Programm zuständig war. Er ging mit zügigen Schritten in dessen Büro. Der kleine Spaziergang tat ihm gut und bot eine Gelegenheit, sich die wichtigsten Details über die Zusammenarbeit mit der Porsche AG ins Gedächtnis zu rufen.

Tabelle 2-1:

Jahresübersicht Valmet As of and for the year ended December 31 2002

2003

2004

(€ in millions, except personnel and vehicle data) Net sales

128

70

40

Operating profit (loss)

23

(8)

(23)

Capital employed

42

31

25

Capital expenditures

8

14

12

Research and development

4

3

2

41,066

19,226

10,051

1,496

716

763

Approximate number of vehicles assembled Personnel

Quelle: Metso Corporation: Form 20 F, http://www.metso.com/corporation/ir_eng.nsf/WebWID/ WTB-050331-2256F-1913D/$File/Metso_Form20-F_2004.pdf, S. 23, download 20.04.2005

Valmet und die Porsche AG Die Zusammenarbeit mit Porsche begann im Jahr 1996, also vor Kuismas Zeit als Vorstandsvorsitzender von Valmet. Ein Jahr nachdem der Boxster ins Produktionsprogramm der Zuffenhausener aufgenommen wurde, stieß Porsche an den Rand seiner Kapazität. Um der hohen Nachfrage gerecht zu werden, musste Porsche in Engpasssituationen Fertigungsaufträge an einen externen Produzenten abgeben. Valmet war der einzige Komplettzulieferer, der den hohen Qualitätsanforderungen des Sportwagenherstellers gerecht werden und einen Produktionsstart innerhalb weniger Monate sicherstellen konnte. Die jahrelange Erfahrung im Cabrioletbau und die Flexibilität der Produktionsanlagen kamen Valmet damals zu Gute. Valmet übernahm den Rohbau, die Montage, die Lackierung sowie das Finish der Modelle Boxster und Boxster S. Der

267

2

2

Automobile made in Uusikaupunki

Vertrag sah zunächst eine Zusammenarbeit bis zum Jahr 2004 vor. Als Porsche 2001 eine neue Boxster-Version auf den Markt brachte, wurde der Vertrag frühzeitig bis zum Jahr 2008 verlängert. Zusätzlich besteht eine Verlängerungsoption bis 2011. Um das neue Boxster Modell nach den Vorgaben von Porsche fertigen zu können, musste Valmet von 2002 bis 2005 40 Millionen Euro in die Umgestaltung und Modernisierung der Produktionsanlagen investieren. Kuisma konnte sich nur zu gut an die tagelangen Diskussionen auf Vorstandsebene über die Notwendigkeit der Investitionen erinnern. Der Automatisierungsgrad im Rohbau konnte durch den Einsatz von 30 neuen Schweißrobotern auf 90 v. H. erhöht werden. Zudem fanden computerbasierte Messtechniken Anwendung, die ein hohes Maß an First-Time-Quality sicherstellten. Die komplett montierten Motoren und Unterbaugruppen wurden Just-in-Time aus Zuffenhausen angeliefert. Um eine kontinuierliche Materialversorgung zu gewährleisten, befanden sich seit dem 13. Januar 2005 zwei eiswassertauglichen Spezialfähren der Attica Gruppe im Einsatz, die Rostock mit Uusikaupunki verbanden. Kuisma klopfte und betrat das Büro. Korhonen war gerade am Telefonieren. Offensichtlich gab es ein Qualitätsproblem mit einem Los Boxster S. Die Nachbesserung verzögerte die Lieferung in die USA, und es war nicht sicher, ob der Liefertermin eingehalten werden konnte. Als das Telefongespräch beendet war, begrüßten sich die beiden freundlich. "Porsche ist zur Zeit unser einziger und damit wichtigster Kunde. Also lass Dir einen guten Grund für die Deutschen einfallen, wenn wir den Liefertermin tatsächlich verpassen!", sagte Kuisma. "Wir haben noch nie einen Termin verpasst, oder?", entgegnete Korhonen. Kuisma fuhr fort: "Die erneute Kürzung der Tagesproduktion macht mir Sorgen. Die Bänder stehen die meiste Zeit still, obwohl wir ohnehin nur noch im Zweischichtbetrieb arbeiten. Ich hoffe wirklich auf den Cayman-Auftrag, sonst sehe ich schwarz." Der Cayman, eine Coupé-Version des Boxster, sollte nach Angaben von Porsche Ende des Jahres auf den europäischen Markt kommen. "Wir stehen in intensiven Verhandlungen mit Porsche, die Leistungsvergütung pro produziertem Modell ist aber noch strittig. Ich glaube, unsere Chancen stehen gut, Zuffenhausen ist ausgelastet." Korhonens Worte waren die erste gute Nachricht für Kuisma an diesem Morgen. So gab es wenigstens etwas Positives, das er Satu Huber von Metso in einer Woche berichten konnte. Korhonen informierte Kuisma auch über eine geplante vierte Baureihe von Porsche. Neben der 911er Serie, dem Cayenne und dem Boxster war von einem viersitzigem Cabrio die Rede, das entwickelt werden sollte. Allerdings war noch nichts Offizielles bekannt. Korhonen ging davon aus, dass die Entwicklung in Kooperation mit Volkswagen stattfinden würde. Auch bei der Entwicklung des Cayenne konnte Porsche allein nicht alle Ressourcen aufbringen und kooperierte mit VW.

268

Automobile made in Uusikaupunki

Der Audi-Auftrag Als Kuisma wieder in seinem Büro angekommen war, fand er ein Fax auf seinem Schreibtisch. Es stammte von Audi. Aimo Åhlman von der Produktentwicklung war vor einigen Wochen in Ingoldstadt gewesen, um Audi das von Valmet entwickelte A4Coupé-Cabriolet zu präsentieren. Valmet hatte die Studie im Februar letzten Jahres auf dem Genfer Auto Salon vorgeführt. Audi zeigte sich damals interessiert. Das HardTop schloss in 32 Sekunden bis zu einer Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern. Als Kuisma auf die zweite Seite des Fax geblättert hatte, las er nur den Namen Magna Steyr und wusste Bescheid. Magna Steyr war mit einem Marktanteil von über 40 Prozent bei den Komplettzulieferern der stärkste Konkurrent von Valmet. Die Geschwindigkeit mit der Magna wuchs machte Kuisma fast schon Angst. Das Unternehmen mit Stammsitz in Graz hatte mittlerweile zahlreiche Standorte erschlossen, unter anderem in Indien, Ungarn oder Japan. Von der Vorentwicklung bis zu Crashtests bot Magna alles an. Selbst in der Weltraumtechnik war das Unternehmen tätig. Die Österreicher fertigten den BMW X3, die allradgetriebene Version der Mercedes E-Klasse, sowie die G-Klasse, den Jeep Grand Cherokee, der Chrysler Voyager, sowie das Saab 9-3 Cabriolet. Da Magna an der Entwicklung des BMW X3 beteiligt war, hatte die Firma den Auftrag für die Produktion des kompletten Modells erhalten. "Nach intensiver Prüfung der vorliegenden Angebote haben wir uns aufgrund der attraktiven Preisgestaltung zur Zusammenarbeit mit der Magna Steyr AG und Co KG entschlossen.", hieß es in dem Fax. Kuisma war überrascht. Da Magna fast ausschließlich allradgetriebene Fahrzeuge fertigte, hatte er Valmets Chancen recht hoch eingestuft. Eine Gefahr hatte er vielmehr in dem italienischen Konkurrenten Bertone gesehen. Von einem alten Freund, der mittlerweile die Produktentwicklung bei Bertone leitete, hatte er erfahren, dass sich die Designschmiede aus Turin intensiv um den Audi-Auftrag bemüht hatte. Bertone war auf die Entwicklung und Produktion von Cabriolets spezialisiert und produzierte zur Zeit als einzigen Auftrag das Opel Astra Cabrio, an dessen Design Bertone maßgeblich beteiligt gewesen war. Der Unternehmensbereich Stile Bertone deckte das Geschäftsfeld der Design-Studien, Machbarkeitsstudien, sowie den Bau von Modellen und Prototypen ab, während Bertone Engineering für die Prozess- und Produktentwicklung zuständig war. Kuisma rief Hannu Berger vom Marketing an und bat ihn um eine detaillierte Darstellung von Valmets Wettbewerbsvorteilen. "Offensichtlich können wir unsere besten Karten nicht ausspielen.", dachte er laut nach. Der Bericht würde beim Zusammentreffen mit Metso in einer Woche nützlich sein. Es war bereits 13:30 Uhr und Kuisma hatte noch nichts gegessen.

269

2

2

Automobile made in Uusikaupunki

Ein kurzes Mittagessen Kuisma nutzte die Essenszeit um die Zeitungsartikel, die die Pressestelle herausgesucht hatte, zu überfliegen:

„ Automotive News: "Valmet Automotive auf dem Genfer Auto Salon" „ Financial Times: "Metso investiert in China – Kapitalfreisetzungen in Nicht- Kernkompetenzbereichen angekündigt"

„ Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Porsche weiterhin auf Wachstumskurs" „ Iltalehi: "Metso verzeichnet Rekordgewinn" „ ÖTZ: "Magna Steyr eröffnet Werk in Ungarn" „ Time Magazine: "Steigende Benzinpreise in den USA – DaimlerChrysler plant Markteinführung des Smart"

„ Financial Times Deutschland: "Mangelnder Binnenabsatz – Opels Bänder stehen still."

„ Index – Metso´s Magazine for Investors: "Vision 2010: Lifecycle-Support-Services" „ Auto, Motor und Sport: "Autos bald nach dem Lego-Prinzip? - Individualität wird groß geschrieben"

„ Stol: "Erhöhung der Körperschaftssteuer nicht ausgeschlossen!" „ Automotive Industries: "100% Fahrspaß bei nur 30% Daimler im neuen SLR" Kuisma hatte keine Ruhe, die Zeitungsartikel sorgfältig zu lesen. Er musste die verbleibende halbe Stunde nutzen, um sich auf die bevorstehende Sitzung vorzubereiten. Zwischenzeitlich rief Korhonen an, der ihm mitteilte, dass der Liefertermin der fehlerhaften Boxster S dank einer Sonderschicht eingehalten werden könne. Das folgende Los sei jedoch auch fehlerhaft. Er versicherte Kuisma, der Sache auf den Grund zu gehen.

Die Krisensitzung Kuisma begrüßte die Anwesenden und richtete das Wort in die Runde: "Meine Herren, ich habe Sie bereits per Email informiert. Sie wissen also, warum wir hier sind. In genau einer Woche werde ich Herrn Huber Rede und Antwort stehen. Wir schreiben als einzige Metso Tochter Verluste. Ich werde ihm gute Gründe präsentieren und vor allem Ansätze zur Verbesserung der Situation liefern müssen! In unserem Forecast sind wir von einem Verlust von 18 Millionen Euro ausgegangen. Warum sind es nun

270

Automobile made in Uusikaupunki

23 Millionen?" Karjalainen, der Finanzvorstand, antwortete sofort: "Seitdem Saab nicht mehr zu unseren Kunden gehört, fressen die Fixkosten uns auf! Porsche hat letzten Oktober die Produktionszahlen runtergesetzt und die Situation so weiter verschärft. Unser Forecast ist von der Planbeschäftigung ausgegangen. Zudem war die Entwicklung der beiden Studien für Genf wesentlich teurer als geplant. Es waren lediglich eine Million Euro für Entwicklungsausgaben vorgesehen und wir sind bei zwei Millionen gelandet." Fertigungsvorstand Juhani Suvinen stimmte ihm zu: "Wir produzieren Autos. Und das in hoher Qualität zu niedrigen Preisen. Immerhin haben wir 2003 als einer der ersten das ISO/TS 16949 Qualitätszertifikat erhalten. Für Entwicklungen fehlen uns zur Zeit die finanziellen Ressourcen. Unsere Anlagen sind seit dem Umbau so flexibel, dass wir alles fertigen können, Coupés, Cabrios, SUVs, Offroad-Fahrzeuge. Es gibt kaum eine Nische, die wir nicht abdecken könnten. Bald haben wir einen zweiten Kunden." Kuisma hingegen war weniger optimistisch: "Magna hat uns eben das A4-Projekt weggeschnappt und Porsche hat die Produktion erneut gedrosselt. Möglicherweise sollten wir einen externen Berater beauftragen." Die Frage nach der Notwendigkeit eines externen Beraters spaltete den Vorstand, und die Sitzung dauerte bis in die späten Abendstunden. Die Anwesenden einigten sich letztlich darauf, eine professionelle Unternehmensberatung hinzuzuziehen. Kuisma blieben sechs Tage bis zu seinem Zusammentreffen mit Satu Huber. Eine Möglichkeit zur Kosteneinsparung sah er nur in der Kürzung des hohen Marketingbudgets oder in der Reduzierung von kostspieligen Maßnahmen zur Mitarbeiterqualifizierung. Hannu Berger, zuständig für Geschäftsentwicklung und Marketing, sowie der Human-Ressource-Manager Seppo Nikula würde nicht begeistert sein. Nein, niemand beneidete ihn um seinen Job, dessen war er sich sicher! Noch am selben Abend schrieb Kuisma eine Email an seinen alten Freund bei Bertone.

Aufgabenstellung 1. Beschreiben Sie das Geschäftsmodell, das die Zusammenarbeit zwischen Valmet und Porsche kennzeichnet. Welche Risiken trägt Valmet dabei? Analysieren Sie die Kooperationsbeziehung vor dem Hintergrund eines geeigneten theoretischen Erklärungsansatzes. 2. Kuisma hat eine Darstellung von Valmets Wettbewerbsvorteilen in Auftrag gegeben. Am 19. Januar liegt der Bericht noch nicht vor. Greifen Sie auf eine geeignete Analysemethode zurück und schreiben Sie den Bericht. 3. Worin sehen Sie die Gründe, dass Magna Steyr Valmet den Audi-Auftrag "wegschnappen" konnte? 4. Als externer Unternehmensberater ist es Ihre Aufgabe, den Vorstand bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Welche Strategien würden Sie Kuisma emp-

271

2

2

Automobile made in Uusikaupunki

fehlen, um das Unternehmen langfristig in die schwarzen Zahlen zu bringen? Welche Barrieren könnten bei der Umsetzung der von Ihnen entwickelten Strategie(n) auftreten? 5. Kuisma schreibt eine E-Mail an seinen alten Freund bei Bertone. Was könnte der Inhalt dieser E-Mail sein?

272

3

Die Brüder Tang oder eine Blase platzt*

Gründung und Inlandsexpansion Im Jahr 1986 gründen Tang Wanxin und seine Brüder Tang Wanli, ein Chemielehrer, Tang Wanping sowie Tang Wanchuan mit 40 € Startkapital ein Geschäft unter dem Namen "Urumchi New Product & Technology Development Company" in der Stadt Urumchi (chinesisch Wulumuqi) in der autonomen Westprovinz Xinjiang. Gegenstand der Geschäftstätigkeit ist die Entwicklung von Filmen (Expressfoto Service). Ein Angestellter sammelt belichtete Filmrollen ein, bringt diese mit Bahn in die 4000 km entfernte Sonderwirtschaftszone Shenzhen und lässt dort die Filme in Fotolaboren entwickeln. Eine Woche später erhalten die Kunden Film und Fotos. Mit dem Expressfoto Service können die vier Brüder erstaunliche Profite verbuchen. Mit den Gewinnen gründen sie die Firma "Tianshan Business & Trade Company" und engagieren sich in der Bekleidungsbranche als Großhändler sowie in der Nahrungsmittelverarbeitung und im Verkauf von Computern. Teile der erstaunlich hohen Gewinne werden in die weitere Inlandsexpansion investiert. Dabei verfolgt das Unternehmen einen aggressiven Kurs strategischer Firmenaufkäufe und -beteiligungen nach dem Slogan: "஖ᄢ஖笶 zuo da zuo qiang, was so viel heißt wie "groß und stark machen". Im Sinne dieses Slogans wird 1992 die "Xinjiang D'long Industry Company" mit einem registrierten Kapital in Höhe von acht Mio. RMB (Renminbi, 10 RMB entsprechen ca. 1 €) gegründet. Das Unternehmen engagiert sich mit dem neu gegründeten Unternehmen "Xinjiang D'long Real Estate Company" in Grundstücksgeschäften, die jedoch nur Nutzungsrechte bis zu maximal 50 Jahren (mit Option auf eine Verlängerung) zum Gegenstand haben, da nach Art. 10 der Verfassung der Volksrepublik China vom 29. März 1993 Grundstücke, die sich sämtlich im Volkseigentum befinden, nicht veräußert werden können. Die Firma wird weiterhin auch in der Unterhaltungsindustrie aktiv und betreibt Catering. Zwei Jahre später wird die Tochterfirma "Xinjiang D'long Agriculture & Animal Husbandry Co.Ltd." mit einem registrierten Kapital in Höhe von 100 Mio. RMB gegründet. Die Geschäftstätigkeit erstreckt sich auf Nutztierhaltung und Produkte der Landschaftsgestaltung. Im Jahre 1996 bringt das Unternehmen durch Erwerb von Aktien *

Unter Mitarbeit von Jiaonan Zhu

273

3

Die Brüder Tang oder eine Blase platzt

des Staates und anderer juristischer Personen den börsennotierten Baustoffhersteller "Xinjiang Tunhe" unter seine Kontrolle und baut die "Xinjiang Tunhe Group"auf. Im darauf folgenden Jahr erwirbt D'long wiederum durch Übertragung bzw. Kauf von Aktien des Staates und anderer juristischer Personen das Unternehmen "Shenyang Alloy", um in dem Geschäftsfeld Motor- und Instandhaltungswerkzeuge tätig zu werden. Auf gleiche Weise übernimmt D'long auch das Unternehmen "Xiang Torch", um Autoteile zu produzieren. Im Jahr 1998 erfolgt die Umbenennung von "Xinjiang D'long International Industry Corporation" in "Xinjiang D'long Group Co., Ltd.". Den Expansionsgedanken fortführend erfolgt in diesem Jahr noch die Gründung der "China National Tourist Co., Ltd.", um auch im Tourismusbereich vertreten zu sein. Im Jahr 1999 werden die "Beijing DMVE Culture Development Co., Ltd." und die "Beijing Guowu Sports Co., Ltd." gegründet, um auch den kulturellen und sportlichen Sektor abzudecken. Im Januar des Jahres 2000 folgt die Gründung der "D'long International Investment Holding Co., Ltd." mit einem Kapital in Höhe von 200 Mio. RMB in Pudong (Shanghai) als Mehrheitsaktionär der "Xinjiang D'long Group" und der "Xinjiang Tunhe". Noch im gleichen Jahr wird das Unternehmen in "D'long International Strategic Investment Co., Ltd." umbenannt. Im Oktober erfolgte die Registrierung des Unternehmens mit einem auf 500 Mio. RMB erhöhten Kapital. Die Fertigstellung des "D'long Mansion" in Pudong, Hauptquartier und Wahrzeichen des Konzerns", symbolisiert den Abschluss des Konzernaufbaus im Inland. Tang Wanli ist der Vorsitzende von D'long und Vizepräsident der "Allchinesischen Föderation für Industrie und Handel".

Expansion im Ausland Zur Expansion ins Ausland und zur Steuerung von Auslandsaktivitäten wurde bereits im Jahre 1995 die "Xinjiang D'long International Industry Corporation" mit einem Kapital in Höhe von 200 Mio. RMB gegründet. Gleichzeitig gründete D'long das "North American Representative Office", um Geschäftsmöglichkeiten in Übersee zu erkunden. Im Jahre 2000 erwirbt die D'long -Gruppe die US-Rasenmäherfirma "Murray" für 3,3 Mrd. RMB ohne selbst im Rasenmähermarkt tätig zu sein. Es ist das Ziel, das unter Kostendruck geratenen Unternehmen zu übernehmen, um in China preiswerter zu produzieren und anschließend die Produkte auf dem amerikanischem, dem europäischen und dem asiatischen Markt zu verkaufen. Nach dem Erwerb gewährt D'long "Murray" finanzielle Hilfe, kann jedoch im Sommer 2003 das Unternehmen mit einem dringend erforderlichen Kredit nicht mehr unterstützen, da D'long zu dieser Zeit selbst schon mit erheblichen Finanzierungsproblemen zu kämpfen hat.

274

Die Brüder Tang oder eine Blase platzt

Im Juni 2003 kauft D'long die Entwicklungsprogramme für den Regionaljet 728 und die größere Version 928 des Flugzeugherstellers "Fairchild Dornier Aeroindustries", über den zuvor im Juni 2002 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Das Engagement scheitert, weil D'long inzwischen seine Verbindlichkeiten in China nicht mehr bedienen und die erforderlichen Entwicklungskosten, auf mehr als zehn Mrd. RMB geschätzt, nicht aufbringen kann. "Fairchild Dornier Aeroindustries" geht am 29. Juli 2004 in Insolvenz. Obwohl der Kaufvertrag unterzeichnet war, erwarb die D'longGruppe letztlich keine Rechte an dem Entwicklungsprogramm, da der Kaufpreis, über den man Stillschweigen vereinbarte, nie bezahlt wurde.

Gipfel und Zusammenbruch Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung umfasst D'long schließlich mehr als 177 Gesellschaften und wesentlichen Beteiligungen an Gesellschaften und gilt als größtes Privatunternehmen in China. Das Konglomerat D'long ist in fast allen Wirtschaftsbereichen präsent. Der Konzern ist der zweitgrößte Produzent von Tomatenpaste auf der Welt und der führende Hersteller von schweren LKW in China. Er ist im Agrarsektor, der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung, der Herstellung von Landschaftspflegeausrüstungen und elektromechanischer Produkte, der Produktion von Autoteilen und Baumaterial sowie im Bergwerks-, Tourismus- und Einzelhandelsbereich engagiert. Die drei Unternehmen "Xinjiang Tunhe", "Shenyang Alloy" und "Xiang Torch" stehen unter dem Begriff "Das Dreigestirn" landesweit für eines von Chinas hochprofitablen privaten Unternehmen. Die Aktienkurse steigen zwischen 1997 und Anfang 2004 um 600 % bis 1900 %. Äußerst erfolgreich ist die D'long-Gruppe mit einem Dutzend Unternehmen im Geschäft mit Finanzdienstleistungen. Im Wertpapiergeschäft als größtes Betätigungsfeld werden 16 % des Umsatzes erzielt. Der Bereich "Banken und Versicherungen" trägt mit 10 % zum Umsatz bei. Im Investmentbereich werden Einlagen fremder chinesischer Investoren im Wert von über 20 Mrd. RMB verwaltet. Der Konzern D'long steigt zu Chinas größter privater Unternehmensgruppe auf und soll Mitte 2004 über Vermögenswerte von etwa 2 Mrd. RMB verfügen. Zur Finanzierung der umfangreichen Geschäftstätigkeiten hat der Konzern Bankkredite in beträchtlicher Höhe aufgenommen. D'long bediente sich hierbei diverser Banken als Kreditgeber. Berichten zufolge sollen alle Banken in Shanghai Gläubiger von D'long sein. In diesem Stadium treten Liquiditätsprobleme auf. D'long kann Kredite über 2,8 Mrd. RMB teilweise nicht mehr bedienen. Das Bekanntwerden von Finanzproblemen veranlasst Gläubiger in Shanghai die Guthaben der Firma einzufrieren. Die Bankenregulierungsbehörde sieht sich daraufhin veranlasst, vor einer weiteren Kreditvergabe an

275

3

3

Die Brüder Tang oder eine Blase platzt

D'long (und neun andere Unternehmen) zu warnen. Das verschärft die Lage dramatisch. Gläubiger rufen die Provinzgerichte in ganz China an, um Forderungen einzutreiben. Die Staatsbanken werden angewiesen, D'long keine weiteren Kredite mehr zu gewähren. Das fragile Finanzierungssystem von D'long bricht daraufhin zusammen. Die Zentrale des Unternehmens in Shanghai wird versiegelt. Der Vorsitzende Tang Wanli wechselt jede Nacht das Hotel, um aufgebrachten Gläubigern zu entgehen. Seine Handy-Nummer ändert er täglich. Die Schätzungen der Verbindlichkeiten von V zur Zeit des Zusammenbruchs belaufen sich auf fast 60 Mrd. RMB. Die D'long -Gruppe kontrolliert über ihre Finanzinstitute Anlagenwerte von 40 bis 50 Mrd. RMB in Chinas Bankensystem. Ende August kommen die Buchprüfer der People's Bank of China, der Notenbank, zu dem Schluss: "Das Team von D'long vermag die Situation nicht mehr zu beherrschen." Die Regierung kann sich jedoch einen Zusammenbruch eines Unternehmens in dieser Größenordnung nicht leisten, weil dies das gesamte chinesische Wirtschafts- und Finanzsystem nachhaltig erschüttern würde. Die Staatsorgane wollen deshalb Teile des Konzerns verkaufen, um die überlebensfähigen Unternehmen zu erhalten. Diese Aufgabe soll die "Huarong Asset Management Co.” übernehmen, eine von vier Vermögensverwaltungs-Gesellschaften, die die faulen Kredite der vier größten Staatsbanken Chinas (ca. 1400 Mrd. RMB) abwickeln sollen.

Rolle des D'long-Finanzierungssystems Der laufenden Kapitalversorgung kam für D’Long eine immens große Bedeutung zu und wurde als großes Geheimnis gehütet. Mit dem Erwerb von börsennotierten Anteilen von Staatsunternehmen und der Übernahme der Kontrolle fand D'long Zugang zum Kapitalmarkt und zu regulären Bankkrediten, was privaten Unternehmen in China verwehrt ist. Zwischen 1997 und 2000 finanzierte D'long die Expansion in großem Umfang über die Ausgabe von Aktien bei steigenden Kursen. Mit einem komplizierten, unübersichtlichen Netz von Finanztransaktionen gelang es dem Konzern, die Kurse weiter anzuheizen und Investoren zu attrahieren. Die Banken gewährten mit hinterlegten Aktienpaketen als Sicherheiten das normale Maß weit übersteigende Kredite. Der Konzern musste erhebliche Mittel in die Restrukturierung der erworbenen Unternehmen oder Unternehmensanteile investieren. Die Erwartungen des "Dreigestirns", durch die Expansion von den economies of scale zu profitieren, erfüllten sich jedoch nicht. Der aus den Investitionen zurückfließende Cash-Flow entwickelte sich rückläufig. Zwar stiegen die Umsätze und trieben die Börsenkurse an, jedoch sanken die Umsatzrenditen gewaltig von 25 % im Jahr 1997 auf 5 % bis 2 % im Jahr 2003. Gravierend kam hinzu, dass Akquisitionen aus liquiden Mitteln und nicht über Aktien finanziert wurden, was den Finanzierungsbedarf weiter anwachsen ließ.

276

Die Brüder Tang oder eine Blase platzt

Aufgrund mehrerer bekannt gewordener Kursmanipulationen und Finanzskandale chinesischer Unternehmen begann der Staat 2001 die Vorfälle zu untersuchen. Auch Unternehmen aus der D'long-Gruppe waren involviert. Der Staat erlaubte deshalb D'long keine weitere Ausgabe von Aktien, so dass der direkte Zugang zum Kapitalmarkt abgeschnitten war. Die Brüder Tang mussten deshalb ihre Hoffnung auf eine Hausse an der Börse, auf die sie offenbar zur Rückzahlung der Kredite spekulierten, aufgeben. Banken nehmen bei der Ausstattung von Unternehmen mit Liquidität eine bedeutende Rolle ein. Bei der Kreditvergabe verfolgen die Banken in China jedoch nicht immer ökonomische Kriterien. Die Unterentwicklung des Aktienmarktes begünstigte zunächst den Zufluss erheblicher Geldmittel in den Konzern. So finanzierte das Unternehmen seine Geschäfte mit nicht öffentlich gehandelten Aktien, die sie bei Banken zum Teil mehrfach - als Sicherheit hinterlegten. Die Finanzierung der langfristigen Projekte mit kurzfristigen Krediten erforderte ein permanentes Umschulden und machte die Gruppe extrem abhängig von der Kreditgewährung und hinterlegbaren Sicherheiten. Aktienrückkäufe zur Stabilisierung der eigenen Aktienkurse in einem Bärenmarkt erhöhten den Kreditbedarf zusätzlich. Die wachsenden Probleme bei der Kapitalversorgung waren wohl ursächlich für die Entscheidung des Managements, sich an Finanzinstituten zu beteiligen oder welche zu erwerben. Nachdem D'long bereits mehrere Trusts und Versicherungsinstitute unter seine Kontrolle gebracht hatte, übernahm das Unternehmen Aktienpakete von sieben Kommunalbanken, teilweise mehrheitlich, und war schließlich auch in den Entscheidungsgremien vertreten. Dadurch gelang es D'long in einem nur spärlich kontrollierten Sektor, ein Finanzdienstleitungs-Imperium aufzubauen, wobei die Kundeneinlagen zur Deckung des Finanzbedarfs der Gruppe dienten. Untersuchungen der Bankenregulierungskommission im Jahr 2003 deckten dubiose Verflechtungen innerhalb der Gruppe und hohe Verbindlichkeiten auf. Unter den Darlehensgebern von D'long befanden sich neben Aktionären und Fremdfirmen viele Staats- und Kommunalbanken Chinas. Allein die vier großen Geschäftsbanken Chinas hatten D'long Kredite im Umfang von 23 Mrd. RMB gewährt. Die Situation alarmierte die Aufsichtsbehörden, die der Gruppe weitere Finanzakquisitionen und jegliche Kreditaufnahme untersagten. Die publik werdende Finanzierungskrise der D’Long-Gruppe verursachte bei den Tochterfirmen zunehmend den Verfall der Börsenkurse bis zu fast 50 %. Da viele Kredite mit Aktienpaketen gelisteter und nicht gelisteter Tochterunternehmen gesichert waren, erhoben die Banken Forderungen nach Überlassung weiterer Sicherheiten oder auf Rückzahlung der Kredite. Die D'long-Gruppe war jedoch nicht mehr zahlungsfähig.

277

3

3

Die Brüder Tang oder eine Blase platzt

Nachtrag Nach dem größten chinesischen Aktienskandal und der Milliardenpleite des D'long Konzerns ist Eigentümer Tang Wanxin zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Dem privaten Unternehmer, der einst zu den reichsten Männern Chinas gehörte, wurden massive Aktienmanipulationen und illegale Finanzpraktiken angelastet. Nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua verurteilte ein Gericht in der Stadt Wuhan ferner sechs Manager zu Gefängnisstrafen zwischen 21 Monaten und fünfeinhalb Jahren. Wegen Aktienmanipulationen wurden Geldbußen in Höhe von fünf Mrd. Yuan (500 Mio. Euro) gegen zwei Unternehmen des D'long-Imperiums verhängt. Konzernchef Tang Wanxin "hat das Urteil erwartet und wird keine Berufung einlegen", sagte sein Anwalt Tao Wuping laut "Shanghai Daily". Der einst auch im Ausland für seinen Unternehmergeist gepriesene, aber undurchsichtige Konzern war 2003 auch in Deutschland bekannt geworden. D'long wollte damals den angeschlagenen Flugzeugbauer Fairchild Dornier retten und dessen Regionaljet-Programm übernehmen, was ein Jahr später an seiner Insolvenz scheiterte. Dem Urteil zufolge sollen die Verurteilten seit 1997 bis zu zehn Mrd. Yuan (eine Milliarde Euro) durch Aktienmanipulationen einkassiert haben. Das Shanghai Youlian Management Research Center Co. Ltd, das zu dem verschachtelten Finanzkonglomerat gehörte, muss 300 Mio. Yuan (30 Mio. Euro) Strafe zahlen. D'long hatte durch illegale Garantien zwischen 2001 und 2004 mehr als 43,7 Mrd. Yuan (4 Mrd. Euro) angesammelt, blieb seinen Gläubigern nach dem Zusammenbruch aber 16,7 Mrd. Yuan (1,6 Mrd. Euro) schuldig. D'long hatte seine Aktien durch nicht näher beschriebene Manipulationen in die Höhe getrieben und die eigenen Anteile dann als Garantien für Bankkredite benutzt. Als seine Praktiken 2004 ins Gerede kamen, brachte ein Sturm der Kreditgeber den Konzern zu Fall. Der Konzern, zu dem auch Wertpapierfirmen gehörten, galt einst als größter Aktienbesitzer Chinas. Nie zuvor seit der Gründung der Volksrepublik 1949 hatte sich ein chinesisches Gericht mit derart hohen Geldsummen beschäftigen müssen. Laut Xinhua brauchte das Gericht allerdings nur zwei Tage im Januar, um den Fall anzuhören. Die Urteile wurden am Samstag verkündet. Quelle: n-tv 1. Mai 2006

278

Die Brüder Tang oder eine Blase platzt

Aufgabenstellung 1. Analysieren Sie die Chancen und Risiken der Geschäftsexpansion von D'long im Inland. 2. Diskutieren Sie die Chancen und Risiken der Geschäftsexpansion von D'long im Ausland. 3. Welche Entscheidungen des Unternehmens könnte man als "strategisch falsch" bezeichnen? Zeigen Sie den Hintergrund Ihrer Argumentation auf. 4. Charakterisieren Sie die Finanzierungsrolle der Banken und deren Verhalten. 5. Bewerten Sie den Einfluss der chinesischen Zentralbank beim Aufstieg und Zusammenbruch des Unternehmens.

Quellenverweise HIRSON, M.: The Rise and Fall of D’Long: China’s Private Conglomerates and the Quest for Capital, http://www.oycf.org/Perspectives/31_12312005/3b.pdf, download 17.11.2005. http://www.D-LONG.com, download 20.01.2006. http://en.chinabroadcast.cn/855/2006/01/26/[email protected], download 27.02.2006. http://caijing.hexun.com/english/detail.aspx?issue=107&sl=2484&id=1359396, download 27.02.2006. D'Long und seine deutschen Berater – Schon wieder … Roland Berger, http://xiucai.oai.de/ XiuCai/ XiuCaiNo42.pdf, download 17.11.2005.

279

3

4

Pharmaceuticals

Die Pharma AG Die Pharma AG ist mit einer Bilanzsumme von etwas weniger als 3 Milliarden Euro im Jahr 2003 ein mittelgroßer Anbieter von pharmazeutischen Produkten. Das deutsche Traditionsunternehmen fokussiert sein Leistungsspektrum auf die Herstellung von Medikamenten für die Behandlungsbereiche Gastroenterologie (Magen-Darm-Erkrankungen) und Onkologie (Krebserkrankungen) und erzielt damit einen weltweiten Umsatz von rund 2,9 Milliarden Euro im Jahr 2003. Davon werden mehr als drei Viertel im Ausland erzielt. Durch die Konzentration auf die Erforschung von Wirkstoffen und die Herstellung von Pharmaceuticals für gastroenterologische und onkologische Behandlungsfelder gelingt es der Pharma AG, auch mit einem, an Branchendurchschnitten gemessen, vergleichsweise überschaubaren Headcount an Forschern international erfolgreich zu sein. Hierfür investiert die Pharma AG jährlich zwischen 18 und 20 % ihres Umsatzes in die Forschung und Entwicklung von neuen Wirkstoffen – das entspricht für das Jahr 2003 einem Volumen von rund 490 Millionen Euro. Eines der mit Abstand erfolgreichsten Produkte in der Geschichte der Pharma AG ist ein Protonenpumpenhemmer mit der internen Bezeichnung Alpha 7, der bei der Behandlung von säurebedingten Magen-Darm-Erkrankungen eingesetzt wird. Alpha 7 wird in Tabletten dargereicht sowie in intravenöser Anwendungsform. Zudem wird in diesem Geschäftsfeld seit einigen Jahren ein neues Präparat mit der internen Bezeichnung Sigma 12 entwickelt, welches sich bereits in der klinischen Phase 2 befindet. Dieser Acid-Pump-Antagonist wirkt reversibel, kaliumkompetitiv und aktivierungsfrei – für die Patienten soll dadurch eine möglichst schnell eintretende, weitgehende Schmerzfreiheit herbeigeführt werden – was eine wesentliche Leistungserweiterung gegenüber dem gegenwärtig im Markt befindlichen Vorgängerpräparat darstellen würde. Während das Präparat Alpha 7 auf dem europäischen, US-amerikanischen und lateinamerikanischen Markt bereits gut eingeführt und breit platziert ist, werden für die angedachte Einführung von Sigma 12 nach erfolgreichem Durchlaufen der klinischen Testphasen zur Markteinführung in mehreren Ländern vertriebsorientierte strategische Allianzen mit geeigneten Partnern in den USA, aber auch in Japan, vorbereitet. Das generelle Marktumfeld der Pharma AG für die beiden Geschäftsbereiche Gastroenterologie und Onkologie ist aus Anbietersicht sehr gut. Rund 20 bis 30 % der Bevölkerung in Europa und den USA – dem wichtigsten Markt für Pharmaceuticals weltweit – leiden an unterschiedlichen Formen der Übersäuerung des Magens. Zudem

281

4

Pharmaceuticals

ist der Bedarf für die Behandlung von Krebserkrankungen seit mehr als 10 Jahren stetig ansteigend. Durch den Einsatz der Gentechnologie ist es in der pharmazeutischen Forschung zu einem fundamentalen Paradigmenwechsel gekommen, da sich die Abläufe im Körper, in den Organen und den Zellen nun sehr viel besser erforschen und verstehen lassen. Die Anzahl der chemischen Substanzen, die als Wirkstoffkandidaten für neue Präparate in Frage kommen, wurde durch neue biologische Forschung und entsprechende Technologien um ein Vielfaches ausgeweitet. Hochdurchsatzscreening, Parallelsynthese und Syntheseroboter unterstützen im Kontext der kombinatorischen Chemie die Erforschung neuer Wirkstoffe durch die Hervorbringung einer ganzen Klasse an Verbindungen gleichzeitig – anstelle wie bislang üblich von nur einer Verbindung in sequentieller Anordnung. Durch computergestützte und robotergesteuerte Testverfahren können mit Hilfe von Hochdurchsatztests Substanzen im großen Maßstab zeiteffizient auf spezifische Eigenschaften hin getestet werden. Zeit ist ein immer wichtiger werdender Wettbewerbsfaktor in der pharmazeutischen Industrie; in Abhängigkeit vom konkreten Präparat können Zeitverzögerungen in der Entwicklungsphase von 10 % in etwa ein Drittel des späteren Gewinns in der Marktphase abschmelzen lassen. Die Pharma AG beschäftigt weltweit rund 2.000 Mitarbeiter in der Pharmaforschung (davon 60 % in Deutschland und rund 35 % in den USA), das entspricht rund einem Fünftel der Gesamtbelegschaft. In Bezug auf spezifische Fragestellungen aus der klinischen Forschung, der Biologie sowie mit Blick auf chemische Synthesen und chemische Vorstufen kooperiert die Pharma AG seit drei Jahren mit einigen Universitäten in Deutschland und den USA, um die eigene Forschungsmannschaft kapazitiv zu entlasten. Dabei gibt es viel zu tun: Von rund 30.000 gegenwärtig hinreichend beschriebenen Krankheiten lassen sich nur rund ein Drittel therapeutisch angehen. Je umfangreicher die Forschungsbemühungen jedoch werden, und je ausgeklügelter der Einsatz von Forschungstechnologien wird, desto tiefer gewinnt man einerseits Einblick in die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge der Abläufe in Körper, Organen und Zellen. Aber desto multikausaler werden andererseits auch die internen Zusammenhänge der neu entdeckten Strukturen. Und entsprechend schwieriger und weniger aussichtsreich werden Bemühungen, therapeutische Wirkstoffe hierfür zu entwickeln. Die Genomdechiffrierung ist vor diesem Hintergrund ein wesentlicher Fortschritt gewesen, aber die größte Herausforderung in diesem Kontext stellt die Beantwortung der Frage dar, wofür die Gene stehen und was normale oder krankhafte ausgelenkte Gene bewirken sowie auf welche Art und Weise sie zusammenspielen. Grundsätzlich durchlaufen alle pharmazeutischen Präparate umfangreiche vorklinische und klinische Tests. Nur diejenigen Wirkstoffe bzw. Wirkstoffkombinationen, die alle Phasen erfolgreich bestanden haben, werden nach jahrelangen Forschungs- und Entwicklungsbemühungen sowie Testarbeiten für den Markt zugelassen. Die klinische Prüfung am Menschen erstreckt sich dabei auf vier Phasen. Vor Beginn der klinischen Phasen muss der Versuchsplan Ethikkommissionen vorgelegt werden, die prüfen, ob die Versuchspersonen und Patienten gemäß den Anforderungen der Deklaration von 282

Pharmaceuticals

Helsinki geschützt sind. In Phase 1 werden wenige, gesunde Freiwillige mit dem neu konzipierten Arzneimittel versorgt. Es geht hier vor allem darum, die Verträglichkeit der Substanzen abzuschätzen. In Phase 2 soll die biochemische Wirksamkeit, die sich bislang vor allem nur in entsprechenden Tests bestätigt hat, an einer überschaubaren Anzahl von Patienten getestet und bestätigt werden. Auch wird hier geklärt, ob sich der beobachtete pharmakologische Effekt auch praktisch in der Therapie nutzen lässt. In der Phase 2 werden in der Regel 200 bis 250 Patienten mit dem neuen Arzneimittel behandelt. In der sich anschließenden Phase 3 findet die eigentliche klinische Prüfung statt. Hier werden die Untersuchungen an einer Vielzahl von Patienten, durchaus auch bis zu mehreren Tausenden, fortgesetzt. In diese Phase steht die Aufdeckung und Analyse von Nebenwirkungen sowie die Feststellung der Häufigkeit ihres Auftretens im Vordergrund der Bemühungen. Aufgrund der Ergebnisse von Phase 3 stellt die Pharma AG dann den Antrag auf Zulassung als Arzneimittel bei den Zulassungsbehörden. Die Analysen und Untersuchungen in Phase 4 sollen weiteren Aufschluss über die therapeutische Wirksamkeit sowie das therapeutische Risiko eines Arzneimittels liefern. Nur sehr wenige Präparate durchlaufen diesen Prüfprozess erfolgreich, und noch weniger Arzneimittel erreichen Blockbusterpotential. Als Blockbuster werden branchenintern Medikamente bezeichnet, die Spitzenumsätze von mehr als einer Milliarde Euro realisieren können. Diese Produkte gelten als regelrechte Cash Cows, da sie die über ihre hohen Deckungsbeiträge die Finanzierung ganzer Forschungsprogramme für neue Präparate übernehmen. In etwa weniger als 10 % aller Wirkstoffe, die in der Forschung und Entwicklung der Pharma AG in Präparatform identifiziert, konzeptualisiert und konfektioniert werden, erreichen letztlich als Arzneimittel den Markt. Gleichwohl sind die Forschung und die eigentliche Wirkstoffinnovation vergleichsweise kostengünstig, da erst die Phasen der klinischen Prüfung rund 90 % der Produktentwicklungskosten für ein neues Präparat ausmachen. Die Pharma AG wendet rund 30 bis 35 % des Umsatzes für Marketingund Vertriebsaktivitäten auf. Mit Blick auf die Ergebnisallokation fällt auf, dass vor allem die höheren Absatzpreise in den USA die Erzielung moderater Deckungsbeiträge erlauben. Auf der Mehrzahl der europäischen Märkte sind die patentierten und zugelassenen Präparate Preisbindungen unterworfen, die aus Sicht der Pharma AG den Vertrieb vor allem in den USA attraktiv machen – in den USA werden mittlerweile rund 40 % des Gesamtumsatzes erwirtschaftet. Das Europageschäft der Pharma AG macht in etwa ebenfalls 40 % des Umsatzes aus, was im Jahr 2003 in etwa 1,2 Milliarden Euro entspricht. Auf dem deutschen Markt bewegt die Pharma AG ein Umsatzvolumen von 300 Millionen Euro. Für die Zukunft ist für die beiden Marktregionen allerdings einerseits fraglich, ob sich die hohen Preise auf dem US-amerikanischen Markt halten lassen, und andererseits in welchem Umfang die Regulierungsbestrebungen (bspw. Zwangsrabattgewährung auf festbetragsfreie Produkte) auf den europäischen Märkten diese immer unattraktiver werden lassen. Für den deutschen Markt rechnet die Pharma AG ab 2005 mit einer weiteren Verschlechterung der Marktsituation, da hier unter anderem Festbeträge auch für patentgeschützte Arzneimittel in der

283

4

4

Pharmaceuticals

gesundheitspolitischen Diskussion stehen und nach Ansicht der Pharma AG zukünftig auch kodifiziert werden. Gleichwohl befindet sich 65 % der gesamten Produktionskapazität der Pharma AG in Deutschland, die in Summe von zwei Werken bereitgestellt wird. Eines der beiden Werke liegt in der Nähe von Baden-Baden, das andere in der Nähe von Dresden. Daneben bestehen mit Einrichtungen in der Nähe von Belfast in Nordirland und in der Nähe von Boston in Massachusetts, USA, zwei Auslandswerke, die zusammengenommen 35 % der gesamten Produktionskapazität der Pharma AG bereitstellen. Im Bezug auf die Abstimmung von Produktion und Distribution gilt bislang, dass hauptsächlich eine Produktion für die nationalen Märkte vorgenommen wird, und Export-Lieferungen eher wenig ausgeprägt gewesen sind. Das Werk bei Dresden beliefert damit neben dem deutschen Markt vorrangig die Märkte Osteuropas, das Werk bei Baden-Baden neben dem deutschen Markt vorrangig die Märkte West- und Südeuropas, aber auch Nordamerikas. Das Werk bei Belfast deckt primär die Nachfrage in Großbritannien und Westeuropa ab, das Werk bei Boston vorrangig die Nachfrage in Nord- und Südamerika. Vor diesem Hintergrund sind bislang insgesamt rund 10 % des Umsatzes der Pharma AG wertmäßig als Logistikkosten interpretierbar, wobei die eigentlichen Transportkosten (Inbound, Werksverkehr, Outbound) knapp 3,5 % und die Kosten für Lagerhaltung (Werkslager, Verteillager) knapp 3 % des Umsatzes ausmachen.

Strategische Ausrichtung Für die weitere strategische Ausrichtung der Pharma AG ist es vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen wichtig, die Abstimmung der Produktionskapazität für Pharmaceuticals im Hinblick auf die sich auf absehbarer Zeit verändernde Nachfragestruktur langfristig neu einzusteuern. In Anlehnung an eine Vorstandsunterlage einer Unternehmensberatung stehen dabei zwei grundsätzliche Denkmodelle zur Wahl: Im Szenario A versorgt jedes Werk seinen ihm zugeordneten Markt mit allen für diesen Markt erforderlichen Produkten (marktorientierte Werke). Im Szenario B versorgt jedes Werk alle Märkte mit ausschließlich dem in diesem Werk hervorgebrachten Produkt (produktorientierte Werke). Mit anderen Worten, während im Szenario A mehrere Produkte pro Werk für einen dem Werk zugeordneten Markt gefertigt werden, produziert im Szenario B ein Werk nur ein Produkt und beliefert damit alle Märkte der Pharma AG. Im Rahmen der Entscheidung darüber, ob die Produktionskapazitäten und Vertriebsnetze so aufeinander auszutarieren sind, dass entweder Szenario A oder Szenario B realisiert wird, sind aus kostenorientierter Sicht insbesondere Logistik-, Faktor- und Komplexitätskosten entscheidungsrelevant. Darüber hinaus gelten so genannte local content-Vorschriften. Das Distributionsnetz der Pharma AG, das schwerpunktmäßig auf die europäischen, US- und lateinamerikanischen Märkte sowie auf Asien ausgerichtet ist, wird von vier Einflussfaktoren bestimmt:

284

Pharmaceuticals

„ Serviceanforderungen der Nachfrager; darunter fallen bspw. die Aspekte Lieferzeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, Vollständigkeit und Verfügbarkeit;

„ geographische Lage der Quellen und Senken; darunter fällt bspw. die Dimensionierung der Vertriebsregionen, die Allokation der Produktionskapazität sowie die Rohstoffversorgung;

„ Infrastruktur – dazu gehören alle Aspekte, die Straßen-, Eisenbahn- und Flugverkehrsnetze umschließen;

„ Produktspezifikation – hierzu gehören Aspekte wie bspw. Nationalität des Vertriebs (landesspezifische Gesetzgebungsunterschiede), Produkt- und Transportkosten, Haltbarkeit und Saisonalität des Absatzes. Der Vorstand der Pharma AG formuliert die Einschränkung, wonach bei der Analyse für eine Entscheidung für Szenario A oder Szenario B die folgenden Zielvorgaben zu berücksichtigen sind:

„ Erzielung von Kostensenkungen im Distributionsbereich; diese sind bspw. zu realisieren durch zeit- und volumenabhängig optimierte Auslastung der Produktionsund Distributionskapazitäten;

„ Anpassung der Kosten- und Bilanzstruktur; dieses ist bspw. zu realisieren durch Variabilisierung von Fixkosten, Reduzierung des betriebsnotwendigen Kapitals und Reduzierung der Logistikkosten;

„ Erzielung einer Optimierung der Kostenstruktur im Produktionsbereich; diese ist bspw. zu realisieren durch eine grundständige Verringerung der Leerkosten in den einzelnen Werken;

„ Serviceverbesserungen; dieses ist bspw. herbeizuführen durch servicebezogene Bezahlung des Vertriebspersonals und der Vertriebspartner, durch Einführung effektiver Haftungsübernahmen sowie durch den Aufbau von strategischen Vertriebspartnerschaften.

Glossar Deklaration von Helsinki Ethikkommissionen prüfen vor Einleitung von Wirkstoff- und Arzneimitteltests, ob die Versuchspersonen und Patienten hinreichend geschützt sind. Eines der wichtigsten Kriterien der Helsinki-Deklaration ist dabei die Einhaltung und Sicherstellung der Freiwilligkeit der Teilnahme an der klinischen Prüfung. Gastroenterologie Auf dem Gebiet der Medizin die Lehre von den Magen-Darm-Erkrankungen.

285

4

4

Pharmaceuticals

Onkologie Auf dem Gebiet der Medizin die Lehre von den Krebserkrankungen. Syntheseroboter Zur zeiteffizienten Kombination verschiedener Testverbindungen werden in pharmazeutischen Labors seit wenigen Jahren Syntheseautomaten bzw. -roboter eingesetzt. Diese sind in der Lage, in kurzer Zeit eine Vielzahl von Testverbindungen in der Arzneimittelforschung herzustellen. Die Grundidee basiert auf einem Syntheseverfahren für Eiweiße. Bruce Merrifield knüpfte Eiweiße bei ihrer Herstellung an kleine Kunststoffkügelchen; an diesen Kügelchen wachsen dann sukzessive durch verkettete Aminosäuren Eiweißmoleküle. Wenn man nun bei der Herstellung eines Eiweißstoffs einige Bauelemente verändert, können neue, abgewandelte Formen von Eiweißen entstehen. Durch Neukombination einiger Aminosäurebausteine ist damit die Herstellung einer ganzen Vielzahl von Eiweißen möglich. Bei der arzneimittelbezogenen Wirkstoffsuche wird analog vorgegangen. Allerdings wird hier nicht mit Eiweißen gearbeitet, da Eiweiße in Arzneimitteln den Nachteil hätten, dass die Bindungen zwischen den Aminosäuren durch die körpereigenen Enzyme aufgespalten werden können. Durch Reaktion von Aminosäuren mit einer anderen Substanz entstehen neue Stoffverbindungen, im Fall der Reaktion mit einem Imin dann Benzodiazepine (die hier medizinisch gesehen als Schlafmittel wirken). Kombiniert man vier verschiedene Aminosäuren mit einem bestimmten Imin, so resultieren vier verschiedene Diazepine. Verwendet man hingegen vier Aminosäuren und vier Imine, so resultieren daraus 16 unterschiedliche Diazepine durch Kombination. Die maschinengestützte Kombinatorik aus Aminosäuren und Iminen wird von Syntheserobotern vorgenommen, die somit die Herstellung und Analyse von Testverbindungen aus Zeit- und Kostengründen vorteilhaft im größeren Maßstab rationalisieren. Der besondere Wertbeitrag von Syntheserobotern liegt darin, dass die Analyse von Testverbindungen rationalisierter durchführbar ist, vor dem Hintergrund das einige 10.000 Testverbindungen hergestellt und analysiert werden müssen, bevor ein brauchbarer Wirkstoff für die Arzneimittelentwicklung vorliegt.

Aufgabenstellung 1. Formulieren Sie eine Stärken/Schwächen/Chancen/Risiken-Analyse für die Pharma AG unter Berücksichtigung aller gegebenen Informationen in Bezug auf die Entscheidung für Szenario A oder Szenario B. 2. Welches Szenario (A oder B) empfehlen Sie dem Vorstand der Pharma AG unter den gegebenen Randbedingungen insgesamt, sofern Sie ein ökonomisches Entscheidungskalkül unterstellen? 3. Welches Spannungsverhältnis tritt zwischen den produktionswirtschaftlichen Parametern Kapazität und Flexibilität der Produktion auf?

286

Pharmaceuticals

Anhang

Abbildung 4-1: Distributionsallokation von Arzneimitteln der Pharma AG in Europa*

Pharma AG

80 %

10 %

10 % Großhandel

98 %

Apotheke

0,8 %

1,2 %

Arzt

Klinik

* Angaben in % des in Europa erwirtschafteten Umsatzes im Jahr 2003

Abbildung 4-2: Strategien zur Optimierung von Distributionsnetzen für Pharmaceuticals*

Hersteller

(1)

Großhandel

(3) (2)

Apotheke

(4)

(5)

Arzt

Klinik

* Zur Beschreibung der fünf skizzierten Strategien siehe Abbildung 4-3

287

4

4

Pharmaceuticals

Abbildung 4-3: Strategien zur Optimierung von Distributionsnetzen für Pharmaceuticals (1) (2) (3) (4) (5)

288

Hersteller – Großhandel: Merger zwischen Hersteller und Großhändler Großhandel – Apotheke: Großhändler akquiriert Apotheke oder Franchising Hersteller – Apotheke: Hersteller liefert an Apotheke unter Ausschaltung des Großhandels Hersteller – Klinik: Hersteller übernimmt Inhouse-Logistik von Klinik Großhandel: Großhandel automatisiert/konsolidiert sein Lagernetzsystem

5

Luftfahrtbranche im Umbruch *

Die Ausgangssituation Die neunziger Jahre waren für die Lufthansa von tief greifenden Veränderungen geprägt. Bis zum Beginn der Privatisierung 1994 war die Airline deutsches Staatseigentum und agierte auf einem abgeschotteten Markt mit zahlreichen staatlichen Eingriffen. Diese schränkten unterschiedliche Faktoren wie Markzugang, Transportkapazitäten und Flugtarife ein, zudem gab es eine Reihe technischer Normen sowie Vorschriften zum Personal und zur Verwaltung. Gleichzeitig wurde die Lufthansa durch Subventionen und Forschungsgelder unterstützt und der Erhalt und Ausbau von Flughäfen wurde vom Staat übernommen. Im Zuge der Liberalisierung änderte sich diese Situation, der Markt der Luftfahrt wurde schrittweise dereguliert, bis 1997 die vollständige Kabotage erreicht war. Vorläufer dieser Entwicklung, die in den meisten europäischen Ländern stattfand, war die Marktentwicklung in Nordamerika. Durch die Deregulierung der oben genannten Faktoren wandelte sich der Markt zu einem Nachfragemarkt mit wachsender Konkurrenz, vor allem unter den bisherigen Staatsflotten. Vor allem die Möglichkeit der Preisdifferenzierung und die damit verbundenen Erträge bewegten die Airlines zur Ausdehnung ihrer Märkte. Da aber keine der alteingesessenen Airlines kampflos ihren Markt räumen wollte, brach ein Preiskampf vor allem auf den Langstreckenflügen aus, den die Association of European Airlines eindrucksvoll dokumentierte. Diesem Druck konnten die Airlines nur mit einer umfassenden Kostensenkung standhalten. Die Kostensenkung fand bei der Lufthansa in allen Bereichen statt, neben internen Umstrukturierungen wurden vor allem die Prozesse flexibler und kostengünstiger gestaltet. Dem Bemühen um Kostenreduktion stand allerdings die Tatsache gegenüber, dass die Transportkosten der Lufthansa zu den Höchsten weltweit gehörten. Erschwert wurde das Unterfangen durch die Auswirkungen des ersten Golfkrieges auf die Ölpreise. Diese Kombination führte dazu, dass die Kosten pro so genannten Passagierkilometer bei der Lufthansa ausgesprochen hoch waren. Doch allein mit einer reinen Kostensenkungsstrategie auf dem europäischen Markt war das Überleben der Airline nicht gesichert. Im Vergleich zu anderen Märkten war der hart umkämpfte europäische Markt das Schlusslicht im Wachstum. Die räumliche Nähe des europäischen Hubs setzte Kurz- bis Mittelstreckenflüge voraus, die das *

Unter Mitarbeit von Jana Flemke und Thiemo Kohlsdorf

289

5

Luftfahrtbranche im Umbruch

generelle Manko nicht zufrieden stellender Passagierauslastung mit sich brachten. Die Lufthansa erkannte schon Anfang der neunziger Jahre, dass auf dem nordamerikanischen Markt große Potentiale lagen, da allein das Marktsegment der Transatlantikflüge größer war als der gesamte europäische Markt. Daher begann bereits 1993 die Zusammenarbeit mit der United Airlines, einer der fünf führenden US-amerikanischen Airlines, die auf den interkontinentalen Flügen per code-share erfolgreich zusammenarbeiteten. Die beiden Airlines bedienten 1996 zum Beispiel die Strecke ChicagoDüsseldorf mit 100% Marktanteil und Miami-Frankfurt mit 64%. Doch trotz dieser erfolgreichen Zusammenarbeit und eines operativen Gewinns von 686 Mio. DM vor Steuern verfehlte die Lufthansa 1996 ihr Sparziel um 300 Mio. DM. Die Wettbewerbsfähigkeit der Lufthansa auf dem heimischen Markt wurde durch die Angriffe der Deutschen BA herausgefordert. Dabei war gerade der deutsche Markt mit 39% Gewinnanteil wichtig. Generell galt es, die vorhandene Position auf dem europäischen Markt mindestens zu halten und sich gegen die bestehenden Konkurrenten durchzusetzen, wozu eine neue Unternehmensstrategie erforderlich sein würde.

Die Sitzung der Arbeitsgruppe Um diese Strategie zu entwickeln, ist die Arbeitsgruppe ‚Neue Konzernstrategie’ ins Leben gerufen. Das Team besteht aus Vertretern der Konzernstrategie, dem Marketing, der Rechts- und IT-Abteilung sowie der Flugnetzplaner und Kundenprogrammbetreuer. Die Leitung der Gruppe hat der Lufthansa-Stratege Dr. Hansen übernommen. In der ersten Besprechung legt Dr. Hansen die grobe Marschrichtung für die Suche nach einer neuen Strategie fest: "Zunächst einmal halte ich es für sinnvoll, nicht regional sondern global zu denken und unseren Blick auf den nordamerikanischen Markt zu richten. Die US-Amerikaner sind in der Deregulierung weiter vorangeschritten und es besteht ein großes Potential im Ausbau unserer Aktivitäten auf diesem Markt. Doch da wir nicht einfach ein New Frankfurt an die Ostküste setzen können, arbeiten wir nun schon seit ´93 erfolgreich mit der United, einer der Big Five der USA, zusammen. Trotzdem müssen wir unsere Optimierungsaktivitäten verstärken, um dem Kostendruck stand zu halten. Die Frage ist, wie wir dabei vorgehen. Über den nordamerikanischen Markt ist eine Welle der Fusionen und Beteiligungen gerollt. Wir konnten eine extreme Konzentration der fünf größten Airlines beobachten, die zusammen schon zehn andere Airlines aufgekauft haben. Die Kosten einer solchen Akquisition können beim Kauf eines Big Players extrem hoch sein. Wir dürfen uns nicht überschätzen, denn wir sind zwar auf nationalem Terrain führend, doch global gesehen sieht die Sachen anders aus. Wir brauchen Ideen, um den Angriffen unserer Konkurrenten erfolgreich stand zu halten!" Dr. Hansen blickt auffordernd in die Runde seiner Arbeitsgruppe. "Wir arbeiten ja mit der United erfolgreich zusammen", warf Frau Plachetka vom Marketing ein. "Wir haben unser Code-Sharing zudem auf die SAS, THAI und Air Canada erweitert und bringen unsere Passagiere mit Partner-Flügen nach Nordamerika, Asien und Skandinavien ohne dort eine Lufthansa-Basis zu haben. Und schon länger wird daran gearbeitet, unsere

290

Luftfahrtbranche im Umbruch

Idee des seam-less travel zu realisieren, mit dem die Passagiere, ohne erneutem Check-In und ohne sich um das Gepäck kümmern zu müssen, umsteigen können. Um den Reisekomfort zu verbessern haben wir bei uns schon den Ausbau von Code-Shares diskutiert. Der Knackpunkt ist hier allerdings Partner zu finden, die für unsere Kunden attraktiv genug sind, um einen Nicht-Lufthansa-Flug trotz Lufthansa-Tickets zu akzeptieren. Mit einer Aeroflot würde das heute nicht gehen. Ich haben Ihnen eine Übersicht über die aktuelle Konstellation auf dem Markt mitgebracht." Dr. Hansen überfliegt die Darstellung. Daraus gehen die Allianzen und Beteiligungen der wesentlichen europäischen Konkurrenten der Lufthansa hervor. KLM, British Airways, Air France und Swiss Air sind alle in eigene Netze von Kleinallianzen und Beteiligungen eingebunden. Auch die Lufthansa kooperiert bereits mit der SAS und den außereuropäischen Airlines Air Canada, Singapore und United Airlines. Zudem ist man an weiteren regionalen Airlines beteiligt. "Diese Allianzen scheinen sehr wackelig, wenn sie durch gegenseitige Beteiligungen stabilisiert werden müssen. Und das scheint auch keine Garantie zu sein um ein Auseinanderbrechen zu verhindern. In Nordamerika haben bisher nur Fusionen dauerhaft zu einer Abstimmung geführt." Schäfer von der Kundenbetreuung erntet zustimmendes Nicken auf seinen Einwurf. "Als Allianz im eigentlichen Sinn kann man diese Kooperationen aber nicht exakt einstufen.", bemerkt der Jurist Dr. Wolff. "Denn Kooperationen im engeren Sinne basieren weder ausschließlich auf Beteiligungen noch auf quasi-vollständigen Verträgen, sondern auf Absprachen und strategischen und operativen Spielräumen. Auch möchte ich aus wettbewerbsrechtlicher Sicht darauf hinweisen, dass diese Beteiligungen nicht unbegrenzt möglich sind. Luftverkehrsgesellschaften können ihre Flugrechte verlieren, wenn Beteiligungen ausländischer Investoren bestimmte Schwellen überschreiten. Auch die Form der Allianz sollten Sie bedenken. Marketingallianzen sind nur eine Form der Allianz und daneben gibt es noch weitere Kooperationsmöglichkeiten, die wettbewerbsrechtlich unbedenklich sind." Herr Schäfer nickt bestätigend: "Offene Kooperationen sind auch für uns ein interessantes Szenario. Wir sehen in der Zusammenarbeit auf horizontaler Ebene die Chance, unsere Vielfliegerprogramme attraktiver zu machen. Wenn wir es schaffen, global Destinationen anzubieten, können unsere Kunden Meilen sammeln oder benutzen, egal an welches Ziel sie wollen und mit welchem Partner sie fliegen. Das würde die Attraktivität unseres Programms entscheidend erhöhen!" Herr Eppstein von der Netzwerkplanung schiebt in diesem Moment eine Reihe von Flugstrecken-Charts über den Tisch und meint einhakend: "Bei der Streckenplanung sehen wir ebenfalls Möglichkeiten zur Kostenersparnis, wenn wir mit anderen Airlines zusammen die Streckenplanung optimieren. Die Passagiere würden profitieren, weil wir die Anschlussflüge besser aufeinander abstimmen und wir nicht mehr mit fünf Minuten Abstand zur Konkurrenz unsere Flieger auf die gleiche Strecke bringen. Sicherlich ist eine solche Koordination nicht rundum perfekt möglich, das können Sie auf den Charts erkennen. Aber anstatt zwei

291

5

5

Luftfahrtbranche im Umbruch

halbvolle Flieger loszuschicken, würde man zusammen einen ganz oder annähernd füllen und sich die Kosten teilen. Im Rahmen der Allianz mit der United Airlines haben sich frühzeitige Informationen über Verspätungen als wertvolle Informationen entpuppt. Wir gewinnen dann Zeit um Anschlussflüge umzuplanen und die Kunden zu informieren. Zudem können wir weitere Kosteneinsparungen beim Einkauf von Kerosin oder Flugzeugen erzielen, wenn wir mit mehreren Partnern zusammenarbeiteten." Dr. Hansen entgegnete: "Sicherlich sind bei Kooperationen Kosteneinsparungen im großen Stil machbar, aber auch das Management muss geplant sein. Kooperationen zwischen gleichstarken Partnern können nur funktionieren, wenn die Partner gleichgestellt sind und Entscheidungen im Einvernehmen treffen. Das mag vielleicht mit drei Partnern noch gut funktionieren, aber der Abstimmungsaufwand potenziert sich mit zunehmender Anzahl der Kooperationspartner. Ein langsames und behäbiges Vehikel würde keine schnellen Entscheidungen treffen können!" "Aber auf schnelle Entscheidungen können wir setzen, wenn die Lufthansa in andere Airlines investieren würde und die Mehrheit besäße oder wenn wir andere Airlines in den Konzern integrierten.", warf der IT-Fachmann Nassauer ein. "Es heißt doch, mit Fusionen könne man auf einen Schlag weiter wachsen als im Alleingang innerhalb mehrerer Jahre, oder?" Energisch meint Frau Plachetka dazu, "Wenn man keine überlappenden Netze hat! Denken Sie an die Gefahr von Überkapazitäten!" Ein kleiner Tumult entsteht zwischen den unterschiedlichen Meinungsgruppen. Dr. Hansen muss nachdrücklich um Ruhe bitten und fährt dann auf seine Aufzeichnungen deutend fort: "Beteiligungen erfordern erhebliche Mengen an Geld. Die Air France hat vor 6 Jahren für ihre Mehrheitsbeteiligung an der Regionalairline UTA umgerechnet fast eine Milliarde DM gezahlt. Unser Gewinn in diesem Jahr würde vergleichsweise nicht für eine vollständige Kompensation der Zahlung reichen." Der IT-Spezialist Nassauer sieht jedoch weiterhin große Potentiale in einer Akquisition: "Man verfügt durch diese Einkäufe aber immerhin direkt über alle Ressourcen und kann sofort auf den neuen Märkten agieren. Außerdem könnten wir unsere IT besser ausnutzen. Wir tauschen zurzeit nur konsolidierte Daten mit unseren Code-Share Partnern. Ich aber gehe davon aus, dass wir mit unseren Check-In- und Reservierungssystemen durchaus noch weitere Airlines abhandeln können. Das spart Ressourcen. In einer Kooperation wäre es fraglich, ob die Partner ihre teuren, eigenentwickelten und durch jahrelange Weiterentwicklung verfeinerten Systeme aufgeben würden, um auf eine gemeinsame Plattform umzuschwenken. Bei einer Konzernintegration wären die Koordinationskompetenzen geklärt." Nassauer blickt erwartungsvoll zu Frau Plachetka, in der Hoffnung sie überzeugt zu haben. "Da haben Sie selbstverständlich Recht, Herr Nassauer, aber man muss bei Kooperationen ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und in allen Bereichen die Zusammenarbeit abstimmen und alles standardisieren. Unsere Marketingallianzen laufen gut und man könnte diese im Laufe der Zeit zu strategischen Allianzen auszuweiten oder z.B. für die IT-Bereiche Joint Ventures starten."

292

Luftfahrtbranche im Umbruch

Die Gruppen, die verschiedene Lösungsvarianten favorisieren, zeichnen sich langsam ab. "Ich sehe wie Dr. Hansen auch einen deutlichen Overhead an Abstimmungen.", sagt Herr Schäfer, der Vertreter des Kundenbindungsprogramms. "Unter Umständen kann der Aufwand und Zeitverlust dafür größer sein als die möglichen Synergieeffekte. Die Frage ist auch, inwieweit wir in Kooperationen unsere Identität als deutsche Fluggesellschaft erhalten können. Es sind ja auch die Werte, die wir vermitteln, die uns für unsere Kunden attraktiv machen. Eine Kooperation mit Carriern, deren Prestige unserem nicht entspricht, könnte uns bei den Kunden schaden. Die Kosteneinsparungen müssten der Veränderung unseres Marktwertes gegenüber gestellt werden." Ergänzend äußert sich Dr. Wolff: "Wir sollten aber bei den Stichpunkten Identität und Abstimmungen nicht aus den Augen verlieren, dass man im Alleingang die Vorteile hat, völlig unabhängig von möglichen Partnern schnell zu agieren und seine Außenwirkung in Eigenregie zu gestalten. Die Finanzen, die in Beteiligungen oder Fusionen investiert werden müssten, könnte man anderweitig für den Ausbau unserer Marktposition verwenden. Und vor allem hätte man nicht das Risiko, sich mit diesen Strategien zu übernehmen und sich eventuell selbst aus dem Markt zu hebeln. Dienstleistungen, wie die Abwicklung von Zubringerflügen, kann man gut einkaufen. Eine kleine regionale Airline könnte für uns und in unserem Namen dezentrale Flughäfen anfliegen und wir übernehmen die Passagiere an den zentralen Hubs". Dieser neue Ansatz wird gleich wieder heftig diskutiert. "Das funktioniert aber wahrscheinlich auch in Kooperationen.", wirft Frau Plachetka ein. "Aber wir müssten dann aus eigener Kraft versuchen international Fuß zu fassen. Denn eine ausschließliche Lösung mit einem regionalen Anbieter stellt uns vor einen internationalen Alleingang. Eine globale Ausweitung braucht Erfahrung und viel Zeit. Mit Allianzen kann man sich schneller im Ausland etablieren, insbesondere mit einer globalen Allianz." Die Diskussion wird noch kurze Zeit leidenschaftlich fortgesetzt, doch schließlich klopft Dr. Hansen auf den Tisch und bittet um Ruhe. "Ich denke es wird Zeit, von einer reinen Aufzählung der Vor- und Nachteile von Lösungsmöglichkeiten auch über die Machbarkeit der verschiedenen Strategien nachzudenken und sie systematisch und analytisch zu vergleichen. Bitte lassen Sie mir ihre fundierten Einschätzungen schnellstmöglich zukommen, dann können wir in Anbetracht der Zeit das heutige Meeting beenden."

293

5

5

Luftfahrtbranche im Umbruch

Aufgabenstellung 1. Warum steht die Kostensenkung für die Deutsche Lufthansa im Vordergrund? 2. Wie können Erlös und Rendite gesteigert werden? Welche Ansatzpunkte für eine Yield-Steuerung lassen sich erkennen? 3. Welche generischen Strategien können Sie identifizieren und welche Konsequenzen haben die Lösungsvarianten? 4. Welche detaillierte Strategie beurteilen Sie als vorteilhaft für die Deutsche Lufthansa und warum?

Glossar Ursprünglich begründet sich die Idee der Yield-Steuerung auf die bewusste Überbuchung von Flügen. Bereits ab den 1960er Jahren wurden damit systematisch mehr Sitzplätze verkauft als eigentlich vorhanden waren. Moderne Ansätze des YieldManagement fokussieren darauf, dass zu höheren Preisen verkaufbare Flugsitze (bspw. Business Class Tickets) auf jeden Fall besetzt werden, und dass Niedrigpreissitzplätze durch unterschiedlich gestaffelte Restriktionen (bspw. Bindung an bestimmte Routen, Bindung an Mindestaufenthaltsdauern u.ä.) "flexibel" eingetaktet werden können. Yield-Managementsysteme kommen bei Netzwerk-Carriern (bspw. Deutsche Lufthansa) zum Einsatz, wobei sich die Produktionsstruktur durch folgende Charakteristika auszeichnet: Fixe Kapazität, hohe flugfixe Kosten, niedrige flugvariable Kosten und ausgeprägte Nachfrageschwankungen.

294

6

Highnoon im Kampf der Antriebssysteme*

GM und MCG verbuchen Umsatzrückgänge "Wir müssen den Japanern auf die Finger klopfen!", so äußerte sich Bob Lutz, Vizechef von General Motors (GM) im Sommer 2004 zur Thematik des verzerrten Wettbewerbs in der Automobilbranche. Trotz Erneuerung nahezu der gesamten Produktpalette von Opel, General Motors wichtigster Marke in Europa, liefen die Verkäufe bislang enttäuschend. Es herrscht Ungewissheit bei Opel. Besonders das Stammwerk in Rüsselsheim ist durch die geforderte Zusammenrückung des deutschen Autobauers mit der GMSchwestermarke Saab gefährdet. Der amerikanische Autokonzern kündigte bereits vor wenigen Monaten an, in Europa 12.000 Stellen abzubauen. Zu GM Europe gehören die Marken Opel, Vauxhall, Saab, Chevrolet, Cadillac, Corvette und Hummer. Des Weiteren ist GM der größte Anteilseigner an der GM Daewoo Auto & Technology Co., Südkorea. Zudem unterhält die General Motors Corp., die 1908 gegründet wurde, weltweite Partnerschaften mit beispielsweise Fuji Heavy Industries Ltd., Isuzu Motors Ltd., Suzuki Motors Corp., Japan und Fiat in Italien. Zu den Problemen bei General Motors sind nicht nur die Absatzschwierigkeiten im europäischen Markt zu zählen. Der wachsende Wettbewerbsdruck durch asiatische Autobauer, die mit ihrem Hybridantriebskonzept den Markt überrascht haben, steigende Sozialausgaben für Mitarbeiter des Konzerns, sowie die finanziellen Altlasten des GM-Investments in die italienische Autoschmiede Fiat sind für die stagnierende Gewinnsituation verantwortlich. Insgesamt 4,7 Millionen Fahrzeuge setzte GM im vergangenen Jahr in den USA ab, was gegenüber 2003 einem Umsatzrückgang von circa 1% entspricht. Somit sank der Marktanteil von General Motors im nordamerikanischen Absatzgebiet von 29,3 auf 27,5%, obwohl viele neue Modelle den Markt belebten und Verkäufer und Hersteller mit Preisnachlässen nicht geizten. "GM lebt zwar, aber der Konzern präsentiert sich nicht besonders munter.", so der Analyst David Healy vom Brokerhaus Burnham zur angeschlagenen wirtschaftlichen Lage eines Konzerns, der mit Ford und Chrysler die "Großen Drei aus Detroit" bildet.

*

Unter Mitarbeit von Thomas Fredenhagen und Thiemo Kohlsdorf

295

6

Highnoon im Kampf der Antriebssysteme

Die Mercedes Car Group Dr. Thomas Weber, Mitglied des Vorstands der DaimlerChrysler AG, verantwortlich für Forschung und Technologie sowie die Entwicklung der Mercedes Car Group (MCG), betrachtet die von seinem Praktikanten vorgelegten neuesten Zahlen des laufenden Geschäftsjahres 2004. Von den insgesamt auf dem nordamerikanischen Markt verkauften 883.000 Autos deutscher Hersteller, verbuchte die MCG 221.610 Einheiten, was einem Absatzwachstum der Marke Mercedes von 1,3% entspricht. DaimlerChrysler erzielte im vergangenen Jahr einen Operating Profit von 5.754 Mio. Euro, der leicht über dem von 2003 mit 5.686 Mio. Euro liegt. Webers Verantwortungsbereich jedoch trug zu diesem Ergebnis mit nur 1.666 Mio. Euro bei, was gegenüber dem Vorjahr einen deutlichen Einbruch signalisiert. 2004 wurden in den USA insgesamt 16,9 Millionen Fahrzeuge verkauft, wobei deutsche Hersteller einen Rückgang der Verkäufe um 3% hinnehmen mussten. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Betrachtung der Kursentwicklung der DaimlerChrysler-Aktie. Der Konzern schüttete zwar eine attraktive Dividende in Höhe von 1,50 Euro aus, doch konnte die Aktie ihr Vorjahresniveau nicht ganz halten und schloss mit 35,26 Euro um 5% niedriger als zum Jahresende 2003. Dennoch konnten im Gegensatz zu GM Gewinne von 1,7 und 1,4 Mrd. Euro bei der Mercedes Car Group und der Chrysler Group erwirtschaftet werden. Der Umsatz der DaimlerChrysler AG in Höhe von 142,1 Mrd. Euro im Jahr 2004 setzt sich prozentual aus den folgenden Geschäftsfeldern zusammen: 33% wurden durch die Mercedes Car Group, 35% durch die Chrysler Group und 23% von der Nutzfahrzeugsparte erwirtschaftet. Hinzukommen 8% vom Geschäftsfeld Dienstleistungen und weitere 1% durch das Segment Übrige Aktivitäten. Die wichtigsten Absatzmärkte 2004 für die Mercedes Car Group waren mit 32% des Absatzes Deutschland, mit 35% die übrigen Märkte Westeuropas, sowie die USA mit 18% und Japan mit 8%. Ihr Produktangebot umfasst die Kleinwagen der Marke smart, die Fahrzeuge der Marken Mercedes-Benz, Mercedes Benz AMG, Mercedes-Benz McLaren sowie ebenfalls die Luxussparte Maybach. Für die Chrysler Group, zu der die Marken Chrysler, Jeep und Dodge, sowie auch die Fertigung und Vermarktung von Ersatzteilen und Zubehör unter dem Namen MOPAR, gehören, grenzen sich die Absatzmärkte prozentual anders ab: 82% gehen 2004 in die USA, 8% nach Kanada, 4% nach Mexiko und 6% in Märkte außerhalb des NAFTARaums. Das dritte Standbein der DaimlerChrysler AG bildet die Nutzfahrzeugsparte. Mit 25% zählte die NAFTA zu den wichtigsten Absatzgebieten, Deutschland erwirtschaftete 16% des Absatzes, gefolgt vom restlichen Westeuropa mit 23%, Asien 18% und Südamerika mit 8%. Der Head of Section für den PKW-Bereich Weber sucht nach Ursachen und Lösungen. Hierzu zieht er Berichte und Zahlenmaterial über die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit heran. Vor allem für die Entwicklung der neuen Fahrzeugmodelle der Mercedes Car Group, die B- und R-Klasse-Sports-Tourer sowie für die Nachfolgemodelle der M- und S-Klasse wurden fast die Hälfte der insgesamt 5,7 Mrd. Euro der Forschung

296

Highnoon im Kampf der Antriebssysteme

und Entwicklung ausgegeben. Nur ein kleinerer Teil der von Webers Verantwortungsbereich verbrauchten 2,6 Mrd. Euro wurden in die Erforschung alternativer Antriebskonzepte wie dem Hybridantrieb investiert. Parallel wurde hauptsächlich im Bereich Sicherheitssysteme und Brennstoffzellenantrieb geforscht.

Tabelle 6-1:

Forschungs- und Entwicklungsaufwand DaimlerChrysler in Mrd. € Ist 2004

Plan 2005-2007

DaimlerChrysler-Konzern

5,7

17,0

Mercedes Car Group

2,6

7,2

Chrysler Group

1,6

5,1

Nutzfahrzeuge

1,2

3,8

Übrige Aktivitäten

0,2

0,9

Quelle: Daimler Chrysler Geschäftsbericht 2004

Toyota legt in Deutschland zu "Toyota legt in Deutschland kräftig zu/ Lexus-Geländewagen mit Hybridantrieb geplant." Mit Erschrecken liest Weber diese Schlagzeilen im Handelsblatt: Für den japanischen Automobilriesen war 2004 ein Rekordjahr. Toyota konnte auf dem deutschen Markt 127.000 Fahrzeuge absetzen, was einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 15% entspricht. Markus Schrick, Vizepräsident von Toyota Deutschland verfolgt klare Zielsetzungen: "Unser Ziel für dieses Jahr ist Konsolidierung, nicht Wachstum", und schickt mit dem neuen Modell Ayro ein Einsteigermodell für das Segment Preisklasse unter 10.000€ ins Rennen. Schrick gibt weiter vor, bis 2010 in Deutschland 200.000 Autos verkaufen zu wollen und parallel dazu General Motors als weltweit größten Automobilkonzern abgelöst zu haben. Erst im letzten Jahr bestätigten die Analysten der renommierten britischen Automotive Industry Data Ltd.: "Toyota ist im Jahr 2003 unter den größten Automobilherstellern der Welt auf Platz zwei gerückt." Stolze Ziele, doch die Japaner setzen in ihrem Erfolgsstreben unter anderem auf ihre Vorreiterstellung in der Entwicklung von Hybridmotoren. Mit seinem Prius war Toyota der erste Hersteller weltweit, der ein Serienfahrzeug mit Hybridantrieb anbot. Ließ der Absatz im vergangenen Jahr noch zu wünschen offen, rechnet Toyota im kommenden Jahr mit Verkaufszahlen um die 180.000 Stück für seinen Prius. Um seine richtungweisende Stellung in der Entwicklung umweltfreundlicher Technologien zu behaupten, investiert der Konzern jährlich

297

6

6

Highnoon im Kampf der Antriebssysteme

5,5 Mrd. Euro. Toyotas Prius mit Hybrid-Synergie-Drive ist ‚Auto des Jahres’ in den USA geworden und als ‚umweltverträglichstes Auto in Deutschland’ geehrt. Die Mercedes Car Group Tochter der DaimlerChrysler AG ließ sich bis jetzt nicht weiter verunsichern durch Zahlen und Fakten bezüglich Toyota. Seit 1960 hat sich die Zahl namhafter unabhängiger Automobilhersteller weltweit um rund drei Viertel auf etwa ein Dutzend reduziert und DaimlerChrysler ist in diesem wettbewerbsintensiven Umfeld weiterhin erstklassig positioniert. Für Weber standen kundenerlebbare Innovationen im Vordergrund. Diese erzeugen eine hohe Kundenakzeptanz und lösen Kundennachfragen nach neuen Technologien aus. Auf diese Pull- statt Push-Strategie führt er die jüngsten Markterfolge bei Chrysler zurück. "Während japanische Hersteller vor allem im nordamerikanischen Raum mit ihrem Hybrid für Aufsehen sorgen, setzen wir nach wie vor auf die Dieseltechnologie", überlegt sich Weber nachdenklich. Fast 44% der Neuwagen in Europa sind Dieselfahrzeuge und Dr. Thomas Weber betrachtete den Hybridantrieb lediglich als Brückentechnologie auf dem Weg zum Brennstoffzellenantrieb, von dem er sich nachhaltigere Chancen verspricht. Doch es steht die 17. Detroit Motor Show vom 12.-23. Januar bevor, und so macht sich der Vorstand der DaimlerChrysler AG Gedanken, wie man auch in Zukunft auf dem so wichtigen Absatzmarkt Nordamerika erfolgreich sein kann. Nicht wenige Ingenieure sind der Meinung, dass die Entwicklung und der Einsatz von Hybridmotoren eher Alibicharakter hat, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, eine Technologie verschlafen zu haben. Weber grübelt vor sich hin: "Haben wir die Position des Hybridantriebs unter den aktuellen Innovationen doch etwa unterschätzt?"

Hohe Verkaufserwartungen für Hybridfahrzeuge in USA Prof. Dr. Ferdinand Dudenhöffer, Automobilexperte des B&D Forecast Leverkusen, sagt für 2005 Verkäufe von Hybridfahrzeugen in Höhe von 245.000 Stück in den USA voraus. Bereits 2004 beziffert Dudenhöffer mehr als 83.000 abgesetzte Hybridantriebler in den Staaten. Vor allem Toyota habe sich laut seiner Prognose zum Monopolisten in diesem Antriebskonzept entwickelt, denn auch andere namhafte Autobauer wie Ford, Mazda, Nissan und Porsche setzen auf die Toyota-Lizenzen. Für Dudenhöffer ist klar, dass GM und DaimlerChrysler ihre Stärken zusammenlegen müssen, um dem ToyotaSystem entgegenwirken zu können. Für Branchenkenner ist schon im Vorfeld klar, Hauptdarsteller wird in diesem Jahr in Detroit der Hybridantrieb. "Das Auto hat auch im 21.Jahrhundert großes Potenzial. Lassen Sie sich begeistern von der Faszination Auto." Prof. Dr. Bernd Gottschalk, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie beendete seine Begrüßungsrede zum Technik-Kongress in Aachen mit diesen Worten. Die zugrunde liegende Funktionsweise und Idee des Hybridkonzepts ist nicht neu. Bereits am Anfang des letzten Jahrhunderts haben sich Ingenieure mit dem Thema Hybrid auseinandergesetzt. Der Grundgedanke dieses innovativen An-

298

Highnoon im Kampf der Antriebssysteme

triebskonzepts ist relativ einfach: Ein Verbrennungsmotor wird je nach Bedarf durch Elektromotoren unterstützt. In Phasen, in denen der Verbrennungsmotor eine Pause einlegt, beim Bremsen, wird die Batterie aufgeladen. Wird nun beim Anfahren volle Energie des Benzin- oder Dieselaggregats benötigt, schaltet eine intelligente Elektronik den Elektromotor zu, der von der zuvor aufgeladenen Batterie gespeist wird. Beim Anfahren und bei niedrigen Geschwindigkeiten bewegt sich ein so genannter Vollhybrid ausschließlich mit Elektroantrieb. Somit lässt sich besonders in den Großstädten mit ihrem Stop-and-go-Verkehr Kraftstoff einsparen und die Umwelt schonen. Nur ist der Hybridantrieb momentan noch wegen des zusätzlichen baulichen Aufwands teurer als die konventionellen Systeme. So kam es 2002 zum Abschluss eines langfristigen Rahmenvertrages über zehn Jahre zwischen der Nissan Motor Co. und der Toyota Motor Corporation, der die Zusammenarbeit der beiden Konzerne bei der Entwicklung von Hybridantrieben vorsieht. Toyota als Pionier dieser Technologie forscht und entwickelt seit über 25 Jahren und hat mittlerweile über 500 Patente in diesem Gebiet. Durch diese Kooperation soll dazu beigetragen werden, die Produktionskosten für diesen Antrieb zu senken und sie weltweit zu einer marktgängigen Technologie zu bringen.

Aufgabenstellung 1. Analysieren Sie die gegenwärtige Wettbewerbskonstellation von MCG, GM und Toyota in den USA in Hinblick auf alternative Antriebskonzepte. Wie schätzen Sie die Absatzchancen für die Mercedes Car Group zukünftig ein? 2. Erläutern und beschreiben Sie mögliche Alternativen für DaimlerChrysler und GM gegen die Marktführer in der Hybridentwicklung Toyota vorzugehen? Begründen Sie Ihre Auswahl mit geeigneten Analyseinstrumenten. 3. Welche zukünftige Relevanz sehen Sie für die Technologie des Hybridantriebs in Hinsicht auf den Markt und den zukünftigen Absatz von Hybridfahrzeugen im nordamerikanischen Automarkt?

299

6

Teil D Ressourcenmanagement

7

Der gesättigte Gipsmarkt*

VG Stadtoldendorf – Erster Feldtermin Auf dem Weg von Frankfurt Richtung Hannover, nicht weit hinter Göttingen liegt Stadtoldendorf. Hier hat ihre Unternehmensberatung einen Auftrag von einem mittelständischem Gipshersteller erhalten und sie mit der Projektvorbereitung betraut. Bei ihrem ersten Besprechungstermin auf dem Werksgelände werden sie von Theo Promer, dem Geschäftsführer der Vereinigten Gipswerke Stadtoldendorf, empfangen. "Haben Sie uns gut gefunden? Wir sind ja nur einer von vier Gipsherstellern vor Ort. Die Knauf GmbH liegt ja quasi auf der anderen Straßenseite", sagt Promer lächelnd. Promer schildert ihnen in seinem Büro, warum er sie um ihre Hilfe gebeten hat. "Wir haben gerade die Fusion mit den Turm-Gipswerken hinter uns gebracht, haben aber immer noch Probleme. Die allgemeine Branchensituation ist nicht gut. Wir sind mit unseren Produkten stark an die Baubranche gekoppelt und der geht es bekanntlich schlecht." Während eines Kaffees erläutert Promer den mittelständischen Charakter des Unternehmens mit ca. 50 Mio. Euro Umsatz. "Der Druck, der auf uns lastet, ist enorm. Im Sommer 2001 haben die Thüringer Gipswerke die Tore geschlossen und Rigpis plant in Bodenwerder eine Werksteilschließung. Man munkelt auch, dass WICO und die Ellricher Gipswerke bald zum Verkauf stehen. Wir wollen nicht die Nächsten sein." Promer macht ihnen deutlich, dass er strategische Lösungsmöglichkeiten erwartet, um dem Wettbewerbsdruck marktorientiert zu begegnen. Sie fragen Promer genauer nach dem Absatzmarkt, er verweist sie aber auf die Abteilungen Logistik und Vertrieb. "Die können Ihnen besser Auskunft geben. Aber der Absatzmarkt ist begrenzt. Das hängt auch an den Transportkosten einiger unserer Produkte. Gipse in Pulverform sind schwer und haben ein ungünstiges Gewicht/Wert-Verhältnis. Gipsplatten sind sehr voluminös für ihren relativen Wert bei Baustoffen. Ich mache Ihnen einen Termin mit meinen Abteilungsleitern." Sie verabschieden sich von Herrn Promer und beschließen nach diesem ersten Gespräch sich erst einmal die genaueren Branchenfakten zu beschaffen.

*

Unter Mitarbeit von Thiemo Kohlsdorf und Tanja Metz

301

7

Der gesättigte Gipsmarkt

Frankfurt Zentrale - Datenrecherche Zurück in der Beratungszentrale steht ihnen die unternehmenseigene Datenbank zur Verfügung. Dort finden sie in einer Datei der Branchenplattform zur Gipsindustrie einige interessante Fakten. Die verarbeitende Branche stagniert seit Jahren. Der Umsatz im Jahr 2000 lag bei ungefähr 1,5 Mrd. DM und sinkt kontinuierlich. Das entsprach gegenüber dem Vorjahr einem Rückgang von fast 9 Prozent. Auch die Beschäftigtenzahl war ein Jahr zuvor noch 4 Prozent höher gewesen. 2001 waren dort ca. 5000 Beschäftigte tätig. Verantwortlich für den Umsatzeinbruch scheint nicht nur ein Mengenrückgang zu sein. Die Preise erodieren seit einigen Jahren. Relativ zum Basisjahr 1990 liegt der Preis heute bei nur 85 Prozent. Eine elektronische Notiz in der Datei lautet: "Ab 2000 Stagnation des Preises erwartet. Vgl. Ausblick Baubranche." Sie suchen eine entsprechende aktuelle Quelle des BDI. Dort wird die Entwicklung der Bauinvestitionen als ungewiss bezeichnet, die Talsohle scheint aber noch nicht durchschritten. Für 2003 wird eine Verringerung der privaten Bauinvestitionen von knapp 4 Prozent erwartet. Auch die Knappheit öffentlicher Kassen soll sich bemerkbar machen. Erstaunt sind sie über ein Memo eines weiteren Kollegen, das beschreibt, wie sich die Anzahl der Anbieter immer stärker konzentriert. Waren vor kurzem noch 48 Anbietern am Markt, sind 2002 noch 23 Unternehmen rechtlich selbständig bestehen geblieben und diese Entwicklung scheint nicht abzubrechen. Sie beschließen bei dem Bundesverband der deutschen Gips- und Gipsbauplattenindustrie e.V. anzurufen und werden mit dem Geschäftsführer Hans Hesse verbunden. Er bestätigt ihnen einige Daten und ergänzt noch um weitere Fakten. "Der Indikator Gipsverbrauch pro Kopf liegt in Deutschland bei 2,3 qm. Das ist in Vergleich zu Frankreich und Großbritannien mit über 4 qm ein deutlicher Unterschied. In BauboomLändern, wie derzeit Irland, kann das auch schon auf 7 qm pro Kopf ansteigen. Die Mengen stimmen bei uns nicht." Auch hinsichtlich des Preises weiß Hesse: "Der Durchschnittspreis für den Quadratmeter Gipsplatte beträgt heute ca. fünf Euro. Im Baumarktsortiment liegen wir da im unteren Preisbereich. Der Baustoffhandel hat aber einen ungeheuren Vorteil gegenüber den Anbietern von Gipsprodukten. Aufgrund von Überkapazitäten im Markt kann er die Unternehmen gegeneinander antreten lassen und sich das günstigste Angebot herauspicken. Der Preiswettbewerb ist mörderisch." Auch weist sie Hesse auf eventuelle Importe aus Frankreich oder den USA hin. Zudem gibt dem Verband die Entwicklung in Osteuropa zu denken.

Stadtoldendorf Innenstadt - Demonstration Zu Beginn der nächsten Woche fahren sie wieder zum Kunden VG Stadtoldendorf. Nachdem sie die Ortseinfahrt hinter sich lassen und den Ortskern passieren wollen, geht es nicht mehr weiter. Eine Absperrung mit Polizeischutz verhindert die Weiterfahrt. "Tut mir leid", sagt ein Polizist. "Ökodemonstration wegen des geplanten Gips302

Der gesättigte Gipsmarkt

abbaugebietes." Verblüfft und interessiert parken sie den Wagen und sehen sich das einmal aus der Nähe an. Mit großen Bannern wird gegen das geplante Abbaugebiet für Gipse in Lüthorst im Landkreis Northeim protestiert. Eine Bürgerinitiative scheint federführend zu sein, aber auch politische Akteure des Landkreises und der Städte sind zugegen. Sie stellen sich neben die lokalen Presseleute um ein wenig der allgemeinen Stimmung mitzubekommen. "Meine Güte, denkt denn keiner von denen an die Arbeitsplätze", schnauft ein Reporter. Wütend faucht ihn ein Kollege an: "Und wer denkt an die Umweltzerstörung?" Der Hauptredner kündigt einen Protestmarsch zu den Gipswerken an und sie denken sich, dann schnell zurück zum Auto, bevor die Anfahrt zu den Betrieben versperrt wird.

VG Stadtoldendorf - Expertengespräche Bei den Vereinigten Gipswerken Stadtoldendorf essen sie mit dem Geschäftsführer Promer zu Mittag und berichten von der Demonstration. Promer schüttelt mit dem Kopf. "Rohgips ist unser Lebensnerv. Ohne Input kein Output. Woher sollen wir denn kostengünstig den Rohgips beziehen? In Deutschland gibt es derzeit vier Abbaugebiete für Naturgipse. Und natürlich haben sich die Verarbeiter des Rohgipses um die Rohstoffstandorte angesiedelt. Das neue Abbaugebiet soll die Versorgung sichern. Wenn wir hier langfristig keine günstige Rohstoffanbindung haben, können Sie sich denken, was wir tun werden." Nach dem Mittagessen sind sie, wie von Herrn Promer angekündigt, mit zwei Mitarbeitern von Logistik und Vertrieb verabredet. In dem Besprechungsraum des Unternehmens werden sie Herrn Bägler, dem Abteilungsleiter der Logistik, und Frau Racke, der Vertriebsleiterin, vorgestellt. Sie fragen Frau Racke, wie sich das Produktprogramm der Unternehmung darstellt und erhalten zur Antwort, dass man sich da von der Konkurrenz wenig unterscheide, wie allgemein in der Branche. "Sie müssen wissen, dass Gipsprodukte schließlich Standardprodukte sind. Eine wesentliche Veränderung zu anderen Produkten der gleichen Segmente gibt es kaum. Zwar heißt das nicht, dass wir keine Produktinnovationen anstreben, aber ich würde uns nicht gerade als forschungsintensive Industrie bezeichnen", sagt Racke mit einem Lächeln. In der folgenden halben Stunde arbeiten sie die wesentlichen Vertriebskanäle und entsprechenden Abnehmer der VG Stadtoldendorf heraus. Gipse und Gipsplatten werden an den Baustoffhandel und Baumärkte vertrieben. Großabnehmer werden häufig auch nur von Großanbietern beliefert. "Wir können nicht jeden Endverarbeiter persönlich betreuen. Stellen Sie sich doch einmal vor, wie wir jedem Hand- und Heimwerker ein Angebot machen müssen und anschließend auch noch abwickeln. Das frisst zu viel Mitarbeiter-Zeit und produziert Berge von Papier. So geht das nicht", meint Frau Racke. "Den Endkunden erreichen wir nur mittelbar." Auch der Idee, über eine stärkere Differenzierung der Produkte den Endkunden möglicherweise für einen

303

7

7

Der gesättigte Gipsmarkt

bestimmten Anbieter zu gewinnen, steht sie ablehnend gegenüber. "Kosten, Kosten, Kosten und letztendlich Preis. Das ist es worauf es bei uns ankommt. Deswegen ist ein günstiger Einkauf auch so wichtig", schließt Frau Racke und sieht zu ihrem Kollegen Herrn Bägler herüber. Der verzieht etwas das Gesicht und meint, dass neben Kosten auch die Qualität stimmen muss, was aber kein Problem sei. "Die Produktionsmethodik ist physikalisch weitgehend vorgegeben. Und die Produktionstechnik ist relativ gesehen auch nicht sonderlich kompliziert. Die Anlagenausstattung variiert nur marginal und wenn dann hinsichtlich Produktionsmengen. Problematisch ist aber bei der augenblicklichen Marktlage, dass wir entweder hohe Lagerbestände oder geringe Auslastungen haben. Der Einkauf ist schon sehr bedeutend, weswegen die Nähe zu den Rohstoffen so wichtig ist. Wir beziehen aber seit einiger Zeit auch REA-Gips aus der Lausitz, um genauer zu sein Cottbus. Der ist Abfallprodukt bei industriellen Großanlagen mit Rauchgasentschwefelungsanlagen. Aber da können wir auch nicht jeden REA-Gips nehmen. Problematisch ist dabei außerdem, dass wir Lieferkosten haben. Die sind bezogen auf das Endprodukt auch ansonsten relativ hoch. Da kommen leicht einmal zehn Prozent des Endpreises zusammen." Angeliefert wir der REA-Gips über Schienentransporte und anschließend umgeschlagen auf LKW’s. Dadurch erhöhen sich die logistischen Kosten nochmals. "Das geht aber allen Statdoldendorfern so. Also auch Knauf, Rigips und Maxit & Hillges."

Frankfurt Zentrale - Projektteam Eine Woche später sitzen sie mit ihrem neuen Projektleiter Dr. Hamges und anderen Kollegen in einer konstitutiven Sitzung für das Projekt "Gips". Nachdem sie die Branchendaten und die Unternehmenssituation dargestellt haben, wendet sich Dr. Hamges an sie. "Danke für die deskriptiven Ausführungen, aber was sollen wir ihrer Meinung nach nun tun?" Sie zeigen auf, dass sowohl Programm-, Potential-, wie auch Prozessentscheidungen zu treffen sind. Dr. Hamges nickt zustimmend und verteilt die Aufgabengebiete. "Dann übernehmen sie bitte die strategische Potentialplanung unter Berücksichtigung der relevanten Programmdaten."

304

Der gesättigte Gipsmarkt

Aufgabenstellung 1. Stellen Sie unter Bezugnahme auf ein geeignetes Konzept die Wettbewerbssituation der Branchen dar, innerhalb derer sich die VG Stadtoldendorf bewegt. 2. Arbeiten Sie die wesentlichen strategisch-taktischen Determinanten heraus, die für eine Potentialplanung von Relevanz sind. 3. Zeigen Sie auf Basis der Wettbewerbssituation und der Determinanten der Potentialplanung Ansätze auf, mittels derer die VG Stadtoldendorf dem Wettbewerbsdruck entgegen wirken kann.

305

7

8

Biotechnologie 2000 - Zwerge und Big Pharma*

Eine neue Branche Die deutsche biotechnologische Branche mit ihren verschiedenen Anwendungsbereichen ist immer noch eine junge Branche. Durchschnittlich wurden Anfang der 1990er Jahre neun bis zehn Unternehmen pro Jahr in Deutschland gegründet, die einen ausgeprägten biotechnologischen Hintergrund hatten. Diese Zahl stieg zum Ende der 1990er Jahre stark an und man erwartete, dass die Anzahl der Gründungen in den folgenden Jahren weiterhin auf hohem Niveau liegen würde, wenn nicht sogar weiter ansteigen könnte. Hinsichtlich der Differenzierung der Unternehmen wurden häufig Größenkategorien verwendet. Danach wurden die Unternehmen entsprechend ihrer Mitarbeiterzahl in drei Kategorien eingeteilt. Kategorie A umfasste Unternehmen mit bis zu zehn Mitarbeitern, Kategorie B Unternehmen mit elf bis fünfzig Mitarbeitern und Kategorie C Unternehmen mit über fünfzig Mitarbeitern. Das Wachstum in den drei Kategorien selber verlief unterschiedlich. Stieg zunächst die Anzahl der neugegründeten sehr kleinen Unternehmen durchschnittlich um fünf Unternehmen pro Jahr, so stagnierte in den folgenden Jahren die Gesamtanzahl der Unternehmen jedoch weitgehend. Ursache hierfür war jedoch keine Branchenstagnation, sondern dass Unternehmen in nennenswerter Zahl ein Größenwachstum von Kategorie A zu Kategorie B vollzogen. In dieser Kategorie stieg die Anzahl der Unternehmen durch neue Unternehmen und Wachstum kleinerer Unternehmen im Schnitt um vier pro Jahr. Jedoch war in der Kategorie der größten Unternehmen kein wesentlicher Zuwachs zu verzeichnen. Sogar ein Fall der Zerlegung wurde beobachtet. Das relative Wachstum nach Anzahl der Beschäftigten von 1996 bis August 2000 betrug insgesamt 73 Prozent in fünf Jahren, was einem durchschnittlichen Zuwachs von rund 15 Prozent oder 185 Arbeitsplätzen pro Jahr entsprach. Hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Bedeutung in Bezug auf die absolute Beschäftigtenzahl von etwa 10.000 Mitarbeitern Ende der 1990er Jahre war die Branche eher von geringer Bedeutung. In Deutschland fanden sich nach dem Gründungsboom in den 1990er Jahren zum Jahrtausendwechsel etwa 300 überwiegend kleine und mittlere Unternehmen aus der Biotechnologie-Branche. Die durchschnittliche Anzahl an Mitarbeitern in diesen Unternehmen lag im Jahre

*

Unter Mitarbeit von Matthias Brechtel und Thiemo Kohlsdorf

307

8

Biotechnologie 2000 - Zwerge und Big Pharma

1999 in Deutschland bei neunundzwanzig und die Unternehmen waren zumeist in der Grundlagenforschung und angewandten Forschung tätig. Die Grundsituation änderte sich im Wesentlichen vom Beginn der 1990er bis zum Ende der 1990er Jahre nicht, wobei sich eine Tendenz zur Integration weiterer Stufen der Wertschöpfungskette durch die biotechnologisch Unternehmen abzeichnete. Das mittel- langfristige Wachstumsziel wurde in direkter Verbindung zur Gewinnerzielung gesehen. Darüber hinaus kam es zu einer zunehmenden Verschmelzung mit anderen Technologien, wie Nanotechnik, Materialwissenschaften, Lasertechnologie und anderen. Es entstand ein interdisziplinärer High-Tech-Sektor und die Zuordnung neuer Unternehmen zu herkömmlichen Branchen gestaltete sich zunehmend schwierig. Fast alle Unternehmen hatten aber eins gemeinsam. Bedingt durch die langen Forschungs- und Entwicklungszeiten in den neuen Technologiefeldern, insbesondere in der pharmazeutischen Biotechnologie, und das durchschnittlich sehr geringe Alter der Unternehmen wurden in den meisten Unternehmen kaum nennenswerte Umsätze gemacht, von Gewinnen ganz zu schweigen. So wurde es in Jahresabschlussberichten der gesamten Industrie üblich, statt einer Gewinnkennzahl eine Verlustkennzahl auszuweisen. Allerdings wurde in Europa der Anteil biotechnisch hergestellter Produkte in den folgenden Jahren deutlich gesteigert, wenn auch in der pharmazeutischen Biotechnologie der große Wurf eines eigenständigen innovativen Produktes zunächst ausblieb. Bedingt durch die im Pharmabereich üblichen acht bis zehn Jahre, die für die Entwicklung eines Produktes in etwa benötigt werden, entstehen Umsätze aus Produktentwicklungen erst Jahre nach der ersten Entdeckung eines Wirkstoffzusammenhangs, was die Unternehmen vor ein Finanzierungsproblem stellte.

Probleme der jungen Unternehmen Zu einem der führenden Anbieter molekularbiologischer Dienstleistungen und innovativer Bioinformatik-Software in Deutschland gehörte die GATC Biotech AG, die insbesondere in der Genomanalyse tätig war. Lag beispielsweise die Bausteinfolge von einem Mikroorganismus oder eines Bakteriums vor, konnte mit der eigentlichen Arbeit, der Funktionsanalyse, erst begonnen werden. Hierbei kam es darauf an, die im Genom enthaltenen Informationen, das heißt, die Erbanlagen zu identifizieren und für diagnostische, therapeutische oder produktionstechnische Zwecke zu erschließen. "Aber genau hier standen wir vor einem Problem, denn die GATC konnte zwar Genome entschlüsseln, aber die Funktionsanalyse lag außerhalb unseres Kernkompetenzbereichs.", so Peter Pohl der Chief Executive Officer der GATC. Die Funktionsanalyse liefert Aufschluss darüber, welche Aufgabe ein Gen in der Zelle erfüllt. Das menschliche Erbgut besteht aus ungefähr 70.000 Genen. Von etwas mehr als 5.000 war bekannt, was sie im Körper bewirken. Bevor jedoch an die Entwicklung von Medikamenten gedacht werden konnte, musste zuerst der Text verstanden wer-

308

Biotechnologie 2000 - Zwerge und Big Pharma

den, der in der Erbsubstanz DNA verschlüsselt ist. "Um am Markt weiterhin erfolgreich bestehen zu können und auf die Wünsche unserer Kunden mit maßgeschneiderten Lösungen schnell und flexibel reagieren zu können, kamen wir deshalb am Aufbau neuer Kompetenzen nicht vorbei.", so Pohl weiter. Doch der Erwerb von Know-how durch Übernahme anderer Unternehmen aus der gleichen Branche stellte die meisten Biotechnologie-Unternehmen aufgrund ihrer geringen Größe vor eine große Herausforderung. Die Kapitalinvestitionen für solche Übernahmen überstiegen die finanzielle Leistungsfähigkeit der meisten kleinen Unternehmen bei weitem. "Aufgrund unserer Größe und der damit verbundenen geringen Finanzkraft für solche Investitionen ist es für uns nicht leicht, ein Unternehmen zu kaufen, um in der Lage zu sein, mit dessen zusätzlichen Kompetenzen ein umfangreicheres Projekt für einen Kunden durchzuführen. Abgesehen davon wären solche Investitionen langfristig nicht immer von Vorteil. Die Anforderungen von Seiten unserer Kunden ändern sich fortlaufend und die durch die Übernahme erworbenen Kompetenzen können eventuell nach Abschluss eines Projektes wieder obsolet werden.", fügte Pohl hinzu. Gewagte neue Genomsequenzierungs-Projekte entsprachen in den 90er Jahren aufgrund des Wissensbedarfs in der Grundlagenforschung sehr der Strömung der Zeit, denn vor einem ähnlichen Problem stand auch der Geschäftsführer der Medigenomix GmbH, Dr. Engelbert Precht, einem kleinen Bioanalytikunternehmen aus Martinsried in der Nähe von München. Dort hatte man sich auf DNA-Analytik spezialisiert. "Wir analysieren DNA-Profile und DNA-Varianten, Polymorphismen genannt, in den für die DNA-Analytik noch jungen Märkten wie Tier- und Pflanzenzucht, Forensik, Lebensmittelindustrie und Gesundheitsvorsorge. Wir sind zwar in der Lage, präzise Hochleistungssequenzierung und Polymorphismenanalysen durchzuführen, allerdings stößt unsere Kapazität bei vielen Kundenanfragen an ihre Grenzen, so dass wir oft nicht in der Lage sind, Kundenaufträge von größeren Dimensionen anzunehmen.", so Precht. "Unsere auf die Genomsequenzierung spezialisierten Mitarbeiter führen die Sequenzierung mittels Gelelektropherese per Hand durch. Eine automatisierte Bearbeitung wäre durch die neue Methode der Kapillarelektropherese möglich. Zahlreiche Firmen wie Qiagen in Hilden, Amersham Pharmacia Biotech in Freiburg, PE Biosystems in Weiterstadt haben bereits Roboter zum Bearbeiten von Nukleinsäuren, zum Verteilen der Proben, zum Klonieren und zum Sequenzieren entwickelt. Hierbei handelt es sich um neuartige Verfahren zum Auftrennen von DNS-Stücken. Die Kapillarelektropherese ersetzt die Gelelektropherese, benötigt aber einerseits nicht nur weniger Zeit, sondern erfordert zum anderen auch weniger Analysematerial. Zudem trennt sie die einzelnen Fragmente viel sauberer auf. Die ersten Sequenzierer auf Basis der Kapillarelektropherese wurden von Amersham Pharmacia Biotech und Applied Biosystems, einer Tochter von PE Biosystems auf den Markt gebracht, wobei das von Applied Biosystems entwickelte Gerät vollautomatisch arbeitet. Die Kosten hierfür belaufen sich auf rund 250.000 Euro, ohne die hinzukommenden Verbrauchsmittel von etwa 2000 Euro pro Tag. Damit ist das System so teuer, dass es sich kein Universitätslabor leisten 309

8

8

Biotechnologie 2000 - Zwerge und Big Pharma

kann. Auch für die Forschungsabteilungen der meisten großen Pharmakonzerne ist dieser Automat als Sequenzierungshilfe nicht interessant, da das Gerät kaum auszulasten wäre. Für uns wäre die neue Methode ideal, allerdings sind wir nicht in der Lage, eine solche Investition zu finanzieren. Somit sind wir weiterhin darauf angewiesen, die Sequenzierung per Hand durchzuführen. Um allerdings das menschliche Erbgut mit seinen 3 Millionen Bausteinen zu entschlüsseln, bräuchten wir deutlich mehr Kapazitäten. Allein mit der Einstellung neuer Mitarbeiter ist es nicht getan.", so Precht weiter und ergänzte: "Als Fazit bleibt, dass wir die Durchführung von Genomanalysen im Auftrag von Pharmaunternehmen nicht vollständig bei uns im Hause durchführen können. Hier sind wir auf zusätzliche Kapazitäten und Know-how angewiesen, um den Anforderungen der Projekte zu genügen und wettbewerbsfähig zu bleiben." Das Sequenzieren von Genomen verlagerte sich somit zunehmend zu kleinen hochspezialisierten Biotechnologiefirmen, die das Entschlüsseln von Erbmolekülen als Dienstleistung anbieten konnten.

Aufgabenstellung 1. Durch welche Eigenschaften zeichnet sich die deutsche Biotechnologiebranche aus? 2. Vor welchen zentralen Problemen stehen viele Unternehmen der deutschen Biotechnologie? 3. Welche Ansätze kommen zur Lösung dieser Probleme in Frage, welche scheiden aus? Begründen Sie!

310

9

Produktionslogistik Airbus A380 *

Der Markt für Großraumflugzeuge Der freie Markt für großräumige Passagierflugzeuge hatte sich im Laufe der Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg immer mehr zu einer Domäne amerikanischer Flugzeughersteller entwickelt. Dies gipfelte letztendlich in der Dominanz von Boeing, insbesondere was die monopolartige Stellung im Bereich der Jumbo-Passagierflugzeuge betraf. Immense F&E-Kosten verhinderten einen Eintritt der kleineren europäischen Hersteller. Deutschland und Frankreich erkannten schließlich, dass sie nur gemeinsam bei Überwindung nationaler Interessen gegenüber dem bis dahin dominierenden amerikanischen Produzenten eine Chance hätten. So wurde im Dezember 1970 die AirbusGruppe als deutsch-französisches Konsortium unter französischem Recht gegründet. Großbritannien und Spanien beteiligten sich später. Die immensen F&E-Kosten konnten so auf die beteiligten Konsortialmitglieder verteilt werden und das finanzielle Entwicklungsrisiko durch staatliche Garantien abgesichert werden. Im Jahr 2001 einigten sich die europäischen Regierungen, das undurchsichtig organisierte Konsortium in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Die Anteilseignerstruktur setzt sich seitdem zu 80 Prozent aus dem deutsch-französischen Luft- und Raumfahrtkonzern EADS und zu 20 Prozent aus der British Aerospace Systems zusammen. Demgegenüber wurde Boeing Company 1916 gegründet und ist für Airbus mittlerweile das einzige ernstzunehmende Konkurrenzunternehmen auf dem Markt für zivile Passagierflugzeuge mit über 100 Sitzplätzen, denn im Verlauf der Jahre wurden durch Insolvenzen und Akquisitionen auch die weiteren amerikanischen Anbieter zusammengeschmolzen. Bei Boeing wurden die Passagierflugzeuge schon immer an nur einem Standort, und zwar in Seattle/USA, produziert. Die Boeing 747 ist das größte Flugzeug der Boeing-Familie und droht dreieinhalb Jahrzehnte nach Verkauf der ersten Modellreihe und rund 1350 verkauften Exemplaren durch den neuen Airbus A380 zum Auslaufmodell zu werden. Angesichts zunehmend verstopfter Flughäfen und Lufträume, verbunden mit einer jährlichen Zunahme der Passagierzahlen um 5%, sah Airbus eine Lösung in einem Flugzeug, das ein Drittel mehr Sitzplätze, 15 - 20% günstigere Betriebskosten und eine längere Reichweite als die Boeing 747-400 hat. Das Nachziehen mit einem vergleichbaren Modell lohnt sich aber für Boeing wohl kaum. Die Entwicklung eines zweiten Großraumflugzeugs, vergleichbar mit dem Airbus A380, scheint für Boeing nicht sinnvoll, da der potenzielle Markt für zwei Modelle dieser Größe nicht groß genug ist. *

Unter Mitarbeit von Thiemo Kohlsdorf und Jörn Laufersweiler

311

9

Produktionslogistik Airbus A380

Airbus schätzt das 250-270 Stück des Airbus A380 abgesetzt werden müssen, bevor der Break-Even-Point für das Unternehmen erreicht ist. Das Angebot eines weiteren ähnlichen Typs würde in jedem Fall einen kostspieligen Verdrängungswettbewerb einleiten, dem enorm hohe Investitionen in die Entwicklung vorausgehen würden. Dabei hat Boeing gegenüber Airbus eine schlechtere Ausgangsposition, die nicht zuletzt auf einem Zeitvorteil hinsichtlich Markteinführung und Weiterentwicklungserfahrung des Airbus A380 beruht.

Logistische Konsequenzen Airbus mit Hauptsitz in Toulouse ist ein globaler Anbieter mit etwa 50.000 Mitarbeitern, davon 17.000 in Deutschland. In Hamburg besteht mit etwa 10.000 Beschäftigten der größte deutsche Standort. Einer der Beschäftigten dort ist Rolf Schneider, verantwortlich für die Produktionsplanung des Airbus A380. An diesem Tag studiert Rolf Schneider in seinem Büro die neuesten Clippings über den A380, die er regelmäßig von der Pressestelle erhält und an seiner Pinwand anbringt. Seit er für die Produktionslogistik des Airbus A380 bei Airbus in Hamburg verantwortlich ist, sammelt er alle Presseveröffentlichungen zu diesem "Flaggschiff des 21. Jahrhunderts". Die brisanten Themen wie Kosten und Zeitdruck bei der Produktion werden ständig in den Medien behandelt. Aber sein Lieblingsthema ist und bleibt die enorme logistische Transportleistung im Produktionsprozess des Airbus A380 quer durch Europa. 2006 soll der erste 280 Millionen $ teure Airbus A380 an Singapore Airlines ausgeliefert werden. Die Airline ist ein Kunde, der extrem hohe Qualitätsanforderungen stellt. Eine NullFehler-Strategie hatte von der Entwicklung bis zur Produktion oberste Priorität, um die Qualitätsanforderungen des Marktes zu erfüllen. Mittelfristig ist das Ziel, einen Airbus A380 pro Woche auszuliefern. Rolf Schneider fischt ein paar der neuen Artikel, die ihn interessieren, heraus und liest sie aufmerksam:

Ein Traum von einem Flieger Größer, schwerer, weiter: mit dem Airbus A380 will das gesamteuropäische Unternehmen Airbus den US-amerikanischen Konkurrenten Boeing überflügeln[…]1. Für Airbus sind die vielen Standorte keineswegs ein Handikap, man spricht vom Fördern einer "europäischen Synergie" im Unternehmen. Auch über die Transportkosten zwischen den 16 Produktionsstätten macht man sich keine Sorgen. "Das sind Peanuts", heißt es dort.

1

312

Vgl. http://www.taz.de/pt/2005/01/18/a0201.nf/textdruck, download 08.04.2005.

Produktionslogistik Airbus A380

Das Jahr des Riesen Was sich da in die Luft erhebt, ist die Krönung einer 1996 begonnenen Entwicklungsarbeit, die als eine der größten technischen Herausforderungen der Luftfahrtgeschichte in Friedenszeiten gilt. Der Airbus A380 entsteht an 16 Orten gleichzeitig, nicht eingerechnet die endlose Adressenliste der Zulieferer in aller Welt. Aus Deutschland und Frankreich kommen die monströsen Rumpfteile, aus England die Flügel, aus Spanien das Höhenleitwerk - sperriger als alles, was Airbus bisher kreuz und quer durch Europa transportierte. Das logistische Netzwerk wächst in eine neue Dimension. Ein Hochseefrachter, die "Ville de Bordeau", bringt die Baugruppen zur Gironde-Mündung. Auf Binnenschiffen schwimmen sie durch Bordeaux bis nach Langon, wo ein abenteuerlicher Landtransport über 200 Kilometer beginnt. Bei Nacht rollen Tieflader auf 96 Rädern über Straßen, die stellenweise verbreitert wurden, und durch Dörfer mit aufgeweckten Bewohnern. Günstiger wäre eine Hafenstadt. Und doch hat sich der küstenferne Industriestandort Toulouse durchgesetzt - und Hamburg bleibt, was es bei Airbus immer war, die Startbahn Nummer 2. 2

Streit um Führung und Standorte Trotzdem herrscht in der Airbus-Welt nicht nur eitel Sonnenschein: Bei EADS, immer wieder als deutsch-französische Zusammenarbeit gepriesen, gab es Ende 2004 Differenzen über die Personalpolitik. Die anstehende Neubesetzung der Doppelspitze war mit heftigen Turbulenzen verbunden: Die deutsche Seite warf ihren französischen Kollegen vor, die Macht über EADS übernehmen zu wollen, während die Franzosen sich beschwerten, dass aus Deutschland nur zweitklassige Kandidaten nominiert würden. 3 Mitten im Studieren der Zeitungsberichte erhält Rolf Schneider einen Anruf seines spanischen Kollegen Raul Ortega aus Getafe, den er seit vielen Jahren persönlich kennt und dessen kompetente Arbeit er sehr schätzt. Das spanische Werk Getafe fertigt die 3,9 Tonnen schweren Rumpfheckspitzen, die an das in Hamburg gefertigte Rumpfteil montiert werden. Der Transport von Getafe nach Hamburg wird mit der Airbus "Beluga"-Frachtmaschine durchgeführt, die extra für das Airbus-Produktionsnetz konstruiert wurde. Ortega hat ein Problem: "Hallo Rolf. Wie Du sicher aus dem SCMSystem schon weißt, sind wir mit der Produktion der für Mittwoch georderten Rumpfheckspitze exakt im Zeitrahmen. Was mir aber Kopfzerbrechen bereitet ist der "Beluga-Transporter", bei dem noch nicht sicher ist, ob er wegen einer unbedingt notwendigen Reparatur rechtzeitig wieder zur Verfügung steht. Die standardisierte Pufferzeit habe ich hierbei schon berücksichtigt. Um nun den Materialfluss auf keinen Fall 2

3

Vgl. http://www.faz.net/s/Rub7EF1D5D213234C6989C9039B54879372/Doc~EF10AEB1842F447 9FBBE395DC70F82319~ATpl~Ecommon~Scontent.html, download 13.04.2005. Vgl. http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID3980682_REF4_NAV,00.html , download 15.04.2005.

313

9

9

Produktionslogistik Airbus A380

zu gefährden, schlage ich vor, prophylaktisch aus der Beluga-Flotte Ersatz zu ordern, damit ein Alternativflug auf Abruf bereit steht. Kannst Du Dich darum kümmern?" Rolf Schneider sagt ohne zu zögern zu: "Um den Zeitrahmen nicht zu gefährden, werde ich sofort aus der Flotte einen Ersatzflieger anfordern. Sollte die Reparatur nicht bis spätestens morgen um 10.00 Uhr abgeschlossen sein, wird umgehend der Ersatzflieger starten. Wir bleiben in Kontakt. Ich werde außerdem die Produktion informieren, dass gegebenenfalls Überstunden angeordnet werden müssen, um einen eventuellen zeitlichen Verzug bei der Lieferung wieder einarbeiten zu können." Im Anschluss tauschen beide noch informell relevante Neuigkeiten für die logistische Planung der kommenden Tage aus. Alle Logistik-Abläufe werden bei Airbus in einem Echtzeitmodell simuliert, um mit Zeitbausteinen eine termingerechte Belieferung der Werke untereinander zu garantieren. Dabei berücksichtigt man auch spezifische Besonderheiten oder Anforderungen, wie zum Beispiel die unbedingt notwendigen Zwischenlagerzeiten von 48 Stunden, bevor die einzelnen Rumpfteile weiterverarbeitet werden können. Aufgrund der unterschiedlichen klimatischen Verhältnisse müssen temperaturbedingte Veränderungen vermieden werden. So wäre ein Unterschied in der Passgenauigkeit der zu montierenden Teile von nur wenigen Millimetern fatal. Zeitpunktgenaue Lieferungen sind vor allem wegen der Größe und dem Wert der großvolumigen Bauteile Grundvoraussetzung für die Kostenreduzierung. Das SCM-System wird bei Airbus eingesetzt und garantiert Montagearbeitern wie auch Managern eine hohe Transparenz über die Betriebsaufläufe und die Möglichkeit, die Personal-, Material- und Maschinenkapazitäten präzise auf den zu erwartenden Bedarf einer Fertigungskette abzustimmen. Es sammelt alle Prozess- und Firmendaten der verschiedenen Standorte und führt sie in einem einzigen Logistiksystem zusammen. Um auf unvorhersehbare Probleme flexibel und schnell reagieren zu können, führte Airbus verschiedene Elemente für einen anpassbaren Produktionsprozesses ein. So wurde zum Beispiel dank der flexiblen Arbeitszeit und Überstundenregelung eine flexible Arbeitsstruktur geschaffen. Rolf Schneider weiß, dass er einen anspruchsvollen Job hat, der in der Logistikplanung keine Schnittstellenprobleme zulässt. Aber das Wissen an der Herstellung eines großen europäischen Flugzeugs mitzuwirken und die spannende und fordernde Aufgabe motivieren ihn jeden Tag.

314

Produktionslogistik Airbus A380

Aufgabenstellung 1. Kennzeichnen Sie Besonderheiten des standortübergreifenden Produktionsprozesses beim Airbus A380. Wie unterscheidet sich die Logistik des Produktionsprozesses vom direkten Konkurrenten Boeing? 2. Zeigen Sie das theoretische logistische Planungskonzept auf, das bei der Fertigung des Airbus A380 angewendet wird. Welche Ursachen führen zur Notwendigkeit eines solchen Konzeptes?

315

9

10 Logistik in Brasiliens Hinterland*

Das westbrasilianische Hinterland Die Sojabohne kann im gemäßigten, subtropischen und tropischen Klima angebaut werden. Ihre Produktion ist in den letzten Jahren stark gestiegen und die Prognosen zeigen eine weitere Steigerung der Weltnachfrage nach diesem Produkt. Soja dient immer häufiger auch als Substitut für tierisches Eiweiß in der Nahrungsmittelindustrie, aber auch in der chemischen und kosmetischen Industrie spielt es eine bedeutende Rolle. Die relativ guten Weltmarktpreise für diese Cash Crops und die Nachfrage führten dazu, dass der Anbau von Soja in Brasilien in den letzten Jahren stark forciert worden ist. Dabei ist brasilianisches Soja aufgrund der Lohnstruktur und Bodenkosten auch ohne Subventionen auf dem Weltmarkt voll konkurrenzfähig. Aber nicht nur aus der Kostensicht ist das brasilianische Soja, das elf Prozent unter dem Weltdurchschnittspreis liegt, wettbewerbsfähig. Brasilianisches Soja ist im Gegensatz zu nordamerikanischen Sojaprodukten noch nicht genmanipuliert. Doch in Südamerika gibt es andere Hürden zu überwinden und die betreffen insbesondere die Logistik von den Anbaugebieten zu den Umschlagplätzen. Die brasilianische Unternehmensgruppe André Maggi ist ein Musterbeispiel dafür, wie mit Hilfe innovativer Logistikkonzepte und optimierten Prozessen Soja aus dem Hinterland Brasiliens in erforderlichen Mengen und termingenau nach Europa gelangen kann. Die Grupo Magio wird heute in zweiter Generation von Blairo Maggi geleitet und ist mittlerweile das weltgrößte Unternehmen für die Produktion und den Vertrieb von Soja. Als Anfang der 90er Jahre führende amerikanische Sojaunternehmen wie Cargill und ADM durch Investitionen in Getreidespeicher, Ölmühlen und Hafenanlagen den brasilianischen Sojamarkt unter sich aufteilten, schienen die Tage für die Unternehmensgruppe gezählt. Auch Blairo Maggi musste zugeben: "Es war nur eine Frage der Zeit, und wir wären aufgekauft worden oder pleite gegangen". Das Unternehmen war bis dahin ein ernstzunehmender Konkurrent auf diesem hart umkämpften Sojamarkt und hatte durch Wirtschaftlichkeit und Qualität einen beachtlichen Marktanteil erlangt. Damit der Marktanteil ausgebaut werden konnte, war es notwendig weitere Sojafelder in Westbrasilien anzulegen. Doch die fehlende Infrastruktur in dieser Region gefährdete die Rentabilität und damit auch die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens. Blairo Maggi betonte: "Mit 110 US Dollar Transportkosten pro Tonne waren wir nicht mehr in der Lage konkurrenzfähig zu bleiben". Das zunächst fehlende *

Unter Mitarbeit von Thiemo Kohlsdorf und Alexander Mazur

317

10

Logistik in Brasiliens Hinterland

Konzept zur Senkung der Betriebskosten pro Tonne Soja hatte auch wichtige internationale Investoren abgeschreckt, das Unternehmen weiterhin finanziell zu unterstützen. Doch dann kam Maggi, der auch Gouverneur der Region Matto Grosso wurde, die rettende Idee. Statt das Soja teuer per LKW den üblichen Weg nach Süden zu transportieren, könnte es über den Amazonas direkt in den Norden verschifft werden. Seine Idee wurde anfangs nur belächelt. Besonders die Konkurrenz bezeichnete ihn als "größenwahnsinnig" und "unrealistisch", zumal sich im Norden kein Frachthafen befand. Kein Investor würde dieses überaus riskante Geschäft finanzieren. Ein paar Jahre zuvor wollten Privatinvestoren eine Eisenbahn errichten, die vom westbrasilianischen Porto Valho nach Süden zur Stadt Sâo Paulo führen sollte. Doch schnell war klar, dass diese 5000 km lange Bahnstrecke mehr kosten würde, als zunächst prognostiziert. Ein 500 km langes Teilstück der Strecke verursachte Kosten in Höhe von 517 Mio. US Dollar. Mit staatlicher Förderung soll die Strecke unter der Gesellschaft Ferronorte fertig gestellt werden, aber erst im Jahre 2010. Schon vor Fertigstellung der Strecke war sich der Sprecher der brasilianischen Bahn José Roberto Walker sicher: "Ferronorte Kunden sind vor allem Handelsunternehmen, die sehr große Frachtausgaben haben. Für sie ist das Gleis unschlagbar". Da die Bahn also vorerst nicht zur Verfügung stand, war die Nordroute weiterhin eine Option. Die Befürchtung, sich bei einem solchen Projekt mit Güterflüssen in Richtung Norden zu übernehmen, hatte auch der Geschäftsführer der André Maggi Group Pedro Jacyr. Aber er dachte auch daran, dass sich die Rentabilität des Unternehmens durch die Senkung der Lagerhaltungs- und Transportkosten pro Tonne und durch die Optimierung der logistischen Kette steigern ließ. Jahre zuvor hatte bereits die brasilianische Regierung angedeutet, dass die inländischen Wasserwege Brasiliens nur zu 20% genutzt würden und somit ein hohes ungenutztes Potential bestünde. Für Projekte, die die Infrastruktur der flachen und kurvenreichen Wasserwege fördern, wurden finanzielle Anreize, wie beispielsweise Subventionen, in Aussicht gestellt. Die André Maggi Group hat sich daher entschlossen den Madeira Fluss im Norden von Porto Valho als Transportweg zu nutzen. Eine überaus wichtige Schlüsselrolle in der logistischen Kette spielt hierbei das Tochter-Unternehmen Hermasa, das 1996 als Joint Venture zwischen der Grupo Maggi und dem Staat Amazonas gegründet wurde. Mittlerweile ist es eine 100%ige Tochtergesellschaft der André Maggi Group.

Die zwei Güterströme Heute wird der Güterfluss der André Maggi Group je nach Anbaugebiet in zwei unterschiedliche Ströme unterteilt, die jeweils eine andere Lager- und Transportlogistik durchlaufen. Die Unternehmensgruppe besitzt und pachtet Sojaanbaufelder in mittleren Westen Brasiliens im Staat Rondônia und im Südwesten im Staat Mato Grosso. Rund 2.000 Arbeitskräfte sorgen für den Anbau und die Ernte auf den unternehmenseigenen Sojafeldern. Die restlichen Sojabohnen werden von rund 800 Farmern der

318

Logistik in Brasiliens Hinterland

Regionen hinzugekauft. Insgesamt wird für das Jahr 2005 der Anbau von 2,8 Mio. Tonnen Sojabohnen prognostiziert, die vergleichsweise ein Volumen von 25 Wolkenkratzern darstellen. Ganze 2,1 Mio. Tonnen Sojaprodukte, die in und um Rondônia angebaut werden, werden zunächst per LKW auf den schlecht befahrbaren Landstrassen in den kleineren Hafen von Porto Velho transportiert. Dort wird die Ladung auf spezielle Lastkähne geladen und durch den Madeira Fluss in die Hafenstadt Itacoatiara in Amazonas gebracht. Der Hafen von Itacoatiara wurde Mitte der 90er Jahre eigens für die André Maggi Group von dem Unternehmen Hermasa errichtet, und wird seit Jahren auch durch die führenden westlichen Sojavertriebsunternehmen wie Cargill und ADM genutzt. Hermasa beschäftigt rund 650 Mitarbeiter, die einen reibungslosen Ablauf der Be- und Entladung, sowie den Transport von Sojaprodukten zu Wasser sicherstellen. Die Tochtergesellschaft der Grupo Maggi ist mit bis zu 200 Meter langen "Flussfrachtern" ausgestattet, die eine Ladekapazität von rund 66 LKWs besitzen. Mit diesen speziell angefertigten Lastkähnen aus Europa liefert das Unternehmen Hermasa eine effiziente Lösung zur Beförderung von Sojaprodukten aus den westlichen Sojaanbaugebieten über den Fluss Madeira bis zum im Norden gelegenen Itacoatiara. Die Transparenz der Güterflüsse wird durch die Unterstützung moderner Informationssysteme sichergestellt. Über GPS-Technologie melden im Fluss schwimmende Messstationen die aktuelle Wassertiefe des unberechenbaren Flusses. Danach wird ermittelt, wie schwer die Schiffe im Hafen von Porto Velho beladen werden dürfen. In kritischen Situationen werden die Lastkähne von Motorbooten begleitet um die Navigation zusätzlich abzusichern. So wird verhindert, dass die insgesamt 48 Barkassen im sich permanent verändernden Flussbett aufsetzten. In Itacoatiara besitzt das zur Grupo Maggi gehörende Unternehmen Amaggi Exports and Imports eine von insgesamt zwei Verarbeitungsstätten, die Soja in Öl und Schrot weiterverarbeiten. Die Sojaverarbeitung vor Ort ist in den letzten Jahren um etwa 30% angestiegen, dennoch wird sie größtenteils in den importierenden Ländern Europas oder in China vorgenommen. Das Soja, Sojaöl und der Sojaschrot werden dann in wenigen Stunden auf Handelsschiffe in Itacoatiara geladen und erreichen binnen 2 ½ Wochen das europäische Festland, wie den Hafen von Rotterdam. Dort wird das Getreide größtenteils auf Transportschiffe geladen und gelangt so auch über den Rhein in die Bundesrepublik Deutschland, das der viertwichtigste Getreidehandelspartner Brasiliens ist. Aber auch in Hamburg, Liverpool oder Brest befinden sich Getreideimporthäfen mit Verarbeitungsindustrien, die mit Sojaprodukten beliefert werden. Die restlichen 700.000 Tonnen Soja werden im Staat Mato Grosso angebaut und durchlaufen einen anderen logistischen Güterweg. Die Ernte wird dort per LKW in die Stadt Cuiabá transportiert, wo sich die Schnittstelle des Gütertransports befindet. In dieser Stadt findet das Verladen riesiger Getreideaufkommen von vielen verschiedenen Produzenten statt, deshalb kommt es hier besonders in der Erntezeit Januar bis April zu Kapazitätsengpässen. Vor allem die teilweise privatisierte Bahn muss neben dem Güterverkehr, auch den Personenverkehr aufrechterhalten. Die Sojabohnen passieren per LKW und Schienenverkehr die ca. 1500 km lange Strecke und erreichen dann den

319

10

10

Logistik in Brasiliens Hinterland

Hafen der Stadt Santos, wo sich ebenfalls ein unternehmenseigener Verarbeitungsbetrieb befindet, in dem rund 500.000 Tonnen Sojabohnen verarbeitet werden. 200.000 Tonnen Sojabohnen, und das verarbeitete Sojaschrot gelangen von Santos über den Ozean nach Rotterdam. Das Öl hingegen wird noch einmal per LKW und Schienenverkehr in die südlich gelegene Hafenstadt Paranaguá weiter transportiert. Dort befindet sich der brasilianische Getreideölhafen. Um diese gewaltige Menge Getreide zwischenspeichern zu können, besitzt und mietet die André Maggi Group in insgesamt 49 Ländern der Welt Getreidespeicher an Zwischenlegerstätten und Endlagern in den Zielhäfen.

Abbildung 10-1:

Logistischer Güterfluss sowie dessen Knotenpunkte

Aufgabenstellung 1. Was sind die wesentlichen Hindernisse beim Aufbau eines reibungslosen logistischen Güterflusses in einer strukturschwachen Region wie Brasilien? 2. Welche Bedingungen gibt das Produkt Soja dem logistischen Konzept vor? 3. Wie versucht die André Maggi Group ihr Logistikkonzept zu verbessern und welche Handlungsalternativen ergeben sich? Warum sind die gewählten Alternativen effizient?

320

11 Privatjets in Europa*

Everything else is just a plane NetJets ist der weltgrößte Anbieter von Privatflugzeug-Dienstleistungen und Flugzeugbeteiligungen. 1984 kaufte Richard Santulli, der noch heute NetJets als Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender leitet, Executive Jet, Inc. und führte 1986 das Teileigentum-Progamm (fractional ownership program) ein, bei dem anteilig Eigentum an einem Privatflugzeug erworben werden kann. 1998 wurde Executive Jet, Inc. von Berkshire Hathaway Company des Investors Warren Buffet gekauft und 2002 in NetJets umbenannt. Nach hohem Wachstum des Unternehmens in den USA wurde 1996 NetJets Europe als Tochtergesellschaft von NetJets gegründet, um die Nachfrage nach privaten Flugdienstleistungen in Europa direkt zu bedienen. Aber das amerikanische Geschäftsmodell des Unternehmens konnte nicht mit dem gleichen Erfolg auf den europäischen Markt übertragen werden und NetJets Europe musste bisher hohe Verluste verzeichnen. Bis zum Jahr 2001 konnte NetJets Europe weniger als 100 Kunden gewinnen. So änderte Santulli 2002 seine bisherige Strategie und setzte Mark Booth als Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzenden von NetJets Europe ein, welcher seitdem für alle Aktivitäten des Luftfahrtunternehmens in Europa Verantwortung trägt. Obwohl NetJets Europe bisher noch nicht die Gewinnzone erreichen konnte, erzielte Booth’ Engagement in Europa erste Erfolge. Im Jahr 2004 waren ständig 60 NetJetsFlugzeuge in Europa stationiert, die Zahl der Kunden ist inzwischen auf über 600 angewachsen, davon 50 deutsche Kunden, und NetJets konnte mehr als 32.000 Flugbewegungen im vergangenen Jahr auf dem europäischen Markt verzeichnen. Im Jahr 2005 strebt Mark Booth ein noch stärkeres Wachstum von NetJets Europe an, um im Folgejahr Gewinne zu erzielen: "Unser Ergebnis 2004 zeigt, dass es für privates Fliegen auch in Europa eine große Nachfrage gibt. Wir konnten im vergangenen Jahr unsere Marktführerschaft weiter ausbauen. Inzwischen sind wir mit unserer Flottenstärke unseren direkten Wettbewerbern um ein Vielfaches voraus. Da immer mehr Unternehmen auf Corporate-Jets zurückgreifen, sehen wir auch in diesem Jahr einem weiteren schnellen Wachstum entgegen. Wir sind überzeugt, dass der europäische Markt noch ein großes Potenzial bietet."

*

Unter Mitarbeit von Ruth Evers und Jan Wirsam

321

11

Privatjets in Europa

Tabelle 11-1: Linienflugdaten der Deutschen Lufthansa im Sommerflugplan 2005

Strecke

Zwischenstopp

Frankfurt – New Nein York (JFK-Airport)

Kopenhagen – Barcelona

Umsteigen in München (Verzögerung durch Umsteigen ca. 1 Stunde 20 Minuten)

Genf – Lissabon

Umsteigen in Frankfurt (Verzögerung durch Umsteigen ca. 1 Stunde 15 Minuten)

Umsteigen in Frankfurt (Verzögerung Hamburg – Madrid durch Umsteigen ca. 1 Stunde 20 Minuten)

Berlin – Moskau

Umsteigen in München (Verzögerung durch Umsteigen ca. 1 Stunde)

Flugzeit (inklusive Zwischenstopp) 8 Stunden 30 Minuten 4 Stunden 20 Minuten

4 Stunden 15 Minuten

4 Stunden 20 Minuten

5 Stunden

Klasse

First-Class

Preis für Oneway-Flug mit der Deutschen Lufthansa 5.249,74 €

Business-Class (Strecke Kopenhagen – München mit PartnerAirline)

808,95 €

Business-Class (Strecke Frankfurt – Lissabon mit Partner-Airline)

1.483,89 €

Business-Class

1.093,11 €

Business-Class

1.050,92 €

Warum keine Kooperation? Anders als in den USA schrecken besonders deutsche Manager noch vor dem dekadenten Image und den hohen Anschaffungskosten von Privatflugzeugen zurück. Die Nachfrage nach First-Class-Flugdienstleistungen besonders auf Langstreckenflügen ist aber in den letzten Jahren angestiegen. Damit es NetJets Europe möglich wird, den europäischen Markt weiter zu erschließen, benötigt das Unternehmen einen geeigneten Partner, der bereits das Segment der Luxus-Flugleistungen bedient. Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist dabei, dass der Kooperationspartner die gleichen hohen Standards an Sicherheit und Service wie NetJets gewährleisten kann. Die Deutsche Lufthansa erfüllt diese Anforderungen und bietet ab April 2005 in Zusammenarbeit mit NetJets als exklusivem Partner das Produkt Lufthansa Private Jet an. Im Rahmen der Kooperation kann der Lufthansakunde mit der Reservierung eines First-Class- oder Business-Class-Fluges vom bzw. zum Flughafen München zusätzlich 322

Privatjets in Europa

Zubringerflüge von bzw. Anschlussflüge zu über 1000 Flughäfen in ganz Europa buchen. Durch das zusätzliche Angebot von Privatflugzeug-Dienstleistungen setzt Lufthansa die eigene Differenzierungsstrategie fort.

Strategische Ausrichtung Signifikant und unerlässlich für den Erfolg von NetJets ist die strikte Ausrichtung der angebotenen Produkte an den Bedürfnissen der relevanten Nachfragergruppen. Richard Santulli erklärt die wichtigen Eckpunkte der Leistungen von NetJets folgendermaßen: "Qualität ergibt sich für unsere Kunden nicht nur durch einen exzellenten Service vor, während und nach ihren Flügen. Vielmehr hat inzwischen die Sicherheit, die wir auf unseren Flügen gewährleisten können, starke Bedeutung erlangt. Gleichzeitig müssen wir ein hohes Maß an Zuverlässigkeit und Flexibilität garantieren und dabei finanzielle Vorteile gegenüber unseren Wettbewerbern erlangen." Da NetJets trotz großer Anstrengungen in den vergangenen Jahren seinen Erfolg aus dem amerikanischen Geschäft nicht auf den europäischen Markt übertragen konnte, ist die Zusammenarbeit mit einem starken Partner in Europa für Richard Santulli ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung: "Durch unsere Zusammenarbeit mit der Deutschen Lufthansa werden wir den Bekanntheitsgrad der Marke NetJets in Europa außerordentlich steigern können. Das Vertrauen, das die First-Class-Kunden gegenüber dem Unternehmen Lufthansa aufgebaut haben, wird sich auch auf NetJets Europe übertragen. Die Erwartungen, die diese Kunden durch die Kooperation auch uns gegenüber aufbauen, werden wir vollständig befriedigen. Daraus ergeben sich natürlich auch positive Wirkungen für unsere eigenen Produkte." Auch Mark Booth betont die Wachstumspläne von NetJets Europe: "Durch die Lieferung von 25 Hawker 400XP in den Jahren 2005 bis 2007 durch Raytheon Aircraft Company unterstreichen wir das außerordentliche Wachstum der Geschäftstätigkeiten von NetJets in Europa. Die Akquisition bestätigt unser Engagement auf dem europäischen Markt und das Vertrauen in unsere Zukunftsaussichten. Mit der Erweiterung unserer Flotte werden wir die Position von NetJets als führenden Anbieter von privaten Flugdienstleistungen in Europa verteidigen."

Unterschiede im Wettbewerb: realisieren und reagieren Den Markt für First-Class-Flugdienstleistungen in Europa dominierten in den vergangenen Jahren Fluggesellschaften wie Deutsche Lufthansa und Air France sowie reine Chartergesellschaften. Erst durch das gestiegene Sicherheitsbewusstsein seit den Terroranschlägen des 11. September 2001, durch die zunehmenden Globalisierung und durch das starke Wirtschaftswachstum in den mit Linienflügen schwer zu erreichen-

323

11

11

Privatjets in Europa

den Regionen Osteuropas hat die Nachfrage nach individuellen, privaten Flugleistungen zugenommen. Um das Teileigentum-Programm zu ergänzen und angemessen auf das Nachfragewachstum zu reagieren, hat NetJets die Produkte NetJets Corporate Card und NetJets Private Jet Card eingeführt. Mark Booth erklärt die Vorteile der Kartenmodelle folgendermaßen: "Die NetJets Corporate Card ist speziell auf die Anforderungen von Unternehmen in Europa zugeschnitten. Ohne große Kapitalanlage und ohne langfristige Bindung ist die Nutzung des NetJets-Programms möglich. Die Private Jet Card ist die ideale Lösung für Privatleute in Europa, die die Vorteile des NetJets Teileigentum-Programms nutzen, aber keine Langfristbindung eingehen möchten. Mit beiden Karten kann durch eine Zahlung ein bestimmtes Kontingent an Flugstunden – ab einem Minimum von 25 Stunden – für einen bestimmten Flugzeugtyp erworben werden. Gleichzeitig ist es möglich, zwischen verschiedenen Flugzeugtypen sowie zwischen dem europäischen und US-Programm zu wechseln."

Wettbewerbsvorteile Anders als den Linienfluggesellschaften, die einen Flug nur als fest gestaltete Leistung verkaufen können, ist es für NetJets möglich, auf die individuellen Wünsche der Kunden einzugehen. Je nach Bedürfnis kann der NetJets-Passagier seine Flugstrecke, seine Flugzeiten und den Flugzeugtyp bestimmen. Und darüber hinaus sind bei Reiseänderungen kurzfristige Anpassungen möglich. Zudem können per Privatflugzeug auch Regionen schnell erreicht werden, die von Linienfluggesellschaften nicht oder nicht direkt angeflogen werden, wie z. B. osteuropäische Städte, die nur über einen Regionalflughafen verfügen. Mark Booth beschreibt die Vorteile von NetJets gegenüber den Linienfluggesellschaften als direkte Wettbewerber wie folgt: "Unsere Kunden werden schnell und fast ausnahmslos ohne Verzögerungen von ihrem Heimatflughafen zum Zielflughafen geflogen. Auch an den großen Flughäfen erfordert die Abfertigung einen wesentlich geringeren Zeitaufwand als bei einem Linienflug. Damit werden unsere Fluggäste produktiver und effizienter. Dabei garantiert NetJets immer ein Höchstmaß an Komfort und Sicherheit. Wichtigstes Kriterium unserer Kunden bei der Entscheidung für NetJets ist aber die gewonnene Souveränität über die eigene Zeit. Mit NetJets sind unsere Passagiere immer schneller am richtigen Ort zur richtigen Zeit, als sie mit einem Linienflug wären und das zu Kosten, die nahe an den Preisen der Linienfluggesellschaften liegen."

324

Privatjets in Europa

Tabelle 11-2: NetJets Corporate Card: Preise und Flugzeuge in Europa

Flugzeugtyp

Passagierkapazität

Maximale Reichweite

Typische Flugstrecke

Preis pro Corporate Card (25 Flugstunden)

Cessna Citation Bravo

Bis zu 7 Passagiere

Bis zu 2.778 km

London City Airport – Cannes

119.000 €

Ideal für kleine Flughäfen

Cessna Citation Excel

Bis zu 7 Passagiere

Bis zu 3.092 km

Frankfurt – Madrid

174.000 €

Großer Gepäckraum

Raytheon Hawker 800XP

Bis zu 8 Passagiere

Bis zu 4.352 km

Manchester – Athen

179.000 €

Dassault Falcon 2000

Bis zu 10 Passagiere

Bis zu 5.463 km

Paris – Moskau

259.000 €

Gulfstream V

Bis zu 14 Passagiere

Bis zu 11.805 km

London – Hong Kong

347.000 €

Bemerkungen

Sehr hohe Reichweite

Kooperation: Chancen und Risiken Eine Kooperation mit dem Unternehmen Lufthansa eröffnet NetJets Europe nicht nur zahlreiche Chancen, sondern birgt auch Risiken. In einem Meeting des Geschäftsführers Mark Booth mit Managern der oberen Führungsebenen von NetJets Europe werden die sich aus der Zusammenarbeit ergebenden Vor- und Nachteile diskutiert. Ray Ruttle, Leiter Qualitätssicherung: "Auch wenn Lufthansa ein Luftfahrtunternehmen mit höchsten Standards an Sicherheit, Service und Komfort ist, kann trotzdem nicht immer sichergestellt werden, dass unsere überdurchschnittlichen Qualitätsansprüche zu jeder Zeit von unserem Partner erfüllt werden. Nur durchschnittliche Qualitätsstandards werden von anspruchsvollen Kunden sofort wahrgenommen und auch auf uns übertragen werden. Deshalb müssen wir der Gewährleistung unserer Qualitätsstandards innerhalb der Kooperation höchste Priorität einräumen."

325

11

11

Privatjets in Europa

Maria Caceres Manzano, Leiterin Prozessmanagement und Streckenplanung: "Die Strecken- und Einsatzplanung der Deutschen Lufthansa ist zwar äußerst effektiv, aber bei Linienflügen sind Verspätungen immer mit einzukalkulieren. Und die Unzufriedenheit von Passagieren mit unserem Partner aufgrund von unpünktlichen Flügen wird automatisch auch auf NetJets übertragen werden." Julie O’Connor, Leiterin Unternehmensentwicklung: "Auch wenn wir mit Lufthansa gemeinsam ein Produkt anbieten, so konkurrieren wir im Bereich Luxus-Flugdienstleistungen, denn auf dem europäischen Markt wollen wir Kunden des gleichen Segments gewinnen wie unser deutscher Partner. Und gleichzeitig kooperiert Lufthansa mit dem Schweizer Anbieter von Privatflugzeug-Dienstleistungen Privat Air. Lufthansa bietet First-Class-Flüge mit Privat Air von den deutschen Flughäfen Düsseldorf und München nach New York und Chicago an. Wir konkurrieren also auch hier im selben Segment." Barry McManus, Leiter Controlling, Finanzen und Rechnungswesen: "Trotz aller Chancen, die aus der Zusammenarbeit mit Lufthansa für NetJets entstehen, müssen wir gewährleisten, dass die durch notwendige Koordination entstehenden Transaktionskosten nicht unverhältnismäßig im Vergleich zu den aus der Kooperation resultierenden Erträgen ansteigen." Mark Booth, Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender: "Trotz aller Bedenken, die sich aus unserem gemeinschaftlichen Engagement mit der Deutschen Lufthansa ergeben, bin ich überzeugt, dass die Chancen für unser Unternehmen die entstehenden Risiken bei Weitem übertreffen."

Aufgabenstellung 1. Stellen Sie die strategische Ausrichtung von NetJets Europe dar. Gehen Sie dabei auf den Zusammenhang von Wettbewerbsstrategie und Kooperation ein. 2. Analysieren Sie die Vor- und Nachteile, die sich für NetJets Europe aus der Kooperation mit der Deutschen Lufthansa ergeben und diskutieren Sie, ob die Zusammenarbeit der beiden Unternehmen als sinnvoll zu erachten ist. 3. Analysieren Sie die finanziellen und nicht-finanziellen Vor- und Nachteile, die sich für Flugpassagiere ergeben, wenn sie mit NetJets anstelle von Linienfluggesellschaften reisen. Stimmen Sie der Aussage von Mark Booth zu, dass die Preise für Flugleistungen von NetJets nahe an den Kosten für Linienflugleistungen liegen?

326

12 Personalmanagement mit Schmerzen *

Martin Schmitt, ein Mitarbeiter von Opel der gerade einen Abfindungsvertrag unterzeichnet hat, schaut sich seine gesammelten Unterlagen zu General Motors (GM) und Opel an. Wie konnte es mit Opel nur soweit kommen, fragt er sich.

Opel im Weltkonzern General Motors Der weltgrößte amerikanische Automobilproduzent GM ist ein Verbund von Firmen, die in Nord-, Südamerika, Europa und Asien/Pazifik etabliert sind (s. Tab. 12-1). Zukäufe, die alle unter dem Namen GM laufen, sind u. a. Chevrolet, Cadillac, Buick etc. In der Weltwirtschaftskrise 1929 übernahm der GM Konzern die bis dahin selbstständige Adam Opel AG aus Rüsselsheim, in den 60ern folgte Vauxhall, in den 90ern Saab. Das Management verfolgte in den 90er Jahren das Ziel, gleiche Fahrzeuge unter verschiedenen Markennamen anzubieten. Die Konzernzentrale in Detroit diente hierbei als Kontrollstation. Eine Gleichteilstrategie i. S. der Produktion eines "Weltautos" sollte die Herstellkosten gering halten und den Gewinn steigern. Jedoch hatte GM im Vergleich mit anderen Wettbewerbern mit dieser Strategie wenig Erfolg. Dies lag u. a. darin begründet, dass es durch wechselnde Vorstände keine Kontinuität im Management gab. Indessen profitierte der Toyota Konzern von dieser Strategie. Mit seiner einheitlichen Entwicklung der Modellpolitik war er nicht nur Vorreiter, sondern gleichzeitig auch ein anzustrebendes Ideal.

Verlustsituation von GM und Opel GM Europe (GME) wies im Jahre 2003 einen Verlust von 504 Mio. Dollar aus, eine Halbierung im Vergleich zum Vorjahr (vgl. Tab. 12-2). Der operative Verlust von Opel hingegen ist von 227 Mio. Euro im Jahr 2002 auf 384 Mio. Dollar im Jahr 2003 angestiegen und hat sich damit fast verdoppelt. Der Umsatz ist um 6,3 Prozent auf 13,9 Mrd. Dollar gesunken. Seit 2004 veröffentlicht GME keine Zahlen mehr für die Adam Opel AG. Die Begründung hierzu lautet, dass das Ergebnis der Firma nicht den Erfolg der Marke Opel in Europa widerspiegle. Es wurden nur noch die Zahlen von GME publi*

Unter Mitarbeit von Jessica Gepel

327

12

Personalmanagement mit Schmerzen

ziert, bei denen Opel eine dominierende Rolle spielt. Opel steuert etwa 80 bis 85 Prozent zum Europageschäft von GM bei, zu dem auch Saab und Vauxhall zählen.

Tabelle 12-1: Der Weltkonzern GM - seine Marken und Beteiligungen. Marken und Beteiligungen in Prozent Vereinigte Staaten

Europa

Cadillac (100)

Opel (100) Deutschland

Buick (100)

Saab (100) Schweden

Chevrolet (100)

Vauxhall (199) Großbritannien

Pontiac (100) Asien/Pazifik Saturn (100)

GMC (100)

Isuzu (12) Japan Subaru (21) Japan Suzuki (20) Japan GM Daewoo (42,1) Südkorea Holden (100) Australien

Quelle: Unternehmen; FAZ-Archiv

Opels Marktanteilsentwicklung Der Marktanteil schrumpfte von 16,5 Prozent im Jahr 1995 auf 10,2 Prozent in den ersten drei Quartalen im Jahr 2004, was einem Verlust an Marktanteil von etwa 61 Prozent in nur neun Jahren entspricht (vgl. Tab. 12-3). Diese rückläufige Entwicklung lässt sich allerdings auch bei Ford und VW beobachten.

328

Personalmanagement mit Schmerzen

Tabelle 12-2: Hohe Verluste von GM in Europa; Operatives Ergebnis in Mio. Dollar 1999

2000

2001

2002

2003

2003

Autogeschäft in Europa 423

-676

-765

9 Monate

-1011

-504

-220

Autogeschäft insgesamt 4312

2010

-549

2004

-397

9 Monate

93

35

713

776

Quelle: Unternehmensangaben

Tabelle 12-3: Marktanteil und Zahl der Neuzulassungen der Adam Opel AG in Deutschland

Marktanteil in % Neuzulassungen in Tsd.

Marktanteil in % Neuzulassungen in Tsd. 1)

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

15,0

14,7

14,6

13,0

13,1

16,5

15,6

15,5

455,6

505,6

575,2

418,3

422,8

547,5

558,4

547,5

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

14,1

13,7

12,2

11,8

10,4

10,3

10,2

525,4

522,9

409,2

395,6

336,4

313,9

247,3

Jan. bis Ende Sept.

1)

Quelle: Kraftfahrtbundesamt

Finanzdienstleistungstochter GMAC Finanzvorstand John Devine weist darauf hin, dass die Gewinne aus dem Autogeschäft unbefriedigend sind. So hat GM im dritten Quartal 2003 mit dem Autoverkauf kaum Geld verdient. Der Nettogewinn von 425 Millionen Dollar war v. a. der Finanzdienstleistungssparte GMAC zu verdanken. Sie hat ihre Vorgaben von 1,7 bis 1,9 Milliarden Dollar mit einem Ergebnis von 2,8 Milliarden Dollar bei weitem übertroffen und damit das Ergebnis für das Gesamtjahr 2003 gerettet.

329

12

12

Personalmanagement mit Schmerzen

Opel kommt in die Krise Betriebsversammlung, 1. Juni 2004 Der Opel-Chef Carl-Peter Forster fasst auf der Betriebsversammlung die Entwicklung der Marktlage von Januar bis Juni 2004 wie folgt zusammen: "Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass wir in den letzten Jahren unsere finanziellen Ziele in Europa nicht erreicht und stattdessen hohe Verluste eingefahren haben. Zwar haben wir Fortschritte in der Kostensenkung gemacht, jedoch belasten der stärkere Preiswettbewerb, ein ungünstiger Produktmix sowie Währungseffekte das Ergebnis. Die Rabattschlachten begleitet von Nullfinanzierungen haben im europäischen Raum einen mörderischen Preiskampf ausgelöst. Mit der Folge, dass die Situation zunehmend der auf amerikanischen Märkten ähnelt. Eine weitere Kostenreduktion ist erforderlich, u. a. deshalb, da die Produktion in Frankreich 25 Prozent, in Spanien 35 Prozent und in Polen 85 Prozent günstiger ist als in Deutschland. Das können wir bei einer Fertigung in Rüsselsheim nur mit einer überragenden Produktivität und Effektivität kompensieren. Auf Grund der niedrigeren Kosten und der besseren Nachfrage findet schon heute eine zunehmende Verlagerung der Autoindustrie in Richtung Osteuropa statt. Wir als Hersteller können hierzulande nur bestehen, wenn eine Kombination von Faktoren stimmt: Näher am Kunden, bessere Qualität, bessere Produktivität. Angesichts der schwierigen Marktbedingungen in Deutschland, ein Aufschwung in der Automobilbranche bleibt bislang aus, die Konsumenten sind weiterhin verunsichert, wird die kritische Lage noch verschärft. In einer funktionierenden Wirtschaft entscheiden psychologische Faktoren zu mehr als 50 Prozent über ein Wachstum. Kritisch anzumerken sind nicht nur die hohen Lohnkosten in Deutschland, sondern auch eine eher lähmende Bürokratie, ein komplexes Steuersystem und teure Sozialversicherungen."

Pressemitteilung, 18. Juni 2004 Der amerikanische Automobilhersteller GM bündelt sämtliche Funktionen im Europageschäft in der Zentrale in Zürich. GME wird künftig der operative Arm des größten Automobilproduzenten der Welt auf dem europäischen Markt sein. Die bisher weitgehend unabhängigen Tochtergesellschaften Opel, Vauxhall und Saab werden damit eng an GME gebunden, was mit einem Bedeutungsverlust der einzelnen Landesgesellschaften einhergeht. Sie sind nicht mehr eigenständig für Schlüsselaufgaben wie Finanzen, Konstruktion etc. verantwortlich. Zudem werde es in Zürich ein europäisches Design-Team geben, das für alle drei Marken arbeiten soll. Dies ist ein Indiz für die bevorstehende Modelloffensive, da das Design, bisher der Entwicklung unterstellt, eine größere Bedeutung bekommt und ein eigenständiger Bereich wird. In der Vergangenheit gab es weniger Modelle u. a. keine modernen Dieselfahrzeuge, wodurch der zunehmenden Ausdifferenzierung des Marktes nicht mehr Rechnung getragen werden konnte. Man will mit der Neustrukturierung die Grundlage schaffen, um die Rückkehr in die Gewinnzone zu erreichen.

330

Personalmanagement mit Schmerzen

Teil einer E-Mail-Korrespondenz zur bevorstehenden Umstrukturierung Fritz Henderson mailt Rick Wagoner, mit dem er nun eine Doppelspitze in Zürich bilden wird:

... Wir können die Verluste nicht mehr stemmen. Es geht vorrangig um die Beseitigung der bestehenden Doppelstrukturen in Europa, die durch die bislang separat geführten Marken Opel, Vauxhall und Saab entstanden sind. Durch die Bündelung werden Entscheidungen beschleunigt und die Organisation insgesamt effizienter, wobei gleichzeitig die Marktanteile steigen werden. Der GM-Chef Rick Wagoner will gerade seine Antwort auf die E-Mail des Kollegen abschicken als der 72-jährige Bob Lutz an seinen Schreibtisch tritt. Im Jahr 2001 ist er zu Opel zurückgekehrt und arbeitet seither als Vize-Präsident, oder genauer VizeChairman, bei GM und agiert damit als zweitwichtigster Mann hinter seinem Freund Wagoner. Er liest die Antwort von Wagoner an Henderson:

Hallo Henderson, wir sind einfach Visionäre! Wir werden eine einzige Unternehmenskultur für ganz Europa entwickeln, alle Töchter von GM werden an einem Strang ziehen, das ist toll. Du übernimmst doch auch den Vorsitz im Opel-Aufsichtsrat in Rüsselsheim? Was hältst du eigentlich von diesem Hans Demant72 als neuen Vorstandschef bei Opel? Lutz ergänzt Wagoner´s E-Mail mit:

Grüzie Henderson, richtig unsere Strategie zielt auf den weltweiten Aufbau flexiblerer Produktionsstrukturen ab. Wir dürfen uns nicht als Sammelsurium von Marken und Beteiligungen in aller Welt sehen, sondern als geschlossene Einheit. Neben der Stärkung der Marken durch neue Modelle müssen wir auch an das Einsparen von Materialkosten denken. Dies wird Folgen für die Beschäftigung haben. Wir müssen eine radikale Kostensenkung erreichen. Die Überlappung der Aktivitäten einzelner Marken zehrt zu stark an der Effizienz und führt zu Verschwendung. Angesichts der harten Konkurrenz müssen wir die Markenund Produktentwicklung global betreiben und den Regionalismus aufgeben. Gruß an deine Frau und die Kinder.

72

A.d.A: Bisher Präsident für den Bereich Entwicklung bei GME

331

12

12

Personalmanagement mit Schmerzen

Flugblatt der IG Metall Betriebsräte an die Mitarbeiter von Opel

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verlagerung der Europazentrale steht so wie es am Freitag, den 11. Juni 2004, auf der Betriebsversammlung vorgestellt wurde. Im Folgenden möchten wir Ihnen nochmals kurz die Kernpunkte und Konsequenzen der Umstrukturierung des GM Konzerns darstellen. Im Kern strebt GM einen globalen Entwicklungsverbund und einen europäischen Fertigungsverbund mit einer markenübergreifenden Produktion an. Die verschiedenen Marken sollen noch stärker Teile und Grundrisse vereinheitlichen und sich aus dem GM-Baukasten bedienen, wobei jedoch die Charakteristik der Marken erhalten bleiben und den regional unterschiedlichen Ansprüchen Rechnung getragen werden soll. GM stellt seine Modellpalette bezogen auf einzelne Marktsegmente völlig neu auf und gliedert sie in acht "Architekturen" bzw. Plattformen, bezeichnet nach Buchstaben aus dem griechischen Alphabet. Hinter dieser Idee steht, dass etwa Prozessabläufe vereinheitlicht und zugleich flexibel ausgestaltet werden. Dadurch sollen Modelle verschiedener Marken wie bspw. Opel Vectra, Saab 9-3 und Chevrolet Malibu vom selben Band laufen können. Bob Lutz nennt dies "global interbuildability". Viele Schlüsselkomponenten eines Autos wie Fahrwerk, Motoren oder Getriebe sollen in ihrer Grundarchitektur für alle Modelle eines Segments gleichermaßen genutzt werden, um so hohe Entwicklungskosten zu sparen und Mengenvorteile zu generieren. Die aus flexibler Produktion, verbesserter Logistik und günstigerem Einkauf resultierenden Einsparungen sollen in die Entwicklung neuer Produkte fließen. Dadurch wird die Modelloffensive beschleunigt und GM kann so stärker in Nischensegmente vordringen. Vorreiter soll dabei das Opel-Werk Rüsselsheim sein, das die Basis und die gemeinsamen Komponenten der Epsilon-Architektur entwickeln soll. Man vermeidet den Eindruck, dass es zu einem nennenswerten Stellenabbau kommen könnte. Falls dies jedoch der Fall sein sollte, können sie auf uns, die IG Metall Betriebsräte, zählen. Wir werden uns weiterhin für Ihre Interessen einsetzen. Alfred Klingel, BR-Vorsitzender • Fridolin Deppert, VKL-Vorsitzender

332

Personalmanagement mit Schmerzen

Sondersitzung des Gesamtbetriebsrats am 2. Juli 2004 Klaus Franz, Gesamtbetriebsrats- und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei Opel bestätigt, dass der drohende Konflikt zwischen Vorstand und Belegschaft der Adam Opel AG vorerst abgewendet ist. Beide Seiten sind an einer einvernehmlichen Regelung für die Standortsicherung der deutschen Werke in Rüsselsheim, Bochum, Eisenach sowie der Komponentenfertigung Kaiserslautern interessiert. Vorstandschef Hans Demant und Personalvorstand Norbert Küpper sowie die Betriebsräte haben sich darauf einigen können, die Betriebsvereinbarung, die u. a. ein übertarifliches Entgeltsystem beinhaltet, nicht zu kündigen. Die Gespräche über einen umfassenden Zukunftsvertrag, der langfristig auf einen Zeitraum bis 2010 ausgelegt werden und die Beschäftigung an den deutschen Standorten sichern soll, gerieten ins Stocken.

Pressemitteilung vom 2. August 2004 Bei dem Automobilproduzenten Opel beginnen die Verhandlungen zwischen Vorstand und Betriebsrat über den Zukunftsvertrag. Das Abkommen soll die Auslastung der drei Werke Rüsselsheim, Bochum und Kaiserslautern mit neuen, innovativen Produkten sichern. Der Vorstand fordert eine Arbeitszeitverlängerung bei spürbaren Gehaltseinschnitten. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Franz kommentiert: "Beide Seiten haben sich den Zwang zur Einigung auferlegt. Nach Kriegsgeschrei ist mir nicht zumute." – offenbar in Anspielung auf die derzeit angespannte Lage beim VW Konzern.

Pressemitteilung vom 6. September 2004 Die Krise der Automobilproduzenten Opel und Saab wird möglicherweise zur Schließung eines ihrer Werke in Europa führen. Aus der GM-Führung heißt es: "Bei uns ist der Druck so groß, wir können nichts mehr ausschließen. Wenn wir uns nicht für einen radikalen Einschnitt beim Saab-Werk in Trollhättan entschließen, ist das OpelWerk in Rüsselsheim gefährdet." Während das Saab-Werk als veraltet gilt, ist das Opel-Werk eines der modernsten und produktivsten Werke der Welt, 750 Millionen Euro wurden in die Anlage, auch als "Leanfield" bezeichnet, investiert. Es hat eine Kapazität von 293.000 Autos. Beide Werke sind derzeit allerdings nicht ausgelastet. Die vergleichsweise rund 15 Prozent höheren direkten Arbeitskosten in Rüsselsheim, die deutschen Schutzgesetze sowie Subventionen für den schwedischen Standort aus europäischen Fördertöpfen werden eine entscheidende Rolle bei der Standortwahl spielen. Dies ist möglicherweise der Anfang weiterer Standortdiskussionen im Zuge der Neuordnung des GM Mutterkonzerns. Die Ausmaße der Umbauarbeiten von GM mit der Bündelung von Entwicklungskompetenzen sowie dem Zwang zum Kostenabbau und ausgelasteten Kapazitäten lassen sich noch nicht erahnen. Hinter den Kulissen wird deutlich, dass vermehrt Regierungen den Konflikt i. S. der eigenen Interessen zu lösen trachten. 333

12

12

Personalmanagement mit Schmerzen

Bericht der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Oktober 2004 Es hätte ein gemütlicher Ausflug nach Tirol werden können. Die Aussicht auf die Berge war ausgezeichnet, die servierten Spezialitäten auch. Nur der Anlass war trist: Die Betriebsrats-Chefs der deutschen Autoindustrie trafen sich am Freitag zum geheimen Krisengipfel in den Alpen. Alle großen Marken waren im BMW-Ferienheim Reutte vertreten, aus der Frankfurter IG-Metall-Zentrale waren die Vorsitzenden Jürgen Peters und Berthold Huber dazu gestoßen. Die Lage in der deutschen Autobranche, darin waren sich die Gewerkschafter einig, ist ernst: Tausende Arbeitsplätze sind bedroht, ganze Standorte in Gefahr. Und überall ist die IG Metall in der Defensive, denn es geht darum die Kosten zu senken, die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Daimler hat den Konflikt mit einem 500-MillionenSparpaket bewältigt, VW steckt mitten im Streit und bei Opel brennt es lichterloh. Fritz Henderson bezeichnet den Zustand von Opel als "völlig inakzeptabel" und fordert ultimativ schwarze Zahlen schon für das Jahr 2005. Indessen hat das OpelManagement eingeräumt, in der Vergangenheit Fehler gemacht und nicht rechtzeitig gegengelenkt zu haben. GME beabsichtigt seine jährlichen Strukturkosten um 500 Millionen Euro zu senken. Dies bedingt den Abbau von bis zu 12.000 Stellen in Europa bis zum Ende des Jahres 2005. Insbesondere Deutschland wird davon betroffen sein, v. a. die Produktion, die Produktentwicklung wie auch ausgelagerte Bereiche. An deutschen Standorten des Opelbauers sollen bis zum Jahr 2008 rund 10.000 Stellen gestrichen werden. Fritz Henderson kommentiert die Stellenstreichung mit: "Da 32.000 der 62.000 europäischen Beschäftigten in Deutschland arbeiten, überrascht es nicht, dass Opel die Hauptlast der Sanierung im Europageschäft tragen muss." Überschattet wird die angespannte Situation durch Streiks im Opel-Werk Bochum. Wie in der Vergangenheit bereits erfolgreich bewiesen, bezwecken diese Streiks die angekündigten Sanierungspläne abzuschwächen. Angesichts der immer größer werdenden Verluste dringt GM auf einen schnellen Personalabbau ("Uns bleibt keine Zeit"). Die zentrale Forderung des Gesamtbetriebsrats und des europäischen Betriebsrats ohne betriebsbedingte Kündigungen und Werkschließungen auszukommen wird zum kritischen Punkt der Verhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite. Ein Geflecht aus mehrjährigen Bestands- und Arbeitsplatzgarantien stellt GM vor unlösbare juristische Probleme. Zudem kann ein Werk nicht ad hoc aus dem Kreislauf ausgeklinkt werden. Die Vernetzung der Produktion von Motoren, Teilen und Autos erfordert eine Neuordnung der Aufgaben, die kurzfristig nicht möglich scheint. Daher wird an Übergangslösungen gearbeitet und die Schließung eines oder mehrerer Werke für 2009/2010 beraten. Dann kann es jeden Standort in Europa treffen. Die Reaktion des Gesamtbetriebsratvorsitzenden Klaus Franz bzgl. der Situation ist folgendermaßen: "Es ist absolut notwendig, dass sich die Regierung einschaltet! GM zerstört mit seinen steten Negativ-Schlagzeilen die Marke Opel. Der Opel-Betriebsrat wirft dem GM-Management nicht unbegründet 'geschäftsschädigendes Verhalten’ vor. In 334

Personalmanagement mit Schmerzen

dem Ringen von GM um mehr Wettbewerbsfähigkeit sehe ich einen Kampf Amerika gegen Deutschland. GM will Europa nicht verstehen!" Damit meint er, dass sich die Amerikaner stärker am Kaufpreis orientieren während Europäer stärker auf Marken und Technik achten. Ebenso in Deutschland scheint sich der Markt in zwei Käufergruppen gespalten zu haben, in preis- und imageorientierte Käufer. Günstige Importeure mit guter Qualität und Anbieter von Premiummarken machen in den letzten Jahren Gewinne. Dies trifft die im mittleren Bereich angesiedelte Adam Opel AG.

Resümee zur Betriebsversammlung am 12. November 2004 Die Verhandlungen bei Opel über das Sparprogramm und die Werkschließungen werden sich nach Ansicht des Betriebsrats noch lange hinziehen. Allerdings hat die Arbeitnehmerseite für das Stammwerk Rüsselsheim Zugeständnisse in Form des Verzichts auf bislang vereinbarte übertarifliche Leistungen, Kürzung von Lohnsteigerungen sowie flexible Arbeitszeiten gemacht. Das geplante Arbeitszeitkorridor-Modell sieht eine Ausweitung des Arbeitszeitkorridors vor. Er liegt künftig zwischen 30 bis 40 Stunden pro Woche - statt 32 bis 38,75 Stunden - und bezieht auch bis zu 15 Samstage pro Mitarbeiter in die Verteilung der Arbeitszeit ein. Dies erfolgt bei einer Bezahlung von durchschnittlich 35 Stunden die Woche. Der Abbau der jährlichen Fertigungskapazität sowie der Leiharbeit und die Absetzung der Nachtschicht werden ebenfalls angegangen.

Zeitungsbericht vom 5. Dezember 2004 Der angesichts der hohen Verluste im Europageschäft beabsichtigte Personalabbau von GM von 12.000 Arbeitsplätzen, beinhaltet rund 10.000 Stellen in den vier OpelWerken in Deutschland: 5.500 Stellen sollen in Rüsselsheim, 3.600 in Bochum und 400 in Kaiserslautern wegfallen; in Eisenach ist bislang keine Stellstreichung geplant. Klaus Franz äußert sich nach einer Marathonverhandlung über zwei Tage zwischen Opel-Vorstand und Gesamtbetriebsrat über den Sanierungsplan wie folgt: "Es ist der schärfste Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte!" Inwieweit die deutschen Standorte bis zum Jahr 2010 wettbewerbsfähig gemacht und damit als Automobilwerke gesichert werden können, ist noch nicht geklärt. Auch die Gefahr von betriebsbedingten Kündigungen ist noch nicht endgültig gebannt. Um diese zu vermeiden greift das Unternehmen zu verschiedenen Maßnahmen. Der größte Teil der betroffenen Beschäftigten soll in sog. Beschäftigungsgesellschaften überführt werden. Durch die Gründung einer solchen Auffanggesellschaft versucht man den Personalabbau abzufedern. Kritische Stimmen bezeichnen solche Gesellschaften als "Parkplatz auf dem Weg in die Arbeitslosigkeit". Etwa 2.000 Beschäftigte sollen in ausgegliederte Unternehmensteile wie der Komponentenfertigung oder der Lagerhaltung untergebracht werden, für die Kooperationen oder Joint Ventures mit anderen 335

12

12

Personalmanagement mit Schmerzen

Firmen gesucht werden. Gespräche mit potentiellen Partnern seien bereits aufgenommen worden. Ebenso sind freiwillige Abfindungen, Vorruhestandsregelungen und Altersteilzeit vorgesehen. Sollten allerdings weniger Opel-Beschäftigte als geplant die sozialverträglichen Angebote akzeptieren, müsste GM weitere Maßnahmen ergreifen um das Sparziel zu erreichen. In Detroit hat man sich nach langem hin und her für eine sozialverträgliche Lösung durchringen können. Die Entscheidung fiel schwer, da ein solches Programm bis zu 1 Milliarde Euro kosten würde, ein Sozialplan für Entlassungen dagegen nur 600 bis 700 Millionen Euro, jedoch würden Auseinandersetzungen mit der Belegschaft in Deutschland und Streiks bevorstehen. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) und Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) haben sich bei einem Treffen mit den Spitzenmanagern der amerikanischen Konzernmutter GM dafür ausgesprochen, alles für den Erhalt deutscher Standorte des Autobauers Opel tun zu wollen.

Zeitungsbericht vom 15. Januar 2005 Die laufende Restrukturierung der GME dürfte zu verminderten Verlusten des Konzerns führen. Das Abfindungsprogramm beim Autobauer Opel macht Fortschritte. Formel für die Berechnung der Abfindungen: Alter mal Betriebszugehörigkeit mal Bruttomonatsentgelt geteilt durch Faktor 25. Abfindungen bis zu 250.000 Euro können sich daraus ergeben; der Durchschnittswert von rund 80.000 Euro pro Mitarbeiter markiert eine Höchstmarke für ein deutsches Wirtschaftsunternehmen. Mehrere hundert Mitarbeiter haben Ende Januar das Unternehmen bereits verlassen. Insgesamt hätten sich rund 6.000 Beschäftigte freiwillig für eine Abfindung gemeldet und eine entsprechende Erklärung oder bereits den Vertrag unterschrieben. Die Entscheidungsfrist läuft noch bis zum 25. Februar. Betriebrat und IG Metall kritisieren allerdings, dass Opel ältere Mitarbeiter mit hohen Abfindungen aus Kostengründen nicht frei gibt. Die Begründung von Opel hierzu lautet, dass gerade im Ingenieurbereich manche Mitarbeiter nicht gehen könnten, weil sie diese Fachleute benötigen würden. Auch im Hinblick auf einen wirtschaftlichen Aufschwung ist es wichtig, Mitarbeiter aus dem bestehenden Personalüberhang zwischenzeitlich sinnvoll zu beschäftigen und für eine andere Tätigkeit einzusetzen. In diesem Zusammenhang wird der Arbeitskräfteverleih an Fremdfirmen diskutiert.

336

Personalmanagement mit Schmerzen

Aufgabenstellung 1. Nenne Sie die wesentlichen Gründe für die schwierige Marktlage der Adam Opel AG. 2. Mit welcher Strategie versucht GM der Krise entgegenzuwirken? Was sind die Konsequenzen dieser Strategie? 3. Wie beurteilen Sie den Einfluss des GM Konzerns auf die Adam Opel AG? Ordnen Sie Ihre Aussagen in einen theoretischen Bezugsrahmen ein! 4. Welche Gründe sprechen dafür, die Beschäftigung bei der Adam Opel AG langfristig zu sichern? Weshalb erweist sich ein Personalabbau als problematisch? 5. Mit welchen "kreativen" Maßnahmen kann die Adam Opel AG die langfristige Beschäftigungssicherung angehen?

337

12