Nr. 325
Im Zeichen von Ragnarök Die Stunde der Götterdämmerung ist nahe von Hans Kneifel
Sicherheitsvorkehrungen habe...
10 downloads
815 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 325
Im Zeichen von Ragnarök Die Stunde der Götterdämmerung ist nahe von Hans Kneifel
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist nur ein gedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der Berserker, haben als einzige den »Wölbmantel« unbe schadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren der FE STUNG ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Die Männer sind auf einer Welt der Wunder und der Schrecken gelandet. Das Ziel der beiden ist, die Beherrscher von Pthor schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nah men, haben Atlan und Razamon, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, durch die Ausschaltung des Kartaperators der Menschheit bereits einen wichti gen Dienst geleistet. Jetzt, nach der Zerstörung der Eiszitadelle, sind die Kampfgefährten bereits zu fünft. Ihr gemeinsamer Weg führt sie gegen die FESTUNG! Auch die Kinder Odins, die Wächter der Straße der Mächtigen, haben dasselbe Ziel. Sigurds Ruf führt sie zusammen IM ZEICHEN VON RAGNARÖK …
Im Zeichen von Ragnarök
3
Die Hautpersonen des Romans:
Sigurd, Thalia, Heimdall und Balduur - Odins Kinder sehen die Zeichen Ragnaröks.
Fongerreilson - Sigurds Geliebte.
Kröbel - Der »skullmanente« Magier erweist sich als tapferer Kämpfer.
Gruck - Ein mörderisches Ungeheuer.
1. Aus Odins Runenbuch: »Suche Sigurd im Ostlande; da kannst Raben du rufen hören, Geier schreien, der Atzung froh, Wölfe heulen um deinen Herrn.« Stormock, der weiße Geier, zog in dem klaren, heißen Himmel seine weiten Kreise. Seinen Augen entging nichts. Und wenn er flüchtige Bewegungen wahrnahm oder et was, das er nicht deutlich sah, das ihn aber interessieren mochte, dann adaptierten seine Augen und vergrößerten den Bildausschnitt. In diesem Fall sah der große Vogel mit sei nen schweren, weit gespannten Schwingen abermals alles mit kristallklarer Schärfe. Jetzt, als die Straße der Mächtigen zwi schen Donkmoon und Aghmonth die Tan gente des Flugkreises bildete, sah Stormock verblüffende und aufregende Dinge. Er erkannte: Ein riesiges Tier, eines der vielen Unge heuer der Horden der Nacht, galoppierte nach Osten, durch die Gassen und über die Plätze Donkmoons. Das Tier besaß eine speckige, tiefschwarze Haut, die teilweise staubbedeckt war, teilweise von Bahnen ge ronnenen Blutes gezeichnet und zum ande ren Teil wie von Wassergüssen sauber ge waschen war. Mit weit ausgreifenden Schrit ten eilte dieses riesige Monstrum nach Osten und trug zwei Männer auf seinem langen Rücken aus gezackten Hornpyramiden und scharfkantigen Knochenplatten. Das Tier und seine beiden Reiter sahen aus wie Figu ren aus einer Sage. Einer von ihnen trug einen zerfetzten Um hang aus dunkelbraunem Pelz und einen wuchtigen Helm mit weit ausladenden Hör
nern. Der linke Arm verschwand in den Griffen eines ungewöhnlich geformten Schildes, die rechte Hand hielt ein blankes, großes Schwert. Der andere Mann hielt sich an den Horn kämmen fest und hatte über seinen Knien ei ne wuchtige Streitaxt mit doppelter Klinge liegen. Als sich die Augen des Geiers präzi se eingerichtet hatten, sah er, daß der Pel zumhang dem anderen Mann gehörte und sich nur so merkwürdig um die Knochen platten gelegt hatte, daß es aussah, er würde von den Schultern oder Hüften des vorn sit zenden Mannes hängen. Das Tier und beide Männer – die breitschultrig und außeror dentlich kräftig aussahen – machten einen erschöpften Eindruck. Trotzdem rannte das gigantische Ungeheuer mit beachtlicher Ge schwindigkeit dicht neben der silberglänzen den, staubbedeckten Straße dahin. Der Geier schwenkte die äußersten Spit zen der Schwingen. Die Luft rauschte grell durch die Schwungfedern. Er änderte seine Richtung und schwebte in einer flachen, langgezogenen Parabel nach Osten. Unter ihm lag die Straße der Mächtigen; ein glänzendes, breites Band, vollkommen leer und über und über mit Staub und Sand bedeckt. Er erkannte später: Einige Flügelschläge weiter östlich, etwa zwanzig Kilometer von Sigurds Lichthaus entfernt, stand ein glänzendes, radähnliches Gebilde aufrecht neben der Straße. Auf ei nem Steinbrocken einige Schritte seitlich vom Rad saß ein anderer Mann in funkelnder Rüstung. Zwischen den Füßen lag im Staub eine Kugel, die aus einzelnen Brocken zusammengesetzt schien. Der Kämpfer wirkte müde und unentschlossen. Der Geier glitt in der fallenden Linie sei nes Fluges weiter abwärts und weiter nach
4
Hans Kneifel
Osten, auf Aghmonth zu. Kurze Zeit später sah er das Lichthaus; ein überaus seltsames Bauwerk, das in den Nächten hell leuchtete und allerlei Getier anlockte, das von Stor mock und seinesgleichen geschlagen und gefressen werden konnte. Der schneeweiße, riesige Geier winkelte die äußersten Flüge lenden an und zwang seinen Körper in eine aufwärts führende Spirale, deren Windungen immer enger wurden, je höher der Vogel sich von der heißen Luft tragen ließ. Seine lidlosen Augen hefteten sich auf ei ne verwunderliche Gestalt. Sie schleppte sich müde auf der Mitte des Metallbandes dahin; ein langer Umhang schleifte hinter ihr her auf dem Staub. Beute? Während er kreiste, äugte der weiße Geier abwärts und musterte diese seltsame Gestalt. Es war eine junge Frau. Obwohl sie er schöpft und niedergeschlagen war, strahlte ihre Schönheit selbst im verderblichen Licht der Mittagssonne. Sie war unter dem Um hang so gut wie nackt, ihre bloßen Füße hin terließen leichte Abdrücke auf der Straße. Zwischen ihr und dem Lichthaus verlief eine sich verjüngende Spur, die nicht länger war als dreitausend Meter. Warum hatte sie das Lichthaus verlassen? Stormock entschloß sich, nicht herunter zustürzen und anzugreifen. Die Gefahren für ihn waren zu groß. Außerdem war er noch nicht sehr hungrig. Auch entdeckte er keinen einzigen Artgenossen am Himmel; ein be denklicher Umstand, wenn er versuchte, die Beute zu schlagen. Wieder bewegte Stormock seine weit aus gebreiteten Schwingen, glitt geräuschlos aus der Spirale hinaus und in eine Gerade, die zuerst nach Norden, dann wieder nach We sten führte.
* Heimdall schnallte seinen Helm ab und sagte halblaut: »Bevor ich mich bedanke, Bruder, woher wußtest du, daß ich in Bedrängnis bin?«
Obwohl ihn der vorläufige Verlust seiner beiden Fahrzeuge ärgerte, hatte er dieses neue Reittier akzeptiert. Allerdings blieb er mißtrauisch, denn irgendwann würde die Wildheit von Gruck wieder voll durchbre chen. »Ich wußte, daß du in Donkmoon bist. Die Spuren deines Truvmers. Aber wo ist Honir?« »Wie?« Balduur berichtete von den beiden Spuren und von der Gruppe reisender Gordys, die ohne Warnung auf ihn und Gruck das Feuer eröffnet hatten. »Ich habe Honir nicht gesehen. Ich bin si cher, daß die Leute aus Donkmoon es mir ir gendwie verraten hätten.« »Also«, entschied Balduur, »ist Honir auf dem Weg zu Sigurd. Er müßte längst im Lichthaus sein.« »Wenn nicht, werden wir ihn sicher fin den, wenn wir ihn suchen.« »So ist es. Was weißt du über Sigurds Botschaft?« Heimdall hob seine mächtigen Schultern. »Nicht mehr als du, Bruder, denke ich. Hugin und Munin sagten, daß Sigurd untrügliche Zeichen habe. Ragnarök ist na he. Wir sollen Odin beschwören.« Balduur stieß einen grellen Pfiff der Über raschung aus. »Das wußte ich nicht. Deshalb also die Versammlung.« »Ich kenne keinen anderen Grund. Keiner von uns ist derart begeistert von seinen Ver wandten, daß er sie wegen eines nichtigen Anlasses holen läßt. Jedenfalls weiß Sigurd mehr als du und ich.« Sie vergaßen Donkmoon binnen kurzer Zeit. Doch bei passender Gelegenheit wür den sie sich wieder an jede Einzelheit erin nern, dann nämlich, wenn es galt, abzurech nen. Aber jetzt zählte nur die unmittelbare Zukunft, und darüber hinaus einige andere Dinge, ohne die auch sie nicht leben konn ten: Ruhe, Schlaf, Essen und frische Gewän der. Das alles würden sie in Sigurds Licht haus in reichem Maß finden.
Im Zeichen von Ragnarök »Er wird uns sagen, was er weiß«, meinte Balduur. »Sicherlich. Denn ohne Wissen und eine Phase der Einstimmung kann Odin nicht be schworen werden.« »Keineswegs. Ich hoffe nur, daß Kröbel nicht in Verlegenheit kommt, allein im Lett ro und in gewisser Beziehung hilflos.« »Kröbel? Du hast eine Freundin?« erkun digte sich Balduur und dachte wieder an die unwiderruflich verlorene Opal. Heimdall stieß ein brüllendes Lachen aus. »Kröbel? Eine Freundin? Er ist ein wun derlicher Bursche, der einzige skullmanente Magier. Er versorgt mich mit heißem Was ser. Eine skurrile Figur, aber ein guter Freund. Er amüsiert mich und erheitert mich, wenn ich schwarze Gedanken habe.« »Er hat viel zu tun, denke ich«, warf Bal duur in gutmütigem Spott ein. »Und was denkst du über die Fremden? Ich habe mit ihnen gekämpft, und ich bin sicher, daß wir sie noch kennenlernen werden.« Heimdall berichtete, was er von Koy, dem Trommler, erfahren hatte. Sie kamen zu dem Schluß, daß die Fremden ebenso Feinde der Herren der FESTUNG waren, was sie auto matisch zu Freunden der Odinssöhne mach te. »Es wird höllisch schwer sein, sie zu fin den«, schloß Heimdall. »Vielleicht suchen sie inzwischen uns. Je denfalls sind beide einfallsreich, schnell und überzeugende Recken. Sie haben mir einige unangenehme Stunden bereitet. Andererseits – sie waren fair und anständig, als es mir schlecht ging. Besonders derjenige mit dem weißen Haar hat mich beeindruckt.« »Wir sprechen darüber, wenn wir im Lichthaus sind.« Unermüdlich lief der Drache dicht neben der Straße. Wieder hatte die Gegend ihr Aussehen verändert. Eine grasbewachsene Ebene breitete sich auf beiden Seiten des Silberbandes aus. Der Energieschleier ver deckte wie immer den Blick zur Festung. Hin und wieder wehte der Geruch salzigen Wassers von Süden herüber. Kleine, busch
5 bewachsene Hügel unterbrachen in immer geringeren Abständen die Eintönigkeit. Rechts tauchten die ersten Felsen und Schroffen im Mittagsdunst auf; dort fiel das Land hart und unmittelbar zum Ende Pthors ab. Der schwarze Drache mit seinen beiden kriegerischen Reitern war ein Fremdkörper in dieser friedlichen, grünen Landschaft. Im mer wieder huschten kleine Tiere angster füllt in die Büsche und die hohen Gräser. Plötzlich packte Balduur seinen Bruder an der Schulter. »Dort! Was ist das? Dieses Blitzen?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht der Anfang eines neuen Kampfes. Wir werden uns nicht lange aufhalten, denke ich. He, Gruck! Dar auf zu!« Er zog sein Schwert und zwang den Dra chen, die Straße zu überqueren und auf den winzigen, funkelnden Punkt zuzurennen. Als sich das riesige Tier auf dem breiten Silberband befand, spürten beide Männer, daß Gruck zu zittern begann. Er blieb ruckartig stehen, peitschte den Schwanz hin und her und stieß einen mar kerschütternden Schrei der Angst aus. »Fafnir regt sich! Die Straße beginnt sich zu bewegen!« schrie Balduur alarmiert. Gruck sprang hin und her. Das breite Sil berband hob sich aus dem Boden und vi brierte zuerst unmerklich, dann immer stär ker. Der Drache bewegte sich seitwärts, sei ne mächtigen Beine gerieten aus dem Takt und donnerten schwer auf das Metall. Der Körper des Tieres wurde durchgeschüttelt und hin und her geworfen. Aber endlich trie ben zufällige Bewegungen das Ungeheuer von der Straße herunter und in den hochwir belnden Staub. Der Schrecken trieb Gruck weiter. Er polterte durch den breiten Streifen aus Staub und abgefallenen Pflanzenteilen. Un verändert hob und senkte sich die Straße und zitterte hin und her. Ein dumpfes Dröhnen ging von dem Metallband aus und scheuchte abermals große Mengen versteckter Tiere auf. Heimdall rief:
6 »Ich fürchte mich nicht. Ein neues Zei chen! Ragnarök steht unmittelbar bevor.« »Odin wird zurückkommen! Unser Vater wird mit uns die Herrschaft antreten!« schrie Balduur begeistert und hieb seinem Bruder auf die Schulter. Wie wahnsinnig vor Angst pflügte der schwarze Drache entlang des südlichen Randes der zuckenden und schlagenden Straße. Pflanzenbüschel, kopfgroße Steine und Erd reich spritzten auseinander, in der Staubwol ke entstand eine breite Gasse. Die Männer im Kamm des Tieres mußten husten und wischten sich blinzelnd den Staub aus den Augen. Durch das Getöse schrie Heimdall furcht los: »Die Grodys werden merken, daß sich der schlafende Fafnir losgerissen hat. Sie mel den es sicherlich den Herren der FE STUNG!« »Was können die Herren gegen Fafnir, Ragnarök und Odin mit seinen vier Söhnen wirklich tun? Nichts!« Kurze Zeit später hörte das Beben der Straße der Mächtigen auf. Der Drachen hatte inzwischen eine verhältnismäßig große Strecke zurückgelegt, aber in der langgezo genen doppelten Wolke, die jetzt ineinander floß, war der vermutete Gegner nicht mehr zu sehen. Wieder schlug Balduur mit der fla chen Seite des Schwertes auf die Flanken des Tieres und brüllte kurze Befehle. Lang sam beruhigte sich das Tier. Es wich nach Süden aus und schob sich aus der Staubwol ke hervor. Gruck blieb stehen und reckte seinen Schwanz steil in die Höhe. Der Drache stieß wieder einen seiner hallenden, lauten Schreie aus. Heimdall fluchte, als er den Ge stank der Gaswolke aus dem Schlund des Tieres in die Nase bekam. »Die Herren der FESTUNG! Natürlich wissen sie, was vorgefallen ist. Auch unser Kampf in Donkmoon ist ihnen inzwischen bekannt. Aber – was soll's?« »Sie haben viele Mittel und Wege. Wir sollten sie nicht mißachten.«
Hans Kneifel »Und wir sollten nicht in Furcht und Schrecken vor ihrer Macht erstarren, Bruder. Und jetzt sehen wir uns diesen Recken näher an, der am Wegrand auf uns wartet.« »Recht so!« Das Lichthaus war nicht mehr fern. In spätestens zwei Stunden trafen sie dort ein, wenn der Drache nicht unterwegs tot zusam menbrach oder wild wurde. Die Männer banden die Helme fest, ergriffen ihre Waf fen und machten sich kampfbereit. Die riesi ge, langgezogene Staubwolke trieb davon und öffnete den Blick auf das umliegende Land. Tatsächlich stand dort vorn eine Gestalt in blitzender Rüstung und wartete. Sie wirkte unverkennbar kampflüstern. Der schwarze Drache trabte wieder los, senkte den Schwanz und schmetterte seinen Angriffs schrei in die Ebene hinaus.
* Der schlafende Fafnir bewegte sich! Das neue Zeichen Odins. Diesmal auch ein Zeichen für mich: für Thalia oder für Honir? Nein, auch für Thalia. Ein Ereignis, das eine neue Epoche einleiten wird. Trotz dem bin ich nicht fähig, die geringe Entfer nung bis zu Sigurd zurückzulegen. Drei Brü der sehen meine Schande. Der Staub senkt sich langsam, und die Zuckungen des Fafnir hören langsam auf. Es liegt Weltuntergang in der Luft! Honir hob den Kopf und blickte, so gut es ging, in beide Richtungen der Straße, die Si gurd beherrschte. Dort lag das Lichthaus. Und dort, nicht mehr sichtbar, breitete sich Donkmoon aus. Dennoch war der Im puls zu schwach. Er konnte den immer tiefer in seiner eigenen Verzweiflung versinken den Honir nicht dazu bewegen, zu Sigurd zu fahren. Stunde um Stunde ist vergangen. Mehr und heißeres Sonnenlicht kam vom Himmel und rief in mir noch mehr den Eindruck her
Im Zeichen von Ragnarök vor, nicht mehr würdig zu sein. Andererseits bin ich nicht mutig genug, mir mit eigener Hand das Leben zu nehmen. Und niemand ist da, der mich im Kampf besiegt und tötet. Was, um Odins Ehre, soll ich tun? Warum kommt dieser schlanke, weißhaarige Fremde nicht und sagt mir, was zu tun ist? Die Staubwolke riß auf und trieb davon. Aus ihrem Zentrum schob sich in schnel lem Tempo ein monströses Ungeheuer, groß wie ein Haus und schnell wie ein Sturmstoß. Honir zuckte zusammen, bückte sich blitz schnell und packte den Griff der Vars-Ku gel. Dann schüttelte er den blutroten Schul terumhang und stellte sich breitbeinig hin. Unter dem Helm blitzten nur die blauen Au gen hervor. Mit einem Seufzer der Erleichte rung stieß Honir hervor: »Ein Ungeheuer aus der Gnitaheide! Es wird mich angreifen, und vielleicht tötet es mich bei diesem Kampf. Ich werde kämp fend sterben!« Dies war die ehrenvollste Lösung aller Probleme. Zwar erfreute sich Honir relativer Unsterblichkeit, aber bei diesem Kampf würden die Wunden so schwer sein, daß sie nicht mehr heilten. Das Ungeheuer, das sicherlich vom schla fenden Fafnir von der Ebene Kalmlech auf gescheucht worden war, starrte sie an. Ein breiter Rachen öffnete sich und stieß einen furchtbaren Schrei aus. »Greife an! Ich stelle mich!« schrie Ho nir. Das Untier stürmte geradeaus weiter und näherte sich unaufhaltsam dem einzelnen Kämpfer. Honir hob den rechten Arm und ließ die Kugel kreisen. Ein durchdringendes Summen ging von der Vars aus; die Risse und Sprünge zwischen den einzelnen Brocken wurden unsichtbar. Noch dreißig Schritte dieser Riesenbeine, noch zwanzig … Dann entdeckte Honir die beiden Männer, die an der höchsten Stelle des Rückens sa ßen und ihre Waffen schwangen. Ein blit zendes Schwert und eine gewaltige Streitaxt. Das Zeichen des Adlers auf dem Schild.
7 »Nein!« schrie Honir. Der Koloß donnerte heran und senkte den Kopf. Er lief auf fünf Beinen und hob eine der vorderen Gliedma ßen hoch. Muskulöse Finger mit stahlartig schimmernden Klauen spreizten sich. Der Krieger im Rücken der Bestie holte mit dem Schwert aus und schlug brüllend auf das Tier ein. Noch zehn Sprünge! Die Vars kreiste und war zum ersten, vernichten den Hieb bereit. Honir fühlte, wie die Knie unter der losen Rüstung zu zittern anfingen, aber die Erregung ließ diese Beobachtung sofort wieder vergessen. Plötzlich stemmte das Tier alle Beine in den Boden und schlug krachend mit dem Schwanz zur Seite. Honir erkannte in einem einzigen, langen Augenblick die Brüder. »Balduur! Heimdall!« schrie er und rann te dicht vor dem Schädel des Tieres durch reißende Ranken und knisternde Grasbü schel nach links. Das stinkende Ungeheuer rutschte und stolperte an Honir vorbei und riß seinen Schwanz in letzter Sekunde zur Seite. Balduur sprang mit wehendem Um hang seitlich vom Tier herunter und landete neben Honir im Gras. »Honir! Wie hast du wissen können, daß wir hier und jetzt vorbeikommen?« Sie sahen sich an. Während Heimdall über die Flanken des Ungeheuers herunter kletterte, sagte Honir leise: »Ich wußte es nicht. Ich sah das Untier und mußte mit ihm kämpfen.« Balduur packte Honir an beiden Schultern und schüttelte ihn freundschaftlich. Die Rü stung gab eine Reihe von hohl klappernden Geräuschen von sich. Der Helm rutschte auf dem Kopf hin und her. »Was ist das?« »Was meinst du?« Honir wollte vor Scham in den Boden versinken. Die Stimme versagte. Heimdall kam herangestapft, ließ die Khylda fallen und umarmte Honir. Wieder verschoben sich die hellblauen Metallbänder gegen die braunen Lederteile. Sie rasselten und klirrten. »Ich kenne dich als hundertachtzig Zenti
8 meter großen Recken. Mit Schultern wie ein Felsblock, wie dieser Heimdall dort«, sagte Balduur langsam. »Und jetzt hängt die Rü stung an dir wie an einem dürren Ast? Was ist los?« Honir vermochte sich nicht mehr zu be herrschen. »Ich bin nicht Honir«, sagte er mit heller, kindlicher Stimme. Balduur hörte schwei gend zu. Heimdall erkannte, daß der Bruder den Tränen nahe war. »Natürlich bist du unser Bruder Honir! Wir mögen zerzaust sein und ein unwürdi ges Reittier benutzen, aber wir sind in den Jahren der Vergangenheit nicht verrückt ge worden.« »Es gibt keinen Honir!« beharrte Honir. Er langte ans Kinnband und löste den Helm. Dann zog er eine Art Kapuze vom Kopf. Das Gewebe sah wie zerfallenes Stroh aus. Darunter kam kurzes und goldblondes Haar zum Vorschein. Und das sanfte Gesicht mit stahlblauen Augen, die wie Feuer funkelten, mit der ho hen Stirn und herrlichen, blutvollen Lippen. Zwei Tränen schimmerten in den weit aufgerissenen Augen. Honir blickte angst voll von Heimdall zu Balduur und wieder zurück. Tödliche Verlegenheit stand in dem Mädchengesicht. »Ich bin Thalia, die Tochter Odins!« Balduur konnte sich nicht mehr halten und begann schallend zu lachen. Der Ernst der Lage verwandelte sich in Komik. Er wischte sich über die Stirn und rief schließ lich: »Das müssen wir in Sigurds Lichthaus feiern. Wir haben einen Bruder verloren und eine Schwester gewonnen. Eine schöne Schwester, wie ich sehe! Bist du wirklich ei ne Tochter unseres Vaters?« »Ebenso, wie ihr seine Söhne seid«, sagte sie und biß sich trotzig auf die Lippen. »Ihr wißt, daß Odin nichts so haßte wie den Ge danken an eine Tochter. Er wollte nur Söh ne. Ihr seid drei. Und ich verwandelte mich durch eine Maske der Technos in einen Mann, in Honir.«
Hans Kneifel »Maske der Technos? Wie das?« fragte Heimdall und stemmte die Fäuste in die Sei ten. Mit langsamem Kopfschütteln betrach tete er reichlich verwundert seine Schwester. »Vor undenklichen Zeiten. Gestern löste sich die Maske auf; ich fiel in einen Chemi kaliensee der Technos.« »Ich verstehe«, murmelte Balduur. »Nun, wir sind Männer, die die Welt so sehen, wie sie ist, nicht, wie sie in den Träumen sein soll. Auch wir sind nicht frei von Eigentüm lichkeiten. Wir verstehen dich gut, nicht wahr, Bruder.« »Du hast recht. Beende die Maskerade, Schwesterlein – auch Sigurd wird dich be geistert in seine Arme schließen.« »Wirklich?« kam es zaghaft von ihren Lippen. »Ja, wirklich. Und wenn er es wagt, zu la chen wie dieser Klotz hier, breche ich ihm ein paar Rippen«, rief lachend Heimdall und zeigte auf Balduur. »Geht dein Zauberrad noch?« »Ja. Die Windrose funktioniert wie im mer.« Die rauhe und direkte Herzlichkeit hatte Honir überrumpelt. Thalia beschloß, den Namen und den männlichen Charakter zu vergessen, so gut und so schnell wie nur ir gend möglich. Sie wischte die Tränen aus dem Gesicht und ließ sich von Heimdall und Balduur zur Windrose bringen. Das riesige Tier riß friedlich ein paar Büsche aus und fraß Blätter und Früchte herunter. Neugierig sah Gruck den drei Gestalten nach. »Ihr seid natürlich auf dem Weg zu Si gurd, wie ich?« »Selbstverständlich. Und nach einem ko lossalen Essen werden wir über unsere Er lebnisse unterwegs berichten!« sagte Heim dall. »Hier, die Vars!« »Danke.« Kurze Zeit später rollte die Windrose in der Mitte der Straße geradeaus weiter. Die beiden Odinssöhne saßen wieder zwischen den Hornkämmen und dirigierten in langsa mem Trab das Ungeheuer hinter Thalia her. In weniger als einer Stunde würden sie
Im Zeichen von Ragnarök das Lichthaus erreichen und ein großes Fest feiern. Thalia wußte, daß für sie eine Art neues Leben anfing.
* Die seltsame Abordnung stieß schon nach zwanzig Minuten auf eine Gestalt, die sie niemals um diese Zeit und an dieser Stelle erwartet hätten. Die kühnste Phantasie reich te nicht aus, um zu erklären, was eine große und schlanke, langhaarige und unter einem staubigen Umhang fast nackte Frau von hin reißender Schönheit auf diesem Abschnitt der Straße zu suchen hatte. Thalia hielt ihre Windrose dicht vor der Frau an und sprang aus dem Sitz. »Wer bist du?« fragte sie und betrachtete neiderfüllt die Frau. Wer immer dies war; sie hatte den Mut, sich zu ihrem Geschlecht zu bekennen. »Ich bin Fongerreilson«, sagte die Fremde mit einer müden, aber tief singenden Stim me. »Und ihr?« Furchtlos oder vielleicht resignierend und jenseits der Schwelle aller Ängste blickte sie Gruck und seine beiden schweigenden Rei ter an. »Du kennst uns nicht?« fragte Thalia und starrte in die schönen Augen Fongerreilsons. »Nein. Ich kenne nicht einmal mich. Seid ihr Freunde von … NEIN! Ihr müßt seine Brüder sein!« »Seine Brüder und seine Schwester. Du kommst von Sigurd?« »Er jagte mich aus seinem Lichthaus.« Verblüffung ergriff Thalia. Wie konnte man ein solch schönes Geschöpf aus dem Lichthaus verjagen? Sie drehte sich um und rief zu Heimdall und Balduur hinauf: »Sie heißt Fongerreilson, und Sigurd hat Ärger mit ihr bekommen. Wir nehmen sie mit; kein Sohn Odins behandelt Frauen auf diese Art. Ich sage Sigurd meine Meinung, und vielleicht helft ihr mir?« Balduur sah gewisse Ähnlichkeiten mit Opal. Heimdall verfluchte sich und ahnte, daß er in seinem Lettro zu viel an die Bruch
9 stücke und zu wenig an die Annehmlichkei ten des Lebens gedacht hatte. Fast gleichzei tig riefen sie: »Wir helfen dir. Nimm sie mit, Thalia!« Thalia lächelte Fongerreilson an, die ge brochen und erschöpft vor ihr stand und sehr unsicher wirkte. »Du hast es gehört. Zuerst klären wir al les. Komm, in der Windrose reist es sich leichter.« »Ich habe Sigurd enttäuscht. Er wird mich nicht sehen wollen«, erwiderte Fongerreil son. »Es ist Mittag. Der Tag geht erst später zu Ende. Komm, sonst mußt du auf dem stin kenden Drachen reiten.« »Ich bin verzweifelt, Thalia!« »Ich bin ebenso verzweifelt wie du. Viel leicht noch mehr. Du wirst begreifen, wa rum. Zusammen schaffen wir es, sei gewiß.« »Du wirst mir helfen?« Thalia nickte und ergriff Fongerreilson an der Hand. Mit sanftem Zwang zog sie die Frau zur Windrose und drückte sie in einen Sitz. »Ich helfe dir. Sei sicher, daß Sigurd in die Luft springt vor Freude, wenn du wieder bei ihm bist. Unsere Erfahrungen tauschen wir später aus. Komm!« »Danke, Thalia!« Thalia startete die Windrose und unter drückte gewaltsam das Verlangen, in ein kreischendes Gelächter der Hysterie auszu brechen. Alles war verrückt! Die Zeichen kamen und gingen, die Götterdämmerung bahnte sich an, und die Überraschungen nahmen kein Ende. Todessehnsucht und der Versuch, andere zu trösten, lösten einander binnen Minuten ab. Die Beziehungen unter einander rasten binnen kurzer Zeit die ganze Skala der Möglichkeiten entlang, nachdem man sich undenkliche Zeiten lang nicht ge sehen hatte. »Fürwahr, es ist eine Zeit der Wunder«, flüsterte Thalia und bemerkte links der Stra ße die Oberkante des Lichthauses, das sich schwach gegen den Hintergrund abhob. »Ich habe dich nicht verstanden, Thalia?«
10 Grimmig erklärte Thalia, ebenso undeut lich: »Ich verstehe mich selbst nicht.« Die Dello Fongerreilson kannte nur ihre ehrlichen Gefühle und einen winzigen Bruchteil ihrer eigenen Geschichte. Die Ver gangenheit war unbekannt, die Zukunft voll kommen unverständlich. Ihre Erfahrung be schränkte sich darauf, daß sie aufgewacht, durch die Nacht gewandert, Sigurd getroffen und unvorstellbar glücklich gewesen war. Daß sie, wie Sigurd gesagt hatte, eine Skla vin von anderen war, die einen fest program mierten Auftrag ausgeführt hatte oder ver sucht hatte, ihn auszuführen, davon wußte sie nichts. Aber sie war durch die Kraft ihres Verstandes in der Lage, sich vorzustellen, daß Sigurds Überlegungen richtig waren. Je denfalls hatte sie mit Wissen und Absicht nichts unternommen, was dem Sohn des Odin hätte schaden können. Seine Enttäu schung war ungerecht, aber verständlich. Sie fürchtete sich, in seine Augen sehen zu müssen. Aber … zwei Brüder und die Schwester Sigurds hatten versprochen, ihr zu helfen. Und sie wollte nichts anderes, als den ein mal erlebten Glückszustand wieder neu her zustellen. Sie brauchte Glück ebenso wie der Sohn Odins. Das seltsame Gefährt mit den beiden sil berschimmernden Reifen rollte leise sum mend auf der Straße dahin. Unmittelbar hinter der Windrose tappte, zufrieden schmatzend, der schwarze Drache. Als die Sonne um ein weniges ihren Schei telpunkt überschritten hatte, hielt Thalia die Windrose an, steuerte sie im rechten Winkel von der Straße herunter und schaltete die Maschinen aus. »Wir sind da!« sagte sie und stieg vom Sitz. Schauernd erinnerte sich Fongerreilson daran, wie sie von den Erschütterungen und dem Zittern und Beben der Straße überrascht und zu Boden geworfen worden war. Zag haft ging sie neben Thalia auf den Vorhang aus flimmernder, strahlender Energie zu.
Hans Kneifel »Deine Brüder?« Thalia hob die Schultern unter der viel zu großen Rüstung und versicherte: »Sie sind alt und selbständig genug. Es wird ein Problem werden, diesen stinkenden und häßlichen Drachen wieder loszuwerden. Allein findet er niemals wieder in die Gnita heide zurück!« »Was ist die Gnitaheide?« »Eine gewaltige Ebene, in der Horden von solchen Ungeheuern hausen. Es sind die gräßlichen Truppen der Herren der FE STUNG.« Fongerreilson hörte diesen Ausdruck und erinnerte sich daran, daß ihr Sigurd vorge worfen hatte, ebenfalls ein Geschöpf dieser unbekannten Gewaltigen zu sein. Vor dem Energievorhang blieben Thalia und Fonger reilson stehen. Heimdall und Balduur verlie ßen ihren Sitz, und Balduur versuchte, Gruck klarzumachen, daß er sich nunmehr in seine Ebene zurücktrollen sollte. Das Tier schien zu verstehen, wedelte mit seinem ge waltigen Schwanz und trompetete ununter brochen wie verrückt. Dann blies es Heim dall eine Wolke stinkenden Atem ins Ge sicht und trottete langsam in die Grasland schaft hinaus. Immer wieder blieb Gruck stehen, drehte sich und starrte seinen Reiter an. Dies wiederholte sich, bis alle vier An kömmlinge vor der Energiewand standen und Heimdall zu brüllen anfing. »Sigurd! Schlafmütze! Öffne deiner Schwester und deinen Brüdern. Und eine Überraschung haben wir für dich mitge bracht. Ragnarök ist nahe, und Odins Kinder treffen sich.« Gleichzeitig rammte er die Spitze der Khylda immer wieder wuchtig auf die Bo denplatten. Dieses donnernde Geräusch und sein Gebrüll mußten einen Toten aufwecken.
2. Odin, We und Wili waren die ersten Göt ter des Asengeschlechts; sie wohnten in As gard, und Heimdall, Odins Sohn, war Wäch ter dort. Aber das ist so lange her, daß sich
Im Zeichen von Ragnarök alle Erinnerung verlor. Von einer Bilderwand in den Gewölben der FESTUNG Sigurd lag auf dem Rücken. Seine Stirn war schweißbedeckt, sein Schlaf bestand aus einer Folge von Alpträumen, tiefer Besin nungslosigkeit und bewußten Momenten, in denen er halbwegs aufwachte und immer wieder die gleichen Gedanken hatte. Sein Glück war verschwunden, er war belogen worden, und seine Enttäuschung war so tief, daß er ohne Hilfe nicht mehr daraus auftau chen konnte. Er besaß die Möglichkeit, aufzuspringen und Fongerreilson zu suchen. Er besaß den unbeugsamen Stolz eines Sohnes Odins. Dieser Stolz verbot es ihm, hinter einem Weib herzurennen. Also blieb er und zer fleischte sich im Stolz und in der Sehnsucht. Ratatöskr schwieg und hatte sich in einem stillen, heißen Winkel verkrochen. Aber im Traum dröhnten die Schläge einer gewalti gen Trommel immer wieder, laut, fordernd und hartnäckig. Schweißüberströmt fuhr Si gurd auf und hörte zwischen den Schlägen eine rauhe, dunkle Stimme. »… mitgebracht … Ragnarök ist nahe, und Odins Kinder … treffen sich …« »Wie? Was?« Er stemmte sich taumelnd hoch und schüttelte die Fetzen des Schlafes ab. Irgend jemand polterte vor dem Lichthaus. Irgend jemand? »Die Brüder! Ich erkenne Heimdalls Stimme!« flüsterte er, kam auf die Füße und streifte sich seinen Überhang um. »Öffne, Sigurd! Du hast uns gerufen. Wir sind da!« hörte er. Jetzt verstand er jedes Wort überaus deutlich. Er dachte einen Be fehl. Die Energiepforte öffnete sich mit ei nem brausenden Geräusch. »Heimdall? Balduur?« rief er mit tauben Lippen und wankte, sich an Möbelstücken abstützend und die schlafverkrusteten Augen reibend, auf den Eingang zu. Waren sie end
11 lich gekommen? Als er sich bis auf fünfzehn Schritte der Öffnung des Lichthauses genähert hatte, sah er Fongerreilson. Ihr Anblick traf ihn wie ein Pfeilschuß zwischen die Augen. »Fongerreilson«, keuchte er auf. Er zwin kerte. Es mußte ein Trugbild sein. Aber je mehr er in die Wirklichkeit zurückkehrte, desto mehr begriff er. Niemand sprach in diesen Augenblicken. Hinter Fongerreilson standen regungslos Balduur und Heimdall. Neben dem Kunstgeschöpf stand eine junge Frau mit blitzenden Augen in der Rüstung Honirs. Sigurd verstand nichts mehr. »Du siehst verschlafen aus«, stellte Bal duur fest. »Ich habe gräßliche Träume gehabt«, be kannte Sigurd und machte einige zögernde Schritte auf die junge Frau zu. »Wir fanden sie unterwegs und nahmen sie mit. Wir waren sicher, daß sie sich ver laufen hat«, erklärte Thalia. »Hier, nimm ih re Hand und biete ihr etwas zu trinken an.« Sie schob die junge Frau über die Schwel le. Sigurd starrte sie an und griff gleicherma ßen verwirrt und begeistert nach beiden Händen Fongerreilsons. »Wer bist du?« »Ich bin Thalia. Du kennst mich als Ho nir. Es sind viele verwirrende Dinge gesche hen, seit du die Raben geschickt hast. Aber du solltest deine Brüder ins Haus bitten. Und wach endlich auf, Sigurd!« »Ja, natürlich, entschuldigt«, erwiderte er verwirrt und lächelte verlegen. »Kommt alle herein. Alle. Auch du, Fongerreilson.« Sigurd nahm sich zusammen und zog die junge Frau, seine Brüder und seine unbe kannte Schwester über die Schwelle. Von Schritt zu Schritt fand er zu mehr Sicherheit wieder zurück: »Honir oder Thalia! Dort hinten ist das Bad. Ich werde etwas zu Essen machen … entschuldigt. Ich habe so lange gewartet und dachte, ihr würdet früher und einzeln kom men. Es gibt viel zu erzählen, Brüder?« »Das ist sicher«, stimmte Balduur zu und
12 begann systematisch seine Rüstung abzule gen. »Hilfst du mir ein wenig?« bat Thalia die junge Frau, um ihr zu helfen, innerhalb des Lichthauses und in der Gesellschaft von Odins Söhnen ihre Scheu und Beklemmung ab zulegen. »Ich habe Schwierigkeiten mit mei ner Rüstung, wie ihr alle gleich sehen könnt.« Thalia versuchte genau dasselbe Problem wie die Frau zu lösen. Flucht nach vorn, dachte sie und begann, die Riemen und Ver schlüsse zwischen Metall und Leder zu lö sen. Fongerreilson half ihr und führte sie schließlich ins Bad. Während beide Frauen versuchten, sich zu erfrischen, unterhielten sich die drei Söhne Odins. Die Spannung wich ganz langsam. Wiedersehensfreude und der Austausch von allen denkbaren In formationen fanden ihren Ausdruck; drei Männer fragten und antworteten gleichzei tig. Sigurd brachte drei große Humpen voll Bier. Weißer Schaum lief über seine Finger und tropfte zu Boden. »Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen«, sagte er und war erleichtert darüber, daß Thalia seine Geliebte ablenkte und sich mit ihr beschäftigte. Das enthob ihn der Aufgabe, seine Verwirrung zu zeigen. »Jetzt trinken wir erst einmal auf das Wiedersehen«, sagte Balduur, der inzwi schen einen Mantel Sigurds übergeworfen hatte, der ihm nicht paßte. »Alles andere kommt später. Du hast also die Raben ge schickt, Sigurd?« »Ja. Ich habe viele Zeichen gesehen und richtig gedeutet. Ich habe viele Informatio nen. Odins Erbe wird angetreten werden. Wir werden ihn beschwören – deswegen brauche ich euch.« Sigurd und Balduur hoben die Becher und stießen mit den Rändern an. Dann tranken sie auf einen Ruck die Humpen halb leer. Heimdall stapfte, ein Tuch um die breiten Hüften geschlungen, aus dem Hintergrund heran und packte den letzten Humpen.
Hans Kneifel »Du scheinst überrascht zu sein, Sigurd? Wovon?« »Alles ist überraschend. Honir wird zu Thalia. Fongerreilson kommt zurück. Ihr kommt alle zugleich. Zuviel für den Mo ment.« »Wir haben Zeit. Wir können alles be sprechen. Jedenfalls ist das Bier eine gute Begrüßung.« »Die beste. Und wo sind die Mädchen?« dröhnte Balduur, zuckte zusammen und wandte sich an Sigurd. »Und was hat diese Fongerreilson zu bedeuten? Du hast sie da vongejagt? Unverständlich!« Sigurd stammelte hilflos: »Ich habe mich in sie verliebt. Gut, daß sie mit euch zurückgekommen ist. Aber sie ist ein Dello, ein Geschöpf der verfluchten Herren der FESTUNG. Sie holte ein Funk gerät aus ihrem Körper und wollte denen hinter dem Energievorhang sagen, daß ich euch zusammengerufen habe. Ich sprach zu ihr von euch.« Balduur trank den Humpen aus und blick te in die Richtung des Baderaums. Eben ka men die Frauen durch den Vorhang. »Sie wissen es. Heimdall wurde in Donk moon festgehalten. Ich holte ihn mit dem Drachen heraus. Sei sicher, daß die Gordys diese Nachricht sofort weitergegeben ha ben.« Sigurd blickte Fongerreilson mit verzeh render Leidenschaft an. Sie trug den Um hang nicht mehr, sondern nur noch die win zigen Stoffstreifen und den wertvollen, schweren Schmuck. »Konnte ich deine Abenteuer kennen?« fragte Sigurd stockend. Er freute sich dar über, daß die junge Frau wieder hier war. Und plötzlich gab es zwischen ihnen eine Serie von knisternden Geräuschen und das rasende Tappen winziger Pfoten. Ratatöskr sprang auf den Tisch und, während Funken aus seinen Ohren schlugen, kicherte er schreiend: »Die Odinssöhne sind zusammen! Odins Tag nähert sich. Und das alte Gerücht ist wahr geworden! Odin hatte eine Tochter, die
Im Zeichen von Ragnarök ihren Leib unter den nachgeahmten Muskeln eines Mannes verbarg, weil sie sein wollte wie ihre Brüder.« Sigurd stimmte erleichtert in das Geläch ter ein. Die Spannung innerhalb des Licht hauses nahm von Minute zu Minute ab. Er war sehr froh darüber. Als Fongerreilson ne ben ihn trat und unschlüssig stehenblieb, legte er seinen Arm um ihre Hüften und zog sie an sich. »Was weißt du noch, Ratatöskr?« wollte Thalia wissen. »Das Ungeheuer, das Balduur ritt, wird zurückkommen. Es ist so dumm, daß es sich bald verirrt.« Heimdall schnippte herablassend mit den Fingern und erklärte: »Kein Problem. Die Raben und Geier werden sich um den Kadaver kümmern, wenn wir mit Gruck fertig sind.« »Ich werde ihn verscheuchen«, murmelte Balduur und streckte die Hand aus. Ratatös kr sprang darauf, klammerte sich an den Fin gern fest und zeigte ein besonders prächtiges Flammenspiel seines Felles. »Ich bin Sigurds Spielzeug. Er wird mich fortjagen, wenn er mich nicht mehr braucht. Und nach der Götterdämmerung bin ich überflüssig.« Balduur warf Ratatöskr spielerisch in die Luft und brummte wohlwollend: »Ich werde dich dann aufnehmen und Kröbel zum Geschenk machen. Ihr könnt dann zusammen zaubern oder Heißwasser bereiten.« Das Tierchen kicherte und trillerte aufge regt und schrie: »Recht so! Und ich trage euch alle Ge rüchte zu. Dann wird Sigurd dumm blei ben.« Ratatöskr sprang von Balduurs Hand hin unter auf den Boden und raste, sein hysteri sches Gelächter ausstoßend, davon. Kurz darauf verhallte sein Geschrei ein Stockwerk höher zwischen den kahlen Wänden. »Und nun zu dir, Schwester. Sprich aus, was dich bedrückt! Wenn du es erzählt hast, wird dir leichter sein. Wir jedenfalls lachen
13 nicht über dich.« Thalia senkte den Kopf und flüsterte: »Ich kann nicht. Ich schäme mich so sehr.« »Unsinn!« polterte Heimdall. »Wir sind Odins Kinder. Kein Grund, nicht ehrlich zu sein. Sprich es dir vom Herzen, Schwester. Was fangen wir mit einer zaudernden Frau an, wenn uns Odin braucht?« »Wenn er uns braucht, wird er mich als Tochter erkennen.« »Und anerkennen. Sprich! Wir helfen dir!« Zuerst stockend und nach Worten su chend, schließlich flüssiger und schneller, und ganz zuletzt erleichtert, berichtete Tha lia aus ihrem langen Leben in der anschei nend vollkommenen Maske des Honir. Sie schilderte das Zusammentreffen mit den bei den Fremden, dem schwarzhaarigen Pthorer und dem weißhaarigen Mann, der sie so be eindruckt und ihren ersten tiefen Zweifel ge weckt hatte, den Zweifel an der Richtigkeit ihres Versteckspieles vor sich selbst und al len anderen. Sie endete damit, wie sie den Sturz in den Chemikaliensee der Technos schilderte und ihre tiefe Scham, praktisch demaskiert vor ihre drei Brüder treten zu müssen. Sie lachte unsicher und blickte nacheinander in die Gesichter der Brüder. »Und jetzt bin ich bereit, mit euch zusam men die Macht der Finsternis zu brechen. Wenn ich es überhaupt vermag.« Heimdall nickte ernsthaft und meinte: »Du hättest es in der Maske Honirs ge schafft. Und als Schwester Thalia – als über aus hübsche Schwester, wie ich sehe! – wirst du es ebenso gut schaffen. Ab jetzt ist für uns Honir verschwunden und nur noch eine Erinnerung, über die wir lächeln. Einver standen?« »Einverstanden«, antworteten Sigurd, Balduur und Thalia wie aus einem Munde. Thalia deutete auf Fongerreilson, holte tief Atem und nahm Sigurd den Humpen aus der Hand. Nach einem Schluck sagte sie be ruhigend: »Fongerreilson mag sein, was Sigurd ihr
14 vorwarf. Aber sie ist, wie ich, eine Frau. Und jetzt rede ich als Frau zu Sigurd. Oder möchtest du nicht, daß ich darüber spre che?« Sigurd nickte verlegen, aber es war unver kennbar ein Nicken der Zustimmung. »Also … sie mag ein Geschöpf der Her ren der FESTUNG sein, das keine Erinne rung hat und geheimnisvollen Befehlen ge horcht. Du hast ihr die Möglichkeit genom men«, sie deutete in die Asche des Kamin feuers, »weiterhin zu spionieren. Habe ich recht, Brüder?« Heimdall und Balduur brummten zustim mend. »Fongerreilson«, fuhr Thalia überzeugend fort, »ist in ein Leben hineingeworfen wor den, das sie sich nicht aussuchte. Sie traf dich, Sigurd, und sie verliebte sich in dich. Wie du mir sagtest, verliebtest du dich auch in sie. Deine Enttäuschung ist verständlich, aber deine Wut und dein Haß sollten sich – wie unser Zorn auch! – gegen die Herren der FESTUNG richten, nicht gegen das arme Mädchen. Du bist erleichtert und froh, daß Fonger reilson wieder bei dir ist. Oder irren wir uns alle, Sigurd?« Sigurd schüttelte den Kopf und schien er leichtert zu sein. Thalia sagte, was er dachte und empfand und sich auszusprechen scheu te. »Ihr irrt euch nicht. Ich bin sehr froh, daß du für mich sprichst, Thalia. Du bist eine echte Tochter unseres Vaters.« »Bei Odin«, entgegnete sie, »und du bist ein Narr, der nicht weiß, was er will. Vergiß Fongerreilsons Herkunft und liebe sie! Du hast es in der Hand, es liegt nur in deiner Macht, aus einem Geschöpf der FESTUNG deine Geliebte zu machen. Oder bist du ein willenloser Gordy oder ein abhängiger Techno?« »Nein!« »Dann vergiß alles und fange von vorn an. Und du, Fongerreilson, hilf ihm dabei. Er ist ganz nett, aber manchmal ist sein Stolz der eines Dummen. So gut kennen wir
Hans Kneifel uns immerhin, obwohl wir uns seit langen Jahren nicht mehr gesehen haben.« Heimdall lachte kurz und sagte: »Wenn du mit der Vars-Kugel ebenso gut umgehen kannst wie mit Worten, dann bist du eine furchtbare Walküre, Schwester.« Sie deutete lächelnd dorthin, wo ihre Aus rüstung hing und lag, und sagte: »Wir können uns ja einmal messen, Heimdall. Gegen dich verliere ich, aber du gewinnst nicht mit Leichtigkeit, wie sonst.« »Fürwahr!« stellte Balduur fest. »Ich glaube ihr.« Ohne die anderen zu beachten, umarmten und küßten sich Sigurd und Fongerreilson. Thalia war zufrieden; um Odin zu beschwö ren, mußte Harmonie zwischen allen herr schen. Für den Moment sah es so aus, als ob alle denkbaren persönlichen Spannungen zwischen den Kindern des verschollenen Herrschers abgebaut waren. Trotzdem würde Fongerreilson nicht an der eigentlichen Beschwörung teilhaben dür fen. Jeder, der nicht von Odin gezeugt wor den war, störte die geheimnisvollen Ströme der konzentrierten Versuche.
* Am späten Nachmittag saßen sie alle um den Tisch und aßen, tranken und redeten. Je der erzählte von sich selbst und seinen Er lebnissen. Die Schicksale Sigurds und Balduurs, Heimdalls und Thalias, in Wirklichkeit Le bensgeschichten in einer Dauer an Jahren, die jene aller anderen Sterblichen weit über traf, ließen sich nicht in wenigen Worten be richten. Aber immer wieder, wenn einer von ihnen ein besonders wichtiges und charakteristi sches Erlebnis erzählte und in den schlech ten oder guten Erinnerungen schwelgte, schwiegen die drei anderen und hörten ge bannt zu. Einige Geschichten ähnelten einander. Andere wieder wichen stark voneinander ab. Aber allen war gemeinsam, daß sie ge
Im Zeichen von Ragnarök prägt waren vom Verhältnis der Herren der FESTUNG zu den Odinskindern und der langen Reise aus der Schwarzen Galaxis heraus und zwischen den vielen unbekann ten Welten. Schließlich wuchtete Heimdall seinen massigen Körper hoch und strich den Schaum des Bieres aus seinem Schnurrbart. »Ich bin müde. Wo ist mein Platz, Si gurd?« Sigurd deutete zur Treppe und sagte gäh nend: »Eine Ebene höher. Dort findest du alles, was du brauchst. Störe dich nicht daran, daß der Raum sonst leer ist; ich brauchte ihn nie. Balduur, du kannst in der zweiten Ebene deinen Rausch ausschlafen. Und die Schwe ster muß noch etwas höher klettern. Wir treffen uns morgen zum Frühstück wieder hier.« »Danke. Ich werde einen langen, tiefen Schlaf tun. Ich bin voll vom Bier und unse ren Erzählungen!« sagte Heimdall und nick te allen zu, ehe er die Stufen hinaufkletterte und verschwand. »Die Beschwörung? Setzen wir uns mor gen abend zusammen?« wollte Balduur wis sen und hob den Humpen. »Ja. Neben dem Feuer, im Licht des Odin-Leuchters.« »Du hast ihn noch immer«, fragte Balduur überrascht. »Ja. Ich habe ihn versteckt, und bisher hat sich noch kein Dieb ins Lichthaus hereinge wagt.« »Du Glücklicher«, brummte Balduur. »Heimdalls Lettro und mein Wohnberg wa ren schon oft Ziele von todesmutigen Ein brechern und sonstigen nicht gern gesehenen Gästen.« Er trank aus und ging ebenfalls zur Trep pe. Ein wenig später folgte Thalia. Sie be gann zu ahnen, daß die Beschwörung des Vaters trotz des Leuchters schwierig sein würde. Sie war der eigentliche Grund. Oder vielmehr Odins krasse Ablehnung weibli cher Nachkommen. Zuerst aber würde ihr ein langer tiefer
15 Schlaf über vieles hinweghelfen. Vielleicht sah morgen schon alles etwas anders aus.
* Sigurd wußte, daß er sich selbst irgendwie betrog, aber er betrog sich gern, und es machte ihm nichts aus. Alles war scheinbar so wie einen Tag, eine Nacht vorher. Das Kaminfeuer brannte und badete ihre Körper in weiße, rote und gelbe Lichter. Fongerreilson lächelte erschöpft. Ihre Finger wühlten in Sigurds Haar. »Und … ich darf bei dir bleiben?« flüster te sie. »Ja. Solange du willst. Solange, wie unse re Liebe bestehen wird«, sagte er und war froh, aussprechen zu können, was ihn be wegte. Er ergriff Fongerreilsons Hand. »Wenn wir die Herrschaft über Pthor an getreten haben, wirst du an meiner Seite herrschen«, sagte er leise. Er meinte es ernst. »Ich war ein Narr, aber meine Wut riß mich mit sich. Ich weiß jetzt, was wir verloren hätten. Aber du bist hier, und alles ist ver gessen.« »Alles ist vergessen. Und je länger ich bei dir bin, desto mehr werde ich über mich wis sen«, wisperte sie. Sigurd schloß: »Und über mich.« Sie schliefen ein, jeder in den Armen des anderen.
3. Sigurd wartete schweigend. Innerhalb des Lichthauses herrschte Totenstille. Ratatöskr war in einem der oberen Stockwerke einge schlossen. Fongerreilson wartete, vermutlich schlafend, dort, wo Thalia die letzte Nacht verbracht hatte. Die vier Kinder Odins wa ren allein. Der wuchtige Tisch war von Heimdall neben den Kamin geschleppt wor den. Ein prasselndes Feuer verbreitete Hitze und roch stechend und narkotisierend nach den Kräutern, die Sigurd bündelweise hin eingeworfen hatte. In der Mitte des Tisches
16 stand der Leuchter. Fasziniert und im Gefühl, einen entschei denden Tag zu erleben, sah Balduur zu, wie Sigurd die einzelnen Flammen des Leuch ters anzündete. Sigurd murmelte kaum verständlich Zei len aus Odins Runenbuch, während der kni sternde Ast über die Dochte hinwegfuhr. An der höchsten Stelle des vielarmigen Leuchters brannte ein blaues Feuer. Jetzt er wachte eine rote Flamme. Noch niemand hatte jemals die einzelnen Arme und die Ölschalen zählen können; diese Eigenschaft machte den Leuchter unverwechselbar auf Pthor. Immer wieder verschwammen die einzelnen Flammen und Arme vor den Au gen des Betrachters. Es waren mehr als sie ben und weniger als neunundvierzig. Sie sagten, daß nicht einmal Odin die Zahl richtig nennen konnte. Eine gelbe Flamme erwachte, bildete eine feurige Lanzenspitze und einen schwarzen Rußfaden, der senkrecht zur Decke stieg und sich dort in der Dunkelheit verlor. »Die magischen Feuer …«, flüsterte Bal duur mit rauher Stimme. Es war tiefste Nacht. Die Kinder Odins waren ausgeruht und hatten den Tag lang Zeit gehabt, sich auf diese Beschwörung vorzubereiten. Ihre Nerven waren auf das höchste gespannt. Jetzt nahm Sigurd den brennenden Ast weg und warf ihn achtlos ins Feuer zurück. Die Flammen sprangen von einer der tüllenför migen Brennstellen zur anderen und bildeten wirre Muster. Die Ölmischungen erzeugten verschiedenfarbig brennende Flämmchen, und jedes Öl roch anders. Zusammen ergaben sie eine Halluzinatio nen fördernde Geruchsmischung, ebenso wie die brennenden Harzkräuter im Feuer. »Es ist noch nicht soweit«, murmelte Heimdall und starrte die Flammen an. Eben noch waren es sieben gewesen, jetzt schie nen sie sich zu verdoppeln. Der Leuchter aus geschmiedetem Eisen stand mit drei Füßen (die aussahen wie die Gesichter der Nornen) auf der weißen Tischplatte. Aus den drei Fü ßen wuchsen Arme, Querverbindungen und
Hans Kneifel weitere Arme wie die Zweige eines Baumes hervor. Der obere Teil des Leuchters schien sich auch dann, wenn keiner der Dochte brannte, in unaufhörlicher Bewegung zu be finden, wie ein Baum in einem mäßigen Wind. Wieder kamen neue Flammen hinzu. Sie flimmerten und zuckten nicht, aber sie brannten in allen vorstellbaren Farben und in einigen nie gesehenen dazu. Sigurd setzte sich und sah Thal. »Bereit?« »Ich bin bereit«, erwiderte sie leise. Fongerreilson war fremd und hatte sich, noch ehe Sigurd sie hinausschicken konnte, zurückgezogen. Die vier Kinder des legen dären Odin waren allein. Noch immer rührte und regte sich nichts. Die Stille lastete schwer auf ihnen. Zusammen mit der Hitze des Feuers und den vielfältigen Gerüchen er zeugte sie die einmalige Grundlage für die Beschwörung. Alle lebenden Kinder mußten vereinigt sein, um Odin zu beschwören; der Tod von einem aus ihrer Mitte würde den Versuch zum Scheitern verurteilen. So dach ten sie. »Fertig, Balduur?« Balduur nickte nur und reichte Heimdall und Thalia seine Hände. Er konnte den Blick nicht von den sich bewegenden Flammen vor ihm lösen. Einmal schienen es fast fünf zig zu sein, dann wieder neunzehn, in der nächsten Sekunde vierunddreißig. Heimdall holte Atem und zog die duftgeschwängerte Luft tief in seine Lungen. »Du hast dich konzentriert, Heimdall?« flüsterte Sigurd und ergriff Thalias Hand und auf der anderen Seite die Finger Heim dalls. In dem Augenblick, als sie eine Kette aus vier Gliedern bildeten, ging es wie ein kurzer Schlag, wie ein schmerzender Stich durch die Körper. Thalia schrie leise auf und biß sich auf die Lippen. Ich bin die Außenseiterin in diesem Kreis, dachte sie, aber sie konzentrierte sich auf die entscheidende Aufgabe. Sigurd murmelte ununterbrochen Worte aus Odins Runenbuch. Rote Glut aus dem
Im Zeichen von Ragnarök Feuer tauchte die Gesichter in düsteres Licht. Heimdall spürte, wie er die Kontrolle über seinen Körper verlor. Er schwankte leicht hin und zurück, stieß an die Tischkan te, ließ aber die beiden Hände nicht los. Bal duur und Thalia erging es ebenso. Sie ver suchten, ihre Gedanken festzuhalten, aber es war ihnen, als ob das Bewußtsein wie der Rauch eines Feuers davonschwebte in eine andere Welt. Sie fielen fast gleichzeitig in einen ent rückten Zustand. Sie verloren das Bewußt sein, daß es Grenzen des Verstandes und der Phantasie gab. Sie vermochten in diesem Zustand alles zu tun. Sie hatten sich auf ihren Vater konzen triert. Und … … plötzlich sahen ihre weit aufgerissenen Augen, wie Odin lautlos aus dem Hinter grund des Raumes auf sie zukam. Er sah so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatten. Sein schwerer Helm, die Rüstung und das Schwert und der riesige Schild mit den cha rakteristischen Zeichen darauf. Er kam auf den Tisch zu und blieb davor stehen. Aber sein Körper war durchscheinend; sie erkann ten durch ihn hindurch die Kanten einiger Möbel. Nur der Schild war fest und starr und undurchsichtig. Odins Lippen bewegten sich. Er sagte unhörbare Worte und musterte zuerst Heimdall, dann Sigurd und schließ lich Balduur mit den scharfen Augen. Dann fiel sein Blick auf die Frau. Der Ausdruck kalten Zornes erschien auf Odins Gesicht. Seine Züge erhärteten sich ganz plötzlich. Er starrte Thalia an, als sähe er sie zum erstenmal. Dann schien er zu be greifen und drehte sich abrupt um. Voll wil len stapfte er lautlos zurück in die Düsternis des Raumes – in Wirklichkeit war dies eine Zone jenseits aller Barrieren von Raum und Zeit. Thalias Verstand kehrte mit dem Schmer zeindruck eines einschlagenden Blitzes zu rück. Sie erhob sich taumelnd, aber sie be saß noch soviel Geistesgegenwart, um die beiden Hände ihrer Brüder ineinanderzule gen, ehe sie ihre Finger aus den verkrampf
17 ten Griffen befreite. Odin haßte sie also noch immer! Tiefe Niedergeschlagenheit er griff sie, als sie vom Tisch und aus dem Be reich der verwirrenden Flammen des OdinLeuchters hinwegwankte und versuchte, die Stufen der Treppe zu erreichen. Odin hatte sie abermals zurückgestoßen. Jetzt, nach so langer Zeit. Sie merkte nicht, daß die Tränen über ihre Wangen liefen. Halb blind schleppte sie sich eine Unzahl von Stufen hinauf und fiel schluchzend und betäubt auf das Lager. Fongerreilson sprang auf und versuchte, das Mädchen zu trösten. Balduur, Sigurd und Heimdall hatten nichts gemerkt. Jetzt fühlten sie, wie der Strom fremder Energien in ihnen stärker und gebündelter wurde. Odin blieb stehen und drehte sich mit herausfordernder Langsamkeit herum. Eine Stimme ertönte, wesenlos und trotz dem klar verständlich: »Vater Odin! Sprich mit uns! Wir haben dich beschworen und gerufen.« Wieder näherte sich die massige Gestalt, die trotz des erkennbaren hohen Alters Kraft ausströmte, dem Tisch. Die verwirrenden Farbmuster des vielarmigen Leuchters ver wandelten Odin in eine geisterhafte, drohen de Erscheinung. »Jetzt spreche ich mit euch. Was wollt ihr?« Zwischen Odin und seinen drei Söhnen lagen mehrdimensionale Abgründe und Klüfte aus Entfernungen zeitlicher und räumlicher Natur. Trotzdem wirkte Odin jetzt lebendig und echt. Auf unbegreifliche Weise war es auch so: Odin war wirklich bei ihnen. Er stützte sich schwer auf den Griff seines Schwertes und wiederholte laut: »Welche Fragen stellt ihr mir?« Sigurd stellte die erste Frage. »Ich habe viele Zeichen gesehen. Viel leicht deute ich sie falsch? Aber ich glaube, daß Ragnarök unmittelbar bevorsteht.« »Du hast recht. Ragnarök wird kommen, in naher Zukunft.« »Und wir werden wieder über Pthor herr schen wie in alten Zeiten?«
18 Odin schüttelte den Kopf und sagte laut und deutlich: »Nein!« »Aber«, begann Sigurd. »Wenn Ragnarök da ist, dann kann es nur eines bedeuten, nämlich die Rückkehr Odins und seiner Söh ne an die Macht. Die Zerstörung der FE STUNG und der Tod der Herren dort.« »Abermals nein«, sagte Odin. »Die alte Macht unserer Dynastie wird nicht mehr zu errichten sein.« Sie waren verwundert und begriffen erst später, was die Antwort wirklich bedeutete. Aber da fragte schon Heimdall: »Wer wird dann herrschen?« Odin wich aus und entgegnete: »Die Macht der Herren der FESTUNG kann zerschlagen werden. Auch ihr werdet kämpfen müssen. Aber die wirkliche Kraft kommt von Fremden, die nicht von Pthor sind. Sie sind schon in der Nähe, meine Söh ne!« Es müssen die Fremden sein, mit denen ich kämpfte! dachte Balduur. Es sind jene Fremden, die Koy der Trommler sucht, überlegte Heimdall. Kann einer der Fremden der Weißhaarige sein, der Honirs Geheimnis lüftete? dachte Sigurd. »Wir und die Fremden gegen die FE STUNG?« fragte er. »So kann es sein. Ein neues Zeitalter wird auf Pthor ausbrechen. Aber erst dann, wenn die Macht der FESTUNG in Hände über geht, die nicht zerstören und vernichten, sondern die Möglichkeiten in anderer Art anwenden. Fremde werden es sein, von de nen die Herrschaft ausgeht.« »Und wir? Wofür haben wir gewartet und gekämpft?« grollte Balduur. »Es ist eure Sache, euch an der Macht zu beteiligen. Ihr wißt, wie es zu geschehen hat. Ihr tut gut daran, geschehenes Unrecht wie der gutzumachen oder den Fremden dabei zu helfen.« »Vater! Welche Rolle wirst du bei der Götterdämmerung und in der Zeit danach spielen?«
Hans Kneifel Langsam schüttelte Odin sein mächtiges Haupt und antwortete gelassen: »Meine Rolle steht noch nicht fest. Sie kann so oder so sein. Aber ich werde stets an eurer Seite sein, wenn ich auch mein Schwert nicht schwinge.« Er hob die riesige Waffe hoch und stieß sie mit der Spitze gegen den Boden. Das Lichthaus erbebte. Draußen begann etwas zu schreien und zu heulen, aber niemand hörte es wirklich. »Werden wir herrschen?« wollte Sigurd abermals wissen. »Ihr werdet nicht die Herrschenden an der Spitze sein. Eure Position hängt von dem ab, was ihr aus euren Fähigkeiten macht, mit Mut und Waffen.« »Sage uns weiter, wie die Zukunft ausse hen wird …« »Eine andere Ära bricht an. Irgendwann werden die neuen Machthaber Pthor zurück bringen in die Schwarze Galaxis. Sie werden dafür sorgen, daß alles Übel an der Wurzel ausgerottet wird. Mehr kann ich euch nicht sagen, denn selbst weiß ich nicht mehr. Aber ihr sollt wissen: Es reißt die Fessel, es rennt der Wolf. Ragnarök ist nahe. Denkt immer daran, wer ihr seid. Handelt wie würdige Söhne Odins.« »Das werden wir tun, Vater! Wir verspre chen es.« Die Söhne antworteten fast gleichzeitig. Vater Odin heftete seinen durchdringenden Blick nacheinander auf Sigurd, dann auf Heimdall und schließlich auf Balduur. Odin nickte und faßte das Schwert unterhalb des Griffes an der Schneide und hob es hoch. Dann schloß er: »Ihr habt mich beschworen; auf eure Fra gen habe ich geantwortet. Ich weiß nicht mehr. Jetzt gehe ich wieder dorthin, wo Ru he ist und Schweigen, Dunkelheit und Ein samkeit!« Er hob das Schwert vor sein Gesicht, schüttelte beschwörend die Waffe und zog sich mit langsamen Schritten rückwärtsge hend in die Dunkelheit des Raumes zurück. Als sein Rücken eine Wand zu berühren
Im Zeichen von Ragnarök schien, löste sich Odin auf und verschwand. Gleichzeitig erloschen nacheinander in ei nem rasend schnellen Wirbel die Flämm chen des verzweigten Leuchters, und aus je der Schale erhob sich ein Rauchfaden. Si gurd taumelte von seinem hochlehnigen Ses sel auf. Sein Gesicht war leichenfahl, Schweiß rann von der Stirn bis in den Hals. Das Haar klebte an den Schläfen. Mit aller Gewalt riß er seine Finger aus den Händen Balduurs und Heimdalls. Dann schwankte er, stützte sich mit ge spreizten Fingern schwer auf die Tischplatte und keuchte: »Ich kann nicht mehr. Ich bin total er schöpft, Brüder.« Auch sein Umhang war schweißdurch tränkt. Sigurd hielt sich nur noch mit Mühe auf den Beinen und wankte davon. Immer wieder klammerte er sich, von Schwächean fällen überfallen, an den Kanten und Ecken der Möbelstücke fest. Schließlich brach er halb über seinem Lager zusammen und fiel in einen totenstarreähnlichen Schlaf der tota len Erschöpfung. »Mir geht es nicht anders«, murmelte Bal duur. »So, als ob Opal mir die Lebensener gie entziehen würde …« Er versuchte aufzustehen und merkte, daß seine Beinmuskeln ihm kaum mehr gehorch ten. Noch immer umklammerte Heimdall seine Finger. Er riß sich los, warf einen Blick auf den Bruder, der jetzt vornüber auf die Tischplatte fiel und stemmte sich mit al ler Energie hoch. Seine Finger umklammerten die Tisch kante. »Soll ich … helfen?« fragte er kaum ver ständlich. Heimdall bewegte den Kopf auf und ab. »Komm. Halte dich fest!« Balduur tappte um den Tisch herum, er griff einen Arm des Bruders und zog den schweren Körper Heimdalls ächzend in die Höhe. Dann legte er sich den Arm um die Schulter und schleppte sich selbst und den Bruder, der in den Knien einknickte, zur Treppe. Jeder Schritt war eine Qual. Es war
19 schlimmer als nach einem Kampf, der einen halben Tag dauerte. Balduur trat krachend gegen einen Schemel, der zur Seite flog. Heimdalls Hüfte schob eine riesige Truhe zwei Meter weit zurück, als er zur Seite schwankte. Er stieß ein dumpfes Stöhnen aus und packte das Geländer der Treppe, als ihn Balduur auf die erste Stufe gewuchtet hatte. Der Lärm, den sie veranstalteten, machte Thalia und Fongerreilson aufmerksam. Sie kamen die Treppe herunter und halfen mit, die zwei Göttersöhne auf die Lager zu schleppen. Als Balduur und Heimdall wie tot auf den Fellen und Leinentüchern ausge streckt lagen und flach atmeten, sagte Thalia leise: »Die Beschwörung ist vorbei. Ich habe niemals an einer Beschwörung teilnehmen dürfen; schließlich bin ich nur die uner wünschte Tochter Odins. Wir müssen war ten, bis sie wieder zu sich kommen.« Fongerreilson deutete nach unten. »Wir müssen sie pflegen. Und wir müssen nachsehen, was für ein Lärm dort draußen ist.« »Der Radau hat Zeit. Zuerst sind meine Brüder wichtig.« »Einverstanden.« In den kommenden Stunden bereitete Thalia eine dünne, kräftige Brühe in Sigurds gut ausgestatteter Küche. Fongerreilson brachte feuchte, eiskalte Tücher, mit denen sie die schweißnassen Körper der Odinssöh ne abwusch und trocknete. Thalia flößte ih nen löffelweise die Suppe ein. Eine ganze Nacht lang und den kommen den Tag lagen die drei Männer erschöpft da, schliefen immer wieder ein, und schließlich gelang es Fongerreilson, Sigurd dazu zu be wegen, durch einen Gedankenbefehl den Energievorhang einen Spalt breit zu öffnen.
* Irgendwann in der Dunkelheit sprang ein Tier, mit Krallen und Zähnen bewaffnet, auf Hals und Schultern des schwarzen Drachen.
20 Augenblicklich fuhr die Wildheit in den Gi ganten zurück, und zwischen stacheligen Büschen und niedrigen Bäumen fing ein mörderischer Kampf an. Das Tier, ein Fünftel so groß wie Gruck, klammerte sich mit vier Gliedmaßen und den riesigen Fangzähnen an. Die langen Krallen und die spitzen Zähne fuhren zwi schen den Schuppen und Knochenplatten tief in die Haut, durchtrennten Adern und zerfetzten Nerven. Wütende Schmerzen zuckten durch den Riesenkörper. Gruck schrie laut auf und wehrte sich erbittert. Er erhob sich auf die beiden hinteren Beinpaare und griff mit den Vorderläufen nach oben. Mit einem gewalti gen Ruck riß er zwei der Klauen aus dem Körper. Blut spritzte und begann süß zu rie chen. Kampfinstinkte und der Wunsch, zu zerfleischen und zu fressen, den Gegner zu zertrampeln, kamen in Gruck hoch. Er war zu lange von den Bestien der Nacht getrennt gewesen – jetzt kehrte das Wohlbehagen an dieser Form des Lebens mit blitzartiger Schnelligkeit zurück. Der Angreifer brüllte dumpf auf und biß ein zweitesmal zu. Wieder spürte Gruck, wie Schmerzen durch den Körper bis zur Schwanzspitze zuckten. Er sprang in die Höhe und warf sich zu Boden, dann begann er sich halb her umzurollen und versuchte, mit seinem Kör pergewicht den Angreifer zu zerdrücken und seine Knochen zu zermalmen. Klirrend schlugen die Knochenplatten ge gen Steine und Felsen. Mit beiden Klauen griff Gruck jetzt zu, riß den Angreifer von seinem Nacken und spürte, wie lange Kral len die ledrige Haut des Kopfes zerrissen. Er hob das zappelnde Tier, dessen Körper sich in wilden Windungen drehte und immer wieder versuchte, aus dem unbarmherzigen Griff zu entkommen, in die Höhe und richte te sich dabei wieder auf. Mit einem langen Schrei der Wut schmet terte Gruck den Angreifer zu Boden, sprang vorwärts und warf sich mit dem ganzen Ge wicht seines zweiten Beinpaares auf das
Hans Kneifel Tier. Im gleichen Augenblick, in dem die Wir bel und Knochen des nächtlichen Angreifers barsten, schnappte das Raubtier ein letztes mal zu und bohrte seine Zähne tief in den Muskel des Lauffußes. Abermals raste glühender Schmerz durch die Nervenbahnen und riß den letzten Rest von jenem Gehorsam und der Freude hin weg, einen Reiter getragen und dessen Be fehlen gehorcht zu haben. Im Schock dieses Kampfes verwandelte sich der schwarze Drache Gruck zurück in das Untier, das ein Helfer der Vernichtung war – einer von vie len protointelligenten Sklaven der Herren der FESTUNG. Aber Gruck verlor seine Intelligenz nicht, die unverkennbar ein wenig höher lag als die seiner meisten, andersgestaltigen Artgenos sen in der Ebene Kalmlech. Seine Wut brauchte ein neues Ziel. Der Koloß schlenkerte heftig mit dem Laufbein, um den Kadaver des Raubtiers loszuwerden. Aber im Todeskampf hatte sich das Tier mit seinen harten, muskulösen Kiefern unlösbar in das Fleisch und die Le derhaut festgebissen. Der Drache stieß einen gewaltigen Schrei aus. Es war eine Mischung zwischen Sieg gefühl und heißer, bösartiger Wut, die sich gegen nichts und alles richtete. Dann drehte sich der Koloß herum und senkte den Kopf. Auf seiner eigenen Spur trabte und galop pierte er wieder zurück. Er hatte, seit es dun kel geworden war, den hellen mondlichtähn lichen Schein gesehen; dieses Haus, in dem seine Reiter verschwunden waren. Das Haus war ein deutliches Ziel. Was er dort zu su chen hatte, was ihn dorthin trieb und welche dunklen inneren Befehle ihn mit sich rissen, ahnte er in seinem dumpfen Drang nicht. Die ganze Nacht rannte der schwarze Dra che. Nur zweimal machte er halt und soff einen kleinen Tümpel leer. Jedesmal, wenn er seinen Fuß nach vorn riß und wieder auf setzte, schlug der Raubtierkadaver auf den Boden, riß auf, verlor breite Ströme von Blut und wurde immer kleiner. Fetzen von
Im Zeichen von Ragnarök Fleisch und Haut blieben an Dornen, Fels brocken und Aststümpfen hängen. Die Last wurde leichter, aber der rasende Schmerz im Gelenk blieb und breitete sich aus. Die Wut und der zerstörerische Drang, die in dem schwarzen Riesentier tobten, verstärkten sich. Gegen Morgen tauchte hinter den niedri gen Hügeln und den Baumgruppen, die sich als pechschwarze Silhouetten gegen den hel ler werdenden Horizont abhoben, das wür felförmige, strahlende Gebäude auf. Dort versteckten sich die Reiter vor der Wut die ses gewaltigen Mörders aus der Ebene Kalmlech.
* Am kommenden Morgen richtete sich Si gurd zum erstenmal auf und lehnte sich ge gen die Wand hinter seinem Lager. »Jeder einzelne Muskel, jeder Nerv, jedes Stück meines Körpers schmerzt. Ich fühle mich, als wäre ich von den Toten auferstan den«, sagte er. Fongerreilson wischte mit dem feuchten, kühlen Tuch über sein Ge sicht. »Deinen Brüdern geht es nicht anders«, sagte sie. »In ein paar Tagen werdet ihr wie der so gesund und stark sein wie immer.« Er lächelte schwach; selbst diese ver gleichsweise winzige Bewegung schien ihm Schmerzen zu bereiten. »Ich habe lange geschlafen?« »Fast eineinhalb Tage«, antwortete sie. »Und du bist nur aufgewacht, um ein paar Löffel Brühe zu dir zu nehmen.« »Danke«, flüsterte er und fühlte dankbar, wie ihre Finger seinen Nacken massierten. »Das tut gut.« »Heimdall und Balduur werden von Tha lia betreut. Sie ist wirklich besorgt um euch, sehr besorgt«, meinte Fongerreilson. »Sie ist unsere Schwester«, murmelte Si gurd, als ob dies eine ausreichende Erklä rung sei. »Und jetzt – schlafe weiter!« sagte Fon gerreilson, bettete seinen Kopf auf die Kis
21 sen und massierte solange weiter seinen Nacken und seine Schultern, bis er wieder eingeschlafen war. Dann packte sie Tücher, Schalen und alles andere weg und trug den Packen zurück in die Küche und in das Bad. Woher kommt dieser Lärm dort draußen? dachte sie wieder einmal. Sie räumte auf. Thalia war in den oberen Räumen bei ihren Brüdern. Fongerreilson ging langsam in die Richtung des Energie vorhangs und fühlte sich von den stechenden Augen des Ratatöskr verfolgt. Das Tierchen schien überall gleichzeitig zu sein. Immer sah es zu, was die beiden Frauen taten. Hin und wieder stieß es sein charakteristisches Gelächter und Kichern aus und raste wie wahnsinnig durch den Raum. Die junge Frau blieb vor dem Spalt stehen und blickte hinaus in das grüne Land und in die wüstenartigen Teile. Es war früher Mor gen, und die Pflanzen schienen seltsam grün und frisch zu sein. Von irgendwoher hallte ein lauter, kreischender Schrei und scheuch te einige Vögel in die Luft. »Was ist das?« murmelte Fongerreilson und machte drei, vier vorsichtige Schritte nach draußen. Zuerst sah sie nichts außer den Spuren. Ein großes Tier schien in der vergangenen Zeit rund um das Lichthaus gerannt zu sein. Es hatte tiefe Abdrücke in den Gräsern und im Sand hinterlassen. An einigen Büschen bemerkte die Frau dunkle, verkrustete Blut spuren. Kleine Bäume waren unter der Wucht von Fußtritten oder Krallenhieben geknickt und zerbrochen. »Ein Tier?« Fongerreilson erinnerte sich an das riesige schwarze Ungetüm, mit dem Balduur und Heimdall hierher gekommen waren. Konnte es sein, daß dieser Drache es war, der schrei end und polternd um das Lichthaus herum rannte und diese Spuren hinterlassen hatte? Sie drehte sich um und versuchte im Dunkel des Raumes zu erkennen, ob sich Thalia ir gendwo aufhielt. Nichts. Auch zwischen dem silbernen Band der
22 Straße und dem Haus sah und hörte sie nichts. Sie machte noch ein paar Schritte und blickte nach rechts und links. Das schwarze Ungeheuer war nicht zu sehen. Fongerreilson hob die Schultern und ging wieder zurück ins Haus. Als sie sich zum letztenmal umdrehte, stand sie bereits jen seits des Spalts in der Energiewand. Wie der Wirklichkeit gewordene böse Traum donnerte das Ungeheuer zwischen Straße und Haus heran, schwenkte seinen mächtigen Hals hin und her und starrte sie aus riesigen Augen an. Die Bestie hinkte, und sie schien gleichermaßen hungrig und wütend zu sein. Mit beiden Vorderpranken riß sie Büsche aus und schleuderte sie acht los zur Seite. Als das Riesentier am Eingang vorbeipreschte, blieb es ruckartig stehen, drehte seinen Kopf in Fongerreilsons Rich tung und stieß einen Schrei höchster Wut aus. Mit einem weiten Sprung brachte sich die junge Frau ins Innere des Lichthauses zu rück. Das Tier stapfte schwerfällig näher, schrie und trompetete abermals in lauter Erregung und berührte mit dem Schädel und mit einer der Vorderpranken den Energievorhang. Flammen und Blitze züngelten auf, als die Energie das Fleisch und die Knochen ver sengt. Der Kopf und der Hals zuckten zurück wie die einer Schlange. Das Ungeheuer sprang in die Höhe und stieß einen gellenden Schrei aus. Dann raste es in einem holprigen Galopp davon und rammte mit aller Macht das Lichthaus. Als sich die säulenartigen Beine an ihr vorbeibe wegten, sah Fongerreilson, daß sich ein bis zur Unkenntlichkeit deformierter Raubtier schädel wie ein seltsames Anhängsel an ei nem der Füße befand und förmlich nur noch an den Kiefern und einigen weißen, gesplit terten Zähnen hing, die sich tief in die Haut gebohrt hatten. Der Spuk raste an ihr vorbei. Dann erfolg te ein zweiter, noch wuchtigerer Anprall. Ein zweitesmal hatte der Gigant das Gebäu-
Hans Kneifel de gerammt und war zurückgeschleudert worden. Fongerreilson zitterte vor Angst. Vor kurzer Zeit noch hatte der Koloß zwar auch drohend gewirkt, aber er hatte seinen beiden Reitern gehorcht wie ein zahmes Reittier. Und jetzt war die rasende Wildheit offensichtlich wieder ausgebrochen. »Thalia!« rief Fongerreilson und rannte nach innen. Gerade kam Thalia die Treppe herunter und trug einige leere Schüsseln. Über ihre Schultern hingen feuchte, schmutzige Tü cher. »Ja?« »Dieses Monstrum ist draußen. Das Tier, auf dem deine Brüder ritten. Es ist rasend vor Schmerz und wollte eindringen. Es ver brannte sich am Energievorhang.« Thalia zog ratlos die Schultern hoch. »Das klingt nicht gut. Was sollen wir ma chen? Die Brüder sind noch immer halb be wußtlos.« Inzwischen hatte ihr Heimdall berichtet, daß diese Beschwörung den letzten Rest von Lebensenergie aus ihnen herausgesogen hat te. Die Schwäche war nicht einfach durch einen langen Schlaf auszugleichen. Es war eine tiefe Müdigkeit des Geistes wie des Körpers. Und sie würden noch Tage brau chen, um sich zu erholen. Die Pflege der beiden jungen Frauen half zwar, aber sie konnte die Erholung nicht ernsthaft be schleunigen. Nach der Anstrengung dieser Erklärung war Heimdall wieder eingeschla fen. Aber inzwischen schlief er nicht lautlos und wie ein Bewußtloser, sondern er schnarchte, warf sich herum und wachte in immer kürzeren Abständen auf. Alle drei Brüder befanden sich auf dem Weg, der zu neuen Kräften führte. Aber es war nicht abzuschätzen, wann sie wieder im vollen Besitz ihrer Kräfte sein würden. »Ich weiß nicht, was wir tun können. Aber die Bestie rammt immer wieder die Mauern des Lichthauses. Wir sind gefährdet, Thalia!« meinte Fongerreilson. Sie war unsi cher, weil sie sich nicht erinnerte, jemals ei ner solchen Gefahr ausgesetzt gewesen zu
Im Zeichen von Ragnarök sein. »Ich werde mir die Angelegenheit etwas näher betrachten. Warte ein wenig!« ver sprach Thalia. »Ich verstehe das alles nicht«, erwiderte Fongerreilson unsicher. Den Geräuschen und den hallenden, er schütternden Schlägen war zu entnehmen, daß dieser schwarze Gigant ununterbrochen um das Lichthaus herumrannte und immer wieder versuchte, die Mauern zu zerstören. »Ich auch nicht.« Fongerreilson – und in gewissem Maß auch Thalia – war aus mehreren Gründen unsicher. Sie hatte merken müssen, daß es andere Dinge gab als die Liebe zwischen Si gurd und ihr; und weitaus wichtigere und geheimnisvollere. Das meiste davon war ihr unbekannt. Sie fühlte sich wie ein unbe schriebenes Blatt. Die Kämpfer, ihr Vater, von dem sie sprachen wie von einem Ge spenst, die schwankenden Stimmungen Tha lias und die vielen Geheimnisse des Licht hauses, die Angst vor der Zukunft und diese tiefgreifende Schwäche der drei Männer mit den seltsamen Augen … alles das war fremd, neu, unverständlich und im höchsten Maß verwirrend. Sie folgte zögernd Thalia in die Küche und lehnte sich an einen Schrank, dessen geschnitzte Tür laut knarrte. »Das Tier war friedlich, als Balduur und Heimdall mich auf der Straße trafen«, be gann die Dello. »Richtig. Es sieht im Augenblick so aus, als wäre seine alte Wildheit wieder durchge brochen«, erwiderte Thalia und goß heißes Wasser über die Töpfe und die Schalen. »Warum ›alte‹ Wildheit?« fragte Fonger reilson. Thalia erklärte ihr, welche Bestien in der Gnitaheide oder der Ebene Kalmlech hau sten, und was es mit den Horden der Nacht auf sich hatte. Je mehr Fongerreilson hörte, desto entsetzter wurde sie. »Aber … das bedeutet, daß wir in Gefahr sind! Dieses Tier ist stark und schnell und wütend. Es blutet. Und ein anderes Tier hat sich in ihm verbissen.«
23 Thalia grinste kalt. »Ich werde hinausgehen und das Unge heuer töten!« »Töten? Du?« fragte Fongerreilson kopf schüttelnd. »Ja, natürlich. Ich habe eine Rüstung, ich habe Waffen, und ich kann kämpfen wie Si gurd oder Balduur. Wir sind nicht wirklich gefährdet. Die Mauern des Lichthauses, das Odin durch einen Blitz erschaffen hat, sind stark und dick.« Fongerreilson schüttelte sich. »Ich fürchte mich«, bekannte sie. »Gruck ist halb wahnsinnig und halb ver hungert. Es wird nicht schwer sein, ihn zu töten«, erklärte Thalia ungerührt. »Du? Eine Frau wie ich!« »Ich kämpfe wie jeder andere. Was Bal duur kann, vermag ich auch.« »Unbegreifliche Dinge geschehen«, flü sterte Fongerreilson, verließ diesen Teil des unteren Geschosses und ging langsam wie der zum Energievorhang. Das Tier mit dem brennenden Fell und den blitzeschleudernden Haarbüscheln auf den Ohren starrte ihr aufmerksam hinterher. Zwischen den Rändern des summenden Vorhangs aus Feuer und Licht blieb Fonger reilson stehen und blickte schweigend hin aus. Wieder rannte das gewaltige Tier zwi schen Haus und Straße vorbei und hielt an, als es Bewegung in der Öffnung erkannte. Die großen Augen schienen in Blut zu schwimmen und starrten die junge Frau an. Unschlüssig schwankte der Kopf hin und her. Das Tier tappte langsam näher. Es hatte gelernt und wagte sich nicht mehr an den Schleier aus Helligkeit und kalter Strahlung heran. Fongerreilson hob den Arm und sprach leise und beruhigend auf das Tier ein. Sie wartete einige Minuten und erkannte, daß ihr Versuch nicht sinnlos war. Sie wagte es, einen Schritt zu tun und be fand sich danach wieder zwischen den bei den Kanten des Vorhangs. Gruck kam näher, ließ sich auf beiden Vorderfüße herunter und beugte den langen
24 Hals. Dann legte er den Kopf flach auf den zertrampelten Boden und öffnete den Ra chen. Aus dem Kehlkopf kam ein dumpfes Murmeln und Grunzen. »Nur ruhig. Du muß weglaufen. Wir brau chen dich nicht mehr. Wir haben auch nichts zu fressen für dich …«, sagte Fongerreilson leise und in beschwichtigendem Tonfall. Das Riesentier schloß und öffnete die Augen in schneller Folge. Die riesigen Pupillen zo gen sich zusammen, eine lange Zunge er schien zwischen den Zähnen und leckte auf den Granitplatten des Eingangs. Die Haut des Kopfes scharrte hin und her, als Fonger reilson weitersprach. Sie murmelte sinnlose und beruhigende Worte, und das Tier schien zumindest den Tonfall zu verstehen oder richtig zu deuten. Es kroch langsam rückwärts und machte einen unterwürfigen, verständnisvollen Ein druck. Die junge Frau lächelte breit und hoffte, daß sie Erfolg haben würde. Gruck kroch bis fast an den Rand der Straße. Unruhig wedel te sein riesiger Schwanz hin und her. Fon gerreilson trat hinaus in das helle Sonnen licht und deutete nach Westen. Das Tier wandte den Kopf und starrte in dieselbe Richtung. Dann stand es wieder auf und trollte sich langsam, Schritt um Schritt. Es schien unschlüssig zu sein und trompetete verhalten. Schließlich tappte es neben der Straße in die Richtung, in die Fongerreilson gezeigt hatte. Die junge Frau, die noch immer so geklei det war, wie sie hier angekommen war, nämlich nicht mehr trug als den schweren Schmuck und die winzigen Kleidungs stücke, ging abermals weiter hinaus und breitete die Arme aus. Das Tier schien, über seine mächtigen Schultern zurückblickend, zu nicken. Dann wurde es ein wenig schnel ler und erzeugte im Sand kleine Wirbel und Wolken. Nach etwa zwanzig Schritten wandte es sich nach Norden und beschleu nigte seine Gangart. Fongerreilson sah nicht mehr, daß Gruck in seine alte Fährte einschwenkte und
Hans Kneifel schneller wurde. Für die Dello mußte es so aussehen, als ob sich Gruck in Richtung auf die Ebene Kalmlech entfernte und nicht mehr zurückkommen würde. Sie sah ihm nach und lächelte zufrieden. Der Gigant verschwand hinter einem Wäldchen. Sein Kopf ragte über einige der höheren Bäume hinaus. Dann wurde der Bo den erschüttert. Sechs Beine rammten unauf hörlich in den Sand und auf die Gräser und erzeugten ein dumpfes Geräusch. Hinter ei nem Hügel oder in einem kleinen Tal ver schwand der Koloß. Nur noch das Trom meln der schweren Füße war zu hören. Fongerreilson drehte sich um und rief: »Es ist weg! Ich habe ihn weggeschickt, Thalia.« Neben ihr tauchte aus dem Halbdunkel des Raumes die junge Frau auf. Thalia hatte die Streitaxt ihres Bruders Heimdall in den Händen und trug den Helm Honirs. Sie lä chelte kalt und entgegnete: »Ich wollte gerade kämpfen und die Be stie töten. Denke daran – es sind keine harmlosen Riesen, sondern mordgierige Werkzeuge der Herren der FESTUNG.« »Aber …« »Nichts da, Fongerreilson. Pthor ist kein Paradies. Hier herrscht das Gesetz des Stär keren und Mächtigen.« »Er war so … verständlich.« Thalia versicherte kalt: »Wenn das Vieh zurückkommt, werde ich es töten!« Und plötzlich wurde aus dem leisen, ver schwimmenden Trommeln der Füße wieder ein lautes, drohendes Geräusch. Fongerreil son fuhr herum, als dicht hinter ihr ein wü tendes, kreischendes Trompeten erscholl. Der Koloß raste heran. Thalia sprang mit ei nem gewaltigen Satz aus dem Eingang her aus und schaltete die Khylda ein. Der Riese kam heran, richtete sich im vollen Lauf auf und packte Fongerreilson mit dem rechten Vorderfuß, riß sie in die Höhe und warf sie gegen die Mauer des Lichthauses. Der Kopf fuhr dicht über dem Boden dahin und hauch te eine gewaltige Wolke aus Gasen und Ge
Im Zeichen von Ragnarök stank in die Richtung Thalias. Die Khylda blitzte auf und beschrieb einen Halbkreis. Als der Körper Fongerreilsons gegen den massiven Stein schlug, als der Kopf mit dem aufgerissenen Rachen versuchte, Thalia zu erreichen, schlug die Tochter Odins zu. Die summende Schneide traf den Kopf des Un geheuers genau zwischen den Augen und drang fünf Handbreit tief in Knochen, Haut und Muskelstränge ein. Die Schwingungen, von denen die Schneide bewegt wurde, wirkten wie eine rasend schnell arbeitende Säge und durchtrennten das Gehirn des Tie res völlig. Ein harter Schlag riß Thalia die Waffe aus den verkrampften Fingern. Gruck rannte wie eine Maschine geradeaus weiter, wurde in der Agonie für einen kurzen Mo ment von einigen Sekunden schneller und schlug mit dem Schwanz einige Brocken aus der Mauer. Thalia wäre getötet worden, wenn sie sich nicht instinktiv zu Boden hätte fallen lassen. So aber erschütterte der Hieb des gepanzerten Schwanzes das Lichthaus mit der Gewalt eines kleinen Erdbebens. Nach hundert Schritten strauchelte der Riese. Die Füße und Beine gerieten außer Takt und schleiften nach. Der Schwanz bildete in den letzten Lebenssekunden eine Schleife, löste sich wieder und streckte sich. Dann überschlug sich der wuchtige Körper, ver schwand in einer Wolke aus Sand und Pflan zenteilen, kam zufällig wieder auf die Füße und brach abermals zusammen, zweihun dertfünfzig Meter von der Kante des Gebäu des entfernt. Thalia dachte nicht mehr an den Tod der Bestie. Sie schrie auf und war mit drei Sprüngen dort, wo Fongerreilson mit einem leichten Lächeln auf dem Boden und an der Mauer saß oder lehnte. Sie sah völlig entspannt aus und sah Thalia an. Sie stützte sich mit bei den Händen auf das Gras und lehnte mit dem Rücken und dem Kopf an der leuchtenden, glatten Wand. Sie war bleich, aber Tha lia sah keinerlei Verletzungen.
25 Thalia spürte, ohne es wirklich zu regi strieren, einen furchtbaren Schlag, der den Boden erschütterte. Der Körper des Monstrums war zusam mengesackt und aufgeschlagen. »Fongerreilson …«, flüsterte sie entsetzt und faßte die Arme an den Handgelenken. Die junge Frau fiel nach vorn und legte ih ren Kopf mit dem seidigen, langen Haar auf Thalias Schulter. »Sage Sigurd …«, flüsterte sie. »Fongerreilson … warte. Ich bringe dich …« Die Augen der jungen Frau blitzten ein letztesmal auf. Plötzlich wirkte sie uralt und erfahren wie Odin. Sie hauchte: »Ich sterbe. Alles ist zerbrochen. Sage Si gurd, er soll nicht trauern. Ich bin nur ein Kunstgeschöpf.« Thalia wußte es nicht, aber sie spürte es in einer Art sechsten Sinnes. Fongerreilson hat te nur noch wenige Augenblicke zu leben. Sie umschlang den herrlichen Körper, der im Todeskampf sich verkrampfte und dann zugleich locker und schwer wurde. »Ich weiß …« Fongerreilson flüsterte, schwer auf ihrer Schulter liegend: »Mein Leben war kurz. Aber es war glücklich. Ich habe Sigurd geliebt. Die Welt war zu schwierig für mich. Alles ist so leicht geworden …« Sie zog stöhnend die Luft ein und starb. Ein Zittern durchlief ihren Körper, und sie glitt aus Thalias Armen. Thalia ließ sie langsam in das staubige Gras sinken und sah, wie die Augen der jun gen Frau brachen. Langsam, wie betäubt, stand sie auf und sah voller Verwunderung, daß sich noch immer kein Blut und keinerlei Spuren der tödlichen Verletzungen zeigten. Betäubt und voll schwarzer Trauer lehnte sich Thalia an die Wand und weinte. Dann ging sie schweigend und völlig wie von Sinnen zum Kadaver des Giganten, zog die Khylda aus der klaffenden Wunde, schaltete die Waffe ab und ging zurück zu Sigurds Lichthaus.
26
Hans Kneifel
Bei Odin, dachte sie verzweifelt und vol ler tiefer Trauer, jetzt verlor Sigurd Fonger reilson zum zweitenmal. Wen soll ich mehr bedauern? Ihn oder die junge Frau. Sie war ein Werkzeug, ein Sklave. Die verfluchten Herren der FESTUNG! Sie merkte nicht, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen, als sie das Lichthaus wieder betrat. Sie warf die schwere Waffe achtlos irgendwohin und blieb lange neben Sigurds Lager stehen. Er schlief noch immer. Eine Stunde darauf hatte sie ein Grab aus gehoben, dicht neben dem Eingang zum Lichthaus. Fünfzehn Minuten später legte sie den letzten Stein auf Fongerreilsons Grab.
4. Lied der Seherin: Die Sonne verlischt, das Land sinkt ins Meer, vom Himmel stürzen die heiteren Sterne. Vieles weiß ich, Fernes schau ich: der Rater Schicksal, der Herrschenden Sturz … Darsior hatte sich in sein Versteck zu rückgezogen. Neben der tödlichen Falle rag ten einige riesige Bäume mit verschlunge nen und knotigen Wurzeln auf. Das weitver zweigte Wurzelwerk umschloß und umwu cherte einen Teil der riesigen, glattgewa schenen Felsplatten. Das Gebiet rund um Felsen und Bäume war eine einzige Falle. Nichts und niemand, das größer war als eine Faust, konnte sich dem Platz nähern, ohne getötet zu werden. Der Platz lud ein, ihn zu betreten; es floß auf der anderen Seite eine glasklare Quelle, und sowohl von den unter sten Ästen der Bäume als auch von den Fel sen aus hatte jeder einen hervorragenden Blick nach allen Richtungen. Nur der Dello Darsior kannte den schma len Zickzackpfad zur Quelle und die Höhle mit dem winzigen Eingang. Hier lebte er inmitten der anderen Wäch ter und Verteidiger. Unerkannt. Er war ih-
resgleichen und wechselte ständig sein Ver steck. In den dunklen Verstecken ließ es sich gut träumen. Es waren Haßträume. Haß ge gen diejenigen, die Fongerreilson geschaffen und ihm weggenommen hatten. Sie war, wie auch er, ein ganz besonderes Exemplar. Er war klüger und gerissener als alle an deren Dellos, die er kennengelernt hatte. Er war nicht auf das stumpfsinnige Befolgen von Befehlen angewiesen, sondern ent wickelte eigene Initiative und eigene Gedan ken. Deswegen war er aus der Befehlshierar chie entkommen und geflüchtet. Und deswe gen lebte er noch. Aber lebt Fongerreilson noch? Werde ich sie jemals wiedersehen? Fongerreilson und Darsior hatten zur glei chen Zeit jene unergründlichen Kammern verlassen, in denen sie alle Zeit vor dem Au genblick des Erkennens und Verstehens zu gebracht hatten. Er hatte sie schon geliebt, als noch keiner von ihnen wußte, welchen Befehlen sie zu gehorchen hatten. Vielleicht war bei ihrer Herstellung die gleiche Grundsubstanz verwendet worden, denn Darsior und Fongerreilson fühlten sich vom ersten Augenblick an zueinander hinge zogen. Sie hatte ihn geliebt; nur einige Tage lang konnten sie sich verbergen, dann holte ein Kommando von Wächtern die Frau ab. Darsior war geflüchtet und hatte sich in der ausgedehnten Grünzone versteckt. Nach einer Anzahl von Tagen kam Fon gerreilson zurück. Sie schien völlig verän dert zu sein. Sie hatte Darsior offensichtlich vergessen – trotzdem wurde sie immer wie der unsicher, wenn sie zufällig einander be gegneten. Der Haß Darsiors auf seine Her ren wuchs immer mehr, aber es gab keine Möglichkeit, sie irgendwie anzugreifen. Er wartete. Geduldig und lernend erkun dete er das Gebiet, in das er geflohen war. Er erkannte die Natur der Fallen und lernte, sie zu umgehen. Wieder verschwand Fongerreilson für ei nige Zeit. Man schien ihr eine bestimmte Reihe von Befehlen und Verhaltensmustern
Im Zeichen von Ragnarök einzubrennen. Jedesmal, wenn er sie wiedersah, war sie schöner und begehrenswerter geworden. Man stattete sie mit teurem und schwerem Schmuck aus, der die Linien ihres untadeli gen Körpers noch herausmodellierte. Selbst die stumpfen Kreaturen der Verteidiger sa hen ihr mit aufgerissenen Mäulern nach, wenn sie in ihrem weißen Umhang vorbei ging. Immer begleiteten sie einige derjeni gen Dellos, die man Gardisten nannte. Es war sinnlos, Fongerreilson in diesen Tagen ansprechen zu wollen – es hätte Darsiors Tod bedeutet, denn sie suchten ihn. Auch heute suchen sie mich, dachte er verzweifelt. Es war das letztemal, als er sie sah. Jetzt erkannte sie ihn nicht mehr. Ihr Verstand war ausgebrannt worden und mit etwas Neu em gefüllt. Wie eine Herrscherin schritt sie an ihm vorbei und wurde hier nicht mehr ge sehen. Trotzdem riß die Verbindung nicht ab. Darsior träumte jede Nacht und manch mal auch an den heißen Nachmittagen von ihr. Er wußte, daß sie lebte, solange er noch träumte. Eine unbegreifliche Schwingung schien über die unbekannte Entfernung hin weg zu funktionieren. Darsior wußte nicht genau, ob es Fongerreilson ebenso erging, aber er glaubte es, weil er es glauben wollte. Und ganz plötzlich, mitten in seinem Traum, riß ihn ein gewaltiger Schmerz in die Höhe. Er spürte, wie etwas in ihm riß oder zerstört wurde. Es war wie der Schock einer Falle, die einen Körper im Bruchteil einer Sekunde zerfetzte. Unmittelbar danach breitete sich nicht nur in seinem Verstand, sondern auch in seinem Körper eine Schwäche aus, die den Schmerz vergessen machte. Er träumte nicht mehr. Er merkte, wie eine bestimmte Menge Energie ihn verließ – oder jedenfalls glaubte er, daß es so sei. Die Erkenntnis, daß Fongerreilson etwas zugestoßen sein mußte, durchfuhr ihn als zweiten Schock. Sie stirbt!
27 Er versuchte, sich in seinem Versteck auf zurichten, aber die Lähmung hielt ihn ge packt. Ja, so mußte es sein. Die geheimnis volle Strömung über die Entfernung hinweg sagte es ihm deutlich genug und ließ es ihn fühlen. Er merkte, wie die Lebensenergie langsam den Körper seiner verschwundenen Geliebten verließ. Als ihn eine endgültige Mattigkeit über kam und alle seine Bewegungen lähmte, wußte er mit unumstößlicher Gewißheit: Fongerreilson ist tot. An irgendeinem Fleck dieses verfluchten Pthor war sie ge storben. Sie war auf grauenhafte Weise ge tötet worden. Aber sie war nicht in rasenden Schmerzen qualvoll gestorben, sondern hatte die Schwelle matt und glücklich überschrit ten. Glücklich? Der letzte Impuls, den der Dello Darsior auffangen konnte, schien nichts anderes zu bedeuten als stilles Glücklichsein. Darsior brauchte drei Tage, bis sich sein Körper wieder erholt hatte. Sein Verstand war jetzt restlos angefüllt mit tödlichem Haß auf seine Schöpfer. Er mußte warten, bis er daran denken konnte, ihnen ernsthaft zu schaden. Er würde sein Versteck immer wie der wechseln müssen, aber der Tag kam, an dem sich sein Haß entladen konnte. Ragnarök … Weltuntergang … Götter dämmerung.
* Am nächsten Morgen, noch vor Sonnen aufgang, stand Sigurd auf und merkte, daß er sich wieder bewegen konnte, ohne schrei en zu müssen. Er fühlte sich matt, aber schon spürte er, wie seine alten Kräfte zu rückkamen. Schweigend ging er ins Bad und duschte so lange, bis seine Haut prickelte und zu brennen anfing. Er entfernte den Bart und trocknete sich ab – aber wo war Fonger reilson? Im Haus war es ruhig. Die Asche im Kamin war kalt. Ratatöskr schien verschwunden zu sein. Sigurd band sich ein Tuch um die Hüften und sah, daß
28 die Energiewand des Eingangs einen Spalt breit offenstand. In der Küche trank er gierig einen Krug Saft aus, den er mit kaltem Was ser mischte, dann tappte er auf bloßen Soh len zum Eingang und befahl, daß sich der Schleier ganz zurückzöge. Die erste Helligkeit kroch über den Hori zont. Ein flüchtig vertrauter Geruch stieg in sei ne Nase. Er drehte den Kopf und sah unweit des Lichthauses eine undeutliche, riesige Masse aus Schwarz neben der Straße der Mächtigen liegen. Er konnte sich an nichts erinnern; schon gar nicht daran, was dies sein konnte, und wie es hierher gekommen war. Je näher er heranging, desto deutlicher wurde der Gestank. Es war Gruck, der schwarze Drache, mit dem Balduur und Heimdall geritten waren. Sigurd sah die ge waltige Schädelwunde und murmelte: »Heimdalls Khylda. Wie ist das mög lich?« Geier, Raben und vierfüßige Aasfresser hatten in den gewaltigen Körper tiefe Wun den und Löcher gerissen. Eine Spur winzi ger Insekten zog sich durch das Gras dahin. Einige Millionen dieser Tierchen schleppten winzige Brocken Fleisch und geronnenen Blutes mit sich. Kopfschüttelnd betrachtete Sigurd diesen gewaltigen Kadaver und ging langsam wieder zurück. »Heimdall? Und ein Kampf mit diesem Giganten? Das ist undenkbar!« sagte sich Si gurd. Er wußte, daß sein Bruder ebenso er schöpft gewesen war wie er selbst, und er hätte nicht einmal die Waffe heben können. Als Sigurd vor dem Eingang stand, fiel sein Blick auf die Steine, die einen Schritt neben der Mauer angehäuft waren. »Was …?« Ein furchtbarer Gedanke suchte ihn heim. Heimdall! Im Kampf gegen das Untier getö tet. Dann … ja! Nur Thalia war da, um Heimdall zu begraben. Er stürzte ins Licht haus hinein und schrie auf. »Thalia! Fongerreilson!« Mit riesigen Sätzen stürmte er die Treppe aufwärts. Die Frauen schliefen in der ober-
Hans Kneifel sten Ebene. Plötzlich war alle Mattigkeit be deutungslos geworden. Er hetzte über die Stufen hinauf und blieb neben der Treppe stehen. Thalia stand bereits neben ihrem La ger und hob beschwichtigend die Arme. »Das Grab!« schrie er. »Heimdall ist tot, nicht wahr?« Thalia schüttelte den Kopf und blieb dicht vor ihm stehen. Sie legte ihre Hände trö stend auf seine Schultern. »Nein. Heimdall schläft. So tief wie Bal duur. Bruder Sigurd … du hast Fongerreil son endgültig verloren.« »Nein«, sagte er. »Ich träume. Du lügst. Sage, daß es nicht wahr ist, Thalia!« »Gruck tobte um das Lichthaus. Sie woll te ihn beruhigen. Gruck tötete sie und ich tö tete den schwarzen Drachen. Sie hatte kei nen schweren Tod.« Er stierte sie an und senkte den Kopf. Si gurd sagte kein Wort. Nur in seinem Gesicht arbeitete es. »Ihre letzten Worte galten dir«, flüsterte Thalia. »Sie sagte, daß sie nicht gewußt ha be, wer sie sei. Aber eines wußte sie genau, daß du sie liebst. Und sie sagte mir, ich soll te dir berichten, daß sie niemals glücklicher war als bei dir. Dann starb sie. Wie eine Kerzenflamme.« »Du hast das Grab …?« Sigurd konnte nicht mehr weitersprechen. »Ja. Wer sonst. Wie kann ich dich trösten, Sigurd?« Er nahm ihre Hände von seinen Schultern. Thalia merkte, daß seine Finger zitterten. Si gurd schüttelte den Kopf und sagte nach ei ner Weile: »Niemand kann mich trösten. Es wird Jahrhunderte dauern, bis ich wieder eine Frau wie Fongerreilson finde. Ich will allein sein.« »Ich verstehe.« Sigurd ging schweigend die Treppe hin unter. Seine Brüder wachten nicht auf. Der Odinssohn zog einige Teile der Rüstung an, nahm die Garpa an sich und verließ das Lichthaus. Ziellos und vom Schmerz über mannt, kaum fähig, einen klaren Gedanken
Im Zeichen von Ragnarök zu fassen, wanderte er durch das Land zwi schen den Energieschleiern der FESTUNG und dem Lichthaus. Er war halb besinnungs los und wünschte nichts sehnlicher, als daß ein Gegner auftauchen möge, jemand aus der FESTUNG, mit dem er einen Kampf auf Leben und Tod ausfechten konnte. Sein Le ben schien ohne jeden Sinn zu sein.
* Nur sich selbst gestand er es ein: Seit Heimdall mit dem kleinen Truvmer davon gerollt war, fühlte er sich unruhig, verlassen und von allem bedroht. »Kröbel«, sagte er laut zu sich selbst, »das wird eine gräßliche Zeit werden. Ganz allein – und, im Vertrauen, wer braucht schon so viel heißes Wasser?« Er zuckte seine mageren Schultern und kratzte in seinem grauen, rotblonden Bart. Kröbel, der skullmanente Magier, hütete den Bunker seines Freundes Heimdall. Er hatte seit dem Augenblick, da sich das Tor hinter Heimdalls ratternder Maschine ge schlossen hatte, keine ruhige Stunde mehr gehabt. Unaufhörlich lief der kleine Mann in seiner schwarzen, mit verblichenen Symbo len seiner furchtbaren Magie bestickten Kombination treppauf, treppab und durch die endlosen Korridore des rechteckigen Bauwerks. »Die Gordys! Sie sinnen unaufhörlich nur danach, wie sie unsere Parraxynth-Teile stehlen können. Diesmal schneiden sie mir die Gurgel durch, diese Hunde.« Seine helle, keifende Stimme hallte durch die riesigen Räume und verstärkte nur noch den Eindruck der Verlassenheit. Hallen und Räume, düster und mit barba rischer Pracht eingerichtet, überall Staub und Spinnweben, geflieste Korridore, in de nen jeder Schritt vielfältige Echos hervor rief, knarrende Balken und rostende Rüstun gen, alle möglichen Waffen und Abbildun gen und zahllose Fragmente einer vergange nen Zeit. Sie würden niemals Ziel der Gordy-Angriffe sein. Kröbel warf eine
29 wuchtige Tür hinter sich zu, schob den Rie gel vor und schloß die Zuhaltungen sorgfäl tig. Das donnernde Geräusch hallte im offe nen Hof wider. »Was? Schon Abenddämmerung?« schrillte der Magier. Er war müde vom vielen Herumlaufen. Aber seit Heimdalls Start zu seinem Bruder hatte sich hier kein einziger Gordy blicken lassen. Nur Honir, der angebliche Bruder, der allerdings bald wieder gegangen war, nachdem er sich erfrischt hatte. Es war wohl wirklich der Bruder Heimdalls gewesen, von dem mancherlei Sagen und Erzählungen kursierten. Das Lettro war so gut gesichert wie noch nie. Die Schlösser und Türen aller Räume, die zur Schatzkammer führten oder in ihrer Nähe waren, hatten sie zu zweit nachgese hen, verstärkt und zugemauert. Heimdall hatte die Bruchstücke mitsamt den Verbin dungselementen in einen anderen Keller raum geschafft. Stählerne Netze befanden sich in einigen Mauern; es war eine höllische Arbeit gewe sen, diese gordysicheren Systeme anzubrin gen und die Mauern wieder zu füllen und zu tünchen. Kröbel blieb schwitzend und mit knurrendem Magen am unteren Ende einer Zickzackleiter stehen, die auf das flache Dach des Lettro führte. »Und das alles nur wegen der sklavischen FESTUNGS-Abhängigen. Verdammt sei Donkmoon!« Er wußte, daß er kaum einen ernsthaften Angriff würde abwehren können. Allerdings rechnete er nicht damit, nachdem er und Heimdall die Gordys zurückgeschlagen, ge tötet und diejenigen begraben hatten, die in den Mauern steckengeblieben waren. Oder vielleicht kamen sie trotzdem? Ihnen war grundsätzlich jede Teufelei zu zutrauen. Aufstöhnend machte sich Kröbel daran, die vielen breiten, knarrenden Spros sen zu erklettern. Auf jedem Absatz blieb er stehen und murmelte eine Verwünschung gegen die Gordys. Es waren skullmanente Zaubersprüche, denen er sehr mißtraute.
30 Schließlich erreichte er das Dach und be trachtete nachdenklich die ausgebesserten und bewehrten Stellen des Daches. Auch hier würden sie wohl nicht hereinkommen. Und selbst wenn sie es versuchten, brauch ten sie sehr lange dazu. »Warum sie derartig hartnäckig hinter den Trümmern her sind?« rätselte Kröbel und hob den Kopf. Natürlich kannte er die Sage, daß derjeni ge Pthor beherrschen würde, der alle Frag mente besaß. Aber bis es soweit war, daß die Gordys oder ihre verdammenswerten Herren der FESTUNG sämtliche Bruchteile gesam melt hatten, vergingen noch etliche Ewigkei ten. Kröbel hatte immer einen bitteren Ge schmack auf der Zunge, wenn er an die Gordys dachte. Seine Augen erfaßten die Einzelheiten ei nes überraschenden Bildes. »Ich träume!« schrie er und wischte sich über die Stirn. Von Donkmoon her näherte sich eine scheinbar endlose Karawane von Fahrzeu gen dem Lettro. Er sah den Anfang, aber kein Ende. Der erste Wagen war, dem Licht der Scheinwerfer nach zu urteilen, nur noch drei Kilometer von Lettro entfernt. Kröbel keuchte auf und schickte eine skullmanente Bannzeile hinunter, aber er sah nicht, daß der lange Zug stockte. »Ich träume doch nicht!« Er versuchte, Einzelheiten genauer zu un terscheiden. Zuerst sah er eine Reihe von of fenen Energieprallwagen, die sich nur eine Handbreit über dem glatten Metall der Stra ße der Mächtigen dahinbewegten. Sie waren voller Gordys und irgendwelchen langen Geräten, die nach hinten und nach oben her ausragten und im Scheinwerferlicht der nachfolgenden Maschinen glänzten und leuchteten. »Und überdies besitzen sie die unver schämte Frechheit, auf Heimdalls Straße zu fahren, diese Schurken!« Dahinter erkannte er, von dem kleinen Truvmer gezogen, eine Kette von einfachen kastenähnlichen Wagen. Auch sie waren
Hans Kneifel voller Männer und Geräte. Neben der Straße fuhren ebenfalls einige Fahrzeuge, die eine Menge Staub aufwirbelten. Das Tageslicht schwand jetzt schnell dahin, und Kröbel er kannte nur das, was angestrahlt wurde. Aber auch ganz fern am Horizont gab es noch Lichter und Leuchterscheinungen. »Ich habe es nicht erwartet. Sie wagen es trotzdem. Heimdall ist nicht hier – und eine gnadenlose Übermacht Gordys greift das Lettro an. Ich bin verloren!« schrie Kröbel und sprang aufgeregt auf dem Dach hin und her. Er war völlig ratlos und verzweifelt. Die Gordys schienen genau zu wissen, daß Heimdall nicht hier war und seinen Bunker verteidigen konnte. Entweder hielten sie das Lettro für leer, oder sie maßen ihm, Kröbel, keinerlei Bedeutung zu. »Aber ich werde sie mit meinen magi schen Fäusten zermalmen«, versprach er laut. Niemand hörte zu. Er rannte mit klei nen Schritten zur Leiter, kehrte wieder um und blieb an der Vorderkante des Dachauf baus stehen. Einige Fahrzeuge schleppten lange, leiter ähnliche Geräte mit sich. Auf anderen sah er stachelige Dinge, die er nur als Wurfanker deuten konnte. Viele der Gordys waren bewaffnet und steckten in einer Art Rüstung mit glänzenden Helmen. Alle Teilnehmer des langen Zuges schienen fest entschlossen zu sein, das Lettro zu stür men. Kröbel spürte echte Furcht; er würde den Besitz seines einzigen Freundes bis zum Tod verteidigen. Aber was konnte er aus richten gegen eine solch gewaltige Menge von Angreifern? »Nichts. Wenn es wenigstens regnen wür de!« kreischte er und raste die Leiter ab wärts in den Innenhof. Wenn es regnen würde, bestand eine schwache skullmanente Chance, daß Kröbel den Regen in kochendes Wasser verwandeln konnte. Aber die Aussichten für einen Re genfall ausgerechnet jetzt waren mehr als nur gering. Voller Panik blieb der Magier in der Mitte des Hofes stehen und rang die knochigen Finger.
Im Zeichen von Ragnarök »Was soll ich tun? Was kann ich tun? Was würde Heimdall tun?« jammerte er. Er drehte sich hierhin, schaute dorthin und rannte quer über den Hof in eines der Magazine. Er hatte zusammen mit Heimdall eine Menge verschiedener Abwehrwaffen vorbereitet, aber sie würden den Angriff ebenfalls nicht ernsthaft aufhalten können. Kröbel riß eine Art automatischer Armbrust aus einer Halterung und raste wie ein Wahn sinniger hinauf auf das Dach. Der Zug aus Donkmoon hatte sich bis auf einen Abstand von tausend Metern genähert. Mehrere Wagen bogen bereits von der Stra ße der Mächtigen ab und richteten ihre star ken Scheinwerfer auf das Portal des Lettro. Einige der Lichter hoben sich und blendeten Kröbel, der vor Angst und Nervosität keines klaren Gedankens mehr fähig war. »Jetzt ist Heimdall weg. Jetzt greifen sie an, diese Feiglinge. Es sind mindestens tau send!« stöhnte er. Der Zug kam näher, die vielen Wagen und Gespanne rückten auf. Aus den Wagen sprangen die Angehörigen der vielen GordyFamilien und beluden sich mit ihrer Ausrü stung. Nichts und niemand würde sie vom Sturm auf das Lettro abhalten können. »Sie werden mich töten und dann den Bunker auseinandernehmen, Quader um Quader!« stöhnte Kröbel auf. Er turnte abermals in großer Eile die Lei tern hinunter und schleppte so viele Waffen auf das Dach, wie er tragen konnte. Als er – inzwischen war es Nacht geworden, und die ersten Sterne tauchten auf und blinkten – zwischen den Zinnen nach unten blickte, sah er, daß die Gordys schnell und ohne viel Lärmen und Geschrei eine Art Kampfauf stellung einleiteten. Die Energieprallfahr zeuge und die simplen Wagen bildeten ein offenes Viereck, das sich langsam den drei Seiten des Lettro näherte. Die Hauptmacht konzentrierte sich auf das Portal. »Ich bin entschlossen!« Kröbel sprach sich selbst Mut zu. Er strich eine Strähne des fettigen Haares aus den Augen und sehnte Heimdall herbei. Aber nicht einmal dieser
31 gewaltige Kämpfer würde sein Heim gegen diese unendliche Übermacht verteidigen können. »Und er sprach immer wieder von Götterdämmerung. Das ist sie nicht, ganz ohne Zweifel.« Er riskierte keinen weiteren Abstieg zu den Magazinen, sondern baute seine küm merliche Bewaffnung auf dem Dach auf. Noch schienen die Gordys nicht fliegen zu können. Vielleicht konnte er sie wenigstens eine Zeitlang aufhalten, bis ein Wunder ge schah. Hätte er nur größere magische Fähig keiten! dachte er voll bitterer Verzweiflung. Kröbel wartete und sah immer aufgeregter zu, wie sich die Gordys anschickten das Lettro zu stürmen. Jetzt endete der Zug; es kamen nur noch zwei Nachzügler aus der Richtung der Ener giebarriere zwischen Donkmoon und dem Heimdall-Straßenabschnitt. Die schweigenden Gordys hatten ihre Wagen und Karren weitestgehend entladen. An einigen Stellen bildeten sich Keile und schoben sich schrittweise an die hochragen den Mauern heran. Es würde eine regelrech te, wenn auch kurze Belagerung werden. Viele der Fahrzeuge und eine Menge Ausrü stungsgegenstände standen und lagen auf der silbernen Straße, die im Sternenlicht und im Widerschein der vielen Lampen, Fackeln und Scheinwerfer schwach zu glühen schien. Um überhaupt etwas zu tun, montierte Kröbel die Waffen auf Dreifüße und verge wisserte sich, so gut es in der Dunkelheit ging, ob sie auch funktionieren würden. Im mer wieder sprang er nach vorn und starrte nach unten. Bisher hatte ihn noch niemand gesehen. Sie nahmen also an, daß das Lettro verwaist war. Irgendwie erinnerten sie ihn an emsige Insekten, die nur ein Vorhaben im Sinn hatten und alles taten, um dem Pro gramm zu gehorchen. Bisher, kam es Kröbel in den Sinn, hatte er sich immer wieder durch geschicktes Tak tieren, durch Notlügen und Vorwürfe durchs Leben geschwindelt. Meistens hatten seine Versuche Erfolg gehabt. Auch bei Heimdall, der es anscheinend genoß, wenn er den Göt
32 tersohn kritisierte, ihm widerwillig half und ihn mit den Ausbrüchen seiner mürrischen Überlegungen und seiner vorgeblichen ma gischen Fähigkeiten in eine Art Schuldge fühl des Überlegenen hineinzwang. Aus die sem Gefühl Heimdalls resultierte sein Wohl wollen Kröbel gegenüber. Aber jetzt wurde es wieder einmal ernst! Und zwar so ernst, wie es selten gewesen war. Für den skullma nenten Magier bedeutete es nichts weniger, als daß er sein Leben riskierte bei dem Ver such, das Eigentum seines Freundes zu ver teidigen. »Nicht einmal Odin hilft mir«, brummte er verdrossen und sah wieder den Gordys zu. Aus den fünf oder sechs Keilen waren Sturmabteilungen geworden. Sie rannten im mer wieder zwischen ihren Fahrzeugen und den Mauern hin und her und schleppten tau sendfältige Ausrüstungsgegenstände mit sich. Summend schoben sich einige Leitern in die Höhe und erzeugten häßliche, schar rende Geräusche auf dem Verputz der rostroten Mauern. Kröbel hob eine Waffe hoch, die aus einem riesigen Magazin und zwei langen Rohren bestand. Er schleppte sie nach vorn und duckte sich hinter die hochgemauerten Quadern. Es war noch et was zu früh für einen Versuch der Gegen wehr. An drei verschiedenen Stellen erreichten die Leitern jetzt die Kante zwischen Mauer und Dach. Kröbel sah, wie sich einige be sonders mutige Gordys untereinander ver ständigten und dann die Leitern hochzustei gen begannen. Ein anderer Trupp, mit merk würdigen Geräten ausgerüstet, baute sich eben vor dem Portal auf. Womit Kröbel eigentlich kämpfte, wußte er nicht ganz genau. Aber er kannte wenig stens von den Waffen, die er hier heraufge bracht hatte, die Funktionsweise. Zappelnd vor Ungeduld, aber schweigend und mit zitternden Fingern und wackligen Knien, hob er die Waffe hoch und fühlte den dritten Schweißausbruch. Die zweiläufige Kanone war teuflisch schwer und unhand lich.
Hans Kneifel Als ein halbes Dutzend Gordys die erste Leiter rechts neben dem Portal erklettert hat ten, schob Kröbel mit schwitzenden Fingern die Läufe der Waffe zwischen den Zinnen hindurch und zielte auf die Angreifer. Dann drückte er den Abzug so weit hin ein, wie es möglich war. Eine Feder bewegte ein Rad. Das Rad hat te mehrere zahnartige Ausbuchtungen, die mit ihren Zapfen auf längliche Hülsen schlu gen. Es gab einen Funken, dann eine Stich flamme, die von einer Rauchwolke gefolgt wurde und ein Geschoß durch das Rohr vor wärts riß. Das Projektil fauchte mit einem irrsinnigen Kreischen abwärts, beschrieb fast eine Gerade und schlug in den Boden. Dort gab es eine donnernde Explosion, und viele gezackte Metallstücke flogen sirrend und weißglühend durch die Luft. Kaum war die erste Explosion verklun gen, jagte das zweite Geschoß aus dem an deren Rohr hinaus, fegte heulend entlang der Leiter und riß mehrere Gordys aus den Sprossen. Immer wieder gab es donnernde, hallende Detonationen. Ein gewaltiges Ge schrei breitete sich an der Stelle aus, wo die erste Leiter die Mauern berührte. Kröbel warf einen langen Blick zwischen den Zinnen hindurch nach unten und sah, daß die Leiter an zwei Stellen zu glühen be gann und sich schwer durchbog. Ein Gordy verlor den Halt, fiel nach unten und über schlug sich. Er stieß eine Reihe gellender Schreie aus. Der skullmanente Magier hastete nach links. Dort war die zweite Leiter ausge bracht worden. Wieder drückte er den langen, federnden Hebel. Schnarrend setzte sich das Rad in Bewe gung und zündete nacheinander vier Ge schosse, die heulend und jaulend aus den Rohren schossen und sich einen Weg ab wärts suchten. Sie trafen einen Prallwagen und jagten seine Trümmer in einer hallenden Detonation in die Luft, sprengten eine Grup pe von fünfzehn Gordys auseinander, defor mierten die nächste Leiter und töteten einige
Im Zeichen von Ragnarök der Angreifer, die schon die Wurfanker mit den Seilen schwangen, um das Lettro zu en tern. Kröbel sah seine Erfolge und geriet in einen Rausch der Zuversicht und Freude. Er würde sie alle besiegen, in die Flucht jagen und töten! Alle! Er brauchte weder Heimdall noch Odin dazu! Er hastete hundert Meter weit und näherte sich der Kante des anderen Gebäudes. Als er die Zinnen erreichte, klirrten die ersten Wur fanker bereits auf das Dach und wurden straff angezogen. Wieder schob er die heißen Doppelrohre schräg nach unten und drückte ab. Durch das Geschrei der beiden anderen Kampforte hin durch hörte er das gellende Pfeifen, mit dem sich eine Serie von sieben Geschossen nach unten entfernte und Tod und Vernichtung zwischen die Gordys brachte. Er war sicher, den ersten Angriff abge schlagen zu haben. Die Schmerzensschreie der Verletzten tobten um das Lettro. Er rannte, keuchend und schwitzend, wie der zurück zum Platz oberhalb des Portals und versuchte anzuwenden, was er in den letzten Minuten gelernt hatte. Er richtete die Rohre auf die Prallwagen, deren Scheinwerfer ihn blendeten und nach wie vor die Szene beleuchteten. Er erkannte endlich seinen taktischen Vorteil. Sie kamen von unten, und er feuerte von oben herab. Der Vorteil würde null und nichtig sein, wenn die Gordys einmal das Tor aufgebro chen hatten. Die folgenden Minuten glichen einem kleinen Weltuntergang. Immer wieder riß sich Kröbel zusammen und zwang sich da zu, sinnvoll zu handeln. Er feuerte gezielt das erste Magazin leer und ging dabei am Rand des Daches entlang. Die meisten Kom mandos hatten sich zurückgezogen. Er zer störte, was er traf, und dann wechselte er das Magazin aus. Die beiden Rohre waren am vorderen Ende weißglühend. »Es ist unglaublich! Ich habe sie tatsäch lich zurückgeschlagen. Und das ganz ohne Magie«, gestand er sich ein und hastete wie
33 der in die Richtung der schweren Quadern über dem Portal. Vorsichtig spähte er hinun ter. Die Scheinwerferstrahlen reichten nicht so weit hinauf. Niemand bemerkte ihn. Viel leicht glaubten sie, es gäbe mehrere Vertei diger. Plötzlich fiel es ihm wieder ein: Der Truvmer! Heimdall hatte die kleine Maschine be nutzt. Jetzt hatten die Gordys dieses Fahr zeug. Bedeutete dies, daß sie auch Heimdall hatten? Dann wußten sie also alles? Einen Augenblick lang zitterte er unter dem Ansturm der panischen Gedanken. Völ lig allein! Keine Hilfe mehr von Heimdall zu erwarten! Die Parraxynth-Bruchstücke waren verloren! Er schüttelte sich und sah den Gordys zu. Sie formierten sich erneut, nachdem die Verwundeten weggeschafft worden waren. Einige räumten die zerstörten Leitern und Katapulte zur Seite. Kröbel setzte die schwere Waffe ab und zerrte an den Haken von zwei Wurfankern. Als er die schweren Stahlteile nicht losrei ßen konnte, nahm er sein Messer und zer schnitt die dünnen, aber außerordentlich haltbaren Taue. Die Gordys schoben jetzt mehrere Wagen heran, die massive Dächer hatten. Im Schutz dieser Anlagen brachten sie lange Lanzen in Stellung, die an dicke Schläuche angeschlossen waren. Diese Zu leitungen verschwanden in den Wagen. Eine keilförmige Kolonne von etwa zehn Fahr zeugen schob sich ganz langsam auf das Portal zu. Aus der Spitze der ersten Lanze schoß plötzlich heulend und fauchend eine meterlange, blauweiße Flamme. Sie erzeugte einen heißen Luftwirbel, der Kröbel von der Dachkante vertrieb. Er fluchte, rannte nach rechts weiter und hielt wieder die beiden Rohre über die Kan te. Als er mit unsicheren Fingern den Auslö ser bewegte, schwenkte ein Scheinwerfer herum und erfaßte ihn voll. Kröbel wurde geblendet, aber er schloß die Augen und feu erte zwei heulende Geschosse ab. Sie schlu gen zwischen den hinteren Wagen der
34 Rammkolonne ein und warfen sie um. Augenblicklich schossen die Gordys auf ihn. Sie hatten ihn in den Visieren. Die Einschläge von Skerzaalbolzen ließen rund um ihn Steinsplitter von den Quadern klirren. Einige Feuerstrahlen zuckten röh rend und krachend über ihn hinweg. Eine Bombe schlug nach einer steilen Flugbahn zehn Schritte hinter ihm auf das Dach, rollte von ihm weg und detonierte. Sie schleuderte ihn mitsamt der Waffe, die er umklammert hielt, in den toten Winkel zwischen Dach und Zinnen. Das glühende Rohr versengte den Stoff der Kombination, einen Stiefel und verbrannte die Haut. Stöhnend stand er wieder auf und zog sich, halb taub von der Detonation und vol ler Staub und Schmutz, weiter nach rechts zurück. Jetzt blickte er fast parallel entlang der Mauer nach unten. Die Lanzen berührten fast die Balken und die Metallverstärkungen der Doppeltür. Wieder brach ein lautes Krei schen los, als mehrere Feuerlanzen auf ein mal losröhrten und mit ihrer furchtbaren Hit ze das Holz entzündeten. Der skullmanente Magier richtete das Doppelrohr aus, zielte und feuerte wütend zehn Geschosse ab. Sie rasten schräg hinun ter, lange Rauchschweife hinter sich herzie hend. Eine Ladung nach der anderen explo dierte und zerstörte alles, was sich in nahem Umkreis befand. Ein Meer von Flammen breitete sich aus. Die Flüssigkeit der Lan zentanks lief aus, entzündete sich augen blicklich und berührte mit feurigen Zungen das Portal. Eine gigantische Stichflamme brannte genau an der Stelle, an der Kröbel den Angriff hatte zurückschmettern wollen. »Ich habe das Richtige gewollt und das Falsche hervorgerufen«, wimmerte er auf und duckte sich. Dann rannte er zurück zur anderen Seite des Bauwerks. Dort klirrten immer mehr Wurfanker über die Kanten und bissen sich fest. Kröbel ging in Deckung und jagte Schuß um Schuß aus der schweren Waffe nach unten. Immer wieder wich er Skerzaal schüssen aus und zerstörte Scheinwerfer
Hans Kneifel ebenso wie Sturmleitern und ein Gerät, das einem riesigen Bohrer glich und sich an ei ner Stelle durch die Mauer zu fressen be gann. Der Lärm und die Schreie, die sich nach den Explosionen ausbreiteten, zeigten ihm, wie gut er gezielt hatte. Kröbel hob die Waffe hoch und starrte das leere Magazin an. »Aus.« Er stolperte bis zur Dachkante, sah einige Gordys auf einer Leiter heraufstürmen und hob das Gerät hoch über den Kopf. Dann warf er es mit aller Kraft senkrecht herunter auf die Stürmenden. Sie wurden wie reife Früchte von den Sprossen heruntergerissen und schlugen auf dem harten Boden auf. Die Leiter schwankte einen Moment, kippte dann und begrub einige hinzurennende An greifer unter sich. Kröbel fühlte, wie ihn die Anstrengungen erschöpften. Er taumelte auf die Mitte des längeren Dachabschnitts zu. Hier befand sich auf der Außenseite das Por tal, und innen führte die hölzerne Treppe in den Innenhof hinein. Der skullmanente Magier blieb stehen und blickte traurig und hoffnungslos den oberen Teil der riesigen Flamme und die Rauchwolke an. Dort brannte das Tor; durch das Brausen und Heulen der Flammen hörte er deutlich das Knistern des Holzes und das dumpfe Zerbrechen der Steinquadern. »Wenn ich doch mehr wäre als nur ein skullmanenter Magier!« schrie er voll hilflo sem Zorn und schüttelte sich. Er blieb starr stehen und schloß die Au gen. Furcht und Resignation rissen in ihm einige Barrieren nieder. Zuerst hatte er nicht glauben können, die Gordys überhaupt auf zuhalten. Jetzt suchte sein von Schreckens visionen heimgesuchter Verstand mit allen Möglichkeiten nach einem Mittel. Die Zisterne erschien vor dem inneren Auge Kröbels. Ein runder Turm, fest in dem Gemäuer des Bunkers integriert, voll von eiskaltem und frischem Tiefenwasser. Binnen kurzer Zeit konnte Kröbel dieses Wasser zum Ko chen bringen. Er streckte in einer hilflosen
Im Zeichen von Ragnarök Geste die Hände in die Richtung der Zister ne aus und fühlte den würgenden Griff der Angst. Er war halb besinnungslos, weil es für ihn nicht einmal den Gedanken der Flucht gab. Ausweglosigkeit und der Schrei nach Hilfe, nach Rettung, beherrschten ihn. Unsichtbare Kraftlinien schienen sich zwischen den zitternden, schweißnassen Fingern und der Zisterne zu spannen. Kröbel hatte eine Vision, die seinem überlasteten Verstand entsprang: Das Wasser der Zisterne begann zu ko chen und verwandelte sich in Dampf. Der Dampf entwich pfeifend und heulend durch mancherlei Öffnungen und verdickte sich über der Zisterne zu einer runden, wei ßen Wolke, die immer mehr anwuchs und anschwoll und schwer über dem Lettro hing. Binnen weniger Minuten verwandelte sich der Inhalt des riesigen Behälters in Dampf. Die Wolke trieb schwerfällig quer über das Dach und vermischte sich mit dem Rauch der großen, heulenden Flamme. Schlagartig verwandelte sich der Dampf zurück in kochendes Wasser. Einige hundert Tonnen des erhitzten Wassers ergossen sich über das Dach, über die brennenden Portale und in die Flammen. Mehrere Dutzend Gordys wurden verbrüht und geblendet. Abermals wurde aus Wasser weißer und schwarzgefärbter Dampf. Die Flügel des Portals hörten schlagartig zu brennen auf. Mit einem gewaltigen Zischen erloschen sämtliche Flammen, und eine Gaswolke stieg kreisend in den Nachthimmel. Dann breitete sich eine Stille aus, die un wirklich war. In Kröbels Ohren summte und heulte es. Er verdrehte die Augen und griff an sein Herz, dann brach er auf dem nassen Dach zusammen und rührte sich nicht mehr.
* Die Stille weckte ihn. Er hob den Kopf und versuchte festzustel len, wo er war, und was geschehen sein
35 mußte. Wie lange war er hier gelegen? Er betastete seine Kleidung und fühlte, daß sie troff. Als er sich auf beide Hände erhob und sich dann auf die zitternden Knie stemmte, hörte er einen einzigen, gellenden Entset zensschrei aus einer Unzahl Kehlen. »Wer … hat … geschrien …?« flüsterte er. Der Schwächeanfall ließ ihn zittern, aber die Neugierde siegte. Er kam auf die Beine und taumelte wie betrunken auf die Zinnen zu. Er war durch näßt. Durchnäßt? Woher? Er kam in einzelnen Schüben zu sich. Das Dach vor ihm war übersät von Trümmern al ler Art. Über allem lag eine dicke Schicht Ruß und Ascheflocken, mit dem Wasser zu einer schmierigen Paste vermengt. Er rutsch te aus und fiel zweimal schmerzhaft auf die Hände und die Knie. »Der Brand! Das Portal! Alles ist durch näßt …« Er verstand nichts mehr. Als er über die Zinnen hinweg nach unten sehen konnte, bot sich ihm ein Schauspiel, das ihn noch zu sätzlich verwirrte. Die Gordys flüchteten in hellen Scharen. Einige hatten Verwundete auf den Schultern, andere sprangen auf über lastete Prallfahrzeuge, wieder andere ver suchten, die Gespanne umzudrehen. Sie rannten alle in die Richtung Donkmoons. Die Stille wurde durchbrochen von ihren Angstschreien, dem Trappeln unzähliger Fü ße und einem tiefen, unbegreiflichen Dröh nen, das aus der Erde zu kommen schien. Kröbel hob den Kopf und sah abermals, daß die Straße der Mächtigen zu vibrieren begann. Rechts und links von ihr erhoben sich dicke Staubwolken und hüllten die flie henden Gordys ein. Die Erschütterungen des Bodens und des breiten Metallbandes waren bis hierher zu spüren. »Wieder ein Zeichen! Ragnarök kommt also doch, wie Heimdall mir sagte«, rätselte der Magier. Dann erst begriff er langsam, daß es offensichtlich seine Zauberkräfte ge wesen waren, die das Feuer gelöscht hatten. Wie war das geschehen? Die Erschütterungen wurden heftiger. Die
36 Straße schien sich vom Boden abzuheben und in der Luft zu schweben. Gleichzeitig dröhnte das rätselhafte Metall immer wieder in krachenden Schlägen auf seine Unterlage zurück. Die letzten Gordys flüchteten jetzt aus der Nähe des Lettros. Die Verwundeten, die man liegengelassen hatte, krochen schreiend hinter ihnen her. Einige Fahrzeuge rasten in halsbrecherischem Tempo neben dem Metallband auf Donkmoon zu. Dann leitete sich ein neues Phänomen ein. »Die Straße …! Sie beginnt zu leuchten und zu glühen! Das Ende kommt, das Ende der FESTUNG!« schrie der Magier begei stert. Das Metall verhielt sich wie Eisen in der Esse. Zuerst wurde es dunkelrot, fast schwarz. Dann wechselte die Farbe über die gesamte Länge des metallenen Pfades, den Kröbel überblicken konnte, ins Hellrote über. Je heller die Straße glühte, desto hekti scher wurde die Flucht der Gordys. Kröbel stand starr und gebannt auf dem Dach und drehte langsam den Kopf. Kurze Zeit später leuchtete die Straße hel ler als ein Feuer. Kröbel blickte nach Südosten. Er glaubte, den gesamten Straßenab schnitt bis hinunter nach Zbohr überblicken zu können, aber dann ahnte er, daß ein Teil der auffallenden Lichterscheinung eine Spie gelung sein mußte, denn er sah auch weit am Horizont das Stück zwischen den Zwillings städten Zbahn und Zbohr, das keiner der Göttersöhne beherrschte. Langsam drehte er sich herum und starrte nach Norden. Der ferne Glanz der Stadt Donkmoon wurde überlagert von dem strah lenden Band der Straße, das sich nach Osten fortsetzte und in Aghmonth endete. Jeder Bewohner dieses Teiles von Pthor mußte dieses Leuchten erkennen können. Auch Sigurd würde es sehen, und wenn seine Brüder bei ihm waren, dann sahen sie es auch. An allen Straßenabschnitten, von Wolter haven ausgehend bis vorbei an der FE STUNG und bis zum äußersten östlichen
Hans Kneifel Zipfel der Landmasse glühte jetzt die Straße der Mächtigen. »Das muß ein Zeichen sein!« murmelte Kröbel. Lange blieb er regungslos stehen und sah dieser wunderbaren Erscheinung zu. Die Ru he kehrte wieder ein, denn die Geräusche der flüchtenden Gordys waren durch die Entfernung unhörbar geworden. Kurz vor ihrem Ziel waren sie abermals vertrieben worden! Und wenn die Zeichen stimmten, dann würde sich niemals wieder jemand an den Göttersöhnen zu vergreifen versuchen. We der die Gordys noch sonst ein Angehöriger der verschiedenen Gruppen auf Pthor. »Und ich, Kröbel, der skullmanente Ma gier, bin der Freund des mächtigen Heim dall!« sagte er stolz. Die Straße der Mächtigen leuchtete und vibrierte noch immer. Kröbel konnte sich an diesem herrlichen Bild nicht sattsehen und vergaß seine Erschöpfung ebenso wie seine Verwunderung über das Erscheinen einer gewaltigen Wassermasse, die alle Brände gelöscht hatte. Langsam ging er schließlich zur Treppe und stieg mit schwachen Knien hinunter. Als er im Zentrum des Innenhofs stand, überkam ihn die Erkenntnis. Ich habe den Brand gelöscht! Ich habe keine Vision gehabt, sondern tatsächlich das Wasser aus der Zisterne ver dampft und die große Wolke wieder entla den! Ich bin wirklich der größte skullmanen te Magier! Ich schaffe noch ganz andere Wunder! Kröbel war ungemein stolz auf seine Lei stung. Aber als er schließlich in seiner Kammer erschöpft auf das Lager sank und in tiefen Schlaf zu versinken begann, dämmerte ihm auch die Erkenntnis, daß dieser Ausdruck seiner weitreichenden magischen Fähigkei ten einmalig war und ein Einzelfall bleiben würde. Trotzdem blieb sein Stolz: Er hatte das Lettro und damit die Parraxynth-Bruch
Im Zeichen von Ragnarök
37
stücke gerettet. Zufrieden schlief er ein.
Aber dazu brauchten sie die unmittelbare Nähe. Sowohl mit den krächzenden Stim men als auch mit verschiedenen Bewegun gen ihrer Flügel und der Köpfe verständig ten sie sich miteinander. Im Augenblick gab es nichts, worüber sie zu »sprechen« hatten. Munin starrte nach unten. Im Licht des Mondes und der Sterne lag das schimmernde Silberband unter dem Raben Odins. Sein Verstand arbeitete schnell. Er ahnte, daß in kurzer Zeit gewaltige Änderungen auf Pthor stattfinden würden. Es war wichtig, diese In formationen zu besitzen und die Göttersöhne davon zu verständigen. Ganz plötzlich erschrak Munin. In der fahlen Dunkelheit unter ihm zeich nete sich eine langgezogene, schwarzrote Li nie ab. Munin klappte die Flügel zusammen und leitete einen Sturzflug ein. Nach einigen Sekunden begriff er, daß er mehr Übersicht haben würde, wenn er höher flog. Er breitete seine Schwingen wieder aus und sah zu, wie die Linie heller zu leuchten begann, immer heller und immer intensiver. Er begriff: Es war der Abschnitt der »Straße der Mächti gen« zwischen Wolterhaven und Orxeya. Im ersten Drittel lag das bergähnliche Haus, das Balduur bewohnte. Jetzt mußte es leer sein. Munin riskierte es, nachzusehen. In der Schwärze der Nacht schwankte er hin und her und schoß in einem Sturzflug nach unten. Die Luft rauschte durch die Schwungfedern seiner schwarzen Flügel. Munin raste schräg auf das bergartige Haus Balduurs zu, fing sich hundert Meter über dem Boden wieder ab und zog eine Reihe von Kreisen um die Bäume und Büsche des kleinen Wäldchens, das zwischen dem leuchtenden Band und dem Eingang wu cherte. Es gab nicht die geringsten Anzeichen da für, daß Balduur sich hier befand. Munin sah, daß das Metallband heller und intensiver glühte. Gleichzeitig sah und spür te er die starken Erschütterungen, mit denen sich die Straße bewegte. Er wußte nicht, aus welchem Grund die Straße leuchtete und strahlte, aber er erkannte das Zeichen. Es
5. Hugin, der »Denker« und Munin, der »Erinnerer«, waren die beiden sagenhaften Raben des Göttervaters Odin. Sie saßen auf seinen Schultern und berichteten ihm alles, was sie sahen. Munin wußte selbst nicht, wie alt er war. Er hielt sich für so alt wie die Welt, die er kannte. Diese Welt hieß Pthor, und sie wur de von Fremden auch Atlantis genannt. Mu nin kannte jeden Winkel dieser Welt. Nur das Gebiet innerhalb der Energieschleier und wände, die sogenannte FESTUNG, kannte er nicht. Nicht mehr. Früher, vor un denkbar langer Zeit, hatte er sie gekannt. Jetzt schienen er und Hugin vergessen zu haben, wie es dort aussah. Es war Nacht, und beide Raben flogen. Ir gendwo dort in der Dunkelheit breitete Hu gin seine schwarzen Schwingen aus und ver suchte, wie Munin, alle interessantesten Ein zelheiten dieser entscheidenden Nacht ken nenzulernen, zu sehen und zu analysieren. Je mehr Informationen sie besaßen, desto mehr konnten sie den Söhnen Odins helfen. Die schwarzen Raben flogen so hoch, wie es ihre Natur und die Abgrenzungen um Pthor gestatteten. Ihre Augen waren scharf, und da sie alles kannten, fiel es ihnen leich ter, alles zu sehen. Sie wußten, wonach sie zu suchen hatten. Munin schwebte langsam und lautlos zwi schen den Sternen von Wolterhaven auf Bal duurs Haus zu. Die Nacht war mild, aber in der Luft lag eine Spannung wie unmittelbar vor dem Ausbruch eines Gewitters. Munin wußte, daß Balduur mit einem Yassel fort geritten war. Die Raben hatten die Brüder benachrichtigt. Jetzt kontrollierten sie, ob ihr Auftrag auch zu dem erwarteten Erfolg ge führt hatte. Hugin und Munin konnten sich perfekt verständigen.
38 war etwas Wichtiges im Gang. Mit langsamen Flügelschlägen schraubte sich der Rabe aufwärts und steuerte die Po sition Hugins an. Je höher er stieg, desto deutlicher sah er das Leuchten. Die Straße glühte nicht nur von Wolterhaven bis zu Balduurs Heim, sondern darüber hinaus auch eindeutig bis Orxeya und bis nach Zbahn. Die fast gerade Bahn deutete nach Osten. In der Dunkelheit und der warmen Finsternis wartete Hugin. Was ist von dieser Erscheinung zu hal ten? Die Stimme des anderen Raben kam krächzend aus der Schwärze. Die Straße der Mächtigen ist in der letz ten Zeit mehrmals in Bewegung geraten. Aber dieses strahlende, auffällige Leuchten bedeutet, daß der herrschende Zustand be endet wird. Götterdämmerung? Ragnarök? Kampf der Odinssöhne gegen die FESTUNG? Ja. Durchaus wahrscheinlich. Sie spürten sich, aber sie sahen sich nicht. In der Nacht schwebten sie nebeneinander her nach Osten. Genau zwischen ihnen war in großer Tiefe das gekurvte, leuchtende Band. Die Raben besaßen weitergehende In formationen. Sie wußten, daß ein neuer Ab schnitt in der Geschichte Pthors beginnen würde. Hast du die Lücken und Spalten in der Energiemauer um die FESTUNG erspäht? Ihr Flug wurde schneller. Sie bewegten nur selten die Schwingen und ließen sich in einer sanft abfallenden Linie durch die Luft tragen. Die dunklen Gebiete mit ihren Schat ten und den vom Sternenlicht schwach er hellten Ebenen rasten unter ihnen nach hin ten. Nicht alle. Denkst du, daß unsere Freun de jetzt schon aufbrechen werden? Schon bald. Sie werden die Zeichen richtig deuten? Ganz sicher. Und wir helfen ihnen. Also: weiter über Donkmoon und zu Sigurds Lichthaus. So schnell wie möglich. Es ist wenig Zeit!
Hans Kneifel Hugin und Munin krächzten sich zu und flogen geradeaus weiter. Sie brauchten sich nicht zu orientieren; das grelle Leuchten wies ihnen den Weg. Stundenlang glitten sie abwärts und schraubten sich wieder hinauf, schlugen abermals eine fallende Linie ein und gerieten dann in einen warmen Auf wind, der sie ohne eigenes Zutun höher hin aufhob. Über ihnen waren Sterne und Mond eines fremden Himmels. Und beide Raben ahnten, daß sich bald die Konstellationen ändern würden, daß die Sterne verschwan den, daß alles anders werden würde.
* In der Abenddämmerung erwachte er. Es hatte keinen Kampf gegeben. Er war bis zur Erschöpfung zwischen den Felsen und Bäumen entlanggerannt, hatte sich in einen kleinen See geworfen und war wie ein Rasender die Hänge kleiner Hügel hinauf und hinunter gelaufen. Irgendwann hatte ihn die Erschöpfung gepackt und seine schwar zen Gedanken abgelenkt. In einem riesigen Bogen war er wieder nach Süden zurückge stolpert und schließlich zusammengebro chen. Jetzt blickte sich Sigurd um und sah weit voraus den Würfel des strahlenden Hauses. »Meine Schwester … und die Brüder. Sie werden warten. Und immer wieder diese furchtbaren Gedanken.« Aus tiefster Trauer um Fongerreilson und die verlorene Liebe war abgrundtiefer Haß gegen alle geworden, die sich ihm entgegen stellten, an erster Stelle natürlich die Herren der FESTUNG. Was hatte Odin gesagt: Eure Stellung im neuen Pthor hängt davon ab, was ihr selbst daraus macht. »An mir soll es nicht liegen, Vater!« schwor er und stand auf. Das lähmende Ge fühl in seinen Muskeln war verflogen, als habe das wilde Rennen während des Tages alle Müdigkeit aus dem Körper vertrieben. Sigurd fühlte sich wieder stark und kräftig. Er erreichte das Lichthaus, als die Sonne versunken war und sich der Himmel
Im Zeichen von Ragnarök schwarz färbte. Er trat ein und fand Balduur, Thalia und Heimdall am großen Tisch. Sie besserten ihre Rüstungen und Waffen aus. Vor ihnen standen Essensreste und Bier humpen. »Endlich zurück, Bruder!« sagte Heimdall ernst. »Du siehst entschlossen und wild aus!« Er ging zu ihnen und hob die Hand. »Ich bin es. Und ihr?« Thalia lächelte ihn schwach an und mein te: »Ich habe den Odin-Leuchter wieder dort hin gebracht, wo du ihn verborgen hattest. Und ich bin gerade bemüht, meine Rüstung zu verändern.« »Recht so. Neuigkeiten?« Balduur schüttelte den Kopf und berührte das Schwert. »Keine Neuigkeiten. Wir sind bereit, Odins Aufruf zu folgen. Wann werden wir die FESTUNG angreifen?« Sigurd löschte seinen Durst mit einigen tiefen Schlucken und antwortete schließlich: »Macht euch bereit. Wir brauchen nur noch ein deutliches Zeichen. Odin wird es uns schicken.« Auch er aß etwas, dann ging er daran, sei ne Rüstung durchzusehen und geringe Schä den auszubessern. Ratatöskr war verschwun den oder hatte sich versteckt, jedenfalls er füllte seine lärmende Stimme nicht wie üb lich das Innere des Lichthauses. Etwa eine Stunde lang verbrachten sie schweigend und auf die Arbeit konzentriert. Immer wieder hallten Hammerschläge auf, ertönte das Kreischen einer Feile oder das Summen des Aggregats in der Khylda. Plötzlich hob Sigurd den Kopf und stieß hervor: »Still! Was ist das … dort draußen?« Er sprang auf und eilte zum offenen Aus gang des Lichthauses. Knapp daneben hatte Thalia jetzt ihre Windrose abgestellt. Schon nach wenigen Schritten sah Sigurd, daß sich die Straße der Mächtigen wieder zu bewe gen begann. »Brüder! Das Zeichen! Kommt heraus
39 und seht selbst!« schrie Sigurd heiser durch den stärker werdenden Lärm. Dann bemerkte er durch die schnellen und hämmernden Bewegungen hindurch, wie das silberschimmernde Metall die Farbe zu verändern begann. Die Straße schien zu glü hen! Sigurd machte ein paar Schritte, kauer te sich am Rand in die Staubwolke und be rührte mit der Handfläche das Metallband. Tatsächlich! Überrascht drehte er sich um, breitete die Arme aus und schrie: »Freunde! Abermals ein Zeichen!« Die Straße schüttelte sich wie rasend. Zu gleich änderte sich die Farbe von Silber in Dunkelrot, dann in Hellrot und schließlich in goldene Weißglut. Eine ungeheure Hitze strömte von dem Metall aus. Das Glühen hatte wohl gleichzeitig überall begonnen, so daß die Odinskinder sowohl nach Osten blickend nur eine strahlende Fläche sahen, und das Band leuchtete ebenso im Westen. »Ob es nur dein Stück der Straße ist, Si gurd?« fragte Heimdall und dachte an Krö bel, der diese Erscheinung vielleicht auch erleben konnte. »Weiß ich nicht. Aber wir alle sind hier, und für uns ist es das Zeichen. Ich denke, daß alle Straßenstücke zittern und leuchten, auch Odins Stück an der Küste.« »Dann«, sagte Balduur schleppend, »ist es wohl das erhoffte Zeichen.« Über Thalia, Balduur, Sigurd und Heim dall kam wieder dieselbe starke Verzaube rung, wie sie während der Beschwörung Odins zu spüren gewesen war. »Auch ich glaube es jetzt«, sagte Thalia mit Bestimmtheit. »Es ist ein Zeichen, ob wohl ich nicht wie Sigurd so fest daran glau be, daß nur Odin Zeichen geben kann und gibt. Aber es ist der größte energetische Ausbruch dieses Wunderwerks, den wir zeit unseres Lebens mit ansehen.« »Und doch war es Odin«, sagte Sigurd be schwörend. »Schwester Thalia, meine Brü der: Wir brechen vor der Morgendämme rung auf und greifen die Herren der FE STUNG an. Wir können sicher sein, daß uns
40 die Fremden helfen. So oder so.« Balduur murmelte: »Ich glaube es nicht, bevor ich sie nicht wieder kämpfen sehe. Meinst du, daß Odin auch ihnen Ratschläge gegeben hat?« Sie gingen langsam nebeneinander auf das Lichthaus zu. Unverändert laut und ohne sichtbare Helligkeitsveränderung vibrierte und strahlte die Straße. An einigen Stellen begannen dürre Gräser und zusammenge wehtes Laub zu schwelen. Jeder der vier drehte sich immer wieder um und bewunder te das aufsehenerregende Schauspiel. »Nein. Das meine ich nicht«, erläuterte Sigurd. »Ich bin vielmehr sicher, daß Odin auf irgendeine Weise – vielleicht durch Hu gin und Munin – erfahren hat, wo sich die Fremden gerade befinden. Oder daß sie ebenfalls die FESTUNG angreifen. Ich weiß es nicht. Aber ich vertraue Odin unverbrüchlich!« »Wir tun es auch. Also: ausschlafen, satt essen, rüsten und Aufbruch nach Norden!« bestimmte Heimdall. »Ja.« »Unsere Waffen sind bereit. Nur Thalia hat Probleme mit ihrer Rüstung. Wir haben schon einige Schnallen verkürzt und Bänder geändert, aber es ist nicht die beste Rüstung daraus geworden.« Thalia versuchte zu scherzen. »Es sind nicht meine Zähne, die vor Furcht klappern, sondern es ist die Rüstung, wenn es zum Kampf kommt.« Sie dachte wieder an den weißhaarigen Fremden mit den verständnisvollen Augen und den wohlgeformten Händen; möglich, daß sie ihren Kampf irgendwann Seite an Seite fortsetzen konnten. Im Eingang des Lichthauses blieben sie wie auf Kommando stehen und drehten sich um. Bereits jetzt wirkten sie wie eine Art le bende Mauer; ihre Gesichter drückten kalte Zuversicht aus. »Noch immer glüht und zittert die Stra ße«, sagte Sigurd etwas leiser. Der Lärm drang nicht bis hierher. »Mir wäre wohler, wenn Odin an unserer
Hans Kneifel Seite kämpfen würde!« knurrte Sigurd. »Uns allen wäre wohler.« Sie gingen ins Haus und taten genau das, was sie sich vorgenommen hatten. Sigurd half seiner Schwester, aber sie schafften es nicht, die Rüstung den veränderten Umstän den anzupassen. Auf alle Fälle würde die Belästigung sich in Grenzen halten. Noch in der nächtlichen Dunkelheit weck te Sigurd Thalia und die Brüder. Sie duschten sich, nahmen ein reichhalti ges Essen zu sich und halfen sich dann ge genseitig in die Rüstungen. Balduur war zuerst fertig. Er setzte den Helm mit den weit ausladen den Hörnern auf sein blondes Haar und schloß sorgfältig die Schnalle des Kinnrie mens. Dunkelblaues Leder und stahlblaue Rüstungsteile funkelten und schimmerten. Er wünschte sich, daß Fenrir mit ihnen kämpfen würde, aber insgeheim war er über zeugt, daß der Riesenwolf verendet war. Er hängte sich den lang wallenden, hellroten Umhang über die Schultern. Die schwarz gefütterte Innenseite schlug um seine Schen kel. Der Schwertgürtel hing über seinen breiten Hüften, der Schild mit dem Bild sei nes Adlers klapperte auf der Schulter. Bal duur sagte: »Ich bin bereit, Brüder!« Auch an seinem Gürtel hing der schlichte Beutel, der Nahrungsmittel und einen klei nen Wassersack enthielt. Sigurd hatte er klärt, daß es sowohl an Wasser als auch an jagdbarem Wild und nahrhaften Früchten zwischen Lichthaus und den wallenden Energieschleiern keinen Mangel geben wür de. Während Balduur hinausstapfte und vor dem Lichthaus wartete, beendete Thalia ihre letzten Vorbereitungen. Ihr Gesicht verschwand unter dem Helm mit den doppelten Zackenkämmen. Der rie sige Stein über der Stirn leuchtete funkelnd rot. Sie zog die Stulphandschuhe über und ergriff die Vars-Kugel. Die Kette klirrte lei se, und als sich Thalia umdrehte und Sigurd anblickte, entdeckte sie wieder die Ähnlich
Im Zeichen von Ragnarök keit mit dem Fremden, die ihr damals blitz artig aufgefallen war. »Auch ich bin fertig. Die Windrose«, sag te sie hinter dem Mundgitter hervor mit ver änderter Stimme, »lassen wir hier? Sie trägt nicht alle von uns.« »Ich bin einverstanden. Sie wird uns im Kampf nicht entscheidend helfen können«, erklärte Heimdall. Sigurd nahm seine seltsame Waffe, halb Schwert und halb Hellebarde, in beide Hän de und warf einen langen Blick rundum über das Innere seines Lichthauses. Der Energie vorhang war geöffnet; noch herrschte drau ßen das Dunkel der Nacht. Aber das Glühen und Zittern der Straße hatte längst aufgehört. »Ich sehe Ratatöskr nicht. Er scheint ver schwunden zu sein.« »Es gibt sicher eine winzige Öffnung im Lichthaus, die er kennt?« fragte Heimdall. »Ja, natürlich. Er wird nicht verhungern.« Thalia stapfte mit klirrender Rüstung hin aus und blieb neben Balduur stehen, um auf Sigurd und Heimdall zu warten. Es waren einige Tagesmärsche bis zur FESTUNG. Besonders die schweren Rü stungen würden das Tempo mindern. Und wenn sich ihnen jemand entgegenstellte, dann dauerte der Marsch abermals länger. Sigurd und Heimdall kamen nebeneinan der heraus. Auch sie waren vollkommen ge rüstet und schwangen ihre Waffen; die Khylda und die breitschneidige Garpa. Hin ter Sigurd schloß sich lautlos der Vorhang aus schimmernder Energie. Das Leuchten des Lichthauses war für sie wie ein Rich tungsfeuer, als sie in der ersten Dämmerung nach Norden gingen. Seite an Seite, mit schnellen und weiten Schritten, die Waffen in beiden Händen und mit scharfen Augen unter den Helmen.
* Tau troff von den Gräsern. Die vier Kämpfer hinterließen eine breite Spur. Sie führte geradewegs auf die FESTUNG zu, auf die wallenden Energienebel davor. Sie
41 standen als Zeichen der ausschließlichen Macht zwischen Pthor und den Herren der unbekannten FESTUNG dahinter. »Sie werden uns erwarten!« sagte Sigurd, als sie eine Stunde lang geradeaus gegangen waren. »Mit ziemlich großer Sicherheit. Viel leicht schicken sie uns ihre Kämpfer entge gen«, rief Heimdall und stapfte weiter. Es war kühl und die feuchten Gräser ro chen stark. Im Osten schwand die Schwärze der Nacht und machte einem ersten grauen Streifen Platz. »Kämpfer? Sie haben andere Möglichkei ten!« bemerkte Balduur düster. Das Gehen strengte sie nicht an. Sie wa ren körperliche Anstrengungen gewöhnt. Sie warteten förmlich darauf, daß sich ihnen je mand entgegenstellte. Sie gingen schwei gend weiter und sahen ununterbrochen die Energiewände vor sich, die sich drehten und zu kochen schienen und ihre Strukturen in fahlen Farben abwechselten. Thalia blieb an einem Felsen stehen und deutete auf die Energienebel. »Sie haben alle Möglichkeiten. Bisher ha ben sie es vorgezogen, mit uns in bewaffne tem Frieden zu leben. Seit sie wissen, daß wir sie angreifen, ist es damit endgültig vor bei.« »Unsere Schwester hat recht«, bemerkte Sigurd. »Sie wissen jetzt, daß wir nur noch ihren Untergang im Sinn haben.« Sie kamen der Grenze immer näher, aber es würde noch lange dauern, bis sie wirklich unmittelbar vor dieser Trennwand standen. Weit vor ihnen schien über dem Gras und den Bäumen eine echte Nebelwolke zu schweben. Ihre vagen Konturen glitzerten in einem ersten Strahl Helligkeit aus Osten. »Was ist das?« »Frühnebel«, sagte Balduur. »Das gibt es häufig. Er verfliegt, wenn die Sonnenstrahlen ihn erwärmen.« Moosteppiche und schwammiger Grund dämpften ihre Schritte. Die ersten Vögel zwitscherten in den Büschen; von den Bäu men fielen einzelne Tropfen. An diesem
42 Morgen änderte sich jedoch das Wetter, we nigstens in dem kleinen Abschnitt zwischen südlicher Küste und FESTUNG. Von Osten zog eine langgestreckte, niedrighängende Wolke auf. Der Nebelschleier dort vorn schien sich zu vergrößern und auszudehnen. Die vier Kinder Odins gingen jetzt über einen Streifen Land, der ziemlich flach war und von zwei niedrigen Hügelketten rechts und links begrenzt war. Es gab keine Unruhe unter ihnen. Sie hat ten keine Furcht. Jeder von ihnen war un sterblich, aber er konnte getötet werden. Der Punkt, an dem jedes Warten verwerflich war, schien erreicht. Keiner von ihnen wür de flüchten oder zurückgehen. Sie würden in die FESTUNG eindringen oder bei dem Versuch sterben. Dies verlangte die Götter dämmerung von ihnen. Sie brauchten dar über nicht mehr zu reden – alles stand fest. Und wer sich ihnen entgegenstellte, wur de vernichtet. Es gab keine besseren Kämpfer als sie, Thalia eingeschlossen. »Diese Nebelwolke macht mich unruhig«, sagte Sigurd nach zweihundert Schritten. »Sie wächst, anstatt sich aufzulösen.« Von Osten her breiteten sich die ersten Sonnenstrahlen aus. Das Land veränderte beim Anbruch des Tageslichts abermals sein Aussehen und seinen Charakter. Lange schwarze Schatten legten sich über Gräser, Moose und Buschwerk. Die Spitzen einiger Erhebungen leuchteten plötzlich auf wie flüssiges Gold. Auch die Nebelwolke wurde deutlicher, ihre Konturen veränderten sich. Sie wuchs ganz langsam in die Höhe und bauschte sich in der Mitte aus. Noch immer glitzerte und funkelte sie, als bestünde sie aus vielen winzigen Kristallen. Besaß sie ein eigenes Leben? »Wir sind in einer halben Stunde dort, wo sich die Wolke erhebt. Es ist die ›Ebene der Gerippe‹; so nenne ich dieses Gebiet. Nahe dabei ist ein kleines Moor, und dort hebt sich der Nebel«, erläuterte Sigurd. Dreißig Minuten lang geschah nichts oder nicht viel.
Hans Kneifel Es wurde wärmer, der Tau verdunstete, und mehr und mehr Tier und Vogelstimmen waren zu hören. Die Wolke, von Osten her ankriechend, wurde größer und bekam schwefelfarbene Ränder. Sie war schwarz und nahm schon jetzt ein gutes Drittel des Horizonts ein. Schließlich traten die Odinskinder zwi schen den moosbedeckten, knorrigen Stäm men uralter und verwitterter Bäume hin durch, die mehr Steinen glichen als hartem Holz. Wilde Tiere hatten ihre Spuren in dem von Wurzelwerk durchzogenen Boden hin terlassen. Weiße, fahl leuchtende Pilze wuchsen unter den Bäumen und zerplatzten unter der Stiefeln der Kämpfer. Ein stechender Geruch begann sich auszubreiten. Vor ihnen lag die Ebene der Gerippe. Eine Flä che aus Sand, vollkommen eben, der Durch messer betrug hundert Meter oder etwas mehr. Der Sand war eingebettet in abge schliffene Felsen. »Woher kommen die Knochen?« fragte Thalia. Sie blieben im Schatten stehen, nahmen die Helme ab und wischten den Schweiß und die Nadeln der Bäume von den Gesich tern. Gerippe aller Art und jeder Größe lagen auf dem Sand oder waren halb vom feinen weißen Sand bedeckt. Überall schienen die knöchernen Schädel unbekannter Tiere oder Wesen sich zu drehen und die vier Störer der Stille anzustarren, aus schwarzen, großen Augenhöhlen, in denen giftige Käfer oder Feuersalamander nisteten. Die Knochen, jetzt von den stechenden Strahlen der Sonne getroffen, begannen zu knacken und zu kni stern. Letzte Reste von Sehnen und Muskeln dehnten und zogen sich zusammen und be wegten diese Unzahl von ausgebleichten Knochen, Rippen, Wirbelsäulen und Becken. »Ich weiß nicht. Sie waren hier, ehe das Lichthaus stand. Es kommen immer neue hinzu.« Sigurd setzte den Helm wieder auf. Es war schwül geworden. Die Kühle des Mor
Im Zeichen von Ragnarök gens war dahin, jene gräßlich aussehende Wolke schien feuchte Hitze mit sich zu brin gen. Von hier aus war nur ein geringer Teil der Nebelwolke zu sehen, aber Heimdall spähte wachsam nach vorn und sagte schließlich mit seiner tiefen, heiseren Stimme: »Diese Wolke atmet Gefahr aus. Es ist ein Geschöpf der Herren der FESTUNG!« Fast gleichzeitig traten sie einen Schritt vor und erkannten, daß der Bruder richtig vermutet hatte. Die Wolke hatte sich kon densiert und war kompakt geworden. Vor ihnen ragten aus dem Sumpf hinter dem Meer der Knochen und Gebeine zwei säu lenartige Beine hoch, die in einen dicken Rumpf übergingen. Dies war deutlich zu er kennen. Abermals ein Schritt. Der Rumpf war groß und tonnenförmig. Auf ihm saß ein kantiger Schädel ohne deut liche Konturen. Dort, wo bei Pthorern ein Gesicht war, bewegte sich die Wolke unauf hörlich und bildete schauerliche, einander ständig abwechselnde Formen. Knollige Na sen, schiefe Augen und ein Rachen, der in ununterbrochenem Wechsel einmal zornig, dann grinsend, schließlich niedergeschlagen oder ganz anders aussah. Zwei mächtige Ar me hingen bis über die Kniegegend der Beine herunter. »Zehnmal so hoch wie ein Mann.« »Fünfzehnmal«, sagte Balduur und schlug Heimdall auf die Schulter, daß die Rüstung klirrte und krachte. »Die Herren der Festung schicken uns den Frostriesen. Ymir, der Frostriese, der Reifriese. Sein Finger erzeugt lähmende Kälte.« Balduur lachte. »Der Kampf wird uns warm machen. Auf, Brüder! Bezwingen wir das erste Hinder nis.« Sie sahen sich an und nickten. Dann traten sie aus dem kühlen Dunkel der Baumkronen hinaus in das grelle Licht der Sandfläche. Unter ihren Tritten splitterten Knochen und Wirbel. Die Ebene schien in Bewegung zu geraten, die Knochen bewegten sich und fie
43 len in sich zusammen. Klappernd und klickend lösten sich die Gerippe auf und schienen dabei auf die Kämpfer einzudrin gen. Die Wolke war näher gekommen und grö ßer geworden. Ihre schwarze, brodelnde Front bildete einen eindrucksvollen Hinter grund zu der glitzernden und kristallenen Gestalt Ymirs. Zwischen den gerundeten Felsen verließen die Odinskinder die Ebene und fanden sich unmittelbar am Rand des Moores. »Wir umgehen es links«, sagte Sigurd. »Dort sind die Pfade sicherer.« »Einverstanden.« Die Schwüle hatte zugenommen. Die große Wolke bedeckte nun die Hälfte des Himmels. Unter ihrem Rand strahlte die Sonne giftig gelb und riesengroß. Eine ge waltige Schwärze schien wie eine umkip pende Mauer über den vier Kämpfern zu hängen. Die Energienebel der FESTUNG waren wieder unsichtbar geworden. Kurze, harte Windstöße, die stinkende Luft mit sich brachten, schüttelten Baumkronen und die Spitzen der Gräser. Totenstille breitete sich aus, als die Kämpfer sich jenseits der Felsen nach links wandten und auf einem breiten Sandstreifen versuchten, das Moor zu umge hen. Gefahr und Angriff lagen in der Luft. Die Muskeln spannten sich, die Nerven wa ren wie elektrisiert. Das Moor zeigte sich als eine Fläche aus üppig wuchernden Gewäch sen mit schwarzen, blasenwerfenden Was serteilen dazwischen. Weiße, abgestorbene Bäume und große Äste ragten aus der Brühe auf. »Du kennst diese Gegend, Bruder Si gurd?« fragte Heimdall und hob wachsam die Khylda. Sie hinterließen im weichen Sand tiefe Spuren. Der Frostriese schien je de ihrer Bewegungen genau zu beobachten; seine Füße ragten jenseits des Moores in die Höhe, schätzungsweise zweihundert Meter entfernt. »Ziemlich gut. Ich war nicht oft hier, weil die Landschaft Tod, Verwesung und Düster nis ausstrahlt. Aber ich finde mich gut zu
44 recht. Genug Zeit hatte ich ja«, gab Sigurd zurück, der die Spitze übernommen hatte. »Du bist niemals auf Fallen oder solche Erscheinungen wie Ymir gestoßen?« wollte Thalia wissen. »Nein, niemals.« Blasen zerplatzten im schwarzen Wasser. Gluckernd kam stinkendes Gas aus der Tie fe. Zusammen mit der Schwüle des Morgens und der dräuenden schwarzen Wolke er zeugte das Moor deutliches Unbehagen in den Kindern Odins. Aber mit jedem Schritt näherten sie sich mehr und mehr dem ersten Kampf. Dann begann der Rand der Wolke die Sonnenscheibe zu verdecken, die sich über den Horizont gehoben hatte. Düsternis und graues Licht krochen über die Landschaft. Aus dem Moor wurde eine verwunschene Landschaft voller tödlicher Geheimnisse. Heimdalls Waffe begann aufdringlich zu summen. Der Frostriese hob langsam und in einer Folge merkwürdiger Rucke und Bewe gungen seine Arme. Sie schienen bis in die Wolken zu reichen. Dieses nebelhafte Ge schöpf bewegte sich unaufhörlich, nur seine Beine standen unverrückbar fest. Ein erster eiskalter Windstoß heulte heran und ließ sämtliche Pflanzen kurz und heftig aufrau schen. »Es beginnt. Die Herren der FESTUNG rufen ihre Heere zusammen«, sagte Balduur grimmig. »Noch nicht. Ich denke, sie werden Natur gewalten gegen uns einsetzen. Blitze und Sturm. Wasser und Feuer. Wir entkommen ihnen allen.« Thalia schwieg und sah, daß sie knapp die Hälfte des Moores umrundet hatten und wie der ihre Richtung ändern konnten. Aber Si gurd führte sie geradeaus weiter. Der Rand der stinkenden und gurgelnden Wasserfläche verschwand langsam hinter Büschen und ge waltigen Teilen abgestorbener Baumstäm me. Drohend ragte links von ihnen der Frostriese in die Luft. Seine hochgestreckten Arme schienen mit der schwarzen Wolke zu verschmelzen, die jetzt die Kämpfer fast
Hans Kneifel völlig eingehüllt hatte. Nur hin und wieder zuckte ein einzelner Sonnenstrahl durch die Finsternis. Die Vo gelstimmen waren unhörbar geworden. Die Geräusche aus dem Moor blieben zurück und verschmolzen mit der intensiven und la stenden Stille, die sich über alles legte. Die Schritte der Odinskinder waren die einzigen Geräusche. Die Natur lag da wie unter ei nem nassen Leichentuch. Dann fing hoch über ihnen ein schneidendes Sausen an. Aus der Wolke fielen einige Bahnen aus Regen oder Hagel schräg zu Boden. Der letzte Son nenstrahl wurde von der Düsternis ver schluckt. Alles wurde grau und neblig. »Es gilt, Brüder!« donnerte Heimdall. »Schneller!« Sigurd begann zu laufen. Es gab noch im mer keinen echten Gegner, obwohl sich rund um sie die Gefahren zusammenbrauten. Der erste Sturmstoß heulte heran. Er wirbelte Blätter, Grasfetzen und Staub mit sich und warf die Körper zur Seite, als er sie traf. Die langstieligen Pflanzen zwischen Morast und der übrigen Landschaft legten sich unter dem Ansturm dieses Sturmes flach auf den Boden. Balduur, Heimdall und Thalia beschleu nigten ebenfalls ihre Schritte. Jetzt hüllte sie die Dunkelheit völlig ein. Ymir senkte einen Arm aus der Höhe der schwarzen Wolke und deutete auf die Kämpfer. Augenblicklich überschüttete die Wolke die vier laufenden Gestalten mit einem Schauer aus riesigen Hagelkörnern. Die Ge schosse prallten mit brutaler Gewalt gegen die Helme, die Schilde und die Panzer. Es klapperte und rasselte, und die Pflanzen wurden teilweise zerschmettert. »Der Kampf beginnt!« schrie Sigurd bei nahe begeistert. »Aber es ist kein ernsthafter Kampf«, gab Thalia durch die hämmernden Geräusche zur Antwort. Aus dem Arm des Frostriesen wuchsen einzelne Finger! Inmitten der Hagelschauer, die mit uner hörter Wucht herunterprasselten und einer seits den Boden bedeckten und durchweich
Im Zeichen von Ragnarök ten, andererseits den Himmel verdunkelten und kaum Einzelheiten mehr erkennen lie ßen, entstand einige Meter vor dem stürmen den Heimdall ein schneeweißer Fleck auf dem Boden. Reine Kälte breitete sich aus, zerstörte sämtliche Pflanzen und alles Leben und erzeugte binnen einiger Augenblicke ei ne spiegelnde Schicht aus Eis und klirrender Kälte auf dem Boden. Sigurd stob mit glei tenden Schritten darüber hinweg. Wieder deutete der Frostriese auf einen der Kämpfer. Diesmal war es Balduur, der hinter Sigurd durch das Inferno rannte. Die Wolke reagierte augenblicklich. Ein Blitz zuckte herunter und spaltete einen längst verdorrten Baum. Hinter dem Blitz krachte ein betäubender Donnerschlag fast im selben Sekundenbruchteil und mach te sie alle taub. Dann regnete es Eiszapfen, die wie kleine Dolche senkrecht herunter schossen, sich in den Boden bohrten, auf die Rüstungen schlugen oder in die Spalten zwi schen den einzelnen Schuppen oder Platten drangen. Das Gesicht des Eisriesen schien in die sem Augenblick zu lachen; die brodelnden Formen erstarrten für einen Moment. Dann waren auch Thalia und Heimdall durch die ses Bombardement hindurch und rutschten auf dem Eisfleck hin und her. Thalia über schlug sich und krachte zu Boden, aber Heimdall, der ihr folgte, riß sie mit einer kraftvollen Bewegung wieder auf die Beine und zog sie mit sich. Der nächste Angriff! Die Wolke wurde von der zweiten Hand des Eisriesen berührt. Sofort begann sie nicht nur einen höllisch heulenden Sturm stoß zu produzieren, sondern einen Schnee wirbel und eine Ausschüttung von Eisna deln, die in wilden Spiralen zur Erde herun terrasten und die vier Wanderer einhüllten. Sie sahen nichts anderes als an ihnen vorbei huschende weiße Reflexe. Gleichzeitig brei tete sich Kälte aus, nicht nur über den run den Flächen des knirschenden Eises. Sie waren innerhalb von einigen Sekun den geblendet und desorientiert.
45 Der Sturm riß und rüttelte an ihnen. Schnee und Eisbrocken flogen von allen Richtungen auf sie zu. Die Umgebung war nicht mehr zu erkennen. Der Sturmstoß warf Thalia und Sigurd um, aber die beiden ande ren Göttersöhne packten im dichten Schnee gestöber die Gürtel der Fallenden und hiel ten sie fest. Erbarmungslos hämmerten die Eisspitzen gegen die Rüstung. Zwar gab es kaum Ver letzungen, aber die ungeschützten Teile der Körper begannen zu frieren, und jeder Ein schlag schmerzte mehr und mehr, wenn er die eiskalte Haut traf. Die Kinder Odins drängten sich zusammen und versuchten, sich mit Schilden und Umhängen so gut zu schützen, wie es ging. »Weitergehen ist Selbstmord!« schrie Balduur. »Wir würden in den Morast fallen und er sticken!« gab Heimdall zurück. »Genau das will unser Gegner!« schloß Thalia und fiel schwer gegen Balduurs Brust. Das Chaos dauerte mindestens zehn Mi nuten lang. Dann hörten Sturmgeheul und Schneefall mit überraschender Plötzlichkeit auf. Die Dunkelheit blieb; die schwarze Wolke mit den schwefligen Rändern schien noch näher gekommen zu sein. Die vier Kämpfer befan den sich in ihrem Zentrum. Ringsherum hat te sich die Landschaft drastisch verändert. Überall bedeckten Hagelkörner und schmel zende Eiszacken den Boden. Auf ihnen lag eine dicke Schneeschicht. Verwirrt blinzel ten die Kämpfer. Wie weit diese Schicht reichte, war nicht genau auszumachen. »Der Frostriese! Noch immer ist er da!« Sigurd deutete auf die riesige Gestalt, die noch immer mit einer Hand in die Wolke griff und mit der anderen auf sie deutete. Das Gesicht des Riesen schien zu lachen, aber schon eine Sekunde später verzerrte es sich in maßloser Wut. »Er wird nicht weggehen. Er kann sich nicht bewegen«, rief Thalia mit klappernden Zähnen. »Würde er sich bewegen können,
46 hätte er uns längst erstickt. Wir müssen wei ter!« Alle ihre Spuren waren verweht. Es gab keinen sichtbaren Unterschied und keine Grenze zwischen Morast und Umgebung. Alles war zugedeckt und verweht. »Wohin? In welche Richtung?« fragte Heimdall lakonisch und schüttelte sich. Sie traten mit den Stiefeln einen kleinen Platz um sich herum frei. Die Schnee und Eis schicht reichte ihnen bis an die Hüften. »Dorthin, Freunde!« sagte Sigurd und deutete am Frostriesen vorbei. Ein einzeln stehender Baum bildete einen Wegweiser. »Gut. Gehen wir.« Heimdall übernahm diesmal die Spitze. Sein mächtiger Körper bewegte sich wie der eines riesigen Tieres. Schritt um Schritt bahnte er sich einen Weg durch das Eis und den Schnee. Es herrschte ein trübes, nebliges Licht, das sämtliche Konturen verwischte. Der Gegner rührte jetzt wieder seinen Kör per und vollführte mit dem einen Arm eine komplizierte, langsame Bewegung. Die Fin ger und der Arm verlängerten sich und lös ten sich auf. Sie bildeten abermals den Teil einer Wolke und ringelten sich wie ein Seil in größeren und kleineren Schleifen durch die Luft. »Vorsicht! Er zielt nach uns!« schrie Tha lia und duckte sich. Die Schlingen bestanden aus eisigen Kri stallen und beschrieben Kreise um die Kämpfer, die sich zu Boden warfen und ver suchten, den Windungen zu entkommen. Diese geheimnisvolle Waffe erzeugte in der Luft ein scharfes Sausen und Pfeifen. Heim dall sprang auf und hieb mit der Khylda da nach. Er hatte nicht mit einem Erfolg gerechnet. Aber an der Stelle, wo die summende Schneide der Streitaxt den Wolkenfortsatz berührte, zerschnitt sie ihn lautlos. Das Pfei fen hörte auf, und das große, abgetrennte Stück verwandelte sich sofort in Wasser und schwere Schneeflocken. Mit einem dumpfen Geräusch schlug die schwere Wolke in den Schnee.
Hans Kneifel Aber augenblicklich verlängerte sich der Arm abermals und bildete weitere Schleifen und Wirbel. Balduur und Sigurd hoben ihre Waffen und stellten sich Rücken an Rücken auf. Heimdall bedeutete seiner Schwester, sich zu ducken. Dann pfiff auch seine Streitaxt durch die Luft und schlug nach den weißen, schimmernden Streifen. Immer, wenn ein Stück abgeschlagen war, wuchs es sofort nach. Nur ein einziges Mal berührte der Arm die Schulter Thalias. Die junge Frau schrie auf, als ihr ein glühender, läh mender Schmerz durch die Muskeln bis hin unter in die Fingerspitzen fuhr. »Wirf dich zu Boden«, schrie Heimdall und führte einen waagrechten Schlag, der die Wolke an zwei Stellen durchtrennte. Von hinten rief Sigurd: »Heimdall! Wir müssen weiter. Sonst kämpfen wir hier bis in alle Ewigkeit.« »Ich habe verstanden.« Heimdall warf sich wieder vorwärts und trampelte eine Gasse in das Gemenge von Eis und Schnee. Gleichzeitig führte er die Khylda mit beiden Händen in halben Krei sen über seinem Kopf. Die Schlingen des Eisriesen schienen dünner zu werden, aber sie wuchsen in beängstigendem Tempo nach. Mit der Garpa hackte Sigurd zweimal die Polypenarme dieses erstaunlichen Wesens ab und hastete weiter. Heimdall war stark und schnell. Unter seinen Stiefeln wurden das Eis und der Schnee zusammengetram pelt. Die Spur führte auf den fernen Baum zu. Aber schon wieder heckte der Frostriese eine neue Teufelei aus. Der Sturm setzte wieder ein, diesmal mit doppelter Kraft. Er kam von allen Seiten und schien die Kämpfer drehen zu wollen. Gleichzeitig riß er den Schnee wieder in die Höhe und wehte ihn in runden Schläuchen über die weiße Fläche. Grollende Donnerschläge waren aus der Wolke zu hören, aber das Zucken der Blitze fehlte. Wieder nahm die Dunkelheit zu. Unbeirrbar kämpften sich Heimdall und die anderen weiter und hieben halb blind
Im Zeichen von Ragnarök nach den Tentakeln des Ymir. Schneegestöber erfüllte die Luft und nahm ihnen den Atem. Eisnadeln prasselten wieder gegen die Rüstungen und gegen die ungeschützten Teile der Haut. Die Umhänge hatten sich voll Nässe gesogen und hingen schwer von den Schultern. In der Dunkelheit lauerten die lähmenden Tentakel des Schneemon strums. Aber sie sahen vor sich den Rücken des anderen und folgten ihm unbeirrbar. Heimdall stapfte am Morast vorbei und ge radeaus. Im Moment sah er den Baum nicht mehr, aber er wußte instinktiv, daß sein Weg dorthin führte. Nichts war in diesen Augen blicken zu hören außer dem schneidenden Heulen des Sturmes und dem gelegentlichen Schrei eines Kämpfers. Eine Viertelstunde verging, und als der Sturm aufhörte, änderte sich abermals das Aussehen der Landschaft. »Und es ist doch der Frostriese!« keuchte Heimdall auf, als sich seine Augen an die neuen Bilder gewöhnt hatten. »Er ist mäch tig, wie Odin immer berichtet hat!« Die schwarze Wolke war aufgerissen, und die Sonne kam gerade in diesen Momenten heraus und tauchte die Szenerie in grelles Licht. Die Strahlen wurden von Myriaden riesiger Kristalle reflektiert. Schnee und Eis waren verschwunden, als habe sie es niemals gegeben. Aber jeder ein zelne Gegenstand war von einer dicken Schicht von Eiskristallen überzogen, die kni sternd wuchsen. Grashalme, Bäume, Laub, Äste oder Felsen, selbst einige Skelette, alles bewegte sich mit unheimlichem Knistern und bildete Tausende von scharfen Spitzen aus. Ein undurchdringlicher Dschungel aus Kristallen breitete sich aus und schloß die Kämpfer ein. Der Boden war gefroren; auch dort wucherten Kristalle in beängstigendem Tempo. Geblendet schlossen sie die Augen. Die Reflexe der Sonnenstrahlen erzeugten eine funkelnde, unerträgliche Helligkeit. Balduur stöhnte auf. »Wir werden blind, wenn wir hier stehen bleiben. Wo ist Ymir?«
47 Die Gestalt ragte noch immer am selben Platz auf. Auch Ymir wurde von der Sonne voll getroffen und schimmerte wie der klir rende Wald. Heimdalls Khylda sauste durch die Luft und traf einen schenkeldicken Zweig, der seine Kristalläste nach Heimdall ausstreckte. Mit lautem Klirren und Krachen brach die Schneide durch den Ast, zerschnitt ihn und ließ ihn zu Boden fallen. Eine Wol ke zerfetzter Kristalle staubte hoch, die Teile ließen sich auf anderen Kristallen nieder und wucherten sofort weiter. Wieder pfiff der lange Arm des Frostriesen heran und zielte nach Thalia. Sie schwang die Vars-Kugel und riß den Arm auseinander. Er fiel in das silbern klingende Gewirr der Äste und rief dort neues Wachstum hervor. »Unverändert dort drüben. Aber täusche ich mich? Oder ist er kleiner geworden?« Wieder setzte sich Heimdall rücksichtslos an die Spitze. Sie mußten diesen Bereich verlassen, in dem Ymir sein freies Wirken entfalten konnte. Durch einen geheimnisvol len Zauber war er an eine einzige Stelle ge bunden, aber er war unverändert mächtig – so schien es. Sigurd starrte, die Hand über den Augen, hinüber zu der drohenden Gestalt in Silber weiß. Sie war tatsächlich kleiner und dünner geworden. Zuerst hatte sie fünfzehn Manns längen hoch aufgeragt, jetzt waren es höch stens nur noch neun. »Die abgeschlagenen Teile des Armes waren es! Er verlor an Körpermasse!« don nerte Balduur und hämmerte mit seinem Schwert in ein kompliziertes Astwerk von Kristallen, die ihn zu Fall bringen und über wuchern wollten. Auch die Vars-Kugel krei ste in wilden Wirbeln und schmetterte eine breite Gasse in die Eisvegetation. Auf dem harten Boden rutschend, die Umhänge an den Kristallen aufschlitzend, frierend und trotzdem schnell arbeiteten sich die Kämpfer durch das blendende Dickicht. Es gelang dem Frostriesen nicht ein einziges Mal, mit dem Tentakel einen der vier zu berühren. Hinter sich ließen die vier eine breite Gasse voller zerbrochener Kristallstrukturen, die
48
Hans Kneifel
aber in rasender Eile wieder wuchsen, einem geheimnisvollen Muster folgend. »Es ist wahr! Er verliert immer mehr!« rief Thalia. Sie schlitterten und rutschten hinter Heimdall her, der wie ein Rasender kämpfte und zuschlug. Aus ihren Rüstungen stieg der Dampf auf und bildete Wölkchen in der eisi gen Luft. Die Umhänge waren steifgefroren und brachen an einigen Stellen. Ein gräßli ches Klirren begleitete ihr Rennen durch die Zone des Frostes. Der Spalt in der Wolke wurde immer breiter, und die Sonne gewann an Wärme. Der einsame Baum trug eine ge waltige Schneelast, die in Brocken zu Boden fiel. Wieder schlug ein langes Tentakelstück in die aufstiebenden Kristallgewächse hinein und zerschmetterte sie. Heimdall drehte sich herum und schwang die Khylda. »Gleich haben wir es geschafft. Ich sehe schon die Grenze von Ymirs Macht!« Er stürmte rutschend weiter, und wie eine Sense mähten die Schneiden der Waffe die verkrusteten Pflanzenteile um. Mit sausen der Vars-Kugel folgte Thalia und duckte sich unter den Schlingen des dünner und kraftloser werdenden Tentakels. Balduur bildete jetzt den Schluß und sprang mit großen Sätzen hinter Sigurd her. Mit dem Schild schlug er auf der einen Sei te, mit dem blitzenden Schwert auf der ande ren die Kanten, Spieße und Dolche aus Eis weg. Er blutete, wie sie alle, aus zahllosen winzigen Schnittwunden. »Das Eis hört auf!« brüllte er. Von Heim dall kam Antwort. »Ja. Dicht bei dem wegweisenden Baum.« Je näher sie dem Baum kamen, desto klei ner und dünner wurden die Kristalle. Überall schimmerte durch die Wolke der blaue Him-
mel. Auch der Frostriese schien unter den wärmenden Strahlen zu schmelzen und löste sich ebenso langsam auf, wie er entstanden war. Der Abstand zu seinen Säulenbeinen wuchs von Schritt zu Schritt. Die beißende Kälte wich zurück, und schließlich erreich ten sie den Baum. Auf einem großen Find ling setzten sie sich in die Vertiefungen des Steines und erholten sich. »In ein paar Stunden sind wir trocken!« tröstete Sigurd und deutete in die Richtung der FESTUNG. Sie sahen jetzt wieder die Energieschleier wogen und wallen. »Das war der erste Angriff! Andere wer den folgen«, murmelte Balduur und schnall te den Helm ab. Wieder verwischte Nebel das Bild. Aber es war nichts anderes als die viele Feuchtig keit, die hinter ihnen verdampfte und sich zerstreute. Ymir, der Frostriese, löste sich ebenso auf wie die Nebelschwaden. Die Ge fahr schien endgültig vorbei. Thalia sagte: »Wir werden am schnellsten trocken, wenn wir zügig weitergehen. Bis zur Rast am Mittag werden wir alles vergessen ha ben.« »Du hast recht, Schwester«, murmelte Heimdall und schaltete die Khylda aus. »Gehen wir weiter. Wir haben unseren er sten Kampf bestanden.« Sie trockneten sich flüchtig ab, tranken et was und marschierten weiter. Die nächsten Gefahren lauerten bereits auf sie – dort, vor den Energieschleiern der FESTUNG.
E N D E
ENDE