Katarina Schritt Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen
VS RESEARCH
Katarina Schritt
Ernährung im Kont...
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Katarina Schritt Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen
VS RESEARCH
Katarina Schritt
Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen Analyse zur Diskursivität gesunder Ernährung
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Udo Kelle
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17727-4
Geleitwort
Frauen sind eher unzufrieden mit ihrer körperlichen Erscheinung als Männer, sie machen häufiger Diäten und fangen damit oft schon als Kind an; schließlich entwickeln sie auch häufiger Essstörungen als Männer. Aber Frauen ernähren sich auch gesünder, essen mehr Obst und Gemüse und weniger fettes Fleisch. Frauen, mit anderen Worten, essen anders als Männer. Solche durch sozial- und ernährungswissenschaftliche Studien gut belegten Sachverhalte werden gern als Argumente für eine natürliche Ungleichheit zwischen Mann und Frau herangezogen. So, wie das männliche Gehirn angeblich besser mit Parklücken zu recht kommt als das weibliche; so, wie Thesen über geschlechtsspezifische Erziehung in Alltagsgesprächen sofort mit anekdotischem Wissen gekontert werden über die kleine Nichte, die so viel lieber mit Puppen spielt als ihr Bruder; so scheint eine natürliche Salataffinität des weiblichen Geschlechts zur Idee naturbedingter Geschlechterdifferenzen zu passen. Leider verirrt sich die Kritik an solch naiven Biologismen oft in Sackgassen, wenn sie die Existenz biologischer Unterschiede insgesamt leugnen will und dann unsinnige Debatten über die (empirisch ja gar nicht zu entscheidende) Frage provoziert, wie sich der Mensch denn eigentlich im Naturzustand, ohne Gesellschaft, verhalten würde. Ein solcher Grundsatzstreit lenkt von der eigentlichen Problematik jedoch nur ab – denn jede vorurteilsfreie Betrachtung historischer Quellen zeigt sofort, wie stark unsere Vorstellungen über typisch weibliches und männliches Verhalten kulturellem Wandel unterworfen sind. Allein aus diesem Grund sollte klar sein, dass ein vorschneller Verweis auf biologische Unterschiede die Frage nach gesellschaftlich konstituierten Ungleichheiten abschneidet und Geschlechterhierarchien stabilisiert und legitimiert.
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Geleitwort
In jüngerer Zeit wurden eine Reihe von Studien vorgelegt, die den gesellschaftlichen Diskurs über gesunde und richtige Ernährung soziologisch untersuchen und dabei die subtilen und vielfach unbemerkten gesellschaftlichen Normierungen in den Blick rücken, die die öffentliche Rede über ein vermeintlich so natürliches Thema wie Essen bestimmen. So lassen sich etwa hinter den gegenwärtigen Mediendiskursen über die dicke Unterschicht, die ihre Kinder mit fast food voll stopft und damit das Gesundheitswesen belastet, Prozesse der industriegesellschaftlichen Disziplinierung sichtbar machen, die den Individuen eine fortwährende Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle des eigenen Körpers auferlegen. Gerade Frauen, die mit sich beständig kulturell wandelnden, dabei von Jahrzehnt zu Jahrzehnt strenger werdenden Attraktivitäts- und Schlankheitsidealen konfrontiert sind, sind dem in besonderen Maß ausgesetzt. Wie massiv das eiserne Gehäuse gesellschaftlicher Normierung gegenwärtig ist, zeigt etwa die mediale Inszenierung sozialer Kontrolle in Castingshows zur Selektion perfekter Models oder die als wohlmeinende Therapiebemühung nur oberflächlich getarnte öffentliche Demütigung übergewichtiger Frauen und Mädchen im deutschen Nachmittagsfernsehen. Konsequenterweise werden Essstörungen, mit denen manche Mädchen und jungen Frauen die Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Anforderungen und Angebote lösen (in der Zwickmühle zwischen sozialen Zwängen, den gerade aktuellen Idealbildern des weiblichen Körpers zu entsprechen einerseits und den aufdringlichen Angeboten der Konsumgesellschaft andererseits), nur als individuelles psychologisches und therapeutisches Problem wahrgenommen, weil öffentliche Diskurse gegenwärtig blind sind für die gesellschaftliche Bedingtheit des Essverhaltens. Soziologische Aufklärung über solche Prozesse hat unsere Gesellschaft bitter nötig. Das vorliegende Buch leistet hierzu einen hervorragenden Beitrag. Udo Kelle
Vorwort
Stimmt es eigentlich, dass Männer und Frauen sich auf unterschiedliche Weise ernähren? Essen Frauen lieber Salat und Männer lieber Fleisch? Und wenn ja, warum ist das so? Die Fragen zur unterschiedlichen Ernährung der Geschlechter werden in Zeitungsartikeln, Fernsehshows oder auch wissenschaftlichen Publikationen zur Gesundheit der Bevölkerung in der Regel auf biologische Unterschiede der Geschlechter zurückgeführt. Anders als im Bereich der Kleidung oder auch der Arbeitsteilung liegen hier die biologischen Zusammenhänge vermeintlich auf der Hand und werden kaum hinterfragt. Der soziologische Blick auf dieses Feld lässt jedoch schnell vermuten, dass Ernährung nicht losgelöst von gesellschaftlichen Phänomenen betrachtet werden kann. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Hierarchisierung der Geschlechter in der Ernährung spielt und welche Rückwirkungen dies auf unsere Rollenbilder hat. Diese und weitere Fragen waren ausschlaggebend für meine Diplomarbeit, die 2009 an der Philipps-Universität Marburg eingereicht wurde und die Grundlage für dieses Buch liefert. Es geht darum, der dominanten Strategie der Biologisierung von Ernährungsweisen etwas entgegenzusetzen und soziokulturelle Einflussfaktoren auf das Ernährungsverhalten zu diskutieren. Also: Welche Ansätze können die unterschiedlichen Ernährungsweisen von Männern und Frauen erklären? Und welche Wirkungen haben diese auf die Konstruktion von Geschlechterrollenbildern? Wie vermutlich alle Diplomarbeiten ist auch diese nicht ohne Irrungen und Wirrungen entstanden. Nicht immer war ich mir sicher, wohin die Arbeit geht und welche Bedeutung dem Thema Ernährung überhaupt beizumessen ist. Das ich diese intensive Phase trotzdem so gut überstanden habe und am Ende dieses
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Vorwort
Buch vorlegen kann, habe ich meinem wissenschaftlichen Umfeld, meiner Familie und vor allem meinen FreundInnen zu verdanken. Sie haben mich nicht nur in vielerlei Hinsicht bei Diskussionsprozessen und Korrekturschritten kritisiert und gleichzeitig in meinem Vorhaben bestärkt, sondern mussten während dieser Zeit meine Hochs und Tiefs ertragen und waren mir dabei vor allem eine große emotionale Unterstützung. Katarina Schritt
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort ............................................................................................................ 5 Vorwort................................................................................................................ 7 1
Einleitung.............................................................................. 11
2
Diskursivität von 'gesunder' Ernährung............................ 17
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
Diskurstheorie ........................................................................ 17 Was ist ein Diskurs?............................................................... 18 Das Verhältnis von Diskurs und Handeln .............................. 20 Die Rolle von Macht im Diskurs............................................ 21 Kernpunkte der Diskursanalyse ............................................. 25
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
Ernährungsdiskurs.................................................................. 26 Gibt es einen Ernährungsdiskurs? .......................................... 26 Inhaltliche Ausgestaltung des Ernährungsdiskurses .............. 33 Soziokulturelle Einflussfaktoren auf das Ernährungsverhalten von Individuen ..................................... 46
2.3
Zwischenfazit ......................................................................... 50
3
Doing Gender im Ernährungsverhalten............................. 53
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
Geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten ....................... 53 Allgemeine Ernährungstrends ................................................ 54 Ernährungsverhalten nach Geschlecht ................................... 55 Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Ernährungsempfehlungen....................................................... 59
10
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Inhaltsverzeichnis
Geschlechtliche Konstruktionsprozesse ................................. 61 Produktion von Geschlecht durch Handeln............................ 61 Herstellung körperlicher Differenzen durch Handeln ............ 64 Theorien der Zweigeschlechtlichkeit und der Pluralität von Geschlecht oder was ist 'natürlich' am Geschlecht? ........ 66 Hierarchisierung der Geschlechter ......................................... 68 Problematik der Reproduktion in der Geschlechterforschung........................................................... 70 Erklärungsansätze zum geschlechtsspezifischen Ernährungsverhalten .............................................................. 71 Erste Dimension: Körpernormierungen und die Wirkung des Schlankheitsideals............................................................ 72 Zweite Dimension: Geschlechtliche Arbeitsteilung ............... 85 Dritte Dimension: Herstellung von Geschlechtsidentität durch Ernährungsverhalten .................................................... 96 Zwischenfazit: Zusammenhang von Körperbildern, geschlechtlicher Arbeitsteilung und der Bildung geschlechtlicher Identität...................................................... 113
4
Fazit ..................................................................................... 117
5
Literaturverzeichnis........................................................... 123
6 6.1 6.2
Anhang ................................................................................ 129 Errechnung des Body-Mass-Index (BMI) ............................ 129 Reduktion des Ernährungsberichtes ..................................... 130
1 Einleitung
Das Thema Ernährung ist in unserem Alltag ständig präsent. Täglich werden wir in den Medien mit diesem Thema konfrontiert. Die Schlagzeilen reichen von „Schlank in den Sommer“ über „Pestizide in Obst und Gemüse“ bis hin zu „Schlemmen steigert Chance auf Jungen“. Seriösere Quellen sprechen von einem zunehmenden Problem, dass immer mehr Erwachsene und Kinder an Übergewicht leiden. Dabei stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass Ernährung in unserem Alltag so allgegenwärtig ist und trotzdem knapp 60 Prozent der Bevölkerung übergewichtig sind (vgl. Max Rubner-Institut 2008a: 81). Das Hauptproblem sei, dass in unserer Gesellschaft mangelnde Bewegung und ein zu hoher Kalorienverbrauch zusammenkommen. Konkret heißt das: Wir sitzen zu viel herum und essen dabei zu viel und zu 'ungesund'. Ernährung hat damit eine neue Bedeutung bekommen1, die sich zunehmend auf die Frage 'was ist denn eigentlich gesunde Ernährung' zuspitzt. Dieser Frage widmen sich (vor allem) Medizin, Ernährungswissenschaften und Teile der Politik, denn Übergewichtigkeit wird mit vielen gesundheitsbedingten Erkrankungen wie z. B. Diabetes Typ II und Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Verbindung gebracht. Die Frage um 'gesunde' Ernährung wird dabei vor allem vor dem Hintergrund individueller Zufriedenheit und kollektiver Finanzierung gesehen, denn wer krank ist, der kann nicht arbeiten und verbraucht gleichzeitig Gelder aus dem Gesundheitssystem. Lenore Kohlmeier berechnete bereits 1990 die Kosten ernährungsabhängiger Krankheiten auf ein Drittel aller Kosten im gesamten Gesundheitswesen mit insgesamt
1 Bis zur industriellen Revolution wurde Ernährung hauptsächlich im Fokus einer ausreichenden Nahrungsversorgung betrachtet. Vergleiche Kapitel 2.2.1.
K. Schritt, Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen, DOI 10.1007/978-3-531-92692-6_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung
42,7 Milliarden Euro (vgl. Kohlmeier 1993: 326)2. Das Thema Ernährung wird weithin als ein hauptsächlich naturwissenschaftliches und medizinisches Thema behandelt. Die Debatte um eine 'krankende' Gesellschaft führt zu der Frage, was denn eigentlich 'gesunde' Ernährung ausmacht. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung stellt mit ihren Referenzwerten und Nährwerttabellen eine Grundlage für die Diskussion um 'gesunde' Ernährung. Mit ihren Veröffentlichungen, u. a. dem alle vier Jahre erscheinenden Ernährungsbericht, findet sie weithin Gehör und wird rege rezipiert. Der erste Teil dieses Buches setzt sich mit der Frage auseinander, was unter dem Begriff 'gesunder' Ernährung zu verstehen ist. Gibt es überhaupt eine allgemeingültige Definition? Dabei soll im Fokus stehen, welche AktuerInnen3 bzw. Diskursstränge bei der Definition um 'gesunde' Ernährung eine besondere Rolle spielen. Die Frage, was 'gesunde' Lebensmittel sind und welche Lebensmittel besser nur in Maßen verzehrt werden sollten, können die meisten Menschen relativ einfach beantworten. Es zeigt sich jedoch, dass die wenigsten Menschen nach diesem Wissen handeln. Wenn wir aber wissen, wie wir uns 'gesund' ernähren könnten, warum gibt es dann immer mehr ernährungsbedingte Krankheiten und warum nimmt die Anzahl der Übergewichtigen stetig zu? Die Ernährungswissenschaften verorten sich maßgeblich im Bereich der Ernährungsphysiologie, und das, obwohl inzwischen bekannt ist, dass Ernährung eben nicht nur von biologischen Faktoren abhängt. Neben dem Wissen um 'gesunde' Ernährung nehmen vielfältige soziale Faktoren Einfluss auf unser Ernährungsverhalten. Dabei sind Einflussfaktoren wie Alter, Schichtzugehörigkeit und Geschlecht zu nennen. Uta Meier beschreibt diese Diskrepanz folgendermaßen: 2 Je nach Definition und Berechnungsansatz werden die Kosten für die ernährungsbedingten Krankheiten sehr unterschiedlich geschätzt. Eine weitere Berechnung ergab 1994 Gesamtkosten von 103 Milliarden DM (vgl. Bayer u. a. 1999: 42). 3 Ich bediene mich in dieser Arbeit der geschlechtergerechten Schreibweise mit Binnen-I. Dazu nehme ich ausschließlich den weiblichen Artikel, weil dies besser lesbar ist und zudem das 'weibliche' und nicht wie üblich das 'männliche' Geschlecht hervorhebt. Diese Vorgehensweise halte ich für sinnvoll, da unsere Gesellschaft nach wie vor durch Differenzen zwischen Männern und Frauen geprägt ist, die Frauen ökonomisch und sozial schlechter stellen.
1 Einleitung
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„Die inzwischen durchaus beeindruckende Zahl an naturwissenschaftlichen Befunden über die Nährstoffbedürfnisse des Menschen (…) steht allerdings in einem kaum zu akzeptierenden Gegensatz zur vergleichsweise dürftigen Erkenntnislage über die sozio-kulturellen Einflussfaktoren der menschlichen Ernährung.“ (Meier 2002: 57)
Die Suche nach soziokulturellen Ausrichtungen der Forschung macht große Lücken der Analyse des Ernährungsverhaltens deutlich. Meistens werden die Unterschiede nur deskriptiv dargestellt, anstatt nach den Ursachen zu forschen. Bei der Analyse werden die Ernährungsgewohnheiten zwar immer wieder nach verschiedensten Kategorien aufgeschlüsselt, es kommt aber selten zu einer weiterführenden Interpretation. Auch spielen diese Faktoren in der Ernährungsberatung kaum eine Rolle. Ein Einflussfaktor fällt bei der Untersuchung von spezifischen Essstilen immer wieder ins Auge: das Geschlecht. Hierbei lässt sich eine doppelte Leerstelle ausmachen. Zum einen fehlt den Ernährungswissenschaften noch immer eine ausreichende Forschungsperspektive auf die Kategorie Geschlecht. Zum anderen werden Themen rund um Ernährung in der Geschlechterforschung immer noch randständig behandelt4 (vgl. ebd.: 60). Die Kategorie Geschlecht ist besonders interessant, weil bei unterschiedlichen Ernährungsweisen von Männern und Frauen, anders als z. B. bei schichtspezifischen Ernährungsweisen, schnell auf biologische Differenzen zwischen den Geschlechtern hingewiesen wird. Häufig gibt es neue populärwissenschaftliche Bücher, die auf den 'natürlichen' Unterschied zwischen Männern und Frauen verweisen. Ein besonderes prägnantes Beispiel ist das bereits viel sagende Buch „Frauen brauchen Schokolade“ von Debra Waterhouse. „Frauen brauchen nicht nur Zucker zur Beruhigung, sondern auch Fett, weil es ihre Lebensgeister hebt.“ (Waterhouse 1995: 12). Waterhouse beschreibt, dass die vermeintliche Vorliebe von Frauen für Süßes auf die körperlichen Bedürfnisse des weiblichen Organismus zurückzuführen ist. Die verschiedenen Veröffentlichungen haben gemeinsam, dass sie auf 4 Bestehende Untersuchungen beziehen sich vor allem auf die Betroffenheit von Frauen von Ernährungsarmut, die Geschlechterdifferenzen bei Essstörungen oder im Diätverhalten (vgl. Meier 2002). Ich möchte in meiner Arbeit jedoch das vermeintlich 'normale' und nicht das pathologisierte Ernährungsverhalten der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in den Blick nehmen.
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1 Einleitung
den 'natürlichen' Unterschied zwischen Männern und Frauen als Ursache für die Ernährungsdifferenzen verweisen. Dieser Zuschreibung möchte ich entgehen, indem ich in meiner Arbeit die Theorien der Geschlechterforschung und der Ernährungswissenschaften verbinde, um der Frage auf den Grund zu gehen, welche Aspekte das geschlechtsspezifische Ernährungsverhalten erklärbar machen. Dabei stehen vor allem die soziokulturellen Aspekte der Ernährung im Mittelpunkt, da aus geschlechtertheoretischer und auch ernährungswissenschaftlicher Perspektive die vermeintlich 'natürlichen' Unterschiede zwischen den Geschlechtern durchaus umstritten sind. Die Ernährungswissenschaft mag zwar eindeutig festlegen, dass Frauen z. B. weniger Kalorien brauchen als Männer. Aus dekonstruktivistischer Sicht lässt sich jedoch die Frage stellen, was es mit den Kategorien Mann und Frau auf sich hat und ob hier nicht Konstruktionsprozesse eine größere Rolle spielen als biologische Tatbestände. Zudem bleibt zu klären, welche anderen Faktoren eine bedeutsamere Rolle spielen im Einfluss auf das Ernährungsverhalten. Die grundlegende These dieses Buches geht davon aus, dass Ernährungsverhalten nicht aus rein physiologischen Gründen erklärbar ist und deshalb biologische Erklärungsansätze schnell an ihre Grenzen stoßen. Die Analyse dieser Studie beschränkt sich auf die Bundesrepublik Deutschland. Zusätzlich werden partiell Untersuchungen aus vergleichbaren westlichen Industriestaaten mit einbezogen. Die Eingrenzung auf die Bundesrepublik Deutschland erleichtert die Analyse, da andere Einflussfaktoren, wie die Ernährungssicherheit in sogenannten Entwicklungsländern, ausgeklammert werden können. Somit ist es möglich, die Entwicklungen, die spezifisch für Deutschland prägend sind, näher zu beleuchten. Der erste Teil dieses Buches nimmt die Frage nach der Definition von 'gesunder' Ernährung in den Blick. Ich gehe davon aus, dass der Begriff 'gesunde' Ernährung in einen gesellschaftlichen Diskurs um Ernährung einzubetten ist. Als erstes werde ich dafür eine theoretische Basis schaffen, indem ich kläre, was ein Diskurs ist und wie Diskurse unser Handeln beeinflussen (Kapitel 2.1). Daran anschließend will ich der Frage näher auf den Grund gehen, ob im Bereich Ernährung von einem Diskurs gesprochen werden kann (2.2.1). Ausgehend von der
1 Einleitung
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theoretischen Diskussion nehme ich an, dass dies der Fall ist. Es stellt sich die Frage, woran diese Einordnung festzumachen ist und welche Charakteristika den Diskurs beschreiben. Im Weiteren soll näher untersucht werden, wie der Diskurs um 'gesunde' Ernährung ausgestaltet ist und welche AkteurInnen Einfluss auf den vorherrschenden Diskurs nehmen. An dieser Stelle werde ich beispielhaft den Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung heranziehen, um zu analysieren, wie der Diskurs um Ernährung in der Bundesrepublik Deutschland ausgestaltet ist (2.2.2). Zuletzt gilt es zu klären, welche soziokulturellen Faktoren Einfluss auf unser Ernährungsverhalten nehmen und wie diese im Ernährungsbericht berücksichtigt werden (2.2.3). In Kapitel 3 werde ich Geschlecht als Einflussfaktor auf das Ernährungsverhalten näher untersuchen. Dabei gilt es zunächst zu klären, wie die vermeintlichen Ernährungsunterschiede zwischen Männern und Frauen ausgestaltet sind (3.1). Anschließend werde ich untersuchen, was es mit dem Begriff doing gender auf sich hat (3.2), um der Frage, wie die unterschiedlichen Ernährungsweisen von Frauen und Männern zustande kommen, auf den Grund zu gehen. Dabei steht im Mittelpunkt, welche Erklärungsfaktoren herangezogen werden können, um zu bestimmen, ob und wenn ja warum Frauen sich 'gesünder' ernähren als Männer. Um diese Frage beantworten zu können, werde ich drei Dimensionen analysieren (3.3). Zunächst gehe ich der Behauptung nach, dass Frauen sich 'gesünder' ernähren, weil sie sich stärker an dem gesellschaftlichen Schlankheitsideal orientieren (3.3.1). Die zweite Dimension geht davon aus, dass Frauen noch immer für die Hausarbeit zuständig seien und deshalb mehr Wissen über Ernährung haben. Dieses Wissen befähige sie, sich besser zu ernähren als Männer (3.3.2). Die dritte Dimension beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Ernährungsverhalten auf die Identitätsbildung von Männern und Frauen auswirkt (3.3.3). Anschließend ist zu klären, wie die drei Dimensionen aufeinander einwirken. Dabei werde ich prüfen, welche Bedeutung die Einflüsse für unser Ernährungsverhalten haben und ob das Ernährungsverhalten wiederum geschlechtliche Konstruktionsprozesse beeinflusst (3.3.4).
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1 Einleitung
Ich werde in diesem Buch der Fragestellung nachgehen, welche Faktoren unser Ernährungsverhalten beeinflussen. Meine Hauptthese ist, dass Ernährung nur sehr bedingt durch biologische Faktoren erklärbar ist und stattdessen vor allem soziokulturelle Einflüsse für unser Ernährungsverhalten prägend sind. Mein Fokus liegt dabei auf den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Ernährung. Ich möchte klären, welche Prozesse unser Ernährungsverhalten beeinflussen und wie dieses Verhalten auf die Konstruktion von Geschlecht wirkt.
2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
2.1 Diskurstheorie Schaut man sich den Begriff Diskurs an, so trifft man schnell auf einige Schwierigkeiten. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen und Bedeutungen des Diskursbegriffs. Schon die alltagsweltlichen Definitionen sind sich keineswegs einig. Im englischen Sprachraum wird der Begriff Diskurs mit dem Gespräch gleichgesetzt, wohingegen im deutschen Sprachraum ein Diskurs als alles öffentlich Gesagte und Geschriebene zu einem bestimmten Thema aufgefasst wird. Nach Reiner Keller taucht der Begriff Diskurs in der deutschen Alltagssprache meistens auf, „um damit ein öffentlich diskutiertes Thema (z.B. der Hochschulreformdiskurs), eine spezifische Argumentationskette (z.B. 'der neoliberale Diskurs') oder die Position/Äußerung eines Politikers, eines Verbandssprechers (etwa 'der Gewerkschaftsdiskurs') usw. in der aktuellen Debatte zu bezeichnen, zuweilen auch, um von organisierten Diskussionsprozessen zu sprechen.“ (Keller 2007: 13)
Auch die WissenschaftlerInnen der verschiedenen Disziplinen sind sich alles andere als einig, was dieser Begriff eigentlich aussagen soll. Nicht nur zwischen den Disziplinen, sondern auch innerhalb eines Faches gibt es VertreterInnen unterschiedlicher Diskursbegriffe (vgl. Kajetzke 2008: 29 f.). Ich möchte mich im Folgenden einem Diskursbegriff nähern, der die theoretische Grundlage für die anschließende Analyse des Ernährungsdiskurses bieten soll. Beschäftigt man sich mit dem Begriff Diskurs, so stößt man unumgänglich auf Michel Foucault. Der französische Historiker und Philosoph hat den Begriff Diskurs im anglo-amerikanischen, französischen und deutschen Sprachraum K. Schritt, Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen, DOI 10.1007/978-3-531-92692-6_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
maßgeblich geprägt und gilt als der Begründer der Diskursanalyse und sogar als der meist rezipierte Geisteswissenschaftler (vgl. ebd.: 19). Ich werde mich an der Theorie von Foucault und deren Weiterentwicklungen orientieren, um zu einem eigenen Diskursbegriff zu kommen. Bei der Bearbeitung des Diskursbegriffs von Foucault werde ich berücksichtigen, dass er seine Theorie mit den Jahren weiterentwickelt hat und sich teilweise sogar widerspricht5. Die folgenden Ausführungen sind demnach als eine Diskurstheorie in Anlehnung an Foucault zu verstehen, da viele seiner Grundthesen aufschlussreiche Ansätze liefern, diese jedoch nicht immer klar definiert und abgrenzbar sind.
2.1.1 Was ist ein Diskurs? Diskurse kann man bezeichnen als institutionell gefestigte Redeweisen, die das Handeln von Individuen beeinflussen. Keller kommt durch seine Beschäftigung mit Foucault zu folgender Begriffsdefinition: „Der Begriff 'Diskurs' bezeichnet strukturierte und zusammenhängende (Sprach-) Praktiken, die Gegenstände und gesellschaftliche Wissensverhältnisse konstituieren.“ (Keller 2008: 186)
Diese Begriffsdefinition von Diskurs legt den Schwerpunkt auf die Frage, welches Wissen in unserer Gesellschaft eine Rolle spielt und damit das Handeln von AkteurInnen strukturiert und beeinflusst. Eben diese Frage ist grundlegend in der Betrachtung von Ernährungsverhalten. In diesem Buch steht die Frage im Mittelpunkt, welches Wissen das Ernährungsverhalten von Individuen beeinflusst: Sind es biologische Voraussetzungen der Körper oder wird das Ernährungsverhalten durch diskursive, also gesellschaftliche Einflüsse geprägt? Ich gehe von der grundlegenden Annahme aus, dass Diskurse, also institutionell gefestigte 5 In einem Interview mit Lucette Finas räumt Foucault zum Beispiel ein: „Ich glaube, daß ich in jener 'Ordnung des Diskurses' zwei Konzeptionen vermischt habe oder vielmehr auf eine Frage, die mir legitim scheint (die Verknüpfung der Diskurstatsachen mit den Machtverhältnissen), eine inadäquate Antwort vorgeschlagen habe.“ (Foucault 1978a: 104)
2.1 Diskurstheorie
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(Sprach-) Praktiken, das Handeln von Individuen beeinflussen. Konkreter heißt das, dass Individuen nicht losgelöst von bestehenden Normen und historisch gewachsenen Denk- und Handlungsweisen existieren. Diskurse beeinflussen und regulieren Wissensbestände und nur auf dieser Grundlage können Individuen handeln. Kurz gesagt: Diskurse beeinflussen unser Wissen über mögliche Handlungsoptionen. Damit beeinflussen Diskurse unser Handeln (über Wissensbestände), schreiben es aber nicht direkt fest. Wenn Diskurse das Denken und Handeln von Individuen beeinflussen, was bedeutet das für gesellschaftliche Wahrheiten? Wissen und damit ebenso gesellschaftliche Wahrheiten werden diskursiv erzeugt, d. h. Wissensbestände sind durch vergangene und an diese angrenzende Denksysteme geprägt. Selbst in der klaren Abgrenzung zum Wissen früherer Epochen ist das Wissen durch diese Abgrenzung geprägt. Wissen ist soziohistorisch konstituiert. Diese Definition von Diskurs grenzt sich von einem universellen und objektiven Wahrheitsbegriff ab. Wahrheit muss als eine aushandelbare Norm betrachtet werden (vgl. Kajetzke 2008: 34). Es gibt also nicht die eine Wahrheit. Wahrheit ist abhängig vom historischen und soziokulturellen Kontext. Es ist also durchaus möglich und auch üblich, dass in einer Gesellschaft verschiedene Definitionen von wahr und falsch vorherrschen. Mit dieser Auffassung grenzen sich Foucault und andere WissenschaftlerInnen offensiv von der alltagsweltlichen Definition ab, die Wahrheit im Wortsinne als Gültigkeitsanspruch von Aussagen und damit als Gegenteil von Lüge und Irrtum betrachtet (vgl. Meyers Lexikon Online 2008). Diskurse konstituieren demnach gesellschaftliche Wissensverhältnisse. Aber wie entstehen vermeintliche Wahrheiten und Irrtümer? Diskurse bilden die Ordnung für die Produktion von Wissen und deren Kontrolle, d. h. ein Diskurs legt fest, welches Wissen zu einem historischen Zeitpunkt innerhalb eines Diskurszusammenhangs als wahr und falsch gilt. „Zum einen bildet er [der Diskurs, K.S.] die Ordnung, durch die das Wissen kontrolliert, kanalisiert und bewahrheitet wird.“ (Seier 2001: 94)
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
Der Diskurs stellt also das Wissen für die Bedeutungszuweisung und Wahrheitsfindung zur Verfügung. Alles Gesellschaftliche ist diskursiv geprägt. Es gibt also kein Denken oder Handeln außerhalb bestehender Diskurse6.
2.1.2 Das Verhältnis von Diskurs und Handeln Wie ist das Verhältnis von Diskurs und Handeln bzw. wie beeinflussen Diskurse das Handeln von Individuen? Individuen können nur auf der Grundlage der diskursiv vorgegebenen Handlungsspielräume handeln, d. h. Individuen können nur zwischen den Handlungsoptionen wählen, über deren Wissen sie verfügen7. Wissen ist definiert als alle Arten von Bewusstseinsinhalten mit denen ein Individuum seine Umwelt deutet (vgl. Jäger 2001: 81). Zusammengefasst heißt das, dass Diskurse die Ordnung für die Wissensproduktion bilden, indem sie einen Rahmen festlegen, für das, was sagbar und das, was nicht sagbar ist. Wissen ist also diskursiv geprägt. Das diskursiv geprägte Wissen ist die Grundlage für die Handlungsmöglichkeiten der Individuen. Wichtig ist, dass Diskurse nicht als Strategien zu betrachten sind, die Einzelne oder Gruppen aus strategischen Gründen entwerfen, sie sind vielmehr historisch gewachsen. Bei der Frage, wie Diskurse erzeugt werden, geht es also nicht darum, eine Quelle ausfindig zu machen, sondern darum, welche Akteure sich in den Diskurs einbringen und welche Deutungsmacht sie dort erzeugen können. Jäger verweist auf das Wechselspiel von Subjekt und Diskurs: „Der Diskurs lässt sich als ein soziales Gebilde begreifen, das einerseits historisch von den Subjekten konstituiert und tradiert wird und andererseits zugleich die Subjekte konstituiert.“ (Jäger 2008: 380)
Auf der einen Seite sind Individuen in ihrem Handeln an diskursiv geprägtes Wissen gebunden und auf der anderen Seite funktioniert die Produktion von 6 Ausgehend von dieser Annahme, muss an dieser Stelle betont werden, dass auch diese Arbeit als ein Produkt diskursiver Prozesse zu sehen ist. 7 Zu Widerstandsmöglichkeiten im Diskurs siehe Butler 1991: 216 f.; sowie Villa 2004: 145.
2.1 Diskurstheorie
21
Wissen nur über das Handeln von Individuen. Die Individuen greifen die Diskurse in ihrem Denken, Sprechen und Handeln auf und reproduzieren sie dadurch. Das heißt nicht, dass es keine Möglichkeiten gibt, andere Wahrheiten zu äußern. Liegt die Wahrheit außerhalb einer bestimmten anerkannten Meinung, so wird sie allerdings nicht als wahr anerkannt werden (vgl. Foucault 1991: 24 f.). Auf die anfangs formulierte Frage lässt sich also sagen: Individuen sind „soziohistorisch geformt und institutionell gebunden“ (Keller 2008: 186). Diskurse beeinflussen also maßgeblich das Handeln von Individuen.
2.1.3 Die Rolle von Macht im Diskurs Daraus folgend stellt sich die Frage, wer oder was die Macht hat, Diskurse zu bestimmen und damit Wahrheiten zu beanspruchen. Und was ist eigentlich unter dem Begriff Macht zu verstehen? „Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt“ (Foucault 1977a: 93).
Es gibt also nicht die eine Macht, von der alles ausgeht. Macht ist zu verstehen als Machtverhältnisse zwischen Individuen und Gruppen. Macht ist also im Sinne von Foucault nicht als Macht von Regierungen oder einiger mächtiger Personen zu verstehen8. „Wie ein Netz legt sich Macht als umfassende, aber dynamische – da handlungsbasierte, wandlungsfähige – Struktur über die Gesellschaft.“ (Kajetzke 2008: 35)
8 Damit grenzt Foucault sich von einem klassischen Machtbegriff ab, der Macht als Herrschaft von Führern oder Regierungen über die BürgerInnen sieht. Das heißt jedoch nicht, dass Institutionen, wie Regierungen oder auch Forschungsinstitute keine Macht besitzen. Sie üben diese jedoch nicht absolut über machtlose BürgerInnen aus.
22
2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
Damit strukturiert Macht Verhältnisse zwischen Individuen. Macht geht also sehr begrenzt vom individuellen oder kollektiven Willen aus. Das Handeln von Individuen wird durch die Machtausübung anderer eingeschränkt. Macht wirkt sich dabei keineswegs einseitig von oben nach unten aus. Es ist zwar von einem Ungleichgewicht der Machtverteilung von oben nach unten auszugehen, trotzdem muss Macht immer auch zurück gespiegelt werden. Denn nur durch die Anerkennung der Macht wird sie auch wirksam. Macht ist zudem nichts Konstantes, sondern taucht zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort auf und verschwindet auch wieder. „Die Macht bildet sich und funktioniert ausgehend von Mächten, sie errichtet sich auf Vielfältigkeiten von Machtfragen und -wirkungen.“ (Foucault 1978a: 111)
Im Klartext heißt das, dass es nicht eine Hauptquelle von Macht gibt. Es lässt sich vielmehr sagen, dass jedeR mehr oder weniger Macht besitzt, in den verschiedenen Beziehungen, in denen man sich bewegt. So hat ein jeder Mensch gewisse Macht, in seinem Arbeitsverhältnis, in seiner Partnerschaft oder in seinem Freundeskreis. Grundlegend für diesen Machtbegriff ist, dass Macht keineswegs als rein negative Macht zu verstehen ist, die sich über Zwang und Gewalt ausdrückt. Macht ist vielmehr als produktive Kraft zu verstehen, die Wissen und Wahrheiten produziert. Die Produktion von Wissen beruht auf Ein- und Ausschlussmechanismen. Denn die Grundlage der Wissensgenerierung ist die Grenzziehung zwischen wahr und falsch. „Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser Welt wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre 'allgemeine Politik' der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.“ (Foucault 1978b: 51)
2.1 Diskurstheorie
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Wie wirken Macht und Diskurse auf das Handeln von Individuen? Foucault nähert sich dieser Frage mit der Auseinandersetzung von Disziplinierung und nutzt den Begriff der Disziplinarmacht. Er geht davon aus, dass Macht in die Körper eingeschrieben wird, d. h. die Machtverhältnisse müssen nicht erst in das Bewusstsein des Individuums aufgenommen werden. Machtverhältnisse werden unbewusst verinnerlicht. Das heißt in der Konsequenz, dass Macht auch wirksam wird, wenn sie nicht von den Vorstellungen der Subjekte übernommen wird. Durch „Architektur, Raumaufteilung, Regelungen von Zeitrhythmen, Kontrolle von Gesten und Haltungen“ (Seier 2001: 97) wird die Disziplin in die Körper eingeschrieben. Die Unterwerfung der Körper funktioniert durch Formierung einerseits und Selbstkontrolle andererseits. Foucaults Werke sind in der Zeit des Fordismus, in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis Mitte der 1970er Jahre, entstanden. In dieser Zeitspanne wurden die westlichen Industriestaaten durch ökonomische Veränderungen geprägt. Das Aufkommen der industriellen Massenproduktion, verbunden mit Lohnsteigerungen und einem Anstieg der wohlfahrtsstaatlichen Sozialleistungen, ermöglichte es, den Massenkonsum für breite Bevölkerungsschichten zu realisieren. Gleichzeitig wird die bürgerliche Kleinfamilie mit der Frau als Hausfrau und Mutter zum neuen Idealbild. In dieser Zeit wurde die Arbeitswelt, aber auch andere Bereiche des sozialen Lebens rationalisiert und spezifischen regulatorischen Mechanismen untergeordnet. Foucault setzt die Entstehung disziplinarischer und regulatorischer Institutionen zwar bereits im 18. und 19. Jahrhundert an9, aber erst im Fordismus des 20. Jahrhundert entfaltete sich ihre ganze Wirkung. Es entstanden Regulierungsbehörden und -techniken, die die Gesundheit und die Sicherheit der ArbeiterInnen gewährleisten sollten, z.B. Jugendämter, Programme für die 'gesunde' Lebensweise und Ratgeber für die Kindererziehung und die Ernährungsgewohnheiten (vgl. Fraser 2003: 244 f.). Es stellt sich die Frage, wie Disziplinierung im Bereich Ernährung funktioniert und welche Rolle dabei Ernährungsratgeber in der Zeit des Fordismus spiel9 Siehe hierzu Foucaults Auseinandersetzung mit der Entstehung des modernen Gefängnisses (Foucault 1977b).
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
ten. Seit den 1920er Jahren wurde die Sorge des schlanken und 'gesunden' Körpers zu einem Massenphänomen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts ließ sich feststellen, dass Schlankheit mit den Tugenden des Bürgertums verknüpft wurde und Fettleibigkeit als ein Resultat von Faulheit, mangelndem Erfolg und fehlender Disziplin erachtet wurde10. Übergewichtigen Menschen wurde nachgesagt, dass sie mit der Schnelllebigkeit der Moderne nicht zurecht kämen. Bei der Konstruktion vom Dicksein spielten Ratgeber zur 'gesunden' Ernährung eine maßgebliche Rolle. Sie spielten bewusst mit abwertenden Begriffen wie zum Beispiel „Dampfwalze“ oder „Bierfaß“, um die Betroffenen zum Abnehmen zu „motivieren“. Die Ratgeber unterstützten damit einen Trend zur Selbstregulation, der Individuen sich zu disziplinieren und damit ihren Körper schlank und 'gesund' zu halten (vgl. Merta 2008). Nach Foucault sind alle Disziplinierungsmechanismen durch das Prinzip der Selbstregulierung charakterisiert. Es soll nicht durch klassische Hierarchien Zwang auf das Individuum ausgeübt werden, sondern Disziplin durch regulatorische Techniken in den Körpern festgeschrieben werden. Es ging darum, Individuen zu schaffen, die mehr Autonomie besitzen und sich dadurch für sich selbst verantwortlich fühlen (vgl. Foucault 1977b: 258 ff.). „Indem sie Individuen tatsächlich zu Instrumenten der sozialen Kontrolle machten, während sie zur gleichen Zeit deren Autonomie förderten, versuchte die fordistische Disziplin, äußeren Zwang durch innere Selbstregulierung zu ersetzen.“ (Fraser 2003: 247)
Nancy Fraser stellt die Frage, inwieweit das Theoriekonzept von Foucault auch noch heute zutrifft. Grundlage ist, dass sich die Ausgangspunkte von Foucaults Perspektive verändert haben. In der postfordistischen Zeit wurden zunehmend transnationale Strukturen geschaffen, die den Herrschaftsapparat heterogener und undurchsichtiger gemacht haben. Fraser kommt jedoch zu dem Schluss, dass das fordistische System der Selbstregulierung immer noch zutrifft, wenn auch auf 10 Bis dahin war Fettleibigkeit ein Zeichen von Reichtum und Prestige, da ausreichende Nahrung vor allem wohlhabenden Menschen vorbehalten war.
2.1 Diskurstheorie
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andere Weise. Die neuen Regulierungsformen setzen verstärkt auf marktförmige Organisationsmechanismen. Dass Sozialleistungen wettbewerbsfähig sein müssen und ExpertInnen dem marktwirtschaftlichen System unterworfen werden, sind nur zwei Beispiele. Das neue politische Subjekt ist eine aktive, selbstverantwortliche AkteurIn (vgl. ebd.: 254 f.). „Als Subjekt, das die freie Wahl (zwischen Angeboten des Marktes) hat, und als Konsument von Dienstleistungen ist dieses Individuum dazu verpflichtet, seine Lebensqualität durch eigene Entscheidungen zu verbessern.“ (ebd.: 255)
Die neue Form der Subjektivierung im Postfordismus schafft einen Zwang zur Selbsthilfe, der aber ebenso über Disziplinierungsmechanismen im Sinne der Selbstkontrolle funktioniert. Fouacult ist also auch heute noch hilfreich, um zu verstehen, wie Macht und Diskurse auf das Handeln von Individuen einwirken. Sie schaffen über die Einschreibung der Disziplin in den Körper ein sich selbst kontrollierendes Individuum.
2.1.4 Kernpunkte der Diskursanalyse Zusammenfassend lassen sich drei Punkte der Diskursanalyse herausgreifen. Diese drei Punkte sind von besonderer Bedeutung, da sie Erklärungskraft für ernährungsrelevante Fragen beinhalten. 1. 2. 3.
Wissen und Wahrheiten sind diskursiv geprägt und wandelbar. Das Handeln von Individuen wird von Diskursen und damit dominanten Wissensbeständen beeinflusst. Disziplin wird über Selbstkontrolle in den Körpern festgeschrieben.
Im Weiteren soll der Frage nachgegangen werden, ob es sinnvoll ist, bei Ernährung überhaupt von einem Diskurs zu sprechen und wenn ja, durch welche Facetten dieser gekennzeichnet ist.
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
2.2 Ernährungsdiskurs Dieser Teil des Buches wird sich zunächst mit der Frage befassen, ob die Debatten um Ernährung als Diskurs bezeichnet werden können. Ich gehe von der These aus, dass die Debatten um Ernährung und 'gesundes' Essen diskursiv geprägt sind. In einem zweiten Schritt soll auf die Frage eingegangen werden, wie der Diskurs inhaltlich ausgestaltet ist. Dies kann in dieser Studie nur ausschnittsweise geschehen und soll deshalb am Beispiel des Ernährungsberichtes 2008 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung analysiert werden. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden die verschiedenen soziokulturellen Einflüsse auf das Ernährungsverhalten untersucht und deren Bedeutung näher beleuchtet.
2.2.1 Gibt es einen Ernährungsdiskurs? Die Frage, ob es einen Ernährungsdiskurs gibt, lehnt sich an die Frage an, ob Ernährung biologisch bedingt oder kulturell ausgestaltet ist, also welches Verhältnis Natur und Kultur im Bereich der Ernährung einnehmen. Ursprünglich wurden Natur und Kultur immer als zwei voneinander getrennte Bereiche angesehen. Die Kultur umfasst Institutionen, Handlungen und Prozesse, die aus einer 'natürlichen' Umwelt einen sozialen Lebensraum werden lassen. Die Frage ist, wie lässt sich Natur demnach definieren? Als die göttliche Ordnung? Oder als die Ordnung, die aus sich selbst heraus entsteht (vgl. Setzwein 2004: 21 f.)? Diese Fragen können auf vielfältige Weisen beantwortet werden. In Bezug auf Ernährung gibt es sowohl naturalistische als auch konstruktivistische Ansätze. Ich möchte hier beide Perspektiven vorstellen, um die Frage zu klären, welche für die Betrachtung von Ernährung hilfreich ist. Solomon H. Katz ist einer der Vertreter der biokulturellen Erklärung der Ausgestaltung des Essens. Er geht davon aus, dass das 'natürliche' Nahrungsbedürfnis die Grundlage für die kulturelle Ausformung des Ernährungsverhaltens ist. Die körperlichen Bedürfnisse sind nicht unmittelbar sichtbar und brauchen
2.2 Ernährungsdiskurs
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deswegen die Vermittlung über kulturelle Bräuche. So kommt es, dass es bestimmte Kochtechniken gibt, die die Kochenden gar nicht mehr erklären können, aber trotzdem ausüben. Ein Beispiel ist die Zugabe von Kohlblättern und Asche beim Kochen von Mais in Mexiko. Durch diese Technik konnte erreicht werden, dass sich das Lysin, eine essentielle Arminosäure die im Mais enthalten ist, aus dem Mais löst, was wichtig für die Nahrungsversorgung war. Die Technik wurde zwar viel genutzt, ihre Bedeutung war jedoch nicht mehr bekannt. Die Zugabe von Kohl oder Asche sei demnach nicht kulturell geprägt, sondern 'genetisch' verursacht. Katz argumentiert, dass die Ernährungsweise keine kulturelle Angelegenheit, sondern biologischer Ausdruck ist. Alle sozialen Aspekte von Ernährung werden in dieser Erklärung auf körperliche Bedürfnisse zurückgeführt und darauf reduziert (vgl. Barlösius 1999: 26 f.). Diese Auffassung, dass Ernährung auf rein physiologische Ursachen zurückzuführen ist, ist immer noch verbreitet (vgl. Setzwein 2004: 23). Diese allein physiologisch ausgerichteten Ansätze gelangen jedoch in Erklärungsnöte, sobald sie z. B. schichtspezifische Ernährungsunterschiede analysieren sollen. VertreterInnen strukturalistischer Denkrichtungen wie zum Beispiel Claude Lévi-Strauss, Mary Douglas oder Helmuth Plessner gehen davon aus, dass die Natur erst von der Kultur geschaffen wird, um Dinge erklärbar zu machen. Lévi-Strauss konnte mit seinen Thesen zum kulinarischen Dreieck aufzeigen, dass die Trennung in Essbares und NichtEssbares nicht nur zwischen Kulturen sehr unterschiedlich ist, sondern auch innerhalb einer Gesellschaftsgruppe historisch wandelbar ist. Er konnte damit verdeutlichen, dass die Trennung von Natur und Kultur nur in der menschlichen Wahrnehmung existiert und deswegen in jeder Gesellschaft anders interpretiert und ausgestaltet ist. Lévi-Strauss verneint mit seinem Ansatz jegliche Natürlichkeit von Ernährung und besagt, dass Ernährung in ähnlicher Weise wie z.B. Sprache auf gesellschaftliche Strukturen einwirkt und kulturell erzeugt ist. In Anlehnung an Helmut Plessner u. a. gehe ich davon aus, dass die Tatsache, dass Menschen sich überhaupt ernähren müssen, 'natürlich' bedingt ist, hingegen die Ausgestaltung, also die Art und Weise der Nahrungsaufnahme, kulturell geprägt ist (vgl. Setzwein 2004: 24 ff.; Barlösius 1999: 27 f.).
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Biologische und kulturelle Aspekte von Ernährung Es lässt sich also sagen, dass Ernährung nicht von jeglichen biologischen Zusammenhängen freizusprechen ist. Es stellt sich jedoch die Frage, was biologisch bedingt und was kulturell geprägt ist. Essen ist ein körperliches Bedürfnis, das außerhalb der menschlichen Beeinflussung liegt. Schließlich braucht der Körper zum Überleben Energie, die er in Form von Nahrung zu sich nehmen muss. Die körperlichen Bedürfnisse werden jedoch nicht direkt übermittelt. So sagt der Körper zum Beispiel nicht, dass mehr Vitamine gebraucht werden. Die Vermittlung von körperlichen Bedürfnissen funktioniert über Signale wie Hunger, Sattheit, Durst und Schmerz, sowie zeitverzögert durch Mangelerscheinungen und Krankheiten. Die Nahrungsaufnahme ist sozial geregelt und institutionalisiert. Es lassen sich deutliche Unterschiede in dem was und wie gegessen wird beobachten. Die Trennung zwischen dem Biologischem und dem Gesellschaftlichem in der Ernährung ist auf den ersten Blick schwierig. Die Unterschiede bei den Essgewohnheiten werden in der Regel durch unterschiedliche Geschmäcker gerechtfertigt. Am häufigsten wird als Grund für die Ablehnung bestimmter Lebensmittel der Geschmack angegeben (vgl. Teuteberg 1993: 129). Das wirft die Frage auf, ob Geschmack etwas Soziokulturelles ist und ob Hunger eindeutig der Biologie zuzuordnen ist. Die körperlich erfahrbaren Signale wie Hunger, Genuss und Ekel, sind psychische Komponenten, die auf individuellen Erfahrungen aufbauen. Durch diese Erfahrungen sind sie einerseits individuell unterschiedlich und andererseits durch soziale Bräuche und Riten kollektiv vorgeprägt und eingeschränkt. Ob ich Spinat oder Spargel lieber mag, ist zwar individuell entscheidbar, gerne Popel zu essen ist jedoch weniger gesellschaftlich akzeptiert. Genuss ist also als eine sozial differenzierende psychische Prägung anzusehen, die nur innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Normen ausgestaltet werden kann. Auch Hunger ist trotz der Nähe zum Biologischen als psychisches Phänomen anzusehen, weil er durch Regelmäßigkeiten, Rhythmen etc. stark anpassungsfähig ist. Stanley Schachter zeigte in einem Laborversuch, dass Probanden sich, auch wenn die Uhr zu schnell oder zu langsam eingestellt ist, immer zum
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Essen motiviert fühlten, wenn die Uhr die gewohnte Uhrzeit zum Essen anzeigte (vgl. ebd.: 111). Daran anschließend ist festzustellen, dass sich die menschliche Ernährung sowohl dem Natur- als auch dem Kulturthema zuordnen lässt. Ernährung ist abhängig von biologischen Dimensionen, vor allem der benötigten Nährstoffzufuhr und den Verdauungsvorgängen. Die konkrete Ausgestaltung von Essgewohnheiten ist jedoch kulturell geprägt (vgl. Barlösius 1999: 41 ff.).
Was ist 'gesunde' Ernährung? Die Naturwissenschaften befassen sich unter anderem mit den biologischen Vorgängen im Körper und dem Nährstoffgehalt, den die Nahrungsmittel beinhalten. Sie versuchen den Diskurs um Ernährung zu beeinflussen, indem sie erklären, welche Lebensmittel 'gesund' und welche 'ungesund' sind und wie wir bestimmte Körpersignale zu deuten haben. Damit erheben die WissenschaftlerInnen den Anspruch, zu definieren, was 'gesunde' Ernährung ist. Das Problem dabei ist, dass sich WissenschaftlerInnen in dieser Frage keineswegs einig sind und sich dadurch die Kategorien 'gesund' und 'ungesund' ständig verschieben. Die Betrachtung historischer Erkenntnisse über Ernährung macht die Schwierigkeit der Bestimmung von 'gesund' und 'ungesund' deutlich und veranschaulicht, dass die Wissenschaft auch nicht immer richtig liegt. Julius Vogel, Professor der Heilkunde, verkündete 1870 die Ansicht, dass Gemüse und Hülsenfrüchte 'ungesund' seien. „Zu den schweren Nahrungsstoffen, die zur Verdauung längere Zeit und größeren Kraftaufwand erforderten, rechnete Vogel die Pflanzenstoffe, die reich an Zellstoff seien, namentlich harte und holzige Gemüse, die Hülsen der Getreidekörner und die sogenannten 'Hülsenfrüchte' wie Linsen, Erbsen, Bohnen etc. Der Wert der Ballaststoffe für den Verdauungsprozess war ihm offensichtlich noch nicht bekannt.“ (Merta 2008: 131)
Der heute so viel verteufelte Zucker wurde damals sogar als Heilmittel angesehen.
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„Lange Zeit war der Zucker aufgrund seiner medizinischen Wirkungen eines der meistverschriebenen Nahrungsmittel. Bald darauf lief ihm das Fleisch den Rang ab, das hundert Jahre lang mit Lobeshymnen bedacht wurde. Vor allem wenn es schön fett war oder, noch besser, 'konzentriert' vorlag, in Form von Extrakttabletten, die von Chemikern erfunden wurden.“ (Kaufmann 2006: 25)
So wurde im 19. Jahrhundert genau das Gegenteil der heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse postuliert. Jean Claude Kaufmann beschreibt, dass sich die Erkenntnisse der Wissenschaft regelmäßig wandelten und immer auch im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen standen. Die neue Wissenschaft über Ernährung wurde genau zu der Zeit gegründet, als die traditionellen gesellschaftlichen Regeln, die maßgeblich durch die Kirche geprägt waren, aufgrund einer weitreichenden Säkularisierung mehr und mehr verschwanden und die Gesellschaft auf der Suche nach neuen Normen und Regeln war. Die wissenschaftlich propagierten Ernährungsweisheiten sind also nicht losgelöst von gesellschaftlichen Prozessen zu betrachten, sondern sind vielmehr in diese eingebettet (vgl. ebd.: 26). Man könnte zu der Ansicht kommen, dass diese 'Verfehlungen' der Wissenschaft der Vergangenheit angehören. Aber auch heute noch sind Veröffentlichungen zu Ernährungsfragen keineswegs eindeutig. Nicht nur, dass sich unterschiedliche Ansichten widersprechen, so müssen Erkenntnisse über Ernährung oft schnell wieder zurückgenommen werden. 2009 veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung ein Skript, in dem die bisherige Ansicht, dass man Allergene vermeiden sollte, überworfen wurde (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2009a). Ein anderes Beispiel ist der Konsum von Wein. Einige betonen das Negative des Alkohols und andere heben seine 'gesunde' Wirkung hervor. So titelte die Pharmazeutische Zeitung online 2000 mit „An Weihnachten schützt Wein die Gesundheit besonders“ und zitierte den Chefepidemiologen der Universität von Boston, Professor Curtis Ellison, mit dem Satz: „Ein Tag ohne ein Glas Wein ist ein Risiko für unsere Gesundheit“ (Worm 2009). Im Gegensatz dazu sprach sich die nationale „Million Women Study“ aus Großbritannien 2009 strickt gegen jeglichen Konsum von Alkohol aus, da er schon in geringen Dosen das Brustkrebsrisiko für Frauen erhöhe (vgl. Allen u. a. 2009).
2.2 Ernährungsdiskurs
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Diese Betrachtung von Ernährung macht schnell deutlich, dass man bei Ernährung von einem Diskurs sprechen kann. Das vorliegende Ernährungswissen ist diskursiv geprägt und abhängig von gesellschaftlichen Prozessen sowie in kulturelle Systeme eingebettet. Der Begriff von 'gesunder' Ernährung entspricht also nicht einer Wahrheit, sondern ist ebenso, wie bereits mit Foucault dargelegt, Produkt gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse. Dieser Punkt wird im Folgenden noch deutlicher werden. Ich werde der Frage nachgehen, welche Bedeutung der Ernährungsdiskurs in unserer Gesellschaft hat und wie er auf das Verhalten Einzelner einwirkt.
Wandel der Ernährungspolitik Das Thema Ernährung wurde noch bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts als eine Frage der Nahrungsmittelsicherheit diskutiert11. Noch vor wenigen Jahrhunderten galt Fettleibigkeit als ein Ausdruck von Wohlstand und sogar als Zeichen für Gesundheit (vgl. Bayer u. a. 1999: 47). Denn nur wenige hatten das Privileg, so viel Nahrung zur Verfügung zu haben, dass sie zur Anreicherung von Fettpolstern gereicht hätte. Durch die Veränderungen in der Agrarproduktion und dem industriellen Aufschwung ist die Frage nach ausreichender Ernährung immer weiter in den Hintergrund geraten. Denn das Privileg ausreichender Ernährung war nicht mehr länger wohlhabenden Schichten vorbehalten. Aus einer Mangelsituation wurde eine Situation, die durch Überfluss und Überernährung geprägt ist. Die Kaloriensätze fungierten nicht mehr länger als Mindeststandards, sondern gelten seit dem als Obergrenze. Mit dieser Veränderung setzte sich Schlankheit als Körperideal durch (vgl. ebd.). Es ging dabei nicht nur um Schlankheit an sich. Der schlanke Körper galt vielmehr als gesund und kräftig. Das Ideal orientierte sich also an der Frage nach 'gesunder' Ernährung, um die körperliche Leistungsfähigkeit zu bewahren. Damit wurde die Nahrungssiche11 An dieser Stelle sei nochmal betont, dass ich mich in diesem Buch auf die westlichen Industriestaaten beschränke und im Speziellen die Bundesrepublik Deutschland in den Blick nehme.
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rung durch das Ideal einer gesundheitsfördernden Ernährungsweise abgelöst. Die Ernährungspolitik richtete sich zunehmend an gesundheitspolitischen Maßnahmen aus. Ein Blick in die Medien zeigt, dass Ernährung auch heute eine große Bedeutung hat. „Kaum eine Frauen- und Fitnesszeitschrift verzichtet auf Ernährungstipps, Rezepte oder Diäten, Kochsendungen wurden für das Fernsehen und sogar das Radio entdeckt, Docu Soaps und Reality Soaps beobachten übergewichtige Freiwillige beim Abnehmen.“ (Lücke u. a. 2003: 407)
Lücke u. a. zählten 2003 insgesamt 16 Kochsendungen im Fernsehen. Zudem macht Lebensmittelwerbung den größten Anteil an der Werbung aus (vgl. Lücke u. a. 2003). Neben den Medien gibt es eine Vielzahl an Studien und Veröffentlichungen von Ministerien und nicht kommerziellen staatlichen Aufklärungsanstalten, wie zum Beispiel dem aid-Infodienst, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Egal ob Nahrung knapp ist oder im Überfluss vorhanden, die Ernährung hat immer einen zentralen Stellenwert eingenommen. Im entwickelten Industriestaat ist nicht mehr die ständige Sorge um ausreichende Nahrungsversorgung, sondern um die richtige Ernährung bestimmend.
Einfluss des Ernährungsdiskurses auf das Individuum So allgegenwärtig die Darstellung von Ernährungsfragen ist, so stellt sich doch die Frage, in wie weit das Thema das Individuum direkt beeinflusst. Hier hilft ein Blick auf die Zahlen der durchgeführten Diäten. Bereits ein Viertel aller 12jährigen Mädchen hat schon mal eine Diät gemacht, im Alter von 16 Jahren sind es bereits 40 Prozent. Bei den Jungen sind es in allen Altersgruppen in etwa 10 Prozent. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nehmen also mit dem
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Alter deutlich zu12 (vgl. Kolip 1997: 192 f.). Dieses Phänomen setzt sich im erwachsenen Alter fort. Im Alter von 14 bis 34 Jahren halten etwa doppelt so viele Frauen wie Männer Diät (vgl. Max Rubner-Institut 2008a: 94). Zudem lässt sich generell ein Trend hin zu 'gesünderer' Ernährung verzeichnen. Die Deutschen verzehren „mehr Obst und Gemüse, weniger Wurstwaren, weniger Eier, Butter, Speisefette und Öle“ (Hayn u. a. 2005: 58). Zudem gaben zwei Drittel in einer Befragung an, beim Essen weitgehend auf gesundheitliche Aspekte zu achten (vgl. ebd.). Es zeigt sich also, dass die weite Verbreitung von ernährungsbezogenen Themen in Medien und Politik Einfluss auf die reale Lebenssituation und das Verhalten der Individuen nimmt13.
2.2.2 Inhaltliche Ausgestaltung des Ernährungsdiskurses Im letzten Abschnitt wurde dargelegt, dass der Bereich Ernährung in gesellschaftliche Diskurse eingebettet ist und damit das Ernährungsverhalten soziokulturell geprägt ist. Unter dieser Voraussetzung ist es interessant, näher zu betrachten, durch welche AkteurInnen und gesellschaftliche Einflüsse der Diskurs geprägt ist. Der Bereich Ernährung umfasst eine Vielzahl von Aspekten, unter anderem: Landwirtschaft, Bereitstellung von Ernährung, Lebensmittelskandale, Preisentwicklung von Lebensmitteln, Inhaltsstoffe, Verdauung, psychische Faktoren. Zudem ist der Bereich des Ernährungsverhaltens der Individuen ein interessanter Aspekt des Diskurses um Ernährung. Der Fokus dieses Buches soll auf dem Aspekt des Ernährungsverhaltens liegen und damit ein soziologisch wichtiges Thema in den Blick nehmen.
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Zu Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede im Ernährungsverhalten siehe Kapitel 3 zum doing gender im Ernährungsverhalten. 13 Eine spannende Frage ist, welchen Einfluss Massenmedien auf das Ernährungsverhalten von Individuen haben. Obwohl die Medien immer wieder als wichtiger Einfluss angeführt werden, gibt es kaum eine systematische Erfassung dieses Forschungsfeldes (vgl. Lücke u. a. 2003: 407).
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AkteurInnen im deutschen Ernährungsdiskurs Um der inhaltlichen Ausgestaltung des Diskurses näher zu kommen, soll zunächst der Frage nachgegangen werden, welche AkteurInnen im Ernährungsdiskurs eine Rolle spielen. Ernährung kann als ein öffentlicher Diskurs angesehen werden, der eine diffuse Sprecherstruktur hat. Zunächst gibt es politische AkteurInnen und Institutionen, die auf den Diskurs Einfluss nehmen. Publikationen der Ministerien für Gesundheit und für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, sowie der verschiedenen nicht kommerziellen staatlichen Aufklärungsanstalten, wie z. B. die Verbraucherzentrale oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, sind zahlreich. Die Interessen der politischen AkteurInnen sind vor allem, die ernährungsbedingten Kosten im Gesundheitssystem zu senken und den Gesundheitszustand und damit die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden der Bevölkerung zu verbessern. „Eine bedarfsgerechte Ernährung ist von fundamentaler Bedeutung für die normale Entwicklung, Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen.“ (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2008a: 19) „Es gehört zu den Aufgaben des Staates, seine Bürger zu einer gesundheitsfördernden Lebensweise auch durch Vermittlung entsprechender Kenntnisse zu befähigen.“ (Brombach u. a. 2006: 4)
Ein weiterer wichtiger Bereich sind wissenschaftliche Diskurse, auf deren Erkenntnisse sich die PolitikerInnen stützen. Es gibt eine Vielzahl vor allem naturwissenschaftlicher und medizinischer Studien, die den Nährstoffbedarf des Individuums errechnen, die Lebensmittel auf ihren Vitamin- und Mineralstoffgehalt untersuchen und den Einfluss von Ernährung auf die Gesundheit aufzeigen. Immer häufiger wird die Gesundheit der Menschen in unserer Gesellschaft bemängelt und es wird auf die negativen Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung hingewiesen. Der wissenschaftliche Diskurs betrachtet außerdem u. a. soziologische, kulturelle und psychologische Bereiche der Ernährung. Diese treten jedoch
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in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund14. Zudem gibt es noch einen weiten Bereich an populärwissenschaftlichen Debatten. Es gibt Unmengen von Ratgebern zu Ernährungsfragen, Diät-Tips in Frauenzeitschriften und im Fernsehen wird eine Kochsendung nach der anderen neu in den Sendeplan aufgenommen. Die Ansichten, was richtig oder falsch für unseren Körper ist, sind hier noch diffuser. Augenscheinlich vermischt sich hier die Suche nach einem 'gesunden' Körper mit dem Wunsch nach Schlankheit und Schönheit, so dass es für die ZuschauerIn immer schwieriger wird, heraus zu filtern, was 'gesund' und 'ungesund' ist. Zudem gibt es noch eine ganze Reihe weiterer AkteurInnen, die sich in diesem Feld bewegen, die dabei einen mehr oder weniger großen Einfluss haben. Zu nennen sind hier exemplarisch vegetarische oder esoterische Bewegungen, Verbände der ökologischen Landwirtschaft, religiöse Gemeinschaften etc.15. Die verschiedenen Diskursstränge16 beeinflussen sich gegenseitig, wobei der Einfluss der einzelnen AkteurInnen im Diskurs sehr unterschiedlich ist17.
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Siehe hierzu die Analyse des Ernährungsberichts 2008 in diesem Kapitel. Eine detaillierte Diskursanalyse des Feldes wäre sicherlich spannend. Es gibt bereits einige Analysen und Forschungen, die zumindest einen Teil des Feldes untersucht haben (siehe unter anderem Bayer u. a. 1999; Benterbusch 1997 und Lücke u. a. 2003). 16 Diskursstränge sind die „einzelnen thematisch einheitlichen Diskursverläufe“ (Jäger 2001: 97), in die sich ein Diskurs aufgliedert. 17 Die Voraussetzungen, im Ernährungsfeld Einfluss nehmen zu können, hängen mit den Worten Pierre Bourdieus vom Kapital ab. Er beschreibt drei verschiedene Kapitalarten, die den AkteurInnen Macht verleihen, den Diskurs in einem Feld zu bestimmen: das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital. Das ökonomische Kapital stattet die AkteurInnen zunächst mit Ressourcen aus. Konkret heißt ökonomisches Kapital Geld und Besitztümer wie z. B. Produktionsmittel. Das kulturelle Kapital gibt es in inkorporierter (angeeignete Bildung), objektiver (Bücher, Gemälde, Instrukemnete etc.) und institutionalisierter Form (Abitur, Doktortitel etc.). Das kulturelle Kapital schreibt sich in die Körper ein und macht einen wichtigen Teil der Identität aus. Das soziale Kapital beschreibt die Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe beruhen. Es geht also um die Frage, wie gut das Beziehungsnetz einer AkteurIn ausgebildet ist. Die AkteurInnen sind in ihren Handlungsoptionen an ihre Kapitalstruktur gebunden und diese verleihen ihnen viel oder wenig Macht, in öffentlichen Diskursen Einfluss zu nehmen (vgl. Bourdieu 1983). 15
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Medizinische / naturwissenschaftliche Prägung des Ernährungsdiskurses Anhand der Skizzierung unterschiedlicher AkteurInnen im Ernährungsfeld ist deutlich geworden, dass kaum von dem Inhalt des Diskurses zu sprechen ist. Eine Vielzahl unterschiedlicher Diskursstränge und damit verbundene Interessen treffen aufeinander. Von GeisteswissenschaftlerInnen, speziell aus der Soziologie, wird oft kritisiert, dass das Ernährungswissen sehr naturwissenschaftlich geprägt ist. Bei Veröffentlichungen zum Thema Ernährung gehe es vor allem um Empfehlungen zur Nährwert- und Brennstoffzufuhr. Ingrid-Ute Leonhäuser u. a. bezeichnet die deutsche Ernährungsforschung als einseitig natur- und technikwissenschaftlich spezialisiert (vgl. Leonhäuser u. a. 2009: 17; sowie Setzwein 2004: 20). Hans-Werner Prahl und Monika Setzwein unterstützen diese Ansicht und formulierten ebenso negativ: „In den Wissenschaften, die sich mit dem Thema Ernährung beschäftigen, besteht bis heute ein Übergewicht bei den naturwissenschaftlichen und medizinischen Zugängen. (…) Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften haben das Thema Ernährung in der Vergangenheit stark vernachlässigt oder sich mit der Anhäufung von Beschreibungen begnügt.“ (Prahl/Setzwein 1999: 25)
Zur Untersuchung der These, dass der Ernährungsdiskurs einseitig naturwissenschaftlich und medizinisch ausgerichtet ist, werde ich im Weiteren den Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung beleuchten.
Eckdaten der Ernährungsberichte der Deutschen Gesellschaft für Ernährung Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung ist eine der wenigen Organisationen, die regelmäßig einen öffentlichen Bericht vorlegt, der sich mit wichtigen Fragen der Ernährung beschäftigt. Der Ernährungsbericht nimmt im öffentlichen Diskurs eine wichtige Rolle ein und kann als bedeutsame Voraussetzung für ernährungspolitische Maßnahmen betrachtet werden.
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„Mit der Publikation des Ernährungsberichts sollen der Öffentlichkeit und damit im Prinzip allen Konsumenten, insbesondere aber den Meinungsbildern in den Medien, den Multiplikatoren und Verantwortlichen in der Ernährung- und Gesundheitspolitik, wie schließlich auch der Ernährungswirtschaft, aktuelle Informationen gegeben, aber auch kritische Darstellungen der Ernährungssituation präsentiert werden, als Basis für weitere Verbesserungen, für Maßnahmen der weiteren Aufklärung wie auch der Prävention von Ernährungsfehlverhalten.“ (Bayer u. a. 1999: 26)
In der folgenden Untersuchung des Ernährungsberichtes 2008 werde ich überprüfen, mit welchen Themen sich einer der wichtigsten Berichte zum Thema Ernährung beschäftigt. Volker Pudel warf den Ernährungsberichten bereits 1988 vor, sich auf „naturwissenschaftlich definierbare Bedarfsdeckung mit Nährstoffen“ (Pudel 1988: 9 f.) zu beschränken und damit Lebensstile und Essbedürfnisse außen vor zu lassen. Die Analyse des Berichtes von 2008 lässt keine repräsentative Aussage über die Ausrichtung des Ernährungsdiskurses im Allgemeinen zu. Durch die Relevanz des Berichtes lassen sich trotzdem interessante Ergebnisse erhoffen. Der Ernährungsbericht wird seit 1969 von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung herausgegeben, im Auftrag des Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (früher auch des Ministeriums für Gesundheit). Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung ist ein eingetragener gemeinnütziger Verein, der sich durch öffentliche Mittel des Bundes und der Länder (70 Prozent) und durch Mitgliedsbeiträge und Einnahmen aus Veröffentlichungen trägt (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2008b). „Seit ihrer Gründung im Jahr 1953 beschäftigt sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. mit allen auf dem Gebiet der Ernährung auftretenden Fragen und stellt Forschungsbedarf fest. Wir unterstützen die ernährungswissenschaftliche Forschung ideell, informieren über neue Erkenntnisse und Entwicklungen und machen diese durch Publikationen und Veranstaltungen verfügbar.“ (ebd.)
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Analyse des Ernährungsberichts 200818 Ein Überblick über die Ernährungsberichte von 1992 bis 2008 zeigte eine Konstanz der Gliederung der Berichte, wenn auch keine Uniformität. Der erste Abschnitt beschäftigt sich alle vier Jahre mit der Ernährungssituation in Deutschland. Die darauf folgenden Kapitel nehmen größtenteils mikrobiologische und toxikologische Aspekte, sowie den präventivmedizinischen Nutzen von Lebensmitteln in den Blick. Zusätzlich gibt es einzelne Abschnitte zu verschiedenen aktuellen Themen und Berichten, die von Bericht zu Bericht unterschiedlich sind, z. B. „Darstellung und Wirkung von Ernährungsinformationen im Fernsehen“ (2004), „Ernährung älterer Menschen“ (2000) oder „Informationsnutzen der Lebensmittelkennzeichnung für deutsche Konsumenten als Entscheidungshilfe bei der Lebensmittelauswahl“ (1996) (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1992; Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1996; Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2000; Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2004; Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2008a). Im Folgenden werde ich das Vorgehen und die Ergebnisse meiner Analyse des Ernährungsberichts 2008 vorstellen. Die einzelnen Gliederungspunkte des Ernährungsberichts 2008 wurden anhand der Ausprägungen 'medizinisch/naturwissenschaftliche Ausrichtung' und 'soziokulturelle Ausrichtung' klassifiziert. Wobei die Unterpunkte von Kapitel 1 getrennt voneinander untersucht wurden. Die zwei Ausprägungen habe ich wie folgt codiert:
medizinisch/naturwissenschaftliche Ausrichtung: Betrachtung von körperlichen Vorgängen und/oder Nährstoffbedarf und -aufnahme. soziokulturelle Ausrichtung: Ernährungsverhalten von Individuen und/oder Bedeutung sozialer und kultureller Einflüsse auf Ernährung.
Die Durchsicht des Ernährungsberichts 2008 zeigte auf, dass sich nur ein kleiner Teil des Berichtes explizit mit soziokulturellen Einflüssen beschäftigt und die Mehrzahl der Gliederungspunkte medizinisch/naturwissenschaftlich angelegt ist. 18 Die Bedingungen dieser Arbeit machen eine intersubjektive Überprüfung leider nicht möglich, so dass eine Intercoderreliabilität nicht gewährleistet ist.
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Die in Teil 1. zu findenden Analysen (mit Ausnahme von 1.3) beschäftigen sich mit dem Nährstoffbedarf und dem Lebensmittelverzehr der Bevölkerung. Dabei geht es weniger um eine soziokulturelle Betrachtung des Ernährungsverhaltens, sondern vielmehr um die Frage nach bestimmten Mangelerscheinungen und übermäßiger Nährstoffzufuhr. Dabei spielt vor allem der Aspekt der gesundheitlichen Auswirkungen auf den Organismus eine Rolle. Wie bestimmtes Ernährungsverhalten zu begründen ist und welche Faktoren auf die Ernährung Einfluss nehmen wird dabei nicht weiter betrachtet. Punkt 1.3 befasst sich mit dem „Ernährungsverhalten in Deutschland. Daten der nationalen Verzehrsstudie II“. Dieser Abschnitt beleuchtet explizit soziokulturelle Themen der Ernährung. Er nimmt unter anderem das Diätverhalten und das Ernährungswissen in den Fokus19. „2. Betriebsverpflegung in Deutschland“ ist mit beiden Ausprägungen zu codieren20. Die Gliederungspunkte 3. bis 7. sind alle als medizinisch/naturwissenschaftlich einzustufen. Die Analyse des Ernährungsberichts 2008 konnte also die Annahme einer medizinischen Ausrichtung des Ernährungsdiskurses bestätigen. Die medizinische Ausrichtung des Berichtes lässt zwar keine Verallgemeinerung zu, deckt sich aber mit den oben geschilderten Aussagen.
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Eine ausführliche Analyse des Abschnittes 1.3 siehe weiter unten. Dieser Abschnitt soll nicht weiter untersucht werden, da er an dem Thema dieser Arbeit, der Frage nach dem Ernährungsverhalten vorbeigeht. 20
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Tabelle 1: Inhalt des Ernährungsberichts 2008 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung Kapitelüberschriften 1. Ernährungssituation in Deutschland 1.1 Einleitung 1.2 Trendanalysen zum Lebensmittelverbrauch auf der Basis der Agrarstatistik 1.3 Ernährungsverhalten in Deutschland. Daten der Nationalen Verzehrsstudie 1.4 Lebensmittelverzehr und Nährstoffzufuhr im Kindes- und Jugendalter
Inhaltlicher Fokus
Codierung
Trends im Verzehr einzelner Lebensmittel (Milch, Gemüse, Zucker etc.) und deren Auswirkung auf die Nährstoffaufnahme Diäten, alternative Ernährungsformen, Formen der Gemeinschaftsverpflegung, Ernährungswissen, Kochkompetenz (getrennt nach Geschlecht) Lebensmittelverzehr und Nährstoffzufuhr (teilweise getrennt nach Geschlecht)
Medizinisch / Naturwissenschaftliche Ausrichtung Soziokulturelle Ausrichtung
1.5 Jodversorgung und – status bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland 1.6 Verbreitung von Präadipositas und Adipositas in Deutschland
Medizinische Messungen von Urin und Schilddrüse
1.7 Literatur 2. Betriebsverpflegung in Deutschland*
Formen und Organisationsabläufe der außerhäuslichen Verpflegung, Frage nach deren Wirkung auf die Qualität der Nahrung
3. Ernährung älterer Menschen in stationären Einrichtungen*
Art der Verpflegung, Verhältnis von Nährstoffbedarf im Alter und der Nährstoffzufuhr
BMI Messungen (teilweise getrennt nach Geschlecht)
Medizinisch / Naturwissenschaftliche Ausrichtung Medizinisch / Naturwissenschaftliche Ausrichtung Medizinisch / Naturwissenschaftliche Ausrichtung Medizinisch / Naturwissenschaftliche und soziokulturelle Ausrichtung Medizinisch / Naturwissenschaftliche Ausrichtung
2.2 Ernährungsdiskurs
41
Kapitelüberschriften
Inhaltlicher Fokus
Codierung
4. Toxikologische Aspekte der Ernährung*
Rückstände und Kontaminationen von Lebensmitteln
5. Mikrobiologische Aspekte der Ernährung*
Lebensmittelinfektionen und intoxikationen
6. Ernährung und frühe kindliche Prägung*
Einfluss der Nährstoffaufnahme des Kindes pränatal und neonatal auf die Gesundheit des Kindes Einfluss von bestimmten Lebensmittelgruppen auf Krankheiten (z. B. Krebs)
Medizinisch Naturwissenschaftliche Ausrichtung Medizinisch / Naturwissenschaftliche Ausrichtung Medizinisch / Naturwissenschaftliche Ausrichtung Medizinisch / Naturwissenschaftliche Ausrichtung
7. Prävention durch Ernährung*
* Dieses Kapitel wird nicht getrennt nach den einzelnen Gliederungspunkten aufgelistet, da dies keine weiterführenden Ergebnisse hervorbrachte.
Die soziokulturelle Ausrichtung des Kapitels „1.3 Ernährungsverhalten in Deutschland. Daten der nationalen Verzehrsstudie II.“ soll nun näher untersucht werden, da sich dieses Kapitel als einziges ausdrücklich mit dem Ernährungsverhalten der Individuen auseinandersetzt. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung formuliert in der Einleitung zu diesem Kapitel die Bedeutung von soziokulturellen Einflüssen wie folgt: „Informationen über den kulturellen und sozialen Hintergrund von Ernährungsgewohnheiten gewinnen an Bedeutung. Deren Kenntnis ist notwendig, damit Ernährungsempfehlungen auch in den Lebensalltag umgesetzt werden können.“ (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2008a: 38)
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
Methodisches Vorgehen Ich orientiere mich an der Methode der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring. Bei dieser Methode geht es um die Zusammenfassung und die Strukturierung des Inhaltes des vorliegenden Materials. Zunächst werden bei der Paraphrasierung alle überflüssigen Textteile gestrichen. Hierzu gehören Überleitungen, Zusammenfassungen, erklärende Beispiele etc. Im nächsten Schritt wird ein Abstraktionsniveau bestimmt und dadurch der Text weiter reduziert. Inhaltlich gleiche Paraphrasen werden gestrichen, gleiche Aussagen zusammengefasst. Alle Aussagen unterhalb des Abstraktionsniveaus werden auf das Niveau der Abstraktion verallgemeinert (vgl. Mayring 2008). Die Abstraktionsebene lege ich für die Analyse wie folgt fest: Gesucht werden allgemeine Aussagen über die Einflussfaktoren von Lebensstil, Alter und Geschlecht auf das Ernährungsverhalten, jedoch keine Daten, sondern nur allgemeine Zusammenhänge. Es werden nur eindeutige Ergebnisse aufgenommen. Es soll ausschließlich der Abschnitt 1.3 von Seite 38 bis 49 untersucht werden. Die Codiereinheit umfasst jede vollständige Aussage zum Ernährungsverhalten. Ankerbeispiele21: Umso älter die Befragten, umso häufiger wurde das Gewicht als zu hoch eingeschätzt. Am häufigsten gaben junge Frauen an, Vegetarierinnen zu sein. Mit zunehmenden Alter beantworteten mehr Befragte die Frage, ob sie gerade eine Diät halten, mit 'ja'. Ergebnisse der Reduktion22: Diätverhalten: Es lässt sich feststellen, dass Frauen in allen Altersstufen öfter als Männer Diät halten. Umso älter die Frauen, umso öfter machen sie Diät. Zudem halten sich mehr Frauen für zu dick. Der Grund für das Diät 21 Als Ankerbeispiele gelten konkrete Textstellen, die als Beispiele für das Abstraktionsniveau gelten sollen. 22 Siehe hierzu die zusammenfassende Tabelle Anhang 6.2.
2.2 Ernährungsdiskurs
43
halten hängt stark mit dem Alter zusammen. Umso jünger die Frauen, umso öfter wird eine Diät gemacht, um das Gewicht zu reduzieren. Mit steigendem Alter machen sowohl Männer als auch Frauen öfter aus Krankheitsgründen Diät. Interessant ist, dass die Gruppe, die am häufigsten Diät zur Gewichtsreduktion hält - die jungen Frauen - tendenziell die geringste Quote an Übergewicht aufweist23. Ernährungsweise: Die Ergebnisse zeigen, dass jüngere Menschen häufiger alternative Ernährungsweisen praktizieren als ältere. Die größte Gruppe der VegetarierInnen machen dabei die jungen Frauen aus. Teilnahme an Gemeinschaftsverpflegung: Insgesamt nehmen mehr Männer als Frauen an verschiedenen Formen der Gemeinschaftsverpflegung teil. Die Altersgruppe zwischen 19 und 24 Jahren nutzt am häufigsten Angebote der Gemeinschaftsverpflegung. Ernährungswissen: Bei der Untersuchung des Ernährungswissens fällt auf, dass Frauen in allen Altersgruppen ein größeres Ernährungswissen aufweisen. Ab dem Alter von 50 Jahren ist das Ernährungswissen allgemein am schlechtesten. Kochkompetenz: Es lässt sich feststellen, dass Frauen besser kochen als Männer. Zudem verbessert sich die Kochkompetenz bei Frauen mit dem Alter. Dieser Zusammengang ist bei Männern so nicht feststellbar.
Auffällig an den Untersuchungsergebnissen ist, dass kein Versuch unternommen wird, die Ergebnisse weitergehend zu interpretieren oder Zusammenhänge herzustellen. Welche Bedeutung die Faktoren Alter und Geschlecht für das Ernährungsverhalten haben, wird nicht dargestellt. Über eine bloße Beschreibung der statistischen Ergebnisse geht der Bericht nicht hinaus. Das ist besonders schade, da erst eine Bewertung der Ergebnisse interessante Rückschlüsse zulassen würde. Wie diese Ergebnisse in die Ernährungsaufklärung einfließen sollen, bleibt so ungeklärt. Im Weiteren stellt sich die Frage, welche Probleme aus einem medizinisch/naturwissenschaftlich ausgerichteten Ernährungsdiskurs entstehen. Auf
23 Dieses Ergebnis ist interessant, da nicht davon auszugehen ist, dass Frauen die geringste Quote an Übergewichtigen aufweisen, weil sie so oft Diät halten, also die geringe Quote an Übergewichtigen durch die Diäten hervorgerufen werden. Statistiken zeigen sogar, dass nur 5 Prozent der Personen, die Diät halten, ihr Gewicht langfristig halten können (vgl. Grogan 2008: 33). Es ist also davon auszugehen, dass viele Frauen dieser Altersgruppe Diät halten, obwohl sie bereits vor der Diät als normalgewichtig eingestuft worden wären.
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
diese Leerstellen im Ernährungsbericht wird im Kapitel 2.2.3 nochmal Bezug genommen.
Problematik der Medizinisierung des Ernährungsdiskurses Die ernährungsphysiologische Forschungsausrichtung ist durchaus relevant, sie verschließt jedoch die Augen vor der ebenso großen Bedeutung sozialer und kultureller Aspekte von Ernährung: „... die empirische Ernährungsforschung vergibt mit dieser unnötigen eingeengten Perspektive die Chance, weiterführende soziologische Zusammenhänge aufzudecken und theoretische Anschlüsse zu finden.“ (Prahl/Setzwein 1999: 67)
Eines der Hauptprobleme des medizinisierten Diskurses liegt in der Forderung, dass sich das Individuum rational und damit nach wissenschaftlichen Maßstäben 'gesund' ernähren soll. Dies baut auf der Vorstellung auf, dass das Individuum rational handelt und das allein das Wissen über 'gesunde' Ernährung zu einem gesundheitsbewussteren Lebensstil führt. Die Entscheidung, was gegessen wird und was nicht, hängt jedoch von vielen Einflussfaktoren ab. Die traditionelle Ernährungsaufklärung betont jedoch nur die gesundheitlichen Aspekte, was das individuelle Ernährungsverhalten nur bedingt beeinflussen kann. Das was 'gesund' ist, wird vollkommen aus Alltagsbezügen, also aus Geschmack, Traditionen oder Erfahrungen, heraus gelöst. Dieses Konzept lässt gänzlich außer Acht, dass der soziokulturelle Kontext beim Ernährungsverhalten eine große Rolle spielt (vgl. Mense 2007: 26).
2.2 Ernährungsdiskurs
45
„Durch die schnelle (vielleicht auch vorschnelle) Veröffentlichung neuster Untersuchungsergebnisse ist das interessierte Publikum heute sicherlich umfassender über Details des Zusammenhangs von Ernährung und Gesundheit informiert. Andererseits führt die Fülle an – zumeist noch wissenschaftlich umstrittenen – Ergebnissen zu Verunsicherung, zu dem Gefühl der Überforderung (Informationsüberlastung) und nicht selten zu Resignation. Entscheidend ist auch, daß Verbraucher oft überhaupt nicht in der Lage sind, diese naturwissenschaftlichen Detailinformationen in konkretes Handeln umzusetzen, d.h. ihr Ernährungsverhalten entsprechen zu ändern.“ (Bayer u. a. 1999: 44)
Die weitgehend einseitige Diskursivierung von Ernährung hat also nur geringfügig zur Verbesserung des Ernährungsverhaltens beigetragen. Vielmehr lässt sich feststellen, dass die wissenschaftlichen Informationen oft zu Verunsicherung führen. Diese Verunsicherung kann schnell zu Resignation und sogar zur direkten Ablehnung der Ernährungsempfehlungen führen. Barlösius geht so weit, zu sagen, dass der Diskurs um Ernährung den Menschen den Appetit verdorben habe (vgl. Barlösius 1999: 22). Indem die Deutsche Gesellschaft für Ernährung Lebensstile und Essbedürfnisse außen vor lässt, erreicht sie überwiegend die Menschen, die mit diesem Wertekonzept bereits übereinstimmen, besonders in Bezug auf die Vorliebe für bestimmte Lebensmittel wie Obst und Gemüse und dem angestrebten Körperbild. Empirische Untersuchungen belegen, dass die ernährungswissenschaftliche Aufklärung hauptsächlich von mittleren Schichten angenommen wird und dass der häufig in unteren sozialen Lagen gelebte Essstil den empfohlenen Ernährungsweisen widerspricht. Damit wird dieser kulturelle Lebensstil entwertet. Barlösius geht davon aus, dass hinter dem geringen Erfolg der Ernährungsaufklärung auch Ablehnung gegenüber herrschenden Normen von 'gesunder' Ernährung steckt (vgl. ebd. 224 f.). Ein Problem ist, dass Ernährungsverhalten oft unabhängig von Lebensbedingungen gesehen wird und es dabei als Fehlverhalten von Einzelpersonen abgestempelt wird (vgl. Barlösius 1999: 225; Mense 2007: 26 f.; Pudel 1988: 11).
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
2.2.3 Soziokulturelle Einflussfaktoren auf das Ernährungsverhalten von Individuen Im Folgenden will ich bekannte Einflussfaktoren auf das Ernährungsverhalten näher betrachten. Es geht vor allem darum, einen Überblick über die Parameter zu erlangen, um deren Relevanz besser einschätzen zu können. Hierbei soll Bezug auf die Ergebnisse der Analyse des Ernährungsberichts 2008 genommen werden, um herauszuarbeiten, ob und wenn ja wie die verschiedenen Faktoren im Ernährungsbericht dargestellt werden.
Schicht Studien konnten feststellen, dass sich in höheren Schichten tendenziell 'gesünder' ernährt wird. Das Ernährungsverhalten mittlerer und oberer Schichten zeichnet sich durch mehr Auswahl, eine größere Anzahl an Diätprodukten und Lebensmitteln, die gerade in Mode sind, sowie durch einen niedrigeren Fleischkonsum aus. In unteren sozialen Schichten werden größere Mengen an Grundnahrungsmitteln verzehrt, wie z. B. Kartoffeln, Weißbrot, Zucker, Butter und größere Mengen Fleisch. Studien zu Kindern aus armen Haushalten zeigen, dass sie „signifikant weniger Rohgemüse und Vollkornbrot“ und „mehr Chips, Pommes und Soft Drinks“ (Hayn u. a. 2005: 69) zu sich nehmen. Personen aus niedrigeren sozialen Lagen sind häufiger von ernährungsbedingten Krankheiten betroffen, wie z. B. Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes Typ II. Die Gründe sind nicht nur im Ernährungsverhalten, sondern ebenso in der fehlenden Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, in Einstellungen zum eigenen Körper und im gesundheitsgefährdenden Risikoverhalten, wie z. B. dem Konsum von Zigaretten und Drogen zu sehen (vgl. Prahl/Setzwein 1999: 67 f.). Zusätzlich konnten Stephanie Lehmkühler und Ingrid-Ute Leonhäuser aufdecken, dass in armen Haushalten Kompetenzen hinsichtlich Ernährung, Einkauf und Haushaltsführung
2.2 Ernährungsdiskurs
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fehlen (Lehmkühler/Leonhäuser 1998: 79)24. Weitet man die Forschung auf das Konzept der Lebensstile25 aus, lässt sich insgesamt feststellen, dass das Ernährungsverhalten maßgeblich vom Lebensstil beeinflusst wird und dass eine Änderung im Ernährungsverhalten eine Änderung des gesamten Lebensstils und der Alltagsroutinen voraussetzt (vgl. Gerhards/Rössel 2003: 12)26. Im Ernährungsbericht 2008 lassen sich keine Darstellungen nach bestimmten Schichtunterschieden auffinden. Obwohl zu Beginn des Kapitels 1.3 die Bedeutung des kulturellen und sozialen Hintergrunds hervorgehoben wird, geht der Bericht nicht auf Schichtunterschiede ein. Eine nähere Untersuchung des Diätverhaltens, der Ernährungsweise und des Ernährungswissens anhand dieser Kategorien wäre ratsam, wie die oben dargestellten Unterschiede im Ernährungsverhalten nahelegen.
Geschlecht Bei der Analyse der geschlechtsspezifischen Ernährungsweisen treten deutliche Unterschiede zu Tage. In verschiedensten Studien konnte festgestellt werden, dass Frauen und Mädchen sich 'gesünder' ernähren als Männer und Jungen. „Männliche Jugendliche ernähren sich weniger gesund als weibliche Jugendliche. Sie essen mehr Snacks, Süßigkeiten, Fleisch, konsumieren mehr Drogen, Süßgetränke und verzehren zugleich aber weniger Obst, Gemüse und Vollkornbrot.“ (Gerhards/Rössel 2003: 68)
24 Lehmkühler u. a. zeigten mit ihrer Untersuchung, dass das 'ungesunde' Ernährungsverhalten unterer sozialer Schichten auch durch den ökonomisch vorgegebenen Handlungsrahmen bedingt ist (vgl. Lehmkühler/Leonhäuser 1998). 25 Zum Konzept der Lebensstile vgl. Gerhards/Rössel 2003. 26 Eine weiterführende Untersuchung anhand des Lebensstilkonzepts würde ich für besonders gewinnbringend halten, da es vor allem Verhaltensroutinen und Symboliken in den Blick nimmt, was für die Ernährungsforschung hilfreich ist. Das Konzept der Lebensstile soll dabei nicht die Strukturkategorien Schicht und Klasse ablösen. Ein brauchbares Konzept müsste die Bedeutung sozialstruktureller Einflüsse auf den Lebensstil in den Mittelpunkt stellen. Da sich ein Großteil der Untersuchungen jedoch des Schichtbegriffs bedienen (u. a. Benecke/Vogel 2005; Helfferich 1994; Prahl/Setzwein 1999), spreche ich im Folgenden von Schichtzugehörigkeit.
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
In verschiedensten Studien wurde immer wieder belegt, dass Frauen sich besser ernähren, mehr auf ihre Gesundheit achten und mehr Diäten machen (vgl. Setzwein 2004: 62). Erklärt wird dieses Phänomen in der Regel mit unterschiedlichen Körpervorstellungen. Die weibliche Identität sei stärker mit dem Ideal eines schlanken Körpers verbunden, so dass Frauen stärker auf eine 'gesunde' bzw. nicht-dick-machende Ernährung setzen (vgl. Gerhards/Rössel 2003: 17). Diese Befunde lassen sich auch im Ernährungsbericht 2008 wieder finden. Hier wird angeführt, dass mehr als doppelt so viele junge Frauen wie Männer eine Diät durchführen und generell unzufriedener mit ihrem Körper sind (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2008a: 39 f.). Zudem attestiert der Ernährungsbericht Frauen ein besseres Ernährungswissen als den gleichaltrigen Männern. Der Ernährungsbericht untersuchte im Speziellen das Ernährungswissen über probiotische Joghurts und ACE-Getränke, das Wissen über Nahrungsmittelsiegel, sowie Wissen über den eigenen Kalorienbedarf. Zwei prägnante Sätze seien hier herausgegriffen: „Das Wissen der Frauen über besondere Lebensmittel, wie probiotische Joghurts und ACE-Getränke, ist im Vergleich zu den Männern über alle Altersgruppen betrachtet immer größer.“ (ebd.: 45) „Am bekanntesten sind das CMA-Gütezeichen, das Bio-Siegel und das BiolandSiegel. Alle 3 Siegel sind bei Frauen bekannter als bei Männern.“ (ebd.)
Über die Darstellung der Ergebnisse geht der Bericht jedoch nicht hinaus. Es gibt keinen Versuch, Erklärungen und Zusammenhänge für die aufgezeigten Geschlechterunterschiede zu finden. Es bleibt die Frage offen, wie diese Geschlechterunterschiede im Ernährungsverhalten zu erklären sind. Hierbei ist also eine große Leerstelle auszumachen.
2.2 Ernährungsdiskurs
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Alter Altersspezifisches Essverhalten lässt sich in verschiedenen Bereichen ausmachen. Kinder und Jugendliche essen lieber Nudeln, Pizza, Pommes etc. Ältere Menschen bevorzugen zum Mittagessen die traditionelle Dreiteilung von Fleisch, Gemüse und Stärkebeilage. Allgemein essen junge Menschen vermehrt Fastfood und ältere Menschen legen mehr Wert auf eine warme Mittagsmahlzeit. Es lässt sich feststellen, dass das Ernährungsbewusstsein mit dem Alter steigt und mehr auf die Ernährung geachtet wird (vgl. Hayn u. a. 2005: 63). Als Gründe hierfür werden gesundheitliche Erfahrungen und der höhere Einfluss medizinischer Kontrolle genannt. Trotzdem wird bei alten Menschen immer wieder kritisiert, dass sie sich zu einseitig ernähren und ihre Ernährungsgewohnheiten nicht an den gesunkenen Energiebedarf angleichen (vgl. Prahl/Setzwein 1999: 81 f.). Der Ernährungsbericht schlüsselt viele seiner Daten nach Altersgruppen auf und zeigt so interessante Zusammenhänge zwischen dem Alter und dem Ernährungsverhalten auf. Es konnte aufgezeigt werden, dass die Anzahl der Diäten, vor allem aufgrund von Stoffwechselerkrankungen, mit dem Alter zunehmen und ebenso, dass das Gewicht mit dem Alter tendenziell zunimmt. Ebenso konnte verdeutlicht werden, dass Wissen über neue Lebensmittel wie probiotischer Joghurts oder über Lebensmittelsiegel bei Jüngeren ausgeprägter ist. Hier seien ein paar Zitate zur Veranschaulichung herausgegriffen: „Interessant ist hier die Altersverteilung: In der unteren Altersgruppe (15 bis 24 Jahre) beurteilen wesentlich weniger der befragten Frauen und Männer ihr Gewicht als zu hoch als bei den über 40-jährigen Frauen und Männern. Diese Wahrnehmung entspricht der Realität, denn mit dem Alter nimmt das Gewicht auch europaweit zu.“ (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2008a: 40) „Das Wissen über diese relativ 'neuen' Lebensmittel ist bei Frauen und Männern in den Altersgruppen von 25 bis 50 Jahren (probiotische Joghurts) und 19 bis 24 Jahren (ACE-Getränke) am größten. Auch die 14- bis 18-jährigen männlichen und weiblichen Studienteilnehmer wissen deutlich häufiger, was ACE-Säfte sind als die über 50-jährigen Frauen und Männer.“ (ebd.: 45)
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2 Diskursivität von 'gesunder' Ernährung
Wie bereits bei den geschlechtsspezifischen Unterschieden festgestellt, wird auch an dieser Stelle kein Versuch unternommen, Zusammenhänge aufzuzeigen oder Erklärungsmuster zu finden. Über eine deskriptive Darstellung der Befunde reicht der Bericht nicht hinaus.
Weitere Einflussfaktoren In verschiedensten Studien wurden noch weitere Einflussfaktoren untersucht, wie Ernährungseinstellungen, sowie Familien- und Haushaltssituation, die jedoch keine eindeutigen Ergebnisse liefern konnten und zumeist stark mit anderen Faktoren korrelieren (vgl. Gerhards/Rössel 2003: 19 ff.).
2.3 Zwischenfazit Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der 'gesunden' Ernährung hat gezeigt, dass der Begriff 'gesund' äußerst wandelbar und umstritten ist. Es gibt also nicht die 'gesunde' Ernährung, nach der sich zu richten ist. Eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen von 'gesund' und 'ungesund' strömen auf uns ein. Dabei spielen vor allem naturwissenschaftlich medizinisch ausgerichtete Diskursstränge eine besondere Rolle. Debatten um Nährwerttabellen und Body-Mass-Indices beeinflussen uns stark in unserem Ernährungsverhalten, denn unser Handeln ist immer eingebettet in die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir uns bewegen. Das was wir in Bezug auf Ernährung als richtig erachten, ist nicht als unumstößliche Wahrheit zu sehen, sondern als diskursiv, das heißt, durch gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse erst hervorgebrachte Wahrheit. Die uns konstituierenden Diskurse machen Essen und Trinken, ohne Gedanken an 'gesund' und 'ungesund', unmöglich. Im Mittelpunkt des Diskurses stehen Fragen um die gesundheitlichen Auswirkungen von Übergewicht und die dadurch entstehenden
2.3 Zwischenfazit
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gesellschaftlichen Kosten27. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Diskurs um Ernährung in unserer Gesellschaft eine große Rolle spielt. Ständig wirken verschiedene Ernährungsideale und -vorschläge auf uns ein und beeinflussen unser Handeln. Diese Ideale führen bei vielen Menschen nicht zu einem verbesserten Ernährungsverhalten sondern wirken sich eher verunsichernd aus. An diesem Punkt stellt sich die Frage, welche Einflussfaktoren auf das Ernährungsverhalten von Individuen einwirken. In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass verschiedene soziokulturelle Einflussfaktoren sich auf das Ernährungsverhalten von Individuen auswirken. Hierbei geht es unter anderem um die Kategorien Geschlecht, Alter, Bildung, soziale Herkunft etc. Im Ernährungsbericht 2008 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sind die Daten zum Ernährungsverhalten weitestgehend nach Geschlecht aufgeschlüsselt (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2008a). Es wurde jedoch versäumt, Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen und geschlechtsspezifischem Ernährungsverhalten herzustellen. Insgesamt konnte ich in der Analyse des Ernährungsberichts feststellen, dass kein Versuch unternommen wird, das aufgezeigte Ernährungsverhalten zu erklären oder weitergehend zu interpretieren. Ich möchte mich im Weiteren auf die Kategorie Geschlecht konzentrieren, was nicht bedeuten soll, dass die Kategorie Geschlecht die Einflüsse von Schichten in den Schatten stellt. Vielmehr gehe ich davon aus, dass viele Einflüsse das Ernährungsverhalten prägen und dass gesellschaftliche Strukturen im Ernährungsverhalten reproduziert werden. Diesen Zusammenhang möchte ich exemplarisch am Beispiel der Kategorie Geschlecht verdeutlichen. Der Zusammenhang von Ernährung und Geschlecht ist aus zweierlei Sichtweisen interessant. Zum einen zeigt die Analyse des Ernährungsberichts bereits auf, dass es eklatante Unterschiede im Ernährungsverhalten im Vergleich der Geschlechter gibt. Es ist also augenscheinlich, dass die Kategorie Geschlecht einen großen Einfluss auf das Ernährungsverhalten der Individuen hat. Auf der anderen Seite 27 „Die gegenwärtige Diskussion über Ernährung ist geprägt durch die Auslobung von präventiven bzw. therapeutischen Maßnahmen zur Eindämmung bzw. Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas.“ (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2008a: 5)
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2 Diskursivität von 'gesund' Ernährung
ist der Bereich der Ernährung aus Sicht der Geschlechterforschung interessant. Es soll näher untersucht werden, inwieweit die geschlechtlichen Hierarchien im Ernährungsverhalten wiederzufinden sind und wiederum durch diese reproduziert werden. Also: Wie wird Geschlecht im Ernährungsverhalten hergestellt? Und welche Bedeutung haben geschlechtssegregierende Prozesse im Ernährungsverhalten für die gesamtgesellschaftliche Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit?
3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
Dieser Abschnitt soll sich zunächst mit der Frage beschäftigen, was das geschlechtsspezifische Ernährungsverhalten ausmacht und welche Aspekte dabei besonders hervorstechen. Im zweiten Teil geht es darum, zu klären, welche Konstruktionsprozesse von Geschlecht in unserer Gesellschaft im Allgemeinen eine Rolle spielen, um im Weiteren zu diskutieren, inwieweit diese Ansätze zur Erklärung von geschlechtsspezifischem Ernährungsverhalten nützlich sind. Anschließend werde ich im Einzelnen auf die verschiedenen Erklärungsmuster von geschlechtsspezifischer Ernährung eingegangen, um darzulegen, welche Bedingungen auf die Ernährung der Geschlechter einwirken und die Unterschiede erklärbar machen.
3.1 Geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten Um der Frage nach geschlechtsspezifischem Ernährungsverhalten auf den Grund zu gehen, werde ich mich an den Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung orientieren. Auch wenn ich davon ausgehe, dass der vorherrschende Begriff von 'gesunder' Ernährung im historischen Kontext von gesundheitspolitischen Zielen und historischen Wandlungsprozessen zu sehen ist28, so bietet der Begriff von 'gesunder' Ernährung, der von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung geprägt wurde, aktuell einen hilfreichen Anhaltspunkt, um Unterschiede im geschlechtsspezifischen Ernährungsverhalten zu untersu-
28
Vergleiche Kapitel 2 zur Diskursivität von 'gesunder' Ernährung.
K. Schritt, Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen, DOI 10.1007/978-3-531-92692-6_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
chen29. Konkret geht es um die Frage, ob Frauen sich 'gesünder' ernähren als Männer. Dabei ist es wichtig, nochmals zu betonen, dass die Referenzwerte und Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung Ergebnisse des derzeitigen Diskurses um 'gesunde' Ernährung sind bzw. diesen maßgeblich prägen.
3.1.1 Allgemeine Ernährungstrends Obwohl in vielen Ländern immer noch die Sorge um eine ausreichende Ernährungsversorgung im Mittelpunkt steht, kann in unserer Gesellschaft eher von einer Überversorgung mit Lebensmitteln gesprochen werden. Die Ernährung in der Bundesrepublik Deutschland ist gekennzeichnet durch eine zu hohe Nährstoffaufnahme im Verhältnis zum Energieverbrauch. Die mangelnde Bewegung durch überwiegend sitzende Tätigkeiten verschärft die Situation. Dieser Trend spiegelt sich in der Zahl der übergewichtigen und adipösen Menschen wieder. Insgesamt sind in Deutschland 66 Prozent der Männer und 50,6 Prozent der Frauen übergewichtig. Jeder fünfte hat sogar einen Body-Mass-Index über 30 kg/m² und gilt damit als adipös30. Die Zahl der Übergewichtigen und Adipösen liegt schon bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren zwischen 18,1 Prozent bei Jungen und 16,4 Prozent bei Mädchen. Auffällig ist, dass der Anteil der Übergewichtigen und Adipösen mit dem Alter stetig ansteigt (vgl. Max RubnerInstitut 2008a: XI). Neben einer überhöhten Nährstoffaufnahme insgesamt wird vor allem die Nahrungszusammensetzung beklagt. Es werde zu wenig Obst und Gemüse gegessen und der hohe Konsum von Süßigkeiten und tierischen Fetten sei problematisch. Auch wenn der Fettanteil in den letzten Jahren in der Ernährung leicht zurückgegangen ist, so nehmen immer noch 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung über 40 Prozent (Richtwert: 30 Prozent) ihrer Energie über Fette zu sich. Den 29 Zu den Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung siehe www.dge.de (Stand: 09.06.09). 30 Bei Adipositas handelt es sich um starkes Übergewicht. Zur Abgrenzung von Übergewicht und Adipositas wird der Body-Mass-Index verwendet. Siehe hierzu Anhang 6.1.
3.1 Geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten
55
Ernährungsempfehlungen zufolge sollen Kohlenhydrate an der Gesamtaufnahme 50 Prozent betragen. Diesen Wert erreicht jedoch nur etwa die Hälfte der Bevölkerung. Und die Mehrheit erreicht die Richtwerte für Ballaststoffe nicht (vgl. Robert-Koch-Institut 2006: 99). Vor allem der hohe Fettanteil in der Ernährung trägt zu der Entstehung von Übergewicht bei. Das Robert-Koch Institut konstatiert: „Es wird deutlich, dass gegenwärtig in der deutschen Bevölkerung im Durchschnitt noch immer zuviel Energie über Fette und Eiweiß zugeführt wird, der Anteil von Kohlenhydraten (vor allem Getreideprodukte, Nudeln und Reis) ist zu niedrig.“ (Benecke/Vogel 2005: 13)
Gleichwohl lässt sich eine positive Entwicklung erkennen. Seit den 80er Jahren ist der Konsum von Obst und Gemüse gestiegen, es werden mehr ballaststoffreiche Lebensmittel verzehrt und der Anteil an kohlenhydratreicher Kost an der Ernährung ist gestiegen (vgl. Robert-Koch-Institut 2006: 97).
3.1.2 Ernährungsverhalten nach Geschlecht Nahezu alle Daten zum Ernährungsverhalten sind heute nach Geschlecht aufgeschlüsselt. Bei der Auswertung der Ergebnisse treten verschiedene geschlechtsspezifische Verhaltensmuster zu Tage. Einige ausgewählte Beispiele sollen hier dargestellt werden. Frauen nehmen im Durchschnitt eklatant weniger Energie über die Ernährung auf. Die mediane Energiezufuhr liegt bei Männern bei 2413 kcal pro Tag und bei Frauen bei 1833 kcal pro Tag (vgl. Max Rubner-Institut 2008b: 166). Diese Werte entsprechen in etwa den Empfehlungen für die Energiezufuhr bei sitzender Tätigkeit für Männer und Frauen. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden erklärt mit einem generell, also biologisch, unterschiedlichen Energiebedarf von Männern und Frauen (vgl. Mensink 2002: 19; Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2009b). Immer wieder wird Frauen attestiert, dass sie
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
sich 'gesünder' ernähren als Männer. Das 'gesündere' Ernährungsverhalten lässt sich zum einen im Verzehr von Fleisch und Wurstwaren aufzeigen. Männer verzehren fast doppelt so viel Fleisch wie Frauen. Vor allem im Jugendalter ist der Verzehr von Fleisch bei männlichen Jugendlichen extrem hoch31. In allen Altersstufen übersteigt der Konsum von Fleisch bei Männern die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung32. Frauen trinken mehr Kräutertees und Männer trinken mehr zuckerhaltige Getränke. Zudem trinken Männer fast viermal so viel alkoholische Getränke wie Frauen. Ein besonders auffälliger Unterschied ist der Verzehr von Obst und Gemüse. Frauen essen sehr viel mehr Obst als Männer (270g/Tag bei Frauen zu 220g/Tag bei Männern) und auch beim Gemüse (ohne Kartoffeln) zeigt sich dieser Zusammenhang (129g/Tag Gemüse, Pilze und Hülsenfrüchte bei Frauen und 112g/Tag bei Männern). Dieser Zusammenhang ist herausragend, da Frauen trotz ihres insgesamt niedrigeren Gesamtumsatzes in absoluten Zahlen mehr Obst und Gemüse konsumieren (vgl. Max Rubner-Institut 2008b: 160 ff.). Insgesamt erreichen die Hälfte der Frauen und zwei Drittel der Männer die Empfehlungen von 400g Obst und Gemüse pro Tag nicht (vgl. Mensink 2002: 92). Zusammenfassend lässt sich sagen: „Männer essen durchschnittlich mehr, Frauen essen im Schnitt etwas gesünder. So trinken Frauen etwas mehr Wasser, verzehren mehr Obst und – gemessen an ihrer Energiezufuhr – auch mehr Gemüse.“ (Robert-Koch-Institut 2006: 97)
Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Jürgen Gerhards und Jörg Rössel bei einer Studie zu Essverhalten von Jugendlichen. In Bezug auf geschlechtsspezifische Unterschiede konstatieren sie:
31
An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass der Gesamtenergieumsatz von Männern deutlich höher ist und sich dadurch der höhere Fleischkonsum etwas relativiert. Dieser Zusammenhang wird jedoch in den meisten Statistiken nicht berücksichtigt. 32 Der Verzehr von großen Mengen Fleisch und Wurstwaren ist problematisch, da mit ihm eine erhöhte Zufuhr von gesättigten Fettsäuren und Cholesterin einhergeht.
3.1 Geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten
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„Männliche Jugendliche ernähren sich weniger gesund als weibliche Jugendliche. Sie essen mehr Snacks, Süßigkeiten, Fleisch, konsumieren mehr Drogen, Süßgetränke und verzehren zugleich aber weniger Obst, Gemüse und Vollkornbrot.“ (Gerhards/Rössel 2003: 68)
An dieser Stelle sei zudem auf die Verschränkung von geschlechts- und schichtspezifischen Unterschieden im Ernährungsverhalten hingewiesen. Im Durchschnitt ernähren sich Männer und Frauen unterer Gesellschaftsschichten 'ungesünder'. Sie verzehren mehr Fleisch, vor allem mehr Wurstwaren, mehr Streichfette, weniger Obst und Gemüse, zudem trinken sie drei bis viermal mehr zuckerhaltige Getränke (vgl. Max Rubner-Institut 2008b: 163). Im Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede ist es interessant, dass die durchschnittliche Nährstoffaufnahme bei Männern mit zunehmendem sozioökonomischen Status sinkt. Bei Frauen ist dieser Zusammenhang nicht erkennbar. Bei Männern wird dieser Zusammenhang mit unterschiedlichen Anforderungen im Beruf erklärt. Die Unterschiede bei Frauen seien möglicherweise mit „anderen Faktoren“ zu erklären. Was „andere Faktoren“ sein könnten wird nicht weiter ausgeführt und bleibt unkommentiert stehen33 (vgl. Mensink 2002: 19 f.). Ähnliche Ergebnisse konnten in einer Studie in Norwegen festgestellt werden. „While women in all educational groups gave similar responses concerning emphasis on vegetables and for 'variation in the diet' and 'home-made foods', the interest shown by men changed substantially as educational level increased.“ (Fagerli/Wandel 1999: 185)
Die Studie konnte aufzeigen, dass der Verzehr von Lebensmitteln bei Frauen tendenziell weniger von sozioökonomischen Variablen abhängt als bei Männern. Die Analyse der Nährstoffaufnahme zeigt, dass Männer im Durchschnitt dreimal so viel Fett zu sich nehmen wie Frauen. In Prozent an der Gesamtenergieaufnahme wird diese Differenz jedoch deutlich kleiner. 80 Prozent der Männer und 76 Prozent der Frauen liegen mit ihrem Fettkonsum oberhalb vom emp33 Die geringeren Unterschiede bei Frauen verschiedener gesellschaftlicher Schichten lassen sich möglicherweise durch das gesamtgesellschaftlich verbreitete Schlankheitsideal erklären, dass bei Frauen aller Gesellschaftsschichten auf ähnliche Weise wirkt. Siehe hierzu Kapitel 3.3.1.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
fohlenen Tagesbedarf. Frauen haben in allen Altersstufen einen höheren Anteil an Kohlenhydraten in ihrer Ernährung. Etwa die Hälfte der Frauen und drei Viertel der Männer erreichen damit nicht die empfohlenen Richtwerte. Generell lässt sich jedoch feststellen, dass der Unterschied in der Nährstoffaufnahme, ausgenommen die gesamte Energiezufuhr, nicht so eklatant ist wie oft vermutet wird. Die folgende Tabelle verdeutlicht dies.
Tabelle 2: Empfohlener Prozentsatz der verschiedenen Energiequellen im Vergleich zum tatsächlichen aufgenommenen Prozentsatz nach Geschlecht Energiequelle
Empfehlungen der DGE für die Anteile der Energieaufnahme
Kohlenhydrate Fette Proteine
60% 30% 10%
Tatsächlicher Anteil an der Energieaufnahme 1998 Frauen Männer 49% 45% 35% 36% 14% 14%
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Max Rubner-Institut 2008b: 166.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterschiede zwischen Männern und Frauen vor allem in der durchschnittlichen Gesamtenergieaufnahme liegen. Zudem ist der Unterschied im täglichen Verzehr von Obst und Gemüse sowie Fleisch als beispielhaft für geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten zu sehen, so dass in der Tendenz eine etwas 'gesündere' Ernährung von Frauen ausgemacht werden kann.
3.1 Geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten
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3.1.3 Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Ernährungsempfehlungen Bei der Beschäftigung mit dem Thema der Ernährung bin ich darauf gestoßen, dass Frauen und Männern u. a. eine unterschiedliche Nährstoffzufuhr empfohlen wird (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2009b). Auffällig ist, dass die Unterscheidung nach Geschlecht nicht hinterfragt wird und es bleibt unklar, wie die Kategorisierung nach Geschlecht zu begründen ist. In diesem Zusammenhang wird mit zum Teil tautologischen Begründungen auf 'natürliche' Unterschiede hingewiesen. „Frauen haben generell eine geringere Energieaufnahme als Männer. Dies ist auf ihren geringeren Energiebedarf zurückzuführen.“ (Mensink 2002: 19)
In einem anderen Zusammenhang geht Gert Mensink etwas ausführlicher auf diesen Sachverhalt ein: „Der höhere Energiebedarf der Männer ist unter anderem auf eine durchschnittlich höhere Körpergröße und ein höheres Gewicht, einen höheren Muskelanteil im Körper sowie eine höhere körperliche Aktivität des Mannes zurückzuführen.“ (Mensink 2004: 159)
Dieser vermeintliche Zusammenhang von Größe, Gewicht, Muskelmasse und Geschlecht lässt sich nur in der Tendenz bestätigen. Die alltägliche Erfahrung zeigt, dass es genug Abweichungen von der Annahme gibt, dass Männer größer oder auch stärker seien als Frauen. Deshalb halte ich es für sinnvoll, die Variablen Größe und körperliche Aktivität zur Kategorisierung zu nutzen, anstatt den irreführenden Zusammenhang zwischen Geschlecht und Nährstoffbedarf aufrechtzuerhalten. Ich bin der Ansicht, dass dieser Zusammenhang neu überdacht und modifiziert werden müsste, um einer angemessenen Kategorisierung gerecht zu werden.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
Des Weiteren bin ich auf eine Aussage gestoßen, die zunächst verwirrt: „Um ihrem Nährstoffbedarf gerecht zu werden, sollten vor allem Frauen und ältere Personen verstärkt auf eine ausgewogene Lebensmittelauswahl achten.“ (Mensink 2002: 19)
An anderer Stelle in ähnlicher Weise: „Bis auf wenige Ausnahmen ist die Ernährung der Männer nährstoffärmer als die der Frauen. Durch ihre höhere Gesamtaufnahme sind sie jedoch oft besser mit Nährstoffen versorgt als Frauen.“ (Mensink 2004: 161)
An dieser Stelle sei nochmal darauf verwiesen, dass die Ergebnisse der Nationalen Verzehrsstudie von 2008 aufzeigen, dass Männer durchschnittlich 2413 kcal/Tag zu sich nehmen und Frauen 1833 kcal/Tag. Damit entsprechen sie beide in etwa den Richtlinien für die Nährstoffaufnahme der deutschen Gesellschaft für Ernährung. Wenn dies so ist, warum wird Frauen dann empfohlen, besonders auf ihre Ernährung zu achten? Wenn ihr Nährstoffbedarf insgesamt niedriger liegt, so kann man doch davon ausgehen, dass sie auch mit weniger Nährstoffen ihren Bedarf decken können. Diese Annahme wird von Ernährungswissenschaftler Claus Leitzmann bestätigt: „Der Nährstoffbedarf pro Kilogramm fettreicher Körpermasse ist (...) für beide Geschlechter gleich.“ (Leitzmann 2001: 294). Ich halte es also für wahrscheinlich, dass in diesem Zusammenhang vielmehr geschlechtsspezifische Konstruktionsprozesse eine Rolle spielen, als dass dieser Zusammenhang medizinisch erklärbar ist. Die Auseinandersetzung mit statistischen Untersuchungen zu geschlechtsspezifischem Ernährungsverhalten unterstützt die weit verbreitete Meinung, dass Männer und Frauen sich unterschiedlich ernähren. Die größten Unterschiede werden in der täglichen Verzehrsmenge und im Konsum einzelner Lebensmittelgruppen deutlich (z. B. Fleisch, Obst und Gemüse). Nun stellt sich die Frage, wie diese Unterschiede erklärbar sind. Im nächsten Abschnitt werde ich Konstruktionsprozesse von Geschlecht unter die Lupe nehmen, um eine theoretische Grundlage
3.1 Geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten
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für die Auseinandersetzung mit Ernährungsdifferenzen zu schaffen. Dabei steht im Mittelpunkt, wie Geschlecht in Interaktionsprozessen hergestellt wird und was diese Differenzierung in unserer Gesellschaft bewirkt. Im Abschnitt 3.3 werden dann verschiedene Dimensionen in Bezug auf ihre Wirkmächtigkeit auf geschlechtsspezifische Ernährungsdifferenzen diskutiert. Dabei nehme ich drei Dimensionen in den Blickpunkt: Können Körperideale, gesellschaftliche Arbeitsteilung und/oder die Bedeutung von Essen für die Identitätsbildung die unterschiedlichen Ernährungsweisen erklären und wie wirken diese Erklärungsmuster zusammen?
3.2 Geschlechtliche Konstruktionsprozesse In diesem Abschnitt geht es um die Frage, welche geschlechtsspezifischen Konstruktionsprozesse in unserer Gesellschaft wirksam sind und welche Konsequenzen die Differenzierung nach Männern und Frauen hat. Es geht also weniger um die Frage der Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sondern um die Frage, wie die Unterschiede hergestellt werden und welche Bedeutung sie haben.
3.2.1 Produktion von Geschlecht durch Handeln Ausgehend von der These, dass das Handeln von Individuen durch Diskurse und gesellschaftliche Wissensbestände geprägt ist34, geht das Konzept des doing gender davon aus, dass Geschlecht nicht 'vorsozial' gegeben ist, sondern dass die Unterscheidung nach Frauen und Männer durch Alltagspraktiken erst konstituiert wird. Der Begriff des doing gender stammt aus der Ethnomethodologie. Diese Sichtweise auf Geschlecht wurde zuerst durch Harold Garfinkel stark gemacht. In seiner Fallstudie über Agnes, eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle, machte er deutlich, dass Geschlecht eine sozial konstruierte Kategorie ist (vgl. Garfinkel 34
Vergleiche Kapitel 2.1 zur Diskurstheorie.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
1967). Garfinkel stellte sich die Frage, wie Geschlecht jenseits von den primären Geschlechtsorganen in Alltagssituationen hergestellt wird. Die Untersuchung der Lebensrealitäten von Transsexuellen ist deshalb interessant, weil sie offenlegt, dass die biologische Geschlechtszuordnung und die gelebte Geschlechtsidentität keineswegs konsistent sein müssen. Auch mit 'falschen' Geschlechtsorganen kann ein Mensch mit eindeutiger Geschlechtsidentität wahrgenommen werden. Garfinkel konnte mit seiner Studie zeigen, dass das Geschlecht keineswegs von Geburt an vorhanden und unveränderbar ist, sondern in Interaktionssituationen ständig aufs neue hergestellt werden muss. So müssen Transsexuelle, um in ihrem angestrebten Geschlecht akzeptiert zu werden, ihre Geschlechtszugehörigkeit durch Alltagshandlungen und Praktiken interaktiv produzieren. Die meisten Menschen gehen in ihrem Alltagswissen davon aus, dass die Geschlechtszugehörigkeit an den Genitalien eindeutig abzulesen und vorsozial gegeben ist. Geschlecht wird jedoch erst in der Interaktion gegenseitig zugeschrieben. Die primären Geschlechtsorgane haben dabei eine eher geringe Bedeutung, da sie in den meisten Alltagssituationen gar nicht sichtbar sind. Es sind demnach nicht biologische Merkmale, die die Geschlechtszuschreibung ermöglichen (vgl. Meuser 2006: 63 f.; Villa 2006: 85 ff.; Gildemeister/Wetterer 1992). Paula-Irene Villa fasst diese Ergebnisse zusammen: „Ergebnis der Garfinkelschen Studie ist, dass das Geschlecht bzw. die Geschlechtlichkeit eine soziale Konstruktion ist, die einer andauernden Darstellungsarbeit bedarf. Denn wichtiger als Vagina und Busen oder Menstruation sind Gesten, Mimik, Kleidung, Berufswahl, Paarbeziehung usw., an denen sich Personen im Alltag als Frauen oder Männer erkennen und zu erkennen geben.“ (Villa 2006: 87)
Wenn die primären Geschlechtsorgane so eine geringe Bedeutung haben, stellt sich die Frage, wie die Zuordnung zu einem Geschlecht funktioniert. Welche Mechanismen spielen bei der Geschlechtszuweisung eine Rolle? Jedes Individuum ist auf zwei Arten zuständig für die Herstellung der Geschlechter. Zunächst muss jedes Individuum sich in seinem eigenen Geschlecht darstellen (Geschlechterdarstellung). Die eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht ist die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Das Verhalten eines Individuums
3.2 Geschlechtsspezifische Konstruktionsprozesse
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wird danach bemessen, ob es dem Geschlecht, dem es zugeordnet wird, angemessen ist. Abweichungen rufen immer Verunsicherungen hervor und können schnell zu Ablehnung und Verurteilung führen. Zweitens sind Individuen dazu gezwungen, Interaktionspartnern ein Geschlecht zuzuordnen. Dieser Prozess wird als Geschlechterattribution bezeichnet. In der Interaktion werden dann vermeintlich sexuierte Merkmale wie Kleidung, Gangart, Sprechverhalten, Wölbungen unterm T-Shirt etc. selektiv gelesen, so dass eine eindeutige Geschlechtszuordnung vollzogen werden kann. Es geht also nicht um eine Zuordnung nach allen Merkmalen, die zur Verfügung stehen, sondern es werden vielmehr einzelne Fixpunkte herausgegriffen, an denen sich orientiert wird, um einer Person ein Geschlecht zuzuordnen. Das Betrachten ist also immer auch gleichzeitig ein Konstruktionsprozess, dass heißt wir sehen Mann und Frau, weil wir glauben, dass es zwei Geschlechter gibt (vgl. ebd.: 91 ff.). „Das Alltagswissen leitet den Blick auf die richtige Stelle am Körper und lässt andere unwichtig scheinen. Dieses Wissen sorgt dafür, dass wir die Gestalt schließen, also ein kohärentes Ganzes aus einer eventuell widersprüchlichen Erscheinung machen.“ (ebd.: 102)
Von immenser Bedeutung für die Herstellung von Geschlechtsidentitäten sind kulturelle und symbolische Objekte, da die Genitalien ja in Alltagssituationen in der Regel nicht sichtbar sind. Die geschlechtliche Dualität wird dabei nicht nur im Handeln produziert und reproduziert, sondern auch in gesellschaftlichen Strukturen institutionell verankert (vgl. Setzwein 2006: 44). „Zentral für den interaktiven Einsatz des Körpers bei der Konstruktion des Geschlechts sind also Ressourcen, die sichtbar und hörbar die Geschlechtszugehörigkeit darstellen: Stimme, Kosmetik, Kleidung, Gesten, Mimik. Entscheidend ist, dass diese Ressourcen nur mit dem Wissen um ihre soziale Bedeutung Sinn machen und dass dieses Wissen gleichermaßen von Darsteller/innen und Mitwisser/innen (Betrachtende) geteilt werden muss, damit die Geschlechterdifferenz als Vollzugswirklichkeit gelingt.“ (Villa 2006: 108)
Das doing gender wird keinesfalls immer reflektiert, sondern erfolgt oft unbewusst. Kleidung, Gestik und eben auch das Ernährungsverhalten kann aber eben-
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
so aktiv genutzt werden, um die eigene geschlechtliche Identität bewusst darzustellen. Die Bedeutung der Ressource Ernährungsverhalten für die Geschlechterdarstellung und -attribution soll im Kapitel 3.3.3 näher untersucht werden.
3.2.2 Herstellung körperlicher Differenzen durch Handeln Nicht nur auf der Handlungsebene ist das doing gender wirksam. Auch auf körperlich materieller Ebene kann von einer Herstellung von Geschlecht gesprochen werden. Immer wieder gibt es Strategien, auch den Körper den gesellschaftlich codierten Geschlechtsmerkmalen anzupassen. Ein Beispiel ist der Umgang von Frauen mit Körperbehaarung. Die alltagsweltliche Geschlechtszuschreibung besagt, dass Frauen wenig oder keine Körperbehaarung haben. Um diesen Zustand zu erreichen, müssen jedoch fast alle Frauen die Haare abrasieren, epilieren oder andere Arten der Haarentfernung nutzen. Das Merkmal 'geringe Körperbehaarung' muss also erst aktiv hergestellt werden. Andere Beispiele sind Muskeltraining für Männer und Bauch-Beine-Po-Übungen für Frauen oder der Push-upBH um das 'weibliche' Körpermerkmal Busen stärker hervorzuheben35 (vgl. Villa 2006: 104). Es lassen sich auch bestimmte Bewegungsstrategien ausmachen, die Körperlichkeit hervorbringen. „Zum Beispiel werden Mädchen in der Regel dazu angehalten, ihren Körper stets daraufhin zu kontrollieren, ob die Haltung dem 'fremden' (männlichen) Blick angemessen sei. Bestimmte Techniken der Körperkonstruktion werden dadurch gefördert: Der Gang, das Bücken oder die Sitzhaltung z.B. werden auf diese Weise unbewusst so gestaltet, dass niemand Anstoß nehmen kann.“ (Macha/Fahrenwald 2003: 19)
35
Zudem gibt es einen Trend, dass Schönheits-OPs als legitimer Weg dargestellt werden, den Körper zu verändern. Hierzu gab es in den letzten Jahren verschiedenen Fernsehsendungen, die unter dem Motto 'vom hässlichen Entlein zum wunderschönen Schwan' Operationen als den Weg zu einem besseren Leben propagieren. So z. B. 'Ten Years Younger' aus England oder 'The Swan' aus den USA. 'The Swan' wurde bereits im deutschen Fernsehen ausgestrahlt.
3.2 Geschlechtsspezifische Konstruktionsprozesse
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Die Sichtbarmachung der Geschlechtsidentität muss dabei bestimmten Normen folgen. Der Körper ist also nicht an sich der Grund der Geschlechtsunterscheidung, sondern das Ergebnis dieser Unterscheidung. Das Konzept des doing gender geht davon aus, dass sich die Normen in Interaktionen zirkulär herstellen. Indem Frauen ihre Beinhaare entfernen, wird das haarlose Bein gleichsam zu einem weiblichen Geschlechtsmerkmal. Und die dadurch weiblich konnotierten haarlosen Beine nutzen vor allem Frauen als körperliches Merkmal, um ihre geschlechtliche Identität zu untermauern. Ich gehe davon aus, dass Normen, die unser Handeln beeinflussen, schon vor der Interaktion vorhanden sind, jedoch nicht als 'vorsozial' zu verstehen sind. Normen sind historisch entstanden und werden dann durch Handeln zirkulär reproduziert und verfestigt36. Das heißt, dass die Norm, nach der Frauen sich die Beinhaare entfernen, historisch entstanden ist und auf bestehende Diskurse aufbaut. Das bedeutet, dass sie nicht allein aus der Routine der Handlung heraus zur Norm geworden ist (vgl. Villa 2006: 135). Die Wissenschaft kann als ein wichtiger Einflussfaktor auf unsere Normen und Codierungen gesehen werden. „Sie definieren die Grenzen der Konstruktion und des geschlechtlich überhaupt Möglichen. Gleichzeitig ist die wissenschaftliche Naturalisierung aber auch die Bedingung der Möglichkeit für die Prozesse des 'doing gender'. Denn ohne das Wissen über Hormone, primäre Geschlechtsmerkmale, Stimmlagen usw. gäbe es viele Ressourcen der Darstellung nicht.“ (ebd.: 138)
Dieser Zusammenhang lässt sich ebenso im Bereich der Konstruktion von 'gesunder' Ernährung feststellen. In Kapitel 2.2 konnte aufgezeigt werden, dass der vorherrschende Begriff von 'gesunder' Ernährung keineswegs unumstritten und endgültig feststehend ist, sondern vielmehr ein Produkt gesellschaftlicher Definitionsprozesse darstellt. Zudem ist der Medizin und den Ernährungswissenschaften eine bedeutsame Rolle für diesen Konstruktionsprozess von 'gesunder' Ernährung zuzusprechen.
36
Siehe hierzu Kapitel 2.1 zur Diskurstheorie.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
3.2.3 Theorien der Zweigeschlechtlichkeit und der Pluralität von Geschlecht oder was ist 'natürlich' am Geschlecht? Bisher ging es vor allem um die Frage, wie Geschlecht durch Handeln hergestellt wird. Dieser Abschnitt geht nun der Fragestellung nach, was denn nun 'natürlich' an der Geschlechterdifferenz ist und ob sie in der Analyse weiterhin Bestand haben kann. Es gibt eine Vielzahl Theorien und Publikationen zu der Frage, was an den Geschlechtern 'natürlich' ist und was sozial hervorgebracht oder ob nicht die Zweigeschlechtlichkeit an sich konstruiert ist. In den 70er Jahren gewann die sex-gender-Unterscheidung37 in der feministische Theoriedebatte an Bedeutung. Das Ziel war es, die sozialen und kulturellen Aspekte der Geschlechterunterscheidung in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken und biologischen Argumentationen etwas entgegen zu setzen. „Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und insbesondere die Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen sollte als Ergebnis von Geschichte statt als Effekt natürlicher Unterschiede und damit als veränderbar begriffen werden.“ (Gildemeister/Wetterer 1992: 205)
Sex ist dabei definiert als der biologisch zugeschriebene Status, der durch Anatomie, Morphologie, Physiologie und die Hormone bestimmbar sei und bei der Geburt in der Regel durch MedizinerInnen an Hand der primären Geschlechtsmerkmale festgestellt wird. Gender ist auf der anderen Seite der durch sozial und kulturell geprägte Geschlechtscharaktere zugeschriebene Status (vgl. ebd.). Diese Unterscheidung nach sex und gender fand breiten Anklang, wurde aber gleichzeitig viel kritisiert. Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass durch die Zweiteilung von sex und gender eine automatische Fortschreibung des biologischen sex auf das soziale gender geschehe. Die Annahme, dass es nun mal zwei Geschlechter gebe, lässt sich mit dieser sprachlichen Trennung nicht entkräften. Regine Gildemeister und Angelika Wetterer sprechen in diesem Zusammenhang von einem 37
Ins deutsche übersetzt ist sex das biologische Geschlecht und gender das soziale Geschlecht. Diese Begriffe sind jedoch nicht so trennscharf und die Begriffe sex und gender haben den Weg in den deutschen wissenschaftlichen Sprachraum gefunden.
3.2 Geschlechtsspezifische Konstruktionsprozesse
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„verlagerten Biologismus“, der die vermeintliche Natürlichkeit der Dualität der Geschlechter fortschreibe (ebd.: 206). Wie die Studien von Garfinkel zeigen konnten, ist die automatische Verknüpfung biologischer Geschlechtsmerkmale mit einem sozialen Geschlecht keineswegs so eindeutig und konsistent wie im Alltagsdenken vorausgesetzt wird. Einige feministische Wissenschaftlerinnen stellten darüber hinaus die biologische Zweigeschlechtlichkeit in Frage. Carol Hagemann-White stellte in den 80er Jahren fest, dass Ärzte das Geschlecht keineswegs immer eindeutig bestimmen können. Anhand von Geschlechtsmerkmalen wie Chromosomen, Hormone oder Genitalien lassen sich nicht alle Menschen einem Geschlecht zuordnen (vgl. Hagemann-White 1988: 228). Villa bestätigt diese Erkenntnis noch heute. Ärzte können, wenn sie keine Angaben zum Geschlecht haben, anhand der Blutwerte keine eindeutige Geschlechtsidentität feststellen (vgl. Villa 2006: 111 f.). Judith Butler geht davon aus, dass die vermeintlichen biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sozial konstruiert sind. „Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen“ (Butler 1991: 24). Butler will nicht bestreiten, dass es biologische Differenzen gibt, sondern sagt, dass die Unterscheidung in Mann und Frau, also in nur zwei Geschlechter, sozial konstruiert ist. Sie geht davon aus, dass es kein vorsoziales Geschlecht gibt (vgl. Butler 1991; Butler 2001). Der Frage nach biologischen oder sozialen Unterschieden, die eine Zweiteilung der Geschlechter rechtfertigen, soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Wichtig für die Auseinandersetzung mit Ernährungsverhalten ist, dass gesellschaftliche Prozesse zweigeschlechtlich geprägt sind. Die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern konnten nie eindeutig belegt werden. „Dennoch stimmen bis heute beide Geschlechter der Auffassung zu, Frauen hätten ein größeres emotionales Verständnis und eine stärkere interpersonale Orientierung als Männer, für sie seien zwischenmenschliche Beziehungen wichtiger.“ (Gildemeister 2004: 29). Es zeigt sich also, dass die Konstruktion der Dualität der Geschlechter in unserer Gesellschaft wirkungsmächtig ist. Es geht also um die Frage, wie die gesellschaftliche Trennung der Geschlechter auf das
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
Handeln der Individuen wirkt und wie Ungleichheiten und Hierarchien zwischen den Geschlechtern aufrecht erhalten werden. In Bezug auf Ernährung konnte bereits festgestellt werden, dass statistische Unterschiede im Ernährungsverhalten von Männern und Frauen auszumachen sind38. Wenn die Zweigeschlechtlichkeit konstruiert ist und erst im Handeln hervorgebracht wird, können nicht biologische Theorien als Erklärung herangezogen werden, sondern es stellt sich die Frage, welche Mechanismen wirken, um eine geschlechtsspezifische Ernährungsweise hervorzubringen. Dieser Frage soll in Kapitel 3.3 nachgegangen werden.
3.2.4 Hierarchisierung der Geschlechter Im alltagsweltlichen Wissen ist fest verankert, dass „Frauen auf das häusliche Leben gerichtet, sanft, passiv, bescheiden, freundlich, anpassungsfähig, abhängig seien, während Männer für das öffentliche Leben bestimmt seien und die Merkmale aggressiv, aktiv, rational, logisch, unabhängig etc. aufweisen.“ (Gildemeister 2004: 28). Trotz der formalen Gleichstellung ist die Zuteilung von Frauen zur Mutterrolle und zur Emotionalität und vom Mann zur Rationalität und zur öffentlichen Rolle nicht aufgehoben. Es lässt sich weiterhin eine Tendenz zur Verortung der Frau im Privaten und des Mannes in der Öffentlichkeit nachzeichnen (vgl. Lang 2004: 68). Die Grenzziehung zwischen 'männlichen' und 'weiblichen' Sphären ist grundlegend für unser gesellschaftliches System. Der Gegensatz von 'männlich' und 'weiblich' reiht sich in ein „System homologer Gegensätze“ ein und wird damit zu einer „objektiv und subjektiv notwendigen Einteilung“ (Setzwein 2004: 80). Ein wichtiger Gegensatz für die Geschlechterdifferenz ist dabei die Unterscheidung von Natur und Kultur39. Frauen werden der Natur und Männer eher der kulturellen Sphäre zugeordnet. Bei diesem Gegensatzpaar geht es nicht nur um Unterscheidung, sondern um eine Hierarchisierung, die sich durch 38 39
Vergleiche Kapitel 3.1 zum geschlechtsspezifischen Ernährungsverhalten. Vergleiche Kapitel 2.2.1: Gibt es einen Ernährungsdiskurs?
3.2 Geschlechtsspezifische Konstruktionsprozesse
69
die Unterwerfung der Natur mit Hilfe der Kultur beschreiben lässt. Der Körper hat in diesem Hierarchieverhältnis eine besondere Bedeutung, weil er die Verbindung von Frauen zur Natur herstellt. Die körperlichen Eigenschaften der Schwangerschaft, des Stillens und der Menstruation konstruieren eine Naturhaftigkeit der Frau. Der Körper ist damit als Träger der zweigeschlechtlichen Ordnung zu sehen. Diese Zuordnung von Frauen zur Natur und Männern zur Kultur setzt sich in der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre fort (vgl. ebd.: 85 ff.). Die in diesem Zusammenhang als männlich konnotierten Eigenschaften werden in der Regel positiver bewertet. Zudem konstruiert diese Unterscheidung einen starken agierenden Mann und eine schwache, passive und dienende Frau. Die 'weiblich' konnotierten Eigenschaften wurden in den Debatten der 80er und 90er Jahre zunehmend positiver bewertet. Die Frauenforschung entwarf Konzepte des 'weiblichen' Arbeitsvermögens und von 'weiblichen' Führungsstilen (vgl. u.a. Ostner 1978). 'Weiblichkeit' wurde aufgewertet, 'Männlichkeit' und 'Weiblichkeit' aber weiter in polarisierenden Mustern gedacht. Die strikte ideologischen Verknüpfung von der Frau zum Haushalt und dem Mann zum öffentlichen Leben wird zunehmend aufgeweicht. Immer mehr PartnerInnen sprechen von einer (zumindest angestrebten) egalitären Verteilung von Hausarbeit. Die Zuordnung zum Privaten und zum Öffentlichen ist jedoch nach wie vor wirkungsmächtig, denn noch immer ist die große Mehrheit der Frauen für den Haushalt zuständig. Sie erledigen zwei Drittel der Hausarbeit, obwohl viele nebenher einer Erwerbstätigkeit nachgehen (vgl. Bundesministerium für Familie/Statistisches Bundesamt 2003: 16). Auch auf der Berufsebene lässt sich die Zweiteilung der Geschlechter noch deutlich nachvollziehen. Frauen besetzen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen nur sehr wenige gehobene Positionen und Ämter. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung kommt 2006 zu dem Ergebnis, dass in der obersten Führungsebene von Betrieben nur jede vierte Führungskraft eine Frau ist. Interessant ist zudem, dass Frauen vor allem in kleineren Betrieben Führungspositionen einnehmen. „In der ersten Führungsebene von Großbetrieben liegt der Frauenanteil gerade mal bei 4 Prozent.“ (Bra-
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
der/Lewerenz 2006). Insgesamt verdienen Frauen im Durchschnitt ein Viertel weniger als Männer. Diese Einkommensdifferenz entsteht primär dadurch, dass Frauen weniger oft leitende Positionen einnehmen. Typische Frauenberufe sind zudem hauptsächlich im Dienstleistungssektor zu finden und zeichnen sich durch niedrigere Löhne, geringer Sicherheit und einen niedrigeren sozialen Status aus und das obwohl Frauen in Sachen Bildung mit den Männern seit der Bildungsexpansion der 70er Jahre gleichgezogen sind. Es zeigt sich, dass die Aufteilung in 'weiblich' und 'männlich' zugeschriebene Tätigkeitsfelder sich in den Erwerbsbereich hinein fortsetzt und dazu führt, dass die Hierarchisierung der Geschlechter trotz gleicher Qualifikation im Erwerbsbereich aufrecht erhalten wird (vgl. Trauttmansdorff 2003).
3.2.5 Problematik der Reproduktion in der Geschlechterforschung Die Analyse der Unterschiede in der Forschung und somit auch die Analyse des Ernährungsverhaltens von Frauen und Männern hat mit dem Problem der Reifizierung der alltagsweltlichen Vorstellung einer Dualität der Geschlechter zu kämpfen. Denn durch die analytische Trennung von Männern und Frauen wird die Dualität der Geschlechter gleichsam reproduziert. Ich will in dieser Studie den Schwerpunkt auf die Analyse der Konstruktionsprozesse von Geschlecht legen. Die Frage ist also nicht, welche geschlechtsspezifischen Ernährungsweisen sind bei Männern und Frauen auszumachen, sondern welche Argumentationslinien können diese Unterschiede erklärbar machen. Meine These ist hierbei, dass nicht eine vermeintliche Natürlichkeit der Geschlechterdistribution die Unterschiede im Ernährungsverhalten erzeugt, sondern gesellschaftliche Zuschreibungen die Hierarchisierung der Geschlechter reproduziert und verfestigt. Ich will die Frage näher untersuchen, ob sich die gesellschaftlichen Prozesse des doing gender gleichsam im Ernährungsverhalten wiederfinden lassen. Ich gehe davon aus, dass die Hierarchisierung der Geschlechter ebenso im Ernährungsverhalten ausfindig zu machen ist und dass hier die gleichen Konstruktionspro-
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zesse ablaufen. Es stellt sich also die Frage, welche Erklärungsansätze in Bezug auf das empirisch vorfindbare geschlechterdifferenzierte Ernährungsverhalten aussagekräftig sind.
3.3 Erklärungsansätze zum geschlechtsspezifischen Ernährungsverhalten Im Weiteren werde ich drei Erklärungsansätze für geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten untersuchen. Zunächst soll dabei der oft angeführten These nachgegangen werden, dass Frauen stärker auf ihren Körper und ihre Figur achten. Das Streben nach einem schlanken Körper führe dazu, dass Frauen mehr Wert auf ihre Ernährung legen und sich dadurch besser ernähren. Es stellt sich vor allem die Frage, ob und wenn ja warum Frauen stärker auf Körperlichkeiten fixiert sind und ob dieser Zusammenhang ein verbessertes Ernährungsverhalten hervorbringt. Als Zweites soll der Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Arbeitsteilung und Ernährungsverhalten diskutiert werden. Wenn Frauen immer noch hauptsächlich für die Ernährung der Familie zuständig sind, dann lässt sich annehmen, dass Frauen ein größeres Wissen über Ernährung haben und sich dadurch besser ernähren als Männer. Die dritte zu diskutierende These ist, dass durch Ernährungsverhalten männliche und weibliche Identitäten hervorgebracht werden. Diese These geht davon aus, dass Essen eine Möglichkeit ist, die eigene geschlechtscharakteristische Identität herauszubilden und zu festigen. Eine 'gesunde' Ernährungsweise entspricht demnach eher der weiblichen Identität und widerspricht der männlichen.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
3.3.1 Erste Dimension: Körpernormierungen und die Wirkung des Schlankheitsideals
Die Entwicklung hin zu aktuellen Körperidealen Zunächst ist der Frage nachzugehen, wie sich das Körperideal in unserer westlichen Gesellschaft entwickelt hat und wie es heute aussieht. Bis ins 17. Jahrhundert war Körperfülle ein Zeichen von Macht und Reichtum und galt als Statussymbol für die oberen Stände; in einer Zeit, in der Nahrung nicht immer ausreichend zur Verfügung stand. Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelten sich Tugenden des Bürgertums, die sich durch Einfachheit, Bescheidenheit und Disziplin auszeichneten. In diesem Zuge gewann auch die körperliche Gesundheit an Bedeutung. Im späten 19. Jahrhundert konnte sich das Ideal des fleißigen, disziplinierten, aufstrebenden Bürgertums durchsetzen. Aus diesen Tugenden entwickelte sich eine Verbindung von Disziplin und dem Ideal des schlanken Körpers. Dicke Menschen galten zunehmend als unbeherrscht, zügellos und undiszipliniert (vgl. Merta 2008). Hieraus entwickelte sich auch das weibliche Schlankheitsideal. Ab den 20er Jahren wurde der sehr schlanke weibliche Körper propagiert. Das Ideal war ein dünner Körper mit wenig Rundungen. Dieses Vorbild wirkte vor allem auf Frauen in der Oberschicht. Viele von ihnen begannen sich die Brüste abzubinden, um dieser Vorstellung zu entsprechen. Ab den 1930er Jahren wurden Brüste mehr und mehr in das Idealbild des weiblichen Körpers integriert. Diese Entwicklung setzte sich in der Tendenz fort40. In den 50er Jahren war das Körperideal gekennzeichnet durch große Brüste, sehr dünne Beine und wenig Taille. Zwischen den 60er und 80er Jahren wurde der ideale Körper immer schlanker und das dünne Model wurde zum Ideal breiter gesellschaftlicher Schichten. In den 90er Jahren wurde das Körperideal der Models noch dünner. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde eine Diskussion über die Auswirkungen dieser Idealbilder angestoßen. Das Thema Essstörungen wur40
Dieser Trend wurde unterbrochen durch den zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit. Der Nahrungsmangel dieser Zeit brachte rundliche weibliche Körperformen wieder kurzzeitig in Mode.
3.3 Erklärungsansätze
73
de thematisiert und in Zusammenhang mit bestehenden Schlankheitsidealen gebracht. Allerdings konstatiert Sarah Grogan, dass diese Debatte kaum Wirkung zeigen konnte: „However, irrespective of this moral panic in the early 2000s, the extremely thin Western ideal has been maintained into the mid-decade.“ (Grogan 2008: 23)
Verstärkt wird dieses Ideal sogar noch durch eine zunehmende Fotomanipulation, die die Möglichkeit eines noch perfekteren Körpers suggeriert. Anhand von Fotobearbeitung wird der Körper von Models weiter idealisiert, indem hin und wieder ein wenig vom Oberschenkel weggeschnitten und die Brust etwas vergrößert wird. Durch diese neuen Möglichkeiten nähern sich die Bilder der Models in der Werbung und auf Plakatwänden noch stärker einem schlanken und vor allem perfekt proportionierten Körper an. In den 90er Jahren gewann auch das Idealbild des männlichen Körpers an Bedeutung und der Druck auf Männer, sich diesen Vorstellungen zu nähern, wuchs. Das Ideal entsprach dem muskulösen, sportlichen und starken Männerkörper mit einer Fokussierung auf Muskeln an den Armen und am Oberkörper. Der Bedarf an dünnen Models war sehr gering41 (vgl. ebd.: 19 ff.).
Messung und Berechnung von Körpern Die Entwicklung des Körperideals zeigt, dass das Ideal im letzten Jahrhundert tendenziell immer dünner geworden ist. Diese Entwicklung wurde immer wieder medizinisch untermauert. Doch was ist eigentlich Normalgewicht und wie wird es definiert? Welche Rolle spielt dabei die Medizin? Was schlank und was Übergewicht ist, ist nicht so klar definiert wie oft angenommen wird. Es gab und gibt noch immer sehr viele unterschiedliche Ansätze zur Messung und Beurteilung 41
Heute hat sich neben dem muskulösen männlichen Ideal noch ein androgynes schlankes Körperideal etabliert, welches das männliche Ideal dem weiblichen annähert. Welche Auswirkungen diese Entwicklung für die Bedeutung der Körpernormierungen von Männern und Frauen hat, ist bisher ungeklärt. Diese Fragestellung wäre interessant für weiterführende Untersuchungen.
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des Normalgewichts. Sie reichen von sehr einfachen und oberflächlichen bis hin zu komplizierten Berechnungsverfahren. Lange Zeit wurde ein spezifisches Gewicht für eine bestimmte Körpergröße als Ideal angesehen und nicht wie heute beim Body-Mass-Index42 ein erstrebenswerter Bereich. Zwei Beispiele älterer Berechnungsverfahren werde ich an dieser Stelle zur Verdeutlichung kurz beschreiben. Dr. Ziegelroth, Leiter eines Sanatoriums, schlug im 19. Jahrhundert vor, dass der Mensch so viel wiegen sollte, wie er Zentimeter über 100 misst. Ein Mensch, der 184 cm groß ist, sollte demnach 84 kg anstreben. Als Mann dürfe man zudem wegen der 'schweren Knochen' noch 2 kg mehr wiegen. Diese Berechnung ist sehr ungenau und gibt für Erwachsene ein Idealgewicht an, was nach BMI-Rechnung tendenziell im oberen Bereich des Normalgewichts liegt. Für Kinder oder sehr kleine Menschen funktioniert die Rechnung nicht, schon mit 1,30 m liegt der 'Idealwert' im untergewichtigen Bereich, nach der Berechnung des Body-Mass-Indexes. Zudem ist es problematisch, dass ein spezifisches Gewicht als Ideal und kein erstrebenswerter Bereich angegeben ist, da es unterschiedlichen Körperbau in keiner Weise berücksichtigen kann (vgl. Merta 2008: 156 f.). Ein weiteres Verfahren wurde von Dr. Oeder, Besitzer einer Diätkuranstalt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestellt. Er gab neben einem komplizierten Zahlenwirrwarr, was hier nicht weiter ausgeführt werden soll, vier einfache Regeln an: „Der normale, d.h. gesunde Ernährungszustand eines Menschen war seiner Auffassung nach an der Unsichtbarkeit der Zwischenrippenräume neben dem Brustbein und der Unsichtbarkeit der Zwischensehnenräume am Handrücken, an der Niveaugleichheit von Bauch und Brust in der Rückenlage und an einer Fettpolsterdicke von 2-3 cm am Bauch zu erkennen.“ (ebd.: 159)
Es wird deutlich, dass diese Berechnungen eher verwirrende Maßgaben als gute Hilfestellungen sind. Zudem scheint es so, als beziehen sich die Regeln von Dr. Oeder allein auf das männliche Geschlecht. Denn eine Niveaugleichheit zwischen Bauch und Brust ist für Menschen mit Brüsten kaum zu erreichen. Zudem 42
Zur Berechnung des BMI siehe Anhang 6.1.
3.3 Erklärungsansätze
75
sind diese Merkmale als Kennzeichen von Gesundheit umstritten. Es zeigt sich, dass ein und der selbe Mensch mit verschiedenen Verfahren der Körpermessung unterschiedlich einzuordnen ist. Wichtig ist hierbei, zu betonen, dass nicht neue medizinische Erkenntnisse das Körperideal gewandelt haben, sondern dass die Medizin jeweils neue Argumentationen geschaffen hat, um das Schlankheitsideal zu untermauern. Es kann also von einer nachträglichen Rationalisierung der Norm gesprochen werden. „Es kann gar nicht oft genug hervorgehoben werden, dass der Wandel von Körperund Gesundheitsvorstellungen mitnichten ein Resultat medizinischer Entdeckungen und vernünftiger Einsicht ist. Im Gegenteil: Erst als die Schlankheit sich als gesellschaftliches Körperideal bereits durchgesetzt hatte, begann die Medizin, sich der 'Krankheit' Übergewicht verstärkt zuzuwenden und die herrschende Körpermode rational zu untermauern.“ (Setzwein 2004: 270)
So ist die rigorose Verurteilung von Dickleibigkeit keineswegs rational begründbar, denn andere gesundheitsgefährdende Handlungen, wie z. B. das Rauchen, werden keineswegs auf ähnliche Weise gesellschaftlich geahndet. Hier wird vielmehr von Eigenverantwortung gesprochen. Der dicke Körper scheint für mangelnde Disziplin und Kontrolle zu stehen, die unerlässlich mit Gier und Unersättlichkeit verbunden wird. Friedrich Schorb geht davon aus, dass sich im Diskurs um „dicke Bäuche“ das Bild einer zunehmend verfetteten und undisziplinierten Gesellschaft mit dem Bild „einer unflexiblen, den Herausforderungen der Globalisierung apathisch gegenüberstehenden, besitzstandswahrenden Bevölkerung, die nicht einsehen mag, das Hartz IV ihre letzte Chance auf Heilung ist“ (Schorb 2008: 111 f.) verbindet. Dabei entsteht ein Diskurs, der die vermeintlich undisziplinierte Dickleibigkeit mit der vermeintlichen Undiszipliniertheit der Armut verbindet. Nicht gesellschaftliche Verhältnisse führen zu Armut und Adipositas, sondern ein Mangel an Disziplin, der aus einer Kultur der Armut hervorgeht. Der medizinische Diskurs um Übergewicht verschwimmt und Dickleibigkeit wird allein auf das Verhalten reduziert.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
„Die 'couch potatoe' prägt das Bild dieser neuen Unterschicht und steht sinnbildlich für alles, was dem gesellschaftlichen Leitbild der 'Aktivgesellschaft' (…) widerspricht: körperliche Untätigkeit, exzessiver Medienkonsum, der übermäßige Verzehr von Fast Food und Fertignahrung, Süßem und Fettigem sowie mangelnde Konsequenz in der Erziehung der Kinder.“ (ebd.: 112 f.)
Die Bedeutung von Schlankheit und Dickleibigkeit ist also immer auch mit gesellschaftlichen Idealbildern und Normierungen verbunden. So lässt sich auch die heute weit verbreitete Berechnung des Normalgewichts kritisch hinterfragen. Sarah Grogan kritisiert, dass der BMI die Muskelmasse und den Körperbau außen vor lässt und damit wichtige Komponenten nicht in den Blick nimmt. Zudem berücksichtigt diese Berechnung keine altersbedingte Gewichtszunahme, was in moderater Form normal und nicht gesundheitsgefährdend sei (vgl. Grogan 2008: 13). Ebenso ist die Kategorisierung nach Geschlecht in der Berechnung des BMIs zu kritisieren, da sie körperliche Merkmale voraussetzt, die keineswegs als biologisch festgeschriebene Eigenschaften von Männern und Frauen zu betrachten sind43. Viele WissenschaftlerInnen bestreiten zudem den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Schlankheit. Grogan stellt dar, dass Frauen mit (leichtem) Übergewicht weniger oft eine frühzeitige Menopause, Krankheiten am Herz oder Osteoporose haben. Sie geht davon aus, dass Gesundheit weniger mit Übergewichtigkeit als vielmehr mit der körperlichen Konstitution zu tun hat. Es sei also davon auszugehen, dass die Verbindung von Krankheit und Übergewicht viel stärker mit Vorurteilen über 'Dicke' zusammenhängt als mit gesundheitlicher Gefährdung durch Körperfülle (vgl. ebd.: 15 f.). Zudem gibt es Studien, die darlegen, dass dickere Frauen ein niedrigeres Mortalitätsrisiko haben als dünne und generell 'gesünder' sind. Zu Bedenken ist auch, dass davon auszugehen ist, dass der Stress, der mit einer ständigen Auseinandersetzung mit der Figur und der gesellschaftlichen Ausgrenzung bei Übergewicht einhergeht, sich negativ auf das Herz-Kreislaufsystem auswirkt. Der Zusammenhang von Übergewicht und HerzKreislauf-Erkrankungen könnte also auch mit der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Ächtung von Übergewichtigen zusammenhängen. Unabhängig vom 43
Vergleiche Kapitel 3.1 zu geschlechtsspezifischem Ernährungsverhalten.
3.3 Erklärungsansätze
77
Ausgangsgewicht ist ein Großteil der Diäten, die gemacht werden, eher gesundheitsgefährdend als gesundheitsfördernd. Zumal auch nur ein kleiner Teil der Personen das Gewicht nach der Diät halten kann, so dass Diäten in der Regel zu noch größerer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und der propagierten mangelnden Willenskraft führen. Weiterhin führen „Versuche der Körpernorm zu entsprechen, zu ernsthaften, teils lebensbedrohlichen Schädigungen und bleibenden Behinderungen“ (Prahl/Setzwein 1999: 106). Zu nennen sind unter anderem Schädigungen durch Essstörungen oder Risiken bei Schönheits-OPs. Man kann also sagen, dass der Wunsch nach Gewichtsreduktion vielmehr durch das gesellschaftliche Körperideal zu erklären ist als durch gesundheitliche Vorteile (vgl. Grogan 2008: 15 f.; Prahl/Setzwein 1999: 104 ff.; Beyer 2000: 92 f.).
Auswirkungen der unterschiedlichen Körperideale auf das Rollenverhalten von Männern und Frauen Aufgrund der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlechtsidentitäten scheint es mir von besonderem Interesse, welche Bedeutung die unterschiedlichen Körperideale für Männer und Frauen haben. Petra Kolip konnte in ihrer Studie aufzeigen, dass Mädchen deutlich öfter mit ihrem Körper unzufrieden sind als gleichaltrige Jungen. „Die Frage, ob sie etwas an ihrem Körper verändern wollen, beantworten fast doppelt so viele Mädchen (59,0 %) als Jungen (35,6 %) mit 'ja'.“ (Kolip 1997: 194). Ebenso gaben deutlich mehr Mädchen (44,4 %) als Jungen (15,9 %) an, sich oft oder immer zu dick zu fühlen (vgl. Gerhards/Rössel 2003: 68)44. Ein ähnliches Bild zeigt das Diätverhalten von Jugendlichen. 28 Prozent der Mädchen und im Vergleich dazu 'nur' 11 Prozent der Jungen haben schon einmal eine Diät gemacht. Diese Differenz verstärkt sich mit zunehmenden Alter. Im Alter von 16 Jahren haben bereits 40,7 Prozent der Mädchen Diät44 Wichtig ist, dass dieser Zusammenhang nicht darauf zurückzuführen ist, dass Mädchen dicker wären als Jungen. Die Nationale Verzehrsstudie zeigt, dass bei Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren der durchschnittliche BMI unterhalb dem der gleichaltrigen Jungen liegt. Nur im Alter von 14 Jahren liegt der BMI der Mädchen leicht über dem der Jungen (vgl. Max Rubner-Institut 2008a: 72).
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
erfahrungen (vgl. Kolip 1997: 192 ff.). Die Unterschiede in Diätverhalten und Körperzufriedenheit sind nicht als Problem der jungen Generation anzusehen, sondern setzten sich in höheren Altersstufen gleichsam fort45 (vgl. Max RubnerInstitut 2008a: 94). Die Beobachtungen zum Diätverhalten lassen sich auch in der allgemeinen Einstellung zur Ernährung wiederfinden. Es zeigt sich, dass viel mehr Frauen als Männer bei der Ernährung hauptsächlich darauf achten, nicht zuzunehmen. Knapp die Hälfte aller Frauen und nur knapp ein Viertel der Männer achtet beim Essen bewusst darauf, nicht zuzunehmen (vgl. Prahl/Setzwein 1999: 77). Untersuchungen zeigen, dass Frauen in der Regel Diäten als beste Möglichkeit sehen, ihr Gewicht zu reduzieren. Männer hingegen treiben viel eher Sport, um ihr Körperideal zu erreichen. Das propagierte Körperideal hat also direkten Einfluss auf das Ernährungsverhalten. Während es Frauen zu restriktivem Essverhalten anhält, wirkt es sich bei Männern eher positiv auf das Sportverhalten aus. Zentral ist, dass Körperideale für Frauen sehr viel wirksamer sind als für Männer. Männer werden sehr viel stärker nach Erfolg und Geld beurteilt als Frauen. „Der schöne Körper war - und ist auch in der heutigen Arbeits- und Berufswelt, wo Schönheit mitunter die Funktion eines Berufseinstiegskriteriums erhält (…) das Kapital der Frauen.“ (ebd.: 107). Frauen haben internalisiert, dass Schönheit Warenwert hat. Dies wird mehr als deutlich, wenn man schaut, in wie vielen Zusammenhängen der weibliche Körper als Werbemittel eingesetzt wird46. Wenn Frauen lernen, ihren Körper als Ware zu sehen, so bringt das große Probleme mit sich. Frauen lernen, ihren Körper zu beobachten und zu beurteilen, als wäre er nicht ihr eigener und vergleichen sich mit dem Idealbild (vgl. Grogan 2008: 74). Für Frauen ist es wichtig, von Männern begehrt zu werden, um
45 Sarah Grogan fand in einer Studie heraus, dass viele Frauen am glücklichsten mit ihrer Figur sind, wenn sie sich morgens, bevor sie etwas gegessen haben, im Spiegel betrachten (vgl. Grogan 2008: 51). 46 Der männliche Körper wird zwar auch mehr und mehr als Werbemittel genutzt. Ein Unterschied ist jedoch markant. Männer werden in den Medien in der Regel mit durchschnittlichem Gewicht und Frauen mit Untergewicht abgebildet (vgl. Grogan 2008: 135).
3.3 Erklärungsansätze
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Selbstvertrauen zu erlangen. Ganz im Sinne des Ansatzes des Panoptikums47 von Foucault internalisieren Frauen den „überwachenden, Anerkennung zubilligenden oder versagenden männlichen Blick“ (Setzwein 2004: 249). Frauen wenden Formen der Körperformung an, um sich (unbewusst) dem allgegenwärtigen, verinnerlichten männlichen Blick auszusetzen, so dass der externe Zwang zu verinnerlichtem Zwang wird und „im alltäglichen Blick in den Spiegel ritualisiert“ wird (ebd.: 249 f.). Die Sichtbarkeit und Öffentlichkeit 'weiblicher' Körper ist eine Form der Vergesellschaftung von Frauen, die enorme Energien an die Gestaltung der Attraktivität bindet. Frauen verbringen deutlich mehr Zeit vor dem Spiegel als Männer. Zudem sind sie stärker auf die Aufrechterhaltung ihres Aussehens fixiert, wodurch Zeit und Aufmerksamkeit für politische Auseinandersetzungen und gesellschaftliche Teilhabe verloren geht. Auffällig ist, dass das Schlankheitsideal zeitgleich mit der Durchsetzung des Wahlrechtes für Frauen aufkam. Also in der Zeit, als sich Frauen neue Rechte erkämpften, wurde ihnen durch das neue 'Normalgewicht', was fünf bis 7,5 kg unterhalb des Durchschnittsgewichts lag, neue Formen des Kontrollverlustes und der Scham auferlegt (vgl. ebd.: 282). Frauen lernen schon von Kindheit an, dass wer schön ist, gleichzeitig Anspruch auf Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung hat. Sie orientieren sich an Schlankheitsidealen, „um sich die damit verbundenen Eigenschaften wir Erfolg, Perfektionismus, Attraktivität und Willensstärke zu sichern, um so gesellschaftliche Wertschätzung und Akzeptanz zu erfahren. Dieses Bemühen wirkt sich zweifelsohne auf die Identität der Frauen aus.“ (Beyer 2000: 128). Monika Setzwein fasst diese These folgendermaßen zusammen:
47 Das Panoptikum ist ein architektonisches Konzept zum Bau im Besonderen von Gefängnissen. Es beschreibt ein ringförmiges Gebäude, in dessen Mitte ein Turm steht. Das Prinzip funktioniert so, dass AufseherInnen vom Turm aus Einsicht in jede Zelle haben. „Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt.“ (Foucault 1977b: 258). Dabei ist es nicht einmal wichtig, dass wirklich eine AufseherIn im Turm anwesend ist, da die Insassen keine Einsicht in den Turm haben, wirkt der Turm allein disziplinierend. Foucault griff das Konzept auf und bezeichnete das Panoptikum als grundlegendes Ordnungsprinzip westlicher Gesellschaften (vgl. Foucault 1977b: 256 ff.).
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
„Während männlicherseits beruflicher Erfolg, Geld, Statussymbole, Machtpositionen etc. äußerliche Mängel wie Bauch und Halbglatze mehr als wett machen können, gründet sich bei den Frauen umgekehrt nicht allein die sexuelle Anziehungskraft, sondern ein Gutteil der gesamten sozialen Anerkennung auf ihr körperliches Erscheinungsbild.“ (Setzwein 2004: 248)
Trotz den Veränderungen, die das Idealbild vom weiblichen Körper in den letzten Jahrhunderten durchgemacht hat, lässt sich eine Konstante deutlich erkennen. Frauen waren und sind dazu angehalten, ihren Körper dem Idealbild anzupassen, auch wenn sie dafür Anstrengungen und Schmerzen in Kauf nehmen müssen (vgl. Grogan 2008: 41). Obwohl früher eher rundlichere Figuren bevorzugt wurden, waren Körperideale schon immer ein Ziel der Kontrolle vor allem weiblicher Körper. „Im 19. Jahrhundert wurden Schönheitsnormen, wie das Tragen von Miederware oder die Verhüllung des weiblichen Körpers vom Schlüsselbein abwärts, betont und funktionalisiert, um Frauen in ihrer Mobilität und Körperlichkeit einzuschränken und aus dem öffentlichen Leben auszuschließen.“ (Jelenko 2007: 85). Die Vorstellungen von dicken und dünnen Menschen ist in unserer Gesellschaft stark verbunden mit der individualisierten Gesellschaftsnorm, in der jede für sich selbst verantwortlich ist. Und das obwohl mittlerweile nachgewiesen ist, dass zumindest die Veranlagung für Übergewicht genetisch bedingt ist (vgl. Grogan 2008: 12). Dabei ist der Schönheitswahn nicht als reiner Unterdrückungsmechanismus von Männern über Frauen zu denken. Frauen sind ebenso aktiv daran beteiligt, Schönheit für sich und andere Frauen zu definieren. Dadurch sind sie selbst am doing gender der Körperideale beteiligt48 (vgl. Beyer 2000: 122; Jelenko 2007: 86). Das akzeptierte Schönheitsideal für Männer ist nicht nur weniger wirkungsmächtig, sondern auch deutlich offener als das für Frauen. Weibliche 'Dickleibigkeit' ist negativ besetzt. Die früher damit in Zusammenhang gebrachte Fruchtbarkeit und Mütterlichkeit spielt nur noch in Nischen eine Rolle. Männliche 'Dickleibigkeit' ist hingegen nicht immer negativ besetzt. Hier gilt zwar ebenso das Bild des faulen, nicht zur Selbstdisziplin fähigen männlichen 'Dicken', 48 Dieser Zusammenhang findet sich im Machtbegriff von Foucault wieder, nachdem Macht nicht einseitig von oben ausgeübt wird. Vergleiche Kapitel 2.1 zur Diskurstheorie.
3.3 Erklärungsansätze
81
aber es gibt auch ein positiv besetztes Bild von Körperfülle. Es gibt das Bild des geselligen, liebenswürdigen männlichen 'Dicken', der gerne genießt und dabei auch mal etwas zu viel isst. Diese Rollenzuschreibung ist bei Frauen kaum aufzufinden. Zudem gibt es bei übergewichtigen Männern Formen der Assoziation mit Macht, Kraft und Stärke, z. B. bei Gewichthebern, Sumo-Ringern, Möbelpackern oder politischen Führern49 (vgl. Setzwein 2004: 246 ff.). Christian Schemer spricht eine weitere Problematik an. Er sagt, dass das Schlankheitsideal für Frauen fataler ist, da es den 'natürlichen' Entwicklungen der Pubertät zuwider läuft. Denn Frauen bekommen in ihrer Pubertät rundlichere Körperformen, was tendenziell ihrem Idealbild widerspricht. Männer hingegen nähern sich in ihrer Pubertät eher ihrem Ideal an. Sie werden kräftiger und bekommen mehr Muskeln (vgl. Schemer 2003: 526). Dieser Zusammenhang liegt zunächst auf der Hand und weist auf die Problematik hin, dass Frauen um ihr Ideal zu erreichen, sehr viel mehr an ihrem Äußeren arbeiten müssen. Was wiederum Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf den Körper und damit auch auf das Ernährungsverhalten verstärkt. Aus dekonstruktivistischer Sicht stellt sich jedoch die Frage, ob die beschriebene körperliche Entwicklung wirklich als 'natürlicher' Zusammenhang gesehen werden kann, oder ob z. B. die Ausbildung der Muskeln bei Männern auf sozialisiertes Rollenverhalten zurückzuführen ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Körperideale für Frauen sehr viel wirksamer sind, da ihre gesellschaftliche Anerkennung stark von ihrem äußeren Erscheinungsbild abhängt. Männer werden hingegen stärker nach beruflichem Erfolg und Besitz beurteilt. Der nächste Abschnitt soll der Frage nachgehen, wie die unterschiedlichen Schönheitsideale internalisiert werden und sich auf das Handeln auswirken.
49 Als Beispiel für einen dicken politischen 'Führer' kann hier Helmut Kohl gesehen werden. Sein Übergewicht wurde zwar immer wieder thematisiert, hatte jedoch keinerlei negative Auswirkungen auf seine Akzeptanz als Politiker.
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Geschlechtsspezifische Sozialisation wirkt auf den Körper Körperideale sind schon in früher Kindheit vorhanden und wirken auf das Individuum ein. Es stellt sich jedoch die Frage, wie dieser Prozess der Einschreibung in die Körper funktioniert und wie es zu so unterschiedlichen Körperwahrnehmungen und den Differenzen im Umgang mit dem Körper kommt? Kurz: Wie wirkt die Sozialisation auf die körperliche Entwicklung ein. Schon im frühkindlichen Alter wird Jungen und Mädchen ein unterschiedliches Körperverhalten anerzogen. Mädchen werden stärker kontrolliert und in räumlicher Nähe der Eltern zum Spielen angehalten. Jungen wird ein größeres, raumgreifenderes Spielverhalten zugebilligt, so dass sie ihre körperlichen Grenzen besser austesten können und ein größeres Risikoverhalten an den Tag legen. Das führt dazu, dass schon kleinen Jungen ein aggressives, raumaneignendes Verhalten zugestanden wird. Dieses Muster setzt sich dann im Jugendalter fort. Das eingeschränkte Kontrollverhalten der Eltern gegenüber Jungen unterstützt das Risikoverhalten dieser, sich eher auszutoben und öffentlichen Raum, wie Straßen und Sportplätze, für sich zu erobern. Mädchen werden hingegen weniger Freiräume zugestanden. Sie können dadurch schlechter ihre körperlichen Grenzen austesten und werden mehr zu geselligen Spielen als zu Konkurrenzkämpfen angehalten50. Zudem werden Mädchen schon früh durch 'hübsche Kleider und 'bunte Haarbänder' mit weiblicher Schönheit konfrontiert. Sie werden stärker dazu erzogen, sich beim Spielen nicht schmutzig zu machen und auf die Unversehrtheit ihres Körpers zu achten (vgl. Setzwein 2004: 251 ff.). „(...) können wir bei kleinen Mädchen, die gerade erst drei sind, beobachten, dass sie sich stärker mit dem Aussehen ihres Körpers als mit dessen Potenzial beschäftigen: sie sind nicht stolz darauf, wie hoch sie klettern können oder wie kräftig sie sich fühlen, sondern darauf, wie gut sie die Kleidung und das 'Wackeln' von Britney Spears imitieren können.“ (Orbach 2002: 9) 50
Pierre Bourdieu überträgt den Begriff des hierarchischen Spiels auch auf das Verhältnis erwachsener Männer und Frauen. „Das ursprüngliche Teilungsprinzip, das die menschlichen Wesen in Männer und Frauen unterteilt, weist den ersteren die Spiele zu, die einzig es wert sind, gespielt zu werden, und hält sie zum Erwerb der Disposition an, die sie die Spiele ernst nehmen läßt, die die soziale Welt als ernste konstituiert.“ (Bourdieu 1997: 189)
3.3 Erklärungsansätze
83
„Während Jungen ein eher leistungsorientierter, instrumenteller Körpergebrauch vermittelt wird, kreisen die Sozialisationserfahrungen von Mädchen vor allem um das Ziel einer ästhetischen Stilisierung ihres Körpers.“ (Setzwein 2006: 53)
So wird Mädchen schon früh anerzogen, ihren Körper als 'Kapital' zu betrachten. So kommt es auch, dass das Selbstwertgefühl von Frauen sehr viel stärker an ihr Äußeres geknüpft ist. Das Ernährungsverhalten ist ein wichtiger Bestandteil der Körperpraxis, da es den Körper mit der ideologischen Konstruktion in Einklang bringen kann. So zeigt sich die unterschiedliche Sozialisation auch im Ernährungsverhalten von Jungen und Mädchen. Die stärkere Fixierung von Mädchen auf die Unversehrtheit ihres Körpers und die Bedeutung der eigenen Attraktivität führt dazu, dass Ernährung und die damit verknüpfte Angst um das Körpergewicht bei Mädchen eine größere Rolle spielt als bei Jungen. Ebenso konnte gezeigt werden, dass Mädchen viel weniger Lust am Essen zeigen. Dies wird von Eltern oft gefördert. Jungen werden eher dazu angehalten, ihren Teller aufzuessen und mal kräftig zuzulangen. Mädchen, die viel essen, werden hingegen eher zur Zurückhaltung aufgefordert (vgl. Setzwein 2004: 257). „Entsprechend machen Jungen (und später: Männer), die beim Essen und Trinken schnell schwächeln, eine ebenso schlechte Figur wie Mädchen bzw. Frauen, die sich allzu unbekümmert den Bauch vollschlagen.“ (ebd.: 258)
Es zeigt sich also, dass Jungen in ihrer Sozialisation ein Ernährungsverhalten nahe gelegt wird, dass durch Unbekümmertheit und Lust am Essen geprägt ist. Auf der anderen Seite entwickeln Mädchen ein Ernährungsverhalten, das eng mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden ist und oft zu restriktivem Essverhalten und sogar Essstörungen führt. Dieses Verhalten wirkt sich auf ihre körperliche Identität und ihr Geschlechtsempfinden aus.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
Zwischenfazit: Die Bedeutung von Schönheitsidealen für das Ernährungsverhalten der Geschlechter Es lässt sich feststellen, dass die bestehenden Körperideale von Frauen und Männern durch geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten unterstützt werden. Denn restriktives Essverhalten führt zu einem schlanken Körper, wohingegen nährstoffreiche Nahrung die körperliche Aktivität unterstützt (vgl. Jelenko 2007: 87). Das heißt, dass Ernährung eine Möglichkeit ist, sich dem eigenen Körperideal zu nähern. Das unterschiedliche Diätverhalten der Geschlechter zeigt zudem, dass dies dementsprechend genutzt wird. Um ihr Idealgewicht zu erreichen, verfolgen Männer und Frauen ganz unterschiedliche Strategien. Frauen machen viel häufiger Diäten und Männer tendieren dazu mehr Sport zu machen, um ihren Idealkörper zu erreichen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich das Idealbild von Schlankheit nicht verändert, das Ziel soll jedoch auch bei Frauen stärker über Sport und körperliche Aktivität als über Diäten erreicht werden. Dies ist zunächst als positive Entwicklung zu sehen, da Ernährung nicht mehr grundsätzlich im Zentrum der Auseinandersetzung um körperliche Attraktivität steht und somit zumeist gesundheitsschädliche Diäten und restriktives Essverhalten an Bedeutung verlieren müssten. Zudem hat Sport, anders als Diäten, positive Nebeneffekte wie Gesundheit, ein besseres Körpergefühl und eine positive Stimmung (vgl. Grogan 2008: 35 f.). Der anzunehmende Trend, dass Diäten und Essstörungen abnehmen, konnte allerdings bisher nicht nachgewiesen werden. Zudem stellt Sport zu treiben für Übergewichtige ein Problem dar, da sie in sportlichen Einrichtungen mit besonders starken Vorurteilen konfrontiert sind. Es lässt sich also sagen, dass vor allem das Ernährungsverhalten von Frauen immer noch maßgeblich von Körperidealen beeinflusst wird und dass geschlechterdifferenzierte Körperideale zu unterschiedlichen Ernährungsweisen führen. Dieser Zusammenhang lässt sich vor allem im Umgang mit restriktivem Essverhalten und Essstörungen beobachten. Die vielfach behauptete These, dass die
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Sorge um den Körper zu einem 'gesünderen' Essverhalten von Frauen führt51, kann demnach nicht bestätigt werden. „Paradoxerweise führt das Bestreben, einer als schön und 'gesund' deklarierten Körpernorm zu entsprechen, nicht selten zu einer als 'krank' zu bezeichnenden Ernährungsweise. Während das ständige 'Auf-Diät-sein' durchaus noch als sozial akzeptierte, wenn nicht gar erwünschte, Ernährungsweise von Frauen betrachtet wird – und das, obwohl es weitaus weniger übergewichtige Frauen als dicke Männer gibt – wird das als Eßstörung bezeichnete abweichende (Ernährungs-)Verhalten als pathologisches Phänomen gewertet.“ (Prahl/Setzwein 1999: 109)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Streben nach Körperidealen dazu führt, dass Frauen ein restriktiveres Ernährungsverhalten an den Tag legen. Warum sie sich jedoch 'gesünder' ernähren, kann hiermit nicht erklärt werden.
3.3.2 Zweite Dimension: Geschlechtliche Arbeitsteilung Ein oft genanntes Argument für geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten ist die geschlechtliche Arbeitsteilung. Betrachtet man die Teilung der Arbeit zwischen Männern und Frauen, so fällt auf, dass sich hier in den letzten Jahrzehnten einiges verändert hat. Die strikten Grenzen zwischen der Zuordnung von Erwerbsarbeit für den Mann und der Arbeit im Haushalt für die Frau können schon längst nicht mehr aufrecht erhalten werden. Frauen sind mittlerweile fast im gleichen Umfang wie Männer erwerbstätig und Männer beteiligen sich zunehmend an Tätigkeiten im Haushalt. Dabei wächst vor allem der Anspruch einer egalitären Arbeitsteilung zwischen den PartnerInnen. Der Gedanke einer zunehmenden Egalität führt allerdings dazu, dass real existierende Ungleichheiten in der Aufteilung der Arbeit kaum noch thematisiert werden. Zunächst werde ich in diesem Abschnitt die statistische Aufteilung der Arbeit im Haushalt näher in den Blick nehmen, um anschließend der Frage nach Anspruch und Wirklichkeit einer egalitären Arbeitsteilung nachzukommen. Die 51
Zum geschlechtsspezifischen Ernährungsverhalten siehe Kapitel 3.1.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
Dimension der Arbeitsteilung verweist auf den Aspekt, dass durch die nach wie vor vorhandene geschlechtliche Arbeitsteilung Frauen eine höhere Affinität zur Ernährung zugeschrieben wird. Sie seien zuständig für die Hausarbeit und damit für die Ernährung der Familie. Dadurch legen Frauen vermeintlich mehr Wert auf Aspekte der 'gesunden' Ernährung und können sich ein größeres Ernährungswissen aneignen. Dieser Abschnitt soll der Frage nachgehen, ob durch die Dimension 'geschlechtliche Arbeitsteilung' Unterschiede im Ernährungsverhalten von Männern und Frauen erklärbar sind.
Statistische Daten zu geschlechtlicher Arbeitsteilung Die Zeitbudgeterhebung, die vom Statistischen Bundesamtes und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2001/02 erstellt wurde, fördert zu Tage, dass Frauen nach wie vor deutlich mehr Zeit für unbezahlte Arbeit in der Familie und im Haushalt aufwenden als Männer. Ein Vergleich mit Daten der Erhebung 1991/92 zeigt, dass sich daran in den letzten Jahren wenig geändert hat (vgl. Klenner 2005: 225). Frauen leisten im Durchschnitt knapp 31 Stunden unbezahlte Arbeit pro Woche und liegen damit deutlich über den durchschnittlichen 19,5 Stunden der Männer. Männer leisten dafür im Durchschnitt deutlich mehr bezahlte Arbeit52. Trotzdem zeigt sich in der Gesamtanalyse, dass Frauen im Vergleich zu Männern auf eine etwas höhere Wochenarbeitszeit kommen. Denn Frauen arbeiten insgesamt durchschnittlich 43 Wochenstunden und Männer nur 42. Bei einer näheren Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Erhebung fällt zudem auf, dass der Anteil an ehrenamtlicher Tätigkeit bei Männern sehr viel höher liegt als bei Frauen und dass Frauen den größten Teil der Koch- und Reinigungsarbeiten im Haushalt übernehmen. Das heißt, dass von den 19,5 Stunden pro Woche bei Männern 12 Prozent nicht direkt im Haushalt geleistet werden, sondern als ehrenamtliche Tätigkeiten, wie z. B. im Sportverein 52 Die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen kann nicht als gleichberechtigte Teilung angesehen werden. Diese Trennung in privaten und öffentlichen Raum führt zu einer Hierarchisierung der Geschlechter. Vergleiche Kapitel 3.2 zu geschlechtlichen Konstruktionsprozessen.
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oder im politischen Ehrenamt (vgl. Bundesministerium für Familie/Statistisches Bundesamt 2003: 9 f.). Auch wenn Männer sich mehr als früher an den Tätigkeiten im Haushalt beteiligen, arbeiten Frauen eben immer noch 1:43 Stunden pro Tag mehr in der Haushaltsführung und der Betreuung der Familie. Zudem lässt sich feststellen, dass die Männer, die sich beteiligen, zwar mehr Zeit in Hausarbeit investieren, dass es aber insgesamt weniger Männer sind, die sich an der Haushaltsführung beteiligen, als Anfang der 90er Jahre (vgl. Klenner 2005: 230). Die Aufteilung in bestimmte Arbeitsbereiche innerhalb der unbezahlten Arbeit spielt zudem eine Rolle, denn selbst wenn eine zunehmende Beteiligung der Männer im Haushalt zu beobachten ist, schreiben sich die Geschlechtergrenzen auf andere Weise fort, indem die symbolischen Grenzen entlang bestimmter Tätigkeitsfelder verlaufen. „Zu den Leitdifferenzen gehören hierbei die Oppositionen außen/innen, schwer/leicht, grob/fein, trocken/nass, alltäglich/außeralltäglich.“ (Setzwein 2004: 204)
Konkret heißt das, dass Männer eher für die Tätigkeiten zuständig sind, die nach außen hin sichtbar sind. Sie bringen den Müll raus, sind zuständig für das Rasen mähen, die Autowäsche und haben die Zuständigkeit für den Grill. Frauen machen hingegen eher Tätigkeiten, die nach innen gerichtet sind, wie z. B. Kochen, Wäsche waschen und Putzen. Die Arbeit der Frauen wird dabei als unangenehmer wahrgenommen und gilt weniger als 'angenehme' Freizeitbeschäftigung als die Arbeiten der Männer. Im Weiteren sollen die Daten zum Koch- und Einkaufsverhalten näher unter die Lupe genommen werden, um weitere Aspekte rund um die Ernährung zu analysieren.
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Tabelle 3: Durchschnittliche Zeitverwendung von Personen je Tag 2001/2002 nach ausgewählten Aktivitäten Aktivität
Haushaltsführung und Betreuung der Familie Zubereitung von Mahlzeiten davon: Mahlzeiten vor- und zubereiten Abwaschen, Tisch decken etc. Einkaufen
Männlich Alle Beteiligungsgrad Std.:Min. Prozent 2:31 86,9
Weiblich Alle Std.:Min. 4:14
Beteiligungsgrad Prozent 95,1
0:23
52,7
1:05
79,7
0:14
41,9
0:41
73,5
0:08
29,8
0:20
55,7
0:19
34,1
0:26
43,5
Quelle: Auszüge aus Statistisches Bundesamt 2006
Frauen übernehmen zu einem deutlich größeren Anteil Aufgaben rund um die Ernährung. Sie verbringen im Durchschnitt 1 Stunde und 5 Minuten am Tag mit der Zubereitung von Essen. Männer leisten nur 23 Minuten Arbeit in diesem Bereich. An dieser Erhebung wird deutlich, dass Frauen noch immer einen Großteil der Versorgungsarbeit in der Familie übernehmen. Christina Klenner konstatiert: „Männer überlassen den arbeitsintensivsten Bereich der unbezahlten Arbeit überwiegend den Frauen. Beinahe die Hälfte aller Männer (47%) beteiligen sich an diesen Tätigkeiten gar nicht.“ (Klenner 2005: 228)
Neben der Arbeitsteilung beim Kochen zeigt sich ein ähnliches Bild beim Einkaufsverhalten. Knapp zwei Drittel der Frauen übernehmen alleine den Einkauf und nur etwa knapp 30 Prozent der Männer erledigen alleine den alltäglichen Einkauf. Zudem zeigt sich, dass umso größer der Haushalt, desto seltener übernehmen Männer alleine den Einkauf (vgl. Max Rubner-Institut 2008a: 116). Die
3.3 Erklärungsansätze
89
Arbeitsteilung in Paarbeziehungen wird allgemein traditioneller, umso länger eine Beziehung andauert, umso höher das Alter ist oder wenn Kinder im Haushalt leben (vgl. Klenner 2005: 231; Setzwein 2004: 201). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Frauen durchschnittlich 63 Prozent der im Haushalt anfallenden Arbeiten wie kochen, waschen, putzen, handwerkliche Tätigkeiten und Kinderbetreuung übernehmen. Männer übernehmen dementsprechend nur 37 Prozent dieser Aufgaben und tendenziell eher die Aufgaben, die nach außen hin sichtbar sind und für sie positiv darstellbar sind, im Sinne des 'männlichen' Selbstbildes (vgl. Bundesministerium für Familie/Statistisches Bundesamt 2003: 16).
Wann übernimmt der Mann das Kochen? Bei der geschlechtlichen Arbeitsteilung im Haushalt spielt die Schichtzugehörigkeit eine maßgebliche Rolle. Tendenziell lässt sich sagen, umso höher der soziale Status, umso egalitärer die Teilung der Arbeit für die Zubereitung des Essens. Auffällig ist hierbei jedoch, dass sich die Hierarchisierung auf subtilerer Ebene fortsetzt. Frauen übernehmen in der Regel die Essenszubereitung in routinierten Alltagssituationen und Männer kochen zu besonderen Anlässen, insbesondere wenn für Gäste gekocht wird. Dabei herrschen deutliche Schichtunterschiede vor. Im Arbeitermilieu herrscht oft noch eine sehr klassische Arbeitsteilung. In oberen gesellschaftlichen Schichten übernehmen Männer immer öfter auch das Kochen im Haushalt. Petra Frerichs und Margareta Steinrücke beschreiben, dass Kochen für Männer umso mehr zum Distinktionsmedium wird, umso weiter sie in der sozialen Hierarchie aufsteigen. Für Männer ist die Zubereitung von Essen eine Möglichkeit, Beziehungen vor allem außerhalb des engen Familienkreises zu pflegen und sich prestigeträchtig darzustellen, deshalb übernehmen sie vor allem das Kochen am Wochenende und für Gäste. Dabei wird in der Regel aufwendiger gekocht, es gibt etwas Besonderes oder etwas Neues. Damit können Männer durch das Kochen ihre Fähigkeiten präsentieren (vgl. Fre-
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richs/Steinrücke 1997: 251). Das Kochverhalten bei dem in der Studie53 von Ferichs und Steinrücke befragten Beamten- und Managerpaar stellt sich folgendermaßen dar: „Während die Frauen auf der Grundlage von Erfahrungswissen für den alltäglichen bzw. allwochenendlichen Privatgebrauch der Familie kochen, bereiten die Männer auf der Grundlage von quasi intellektuell angeeignetem (Koch-)Buchwissen außeralltäglich aufwendige Menüs mit Vorliebe für Gäste zu, d. h. für einen öffentlichen Zusammenhang, in dem sie mit ihrer Kochkunst in einem öffentlichen Konkurrenzkampf treten, sich beweisen und behaupten müssen.“ (ebd.: 254)
Die Aufgabe der 'gesunden' Ernährung fällt also in allen Schichten eher den Frauen zu, da sie sich um die alltägliche Essenszubereitung kümmern. Diese Ergebnisse sind vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass der Anspruch egalitärer Arbeitsteilung vor allem in Schichten mit hohem Bildungsniveau weit verbreitet ist. Sie grenzen sich gegenüber klassischen Rollenverteilungen ab, die eine Arbeitsteilung mit sich bringen, die zu Lasten der Frau geht. Der Anspruch von Partnerschaften bildungsnaher Schichten ist, die Hausarbeit gleichmäßig auf alle Schultern zu verteilen (vgl. Koppetsch/Burkart 1999: 16 f.). Dabei teilen sich die PartnerInnen zwar vordergründig die Arbeit auf, aber auf subtilerer Ebene wird die hierarchische Arbeitsteilung fortgesetzt. Von einer gleichberechtigten Verteilung von unbezahlter Arbeit kann also nach wie vor nicht die Rede sein.
Gründe und Auswirkungen der Persistenz geschlechtlicher Arbeitsteilung im Haushalt Wenn Frauen immer noch deutlich höhere Arbeitsanteile im Haushalt übernehmen, stellt sich die Frage, wie diese Realität mit dem egalitären Grundgedanken, der in vielen Paarbeziehungen vorherrscht, zusammenpasst. Oder anders gefragt: 53
Frerichs/Steinrücke befragten in ihrer Studie „Kochen – ein männliches Spiel“ je ein Paar aus verschiedenen sozialen Schichten zu Lebensgeschichte und -situation, mit dem Fokus auf die Arbeitsteilung der Geschlechter (vgl. Frerichs/Steinrücke 1997: 234 f.).
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Wieso ist die geschlechtliche Arbeitsteilung so beständig? Während in traditionellen Haushalten die Legitimation der Arbeitsteilung an klassische Rollenmuster anschließt, bedarf es in bildungsnahen Schichten neuer Wege. Die Aufteilung der Hausarbeit wird als Resultat individueller Aushandlungsprozesse gesehen. Hierbei wird ein diffuses Netz an Ausnahmesituationen und individuellen Interessen geschaffen, um die traditionelle Verteilung der Rollen zu rechtfertigen. Die Aufteilung der Hausarbeit, wie z. B. die Rollenverteilung beim Kochen, dass die Männer eher das prestigeträchtige Kochen übernehmen, wird dabei selten thematisiert. Die geschlechtsspezifische Teilung wird vielmehr durch die Betonung der Interessensgegensätze gerechtfertigt. Unter dem Motto 'wen es stört, der räumt auf' werden so klassische Rollenmuster reproduziert. Die unterschiedlichen Interessen bezüglich Ordnung und auch Ernährung werden als neutrale Bedürfnisse dargestellt. Warum z. B. Frauen öfter auf selbst gemachtes Essen anstatt Fast-Food bestehen, wird dabei kaum thematisiert. Die Betonung der individuellen Interessen verschleiert somit, dass es sich hier um eingelagerte bürgerliche Verhaltensmuster handelt, die auch in - dem Anspruch nach - egalitären Haushalten klassische Rollenverteilungen hervorbringen (vgl. Koppetsch/Burkart 1999: 147 ff.; Wetterer 2003: 297 ff.). Es zeigt sich, dass allgemeine Individualisierungstendenzen auch in der geschlechtlichen Arbeitsteilung wiederzufinden sind. Damit werden geschlechtliche Ungleichheitsstrukturen als gesamtgesellschaftliches Problem verdrängt und auf die individuelle Aushandlungsebene verschoben. Diese Tendenz führt dazu, dass gesellschaftliche Strukturen als individuelles Problem wahrgenommen werden. Ebenso treten in der Sozialisation noch immer klassische Rollenbilder, bezüglich der Arbeitsteilung im Haushalt, zu Tage. Schon im Kindesalter werden Mädchen von ihren Müttern sehr viel mehr an das Kochen herangeführt als Jungen. Die meisten Mädchen werden von ihren Müttern öfter und auch schon im jüngeren Alter zu Hilfstätigkeiten in der Küche aufgefordert. So lernen Mädchen schon früh, mit Küchengeräten umzugehen und sammeln Erfahrungen in der Zubereitung von Essen, so dass Kochen für viele junge Frauen zu etwas Selbstverständlichem wird. Auch sammeln Mädchen in der Schule im Hauswirt-
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schaftsunterricht Erfahrungen, die Jungen oft nicht sammeln, weil sie diese Fächer nicht wählen. Denn Kochen gilt immer noch als 'weibliches' Feld und wirkt dadurch 'unmännlich'. Susan Bordo konnte in ihrer Untersuchung aufzeigen, dass in der Werbung Mädchen häufig in der Rolle 'der in der Küche von der Mutter Lernenden' dargestellt werden. Jungen kommt diese Rolle hingegen nicht zu. Jungen werden dafür in der Werbung sehr viel häufiger gefüttert als kleine Mädchen (vgl. Bordo 2005: 124). Studien zeigen, dass junge Frauen in der Tat eine größere Anzahl an Speisen kennen und so kommt es auch, dass Frauen sich in Single Haushalten deutlich vielfältiger ernähren als männliche Singles (vgl. Schassberger 2006: 113). Es ist nicht verwunderlich, dass Frauen ihre Kochkompetenz deutlich besser einschätzen als der Durchschnitt der Männer. „Zwei Drittel (65,2%) der befragten Frauen schätzen ihre Kochkompetenz als 'sehr gut/gut' ein und stehen mit dieser Angabe knapp einem Drittel (31,9%) der Männer gegenüber.“ (vgl. Max Rubner-Institut 2008a: 105)
Auf der anderen Seite gibt es kaum Frauen (6,9 %), aber immerhin 39,4 Prozent der Männer, die in der Nationalen Verzehrsstudie 2008 angaben, 'wenig bis gar nicht gut' oder 'überhaupt nicht' zu kochen (vgl. ebd.). Es zeigt sich also, dass trotz der zunehmenden Erwerbsbeteiligung von Frauen die Zuständigkeit für die Zubereitung von Essen immer noch den Frauen zugesprochen wird. Dieses Bild zeigt sich auch in der Werbung. Dort werden Frauen in der Regel in Zusammenhang mit Essen dargestellt, wenn sie für andere, meistens Familienangehörige, Essen zubereiten oder Kinder füttern. Sie erscheinen dadurch als Individuen, für die die Zufriedenheit anderer wichtiger ist als die eigene Ernährung. Wenn es für sechs Personen fünf Stücke Kuchen gibt, dann ist es die Mutter, die sagt, dass sie eigentlich sowieso gar kein Stück Kuchen wollte. Hier wird das Bild einer Mutter vermittelt, die ihre Liebe in das Essen steckt und die zufrieden ist, wenn ihre Familie zufrieden ist und dafür auch gerne selbst zurücksteckt. Die Bildsprache der Werbung lässt sich selbstverständlich nicht direkt auf die Realität übertragen. Sie vermittelt trotzdem das wünschenswerte Bild einer 'guten Mut-
3.3 Erklärungsansätze
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ter', welches die eindeutige Zuständigkeit der Frau für die alltägliche Verpflegung der Familie weiterhin aufrecht erhält (vgl. Bordo 2005: 118 f.). Monika Setzwein weist in diesem Zusammenhang auf die persistente Verknüpfung von Hausarbeit und Frauenarbeit hin, die eine Natürlichkeit von Männlichkeit und Weiblichkeit unterstellt. „Eine besonders ergiebige und stabile Ressource in der Konstruktion von Geschlecht ist die Hausarbeit, vor allem aufgrund ihrer argumentativen Rückkopplung an biologische Gegebenheiten (Gebärfähigkeit) und den daraus freimütig abgeleiteten 'Wesenseigenschaften' der Geschlechter, beispielsweise im Hinblick auf soziale und emotionale Kompetenz.“ (Setzwein 2004: 198 f.)
Die Zuständigkeit der Frau für Haushalt und Ernährung der Familie hält die Zuordnung des Mannes zum Bereich der Kultur und der Frau zur Natur aufrecht. Diese Konstruktion schafft eine Hierarchie, die durch die Unterwerfung der Natur durch die Kultur geprägt ist. Damit spielt Hausarbeit nicht nur eine Rolle in der Zuteilung zu verschiedenen Arbeitsbereichen. Durch die Zuordnung der Frau zu 'freiwilligen Liebesdiensten' wird die Geschlechterideologie der umsorgenden Weiblichkeit reproduziert. Die zufriedenstellende oder nicht zufriedenstellende Verrichtung der Hausarbeit wird damit zum Gradmesser für Weiblichkeit. „Nachlässig zubereitete oder achtlos zusammengekippte Speisen, gedankenlos ausgewählte Nahrung und lieblose Arrangements bei Tisch werden (ebenso wie die vernachlässigte Wäsche oder die schlampige Wohnung) gleichsam zu Statthaltern eines Versagens 'als Frau'.“ (ebd.: 210 f.)
Für Männer ist das Versagen im Haushalt eher ein Zeichen davon, mit den 'weiblichen' Tätigkeitsfeldern nicht zurecht zu kommen. Versagen hat in diesem Zusammenhang also eher einen bestätigenden Effekt. Dabei erscheint es ziemlich paradox, dass Männer vor der Waschmaschine kapitulieren, wo sie doch die 'Herren der Technik' sein sollen. Hinzu kommt, dass die fehlende Routine der Männer oft dazu führt, dass Frauen die Arbeit lieber selbst machen, damit sie zu ihrer Zufriedenheit erledigt wird (vgl. ebd.: 212). Hausarbeit leistet damit einen
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nicht unwesentlichen Teil zur Konstruktion von Geschlechtsmerkmalen und Geschlecht im Allgemeinen.
Zwischenfazit: Die Bedeutung der geschlechtlichen Arbeitsteilung für das Ernährungsverhalten der Geschlechter Es zeigt sich, dass Frauen noch immer einen Großteil der Arbeiten im Haushalt übernehmen. Nach der Pflege der Wäsche ist der Bereich der Zubereitung der Nahrung das Tätigkeitsfeld, dem Männer mit der meisten Zurückhaltung begegnen. Kochen ist also noch immer eine Frauendomäne, und das trotz vieler männlicher Kochstars im Fernsehen und Berufsköchen in Gourmetküchen, die dort ihre Fähigkeiten zur Schau stellen. Frauen übernehmen dabei vor allem die alltägliche, routinierte Versorgung der Familie. Sie sind damit weitgehend alleine für die 'gesunde' Ernährung der Familie zuständig. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Differenz die Unterschiede im Ernährungsverhalten von Männern und Frauen erklären kann. Dafür spricht, dass Frauen durch ihre Zuständigkeit für Ernährungsfragen ein größeres Wissen über Ernährung erlangen, so dass sie eine 'gesündere' Ernährung besser umsetzen können54. Zudem entsteht durch diese Zuschreibung in der Regel auch ein größerer Anspruch an 'gesunde' Ernährung. Der Mann, der an Wochenenden einmal etwas Besonderes kocht, kann sich dem Anspruch einer 'gesunden' Ernährung eher entziehen als die Frau, die das tägliche Essen zubereitet. Zudem wird durch die Zuschreibung der Ernährungsarbeit der Frau auch gesellschaftlich eine größere Verantwortung für die Ernährung zugesprochen. Da die Frau die Aufgabe für die Ernährung der Familie hat, müsse sie sich auch darum kümmern, dass die Familie sich 'gesund' ernährt. Es ist jedoch nahe liegend, dass das Ernährungsverhalten von Männern und Frauen 54 Die Annahme, dass ein größeres Wissen auch zu einem 'gesünderen' Ernährungsverhalten führt, geht von einem Konzept aus, nachdem sich Individuen rational ernähren, d.h. dass das Wissen allein zu einem besseren, in diesem Fall 'gesünderen' Verhalten führt. Dieser Zusammenhang kann bestritten werden, da viele andere Einflussfaktoren im Ernährungsverhalten eine Rolle spielen. Allerdings erhöht ein großes Ernährungswissen die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen sich 'gesund' ernähren (vgl. Gerhards/Rössel 2003: 17).
3.3 Erklärungsansätze
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nicht so unterschiedlich ist, da in Familien in der Regel das Gleiche gegessen wird. Frauen haben zwar, unter anderem durch ihre Zuständigkeit für die Nahrungszubereitung, ein größeres Bewusstsein für 'gesunde' Ernährung, in der Familie wird jedoch in 90 Prozent der Fälle nach den Vorlieben des männlichen Partners gekocht (vgl. Leitzmann 2001: 294). Es zeigt sich, dass der Unterschied im Ernährungsverhalten deutlicher zu Tage tritt, wenn man sich die Ernährungsgewohnheiten von Männern und Frauen in Single Haushalten anschaut. Essen Frauen alleine, so gibt es oft frische, 'gesunde' und leichte Kost, in der Familie gibt es jedoch oft deftige Fleischgerichte (vgl. Jelenko 2007: 92). Dass Frauen, wenn sie für sich alleine kochen, sich 'gesünder' ernähren, spricht für die Annahme, dass Frauen oft das essen, was ihre Partner wollen und sich nicht nach ihren eigenen Bedürfnissen richten. Unterstrichen werden diese Annahmen durch die Ergebnisse einer norwegischen Studie. Dort gaben Frauen öfter die Bedürfnisse des Partners oder der Kinder als Grund für ihre Ernährungsweise an als ihre eigenen. Umso niedriger der Bildungsabschluss, umso häufiger steht im Mittelpunkt, was dem Partner schmeckt. Mit steigendem Bildungsabschluss wird häufiger die Zufriedenheit der Kinder in den Mittelpunkt gestellt (vgl. Fagerli/Wandel 1999: 178). Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Dimension geschlechtlicher Arbeitsteilung im Haushalt zwar das bessere Wissen und ein größeres Bewusstsein von Frauen zu Ernährungsfragen erklären kann. Die auffindbaren Geschlechterunterschiede im Ernährungsverhalten kann sie jedoch nicht abschließend erklären, denn in der Familie wird in der Regel für alle das Gleiche gekocht. Interessant ist jedoch, dass die Zuordnung der Frau zur unbezahlten Hausarbeit Einfluss auf die weibliche Identitätsbildung nimmt. Der Zusammenhang zwischen weiblicher und männlicher Identitätsbildung und geschlechtsspezifischem Ernährungsverhalten soll im nächsten Abschnitt näher untersucht werden.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
3.3.3 Dritte Dimension: Herstellung von Geschlechtsidentität durch Ernährungsverhalten Geschlecht ist meiner Meinung nach nicht als vorsozial gegeben anzusehen. Vielmehr wird es erst in der Interaktion von Individuen hergestellt. Bedeutsam ist dabei, dass ein Individuum als eindeutig in seiner Geschlechtsidentität wahrgenommen wird. Judith Butler spricht von intelligiblen55 Geschlechtern, das heißt, dass ein Individuum seine Geschlechtsidentität so darstellen muss, dass das Geschlecht als kohärente, also zeitlich unveränderbare und eindeutige Identität wahrgenommen werden kann (vgl. Butler 1991: 38 f.). Die Darstellung einer eindeutigen Geschlechtszugehörigkeit ist für gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe notwendig. Denn das Verhalten wird danach bemessen, ob die Geschlechtsidentität glaubhaft und als unveränderbar dargestellt wird. Das Individuum bedient sich dabei bewusst und unbewusst kultureller und symbolischer Objekte, um sich als Mann oder Frau darzustellen und damit eine intelligible Geschlechtsidentität zu konstituieren. Konkret heißt das: Wir brauchen in unserer Gesellschaft Symbole und Verhaltensweisen, auf die das Individuum zur Geschlechterdarstellung zurückgreifen kann56. Die dritte Dimension zur Erklärung des geschlechtsspezifischen Ernährungsverhaltens fragt nach der Bedeutung des doing gender, also nach der Herstellung von Geschlecht durch spezifisches Ernährungsverhalten. Welche Auswirkungen haben geschlechtliche Konstruktionsprozesse auf das Ernährungsverhalten von Individuen? Und ebenso andersherum gefragt: Welche Bedeutung hat geschlechtsspezifische Ernährung für die Herstellung von Geschlecht?
55 „Mit Intelligibilität ist bei Butler gemeint, was sozial sinnvoll, verstehbar, (über-)lebenstüchtig ist. Das, was intelligibel ist, ist sozial anerkannt, weil es den vorherrschenden Diskursen entspricht.“ (Villa 2003: 158) 56 Vergleiche Kapitel 3.2 zu geschlechtlichen Konstruktionsprozessen.
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Ernährung als kulturelles Regelwerk Wenn das Individuum geschlechtlich konnotierte Symbole nutzt, um sich als Mann oder Frau darzustellen, so stellt sich die Frage, inwiefern Ernährung als symbolisches Regelwerk betrachtet werden kann. Ich gehe davon aus, dass Akte des Essens und Trinkens kommunikative und symbolische Aspekte enthalten, die durch Regeln und Normen in unserer Gesellschaft konstituiert werden57. „Wir setzten sie [die kommunikativen und symbolischen Aspekte; K.S.] ein, um Beziehungen anzuknüpfen oder zu stabilisieren, um andere zu beeinflussen, um ihnen Respekt und Liebe zu bezeugen, um auszudrücken, wer wir sind und wer wir ganz bestimmt nicht sind, um das Festliche vom Profanen abzusetzen, um Menschen in unsere Gemeinschaft einzubeziehen oder sie auszugrenzen, um uns zu trösten und aufzubauen.“ (Karmasin 1999: 10)
Ernährung besitzt auf drei Ebenen symbolische Bedeutungen. Zunächst ist die Verzehrssituation zu nennen. Nahrung ist nicht einfach nur Zufuhr von Nährstoffen. Indem wir zusammen an einem Tisch sitzen, schaffen wir ein Gefühl von Zugehörigkeit und Ausgrenzung. So kann die gemeinsame Mahlzeit Rollen vermitteln und Prestige symbolisieren. Der Tisch, an dem gegessen wird, ist dadurch immer auch ein Symbol für die Gemeinschaft der daran Sitzenden. Zusammen Essen ist also ein Zeichen für Familienzugehörigkeit, Gastfreundschaft oder Zuneigung. Neben der Symbolik von Esssituationen enthält auch die Speiseauswahl besondere Zeichen. Wenn etwas Besonderes gekocht wird, ist das in der Regel ein Zeichen von Feiertagen oder drückt Gefühle wie Zuneigung aus. Die Auswahl der Nahrung kann aber auch ein Zeichen für Reichtum oder Abgrenzung gegenüber sich anders ernährender Schichten sein. Auch wird die Sorgfalt bei der Nahrungszubereitung als ein Zeichen von Zuneigung und Liebe gesehen. Dies gilt vor allem für Frauen und Mütter, denen bei unachtsam zusammengewürfelten Speisen oft implizit vorgeworfen wird, keine gute Mutter zu sein58. Als drittes sind die symbolischen Bedeutungen von spezifischen Lebens57 58
Vergleiche Kapitel 2.2 zum Ernährungsdiskurs. Vergleiche Kapitel 3.2.2 zur geschlechtlichen Arbeitsteilung.
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mitteln zu nennen. Ein bedeutsames Beispiel ist die Symbolik von Fleisch. Fleisch gilt heute noch immer als wichtiger Bestandteil einer Mahlzeit. Dies gilt vor allem, wenn Gäste eingeladen sind. Wenn es etwas zu feiern gibt, ist Fleisch kaum aus der Mahlzeit wegzudenken (vgl. Hayn u. a. 2005: 53). Viele der Lebensmittel sind dazu geschlechtlich konnotiert. Fleisch gilt noch immer als 'männliches' Nahrungsmittel59. Einige Lebensmittel werden zudem verschiedenen Schichten zugeordnet. „Die einzelnen Zubereitungsweisen sind mit kulturellen Merkmalen assoziiert, die als typisch für einen Stand, eine Klasse oder eine Schicht gelten.“ (Barlösius 1999: 14)60
So gilt z. B. Sushi als eine Speise oberer Schichten. Wobei die Differenzierung nach Schichten immer schwieriger aufrecht zu erhalten ist, da gerade im Ernährungsverhalten eine verstärkte Differenzierung in verschiedenste Lebensstile zu beobachten ist (vgl. Hayn u. a. 2005: 53). Die vermittelnde Instanz zwischen Ungleichheitsfaktoren wie Geschlecht, Lebensstil und Alter ist der Geschmack. Bei der Frage, warum man sich auf eine bestimmte Weise ernährt, wird in der Regel auf den eigenen Geschmack verwiesen. Dabei ist der Geschmack nicht einfach nur als individuelle Vorliebe zu sehen. Denn durch den Geschmack wird den EsserInnen ein bestimmter sozioökonomischer Status zugewiesen, d. h. die sozialen Unterschiede finden sich verschlüsselt im Handeln, also auch im Essverhalten, wieder (vgl. Barlösius 1999: 109 f.). Doch wie funktioniert die Zuweisung von Bedeutungsgehalten zu bestimmten Speisen? Die kulturelle Bedeutung von Nahrungsmitteln ist begründet durch Normen und Tabus, die in unserer Gesellschaft definieren, was für wen essbar ist und was nicht. Nahrungsnormen sind, wenn sie bewusst ausgehandelt werden,
59
Vergleiche Kapitel 3.3.3 zur Herstellung von Geschlechtsidentitäten durch Ernährungsverhalten. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass verschiedene Ernährungsweisen stark von kulturellen Unterschieden geprägt sind, was heißt, dass sie nicht nur von Schicht zu Schicht unterschiedlich sind, sondern dass es in verschiedenen Kulturen, Ländern und sogar Regionen unterschiedliche Ernährungs- bzw. Kochgewohnheiten gibt. Diese Unterschiede lassen sich anhand traditioneller Küchen noch deutlich ausmachen. 60
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kulturell oder religiös begründet. Eva Barlösius beschreibt, dass in jeder Gesellschaft die Codierung, was essbar und was nicht essbar ist, fast ausschließlich kulturell geprägt wird. Ausnahmen seien große Mengen Zellulose, giftige Stoffe und mikrobiell verdorbene Tiere und Pflanzen. Obwohl Menschen eigentlich Allesfresser sind, gibt es eine Vielzahl an Lebensmitteln oder Zubereitungs- und Verzehrsweisen, die als nicht essbar eingestuft werden (vgl. ebd.: 91 ff.). Nahrungstabus spielen auch heute noch eine große Rolle, sie sind jedoch meistens unreflektiert und werden zumeist unbewusst befolgt. Tabus werden mit Ekel assoziiert, was kulturell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. So ist die Bestimmung was verfault ist nicht 'natürlich' erklärbar und von Kultur zu Kultur verschieden. So gelten z. B. in China die so genannten 'schwarzen Eier'61 als Delikatesse, die in unserer Gesellschaft schlichtweg als vergammelt bezeichnet werden würden (vgl. Prahl/Setzwein 1999: 90). Ebenso löst die Vorstellung, Urin zu trinken oder ein Fingernagel in einer Konservendose zu finden, bei den meisten Menschen Ekelgefühle aus, dies ist jedoch keineswegs gesundheitlich begründbar. Lebensmitteln werden bestimmte kulturelle Bedeutungen beigemessen, die sie dann transportieren. Zum Beispiel wird Champagner mit Feiern oder Freude verbunden oder Grünkern-Bratlinge mit Vegetarismus und der Ökobewegung. Diese Bedeutungen resultieren direkt aus kultureller Codierung und nicht aus dem Lebensmittel bzw. dessen gesundheitlichen Auswirkungen selbst (vgl. Barlösius 1999: 94). „Grob skizziert können Nahrungstabus dem Bereich der Konventionen zugeschlagen werden. Sie sind sowohl äußerlich (durch Mißbilligung bei Verletzung) als auch innerlich (durch Orientierung an religiösen Auffassungen, Traditionen und Werten) garantierte Normen.“ (Prahl/Setzwein 1999: 94)
61 'Schwarze Eier' sind rohe Eier, die für ca. 100 Tage in verschiedenen Mischungen aus z. B. Tee, Lehm, Limettensaft und Salz eingelegt werden. In Deutschland ist der Verkauf dieser Eier verboten. Ganz anders in Asien, wo die Eier sehr beliebt sind und als Delikatesse gelten.
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Die Symbolik von Esssituationen, der Speiseauswahl und spezifischer Lebensmittel hat eine große gesellschaftliche Bedeutung62. Die symbolischen Bedeutungen können als innerlich verankerte Nahrungsnormen betrachtet werden. Sie erzeugen Zugehörigkeit und grenzen sich gegenüber fremden oder anderen Essgewohnheiten ab. Ernährung ist also daran beteiligt, die eigenen und fremden Identitäten zu konstituieren (vgl. Barlösius 1999: 124). Kurz gesagt: Ernährung ist nicht auf die Nahrungsaufnahme zu begrenzen. Essen schafft Gemeinschaft, grenzt aus und wirkt damit identitätsstiftend.
Geschlechtsspezifische Symbolik von Ernährung Da Ernährung identitässtiftend wirkt, ist es interessant, geschlechtliche Identitätsbildung in Bezug auf Ernährung näher zu betrachten. Dabei ist auffällig, dass die Vorlieben und Vorurteile zu geschlechtsspezifischem Ernährungsverhalten größer sind als die statistisch auffindbaren Unterschiede63. Männer präferieren in deutlich höherem Maße Fleischgerichte als Frauen. Frauen können sich hingegen stärker für Kartoffel-, Nudel- und Gemüsegerichte begeistern. In einer Studie von Jörg Diehl standen bei den befragten Männern Schnitzel, Steaks, Curry- und Rindswürste an erster Stelle. Nur sehr wenige der bei Männern beliebten Gerichte enthielten kein oder nur einen geringen Fleischanteil. Bei den befragten Frauen lagen Kartoffel- und Nudelgerichte, wie z. B. Pellkartoffeln mit Quark und Gemüseaufläufe, auf den ersten Plätzen (vgl. Diehl 1983: 305 f.)64. Neuere Stu62 Das kulturelle Regelwerk unserer Ernährung ist vergleichbar mit anderen Systemen in unserer Gesellschaft, wie z. B. der Sprache. Denn Ernährung vermittelt durch Codes bestimmte Bedeutungen. „Die Botschaften, die in diesen Systemen formuliert werden, sagen auch etwas darüber aus, wie wir uns die grundsätzliche Ordnung in unserer Gesellschaft denken, wie sie aufgebaut und strukturiert sein soll, was wir als natürlich, als gerecht, als hochrangig, als wünschenswert erachten.“ (Karmasin 1999: 12) 63 Begründet werden kann diese Tatsache unter anderem dadurch, dass in Familien in der Regel das Gleiche verzehrt wird und sich dadurch die Unterschiede relativieren. Vergleiche Kapitel 3.3.2 zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Kapitel 3.1 zu geschlechtsspezifischem Ernährungsverhalten. 64 Umfangreichere Studien aktuelleren Datums zu Geschlechterunterschieden in den Nahrungspräferenzen liegen für Erwachsene im deutschsprachigen Raum leider nicht vor.
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dien mit Jugendlichen bestätigen die geschlechtsspezifischen Nahrungspräferenzen. Jungen zeigen stärkere Vorlieben für Fleisch und Wurst, sowie Fast-Food. Mädchen präferieren stärker Lebensmittel wie rohes Gemüse und Obst (vgl. Diehl 1999; Gerhards/Rössel 2003: 69). Neben den tatsächlichen Ernährungsunterschieden der Geschlechter zeigt sich also eine noch viel eklatantere Differenz in den Nahrungsvorlieben. Weiterhin lässt sich feststellen, dass Frauen sehr viel häufiger angeben, beim Essen auf gesundheitliche Aspekte zu achten. Männer legen bei der Ernährung viel mehr Wert auf den individuellen Genuss (vgl. Setzwein 2006: 43). Die unterschiedlichen Präferenzen in Bezug auf Ernährung lassen vermuten, dass die Stereotype von Ernährung eine große Rolle spielen. Deshalb werde ich im nächsten Schritt die Symbolik von Essen und Trinken in Bezug auf den geschlechtsspezifischen Bedeutungsgehalt näher untersuchen. Die geschlechtsspezifische Codierung im Bereich der Ernährung erstreckt sich auf vielfältige Bereiche. Als erstes werde ich der Frage nach der symbolischen Bedeutung einzelner Lebensmittel näher auf den Grund gehen. In unserer Gesellschaft werden bestimmte Lebensmittel mit dem männlichen und bestimmte Lebensmittel mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert. Zum Beispiel wird rotes Fleisch mit männlicher Potenz und Kraft verbunden. Die Leichtigkeit von frischem Obst und Gemüse kann im Gegenteil dazu zum Aufbau einer weiblichen Identität genutzt werden (vgl. Gerhards/Rössel 2003: 68 f.). Die Ablehnung von Männern gegenüber leichten Lebensmitteln kann als Verteidigung ihrer männlichen Identität gewertet werden. Ein sehr anschauliches Beispiel für die Verknüpfung von rohem Gemüse mit Weiblichkeit zeigte die biographische Studie von Gabriele Sobiech: „Zum anderen leben ihr ihre Mitschülerinnen, die im Klassengefüge eine hohe soziale Position innehaben, vor, was Mädchen, die von Jungen begehrt werden, während der großen Pause an Nahrungsaufnahme 'erlaubt' ist: nämlich 'Möhren knabbern'. Dass Birgit nun als Größte und Dickste ein Leberwurstbrot isst, ist ihr sehr peinlich. Sie entschließt sich das Brot vor der Pause zu essen, um dann mit ihren Mitschülerinnen in der Pause ebenfalls 'Möhren zu knabbern'.“ (Sobiech 2004: 304)
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Durch die Meidung bestimmter Lebensmittel wird das Geschlecht sozial inszeniert. Der Verzehr bestimmter Lebensmittel nutzt bestimmte Symbole, um das Geschlecht zu kommunizieren und die Identität zu untermauern. Die Symbole sind dabei nicht neu. Ein bekannter Vertreter der kulinarischen Geschlechterordnung war Jean-Jacques Rousseau, der im 18. Jahrhundert verschiedene Kulturen anhand ihrer Essgewohnheiten als 'männlich' und 'weiblich' einstufte. Die Italiener seien auf Grund ihres hohen Gemüsekonsums 'weibisch'. Die Engländer zeichnen sich hingegen durch 'männliche' Kraft aus, da sie große Mengen Fleisch verzehren (vgl. Wirz 1997: 440 f.). Die Präferenz bestimmter Lebensmittel hängt mit deren spezifischer Konnotation zusammen. Typisch 'männliche' Nahrung ist durch schwere Verdauung, Schwitzen beim Essen, Völlegefühl etc. gekennzeichnet. Typisch 'weibliche' Nahrung ist dagegen leicht und reizt den Körper nur wenig beim Essen. Sie hinterlässt kaum Spuren am Körper. Das 'weibliche' Essen lässt sich mit Begriffen wie Reinheit und Zurückhaltung verbinden (vgl. Setzwein 2004: 185 f.). Gleichsam sind bestimmte Geschmacksrichtungen 'männlich' und 'weiblich' verortet. Demnach mögen Männer angeblich eher herbe, deftige Speisen, wo hingegen Frauen eher milde und süße Speisen zugeordnet werden (vgl. Setzwein 2004: 47). Für die Herstellung von Männlichkeit ist es also sinnvoll, handfeste Nahrungsmittel zu essen, wie z. B. große Stücke Fleisch, und gegensätzlich konnotierte Speisen eher zu meiden. Für Frauen ist das Gegenteil der Fall. Um ihre Identität zu festigen, ist es sinnvoll, sich eher an leichten und milden Speisen zu bedienen und z. B. das große Stück blutigen Steaks liegen zu lassen65. Untersuchungen zur Konnotierung von Verzehrsmengen zeigen einen weiteren interessanten Zusammenhang. Die Menge, die gegessen wird, hängt mit der Wahrnehmung von Attraktivität zusammen und das bei Frauen sehr viel stärker als bei Männern. Wenig zu essen gilt als 'weibliche' Eigenschaft. Eine Untersuchung von Beth Bock und Robin Kanarek konnte aufzeigen, dass mit steigender Mahlzeitgröße die weiblichen Zielpersonen deutlich weniger attraktiv eingestuft 65 Die Herstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit erfolgt sowohl bewusst als auch unbewusst, auf Grund von internalisierten Normen und Routinen.
3.3 Erklärungsansätze
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wurden, d. h. Frauen, die kleine Mengen essen werden attraktiver eingestuft als Frauen, die größere Mengen konsumieren. Sie wirken damit femininer und können dadurch ihre geschlechtliche Identität untermalen. Bei den männlichen Zielpersonen ließ sich kein signifikanter Zusammenhang feststellen. Es zeigt sich also, dass Männer viel weniger kritisch danach bewertet werden, wie viel sie essen66 (vgl. Bock/Kanarek 1995; ähnliche Ergebnisse erbrachten u. a. Basow/Kobrynowicz 1993). Dabei entspricht die Wahrnehmung viel mehr gesellschaftlichen Stereotypen als realen Unterschieden. Es zeigte sich, dass die Menge, die von den männlichen Zielpersonen verzehrt wurde, als kleiner wahrgenommen wurde, obwohl es die gleiche Portion war wie bei den weiblichen Zielpersonen. Diese Fehleinschätzung muss wohl darauf zurückzuführen sein, dass antizipiert wird, dass Männer mehr Kalorien brauchen und so auch mehr essen müssen. Diese gesellschaftlich verbreitete Annahme unterstützt die individuelle Wahrnehmung. Die Einstufung von 'männlichem' und 'weiblichem' Ernährungsverhalten ist also nicht nur von realen Unterschieden abhängig, sondern wird auch ohne eine tatsächliche Differenz unterschiedlich wahrgenommen (vgl. Bock/Kanarek 1995: 117). Diese verschiedenen Konnotationen lassen sich auch im Ernährungsverhalten wiederfinden. 'Weibliches' Essverhalten ist durch Zurückhaltung und Kontrolle gekennzeichnet. Als eher 'männlich' wird hingegen kräftiges Zulangen und schnelles Essen von großen Mengen gesehen. So „finden wir es eher 'unmännlich', wenn mit gespitzten Lippen am Rand eines Trinkglases genippt oder in der Kaffeepause an rohen Möhren geknabbert wird“ (Setzwein 2006: 46). In der Werbung werden Männer in der Regel als impulsive Esser dargestellt. Das wilde und hemmungslose Essen und Trinken und der Verlust an Kontrolle wird bei Männern, anders als bei Frauen, als positiv gewertet (Bordo 2005: 109 ff.). Das Trinken großer Mengen Alkohol ist exemplarisch für typisch 'männliches' Ernäh66
Der schlanke Körper und restriktives Essverhalten kann als Teil der Inszenierung weiblicher Identität gesehen werden. Das führt dazu, dass auch Essstörungen zur Herausbildung weiblicher Identität genutzt werden. Bei Männern ist das anders: Es widerspricht der männlichen Identitätsstiftung. Darin mag ein Grund liegen, warum viel mehr Frauen als Männer von Essstörungen betroffen sind. Vergleiche auch Kapitel 3.3.1 zu Körpernormierungen und der Wirkung des Schlankheitsideals.
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rungsverhalten zu sehen. Es ruft oft ein lautes, ungehemmtes Verhalten hervor. Bei Frauen ruft Alkoholkonsum teilweise negative Assoziationen hervor, da er mit einem Kontrollverlust einhergeht, der bei ihnen negativ bewertet wird und verunsichert. Auch bei den Verzehrssituationen lassen sich verschiedene Codierungen feststellen. Dies lässt sich beispielhaft an Untersuchungen von Darstellungen in der Werbung nachvollziehen. Susan Bordo fand heraus, dass das Essen bei Frauen in der Werbung in der Regel als privat dargestellt wird. Typisch ist z. B. eine Schokoladenwerbung, in der eine Frau sich alleine auf ihr Zimmer zurückzieht und geradezu heimlich Pralinen genießt. Männer werden beim Essen in der Werbung viel öfter in der Öffentlichkeit situiert. Ein Beispiel hierfür ist eine typische Werbung für Bier, in der ein Mann am Tresen einer Bar sitzt und jemandem zuprostet. Bei Männern wirkt die Verzehrssituation meistens gesellig (vgl. Bordo 2005). Die Zuschreibung von privaten und öffentlichen Verzehrssituationen lässt sich auch in der Assoziation von Kaffeeklatsch und Stammtisch wiederfinden. Die ausschließlich 'weiblich' assoziierte Verzehrssituation ist der Kaffeeklatsch, der in der Regel in privaten Räumen stattfindet. Als typisch 'männlich' wird hingegen die öffentliche Darstellung am Stammtisch in der Kneipe wahrgenommen67.
Hierarchie der Codierung im Ernährungsverhalten Die Zuordnung von bestimmten Lebensmitteln oder Verzehrsgewohnheiten zu einem Geschlecht folgt spezifischen gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien. Frauen und Männer nutzen bewusst und unbewusst diese Symbole im kulinarischen System, um sich in ihrem Geschlecht darzustellen. Dabei ist zu betonen, dass das Ernährungsverhalten neben dem Geschlecht von anderen Faktoren abhängt, u. a. vom Lebensstil und vom Alter. Man kann also nicht von der Konsti67
Interessanterweise essen bulemische Frauen in der Regel heimlich und alleine. Bulemische Männer tun dies selten allein. Sie tendieren dazu, bei den gemeinsamen Mahlzeiten ihre Heißhungeranfälle auszuleben (Bordo 2005: 126).
3.3 Erklärungsansätze
105
tuierung einer einzigen Männlichkeit und Weiblichkeit ausgehen68, sondern von vielen, die je nach Gruppenzugehörigkeit unterschiedlichen Idealbildern folgen. Trotzdem werden in der Analyse Konstanten sichtbar. Die Stereotype, die sich entwickelt haben, bauen auf die Dualität des aktiven Mannes und der passiven Frau auf69. Männlichkeit ist besetzt mit Attributen wie „Unabhägigkeit/Aggression/Promiskuität/Triebhaftigkeit/Stärke etc.“ (Setzwein 2004: 108). Dem gegenüber steht eine konstruierte Weiblichkeit, die mit Eigenschaften wie „Abhängigkeit/Zurückhaltung/Keuschheit/Verfügbarkeit/Schwäche etc.“ verknüpft ist (ebd.). Anhand der Achse stark und schwach lassen sich die Unterschiede zwischen 'weiblich' und 'männlich' konnotierten Speisen aufteilen und analytisch verdeutlichen. Beispielhaft für die Konnotierung von 'männlicher' und 'weiblicher' Nahrung kann die Bewertung von Fleisch und Gemüse gesehen werden. Fleisch wird als 'männliches' Nahrungsmittel wahrgenommen und mit Kraft und Stärke verbunden. Fleisch ist sowohl auf der symbolischen Ebene als auch im Verzehr ein 'männliches' Nahrungsmittel. Männer nehmen im Durchschnitt fast doppelt so viel Fleisch zu sich wie Frauen70.
Tabelle 4: Durchschnittlicher Verzehr von Fleisch, Wurstwaren und Fleischerzeugnissen sowie daraus hergestellten Gerichten (g/Tag) Männer Fleisch, Wurstwaren und Fleischerzeugnisse, davon: Fleisch Wurstwaren, Fleischerzeugnisse Gerichte auf Basis von Fleisch
Frauen 103
53
42 61 57
23 30 30
Quelle: Max Rubner-Institut 2008b: 44.
68
Hierzu ausführlicher Villa 2006: 127 ff. und Connell 2000: 97 ff. Vergleiche Kapitel 3.2 zu geschlechtlichen Konstruktionsprozessen. In Anbetracht der täglichen Energiezufuhr, die bei Männern im Durchschnitt höher liegt als bei Frauen (2413 kcal/Tag zu 1833 kcal/Tag), relativiert sich dieser Unterschied leicht. 69 70
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Eine Untersuchung von Jürgen Gerhards und Jörg Rössel zeigt ähnliche Ergebnisse für Jugendliche auf. In der Befragung betonten die Jungen eher die Notwendigkeit von Fleisch. „Bei den befragten Mädchen kommt dagegen sehr viel häufiger eine Abneigung gegenüber Fleisch, eine Vorliebe für leichte Kost und vor allem die Bedeutung der enthaltenen Kalorien zum Ausdruck.“ (Gerhards/Rössel 2003: 69). Die Symbolik des Fleisches ist eng verbunden mit dem Akt des Tötens der Tiere, und das obwohl Schlachten in unserer Gesellschaft in der Öffentlichkeit kaum noch eine Rolle spielt. Der Zusammenhang zwischen dem lebenden Tier, dem Akt des Schlachtens und dem Fleisch, was ausgepackt in der Theke liegt, wird kaum noch hergestellt. Der Mythos des männlichen Fleisches spielt heute trotzdem noch eine große Rolle. Setzwein geht davon aus, dass die diskursive Verknüpfung von Männlichkeit und Fleisch damit zusammenhängt, dass Männer schon ab der mittleren Steinzeit71 fast ausschließlich für die Beschaffung des Fleisches zuständig waren und ihnen deshalb auch die Macht über die Verteilung zugesprochen wurde (vgl. Setzwein 2004: 129 ff.). Es zeigt sich, dass sich die Bedeutung des Fleisches bis heute gehalten hat. Fleisch gilt noch weithin als der Hauptbestandteil einer Mahlzeit. Gemüse liegt hierarchisch deutlich unter dem Fleisch. Es gilt in der Regel nur als Beilage und nimmt damit nur eine Hilfsfunktion ein (vgl. Karmasin 1999: 29). Die Nahrung unterliegt damit einer Zweiteilung. Fleisch wird höher bewertet als Gemüse72. Nick Fiddes stellt die These auf, dass „das wichtigste Merkmal von Fleisch seine greifbare Verkörperung der Herrschaft des Menschen über die natürliche Welt ist“ (Fiddes 1993: 15). Die Hierarchie zwischen Fleisch und Gemüse kann damit als Symbol der klassischen 71 Bis dahin wurde im Familienzusammenhang gejagt und Frauen waren ebenso wie Männer aktiv an der Jagd beteiligt. Erst als die Tierbestände knapper wurden setzte die Pirschjagd ein, die Frauen mehr und mehr von der Jagd ausschloss (vgl. Mellinger 2000: 133). Die Jagd als 'männliches' Privileg ist also gar nicht die ursprüngliche Jagdform, die heute gerne als vermeintlich 'natürliche' Erklärung für Unterschiede zwischen den Geschlechtern herangezogen wird (vgl. Pease/Pease 2000). 72 Auch wenn es heute zu einer immer stärkeren Aufwertung von Gemüse als 'gesundes' Nahrungsmittel kommt, so hat die Bedeutung von Fleisch kaum abgenommen. Eine umfangreiche Untersuchung zur Neubewertung von Fleisch und Gemüse wäre jedoch interessant, um herauszufinden, ob es hier zu einer Veränderung der Codierung kommt und ob vielleicht die Hierarchisierung der Geschlechter aufgeweicht wird oder sich verschiebt.
3.3 Erklärungsansätze
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Hierarchie der Kultur über die Natur und damit des Mannes über die Frau gewertet werden73. Dadurch kann der Verzehr von Fleisch die männliche Machtstellung gegenüber der Frau ausbauen und verstärken. Heute ist Fleisch in westlichen Industriestaaten ausreichend vorhanden, so dass es nicht mehr vom Geld abhängt, in welchen Schichten Fleisch verzehrt werden kann oder welchem Geschlecht Fleisch zugedacht wird. Die Verteilung von Nahrung hängt also nicht mehr von klassischen Machtressourcen ab, sondern ist an tradierte Geschlechterrollenmodelle gekoppelt (vgl. Gerhards u. a. 2004: 157). Die Bewertung 'weiblicher' und 'männlicher' Nahrung verweist darauf, dass die vermeintlich starken Männer auch 'starke' Nahrung brauchen. Frauen, die in der geschlechtlichen Hierarchisierung als schwach und passiv eingestuft werden, brauchen gleichzeitig auch weniger energiereiche Kost. „So repräsentiert das Leichte, Nachgiebige, Süßliche oder geschmacklich eher Indifferente, das gemeinhin die als 'weiblich' konnotierten Speisen (z.B. Obst, Gemüse, Quark, Fischfilet, Süßspeisen) auszeichnet, jene Passivität, Schwäche und Unterlegenheit, die in der Konstruktion von 'Weiblichkeit' (…) eine tragende Rolle spielt.“ (Setzwein 2004: 117 f.)
Die Leichtigkeit 'weiblicher' Speisen überschneidet sich zudem mit den Nahrungsempfehlungen für Alte, Kranke und Kinder (vgl. ebd.: 118). Die Verknüpfung von Kindern und Frauen lässt sich auch in den Bildern von vermeintlichen Geschmacksvorlieben von Männern und Frauen wiederfinden. Denn Naschen (von Süßigkeiten) wird als typisch kindliches und eben auch 'weibliches' Verhalten eingestuft. Die Verbindung mit Kindern, Alten und Kranken assoziiert Frauen mit dem Attribut der Schwäche. Diese Verknüpfung verweist auf die 'natürliche' Bindung von Mutter und Kind bzw. Pflegeaufgaben und setzt gleichzeitig eine Hierarchie im Essverhalten in Kraft (vgl. ebd.: 184). Die auf den ersten Blick neutrale Unterscheidung 'weiblicher' und 'männlicher' Ernährung lässt sich vielmehr als Hierarchisierung der Geschlechter erkennen. 'Weibliche' Nahrung unterstützt das konstruierte Bild 'weiblicher' Schwäche und 'männliche' Nahrung 73
Zur Kultur-Natur-Unterscheidung siehe Kapitel 3.2 zu geschlechtsspezifischen Konstruktionsprozessen und 2.2.1 zum Ernährungsdiskurs.
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unterstützt das Bild 'männlicher' Stärke. Präferenzen in der Ernährung von Frauen und Männern und die Vorstellung dieser rekurrieren also auf Statusdifferenzen zwischen Männern und Frauen, die durch geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten gleichsam reproduziert werden.
Ernährung stiftet Identität Wenn durch Ernährungsverhalten Geschlechterunterschiede hergestellt werden, dann stellt sich die Frage, wie dieser Prozess vonstatten geht. Er kann nicht als aktiver Prozess der Unterwerfung der Frauen unter die Männer gesehen werden, aber wie und warum entstehen die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Ernährungsverhalten? Das Individuum muss sich ständig als einzigartig hervorbringen und seine Identität durch sein Handeln konstituieren74. Dies gilt insbesondere für die geschlechtliche Identität75 (vgl. Beyer 2000). Speziell in der Jugendphase ist die Herstellung von Geschlecht ein Prozess, der mit starken Verunsicherungen einhergeht. Der Wechsel von der Kindheit zum Erwachsenenalter ist eine Phase, in der viele Dinge noch von den Eltern kontrolliert werden und gleichzeitig neue Verantwortungen übernommen werden müssen. Dieser Prozess ist geprägt durch Verunsicherungen und Ängste auf der Suche nach der eigenen Identität. Dabei spielt vor allem die Frage der eigenen 'Normalität' eine große Rolle. Gerade diese Frage 'Bin ich eigentlich normal?' führt dazu, dass Jugendliche verstärkt auf bekannte Rollenbilder zurückgreifen. Ich werde in diesem Abschnitt die Identitätsfindung bei Jugendlichen näher untersuchen, da sie veranschaulicht, wie Geschlechterstereotype auf die Identitätsbildung wirken. Dabei soll die Frage im Fokus stehen, welche Rolle Ernährung für die Darstellung von adoleszenter Identität spielt. 74 Die Herstellung von Identität wird immer schwieriger. Die klassisch identitätsstiftenden Parameter Klasse- und Schichtzugehörigkeit sind zwar immer noch wirksam in der Produktion von Ungleichheit, sie wirken jedoch nicht mehr so identiätsstiftend wie früher (vgl. Beyer 2000: 134). 75 Vergleiche Kapitel 3.2 zu geschlechtlichen Konstruktionsprozessen.
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Schon in früher Kindheit ist das Bewusstsein für die eigene Geschlechtszugehörigkeit ausgeprägt. Kinder sind schnell empört, wenn man sie dem 'falschen' Geschlecht zuordnet (vgl. Helfferich 1994: 47). Die Vorstellung einer eigenen Identität ist eng mit der Zuordnung zu einem Geschlecht verbunden. Geschlecht stellt dabei eine wichtige Konstante und Ordnungsgröße dar, an der sich in schwierigen und unbekannten Situationen orientiert werden kann. Dabei wird das Geschlecht gleichzeitig als etwas Brüchiges wahrgenommen. Die geschlechtliche Identität hilft also auf der einen Seite, sich in dem gesellschaftlichen Gefüge zurechtzufinden und bietet dafür ritualisierte und bekannte Muster an. Auf der anderen Seite muss Geschlecht in der Interaktion immer aufs neue hergestellt werden, um die eigene Identität klarzustellen (vgl. Jösting 2005: 12). „Es geht um die interaktive Erarbeitung, praktische Einübung und bildhafte Darstellung und Inszenierung von Orientierungen und Praktiken, die eine Selbstpräsentation ermöglichen, die von Anderen als gelungen, als alters- und geschlechtsangemessen wahrgenommen und bestätigt wird.“ (ebd.)
Diese Inszenierung geschieht nicht aus dem Willen heraus, sich auf eine bestimmte Art und Weise darzustellen, sondern um in adäquater Weise als einem Geschlecht zugehörig wahrgenommen zu werden. Die Jugendlichen greifen auf bekannte Geschlechterstereotype zurück, d. h. Mädchen und Jungen stellen ihre geschlechtliche Identität im Handeln interaktiv her. Dabei bedienen sie sich bestimmter Praktiken und Darstellungsressourcen, die im sozialen Kontext einen bestimmten Symbolwert besitzen (vgl. ebd.). Jungen und Mädchen stehen für die Inszenierung in der Regel unterschiedliche Verhaltensmuster zur Verfügung. Bei der Herstellung geschlechtlicher Identität spielen Körperinszenierungen eine wichtige Rolle, wie z. B. Kleidung und Bewegungsarten. Eine weitere Möglichkeit ist die Darstellung anhand bestimmter geschlechtsspezifischer Ernährungsweisen. Ernährungspraxen dienen also zur Darstellung von Geschlechteridentitäten, dabei spielen vor allem Ernährungsvorlieben, Bräuche und Vermeidungsstrategien eine Rolle.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
Die Analyse adoleszenter Prozesse ist deshalb interessant, weil sich in der Pubertät erst bestimmte Verhaltensmuster herausbilden. In der Pubertät führt die Suche nach einer eigenen Identität zu einer besonderen Herausstellung der Geschlechterunterschiede und geschlechtertypische Verhaltensweisen sind extrem ausgeprägt. Die übertriebene Darstellung von Geschlechterstereotypen, die zum Ende der Pubertät wieder nachlässt, hat seinen Ursprung in der geschlechtlichen Identitätsfindung. „Mit der biologischen Geschlechtsreife werden die gelernten, zum Teil aber latent gehaltenen geschlechtsspezifischen Rollenvorbilder und Verhaltensweisen aktualisiert und zum Aufbau einer eigenen Geschlechterrollenidentität genutzt.“ (Gerhards u. a. 2004: 167)
Dieser Zusammengang macht deutlich, dass es sich hierbei nicht um 'natürliche' Verhaltensmuster handelt, sondern dass diese erst auf der Suche nach Identität rekuriert werden. In Bezug auf Ernährung lässt sich tatsächlich feststellen, dass die Geschlechterunterschiede in der Ernährung mit dem Alter der Mädchen und Jungen zunehmen und danach wieder abnehmen. Geschlechtsspezifische Rollenbilder werden also erst in der Pubertät komplett herausgebildet (vgl. ebd.: 168). Durch die extreme Darstellung von geschlechterstereotypen Essverhalten wird die hierarchische Codierung der Ernährungsweisen reproduziert. Am durchschnittlichen Fleischverzehr nach Altersgruppen lässt sich in der Tat feststellen, dass besonders in der Pubertät die Unterschiede zwischen den Geschlechtern extrem ausgeprägt sind und mit dem Alter langsam nachlassen.
3.3 Erklärungsansätze
Abbildung 1:
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Durchschnittlicher Verzehr von Fleisch (g/Tag) für Männer und Frauen nach Altersgruppen
140 120 100 80 60 40 20 0 14-18
19-24
25-34
Männer
35-50
51-64
65-80
Frauen
Quelle: Eigene Darstellung nach Max Rubner-Institut 2008b: 45.
Dabei scheint es vor allem wichtig zu sein, dass Männer ihr Essverhalten herauszuheben versuchen bzw. sich als typisch 'männlich' zu behaupten; gibt es doch hier etwas zu verlieren. Frauen dringen immer mehr in 'männliche' Bereiche vor und nehmen vermeintlich 'männlich' dominantes Verhalten an. Männer achten deshalb bewusst und unbewusst darauf, die Differenz zwischen den Geschlechtern aufrecht zu erhalten. Ein Ergebnis der Studie von Jürgen Gerhards, Jörg Rössel u. a. unterstützt diese These. Sie konnten herausfinden, dass Jungen eine stärkere Affinität zu 'männlichen' Lebensmitteln haben. Die Ausprägung bei Mädchen zu 'weiblichen' Lebensmitteln ist sehr viel schwächer (vgl. Gerhards u. a. 2004: 166 f.). Ähnliches gilt für das Tragen von Röcken und Kleidern. Für Männer ist es noch immer ein Tabu, Röcke und Kleider zu tragen, obwohl die
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Hose für Frauen zu einem selbstverständlichen Kleidungsstück geworden ist (vgl. Setzwein 2004: 19 f.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ernährung Ressourcen bereitstellt, mit denen die eigene Statuszugehörigkeit dargestellt und reproduziert wird. Dies gilt neben Schichtzugehörigkeit auch für das Geschlecht, d. h. dass durch bestimmte Ernährungsweisen eine geschlechtliche Identität hergestellt wird. Wichtig ist dabei, dass die Ressourcen, durch die Männlichkeit und Weiblichkeit hergestellt werden können, nicht neutral oder wertfrei sind. Die Ernährungsweisen, die zur Herstellung weiblicher Identität genutzt werden können, sind denen der Männer hierarchisch unterstellt. Deutlich wird dies unter anderem durch die Hierarchisierung von Fleisch und Gemüse. Die Zuordnung erfolgt dabei auf zwei Ebenen. Zunächst verzehren Männer statistisch mehr vom statushöheren Fleisch, wodurch sie ihre Machtposition stärken können. Zusätzlich gibt es eine symbolische Zuordnung der Geschlechter zu vermeintlich spezifischen Ernährungsweisen. Frauen werden eher den leichten, wenig nahrhaften Speisen zugeordnet. Dadurch wird auf symbolischer Ebene eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern hergestellt. Statushöhere Ernährungsweisen und Lebensmittelgruppen werden als 'männlich' und statusniedrigere als 'weibliche' bezeichnet. Diese Semantik wird interaktiv reproduziert und hergestellt. Indem Männer einen größeren Anteil Fleisch essen, wird die Verknüpfung von Fleisch und Männlichkeit aufrecht erhalten. Durch die Aufrechterhaltung der Zuschreibung bleibt die Hierarchisierung der Geschlechter im Bereich der Ernährung bestehen. Die Frage, ob die Bedeutung der Ernährungsweise für die Herstellung von Identität Erklärungskraft für die unterschiedlichen Ernährungsweisen von Männern und Frauen hat, lässt sich eindeutig bestätigen. Denn Ernährung stellt brauchbare Ressourcen zur Herstellung von Geschlecht bereit, so dass sie einen wichtigen Anteil an der Herstellung geschlechtlicher Identität hat. Zudem lässt sich hier auch eine Antwort auf die Frage finden, warum Frauen sich 'gesünder' ernähren. Denn die als 'gesund' klassifizierten Ernährungsweisen entsprechen stärker der 'weiblichen' Identität als der 'männlichen'. Aspekte von Schlankheit und 'gesunder' Ernährung gehören sehr viel stärker zur Bildung 'weiblicher' Identität. Konkret heißt das,
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dass 'gesunde' Ernährung zur Herstellung von 'weiblicher' Identität genutzt werden kann. Die Ressourcen, die 'männliche' Geschlechtsidentität unterstützen, werden andersherum eher als 'ungesund' klassifiziert. Abschließend soll diskutiert werden, welche Bedeutung die geschlechtliche Arbeitsteilung und Körperideale für die geschlechtliche Identität haben. Dabei geht es vor allem darum, das Zusammenspiel der verschiedenen Dimensionen zu analysieren.
3.3.4 Zwischenfazit: Zusammenhang von Körperbildern, geschlechtlicher Arbeitsteilung und der Bildung geschlechtlicher Identität Es konnte gezeigt werden, dass die Kategorie Geschlecht auf der einen Seite einen großen Einfluss auf das Ernährungsverhalten von Individuen hat76. Auf der anderen Seite dient das Ernährungsverhalten dazu, die 'männliche' und 'weibliche' Geschlechtszugehörigkeit zu konstituieren, denn geschlechtsspezifische Ernährungspraktiken dienen zur Herstellung geschlechtlicher Identität. Die Entstehung 'weiblicher' und 'männlicher' Identität durch Ernährungsverhalten hängt eng mit Körpernormierungen und der Dimension geschlechtlicher Arbeitsteilung zusammen. Dabei hat die Auseinandersetzung mit geschlechtlichen Körperbildern gezeigt, dass 'weibliche' Identität sehr viel stärker vom eigenen Körper abhängt, denn Schlankheit und körperliche Attraktivität sind für Frauen eine Voraussetzung für gesellschaftlichen Erfolg. Die Vorstellung vom eigenen Körper und dessen Herstellung, durch z. B. Schminken, Kleidung und Diäten, ist maßgeblich an der Konstituierung von Weiblichkeit beteiligt. Bei der Herstellung 'weiblicher' Identität spielen Ernährungspraktiken eine große Rolle, da die meisten Frauen restriktives Essverhalten als erste und beste Lösung ansehen, um Schönheit und Schlankheit und damit gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen. Restriktives Ernährungsverhalten entsteht bereits in der Sozialisation, indem Mädchen sehr früh nahe gelegt wird, beim Essen auf ihre Figur zu achten, so dass Ernährung vor allem mit Unsicherheit und Ängsten verbunden ist. 76
Vergleiche Kapitel 3.1 zum geschlechtsspezifischen Ernährungsverhalten.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
Die geschlechtliche Arbeitsteilung spielt ebenso eine Rolle bei der Konstituierung geschlechtlicher Identität. In Bezug auf die Ernährung heißt dies, dass Frauen die Rolle der Essenszubereitung zugeschrieben wird. Männer werden hingegen eher als die Essenden wahrgenommen. Die Aufteilung der Versorgung macht die Hierarchisierung der Geschlechter deutlich. In der Regel wird die Nahrung nach den 'männlichen' Vorlieben ausgerichtet und die Frau ist für die Zubereitung zuständig. Oft bereiten Frauen sogar unterschiedliche Speisen für ihren Mann und die Kinder zu, um allen Wünschen, nicht aber unbedingt ihren eigenen, gerecht zu werden. Interessant ist, wie tief die geschlechtsspezifische Zuschreibung hier sitzt. Denn eine Situation, in der der Mann für sich und die Kinder einen Salat zubereitet, der Frau aber ein Feierabendbier und ein blutiges Steak serviert, ist kaum vorstellbar (vgl. Setzwein 2004: 213). Die Symbolik spezifischer Ernährungsweisen hängt dabei eng mit dem Körper zusammen, denn die körperliche Erfahrung ist die notwendige Erweiterung der symbolischen Ebene, indem die Vorlieben durch körperliche Wahrnehmungen unterstützt werden. Konkret rufen unsere Vorstellungen zu Ernährungsweisen emotionale Gefühle wie Ekel und Abscheu hervor, aber auch Überlegenheit oder Unterordnung. So werden durch symbolische Bedeutungsgehalte auf der körperlichen Ebene Erfahrungen erzeugt. „Für die symbolische (Re-)Produktion der Geschlechterdifferenz bedeutet dies, dass die Körper jene Orte bilden, an denen aus kulturell verarbeiteten Vorstellungen geschlechtssinnstiftende Bedeutungen geschöpft werden, die ihrerseits auf die materielle Realität der Körper einwirken und als inkorporierte Ideologien die soziale Wirklichkeit ebenso wie das individuelle Erleben (mit)-konstituieren.“ (ebd.: 78)
Die Symbole können über die körperliche Ebene gefühlte Wirklichkeit hervorrufen, die subjektiv erfahrbar ist. Damit ist gemeint, dass Symbolisierungsprozesse nicht nur unser Bewusstsein beeinflussen, sondern auch eine „emotionale Tiefendimension, die – kollektive und subjektive – Gefühle (z.B. Abscheu, Stolz, Überlegenheit, Demut etc.) hervorruft und eine notwendige Ergänzung des ideologischen Pols bildet.“ (ebd.: 77). Die gefühlte Ebene drückt sich unter anderem in einem kollektiv geteilten Geschmack aus. Bestimmte Lebensmittel rufen bei
3.3 Erklärungsansätze
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bestimmten Bevölkerungsgruppen Ekel hervor, bei anderen nicht. Ein Beispiel hierfür sind Austern. Sie gelten vor allem in höheren Gesellschaftsschichten als Delikatesse, andere würden sie eher als ekelig bezeichnen. Der Ekel wird dabei auf körperlicher Ebene spürbar, er drückt sich z. B. in Schaudern und Würgereiz aus. Ein anderes Beispiel ist auftretende Übelkeit, wenn von einem Lebensmittel, z. B. Fleisch oder Süßigkeiten, zu viel verzehrt wurde. Diese Übelkeit muss dabei keine körperliche Ursache haben, sondern kann alleine durch das Gefühl 'eigentlich zu viel gegessen zu haben' hervorgerufen werden. Die Gefühle sind dabei an gesellschaftliche Symbolisierungsprozesse gebunden, die geschlechtlich unterschiedlich sind. Ich nehme an, dass z. B. Übelkeit durch das Gefühl 'zu viel gegessen zu haben' bei Frauen öfter auftritt, da es direkt mit der Vorstellung körperlicher Attraktivität verbunden ist. Diese These müsste jedoch noch weiter überprüft werden. Interessant ist zudem, dass das Ernährungsverhalten bei Jungen sehr viel mehr vom familiären Umfeld abhängt als bei Mädchen. Konkret heißt das, wenn Jungen in der Familie zur 'gesunden' Ernährung angehalten werden, so beeinflusst sie das viel stärker als Mädchen (Gerhards/Rössel 2003: 170). „Die sozialen Regeln, wie Mädchen mit ihrem Körper umgehen, schließen symbolisch als 'hart' besetzte Verhaltensweisen weitgehend aus – und das gilt relativ sozialschichtunabhängig. Risikopraxen, in denen Körpergrenzen (schmerzhaft) erfahren werden, sind Kristallisationspunkte der somatischen Kulturen von Jungen – insbesondere von Jungen mit niedrigem sozialen Status (sozialer Herkunft aus unteren Sozialschichten/Hauptschüler; wir sehen hier anders als bei Mädchen, einen deutlichen Schichtunterschied).“ (Helfferich 1994: 58 f.)
Es ist also davon auszugehen, dass Frauen sehr viel stärker von allgemeinen gesellschaftlichen Rollenbildern beeinflusst werden als Männer. Frauen werden vor allem durch gesellschaftliche Körpervorstellungen, aber auch durch Rollenbilder in Bezug auf Arbeitsteilung viel stärker unter Druck gesetzt, was dazu führt, dass ihr Ernährungsverhalten weniger stark vom Elternhaus und vom gesellschaftlichen Umfeld abhängt als bei Männern.
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3 Doing Gender im Ernährungsverhalten
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das geschlechtsspezifische Ernährungsverhalten maßgeblich mit der Identitätsbildung der Geschlechter zusammenhängt. Dabei spielen unter anderem Körperideale und die geschlechtliche Arbeitsteilung eine Rolle. Es zeigt sich also, dass ähnlich wie in anderen Bereichen auch Ernährung Ressourcen zur Verfügung stellt, die AkteurInnen nutzen, um ihre Geschlechtszugehörigkeit darzustellen. Diese Ressourcen sind jedoch alles andere als neutral oder gleichwertig, vielmehr schaffen sie eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern zu Ungunsten von Frauen.
4 Fazit
Um der Tragweite des Themas Ernährung gerecht zu werden, halte ich es für unumgänglich, Ernährung als Diskurs und nicht als naturwissenschaftliche Kategorie zu begreifen. In diesem Buch stand zunächst die Diskussion um den Begriff der 'gesunden' Ernährung im Mittelpunkt. Der Begriff der 'gesunden' Ernährung muss als wandelbar und umstritten bezeichnet werden, d. h. dass die Definition von dem was 'gesund' und was 'ungesund' ist keineswegs als Wahrheit, sondern vielmehr als diskursiv geprägt angesehen werden muss. Die nähere Analyse des Ernährungsdiskurses zeigt, dass er sehr medizinisch/naturwissenschaftlich ausgerichtet ist. Dies konnte exemplarisch am Ernährungsbericht 2008 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung gezeigt werden. Verschiedenste empirische Ergebnisse werden zwar nach Geschlecht oder Alter aufgeschlüsselt, über eine deskriptive Darstellung geht der Ernährungsbericht jedoch nicht hinaus. Es wird auch in anderen wissenschaftlichen Untersuchungen kaum ein Versuch unternommen, das zu beobachtende Ernährungsverhalten zu erklären. Die naturwissenschaftlich ausgerichtete Forschung geht von dem Bild eines rational agierenden Individuums aus, also ein Individuum, das sich durch steigendes Wissen über Ernährung auch immer 'gesünder' ernährt. Dieses Menschenbild führt zu einer Ernährungsforschung und -politik, die versucht, die Bevölkerung mit Appellen dazu zu bewegen, sich 'gesünder' zu ernähren. Damit wird die Verantwortung, sich 'gesund' zu ernähren, vollkommen individualisiert. Dem Individuum allein wird die gesamte Verantwortung für seine Gesundheit auferlegt und das, obwohl es maßgeblich gesellschaftlich bedingte Veränderungen sind, die z. B. zu einer Erhöhung der Anzahl an Übergewichtigen und Adipösen führen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist das veränderte Arbeitsleben. Immer mehr sitzende TätigK. Schritt, Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen, DOI 10.1007/978-3-531-92692-6_444, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Fazit
keiten und flexibilisierte Arbeitszeiten begünstigen Bewegungsmangel und 'ungesündere' Ernährungsweisen. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass die Ernährungsaufklärung bisher wenig Erfolg gezeigt hat. Es wird deutlich, dass die klassisch naturwissenschaftliche und medizinische Ernährungsforschung schnell an ihre Grenzen stößt, denn sie lässt die Bedeutung gesellschaftlicher Einflussfaktoren auf das Ernährungsverhalten der Individuen weitgehend außer Acht. Ernährung ist nicht individuell wählbar, sondern an gesellschaftliche Regeln, Normen und Tabus geknüpft, die historisch gewachsen sind und unsere Gesellschaft maßgeblich konstituieren. Es zeigt sich, dass Einflussfaktoren wie z. B. Alter, Geschlecht und Schichtzugehörigkeit eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung individueller Ernährungsgewohnheiten spielen. Die Erkenntnis, dass Essen nicht als alleinig rationale Handlung zu verstehen ist, wäre auch für die Ernährungsberatung produktiv. Mit der Einsicht, dass reine Appelle an die Vernunft nur bedingt zu einer dauerhaft 'gesünderen' Ernährungsweise führen, könnten neue Wege der Beratung beschritten werden. Um dieses Ziel einer 'gesünderen' Gesellschaft zu erreichen, müssten die verschiedenen Einflussfaktoren auf Ernährung näher untersucht werden. Die Kategorie Geschlecht hat sich dabei als besonders relevant und gleichzeitig vernachlässigt herausgestellt. Es zeigt sich, dass das Geschlecht eine maßgebliche Rolle bei der Ernährung spielt. So zeigen empirische Untersuchungen, dass Frauen sich 'gesünder' ernähren als Männer. Sie essen mehr Obst und Gemüse und weniger Fleisch- und Wurstwaren. Zudem wurde deutlich, dass Frauen mehr Wert auf ihre Ernährung legen. Sie haben ein größeres Ernährungswissen und schätzen 'gesunde' Ernährung wichtiger ein als der Durchschnitt der Männer. Für Männer steht nicht Ernährung, sondern Bewegung höher im Kurs, um ihre Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern. Interessant ist zudem, dass Männer mehr Lust am Essen zeigen. Für Frauen ist das Thema stärker mit Verunsicherungen und Ängsten verbunden. Das führt dazu, dass Frauen viel häufiger restriktives Ernährungsverhalten und Essstörungen aufweisen.
4 Fazit
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Der Schwerpunkt dieser Studie lag darin, die Frage untersuchen, wie die Geschlechterdifferenzen im Ernährungsverhalten zu erklären sind. Ernährung sehe ich in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Normierungen. Männer und Frauen orientieren sich an Regeln und Tabus, welche Nahrungsmittel und Verzehrsweisen für ihr Geschlecht angemessen sind. Denn gesellschaftliche Teilhabe ist bedingt durch eine kohärente – bzw. intelligible - Darstellung der Geschlechtsidentität. Dies bedeutet, dass Individuen in der Interaktion immer aufs Neue ihr Geschlecht darstellen müssen, um gesellschaftlich anerkannt zu sein. Ernährung kann somit als Ressource betrachtet werden, die dazu genutzt wird, die geschlechtliche Identität zu konstituieren, d.h. Geschlecht wird im Ernährungsverhalten aktiv hergestellt. Aufgrund der interaktiven Herstellung von Geschlecht halte ich es für fruchtbar, von einem doing gender im Ernährungsverhalten zu sprechen. Dabei haben gesellschaftliche Körpernormierungen und die Vorstellungen geschlechtlicher Arbeitsteilung einen großen Einfluss auf die Konstruktion von geschlechtlicher Identität. Sie haben vor allem bei Frauen einen schichtübergreifenden Einfluss. Das zeigt sich u. a. darin, dass die Ernährungsweise bei Männern sehr viel stärker vom Elternhaus und dem sozialen Umfeld geprägt wird. Bei Frauen ist das Ernährungsverhalten auch über Schichtgrenzen hinaus sehr viel ähnlicher. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass das Schlankheitsideal und teilweise auch die Zuschreibung zur Hausarbeit bei Frauen gesamtgesellschaftlich wirksam ist. Des Weiteren konnte in dieser Studie verdeutlicht werden, dass geschlechtliche Codierungen von Lebensmitteln und Verzehrsweisen keineswegs neutral oder wertfrei sind. Die Symbole, die zur Herstellung der geschlechtlichen Identität genutzt werden, rekurieren auf die Hierarchisierung der Geschlechter, die in fast allen gesellschaftlichen Bereichen auffindbar ist. Sie orientieren sich an der Achse stark-schwach, nach der Frauen eher passive, abhängige, dem Privaten zugeordnete Wesen sind. Männer hingegen gelten als aktiv und autonom und werden im öffentlichen Raum verortet. Ich habe herausgearbeitet, dass typisch 'weibliche' Ernährung durch leichte, nährstoffarme und statusniedrigere Lebensmittel geprägt ist. 'Männliche' Nahrung ist eher durch Stärke, Nahrhaftigkeit und
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4 Fazit
Überlegenheit gekennzeichnet. Beispielhaft ist hierfür die Herorisierung von 'männlichem' Fleisch als unbedingter nährstoffgebender Hauptbestandteil einer Mahlzeit und 'weiblichem' Gemüse, das in der Regel als Beilage gesehen wird. Dadurch ist Ernährung maßgeblich daran beteiligt, geschlechtliche Hierarchien herzustellen und zu reproduzieren. Es zeigt sich, dass Männer stärker an dieser Unterscheidung festhalten. Für sie ist das Interesse größer, die Differenz aufrecht zu erhalten, da sie ihren überlegenen Status einzubüßen hätten77. Die besondere Bedeutung von Ernährung liegt darin, dass sie direkt auf den Körper zugreift und das nicht nur auf symbolischer, sondern auch auf materieller Ebene. Denn über Ernährung werden körperliche Wahrnehmungen und auch Veränderungen erzeugt, die Codierungen in leibliche Erfahrungen übersetzen können. Beispielsweise können kulturell geprägte Nahrungstabus Ekelgefühle hervorrufen, die sich in Übelkeit, also direkter körperlicher Erfahrung, widerspiegeln. Ebenso sind Ernährungsweisen an der Konstitution von Körperlichkeit beteiligt. Es zeigt sich also ein wechselseitiges bzw. zirkuläres Verhältnis zwischen Geschlecht und Ernährungsverhalten. Es gilt als Ressource für die Darstellung der eigenen Geschlechtszugehörigkeit, d. h. Männer und Frauen nutzen bewusst und unbewusst die für ihr Geschlecht anerkannten Ernährungsweisen. Dadurch konstituieren sie ihr Geschlecht und reproduzieren die unterschiedlichen Ernährungsweisen der Geschlechter, die in einer Bestätigung der bestehenden Konnotationen von 'weiblicher' und 'männlicher' Ernährung münden. Beispielsweise isst eine Frau zum Mittagessen einen Salat und produziert damit ein kohärentes Bild ihrer Geschlechtsidentität. Gleichzeitig verstärkt sie damit die Codierung 'Frauen essen gerne etwas leichtes und gesundes'. Dieser Prozess vollzieht sich durch den Rückgriff auf routinierte und internalisierte Verhaltensmuster und kann sowohl unbewusst als auch bewusst genutzt werden, wie es z. B. bei Jugendlichen beobachtet wird. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass geschlechtssegregierende Prozesse im Ernährungsverhalten zur gesamtgesellschaftlichen Konstruktion der 77 Dieser Prozess kann nicht als bewusst geplante Handlung gesehen werden. Es zeigt sich jedoch, dass Ungleichheitsstrukturen auch unbewusst reproduziert und genutzt werden.
4 Fazit
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Hierarchisierung der Geschlechter beitragen. Ihre Bedeutung wird dabei oft unterschätzt oder sogar ignoriert. So ist zu bedauern, dass der Thematik der Ernährung in der Geschlechterforschung kaum Bedeutung zugesprochen wird. Das ist unter anderem an der geringen Anzahl an Veröffentlichungen abzulesen. Die meisten Veröffentlichungen zum Thema Ernährung sind einseitig naturwissenschaftlich geprägt, so dass soziokulturelle Einflüsse kaum thematisiert werden. Viel zu selten trifft man auf Publikationen, die Ernährungsweisen mit der Konstruktion von Geschlecht in Verbindung bringen. Zudem findet man in den populären Überblicks- und Einführungsbänden der Geschlechterforschung Ernährung nicht thematisiert78. In diesem Buch haben sich spannende neue Fragen und Forschungsansätze herauskristallisiert. Vor allem Fragen nach dem Wandel der Geschlechterverhältnisse scheinen eine mehrdimensionale kritische Auseinandersetzung unumgänglich zu machen. Denn die starke Fokussierung auf die Kategorie Geschlecht bringt leider auch eine Verkürzung der Analyse mit sich. Vielmehr wäre eine umfangreiche Analyse des Zusammenspiels von verschiedenen Ungleichheitsfaktoren wie Schicht, Ethnizität und Alter notwendig. So zeigt sich bereits, dass traditionelle Codierungen und Ernährungsmuster vor allem in höheren Schichten langsam aufgebrochen werden. Eine weiterführende Untersuchung könnte und müsste demnach Aufschluss zu den Fragen geben, welche Bedeutung der Wandel der Geschlechterrollenbilder hat. So lässt sich zunehmend eine positive Besetzung von weiblichem Ernährungsverhalten beobachten. Gerade Gemüse und Obst sowie eine allgemein leichte Ernährungsweise wird im Gegensatz zu typisch männlichem Essverhalten als die 'gesündere' Ernährung und damit auch als die bessere Ernährungsweise begriffen. Kommt es hier zu einem Wandel der Hierarchisierung der Geschlechter? Wird die Codierung von 'männlicher' Stärke und 'weiblicher' Schwäche im Ernährungsverhalten aufgebrochen? Gerade solche 78 Siehe hierzu unter anderem das Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung von Ruth Becker und Beate Kortendiek, das 2008 in zweiter Auflage erschienen ist. Das Handbuch gibt nach eigenen Angaben einen „Überblick über die theoretischen Ansätze, die methodischen Verfahren und die empirischen Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung“ (Becker/Kortendiek 2008: 13). Das Handbuch umfasst eine Vielzahl an Artikeln unter anderem zu den Themen Gesundheit, Sexualität, Film, Mode etc. Ernährung taucht trotz des breit gefächerten Themenspektrums nicht auf.
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4 Fazit
Fragen sollten stärker in den Blickpunkt einer kritischen Ernährungsforschung gerückt werden. Resümierend lässt sich konstatieren, dass es zwar empirische Untersuchungen, aber kaum eine systematische Verknüpfung der Geschlechterforschung und der Ernährungswissenschaft gibt. Es wäre ein wichtiger Schritt, wenn die Geschlechterforschung das Thema Ernährung als ein bedeutenderes Forschungsfeld begreifen würde. Die Einbindung von Theorien der Geschlechterkonstruktion in die Ernährungsforschung und umgekehrt ist hilfreich, um zu verstehen, dass Ernährung eine wichtige Ressource zur Produktion von Geschlechterhierarchien ist. Denn die Differenzierung, die durch die Codierung 'weiblicher' und 'männlicher' Ernährungsweisen entsteht, trägt zur Ungleichheit der Geschlechter bei. Die Erforschung der Konstruktionsprozesse in der Ernährung vermag diese Problematik aufzudecken und könnte dadurch einen wichtigen Beitrag zur Gleichberechtigung der Geschlechter leisten.
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6 Anhang 6.1 Errechnung vom Body-Mass-Index (BMI)
Gewicht in kg (Körpergröße x Körpergröße in Metern)
Beispiel: 1. Körpergröße x Körpergröße: 1,62m x 1,62m = 2,6244m² 2. Gewicht durch das Ergebnis teilen: 59kg / 2, 6244m² = 22,48 kg/m² Damit hat die Person im Beispiel einen BMI von 22,48. Der BMI gibt im Vergleich zu früheren Berechnungen kein Idealgewicht an, sondern steckt Bereiche ab, die als Nomal-, Unter- und Übergewichtig gelten.
< 18,5: 18,5 – 24.9: 25 – 29,9: > 30:
Untergewicht Normalgewicht Übergewicht Adipositas
Die Person im Beispiel kann demnach als Normalgewichtig eingestuft werden. Zur Berechnung des BMI im Kinder- und Jugendalter werden noch weitere Kriterien herangezogen. Ein Rechner hierfür findet man auf der Hompage www.bzga-essstoerungen.de (Stand: 29.07.10). Quelle: World Health Organisation 2010.
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130
6 Anhang
6.2 Reduktion des Ernährungsberichtes
Tabelle 5: Zusammenfassung und Reduktion des Kapitels 1.3 des Ernährungsberichtes der Deutschen Gesellschaft für Ernährung S. 38-39 S. 39
39
40
40
40
40
40
Paraphrase Mehr Frauen als Männer beantworteten die Frage, ob sie gerade eine Diät halten mit 'ja'. Mit zunehmendem Alter beantworteten mehr Befragte die Frage, ob sie gerade eine Diät halten mit 'ja'. Umso jünger die befragten Frauen, umso öfter gaben sie als Diätgrund angestrebte Gewichtsreduktion an.
Mehr befragte Frauen als Männer halten ihr Gewicht für zu hoch. Umso älter die Befragten, umso häufiger wurde das Gewicht als zu hoch eingeschätzt. Mit dem Alter steigt tendenziell das Körpergewicht. Junge Frauen sind die, die am häufigsten eine Reduktionsdiät machen, obwohl diese Gruppe am seltensten von Übergewicht betroffen ist.
Generalisierung Frauen halten öfter eine Diät als Männer. Umso älter die Frauen umso öfter halten sie Diät. Umso jünger die Frauen, umso häufiger halten sie Diät um ihr Gewicht zu reduzieren Mehr Frauen als Männer finden sich zu dick. Mit dem Alter steigt das Körpergewicht. Mit dem Alter steigt das Körpergewicht. Junge Frauen halten sind am häufigsten auf Diät um ihr Gewicht zu reduzieren.
Reduktion Verbreitung von Diäten in Bezug auf Geschlecht: Frauen halten öfter Diät als Männer Mehr Frauen als Männer halten sich für zu dick Verbreitung von Diäten in Bezug auf Alter: Umso älter die Frauen, umso öfter halten sie Diät Umso jünger die Frauen umso öfter halten sie Diät um ihr Gewicht zu reduzieren Mit dem Alter steigt das Körpergewicht
6 Anhang
S. 41
Paraphrase Umso älter die Befragten, umso häufiger wurden Stoffwechselkrankheiten als Grund der Diät angegeben.
42
Umso jünger die Befragten, umso häufiger wurde eine alternative Ernährungsweise praktiziert. Am häufigsten gaben junge Frauen an Vegetarierinnen zu sein.
43
44
Insgesamt nehmen mehr Männer als Frauen an verschiedenen Formen der Gemeinschaftsverpflegung teil.
44
Am häufigsten wird Gemeinschaftsverpflegung von der Gruppe der 19- bis 24-Jährigen genutzt.
131
Generalisierung Umso älter umso häufiger wird aufgrund von Krankheit Diät gehalten. Umso jünger umso häufiger ernähren sich die Menschen alternativ. Junge Frauen sind am häufigsten Vegetarierinnen.
Insgesamt nehmen mehr Männer als Frauen an verschiedenen Formen der Gemeinschaftsverpflegung teil. Zwischen 19 und 24 Jahren wird am häufigsten die Gemeinschaftsverpflegung genutzt.
Reduktion Umso älter umso häufiger ist Krankheit der Grund für eine Diät Ernährungsweise: Umso jünger umso häufiger ernähren sich die Menschen alternativ Junge Frauen sind am häufigsten Vegetarierinnen Teilnahme an Gemeinschaftsverpflegung: Insgesamt nehmen mehr Männer als Frauen an verschiedenen Formen der Gemeinschaftsverpflegung teil Zwischen 19 und 24 Jahren wird am häufigsten die Gemeinschaftsverpflegung genutzt
132
S. 45
45
45
46
47
47
48
6 Anhang
Paraphrase Das Wissen über bestimmte Lebensmittel, wie probiotische Joghurts und ACE Drinks, der befragten Frauen ist in allen Altersgruppen größer als das der Männer. Die Altersgruppe über 50 Jahre wusste am schlechtesten über die besonderen Lebensmittel Bescheid. Lebensmittelsiegel sind bei Frauen bekannter als bei den befragten Männern. Allgemein lässt sich sagen, dass Frauen ein höheres Ernährungswissen haben als Männer. Frauen gaben sehr viel häufiger an gut oder sehr gut zu kochen, als die befragten Männer. Bei Frauen nimmt die Selbsteinschätzung sehr gut zu kochen mit dem Alter stetig zu. Diese Selbsteinschätzung konnte durch gezielte Fragen bestätigt werden.
Generalisierung Frauen haben ein größeres Ernährungswissen.
In der Gruppe am 50 Jahren ist das Ernährungswissen am schlechtesten. Frauen haben ein größeres Ernährungswissen. Frauen haben ein größeres Ernährungswissen. Frauen können besser kochen als Männer. Umso älter, umso besser kochen die Frauen. Frauen können besser kochen als Männer.
Reduktion Ernährungswissen: Frauen haben ein größeres Ernährungswissen Ab einem Alter von 50 Jahren ist das Ernährungswissen am schlechtesten
Kochkompetenz: Frauen können besser kochen als Männer Umso älter, umso besser kochen die Frauen