1.
Cnossos war dem Wolfsrudel vorausgeflogen, um die Gegend zu erkunden. Nun kehrte er zufrieden zurück. Das enge Wass...
17 downloads
931 Views
562KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1.
Cnossos war dem Wolfsrudel vorausgeflogen, um die Gegend zu erkunden. Nun kehrte er zufrieden zurück. Das enge Wasser, jene Meerenge, an der die Westländer mit den Ländern des Ostens fast zusammenstießen, war nur noch einen Tagesritt entfernt. Morgen um diese Zeit würden die Horden der Nacht das enge Wasser überqueren können. Eine besonders erfreuliche Tatsache für Cnossos war, daß auf dem Weg dorthin keine einzige Stadt mehr lag. Es gab nur noch einige wenige Gehöfte, die von seinen Wolfsmenschen und deren Wölfen spielend überrannt werden würden. Die Wolfsmenschen wurden sicherlich enttäuscht sein, daß ihnen auf dem Weg nach Osten nicht mehr Opfer in die Hände fielen, an deren Blut sie sich berauschen konnten. Aber Cnossos war es ganz recht so. Je weniger Menschen sich den Horden der Nacht in den Weg stellten, desto rascher kamen sie voran, desto eher würden sie die Ostländer überschwemmen, und um so schneller würden sie auf Dragons Heer stoßen. Cnossos dürstete nach Rache – und er wollte sie bald haben. Er wollte keine Rücksicht mehr nehmen.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte er Hemmungen verspürt, Dragon einfach kaltblütig zu ermorden. Dabei hätte er Gelegenheit dazu gehabt, damals, im Lager der Söhne Nuaks, als Dragon unter der Wirkung des Traumpulvers stand und ihm hilflos ausgeliefert war. Doch Cnossos hatte zu lange gezögert. Er erkannte Dragon als einen der Atlanter aus der Zeit vor der großen Katastrophe. Er erkannte ihn als einen seiner Widersacher und brachte es nicht über sich, ihn kurzerhand zu töten wie irgendeinen anderen Menschen dieser barbarischen Welt. Dieser Anflug von Sentimentalität hatte Dragon das Leben gerettet. Noch einmal würde Cnossos jedoch nicht weich werden, das schwor er sich. Er legte auch keinen besonderen Wert mehr darauf, Dragon durch eigene Hand sterben zu lassen. Das konnten auch die Horden der Nacht erledigen und ohne daß er selbst anwesend war. Er hatte seine diesbezüglichen Pläne geändert. Er, Cnossos, war zweifellos das mächtigste Wesen dieser Welt. Seine Macht reichte über alle Kontinente und in alle Länder dieses Planeten, aber er beherrschte ihn nicht vollkommen. Er hatte seine Macht bisher zu nachlässig gehandhabt, weil er keine Notwendigkeit sah, härter durchzugreifen. Bisher hatte es einfach keinen Gegner für ihn gegeben, mit dem er sich messen konnte. Seit Dragon
jedoch erwacht war und seinen Schrein verlassen hatte, war das anders. Plötzlich stand Cnossos ein Widersacher gegenüber, der ihm ebenbürtig war. Cnossos‘ Stärke bestand jedoch darin, daß er überall Diener hatte, die ihn als Gott verehrten und ihm bedingungslos gehorchten – wie die Vampire, die Untoten und die Horden der Nacht. Letztere vor allem wollte er nun einsetzen, um Dragon vernichtend zu schlagen und seinen steilen Höhenflug blitzartig zu beenden. Für Cnossos gab es keinen Zweifel, daß die Wolfsmenschen das Heer des Atlanters aufreiben würden. Deshalb plante er schon weiter. Er mußte seine Macht festigen, um zu verhindern, daß es in der Zukunft noch einmal einem Mann wie Dragon gelingen konnte, zu einem ernstzunehmenden Widersacher zu werden. Aus diesem Grunde zog es Cnossos nach Myra, um dort das für sich zu verwirklichen, was Dragon anstrebte: Cnossos wollte sich zum König von Myranien ausrufen lassen, um mit den Streitkräften dieses Landes alle gegnerischen Heere hinwegzufegen. Die Sonne war bereits untergegangen, als Cnossos über den noch rauchenden Trümmern der kleinen Stadt kreiste. Die Horden der Nacht hatten diese Ansiedlung um die Mittagsstunde erreicht und hier schrecklich gewütet.
Cnossos hatte seine Kinder des schwarzen Blutes gewähren lassen, obwohl sie das einen ganzen Tag lang aufhielt. Er hätte sie lieber vorangetrieben, damit sie rascher auf Dragons Armee stießen. Aber er konnte ihr Temperament nicht zügeln. Cnossos, noch immer in Geiergestalt, ging tiefer. Während er über den Trümmern kreiste, hielt er nach Wirch Ausschau. Wirch war nicht nur stark, sondern auch überaus klug. Es gab sogar stärkere Wolfsmenschen, aber seiner überragenden Intelligenz hatte er es zu verdanken, daß er sich als Rudelführer behaupten konnte. Die Wölfe stimmten ein ehrfürchtiges Geheul an, als sie den Riesengeier über sich hinwegsegeln sahen. Ihr Verstand reichte nicht aus, um die Zusammenhänge zu erkennen, aber da ihre Herren den Riesengeier als ihren Gott verehrten, unterwarfen sie sich ihm ebenfalls. Mit zunehmender Dunkelheit hatten immer mehr Wolfsmenschen ihre Verwandlung abgeschlossen. Sie kamen in Begleitung ihrer Tiere aus den Verstecken und streunten unruhig durch die Ruinen. Sie suchten nach weiteren Opfern, stießen aber überall nur auf Tote. Auch ihrem Rudelführer Wirch erging es nicht anders. Nach der vollzogenen Verwandlung lief er mit seinen Wölfen unruhig durch die Ruinenstadt.
Als Cnossos ihn erspähte, hockte er gerade auf einer der Mauern und heulte den Mond an. Cnossos stürzte auf ihn hinunter, während er gleichzeitig sein Aussehen veränderte. Er verscheuchte Wirch mit einigen Flügelschlägen von seinem Platz und ließ sich selbst darauf nieder, nachdem ihm menschliche Beine gewachsen waren. Wirch warf sich mit eingezogenem Schwanz vor ihm zu Boden. Sein Geheul rief die anderen Wolfsmenschen herbei, und bald hatte sich das gesamte Rudel eingefunden und um Cnossos‘ Standplatz versammelt. Der Balamiter hatte immer noch die Schwingen eines Geiers, wenngleich sein. Körper der eines Menschen war und sein Gesicht die Fratze eines Wolfes. Der Umhang, der ihm vom Rücken wehte und die Geierschwingen halb verbarg, war ebenfalls aus seiner Körpersubstanz geschaffen. Er war sich der Wirkung, die er auf die Wolfsmenschen hatte, vollauf bewußt, als er mit seiner donnerartigen Stimme zu ihnen sprach. »Ich habe euch einen nie versiegenden Strom von Menschenblut versprochen, wenn ihr mir in die Länder des Ostens folgt, meine Söhne!« rief er. »Und ich kann eure Enttäuschung und eure Ungeduld verstehen, daß ihr noch nicht an dieser Quelle euren Durst stillen könnt. Aber ihr wißt, daß das Blut dem Wolf nicht
entgegenfließt, der Wolf muß ihm nachlaufen.« Cnossos wartete ab, bis das Geheul der Wolfsmenschen verebbte. Dann fuhr er fort, indem er die Geierschwingen ausbreitete, die sich plötzlich in Menschenarme verwandelten: »Dies hier ist nur eine unbedeutende Station auf dem Weg zu den Quellen des Blutes und nicht wert, daß man sich hier länger aufhält. Ihr müßt weiter nach Osten ziehen – und ihr müßt euch beeilen, bevor euch das unstillbare Verlangen den Kopf verlieren läßt. Verlaßt diesen Ort wieder, der nur eure Sehnsüchte geweckt, aber euren Durst nicht gestillt hat. Ihr werdet den Weg zu den Quellen des Blutes auch finden, selbst wenn ich euch nicht mehr den Weg weise. Denn ihr habt in Wirch einen Rudelführer, wie er nur alle zwölf Sommer bei Vollmond geboren wird.« Die Wolfsmenschen huldigten ihrem Rudelführer in einem vielkehligen Geheul, aber Cnossos merkte auch, daß sie verwirrt und enttäuscht waren. Sie waren klug genug, um seinen Worten entnehmen zu können, daß er sie bald verlassen und nicht, wie versprochen, bis ans Ziel geleiten wurde. Er mußte etwas tun, um ihren Unmut zu verscheuchen. Er konnte nicht riskieren, daß sie gegen ihren Rudelführer aufbegehrten und sich in alle Winde zerstreuten, kaum daß er, Cnossos, sie verlassen hatte. Die Wolfsmenschen brauchten ein Wunder, ein
magisches Ereignis, das die Erinnerung und den Glauben an ihn festigte und bewirkte, daß sie ihre Bestimmung nicht vergaßen. Cnossos wollte ihnen das Wunder geben. »Wenn ich nicht mehr bei euch bin, so werde ich euch nicht wirklich verlassen haben, sondern in Wirch weiterleben«, rief Cnossos seinen Geschöpfen zu. »Ihr sollt mit eigenen Augen sehen, wie Wirch zu einem Teil von mir wird.« Der Rudelführer starrte fasziniert zu seinem Gott auf. Bei seinen letzten Worten wurde er jedoch unruhig. Er spürte mit seinem Instinkt, daß ein Ereignis bevorstand, das ihn zum Mittelpunkt eines übernatürlichen Vorgangs machen würde. Das ehrte ihn, aber er fürchtete sich auch davor. »Komm zu mir herauf, Wirch!« befahl Cnossos. Der Wolfsmensch richtete sich zu seiner vollen Größe auf und kam mit eingezogener Rute den Hang zu dem Mauerrest herauf. Es wurde vollkommen still, als sich Cnossos‘ Umhang plötzlich von seinen Schultern löste und aus eigener Kraft in die Luft schwebte. Die Wolfsmenschen verfolgten mit glühenden Augen jede Phase der Verwandlung, die mit dem Umhang vor sich ging. Das stoffähnliche Gebilde schrumpfte zusammen, ein Körper bildete sich ... und ein Vogelkopf mit einem langen, spitzen Schnabel ... ein Teil des wallenden
Stoffes breitete sich zu majestätischen Flügeln aus und wurde unter den Blicken der Wolfsmenschen gefiedert. Auf diese Weise bildete sich aus der Körpersubstanz des Wolfsgottes ein Vogel, wie er im Wolfsland noch nie gesehen worden war. Er war nicht klein, aber auch nicht besonders groß und gerade so schwer, daß ein Mann ihn mühelos auf dem Arm tragen konnte. Dieser Vogel, einer übergroßen Krähe ähnlich, nur mit viel längerem Schnabel und dem gesträubten Gefieder eines Geiers, kreiste über Wirchs Kopf, der mit gesenktem Kopf unsicher zu ihm hinaufschielte. »Halt still, Wirch«, rief Cnossos ihn an. »Es ist mit Schmerz verbunden, wenn das Göttliche in dich eindringt.« Wirch wagte sich nicht zu rühren, als der Vogel plötzlich kreischend auf ihn hinabstieß und mit seinem Schnabel auf ihn einhackte. Wirch unterdrückte nur mühsam den Wunsch, laut aufzuheulen, als er plötzlich einen stechenden Schmerz verspürte, der von einer Stelle über seinen Augen ausging. Er wußte, daß ihm der Vogel über einem jeden Auge eine Wunde zugefügt hatte, aber er duldete es mit der Demut eines treuen Dieners. »Du bist stark, Wirch«, ertönte wieder Cnossos gewaltige Stimme. »Du bist klug, Wirch. Du bist unbesiegbar, Wirch. Ich gebe dir ein Stück von mir, auf daß du unsterblich wirst, Wirch!«
Die Wolfsmenschen sahen, wie Cnossos sich ins Wolfsgesicht griff. Als er die Hände wieder wegnahm und sie in Wirchs Richtung hielt, waren zwischen seinen Fingern zwei Augen zu sehen. Seine eigenen Augenhöhlen aber waren leer ... Cnossos hielt die beiden Augen lange genug von sich gestreckt, damit sie für alle Wolfsmenschen sichtbar waren. Dann erst pflanzte er sie in die Wunden, die der Krähengeier an Wirchs Stirn gehackt hatte. »Jetzt bist du allgewaltig, Wirch«, sagte Cnossos salbungsvoll. »Ich bin du – und du bist ich.« Cnossos ging zu dem Wolfsmenschen, griff ihm ins Nackenhaar und schwang sich auf seinen Rücken. Der Krähengeier stieß herab und landete auf Cnossos‘ linker Schulter. »Auf, in die Ostländer!« schrie Cnossos den Wolfsmenschen zu. Cnossos war die ganze Nacht durchgeritten. Jetzt, kurz vor Sonnenaufgang, als der Mond langsam verblaßte, merkte er, daß Wirch der Erschöpfung nahe war. Er würde dem Rudelführer die wohlverdiente Ruhe gönnen, denn er hatte erreicht, was er wollte. Die Wolfsmenschen und ihre Wölfe waren ihnen gefolgt, ohne sich von der Beute links und rechts des Weges verlocken zu lassen.
Wirch war nun viel mehr als nur ein Rudelführer für sie, seit Cnossos ihm einen Teil von sich eingepflanzt hatte. Er verkörperte nicht nur Kraft und Verstand, sondern auch das Göttliche, dem zu Ehren die Wolfsmenschen nach Xanth gezogen waren. Cnossos konnte zufrieden sein, das Rudel wurde Wirch überall hin folgen, auch wenn er selbst sich absetzte. Der Balamiter saß aufrecht auf dem Rücken des riesigen Wolfes mit den vier Augen. Auf seiner Schulter hockte der Krähengeier, den langen, spitzen Schnabel an die Brust gedruckt, den Kopf gegen den Wind gereckt. Wirch begann bereits unter seiner Last zu keuchen, sein Lauf wurde immer schleppender. Aber er wagte es nicht, seinem Gott die beginnende Erschöpfung einzugestehen. Cnossos war von der Ausdauer des Wolfsmenschen beeindruckt und ließ es ihn auch wissen. Als sie in ein Tal kamen, in dem eine von den Hirten im Stich gelassene Schafherde graste, kletterte Cnossos vom Rücken des Wolfsmenschen. Er wirkte viel kleiner als sonst, was darauf zurückzuführen war, daß er nicht nur den Krähengeier aus seiner Körpersubstanz geformt hatte, sondern auch den Sattel und das Zaumzeug – und sogar das Schwert, das ihm von der Hüfte baumelte.
»Du hast dich tapfer gehalten, Wirch«, lobte Cnossos. »Ruh dich jetzt aus. Ich werde veranlassen, daß dir deine Wölfe eines der Schafe zutreiben.« Wirch blieb mit zitternden Läufen stehen. Plötzlich spürte er, wie sich das Zaumzeug zwischen seinen Zähnen auflöste und das Gewicht des Sattels von seinem Rücken verschwand. Als er den Kopf wandte, sah er, daß der Sattel mitsamt dem Zaumzeug zu einer formlosen Masse wurde, auf Cnossos zustrebte und mit ihm verschmolz. Der Wolfsmensch ahnte, daß nun der Zeitpunkt gekommen war, wo sein Gott ihn verlassen wollte. Er erschauerte vor der Kälte, die sich plötzlich in seinem Körper ausbreitete und heulte den verblassenden Mond an. Bald würde es Tag werden, und die Kräfte, die ihm die Gestalt des Wolfes verliehen, würden schwinden. Cnossos schien seine Gedanken erraten zu haben, denn er sagte: »Die Stunde des Abschieds ist gekommen, Wirch. Du und deine Brüder, ihr mußt jetzt den Weg allein gehen, den ich euch vorgezeigt habe.« Wirch spürte, wie der Schmerz der beginnenden Verwandlung seinen Körper durchjagte und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Seine Wölfe kamen heran, um ihn gegen jedwede Gefahren zu beschützen, achteten aber darauf, Cnossos nicht zu nahe zu
kommen. Cnossos fuhr fort: »Aber ich werde euch nicht wirklich verlassen. Wenn ich mich jetzt als Geier in die Lüfte erhebe, lasse ich meine Augen in dir zurück, Wirch. Mit ihnen werde ich euren Weg nach Osten verfolgen, ich werde sehen, wie ihr die Menschen reißt und ihr Blut trinkt. Ich werde dabei sein, wenn ihr auf das Heer der Urgoriten stößt und Dragon und seine Leute im Licht des Mondes in Stücke reißt.« Wirch hörte die Stimme seines Gottes wie aus weiter Ferne. Aber er konnte jedes einzelne Wort verstehen – und obwohl der Schmerz der Verwandlung seinen Körper nun in immer schneller aufeinanderfolgenden Wellen überkam, schenkte er seinem Gott die gebührende Aufmerksamkeit. »Ihr seid nicht nur stark, weil ihr viele seid – mehr als doppelt so viele, wie Dragon Krieger auf die Beine stellen kann«, drang Cnossos‘ Stimme von weit her zu Wirchs Geist. »Ihr seid vor allem stark, weil ihr Geschöpfe meines Blutes seid. Kein Schwert und kein Pfeil kann euch etwas anhaben. Aber nehmt euch vor Silber in acht!« Wirch krümmte sich vor Kälte und Schmerz. Er vermerkte es dankbar, wie seine Wölfe mit heißer Zunge über seinen Körper leckten, der immer deutlicher menschliche Züge annahm. Wirch verspürte
Scham darüber, daß er sich in diesem Augenblick der Schwäche seinem Gott zeigen mußte. Er wollte nicht, daß ihn dieser so hilflos sah. »So unbesiegbar ihr seid«, fuhr Cnossos fort, »Silber kann euch töten. Doch selbst wenn Dragon davon weiß, so wird ihm dieses Wissen nichts nützen. Er ahnt nicht, daß ihr auf dem Wege zu ihm seid, und wenn ihr ihm dann gegenübersteht, wird es zu spät für ihn sein, Mittel und Wege zu finden, um euch zu bekämpfen. Ihr werdet wie ein Sturm über sein Heer hinwegfegen.« Wirch fühlte sich so müde und schwach, daß er am liebsten schlafen wollte. Aber der dumpfe Schmerz in seinem Kopf und die Stimme seines Herrn hielten ihn wach. Er öffnete mühevoll seine Augen. Aber während ihm die ihn umsorgenden Wölfe als verschwommene Flecken erschienen, sah er Cnossos gestochen scharf – und er wußte, daß er seinen Herrn durch das zweite Augenpaar sah, das dieser ihm eingepflanzt hatte. »Wirch, du wirst dafür sorgen, daß Dragons Blut fließt!« Das waren die letzten Worte, die der Rudelführer von seinem Gott hörte. Er hätte gerne noch etwas zum Abschied gesagt, aber er besaß nicht mehr die Kraft dazu. Mit seinem zweiten Augenpaar sah er noch, wie sich der Riesengeier majestätisch in die Luft erhob und sich
in Richtung Süden entfernte. Dann übermannte ihn die Müdigkeit endgültig, und er schlief ein. Vor ihnen lag das enge Wasser. Im Schein des abnehmenden Mondes lag es da wie ein riesiger Spiegel mit unzähligen dunklen Flecken. Diese dunklen Stellen waren die Inseln, die sich überall über die Oberfläche des Wassers erhoben. Wirch drehte sich nach seinen Brüdern und deren Wölfen um. Sie waren schon die ganze Zeit über unruhig gewesen, seit sie das Wasser gewittert hatten. Jetzt hatte sich die Unruhe in Panik verwandelt und von den Wolfsmenschen auf deren Wölfe übertragen. Wirch hatte die gleiche Scheu vor dem Wasser wie seine Brüder. Aber er überwand sie besser als die anderen, denn in ihm war die Kraft seines Gottes. Das andere Ufer war so nahe, daß er im Mondlicht Einzelheiten erkennen konnte. Er sah Bäume und einige Felsen und dazwischen flackerte etwas wie ein Lagerfeuer. Vielleicht lagerten dort sogar Menschen, die ahnungslos waren und eine leichte Beute abgeben würden. Er witterte, aber der Wind trieb ihm nur den ekelhaften Geruch des Meerwassers zu. Er machte einige Schritte ins Wasser, erschauerte und rannte sofort wieder ans Ufer zurück. Es war
schon schrecklich genug, vom Wasser umspült zu werden, wenn man Grund unter den Läufen hatte – das Gefühl, abgetrieben und auf das offene Meer hinausgetragen zu werden, würde sich aber noch verstärken, wenn man mit den Läufen ins Leere trat und nichts anderes als Wasser unter ihnen hatte. Die Panik unter den Wolfsmenschen wurde immer arger. Wirch hörte etliche von ihnen kläglich heulen.. Sie verwünschten den Mond und ihren Gott, der von ihnen verlangte, daß sie sich den Tücken des Meeres ausliefern sollten. Wirch war klar, daß er schnell handeln mußte, wenn er vermeiden wollte, daß die Panik seine Gefährten zur Umkehr trieb. Noch hielt sie das Wort ihres Gottes im Bann. Aber mit jedem Atemzug, den sie zuwarteten, würde sich der Einfluß des Wolfsgottes verringern und die Furcht vor dem nassen Element verstärken. Er hatte keine andere Wahl, er mußte das Wagnis sofort eingehen. Er heulte auf, um die anderen mitzureißen, und stürzte sich mit Todesverachtung in die Fluten. Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen, das salzige Naß drang ihm in die Schnauze, und er mußte es schlucken. Ihm wurde beinahe übel dabei. Aber dann tauchte er wieder auf und reckte den Kopf so hoch, daß er über die Wasseroberfläche ragte. Wenig später hatte er die erste Insel erreicht. Als er
sich umdrehte, sah er, daß ihm seine Wölfe gefolgt waren. Sie kamen hechelnd aus dem Wasser, schüttelten sich und schmiegten sich an seine Seite. Wirch heulte herausfordernd auf, knurrte seine Brüder am Festland wütend an und vollführte wilde Sprünge, um seinem Zorn über ihr Zaudern Ausdruck zu verleihen. »Seid ihr Söhne des schwarzen Blutes, oder seid ihr Hasen im Wolfspelz« schrie er ihnen entgegen. Er sah, daß einige von ihnen den Sprung ins Wasser wagten, aber sofort wieder zum Ufer zurückschwammen. Nur zwei seiner Bruder kehrten nicht wieder um und kamen zu ihm auf die Insel. »Wollt ihr keine Beute? Wollt ihr die Quelle des Blutes nicht sprudeln sehen?« Wieder stürzten sich einige Wolfsmenschen, gefolgt von ihren Wölfen, ins Wasser. Nur ein einziger von ihnen bekam es im letzten Augenblick mit der Angst zu tun und kehrte zum Ufer zurück. »Wer von euch wagt es, sich gegen seinen Gott zu stellen! Ihr alle habt ihm gelobt, in die Länder des Ostens zu ziehen!« Diesmal überwanden noch mehr Wolfsmenschen ihre Scheu vor dem Wasser. Am Ufer entstand ein Gedränge, als sie sich in Bewegung setzten und in die Fluten sprangen. »Er wird euch alle sehen – die Feigen ebenso wie die
Tapferen!« Endlich war der Bann gebrochen. Die Horden der Nacht drängten vorwärts; die Wolfsmenschen der vorderen Linien wurden von den Nachdrängenden ins Meer gestoßen und einfach weitergetrieben, ob sie nun wollten oder nicht. Es gab kein Zurück mehr. Wirch stieß mit der Schnauze seine Wölfe von der Insel ins Wasser und sprang ihnen nach. Er schwamm wie ein Besessener, als wäre ihm eine Meute mit Silberspeeren auf den Fersen. Er schwamm, als ginge es um sein Leben, nur um so rasch wie möglich die nächste Insel zu erreichen und dem schaurigen Naß zu entfliehen. Und hinter ihm folgten alle seine Bruder und deren Wölfe nach. Bald hatten sie das andere Ufer erreicht – und dann gab es nichts mehr, das sie noch aufhalten konnte. Sie würden das Land überschwemmen und sich den Feinden des Wolfsgottes entgegenwerfen. Wirchs zweites Augenpaar würde ihnen den Weg weisen.
2.
Die Gedanken des Mannes waren dunkel und böse.
Er war an Yina vorbeigekommen und hatte ein finsteres Gesicht gemacht. Das war Anlaß genug für sie, kurz in ihn hineinzuhorchen. Yrnor, Lash, Rogho und ich werden die ahnungslosen Wächter schon erledigen. Dann wird dieser verfluchte Tyrann noch im Tode brennen ... Das waren die dunklen Gedanken des Mannes, der den Harnisch eines myranischen Hauptmanns trug und sich entschlossen seinen Weg durch das Heerlager suchte. Yina folgte ihm. Sie konnte sich im ersten Augenblick nicht vorstellen, was der Krieger vorhatte, aber ihr war sofort klar, daß er gegen Dragons Interessen handeln wollte. Erst nach und nach kam sie dahinter, was er wirklich plante. ... die Wächter erledigen! ... der Tyrann noch im Tode brennen! Damit konnte nur die Mumie von König Zogor gemeint sein! Nachdem Dragons Heer von Eskis aufgebrochen war, hatte er den mumifizierten Leichnam des toten Königs von Myranien auf einem Karren aufbahren lassen, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Da es sich bei den Zugtieren um Ochsen und nicht um edle Pferde handelte, wurde jedem klar, daß Dragon den toten König noch im Tode verhöhnen wollte. Vielleicht paßte das einigen Myranern nicht?
Die Mumie wurde ständig von zehn Soldaten bewacht, damit sich niemand an ihr vergreifen konnte. Aber ungeachtet der Wachen plante dieser myranische Hauptmann, die Mumie zu verbrennen. Als sich Yina darüber klar geworden war, ließ sie von dem Mann ab und lief in die Richtung, in der Dragons Zelt lag. Dragons Hauptstreitmacht lagerte zwei Tagesritte von Eskis entfernt. Aber die Zelte wurden bereits wieder abgebrochen. Die Vorhut aus tausend Mann hatte gemeldet, daß auf einer Strecke von zwei Tagesritten in Richtung Myra alle Hindernisse beseitigt wären und die Bevölkerung den Eroberern aus dem Osten mit großer Erwartung entgegensehe. Die Wege zur Hauptstadt des myranischen Reiches schienen geebnet. Yina rannte mit wehenden Kleidern. Sie hatte ihre knöchellangen Rocke gerafft, um nicht darüber zu stolpern. »He, nicht so hastig, junge Maid«, rief ein Söldner belustigt, den Yina anrempelte. Er wollte nach ihrem Arm fassen, aber sie entwich ihm geschickt. »Deine Augen lassen nach, Bydon«, rief ein anderer Krieger lachend. »Was du für eine junge Maid hältst, ist in Wirklichkeit ein Bengel in Kitteln ...« Grölendes Lachen folgte dieser Bemerkung. Yina überhörte solche Bemerkungen schon längst.
Sie hatte sich damit abgefunden, daß niemand sie als Mädchen anerkannte. Sie wußte, daß sie unansehnlich war und für ein Mädchen von sechzehn Sommern noch reichlich unentwickelt. Und wenn sie von den anderen scherzhaft Maus genannt wurde, so wußte sie doch, daß dieser Name seine Berechtigung hatte. Sie war so unansehnlich, grau und spitz wie eine Maus. Das gesamte Lager befand sich im Aufbruch. Pferde wurden gesattelt, Zelte auf die Wagen geladen, die Ausrüstung wurde darauf verstaut, Ochsen vor die Wagen gespannt; die Krieger schnallten sich die Waffengürtel fester, wetzten die Klingen ihrer Schwerter im niedergetrampelten Gras. Überall lagen leere Weinkrüge herum. Yina mußte immer wieder Reitern und Fußsoldaten ausweichen, die sich in Marsch gesetzt hatten. Obwohl sie wie eine Besessene lief, näherte sie sich Dragons Hauptquartier nur langsam. Da sah sie Partho, wie er mit seinem Pferd zwischen den marschierenden Kriegern hindurchtänzelte. »Partho!« »Agrion ist so kratzbürstig und widerspenstig wie eine schwangere Amazone«, so dachte der Hauptmann aus Urgor gerade. Yina spürte einen Stich in ihrem Kopf, als Partho aus seinen Gedanken schreckte. Der Hauptmann aus
Urgor, der Amee anbetete und sich, nachdem er sie an Dragon verloren hatte, Agrion zuwandte, büßte nun auch die Liebe der ehemaligen Sklavin ein. Als Trägerin des Mondrings war sie zur Nachfolgerin der Amazonenkönigin bestimmt. Partho lächelte Yina zu. »Du läufst ja, als ginge es um dein Leben, Maus«, meinte er belustigt, als sie ihn erreichte und sich erschöpft an den Sattel seines Pferdes klammerte. »Wo ist Dragon?« sagte sie keuchend. »Ich muß zu ihm ... ihn warnen. Man will die Mumie verbrennen.« Partho zog Yina mit einem kräftigen Ruck zu sich in den Sattel hinauf und preschte mit ihr davon. »Damit brauchen wir Dragon nicht zu belästigen«, sagte er. »Wieviele sind es?« »Vier«, sagte Yina immer noch atemlos. »Myraner ... Ich habe nicht herausfinden können, was sie zu dieser Tat treibt.« »Endlich gibt es wieder einmal Abwechslung für mich«, rief Partho erfreut. »Vier sagtest du?« Als er an einem urgoritischen Reitersoldaten vorbeikam, rief er diesem zu: »Mir nach!« Er ritt rücksichtslos weiter. Die Krieger, die das Hufgetrappel in ihrem Rücken hörten, stoben auseinander und konnten sich oftmals nur durch waghalsige Sprünge in Sicherheit bringen. Als vor Partho plötzlich ein Wagen auftauchte, wich er dem
Hindernis nicht aus, sondern brachte sein Pferd dazu, mit einem Satz darüber hinwegzuspringen. Yina, die vor ihm saß und sich ängstlich in die Mähne des Pferdes verkrallte, sah, daß auf dem Wagen nichts als ein mit einer Decke verhüllter Körper lag. »Das ist der Wagen mit König Zogor!« rief sie. »Ich weiß«, sagte Partho und brachte sein Pferd zum Stillstand. Die verdutzten Krieger, die den Wagen bewachten, hatten ihre Krummschwerter gezogen. Als sie ihren Hauptmann erkannten, ließen sie sie zögernd sinken. »Verrat!« rief Partho ihnen zu. »Man will ...« Weiter kam er nicht. Bei dem Wort »Verrat« hieben drei der Soldaten mit ihren Schwertern auf die anderen ein. Drei Wachen brachen blutüberströmt zusammen, bevor die anderen überhaupt begriffen, was das zu bedeuten hatte. Für Partho war die Situation augenblicklich klar. Die drei, die den Kampf begonnen hatten, waren wahrscheinlich jene drei Myraner, die zusammen mit einem vierten den Anschlag auf die Mumie von König Zogor planten. Und da tauchte auch schon der vierte auf. Er trug noch seinen myranischen Harnisch und schwang eine Fackel. Partho hatte Yina aus dem Sattel gehoben. Jetzt stieß er seinem Pferd die Fersen in die Flanken, daß es wie von der Sehne geschnellt auf den Fackelträger
zuschoß. Er holte gerade aus, um die Fackel auf den Wagen zu werfen, da begruben ihn die Hufe des Pferdes unter sich. Partho wirbelte auf seinem Pferd herum. Aber der Kampf war bereits entschieden. Zwei der anderen Verräter waren tot. Der dritte hockte wimmernd im Sand und hielt sich den rechten Arm. Hinter ihm stand ein Urgorit mit erhobenem Schwert, um ihm den Gnadenstoß zu geben. »Halt!« rief Partho, gegen seine Überzeugung. Aber er hatte von Dragon gelernt, daß es oft vorteilhafter war, das Leben eines Gegners zu schonen. Manchmal wurde aus einem Gegner ein Verbündeter – und manchmal erfuhr man von ihm wichtige Informationen. »Wir brauchen ihn lebend. Er muß uns sagen, wer ihn zu dieser Tat angestiftet hat.« Kim und Kano, die beiden Zwillinge, die sich auch über weite Entfernungen nur mittels ihrer Gedanken miteinander verständigen konnten, hatten ein Gespür dafür, wo etwas los war. Sie hatten gehört, daß Partho einen Myraner gefangen hatte, der die Mumie des Königs verbrennen wollte und machten sich sofort auf den Weg zu Dragons Lagerplatz. Sie sahen schon von weitem die Krieger, die sich vor dem Zelt drängten und den
Vorfall untereinander mit einander widersprechenden Meinungen besprachen. Es fiel den beiden dreizehn Sommer zählenden Jünglingen nicht schwer, sich zwischen den Beinen der Krieger einen Weg zu suchen und den Zelteingang zu erreichen. Als Kano jedoch den Vorhang hob und einen Blick ins Innere warf, tauchte das Gesicht Sardaks vor ihm auf. Der Hirte, der seine Herden im Stich gelassen hatte, um an Dragons Seite gegen Cnossos zu kämpfen, schnitt eine Grimasse und sagte: »Das ist nichts für kleine Jungen. Verschwindet!« Die Zwillinge zogen sich schmollend zurück. »Es ist eine Frechheit«, machte Kim seinem Ärger Luft. »Immer wenn es irgendwo spannend ist, verscheucht man uns.« »Dabei ist Yina nicht viel älter, aber sie darf dabei sein«, beschwerte sich Kano. »Ich habe sie neben Dragon und Agrion im Zelt gesehen.« »Vielleicht verrät sie uns wenigstens, worum es wirklich geht«, meinte Kim. Er konnte nicht nur mit seinem Bruder Kano in Gedankenverbindung treten, sondern auch mit Yina – wenn er sich einigermaßen anstrengte. He, Maus! dachte er eindringlich. Was geht in Dragons Zelt vor! Stört mich jetzt nicht, kam die Antwort. Ich habe
andere Sorgen, als mich mit dummen Jungen zu unterhalten. Ich muß den Verräter aushorchen. »Überhebliche, dumme Ziege«, schimpfte Kim. Und in Gedanken fügte er zornig hinzu: Dafür bekommst du nie einen Mann. Aber Yina hörte seine Gedanken nicht mehr. Sie widmete sich wieder voll und ganz den Geschehnissen im Zelt. Dragon sagte gerade zu dem verwundeten Myraner, der noch immer die Rüstung eines Urgoriten trug: »Du wirst deinen Arm verlieren, Rogho.« »Dafür werde ich meine Ehre behalten«, erwiderte der Myraner mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Wenn du uns sagst, wer dir befohlen hat, den toten König zu verbrennen, werden wir dich pflegen«, sagte Dragon wieder. »Nenne uns den Namen deines Herrn, und wir schenken dir das Leben.« »Mein Herr ist der König von Myranien«, sagte der Verwundete, und seine Stimme bebte vor Haß. »Er wird euch vernichten, noch ehe ihr die Mauern von Myra seht!« »Cnossos?« entfuhr es Partho. Sardak war gebückt herangekommen und betrachtete den Gefangenen so scharf, daß dieser den Blick senkte. »Nein«, sagte der Helfer der Hirten dann überzeugt. »Dieser Mann hat aus freiem Willen gehandelt.
Cnossos aber bedient sich nur willenloser Sklaven.« »Ich kenne keinen Cnossos«, behauptete der Verwundete und preßte die Zähne so fest aufeinander, daß es knirschte. Dragon warf Yina einen fragenden Blick zu, und diese bestätigte: »Er spricht die Wahrheit.« Dragon wandte sich wieder dem Gefangenen zu und deutete über seine Schulter auf Yina. »Sieh dieses Mädchen an«, verlangte er. »Bringst du es fertig, ihr in die Augen zu sehen und zu lügen?« Der Gefangene wurde unsicher. Er betrachtete Yina kritisch und verzog dann abfällig die Mundwinkel. »Was für ein häßliches Ding«, sagte er und grinste, als er Yina zusammenzucken sah. »Wollt ihr mir einreden, daß sie eine Hexe ist? Ich glaube nicht an die Kraft von dämonischen Weibern.« »Ich schlage dir einen Handel vor, Hogho«, meinte Dragon. »Wenn es dir gelingt, Yina anzulügen, dann lassen wir dich laufen. Gelingt es dir dagegen nicht, dann gibst du uns dein gesamtes Wissen preis.« »Das ist ein Handel, auf den ich mich gerne einlasse«, behauptete Rogho ... Ich soll dieses Kind nicht belügen können?« »Du wirst es sehen«, sagte Dragon. Nach einer Atempause fuhr er fort: »Ich frage dich jetzt. Rogho: Wer hat dich und deine Kumpane damit beauftragt, die
Mumie zu vernichten« » »Es war der geizige Almoro«, antwortete Rogho und lachte glucksend. »Er lügt«, sagte Yina. »Der Name seines Auftraggebers ist Ermyras.« Roghos Lachen erstarb. Er preßte seine heile Hand gegen die Wunde seines Oberarms und starrte Yina mit offenem Mund an. »Bei Amyron ...!« Dragon war aufgesprungen. Er blickte abwechselnd von Partho zu Agrion. »Erinnert ihr euch dieses Namens?« fragte er sie. »Einige der Myraner, die nach Zogors Tod zu uns übergelaufen sind, haben ihn genannt.« Partho hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Natürlich«, stieß er hervor. »Ermyras ist der Neffe König Zogors und sein Thronerbe. Zogor ließ ihn in den Kerker werfen, um sich vor seinen Mordanschlagen zu schützen. Sollte er noch am Leben sein?« »Er hat den verwaisten Thron bestiegen«, erklärte Rogho würdevoll. »Es gibt kaum einen in diesem Land, der Zogor nachtrauert. Und Ermyras hatte schon zu Lebzeiten des Königs viele Getreue, die den Tag kaum erwarten konnten, daß er auf den Thron kommt. Als die Kunde von Zogors Tod nach Myra gelangte, wurde Ermyas im Triumph aus dem Kerker geholt und in sein
rechtmäßiges Erbe eingesetzt.« Dragon starrte schweigend auf den Gefangenen. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Nach König Zogors Tod, den die Myraner und deren Brudervölker fast ebenso begrüßten wie die Zunter, Daniter und Urgoriten, hatte Dragon keine besonderen Schwierigkeiten mehr erwartet – der Thron von Myranien schien ihm sicher. Aber da nun plötzlich der rechtmäßige Thronfolger auftauchte, glaubte er nicht mehr, daß er in Myra mit offenen Armen aufgenommen werden wurde. Es sei denn, das Ermyas in die Fußstapfen seines Onkels trat. Wenn er sich dagegen als weiser Herrscher entpuppte, dann wollte Dragon auf die Eroberung des myranischen Reiches verzichten. »Was hat Ermyas veranlaßt, den Auftrag zu geben, seinen toten Onkel zu verbrennen?« wollte Dragon wissen. »Er schickte uns aus, damit wir uns vor allem mit eigenen Augen davon überzeugen sollten, daß Zogor tatsächlich von Amyron geholt worden ist«, antwortete Rogho. »Es fiel uns nicht sehr schwer, sich als Überläufer auszugeben und sich deinem Heer anzuschließen. Ermyas hat uns befohlen, die Mumie zu vernichten, wenn es sich um Zogor handelt. Er möchte, daß nichts mehr in diesem Land an seinen Onkel erinnert. In diesen Tagen rollen viele Köpfe in Myra.
Ermyas rächt sich furchtbar an jenen, die ihn einst verhöhnten und erniedrigten. Zogors Günstlinge sind die beliebteste Beute von Ermyas Häschern geworden. »Der Junge scheint doch nicht aus der Art geschlagen zu sein«, meinte Dragon düster. »Sicher haben die Myraner Ermyas zum König gemacht, weil sie glaubten, es könne nicht mehr schlimmer kommen. Aber das scheint ein Irrtum gewesen zu sein ...« »Die Myraner werden dir sicher dankbar sein, wenn du sie auch von diesem Übel befreist. Dragon«, meinte Partho. »Ermyas ist stark – und sein Arm ist lang!« rief Rogho und sprang auf; in seiner gesunden Hand blitzte plötzlich die scharfe Klinge eines Dolches. »Er wird euch alle vernichten. Stirb, Dragon!« Roghos Worte gingen in einen Schmerzensschrei über. Yina, die seine Mordabsicht aus seinen Gedanken gelesen hatte, hatte einen Stock ergriffen und ihm damit auf seine Wunde geschlagen. Der Myraner brach bewußtlos zusammen. Was war das für ein Schrei? fragten Kanos Gedanken bei Yina an. Das war kein Schrei, sondern ich habe gehustet! »Na warte, Maus, das zahle ich dir heim«, ärgerte sich Kano. Sein Bruder stieß ihn an. »Sieh einmal. Was ist das dort vorne für ein
Tumult?« Kano kniff die Augen zusammen. »Ich sehe zwei Reiter, die von den Kriegern umringt werden«, erklärte Kano, während er sich bereits in Bewegung setzte. »Die Reiter sind staubbedeckt und machen einen erschöpften Eindruck. Es scheint, daß sie einen langen Ritt hinter sich haben ...« »Der eine von ihnen kann sich nicht mehr im Sattel halten ...« »Nichts wie hin!« In Dragons Zelt fragte Partho: »Was soll mit dem Verräter geschehen?« »Laß das Schwert stecken, Partho!« verlangte Dragon mit schneidender Stimme. »Wir sind schließlich keine Barbaren, und deshalb werden wir ihn ...« Niemand erfuhr, welches Schicksal er dem Gefangenen zugedacht hatte, denn in diesem Augenblick sagte Yina: »Kim und Kano behaupten, daß soeben Nabib, der Händler, in das Heerlager eingeritten ist.« »Wenn ich das Fett eines Lammes im Feuer prasseln höre, der Schatten eines Weinkruges auf meine Lippen fällt und die süße Stimme eines Weibes meinem Ohr schmeichelt, dann würde ich selbst von den Toten erwachen«, verkündete Nabib.
Es war die Antwort auf Dragons Feststellung, daß der Händler von dem langen Ritt müde sein müsse und sich besser ausruhen solle, als an der Lagebesprechung teilzunehmen. Der Händler von Thinayda hatte in wenigen Worten über die Gefahr berichtet, die Dragons Armee durch die Horden der Nacht drohte. Bodo, der junge Mann aus dem Wolfsland, der dabeigewesen war, als Cnossos seine Wolfsmenschen zum Sturm auf die Länder des Ostens aufgerufen hatte, wirkte etwas frischer als Nabib. Wenn dem Händler der Atem ausgegangen war, hatte er den Faden aufgenommen und die Lücken des Berichts gefüllt, so daß Dragon und seine Gefährten ein abgerundetes Bild erhielten. Nachdem Nabib und Bodo erschöpft geendet hatten, wiederholte Dragon das Gehörte, um sich die Tatsachen in Erinnerung zu rufen. »Wenn man Bodos Angaben über die Stärke der Horden der Nacht glauben darf, dann handelt es sich um zwanzig Hundertschaften Wolfsmenschen und zweihundertvierzig Hundertschaften Wölfe. Das ist eine stattliche Streitmacht, die uns auch gefährlich werden konnte, wenn die Wolfsmenschen nicht unverwundbar waren. Aber alles wird dadurch noch schlimmer, daß sie nur durch die Kraft des Silbers zu töten sind.« Dragon wich Agrions Blick aus, die ihn mit leichtem
Spott betrachtete. Sie saß mit einem Dutzend ihrer Kriegerinnen auf der einen Seite des Lagerfeuers. Den Katmahzari gegenüber hatten Dragon, Partho, Sardak und an die drei Dutzend Heerführer Platz genommen. Dazwischen saßen Nabib und Bodo. Dragon konnte sich denken, welcher Vorwurf Agrion auf den Lippen lag, deshalb fuhr er schnell fort: »Die Horden der Nacht dürften gerade das enge Wasser überqueren. Bodo hat gesagt, daß sie vor großen Seen und vor dem Meer eine Scheu haben. Aber wir können nicht hoffen, daß sie deshalb ihr Vorhaben aufgeben werden. Cnossos‘ Einfluß wird sie die Angst vor dem Wasser vergessen lassen. Also müssen wir damit rechnen, daß sie in etwa zwei Tagen Ad‘zhari, den westlichsten Stützpunkt der Katmahzari, erreichen werden.« »Die Katmahzari sind gewappnet«, warf Agrion ein. »Sie werden die Horden der Nacht aufhalten, bis Verstärkung eintrifft.« »Darauf komme ich noch zu sprechen«, entgegnete Dragon, der sich darüber ärgerte, daß ihm Agrion bei jeder sich bietenden Gelegenheit versteckte Vorhaltungen machte. Dabei durfte sie ihm nicht wirklich einen Vorwurf machen. Hätte er nur auf die Erzählung eines Alten hin sein Heer anstatt nach Myra zum engen Wasser ziehen lassen sollen?
Sardak hatte ihn auf die alten Weissagungen aufmerksam gemacht, die ihm der Märchenerzähler Adrar zugetragen hatte. Demnach sollten eines Tages die Horden der Nacht, die nur mit Silberwaffen zu töten sind, die Ostländer überfallen. Und dieser Tag, so hatte Adrar prophezeit, sei nicht mehr fern. Sardak und Agrion hatten diese Weissagung ernst genommen und ihn, Dragon, bedrängt. Silberwaffen schmieden zu lassen, um gegen die Gefahr aus dem Norden gewappnet zu sein. Aber welcher vernünftige Mann hätte diesem Drängen schon nachgegeben? Er fand, daß Agrion keine Veranlassung hatte, ihm Vorhaltungen zu machen, obgleich sich die Weissagungen erfüllt hatten. Er war ein Mann der Tat und kein Magier, der die Zukunft erschauen konnte. Und doch fühlte er sich unter den Blicken Agrions – und nun auch unter denen Nabibs – nicht recht wohl. Es schien ihm fast so, als ob sich die beiden gegen ihn verschworen hatten. Dragon räusperte sich und fuhr fort: »Für uns stellt sich die entscheidende Frage: Können wir mit einem großen Aufgebot in zwei Tagen Ad‘zhari erreichen, um gleichzeitig mit den Horden der Nacht an der Grenze von Katmahzar einzutreffen? Es scheint unmöglich zu sein, daß ein Heer wie das unsere diese Strecke in zwei Tagen bewältigt, wo
Nabib und Bodo in einem Gewaltritt fast ebenso lange dafür gebraucht haben. Abgesehen davon, daß uns die Beförderung der Verpflegung für etwa zehntausend Mann viel Zeit kostet, ist ein solches Heer auch viel unbeweglicher.« »Hast du vor, den Horden der Nacht alle deine Streitkräfte entgegenzuwerfen?« fragte Partho ungläubig. »Ich könnte dreimal so viele Krieger haben – und es wären nicht zu viele«, entgegnete Dragon. »Du hast gehört, daß die Wolfsmenschen schier unverwundbar sind. Wenn überhaupt, dann können wir über sie nur triumphieren, wenn wir stark in der Übermacht sind.« »Oder wenn wir Silberwaffen besäßen«, warf Agrion wieder ein. Jetzt war es gesagt. Dragon wandte sich ihr zu. »Ich gebe zu, daß es nach Lage der Dinge besser gewesen wäre, auf deinen Vorschlag zu hören und Silberwaffen schmieden zu lassen«, sagte er mit unterdrücktem Groll. »Aber das Eingeständnis eines Fehlers bringt uns nun nicht weiter.« »Warum so hitzig. Dragon«, sagte Agrion ruhig. »Ich habe gar nicht vor, dich wegen einer Unterlassung anzuklagen. Du hast nach bestem Wissen gehandelt. Und ich habe es auch getan.« Eine Weile herrschte Schweigen, dann fragte
Dragon: »Was hast du getan?« Nabib warf einen Knochen ins Feuer und meinte grinsend: »Spann Dragon nicht auf die Folter, Agrion, sondern gestehe dein eigenmächtiges Handeln schon ein.« »Das habe ich auch vor.« Agrion sprach mit ruhiger Stimme weiter: »Als du mir deutlich machtest, daß du nichts auf die uralten Weissagungen über die Horden der Nacht gibst, habe ich in aller Stille eine meiner Kriegerinnen nach West-Katmahzar geschickt. Sie sollte in meinem Namen alles erreichbare Silber einsammeln und einschmelzen und daraus Waffen, Speer – und Lanzenspitzen und Schwert – und Dolchklingen, schmieden lassen.« »Das war sehr vorausblickend«, war alles, was Dragon über die Lippen brachte. »Ich war mir nicht sicher, inwieweit meine Anordnungen befolgt würden«, fuhr Agrion fort. »Erst durch Nabib erfuhr ich, wie sich die Kriegerinnen von West-Katmahzar zu meinen Worten stellten. Berichte du selbst über deine Erlebnisse, Nabib.« Der Händler wechselte seine Sitzstellung, nahm langsam einen Krug Wein – und trank genüßlich daraus. Er hatte schon darüber berichtet, daß er an die Wolfsküste verschlagen worden war, dort Bodo
aufgegriffen hatte und sofort in die Bucht der Kiesel gesegelt war, als er von ihm die Pläne der Horden der Nacht erfahren hatte. Deshalb begann er jetzt mit seinen Erlebnissen nach der Landung in der Bucht der Kiesel, streifte seine Gefangennahme durch die Myraner und kam auf die Ereignisse zu sprechen, die alle von ihm hören wollten. »Als wir zum erstenmal mit den Kriegerinnen zusammenstießen, da glaubte ich, daß sie von einem bösen Geist besessen seien. Sie waren über die Grenze ihres Landes gekommen, beraubten harmlose Wanderer und plünderten die Hirten – und Fischersiedlungen. Niemand schien zu wissen,‘ was sie eigentlich erbeuten wollten. Dann, als sie selbst nicht davor zurückschreckten, mein Schiff zu überfallen, aber enttäuscht wieder abzogen, weil sie nichts als Weinfässer fanden, erfuhr ich, daß sie es grundsätzlich nur auf Silber abgesehen hatten.« Nabib vermittelte die so wichtigen Informationen in gemütlichem Plauderton, der selbst Dragon veranlaßte, sich unwillkürlich zu entspannen. »Erst später traf ich mit Grisha zusammen, jener Kriegerin, die Agrion ausgeschickt hatte, um Silberwaffen zu besorgen«, berichtete Nabib weiter. »Von ihr hörte ich, wie weit das Unternehmen bereits gediehen war. In West-Katmahzar kennt man die
Wolfsmenschen besser als anderswo in diesem Land, und man weiß auch um die Kraft des Silbers. Deshalb tragen dort die jungen Mädchen silberne Keuschheitsgürtel, die Kriegerinnen versilbern teilweise die Brustdornen ihrer Harnische – und fast jede Katmahzari hat irgend etwas am Körper, das aus Silber ist. Einige wohlhabende Kriegerinnen besitzen sogar silberne Dolche. Wer mit Silber handelt, ist in West-Katmahzar eines guten Geschäftes gewiß. Aus allen Himmelsrichtungen strömt das Silber in diesen Teil des Landes, die Amazonen dort haben große Mengen dieses Metalls gehortet. Ich erwähne das nicht, um meine Erzählung auszuschmücken, sondern um besser erklärbar zu machen, wieso die West-Katmahzari so erfolgreich sein konnten. Jede Kriegerin in Ad‘zhari ist im Besitz irgendeiner Waffe aus Silber. Darüber hinaus konnten aus den gehorteten Schätzen zusätzlich Klingen, Pfeil – und Lanzenspitzen geschmiedet werden. Doch damit begnügten sich die Amazonen nicht. Sie gingen auf Raubzüge, um noch mehr Silber zu beschaffen. Sie gehen dabei rücksichtslos vor, ihr könnt es mir glauben. Ich hatte ein wertvolles Silberamulett, eine Erinnerung an wunderschöne Stunden ... aber das ist eine andere Geschichte, geeignet für einen beschaulicheren Abend. Das Silber dieses Amuletts
ziert jetzt die Spitzen von zwanzig Pfeilen. Auf ähnliche Weise haben die Kriegerinnen Silberwaffen für zweitausend Krieger beschafft. Das bedeutet, daß auf jeden Wolfsmenschen mehr als eine Silberwaffe kommt. Ein Krieger gegen einen Wolfsmenschen! Daß das ein Vorteil ist, kann man erst erkennen, wenn man weiß, daß schon die kleinste Wunde geschlagen mit einem silbernen Gegenstand, den Tod für einen Wolfsmenschen bedeutet. Bodo hat einmal einen von ihnen mit einer Haarnadel getötet.« Bodo nickte bestätigend, wagte aber nicht, dabei jemandem in die Augen zu blicken. Die Menschen hier waren so anders als die Menschen, die im Wolfsland lebten. Er mußte sich erst daran gewöhnen, daß sie zu jedermann, auch zu Fremden, sofort Beziehungen aufnahmen. Im Wolfsland konnte es Wochen dauern, bis man es wagte, einem Fremden zu trauen ... »Glaubst du jetzt, daß es den Amazonen gelingen wird, die Horden der Nacht aufzuhalten, bis Verstärkung eingetroffen ist?« wandte sich Agrion an Dragon, nachdem Nabib geendet hatte. »Ich bin tief beeindruckt«, gestand Dragon. »Aber wir dürfen uns nicht allein auf die Kraft des Silbers verlassen. Wir haben es bei den Horden der Nacht auch mit vierundzwanzigtausend Wölfen zu tun. Deshalb bleibe ich dabei, daß wir den größten Teil des Heeres nach Ad‘zhan, in die Ebene von Sapca,
entsenden müssen.« Yina hörte nicht mehr richtig zu, als Dragon, Agrion und Partho den Schlachtplan besprachen. Sie beschäftigte sich in Gedanken mit dem Mann aus dem Wolfsland. Er wirkte hier, unter Menschen, so einsam wie eine Träne im Meer. Eine Träne ist salzig, und das Meerwasser ist salzig, aber eine Träne hat einen ganz anderen Ursprung ... Und obwohl Bodo ein Mensch unter Menschen war, merkte sie ihm an, daß er sich ihnen nicht zugehörig fühlte. Dragon, Agrion und Partho einigten sich darauf, daß der urgoritische Hauptmann und die Trägerin dos Mondrings mit hundert Hundertschaften auf dem schnellsten Weg zur Ebene von Sapca ziehen sollten, um sich dort den Horden der Nacht zu stellen. Wenn es den West-Katmahzari gelang, die Wolfsmenschen und deren Wolfsrudel einen knappen Tag lang aufzuhalten, dann standen ihnen fast drei Tage für die Überbrückung dieser Strecke zur Verfügung. In dieser Zeit mußten sie es schaffen. Zumal Nabib von großen Schafherden zu berichten wußte, die zwischen hier und der Ebene von Sapca weideten. Da somit für Nahrung gesorgt sein würde – Wasser gab es in diesem Gebiet ebenfalls reichlich –, konnte man den gesamten Troß zurücklassen. Das ersparte viel Mühe und Ärger – und
Zeit. Während die Hauptstreitmacht nach Norden zog, wollte Dragon mit den tausend Mann der Vorhut den Weg nach Myra fortsetzen. Sie, Yina, und Kim sollten ihn begleiten – Kano wurde der Hauptstreitmacht unter der Führung von Partho und Agrion zugeteilt, damit beide Heere auf gedanklichem Wege standig miteinander in Verbindung treten konnten. Yina konnte der Versuchung nicht länger widerstehen und drang in Bodos Gedanken ein. Sie zuckte aber sofort wieder zurück, als sie dort auf ein solches verwirrendes Durcheinander stieß, daß ihr davon schwindelte. Als sie ihren Blick wieder festigte, sah sie, daß er ihr das Gesicht zugewandt hatte. Er betrachtete sie mit offener Neugierde, aber in seinen Augen war noch etwas anderes, etwas wie Wärme und Zuneigung. Yina schwindelte wieder, wie vorhin, als sie in seine Gedanken eingedrungen war. Sie lächelte unsicher und wußte sich nicht anders zu helfen, als auf Agrion zu deuten und zu sagen: »Siehst du, wie es an ihrem Finger funkelt, Bodo?« Der junge Mann aus dem Wolfsland blickte ebenfalls zu Agrion hinüber und schien für einen Augenblick von dem geheimnisvollen Leuchten an einem ihrer Finger gebannt. »Ein Schmuckstück«, sagte er dann jedoch
unbeeindruckt. »Es ist sicherlich besonders wertvoll.« »Es ist kein gewöhnliches Schmuckstück«, erwiderte Yina, »sondern der Mondring. Er ist am Tage matt und unscheinbar, aber wenn das Licht des Mondes auf ihn fällt, dann geht ein geheimnisvolles Leuchten von ihm aus. Hast du nicht auch die Ahnung, daß übernatürliche Kräfte in ihm schlummern?« »Nein«, sagte Bodo nur. »Und doch ist es so«, behauptete Yina. »Wenn schon keine andere Macht von ihm ausgeht, dann doch die, um das Volk der Katmahzari zu beherrschen. Agrion war früher eine Sklavin. Der Mondring befand sich schon früher in ihrem Besitz, ohne daß sie jedoch seine Bedeutung kannte. Von den Amazonen erfuhr sie dann, daß der Mondring sie zur Nachfolgerin der Königin macht.« »Warum erzählst du mir das?« fragte Bodo. Diese direkte Frage brachte Yina noch mehr in Verlegenheit. »Ich weiß nicht ... Die Nacht ist so schön – hättest du nicht Lust, ein wenig durch das Lager zu streifen?« »Ja«, sagte Bodo erfreut, »ich möchte fort von den Menschen. Sie erdrücken mich fast.« »Wenn du lieber allein sein möchtest?« »Nein, ich fühle mich wohl in deiner Nähe. Du ...« Yina schwieg erwartungsvoll, aber da Bodo nicht weitersprach, fragte sie:
»Was wolltest du sagen?« »Du erinnerst mich an jemanden, Yina.« Sie wagte es nicht, sich die Antwort aus seinen Gedanken zu holen. »An wen?« »An einen Wolf.« Im ersten Moment war sie enttäuscht. Aber dann merkte sie, daß es etwas ganz anderes war, von Bodo mit einem Wolf verglichen zu werden, als wenn Kim oder Kano sie »Maus« nannten. Bodo fuhr fort: »Der Wolf war mein Freund. Ich nannte ihn Achr. Er blieb mir viele Sommer und Winter treu. Wir gehörten zusammen. Aber dann kamen die Horden der Nacht, und Achr schloß sich ihnen an. Ich glaubte, ihn für immer verloren zu haben. Doch als ich in Lebensgefahr geriet, opferte er für mich sein Leben.« Sie gingen eine Weile schweigend durch die Nacht. Schließlich fragte Yina: »Und was erinnert dich bei mir an ihn?« Bodo blieb stehen und ergriff ihre Hände. »Ich fühle, daß wir beide auch Freunde werden könnten.« Yina spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Was war denn in sie gefahren, daß sie so aufgeregt war? Bodo hatte ihr doch bloß die Freundschaft angeboten. Oder war es mehr?
»Ich möchte, daß ... daß wir Freunde werden!« Sie hatte ihre Hemmungen überwunden. »Wir werden in den nächsten Tagen immer zusammenbleiben, und du wirst sehen, mit meiner Hilfe wirst du die Scheu vor den Menschen verlieren ...« Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »In den nächsten Tagen werden wir nicht Zusammensein, Yina«, meinte er bedauernd. »Ich habe gehört, daß du mit Dragon nach Myra ziehen sollst. Ich aber werde mich den Kriegern anschließen, die sich nach Norden schlagen.« »Warum?« war alles, was sie sagen konnte. »Wenn Männer gegen Wölfe kämpfen, kann ich nicht zurückstehen. Aber wir werden uns wiedersehen Yina. Und werden wir Freunde bleiben?« Sie nickte, den Tränen nahe. »Darf ich dich küssen, Yina?« Der Schreck fuhr ihr so heftig in die Glieder, daß er sie lähmte. Sie stand nur da, zu keinem Ton und keiner Bewegung fähig. Nie hätte sie gedacht, daß einmal ein Mann sie dies fragen wurde. »Verzeih, Yina!« Bodo wandte sich um und verschwand in der Nacht. »Wir bleiben Freunde, Bodo!« rief sie ihm nach.
3.
»Hat es den Fettsack doch erwischt – und ohne daß ich einen Finger rührte!« Das sagte Ermyas, mit einer Mischung aus Verwunderung und Spott, als man ihn nach dem Bekanntwerden von König Zogors Tod aus dem Kerker holte. Das war Mitte Mond des Löwen gewesen. Zwei Tage später hatte Ermyas Krönung stattgefunden. Jetzt, wenige Tage danach, gegen Ende dieses Mondes, saß er auf seinem Thron und hielt die Macht in Händen. Aber der Thron wackelte, und seine Macht reichte nicht weit über die Mauern Myras hinaus. Aber selbst in Myra gärte es, und viele der Bürger, die dem Neffen des toten Königs den Vorzug vor dem Barbaren gaben, der aus dem Osten nahte, bereuten ihren Entschluß aus tiefstem Herzen. Ermyas war erbarmungsloser, rachsüchtiger und unmenschlicher, als es König Zogor jemals sein könnte. Er ging rücksichtslos gegen seine Feinde und gegen jene vor, die er für seine Feinde hielt – und zeigte sich kalt und undankbar gegenüber all jenen, die ihn aus dem Kerker geholt hatten. Gleich am Tage nach seiner Krönung hielt er ein fürchterliches Gericht. Er lud alle Daikane, Günstlinge und Edelleute, die höheren Berater des Königshauses und die Heerführer
zu einem Fest zu sich in den Thronsaal. Aber viele der dreihundert Plätze blieben vorerst unbesetzt – Daikane der entfernteren Provinzen waren abtrünnig geworden und geflohen. Günstlinge, Edelleute und Heerführer, die mit Zogor gen Osten gezogen waren, lebten nicht mehr, und einige der königlichen Berater hatten es vorgezogen, ihre Dienste dem neuen König zu verweigern. So kam es, daß nur die Hälfte der geladenen Gäste erschien. Doch Ermyas wußte Abhilfe. Er schickte seine Boten und Schergen aus und holte Edelleute niedrigeren Ranges zu sich, die er für wert erachtete, an diesem Fest teilzunehmen. Ermyas gab sich zufrieden, als die Tafel doch noch bis auf den letzten Platz besetzt wurde. Doch innerlich ärgerte es ihn, daß so viele nicht den Mut besessen hatten, ihm unter die Augen zu treten. Er betrachtete dies nicht als einen Akt der Unhöflichkeit, sondern als Feigheit. Wenngleich er sie zu ihrem untrüglichen Spürsinn beglückwünschen mußte, der ihnen den baldigen Tod erspart hätte ... Ermyas: vierundzwanzig Sommer alt – oder genauer, vierundzwanzig Winter, denn er hatte im Mond des Wolfes das Licht der Welt erblickt – von kleinem Wuchs, aber muskulös, mit einer unnatürlich blassen Haut, die an seinen Aufenthalt im Verlies gemahnte. Er hatte schmale, aber kraftvolle Hände,
deren Finger kostbare Ringe zierten. Er hatte das Kinn auf einer Hand aufgestützt, mit der er an der Lehne des Thronsessels lehnte. Hinter ihm war das Waffengeklirr der vier Dutzend Wachen zu hören, die sich ständig in seiner Nähe aufhielten. Rund um den Thron lagen schlanke Knaben ausgestreckt, die eine Haut besaßen, die von solch fahler Farbe wie das Mondlicht war, ihre Haare waren von reinem Goldgelb und ihre Augen so blau wie die unendliche See. Es waren kostbare Sklaven, deren Heimat der Hohe Norden war. Zu Ermyas Rechten stand Gorey, sein Kanzler. Gorey war zu Zogors Lebzeiten ein Berater unter vielen gewesen, der sich weder durch Gutes noch durch Schlechtes aus der Masse der anderen hervorhob. Aber er war damals schon klug genug gewesen, mit Ermyas zu paktieren, denn für ihn war es gewiß, daß eines Tages der Neffe des Königs den Thron besteigen würde. Nachdem in Myra bekanntgeworden war, daß Zogor in der Schlacht gegen die Urgoriten und deren Verbündete das Leben eingebüßt hatte, war Ermyas auf sein Betreiben aus dem Kerker geholt und zum neuen König von Myranien gemacht worden. Ermyas dankte es Gorey, indem er ihn zum Kanzler machte. Aber inzwischen hatte sich das Verhältnis zwischen Gorey und Ermyas getrübt. Der Kanzler, der geglaubt
hatte, daß Ermyas auf dem Thron zu Weisheit und Gerechtigkeit gelangen wurde, mußte bald erkennen, daß er sich bitter getäuscht hatte. Aber er hoffte immer noch, daß Ermyas geläutert würde und darum sparte er nicht mit Ermahnungen und guten Ratschlägen. »Du bist deinen Gästen eine Rede schuldig, Erhabener«, raunte der Kanzler dem jungen König zu. Ermyas warf seinem Lieblingsjüngling Torffson einen belustigten Blick zu und meinte, halb an ihn gewandt: »Man könnte meinen, Gorey sei nicht mein Kanzler, sondern meine Amme. Er scheint nicht zu wissen, daß er mich beraten und nicht erziehen soll.« Gorey schnappte sichtlich nach Luft. Aber bevor er eine seiner Ermahnungen von sich geben konnte, winkte Ermyas ab. »Schon gut, Kanzler. Ich werde eine Rede halten.« Ermyas zwinkerte seinem Lieblingsjüngling zu und erhob sich. Augenblicklich verstummte das Gemurmel unter den Gästen. Sie blickten erwartungsvoll zum Thron. »Ich habe euch zu mir bestellt, daß ihr mit mir das Fest meiner Krönung feiert. Aber ihr sollt nicht nur auf mein langes Leben anstoßen, sondern auch auf den gerechten Tod meines Onkels.« »Zogor ist tot, es lebe der König!« riefen einige der Gäste zaghaft.
Ermyas nahm es mit einem zynischen Lächeln zur Kenntnis, daß die meisten sich enthalten hatten, in diesen Hochruf einzustimmen. Er fuhr fort, indem er den Musselinumhang des Königs mit einer gezierten Bewegung bis an seine Brust hochhob: »Freilich entgeht es mir nicht, daß einige unter euch viel lieber auf meinen Tod trinken würden. Aber denen sei gesagt, daß ich nicht gewillt bin, ihnen schon bald in das Reich Amyrons nachzufolgen.« Er blickte aus zusammengekniffenen Augen auf die Anwesenden, so daß für jeden einzelnen der Eindruck entstehen mußte, er selbst werde von dem König geradewegs angestarrt. »Trinkt und eßt also, meine Freunde – und auch jene, die nicht gewillt sind, den Ruhm in den kommenden Sommern mit mir zu teilen.« Ermyas nahm unter dem betroffenen Gemurmel der Gäste und unter den mißbilligenden Blicken seines Kanzlers wieder Platz. Er klatschte in die Hände. Die Tore am anderen Ende des Thronsaales wurden unter dem Klang von Hörnern geöffnet, und herein kamen Sklaven, die hochrädrige Wägelchen hereinführten, auf denen sich Speisen und Getränke türmten. »Mit deinen Worten hast du den Gästen die Speisen vergällt«, murmelte der Kanzler zu seinem König. »Im Vertrauen, mein Kanzler«, sagte Ermyas spöttisch hinter vorgehaltener Hand. »Manche der
Speisen sind tatsächlich vergällt. Die Sklaven wissen es und werden sie an jene reichen, die sie verdient haben.« Gorey zuckte zusammen und blickte seinen König entsetzt an. Dieser fand diese Reaktion so komisch, daß er lauthals lachte. Die Speisen wurden gereicht. Die Gäste machten sich zuerst lustlos, aber dann mit steigendem Wohlgefallen darüber. Ermyas hatte die Gerichte von den besten Köchen zubereiten lassen. Die Festgäste, denen Ermyas‘ düstere Worte noch deutlich in den Ohren klangen, wurden immer gelöster, die Unterhaltung wurde angeregter, und so mancher verschworene Feind des neuen Königs war gewillt, seine Meinung über ihn noch einmal zu überdenken und womöglich zu ändern ... Bis dann der erste der Gäste plötzlich mit einem gurgelnden Laut aufsprang, davontaumelte und nach wenigen Schritten zusammenbrach. Ein zweiter folgte, dann wurden mehrere Stühle gleichzeitig gerückt ... Der Daikan einer nahen Provinz riß sein Schwert aus dem Gürtel, während er mit unkontrolliert zuckendem Körper auf den Thron losstürmte. Doch er kam nicht weit. Sein Körper verkrampfte sich, und er brach zusammen. Tödliches Schweigen hatte sich über den Thronsaal gesenkt, als zwei Dutzend Männer reglos auf dem
Boden rund um die Tafel lagen. Niemand wagte mehr, ein Glas oder einen Teller anzurühren. Und in die Stille hinein sagte Ermyas, ohne sich von seinem Thron zu erheben: »Amyron hat diese Männer zu sich geholt, weil sie Verräter waren. Nicht ich habe das Urteil gesprochen, sondern der Gott der Totenwelt. Laßt es euch weiterhin schmecken, meine Getreuen, denn ihr müßt nicht befürchten, daß die kalte Hand Amyrons nach euch greift. Musik! Tänzer!« Kaum hatte Ermyas in die Hände geklatscht, als aus verborgenen Nischen verführerische Klange in den Thronsaal drangen. Bemalte Jünglinge erschienen auf der freien Fläche zwischen den Tischen und boten einen Liebestanz dar. Aber nur Ermyas und seine Jünglinge wurden sich der hintergründigen Erotik gewahr, die Gäste standen immer noch zu sehr unter dem Eindruck des lautlosen Todes, der scheinbar wahllos zugeschlagen hatte. »Vielleicht wird es doch noch ein stimmungsvolles Fest«, tröstete Ermyas seinen Kanzler, der bewegungslos wie eine Statue dastand und dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. »Du hast mir nichts von deinem Vorhaben gesagt, daß du aus dem Krönungsfest eine Massenhinrichtung machen willst«, sagte Gorey tonlos. »Dabei war das erst der Anfang«, erwiderte Ermyas
ungerührt. Gorey wandte sich ihm erschrocken zu. »Du willst doch nicht ...« »Was will ich nicht, mein Kanzler?« fragte Ermyas höhnisch. »Habe ich nicht das Recht, meine Feinde auszuschalten! Soll ich diese Brut, die mir den Tod und die Pest an den Hals wünscht, an meinem Busen nähren, bis sie stark genug ist, die Wünsche in die Tat umzusetzen. Ich schütze nur mein Leben, wenn ich den Tod unter jenen säe, die ihn verdient haben – und wenn ich ein Schauspiel daraus mache, dann ist das mein königliches Recht!« »Du nennst es königliches Recht, meinst aber ein gottgleiches Verhalten«, erwiderte Gorey. »Bin ich nicht Herr über Leben und Tod?« »Doch, Erhabener«, antwortete der Kanzler. »Aber du scheint den kleinen Unterschied zu mißachten, der zwischen dem Tod besteht, den ein König gibt, und dem Tod, den die Götter schenken.« »Solche Worte möchte ich nicht aus dem Mund meines Kanzlers hören, Gorey«, sagte Ermyas drohend. »Ich bin der Gottkönig von Myramen, und vielleicht lasse ich mir einen Tempel bauen, wenn das dir Zweifler zum Glauben an mich verhilft. Und jetzt geh! Was folgt, wird deinen Augen schmerzen!« Der Kanzler enthielt sich jeder weiteren Entgegnung, verneigte sich und ging rückwärts aus
dem Thronsaal. Die blonden Jünglinge tanzten immer noch, ihre Bewegungen wurden unter der anschwellenden Musik immer ekstatischer. Plötzlich brach die Musik ab, die Tänzer lagen wie leblos auf den marmornen Boden hingestreckt. Die Festgaste blickten zum Thron, wo Ermyas nachlässig lungerte und den Kopf auf die Hand stützte. Alles wartete auf eine Reaktion von ihm. Hatten ihm die Darbietungen der Tänzer gefallen, dann würden die Gäste ihnen mit ihm Beifall zollen. »Demis!« Ermyas sagte es nicht besonders laut, aber jeder im Saal konnte seine Worte hören. Der Angesprochene erhob sich. Es war ein Siliker aus dem Süden des Landes und vertrat sein Volk als Nachfolger von El Haleb, der im Verlies den Tod gefunden hatte. »Mein König«, sagte Demis, der Daikan von Silikhur. »Wie kommt es, daß sich unter den königlichen Kriegern keine Siliker finden?« fragte Ermyas im Plauderton. »Mein König«, sagte Demis mit fester Stimme, »du kennst die Eigenart der Siliker. Sie stellen sich nicht unter den Befehl der myranischen Heerführer. Aber wenn es gilt, das Königreich zu verteidigen, dann werden sie unter der Führung ihrer Stammesfürsten ihr Leben für dich geben.«
»Das sind leere Worte«, erwiderte Ermyas spöttisch. »Warum haben sich die Siliker dann nicht Dragon zum Kampf gestellt?« Demis wurde unsicher. Er zuckte die Achseln und wollte zum Sprechen ansetzen, aber Ermyas unterbrach ihn. »Die Siliker haben ruhig zugesehen, daß sich dieser Barbar mit seinen Horden immer weiter Myra näherte. Niemand in Silikhur hat daran gedacht, den myranischen Kriegern zu Hilfe zu kommen. Das sagt mir genug darüber aus, wie sehr ich mit der Unterstützung der Silikerfürsten rechnen kann. Ich habe den Verdacht, daß die Siliker im stillen auf den Zerfall des myranischen Reiches hoffen, und darum nenne ich dich hier vor allen einen Verräter!« Demis machte einen Schritt nach vorne. Weiter kam er nicht. Ein rotweiß gefiederter Pfeil pfiff heran und bohrte sich ihm in den Rücken. Durch die Reihen der Festgäste ging ein vielstimmiger Aufschrei. Alle blickten in die Höhe, wo zwischen den Säulen des Rundganges Bogenschützen erschienen waren – eine ganze Hundertschaft. Noch ehe sich die Gäste von ihrer Überraschung erholt hatten, nannte Ermyas vier weitere Namen. »Yn Wedo, Yean, Marabeo, Argango!« Noch ehe die vier Aufgerufenen recht begriffen, ragten aus ihren Körpern die Schäfte von Pfeilen. Die
Bogenschützen legten neue Pfeile ein. »Daikane, deren Truppen sich dem Feind widerstandslos unterwerfen, sind besser tot!« begründete Ermyas sein Todesurteil. Der König ließ weitere Namen fallen, und wieder löschte sie der gefiederte Tod aus dem Buch der Lebenden. Einige der Todeskandidaten suchten hinter den Tischen und Stühlen Deckung. Aber die Bogenschützen, die den Rundgang in halber Höhe des Saales auf allen Seiten besetzt hatten, erspähten blitzschnell die wunden Punkte ihrer Deckung und schickten ihre Pfeile mit tödlicher Sicherheit ins Ziel. »Ergedes!« Der alte Mann, der wie unbeteiligt an der Tafel sitzengeblieben war, erhob sich gefaßt. Bevor er sich aufgerichtet hatte, sauste ein Pfeil heran und bohrte sich ihm in die Lenden. Er krümmte sich und taumelte in die Saalmitte. Er schleppte sich mit letzter Kraft bis zehn Schritte vor den Thron. Dort brach er zusammen. Aber er war noch nicht tot. Er hob den Kopf seitwärts hoch und fragte: »Warum?« »Du bist ein Mann mit viel Wissen, Ergedes«, sagte Ermyas. »Du hast mich von Kind an bis ins Mannesalter viele Dinge gelehrt, die mir sehr geholfen haben. Aber einmal sagtest du mir, daß alle Menschen gleichwertig seien, ob sie nun in Lumpen gingen oder
ein Königsgewand trugen. Du sagtest, daß ein Mensch Mensch bliebe, egal welches Schicksal oder welche Gnade er erfahren würde. Und deshalb mußt du sterben. Du hast damals mich und jeden von den Göttern Erwählten mit jedem Bettler gleichgestellt. Du verstehst, Meister Ergedes, daß ich diesen Frevel bestrafen muß!« Auf einen Wink Ermyas‘ schoß ein weiterer Pfeil heran und bohrte sich in den Körper des am Boden liegenden Mannes. »Rueyf! El Molo! Dardanin! Yorgon ...!« Sie alle starben – und noch mehr. Als Ermyas sein furchtbares Strafgericht beendete, bedeckten zweihundert tote Frauen und Männer den Marmorboden des Thronsaales. Damit leitete Ermyas seine Schreckensherrschaft ein, den man in Myra noch lange als »König der vierzehn Tage« in Erinnerung behalten würde ... »Du brauchst keinen Kanzler, sondern einen Henker, Erhabener«, sagte Gorey. Ermyas hatte ihm den Rücken zugekehrt und aus dem Fenster über die Stadt hinuntergeblickt. Die Stadt, so prachtvoll sie angelegt war, mit den Palästen der Reichen, den je nach Zunftzugehörigkeit gestalteten Häusern der Händler und Handwerker und den Tempeln der unzähligen Götter, wirkte selbst im roten
Licht der Abendsonne wie tot und ausgestorben. Kaum jemand wagte sich bei Einbruch der Dunkelheit noch auf die Straße, weil man sich vor den Schergen des Königs fürchtete, deren schwere Schritte zu dieser Stunde gespenstisch von den Häusern widerhallten. Der Hafen, einst Ankerplatz für Schiffe aus allen Ländern der bekannten Welt, bot ein trostloses Bild der Leere. Es fehlten die schlanken Händlerboote mit ihren bunten Segeln und mehr noch, die bauchigen Galeeren – die unbezwingbaren myranischen Kriegsschiffe, Sinnbild für die Macht des Königs von Myranien. »Zogor hat mir ein schlechtes Erbe überlassen«, sagte Ermyas verbittert. Er wandte sich Gorey zu, und zum erstenmal seit seiner Freilassung aus dem Kerker sah der Kanzler im Gesicht des jungen Königs einen Ausdruck menschlicher Schwäche. Fast empfand er Mitleid mit Ermyas, aber eben nur fast, denn im nächsten Augenblick schon verschwanden die menschlichen Züge. »Dieser Fettwanst hat für diesen sinnlosen Krieg die Schatzkammer geplündert!« rief Ermyas wütend. »Er hat das Gold mit vollen Händen Männern zugeworfen, um sie zu kaufen. Er hat geglaubt, Geld macht ihren Arm stark und ihr Herz mutig ... und jetzt laufen sie, Myras Geld in Taschen, zum Feind über! Zogor hat fast die gesamte Flotte nach Dan geschickt. Jetzt liegen die
Galeeren dort im Hafen, und die Daniter versteigern sie an die Meistbietenden. Das sind die düsteren Vorzeichen, unter denen ich den Thron bestiegen habe, Gorey!« Der Kanzler schwieg, weil er vermutete, daß Ermyas noch nicht am Ende seiner Rede war. Er hatte richtig vermutet. »Zogor war ein Weichling«, fuhr Ermyas bitter fort. »Er hat nicht die Treuen und Starken gewürdigt, sondern die Schmeichler. Einen aufrechten Mann hat er mit einem Dolchstoß, mit Gift und Feuer bestraft, einen, der schöne Worte machen konnte oder ihm sein Weib aufs Lager brachte, hat er mit Reichtümern überschüttet. So kam es, daß das gesamte Königshaus von Heuchlern und Lügnern durchsetzt wurde. Ich habe mir seit vielen Jahren alle genau angesehen, die in den Thronsaal kamen, denn so klar, wie am Ende eines Tages die Reise der Sonne zu Ende ist, so sicher mußte auch der Abend für Zogor kommen. Ich habe mir alle seine Günstlinge angesehen, weil ich wissen wollte, woran ich mit ihnen sein würde, wenn ich selbst einmal den Thron bestieg. Und ich schwor mir, daß für die Intriganten, Heuchler, Lügner und Schwächlinge mein Krönungsgeschenk der Tod sein würde. Jetzt weißt du, warum die Krönungsfeier diesen blutigen Verlauf genommen hat. Ich wollte mich aller Schmarotzer entledigen. Jetzt fühle ich mich gereinigt«
»Hast du mich rufen lassen, um mir das zu sagen, Erhabener?« erkundigte sich Gorey nach einer Weile. »Als Kanzler bist du für meine Sorgen und Probleme zuständig«, herrschte Ermyas sein Gegenüber an. »Verstehst du denn, was ich will? Ich will auf der Kraft, die den Leichen der Schwachen entströmt, eine starke, verschworene Gemeinschaft um mich aufbauen. Wenn ich von hundert Männern nur einen am Leben lasse, so ist das das richtige Verhältnis, denn dieser eine Auserwählte ersetzt mir zehn Hundertschaften. Verstehst du das. Kanzler?« Gorey nickte. »Ich verstehe, was du sagen willst, aber ich bezweifle, ob das der richtige Weg für eine Auslese ist.« Ermyas verzog spöttisch die Mundwinkel. »Ich sehe, daß du nicht einer von hundert bist. Wenn ich dich dennoch zu den Auserwählten zähle, dann nur, weil du mich zufällig aus dem Kerker geholt hast » »Wie kannst du meine Handlungsweise dem Zufall zuschreiben?« wunderte sich Gorey. Ermyas winkte ab. »Ich wollte gar nicht darüber mit dir reden. Ich habe ein Problem, Gorey. Im Osten steht dieser Dragon mit einer tausend Mann starken Vorhut keine drei Tagesritte von Myra entfernt. Dahinter lauern hundert kampferprobte Hundertschaften ... Aber ich habe nicht
genügend Krieger, um den barbarischen Emporkömmling aufzuhalten. Warum ist das so, Gorey? Als Zogor mit seiner Streitmacht nach Osten zog, ließ er zwanzigtausend Krieger in Myra und den umliegenden Garnisonen zurück. Wo sind diese Männer?« »Kannst du dir die Antwort darauf nicht selbst geben, mein König?« sagte Gorey. »Als die Kunde von der Niederlage Zogors in Myra eintraf, löste sich das riesige Heer auf. Die Krieger, ohne Hoffnung auf die versprochene Beute und reichlichen Sold, streckten ihre Waffen und verstreuten sich in alle Teile des Landes. Sie kehrten nach Hause zurück, wurden Hirten und Bauern oder Räuber und Plünderer. Du sagtest vorhin selbst, daß die Schatzkammer leer ist. Wovon sollten die Krieger bezahlt werden?« »Wir werden die Schatzkammern wieder füllen!« sagte Ermyas entschlossen. »Wenn du so sicher bist, daß dir das gelingt, dann hast du auch schon einen Plan, Erhabener?« »Nichts einfacher als das«, erklärte Ermyas. »Ich werde meine Männer in jedes Haus in dieser Stadt schicken und sie die Steuern für die kommenden Jahre eintreiben lassen. Jeder Bürger hat die Pflicht, sein gesamtes Vermögen zum Wohle der Stadt zur Verfügung zu stellen. Was hältst du davon, Kanzler?« »Die Bürger klagen schon jetzt unter der Last der
Steuern, Erhabener«, sagte Gorey. »Aber wenn du ihnen alles nimmst, dann werden sie nicht nur noch lauter klagen, sondern handeln. Das kann dich ihre Gunst kosten, mein König.« »Aber es wird mir die verlorenen Heerscharen wiederbringen«, entgegnete Ermyas. »Mit dem Geld der Bürger bezahle ich die Krieger, und die Krieger werden die Bürger im Zaum halten und die Barbaren aus dem Osten bezwingen. Ich rechne mit deinem Einverständnis für diese Maßnahme, Kanzler. Mit deinem Namen unter dieser Verfügung wird sich der Widerstand der Bürger in Grenzen halten. Du stehst bei ihnen in einem guten Ruf.« Gorey verneigte sich leicht vor dem König. Damit gab er schweigend sein Einverständnis für dessen Maßnahme. Gorey zog sich aus dem Königsgemach zurück. Es hatte keinen Sinn mehr gehabt, irgendeinen Einwand zu wagen. Ermyas erwartete keine vernünftigen Ratschläge, sondern grundsätzlich nur eine Bestätigung für seine eigenen Beschlüsse. Der Kanzler suchte zuerst sein Gemach auf, um allen Beobachtern glauben zu machen, daß er sich dort aufhielt, dann begab er sich auf Schleichwegen aus dem Palast und in die Stadt. Die Sonne war schon lange untergegangen, als er das Haus des reichsten Händlers der Stadt erreichte
und es unbeobachtet betrat. In einem streng bewachten Raum wurde er bereits von zwei Dutzend der einflußreichsten Männern erwartet, darunter nicht wenige, die im Palast ständig ein – und ausgingen und die Ermyas zu seinen Getreuen zählte. »Ich habe gefehlt, als ich Ermyas aus dem Verlies holte«, gestand Gorey vor den Versammelten ein. »Aber es ist noch nicht zu spät, um meinen Fehler wiedergutzumachen. Ich habe elf Tage, gewartet, weil ich hoffte, daß Ermyas Vernunft annehmen würde. Aber in dieser Zeit, in der er über Myra geherrscht hat, hat er mehr Leid über die Stadt gebracht als Zogor in zwanzig Sommern über das gesamte Reich. Ich sage euch, Dämonon hat Ermyas in den Klauen. Wir müssen handeln!« Kaum aus dem Kerker befreit, hatte Ermyas alle Frauen König Zogors mitsamt deren Kindern hinrichten lassen; jetzt bewohnten seine nordischen Jünglinge den Harem. Die Tür zu Ermyas‘ Gemächer stand jederzeit offen, doch wagte es keiner der Jünglinge, sie zu durchschreiten, ohne gerufen zu werden. In dieser Nacht wälzte sich Torffson auf seinem Lager aus samtweichen Kissen unruhig hin und her. Obwohl eine kühle Brise durch die geöffneten Fenster wehte, war er schweißgebadet, und sein leichtes
Seidengewand klebte ihm förmlich am Körper. Er hatte schlecht geträumt und war aus dem Schlaf geschreckt. Aber als er dann wieder einschlief, verfolgten ihn dieselben furchtbaren Träume. Weiber mit Fackeln und geraden Schwertern hetzten ihn. Ein Schrei. Torffson und die anderen Jünglinge fuhren zitternd hoch. »Torffson!« Der König erschien in der Tür Sein Gesicht war kreidebleich, und er mußte sich an der Wand abstützen. Der Jüngling eilte leichtfüßig zu seinem König. »Ich hatte einen furchtbaren Traum«, sagte Ermyas und starrte mit blicklosen Augen vor sich hin. Er zog die Augenbrauen zusammen, so daß sein Gesicht einen Ausdruck von Verblüffung bekam. »Oder war es gar kein Traum? Komm mit in mein Zimmer. Torffson, und sage mir, ob du etwas Ungewöhnliches sehen kannst.« Der Jüngling folgte ihm und durchsuchte seine Gemächer. »Ich kann nichts finden, Herr.« »Hast du in allen Winkeln und hinter allen Türen nachgesehen? Bist du sicher, daß sich hier niemand versteckt hält?« »Ich bin sicher, Herr!«
Ermyas atmete erleichtert auf. »Dann habe ich wohl nur geträumt«, sagte er. »Ich mochte trotzdem, daß du in meinem Zimmer Wache hältst. Hole dir Kissen, richte dir ein Lager vor meinem Bett. Wenn du Geräusche hörst oder etwas siehst, dann wecke mich sofort.« »Ja, Herr!« Torffson wagte nicht von seinen eigenen Schreckenstraumen zu berichten. Er rollte sich auf den Kissen vor Ermyas‘ Bett zusammen und hielt die Augen geöffnet. Er konnte nicht einschlafen, auch dann nicht, als du regelmäßigen Atemzüge seines Herrn verrieten, daß er längst Ruhe gefunden hatte. Ermyas‘ Ruhe dauerte jedoch nicht lange ... »Ermyas, wach auf! Ich bin wieder zurückgekehrt. Ermyas, hier ist Zogor!« Der junge König erwachte, aber er hielt die Augen geschlossen. Er lauschte, aber die Stimme meldete sich nicht sofort wieder. Dafür hörte er Geräusche an seinem Bett, und ihm war, als höre er das verhaltene Atmen eines Wesens. Nein, er war nicht wach! Er träumte alles nur. Zogor war tot, und so sehr er es sich vielleicht wünschen mochte, aus dem Reich der Toten zu den Lebenden zurückzukommen – Amyron hielt ihn mit sicherem Griff zurück. Zogor war es nur möglich, seine Feinde durch die Träume zu verfolgen ...
»Ermyas, wach auf! Öffne die Augen und sieh mich an. Ich bin es, Zogor!« Ermyas konnte die Augen nicht länger mehr geschlossen halten. Er riß sie auf – und sah Torffson über sich gebeugt. »Was ist in dich gefahren ...«, begann Ermyas wütend. Aber Torffson sagte ungerührt, »Ich bin Zogor. Du sollst wissen, daß ich gekommen bin, um mir den Thron zurückzuholen.« »Torffson!« kreischte Ermyas. Der Jüngling wich einen Schritt zurück, und Ermyas sah, wie eine Verwandlung mit ihm vor sich ging. Sein schmales, feingeschnittenes Gesicht blähte sich auf, wurde voll, rund und fett. Er schien zu wachsen, sein Körper wurde immer breiter, bis die knabenhafte Gestalt unförmig war. »Sieh mich an, ich bin Zogor«, sagte das, was aus Torffson geworden war, mit Zogors Stimme. Und es war tatsächlich Zogor! Ermyas schrie auf und barg sein Gesicht in den Händen. »Torffson!« rief er mit sich überschlagender Stimme. »Berühre mich, verscheuche diese schrecklichen Bilder!« Langsam beruhigte sich Ermyas wieder. Als er das Gefühl hatte, daß der Spuk sich wieder aufgelöst hatte,
nahm er die Arme vom Gesicht. Er lugte vorsichtig darüber. Die Erscheinung hatte sich tatsachlich wieder in Nichts aufgelost. Das Bild Zogors war verschwunden, aber dafür sah Ermyas etwas, daß viel schrecklicher war als alles in seinen vorangegangenen Träumen. Er erhob sich langsam aus dem Bett und schritt schwankend auf die Haremstür zu. Sie war verschlossen. Torffson lehnte zusammengekrümmt dagegen. Zwei unterarmlange Parierdolche steckten in seinem Körper. Als Ermyas bei ihm war, streckte er die Hand aus und hegte die stille Hoffnung, daß sie durch Torffson hindurchgleiten wurde. Aber seine Hände fühlten festes Fleisch, das noch nicht erkaltet war. Torffson tot! Von Zogor ermordet! Zogor? Nein! Das alles war nicht wirklich. Der Traum war noch nicht zu Ende, er ging noch weiter. Ermyas nahm seine Hände zurück. Sie fühlten sich klebrig an. Als er darauf sah und dunkles Blut an ihnen entdeckte, da erst löste sich der Schrei aus seiner Kehle. »Wache!« Die Türen wurden aufgerissen, und die Wachen stürmten mit gezückten Säbeln ins Zimmer. »Schafft den Toten fort«, befahl er ihnen. Sie taten, wie ihnen geheißen. Ermyas beobachtete sie mit großen, ungläubig
blickenden Augen. »Könnt ihr ihn sehen?« fragte er. »Könnt ihr ihn fühlen?« »Jawohl, Erhabener«, sagte der Wachkommandant. »Er ist unwiderruflich tot.« »Das hat Zogor getan«, sagte Ermyas zu sich selbst. Kaum hatte sich die Tür hinter den Wachen geschlossen, da erklang hinter ihm ein spöttisches Lachen. Ermyas wirbelte herum und blickte suchend um sich. »Ich bin hier, Ermyas«, vernahm er Zogors Stimme aus Richtung des Fensters. Bauschte sich dort nicht der Vorhang auf eine Art, als verstecke sich jemand hinter ihm? Ermyas war mit drei Schritten bei seinem Schwert und stürmte damit auf den Vorhang los. Mit vier, fünf Streichen hatte er ihn in Fetzen geschlagen – aber dahinter kam nicht Zogors Leichnam zum Vorschein. Dafür konnte Ermyas beobachten, wie der zerfetzte Vorhang aus der Halterung glitt und in sich zusammenfiel. Der Stoffberg bewegte sich, als besäße er ein eigenes Leben und hatte plötzlich eine Form, wie wenn sich darunter ein menschliches Wesen befände. Langsam begann Ermyas an seinem Verstand zu zweifeln. Er wich Schritt für Schritt vor dem Vorhang zurück, der immer mehr menschliche Formen annahm.
Das Schwert hielt Ermyas fest in der Hand, er war bereit, selbst gegen Dämonen und Tote zu kämpfen. Aber er hoffte immer noch, daß dies alles nur ein Traum sein möge. Wenn dieser Traum zu Ende war, dann würde er in allen Tempeln der Stadt Opfer darbringen – nur nicht im Tempel von Dämonon. Er wurde alle Götter anrufen und ihre Hilfe gegen den Gott der Dämonen erbitten, jenen furchtbaren Herrscher über die Geschöpfe der Finsternis, der seinen Geist mit den Bildern von Zogor durchsetzte. Und da war er wieder – aus dem Vorhang war Zogor geworden. »Sieh mich an, Ermyas. Ich, Zogor, bin zurückgekommen, um den Thron zu besteigen.« Ermyas stürmte unerschrocken auf ihn los. Er hieb ihm zuerst den Kopf vom Rumpf, dann die Arme und Beine vom Körper und verstümmelte zuletzt den Torso. Als das getan war, wusch er seine Hände im Blut seines Onkels. Dann ging er zu einer der Türen und befahl den dort stehenden Wachen: »Schafft die sterblichen Überreste von Zogor aus meinem Gemach. Verbrennt sie, nur den Kopf hebt auf. Er soll an einem Pfahl durch die Stadt getragen werden, damit alle sehen, daß er unwiderruflich tot ist.«
Die Wachen wunderten sich über den seltsamen Befehl ihres Königs, aber sie schickten sich widerspruchslos an, ihn auszuführen. Nur konnten sie ihm nicht nachkommen, weil keine sterblichen Überreste aufzufinden waren. Ermyas blickte auf seine Hände. Kein Blut war an ihnen. Er schickte die Wachen fort. In der nächsten Nacht tötete er Zogor wieder.
4.
Cnossos‘ Pläne wurden durch eine Reihe unvorhergesehener Zwischenfälle durchkreuzt. Sein Plan war es gewesen, während seine Horden der Nacht Dragons Heer im Nordwesten von Myranien schlugen, in Myra als König Zogor aufzutreten und den Thron für sich zu beanspruchen. Nun war aber Dragon nicht, wie erwartet, mit seiner Hauptstreitmacht in den Kampf gegen die Horden der Nacht gezogen, sondern marschierte an der Spitze der Vorhut unbeirrbar nach Myra weiter. Das bedeutete aber, daß sich Cnossos persönlich mit ihm befassen mußte. Der zweite unvorhergesehene Zwischenfall war, daß
man in Myra von König Zogors Tod bereits überzeugt war. Die Kunde, daß Dragon die Mumie des toten Königs mit sich führte, war ihm weit vorausgeeilt und wurde von niemand in Myra angezweifelt. Und das war etwas, mit dem Cnossos nicht gerechnet hatte. Er hatte angenommen, daß man nach seinem Auftritt als Zogor allgemein davon überzeugt sein wurde, er sei der echte König von Myranien – und das Gerücht von seinem Tod sei eben nur ein Gerücht gewesen. Darauf durfte er aber aus einem einfachen Grund nicht hoffen, und zwar aus einem Grund, der ihm am wenigsten behagte: Ermyas, der rechtmäßige Thronerbe, war aus dem Kerker entlassen und auf den Thron gesetzt worden. Damit hatte Cnossos am allerwenigsten gerechnet. Ermyas würde mit allen zur Verfugung stehenden Mitteln um den Thron kämpfen. Cnossos würde über ihn nur triumphieren können, wenn er alle glauben machen konnte, daß Zogor noch am Leben war. Und so erschien er Ermyas in dieser Nacht als Zogor. Er tötete Torffson, nahm dessen Gestalt ‚ an und verwandelte sich vor Ermyas Augen in Zogor. Dann ließ er sich von diesem scheinbar töten. Als der junge König jedoch die Wachen hereinrief, vereinte Cnossos seine über den Boden verstreuten Körperteile zu einem Ganzen, wobei auch das Blut an Ermyas‘ Händen zur
Hauptkörpermasse zurückkehrte, und flog als Geier in östlicher Richtung davon. Die Wachen, die Ermyas gerufen hatte, mußten am Verstand des jungen Königs zu zweifeln beginnen ... Es war aber nicht damit getan, daß allein Ermyas zu der Überzeugung kam, daß Zogor noch lebte und zurückgekehrt war, um Rache zu üben und den Thron wieder an sich zu reißen. Er mußte das allen glaubhaft machen – und deshalb blieb ihm keine andere Wahl, als die Mumie zu beseitigen, so daß Dragon keinen Beweis für Zogors Tod vorbringen konnte. Aus diesem Grunde flog Cnossos nach Osten. Als er das Lager von Dragons tausend Mann starkem Heer erreichte, kreiste er solange darüber, bis er den Wagen ausgemacht hatte, auf dem Zogors Mumie aufgebahrt war. Er ging in der Nähe nieder. Aber gerade, als er seine Geiergestalt aufgeben und sich in einen Menschen verwandeln wollte, entdeckte ihn ein aufmerksamer Wachtposten. Ein Pfeil bohrte sich in Cnossos‘ Körper ... kurz darauf starb der Wachtposten am Biß einer Schlange, die Cnossos aus sich geformt hatte. Jetzt stand der Verwirklichung seiner Pläne nichts mehr im Wege. Es gab keine weiteren Zeugen, die sein Kommen beobachtet hatten. In einem Versteck nahm er Zogors Aussehen an. Dann schlich er sich zu dem Wagen und betäubte die
dort wachenden Urgoriten mit Traumpulver, das er aus seiner Körpersubstanz gewann. Sie würden zwei Stunden lang schlafen, gerade bis zum Morgengrauen. Und dann würde Cnossos‘ großer Auftritt als von den Toten wiederauferstandener Zogor kommen! Er holte die Mumie vom Wagen, versteckte sie unter einer Plane, wo er sie später vernichten konnte, und nahm selbst ihren Platz ein. So wartete er auf den Sonnenuntergang und darauf, daß das Heerlager zu Leben erwachen würde. Yina erwachte, noch bevor die Sonne die ersten Strahlen über den Horizont schickte. Sie hatte davon geträumt, daß Bodo bei ihr war. Jetzt war sie hellwach, und das Bewußtsein, daß Bodo vier Tagesritte von ihr entfernt war, stimmte sie traurig. Er würde in spätestens einem Tag auf die Horden der Nacht stoßen – und dann würde sie mit Dragons tausend Kriegern bereits vor den Toren von Myra stehen. Was erwartete sie dort? Sie blickte abwechselnd von Dragon zu Kim, die beide noch fest schliefen. Für einen Augenblick war sie versucht, Kim zu wecken, um ihn zu bitten, mit seinem Bruder Kano in Gedankenverbindung zu treten und durch ihn zu erfahren, wie es Bodo ging. Aber diesen Gedanken schlug sie sich sofort wieder aus dem Kopf. Als sie wieder zu Dragon blickte, sah
sie, wie dessen Amulett, das ein Stück unter der Decke hervorsah, leicht zu pulsieren begann. Dragon wälzte sich unruhig hin und her. Yina dachte sich nichts weiter dabei und verließ das Zelt. Es war ein schöner Morgen, die Luft war frisch und kühl und ließ noch nichts von der Hitze des kommenden Tages ahnen. Yina wanderte durch das schlafende Heerlager. Sie war so in Gedanken versunken, daß sie nicht wußte, in welche Richtung sie sich begab. Plötzlich sah sie den Wagen vor sich, auf dem die Mumie König Zogors aufgebahrt war. Die dort aufgestellten Wachen lagen reglos auf dem Boden oder gegen die Deichsel und die Räder des Wagens gelehnt. Einer lag zusammengerollt auf dem Kutschbock, den Bogen fest umspannt – aber er rührte sich ebensowenig wie die anderen. Ein furchtbarer Verdacht stieg in Yina auf. Aber sie beruhigte sich sofort wieder, als sie die leisen Gedanken der Wachen las. Sie waren nicht tot, sondern schliefen nur. Dennoch ahnte Yina, daß irgend etwas vorgefallen sein mußte. Dragon hatte nur die verläßlichsten Männer zur Bewachung der Mumie abgestellt; es war unwahrscheinlich, daß sie alle eingeschlafen waren. Sie kletterte schnell und behende auf den
Kutschbock. König Zogors Mumie lag scheinbar unberührt da. Sie hätte aufatmen können, aber dann entdeckte sie etwas, das sie in helle Panik versetzte... Dragon richtete sich auf und griff gleichzeitig zu seinem Schwert. Mit einem Blick übersah er die Lage im Zelt. Kim schlief tief, aber Yina war verschwunden. Das Amulett auf seiner Brust pulsierte, und in seinem Kopf war ein Pochen, das im gleichen Takt wie das Pulsieren des Amuletts verlief. Schritte ertönten vor dem Eingang des Zeltes. Der Vorhang wurde zurückgeschlagen, und Yina kam hereingelaufen. Atemlos blieb sie vor ihm stehen. »Dragon! Dragon!« Er umfaßte ihre Schulter. »Was ist denn Schreckliches passiert, Maus?« fragte er ruhig. »Ich war beim Wagen mit der Mumie ... und habe ihre Gedanken gehört!« Er umfaßte mit einer Hand das Amulett und drückte so fest zu, als könne er dadurch das Leuchten zum Erlöschen bringen. »Du mußt dich geirrt haben, Maus«, sagte er gepreßt. »Nein, bestimmt nicht, Dragon«, sagte sie überzeugt.
»Die Wachen sind alle eingeschlafen ... und der tote Zogor denkt!« Das konnte nur eines bedeuten: Cnossos! Dragon hatte schon lange mit einer neuen Attacke von ihm gerechnet, und er glaubte auch zu wissen, was Cnossos im Schilde führte. Kim richtete sich auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen. »Warum macht ihr denn solchen Krach?« fragte er mit verschlafener Stimme. »Du bleibst im Zelt, Kim«, befahl Dragon, während er sich in Bewegung setzte. »Komm, Yina!« Er eilte aus dem Zelt, das Mädchen hinter ihm her. Noch lag das Lager still und friedlich da. Die meisten Krieger hatten bis lange in die Nacht hinein gezecht. Dragon hatte ihnen gesagt, daß sie nicht vor Mittag aufbrechen würden und ihnen alle vertretbaren Freiheiten gelassen, weil mit einem massiven Widerstand der Myraner nicht zu rechnen war. Die Späher hatten berichtet, daß vor der Stadt keine Kriegerheere lagerten und in Myra selbst die königlichen Soldaten nur in geringer Zahl zu sehen waren. Jetzt erwies es sich als günstig, daß Dragon seinen Kriegern erlaubte, länger als sonst zu schlafen. Er war ziemlich sicher, daß Cnossos erst zuschlagen würde, wenn alle erwacht waren. Wenn es stimmte, daß er den
Platz der Mumie eingenommen hatte, dann war es zweifellos seine Absicht, den Männern die Auferstehung König Zogors zu demonstrieren. Zwei Wachen eilten herbei, als sie Dragon in voller Kampfausrüstung erblickten. »Weckt zehn gute Bogenschützen, die weder Tod noch Dämonen fürchten«, trug er ihnen auf. »Laßt aber die anderen Männer schlafen.« Die beiden Wachen eilten davon, Dragon folgte ihnen mit Yina. Wenig später waren sie von einer kleinen Schar Urgoriten umringt, die Bogen in den Fäusten hielten. »Nehmt nur Brandpfeile mit euch«, befahl er ihnen. »Und jeder von euch soll sich mit einer Pechfackel ausrüsten. Steckt die Fackeln in Brand, noch bevor wir aufbrechen. Später werdet ihr vielleicht keine Zeit mehr dazu haben.« Ohne lange Fragen zu stellen, entzündeten die Männer ihre Fackeln in den Resten eines Lagerfeuers. Einige der Krieger wurden von den Geräuschen geweckt, aber als sie Dragons Befehl – »Bleibt, wo ihr seid!« – hörten, rührten sie sich nicht vom Fleck. Der kleine Trupp mit Dragon und Yina an der Spitze setzte sich fast geräuschlos in Bewegung. Die Wachen, die ihnen zu Hilfe kommen wollten, winkte Dragon auf ihre Plätze zurück. Je näher sie dem Wagen mit der Mumie kamen,
desto stärker begann Dragons Amulett zu pulsieren. Als er zwischen den Zelten auftauchte, hielt Dragon seine Männer an. »Wir werden so tun, als hatten wir uns entschlossen, König Zogors Mumie zu verbrennen«, raunte Dragon den Kriegern zu. Als er ihre verständnislosen Gesichter sah, fuhr er fort: »Fragt euch nicht, wozu das gut sein soll. Nur soviel: Was auf dem Wagen liegt, ist nicht Zogors Mumie. Ihr mußt also damit rechnen, daß etwas Unheimliches passiert, das ihr mit eurem Verstand nicht begreifen könnt. Laßt euch davon nicht einschüchtern. Wahrscheinlich wird sich irgendein schreckliches Ungeheuer vom Wagen erheben, wenn wir ihn in Brand setzen. Wenn es soweit ist, dann beschießt das Ding mit euren Brandpfeilen. Zuerst müssen wir aber die Bewußtlosen aus dem Gefahrenbereich schaffen.« Die Männer bohrten ihre brennenden Fackeln in den Boden und rannten geduckt zum Wagen, wo sie sich der scheinbar Schlafenden annahmen und sie davonschleiften. »Sind die Gedanken noch da?« erkundigte sich Dragon bei Yina. Sie fröstelte. »Ja, ich kann sie noch immer hören. Aber jetzt merke ich, daß es nicht Zogors Gedanken sind. Sie sind so fremdartig, daß ich keinen Sinn dann finden kann.«
»Das muß Cnossos sein!« Nun war Dragon ganz sicher. Für ihn stand es fest, daß Cnossos nur abwarten wollte, bis das Lager erwacht war und alle Krieger sehen würden, wie König Zogor sich plötzlich erhob, als sei er nie tot gewesen. In weiterer Folge beabsichtigte er wahrscheinlich, in Myra einzureiten und den Thron zu besteigen. Und die Myraner wurden ihn mit offenen Armen aufnehmen, da sie unter Ermyas Schreckensherrschaft viel mehr litten, als jemals unter Zogors Regime. Die Männer kamen zurück und ergriffen wieder ihre Fackeln. Dragon ließ Yina zurück und näherte sich an ihrer Spitze dem Wagen. »Die Mumie hat ihre Schuldigkeit getan«, sagte er so laut zu den Kriegern, daß es Cnossos hören mußte. »Zündet sie an.« Die Krieger schleuderten ihre Fackeln auf den Wagen. Einige landeten auf der Ladeflache, andere bei den Rädern, wo das ausgedorrte Gras sofort Feuer fing. Eine Fackel behielt Dragon in der Hand. Die Krieger entzündeten ihre Brandpfeile daran. Einige Augenblicke lang geschah überhaupt nichts. Aber als dann die ersten höheren Flammen von der Ladeflache züngelten, entstand auf dem Wagen plötzlich Bewegung. Die Mumie sprang auf die Beine. Sofort schwirrten
zehn Pfeile von den Sehnen und bohrten sich in die Zogorgestalt. Ein Aufschrei erklang, wie ihn weder ein Mensch noch ein Tier dieser Welt hervorbringen konnte. Die Zogorgestalt zerfloß, mächtige Schwingen bildeten sich, das Ungeheuer, das nur noch ein entfernt menschliches Aussehen hatte, erhob sich in die Lüfte und flog davon. Zehn weitere Pfeile zogen ihre feurige Bahn und trafen teilweise ins Ziel. Vor Schmerz und Wut schreiend, flog Cnossos als lebende Fackel aus dem Lager hinaus. Als er sich über einem Wassertümpel befand, stürzte er sich hinein. Das Wasser zischte auf, und aus den hoch aufspritzenden Fontänen stießen unzählige kleine Vögel, die sich erst in sicherer Entfernung zu der bekannten Gestalt des Riesengeiers vereinten. »Cnossos wird die Lehre aus dieser Niederlage ziehen und uns bestimmt nicht mehr behelligen«, meinte Dragon zuversichtlich. »Aber er wird jetzt sein Glück in Myra versuchen. Ich wage nicht daran zu denken, welches Unheil er dort für uns heraufbeschwören kann.« Dragon betrachtete die Bogenschützen. Das eben Erlebte hatte Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen. Aber sie würden es schon verkraften, denn als Urgoriten hatten sie das unheimliche Wirken des Gottes mit den vielen Namen schon früher erlebt.
»Jetzt müssen wir nach der echten Mumie suchen«, befahl Dragon. »Cnossos hatte sicher nicht genügend Zeit, um sie weit genug fortzubringen oder gar zu vernichten.« Zusammen mit Yina kehrte er zu seinem Zelt zurück. »Ich habe gute Nachrichten von Kano«, meldete Kim. »Während ihr fort wart, habe ich mich mit ihm unterhalten. Parthos und Agrions Truppen sind einen Tagesritt von der Bucht der Kiesel auf eine Abteilung Katmahzari-Kriegerinnen gestoßen, die eine Ladung Silberwaffen mit sich führten. Kano meinte, nach Parthos Aussage wurden es genügend sein um zweitausend Krieger und zusätzlich hundert Bogenschützen auszurüsten.« »Das ist in der Tat eine erfreuliche Nachricht«, meinte Dragon. »Weiß Kano, ob es bereits zu Kampfhandlungen mit den Horden der Nacht gekommen ist?« »Kano sagte, daß die Späherinnen der Amazonen das Herannahen der Horden der Nacht gemeldet hätten«, antwortete Kim. »Aber bisher sind sie ihnen immer ausgewichen. Inzwischen könnten die Horden aber die Ebene von Sapca bereits erreicht haben.« Die Ereignisse spitzen sich zu, dachte Dragon. Es würde bald zur Entscheidung kommen. An der Grenze von West-Katmahzar ebenso wie in Myra.
Die Amazonen waren mit solcher Begeisterung von den Kriegern empfangen worden, daß ihnen bange zumute wurde. Ihre Hände griffen unwillkürlich nach den Waffen, aber dann ließen sie es doch mit sich geschehen, von den Kriegern umarmt zu werden. Sie konnten sehr wohl zwischen zudringlichen Männern und solchen unterscheiden, die nur ihrer Freude über kostbare Geschenke Ausdruck verliehen. Und die Silberwaffen waren in der Tat ein Geschenk der Götter! Die Krieger rissen die Decken von den Wagen und wühlten wie verspielte Kinder in den Schwertern mit den silbernen Klingen, den Lanzen und Pfeilen, deren Spitzen ebenfalls im Licht der aufgehenden Sonne silbrig schimmerten. Plötzlich erschien jedoch Agrion auf einem der Wagen und verscheuchte die Männer mit ihrem Schwert. »Sag deinen Leuten, daß sie diesen Unfug lassen sollen, Partho«, rief sie mit zorniger Stimme. »Es geht nicht an, daß die Krieger wahllos Waffen an sich nehmen. Wir müssen sie sinnvoll verteilen, damit wir im Kampf gegen die Wolfsmenschen die größte Wirkung erzielen.« Partho schwang sich vom Pferd auf den Wagen und stellte sich neben sie.
»Die Trägerin des Mondrings hat recht, Männer«, pflichtete er ihr bei. »Ich möchte keinen dabei erwischen, daß er unerlaubt einen Silberdolch, oder auch nur einen Pfeil an sich nimmt! Es sind nicht genug Waffen für jeden da. Ich schätze, daß wir zweitausend Krieger damit bewaffnen können. Deshalb werden wir uns überlegen müssen, wie wir sie verteilen. Geht jetzt wieder an eure Plätze. Wir legen eine Pause ein. Wenn die Sonne am höchsten steht, werden wir wieder aufbrechen und bis zur Ebene von Sapca durchreiten.« Die Männer zogen sich murrend zurück. »Das schaffen wir nie«, meinte Agrion so leise, daß nur Partho es hören konnte. »Die Pferde sind total erschöpft. Viele werden zusammenbrechen, bevor wir am Ziel sind.« »Dann werden wir die Pferde eben zuschanden reiten, wenn wir dadurch rechtzeitig die Ebene von Sapca erreichen!« Agrion nickte und sprang vom Wagen. »Komm, wir werden uns von den Kriegerinnen Auskunft darüber holen, wie die Lage im Norden ist.« Nabib war herangekommen und blickte sehnsüchtig auf die Silberwaffen. »Zwanzig Speerspitzen sind aus dem Amulett geformt, das für mich ein Andenken an eine glutheiße Liebe war.« Er seufzte. »Aber ich will es gerne opfern, wenn dadurch zwanzig Wolfsmenschen den Tod
finden.« Sardak war an seine Seite gekommen. Das silberne Leuchten der Waffen blendete ihn, er starrte mit zusammengekniffenen Augen darauf. Dann langte er hinein und ergriff ein kurzes, gerades Schwert. »Keine gekrümmte Klinge«, sagte er enttäuscht. »Nur Amazonenschwerter! Aber sie werden gut genug sein, um den Geschöpfen des Cnossos den Tod zu bringen.« Er wollte sich das Schwert in den Gürtel stecken, da sprang eine Amazone hinzu und setzte ihm den Dolch an die Kehle. »Gib es zurück«, verlangte sie drohend. »Partho!« rief Sardak erschrocken »Sag dieser Närrin, daß mir eine Silberwaffe zusteht.« Anstelle von Partho griff Agrion ein. »Er darf die Waffe behalten«, sagte sie zu der Kriegerin. »Suche dir ebenfalls eine aus, Nabib.« Sie wandte sich dem jungen Mann aus dem Wolfsland zu, der sich schüchtern im Hintergrund gehalten hatte. »Bodo, welche Waffe wählst du?« Bodo kam mit drei schnellen Schritten heran und schwang sich auf die Bordwand des Wagens. Er überflog die Waffen mit Kennerblick und ergriff dann eine zwei Meter lange Lanze mit einer langen Silberspitze. Er sprang wieder zu Boden und machte mit der
Lanze einige Scheinangriffe und Abwehrbewegungen. Dann sagte er zufrieden: »Damit kann ich mir die Wolfsmenschen vom Leibe halten und sie gleichzeitig in den Tod befördern. Glaub mir, Sardak, es wäre klüger, wenn du auch eine Lanze wähltest.« Der Helfer der Hirten schüttelte grinsend den Kopf. »Ich behalte das Schwert.« Nabib hatte sich ebenfalls ein Schwert genommen. Er vertraute zwar Bodos Urteil, aber er fand, daß ein Schwert besser in seiner Hand lag als eine Lanze. Nun schloß er sich mit den anderen Partho und Agrion an, die sich zu der Anführerin der Amazonen begaben, die die Waffen befördert hatten. Da tauchte Kano an Parthos Seite auf. »Kim hat sich wieder gemeldet«, sagte er aufgeregt. Partho blieb stehen und blickte auf den Jungen herunter. »Hat sich Cnossos eine neue Tücke einfallen lassen, um Zogors Mumie zu vernichten?« erkundigte er sich. Kano hatte ihm erst vor wenigen Augenblicken von dem Zwischenfall mit Cnossos berichtet. »Nein, Cnossos hat genug«, sagte Kano. »Aber Dragons Männer haben die echte Mumie gefunden, die dieses Scheusal versteckt hat.« Partho klopfte ihm auf die Schulter und schickte ihn wieder fort.
Die Anführerin des Amazonentrupps hieß Yileia und war nicht halb so hübsch wie ihr Name klangvoll. Sie hatte Arme, so dick wie die Schenkel manchen Mannes, und Brüste, die ihren Harnisch zu sprengen drohten. Das schwarze Haar hing ihr fett und strähnig in die Stirn. Bei Nabibs Anblick setzte sie die Hammelkeule ab, an der sie gerade aß, und sagte begeistert: »Endlich mal ein richtig gewachsener Mann!« »Laß dich von meinem Äußeren nicht täuschen«, sagte Nabib schnell. »Ich besitze überhaupt kein Mark in den Knochen.« »Das werde ich bei Gelegenheit nachprüfen«, meinte die fette Amazone schmunzelnd. Agrion nahm ihr gegenüber Platz und fragte: »Was hast du uns über die Lage im Norden zu berichten?« Als der Blick der Amazone auf den Mondring an Agrions Hand fiel, wurde sie sich bewußt, daß sie ihrer zukünftigen Königin gegenübersaß. Sie warf die Hammelkeule einer Kriegerin zu, wischte sich die fetten Finger im Haupthaar ab und schickte sich an, ihre Lippen auf den Mondring zu drücken. Agrion zog die Hand jedoch zurück. »Die Kriegerinnen warten mit der Silberwaffe in der Hand auf den unheimlichen Feind«, sagte die fette Amazone.
»Das hast du uns schon bei deinem Eintreffen berichtet«, erwiderte Agrion ungehalten. »Mich interessiert, welche Maßnahmen Grisha im einzelnen getroffen hat. Die Zeit wird nicht reichen, daß wir uns vor dem Kampf mit ihrem Heer vereinen. Wir müssen schon vorher einen Schlachtplan entwerfen.« »Wir müssen unsere Kampfweise auf die Geländebedingungen und auf das Verhalten der Wolfsmenschen abstimmen«, erklärte die fette Amazone mit dem klangvollen Namen. Sie ergriff einen abgenagten Knochen und zeichnete mit ihm ein großes Oval in den Sand. »Das ist die Ebene von Sapca«, fuhr sie fort. »Grisha hofft, daß sie die Wolfsmenschen durch eine List einen Tag lang, bis zu eurem Eintreffen, im Westen der Ebene aufhalten kann. Hier, nordöstlich von Sapca liegt ein heimtückisches Sumpfgebiet mit einem See. Im Osten liegt die Grenzstadt Ad‘zhari – aber bis dorthin werden die Horden der Nacht hoffentlich nicht vordringen. Im Süden, also in der Richtung, aus der ihr kommt, wird Sapca ebenfalls von einem See begrenzt. Er ist groß und tief, so daß ihr ihn umrunden müßt. Ihr könnt ihn nach Osten umgehen, so daß ihr zu Grishas Heer stoßt, oder aber ihr weicht ihm nach Westen aus, um so den Horden der Nacht in den Rücken zu fallen.« Agrion betrachtete die einfache Zeichnung, die Yileia in den Sand gemacht hatte, dann blickte sie
fragend zu Partho. »Yileia hat uns die Entscheidung abgenommen«, sagte er. »Wenn wir den Horden in den Rücken fallen können, dann werden wir von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Viel wichtiger als unsere Kampfweise ist die Art, wie wir die Silberwaffen einsetzen. Die Wölfe selbst können ja mit herkömmlichen Waffen bekämpft werden. Unser Problem ist, die Silberwaffenträger so zu verteilen, daß die Wolfsmenschen in ihre Linie geraten und sie ihre Kräfte nicht auf die Wölfe verzetteln. Andererseits müssen wir trachten, daß die Krieger mit den herkömmlichen Waffen nicht an die Wolfsmenschen geraten.« »Das sind gescheite Worte«, meinte Agrion. »Ich hoffe nur, daß es uns gelingen wird, sie in die Tat umzusetzen.« »Ich brenne auf den Kampf«, sagte Sardak, der seit seinen Erlebnissen in Bo-gah einen unstillbaren Haß gegen Cnossos und dessen Geschöpfe in sich trug. »Ich brenne weniger auf den Kampf«, gestand Nabib ein. »Ich habe mich euch eigentlich nur angeschlossen, um zu meinem Schiff zu kommen, das in der Bucht der Kiesel vor Anker liegt.« Er wandte sich der fetten Amazone zu. »Weißt du, wie es meiner Mannschaft geht? Ich hoffe, daß an Bord alle wohlauf sind.« Yileia grinste.
»Deine Männer haben sich schnell mit den Kriegerinnen angefreundet. Es geht ihnen prächtig.« Nabib machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Abschied wird ihnen nicht so schwerfallen. Seeleute hält es nirgendwo lange, sie finden in jedem Hafen ein Mädchen. Wenn ich in die Bucht der Kiesel komme, werde ich sofort den Anker lichten und Kurs auf Myra nehmen. Bis dahin ist Dragon schon längst in die Stadt einmarschiert, und mein Wein wird reißenden Absatz finden.« Yileia begann schallend zu lachen. »Du kannst dir den Weg nach Myra sparen, Nabib«, brachte die fette Amazone schließlich hervor. »Grisha hat die gesamte Ladung Wein für einen ganz bestimmten Zweck beschlagnahmt.« Wo war die Quelle des nie endenwollenden Blutstroms? Wo waren die vielen Taggespenster, die ihnen ihr Gott versprochen hatte? Bisher waren sie nur einigen wenigen begegnet, und die waren schnell gerissen. Die zweite Nacht, die die Mondherren und deren Wölfe jenseits des engen Wassers zubrachten, ging ihrem Ende zu, und die toten Nachtschläfer, die ihren Weg markierten, konnte man zahlen. Wirch hatte nur zweimal in zwei Nächten Blut
geleckt, frisches Blut von zwei Nachtschläfern, jetzt verlangte sein Körper nach mehr. Hatte sie der Wolfsgott belogen? Nein! Hatte er sie in die Ostländer gelockt, um sie zu prüfen? Vielleicht – aber warum sollte er es tun? Die Mondherren und deren Wölfe waren ihm treu ergeben, nie hatten sie gefrevelt, nie sich gegen ihn gewandt oder sich gegen ihn versündigt. Sie waren willens, alles für ihn zu tun. Er würde sich dessen nicht erst durch eine Prüfung vergewissern müssen. Das wußte der Wolfsgott, der Wirch einen Teil seines Körpers in die Stirn eingepflanzt hatte. Wirchs zweites Augenpaar war ein Stück von seinem Gott; es machte ihn unsterblich und allgewaltig. Aber wo waren die Nachtschläfer? Die Horden wurden immer unruhiger und unzufriedener, je weiter sie nach Osten kamen. Wirch gelang es immer wieder, sie zu beruhigen und ihren Tatendrang zu wecken. »Bald«, versprach er ihnen, »bald sind wir an den Quellen des Blutstroms. Das verrät mir der Gottesteil auf meiner Stirn.« Das waren nicht nur bloße Worte, es war die Wahrheit. Das göttliche Augenpaar über seinen eigenen Augen verlieh im einen untrügbaren Instinkt,
der ihm den Weg zu den großen Herden der Taggespenster wies. »Bald«, heulte Wirch sehnsüchtig zum verblassenden Mond hinauf, während der Schmerz der beginnenden Verwandlung bereits an seinem Wolfskörper zerrte. Er verkoch sich in einen Holzberg der Nachtschläfer und ergab sich dem unwiderstehlichen Drang, seinen Wolfskörper in den eines Taggängers zu verwandeln. Der Duft der Menschen, der von allen Gegenständen im Innern des Holzberges ausgestrahlt wurde, brachte ihn fast zur Raserei. Der Wunsch, Menschenblut zu schlürfen, wurde übermächtig. Als Wirch die Hütte verließ, die von seinen zwölf Wölfen bewacht worden war, war er ein großgewachsener, muskelbepackter Mann mit vier Augen: seinen eigenen und den beiden Götterteilen, die seine Stirn über den Augenbrauen zierten. Er kraulte seinen Zwölften liebevoll am Hals, um ihm die Scheu zu nehmen. Nachdem er Achr verloren hatte, mußte er sich nach einem anderen Zwölften umsehen, denn ein Rudelführer wie er, der zweitausend Mondherren befehligte, konnte es sich nicht leisten, nur elf Wölfe zu Gefährten zu haben. Er mußte einen anderen Mondherren töten, um einen Zwölften zu bekommen. Der Zwölfte hatte sich noch nicht in das Rudel
eingelebt, deshalb bevorzugte ihn Wirch den anderen gegenüber; das sahen besonders die beiden Weibchen nicht gerne, denn auch der Zwölfte war ein Weibchen. Deshalb dachte sich Wirch nichts Besonderes dabei, daß sie ihn hektisch umsprangen, während er sich von der Hütte entfernte. Die meisten der anderen Mondherren hatten ebenfalls schon ihre Verwandlung hinter sich, und Wirch fiel plötzlich auf, daß sich auch deren Wölfe ganz seltsam benahmen. Einer der Mondherren machte mit den Armen wilde Bewegungen in Wirchs Richtung und rief: »Blut! Viele Behälter voll Blut!« Wirchs Argwohn war sofort erwacht. Blut war nur in den Körpern von Lebewesen zu finden, denn es war ihr Lebenssaft. Er ging zu dem Mondherrn, die Zwölf in seinem Gefolge, und fragte nur: »Wo?« »Komm mit, Wirch. Die anderen baden bereits im Blut!« Wirch spürte, wie Zorn in ihm hochstieg, während er seinem Bruder folgte. Wie konnten es die anderen wagen, sich über eine Beute herzumachen, von der er noch nicht genossen hatte! Sie bahnten sich ihren Weg durch die Reihen der Wölfe und deren Herren und kamen auf einen Hügel.
Von dort sah Wirch auf ein kleines Dorf hinunter, in dem sich nur Wolfsmenschen tummelten, die Wölfe warteten, jämmerlich heulend, außerhalb. Wirch rannte wie das Mondlicht den Hügel hinunter. Noch bevor er die Siedlung betrat, stach ihm ein süßlicher Geruch in die Nase, der eine berauschende Wirkung auf ihn hatte. Es war kein Blutgeruch, das erkannte Wirch sofort, aber er war nicht minder verführerisch. »Halt!« rief er einigen Mondherren zu, die einen der erwähnten Behälter erbrachen und ihre Gesichter in das blutrote Naß tauchen wollten, das aus der Öffnung hervorquoll. »Trink, Wirch«, rief ihm einer der Wolfsmenschen zu, während er mit seltsam verschwommenem Blick zu ihm stierte. »Es ist süß wie Menschenblut!« »Du gibst dich wie trunken, Arrng«, sagte Wirch streng. »Ich bin es«, erwiderte Arrng mit schwerer Zunge. »Von diesem herrlichen Saft, der trunken macht wie Blut!« Wirch kostete von der roten Flüssigkeit. Sie schmeckte. Da er keine berauschende Wirkung an sich feststellen konnte, tauchte er sein Gesicht noch einmal in den roten Saft ein und nahm einen Mundvoll davon. Es reichte für zwei große Schlucke. »Nicht übel«, bestätigte Wirch.
Der rote Saft ersetzte einem Mondherren nicht das Menschenblut. Aber wenn man schon solange dürstete wie Wirchs Rudel, dann begnügte man sich schon mit dieser Flüssigkeit, die süß wie Blut war und nicht minder berauschte. Wirch war dem roten Saft gegenüber immer noch mißtrauisch. Irgend etwas in ihm – vielleicht der Gottesteil an seiner Stirn? – warnte ihn davor, seine Leute den Inhalt der Behälter trinken zu lassen. Aber er schlug die Warnung seines Instinkts in den Wind. Er mußte sein Rudel bei Laune halten. Und wenn dieser rote Saft ihre Stimmung hob, dann sollte es ihm recht sein. Sie würden die Enthaltsamkeit der letzten Tage vergessen und den Verzicht auf Menschenblut überwinden. Wenn die Wirkung des roten Saftes nachließ, wurde ihr Durst wieder unstillbar werden. Aber dann würde Wirch sich an ihre Spitze setzen und sie weiter nach Osten führen. Dort, irgendwo hinter der Ebene, mußte es Menschen geben. Dorthin würden sie ziehen. Aber nicht sofort, sondern später. Vielleicht nach Einbruch der Nacht, wenn sie wieder Wolfsgestalt angenommen hatten und die unbesiegbaren Mondherren waren. Aber solange noch etwas von dem roten Saft da war, konnten sie hier verweilen. Wirch beugte sich über das Faß und trank in
gierigen Zügen Nabibs Wein.
5.
Bei Einbruch der Nacht erreichten sie den See, der südlich der Ebene von Sapca lag. Dort erwartete sie eine Abteilung von Kriegerinnen, die zu berichten wußten, daß der Trick mit den Weinfässern ein voller Erfolg gewesen war: Die Wolfsmenschen hatten sich in den Morgenstunden darüber hergemacht und von Nabibs Wein getrunken, bis sie nicht mehr stehen konnten. Den ganzen Tag über hatten sie ihren Rausch ausgeschlafen. Agrion konnte zufrieden sein. Sie kamen nicht zu spät. Der weibliche Bote, den sie zu Grisha geschickt hatte, mußte sein Ziel ebenfalls schon längst erreicht und Bericht erstattet haben. Hoffentlich richtete Grisha die Kampfweise ihrer tausend Kriegerinnen darauf ein, daß Parthos und Agrions Streitkräfte vom Westen kamen und den Werwölfen in den Rücken fielen, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden und sie nach Osten zu treiben.
Als Nabib hörte, was mit seinem Wein geschehen war, schüttelte er traurig den Kopf. »Was für eine Vergewaltigung für diesen köstlichen Rebensaft.« »Er hat hier einen besseren Zweck erfüllt, als er es in Myra getan hätte«, tröstete ihn Partho, der seine Silberlanze auf den Steigbügel stützte. »Der Wein wird die Sinne der Wolfsmenschen benebelt, ihre Blicke getrübt und ihre Kampfkraft gelähmt haben.« Er lachte. »Werden die Brummschädel haben!« »Mein Wein verursacht keinen schweren Kopf«, erwiderte Nabib gekränkt. Als die Ufer des Sees zurücktraten und sich vor ihnen die Ebene von Sapca ausbreitete, hielten sie an. Die Krieger, die selbst ohne Pferde waren und bei den Reitern aufgesessen waren, schwangen sich aus den Sätteln und setzten ihren Weg entlang des nördlichen Seeufers zu Fuß fort. Es waren etwa viertausend Krieger, von denen nur wenige Bogenschützen mit Silberpfeilen ausgerüstet waren. Die Aufgabe dieser Fußtruppe war es, sich aus dem Kampf gegen die Wolfsmenschen herauszuhalten und nur deren Wölfe abzufangen, die in ihre Richtung verschlagen wurden. Fast die gesamte Reiterei zog unter Parthos und Agrions Führung weiter nach Norden. Tausend Reitersoldaten, die sich aus Urgoriten und Zuntern
zusammensetzten, waren mit Silberwaffen ausgerüstet. Ebenfalls tausend Amazonen hatten die restlichen Silberwaffen zugeteilt bekommen. Die anderen Krieger, die nur mit herkömmlichen Waffen ausgerüstet waren, sollten sich während des Kampfes im Hintergrund halten und ihren gegen die Wolfsmenschen vorgehenden Kameraden die Wölfe vom Leibe halten. Partho war sich klar darüber, daß es nicht immer leicht sein würde, in dem Gewühl von sechsundzwanzigtausend Geschöpfen die Wölfe von den Wolfsmenschen zu unterscheiden. Aber es war eine helle Mondnacht, so daß sie eine gute Sicht hatten, und außerdem waren die Wolfsmenschen doppelt so groß, wie deren wölfische Begleiter. Zumindest hatte Bodo das behauptet. Sie ritten nicht allzu schnell, um erstens die Pferde für den bevorstehenden Sturmlauf zu schonen und zweitens keinen übermäßigen Lärm zu machen. Je später sie von den Horden der Nacht entdeckt wurden, desto größer würde das Überraschungsmoment sein – und davon konnte die Entscheidung der Schlacht abhängen. Agrion war bis jetzt an Parthos Seite geritten. Als sie nun auf die ersten Wolfsspuren trafen, sagte sie zu ihm: »Es ist besser, wenn wir uns jetzt trennen. Halte du
dich mit deinen Männern weiter nördlich, damit du meinen Kriegerinnen nicht in die Quere kommst.« Partho grinste und wollte etwas entgegnen, aber er unterließ es. Von irgendwo aus dem Osten klang das Heulen von Wölfen zu ihnen herüber. Parthos Zähne schimmerten im Mondlicht, als er Agrion zulächelte und die Hand zum Abschied hob. Er riß sein Pferd herum und ritt mit seinen Kriegern in nordöstlicher Richtung weiter. Agrion schwenkte nach Osten ab, die tausend mit Silberwaffen ausgerüsteten Amazonen folgten ihr. Auf der Ebene von Sapca kamen sie rasch weiter. Über weite Strecken wuchs hier nur Gras, vereinzelte Büsche und Bäume ragten wie Fremdkörper aus diesem flachen Wiesenland heraus. Das Wolfsgeheul vor ihnen wurde immer lauter. Agrion war froh, daß der Wind ihnen entgegenschlug, so daß die Wölfe nicht schon ihre Witterung aufnehmen konnten, bevor sie sie sahen. Agrion wollte einer Gebüschgruppe ausweichen, die vor ihr den Weg versperrte. Plötzlich stutzte sie jedoch und zügelte ihr Pferd. Da – eine Blutspur, die geradewegs auf die Büsche führte. Hatte sich ein Verwundeter – ein Mensch – mit letzter Kraft in die Büsche in Sicherheit gebracht? Vielleicht. Es war aber auch möglich, daß es sich um einen verwundeten Wolf oder Wolfsmenschen
handelte, der vor ihnen in die Büsche geflüchtet war. Sie konnte sich vorstellen, daß es auch bei den Horden der Nacht blutige Machtkämpfe gab. Mit gezücktem Silberschwert näherte sie sich auf ihrem Pferd langsam den Büschen. Plötzlich hörte sie ein wütendes Fauchen, die Äste teilten sich, und ein riesiger Wolf erschien. Agrion war so nahe, daß er sie mit einem einzigen Sprung hätte erreichen können. Deshalb wunderte sie sich, daß er es nicht tat. Er stand nur bewegungslos da, den Körper zum Sprung geduckt, starrte sie aus wilden Augen an. Für Agrion war diese Verhaltensweise unerklärlich. Was mochte den Wolfsmenschen zur Bewegungslosigkeit verdammt haben? Der starre Blick der funkelnden Augen war geradewegs auf sie gerichtet. Blendete ihn das Silber ihrer Schwertklinge, in dem sich das Mondlicht spiegelte? Sie ließ die Hand etwas sinken, weil das Leuchten des Mondrings sie etwas blendete ... War der Mondring die Erklärung? Hatte dieser Ring, der am Tage nur matt schimmerte, aber im Licht des Mondes ein faszinierendes, geheimnisvolles Strahlen aussandte, die Kraft, Wolfsmenschen für einige Zeit an einen Platz zu bannen? Agrion verfolgte diesen Gedanken im Augenblick nicht weiter. Sie würde bald herausfinden können, ob
etwas an dieser Vermutung war. Sie setzte ihr Pferd in Trab, beugte sich aus dem Sattel und hieb dem Riesenwolf die Silberklinge des Schwertes auf den mächtigen Schädel. Das Tier brach mit einer klaffenden Kopfwunde zusammen. Die Wunde schloß sich nicht auf wundersame Weise, sondern verfärbte sich dunkel – wo das Silber hingetroffen hatte, ging das Fleisch so schnell in Verwesung über, daß man die Veränderung mit den Augen beobachten konnte. Jetzt erst war Agrion von der zersetzenden Wirkung des Silbers auf die Wolfsmenschen überzeugt. Was war das nur für ein Teufelszeug gewesen, das sie da in großen Mengen geschlürft hatten? Wenn es in den Körper kam, da machte es so leicht, daß man vermeinte, man schwebe. Und es hatte anfangs die berauschende Wirkung von Blut gehabt. Aber wenn man dann aus dem Rausch erwachte, da fühlten sich die Glieder an, als seien sie gelähmt, der Kopf war so schwer, daß man sich anstrengen mußte, ihn oben zu halten. Wirch, der soeben die Verwandlung hinter sich gebracht hatte, heulte den Mond an, der heute besonders hell strahlte. Es war eine gute Nacht für die Jagd, die Voraussetzungen waren überaus günstig. Aber da war das Pochen in seinem Kopf – er
schüttelte ihn, um das Pochen zu verscheuchen. Für einen Augenblick war es auch wirklich verschwunden, dann setzte es jedoch wieder mit unverminderter Heftigkeit ein. Seinen Brüdern erging es nicht anders. Sie wußten sich nicht anders zu helfen, als dem Mond ihr Leid zu klagen. Wirch setzte sich in Bewegung, um die anderen mitzureißen. Es war eine Mondnacht, geschaffen für die Jagd. Diesmal mußten sie auf Opfer stoßen. Und wenn sie die ganze Nacht durchwanderten, bis der Mond verblaßte und der häßlichen, heißen, blendenden Sonne Platz machte. Sie würden nicht eher ruhen, bis sie den Ort erreicht hatten, wo es Taggespenster in großer Zahl gab. Der Gottesteil über seinen Augen trieb ihn voran. Der Wind kam von Osten, war also günstig, aber er trieb Wirch nur die Witterung von Gras und blühenden Sträuchern zu. »Vorwärts!« drängte Wirch seine Brüder. Wenn sie sich bewegten, wurde der Nebel aus ihren Köpfen verscheucht werden. Wirch merkte es, wie sein Kopf während des Laufens immer klarer wurde. Den anderen Mondherren erging es nicht anders. Ihre Niedergeschlagenheit verschwand, sie wurden immer wilder. Aber mit der Klarheit ihres Verstandes
kam auch die Unzufriedenheit zurück. Viele von ihnen hatten zuletzt in Xanth Menschenblut getrunken, und es gab Tausende von Wölfen, die seit dem Opferfest am Ort des Blutes kein Tagesgespenst mehr gerissen hatten. Wo war das gelobte Land, das ihnen ihr Gott verheißen hatte? Es ist überall hier, pochte es in Wirchs Kopf. Ihr müßt nur die Tagesgespenster aus ihren Verstecken scheuchen, wohin sie sich verkrochen haben! In Wirch stiegen bereits die gleichen Zweifel wie in seinen Brüdern hoch – da hatte er eine Witterung. Der Geruch der Taggespenster, der ganz eigene Geruch von Weibchen, stieg ihm in die Schnauze und war gleich darauf wieder verschwunden. Aber er hatte eine Witterung gehabt, und das machte ihn rasend. Er irrte sich bestimmt nicht, denn seinen Brüdern erging es ähnlich wie ihm. Sie konnten sich das nicht alle gleichzeitig einbilden. Irgendwo vor ihnen hatten sich weibliche Nachtschläfer zusammengeschart. Und dann erblickte Wirch die Taggespenster. Sie standen in einer langen Reihe in der Ebene. In vorderster Linie befanden sich Weibchen ohne Reittiere, und dahinter hatten die berittenen Weibchen Aufstellung genommen. Sie mußten die Mondherren und deren gewaltiges Wolfsrudel schon längst bemerkt
haben. Aber sie flohen nicht. Das verstand Wirch nicht. Obwohl er und seine Brüder, vom immer stärker werdenden Geruch aufgestachelt, mit rasender Geschwindigkeit näher kamen, rührten sich die Taggespenster nicht vom Fleck. Wollten sie sich freiwillig opfern? Das enttäuschte Wirch ein wenig. Er hatte sich auf die Jagd gefreut. Seine Brüder waren nicht mehr im Zaum zu halten. Sie kümmerten sich nicht mehr um ihren Rudelführer, die schnellfüßigeren preschten an ihm vorbei, ohne daran zu denken, daß ihm der erste Biß zustand. Wirch tadelte das nicht. Nach so vielen Nächten der Enthaltsamkeit konnte er verstehen, wenn das zügellose Temperament mit den Mondherren durchging. Sie stimmten ein schauriges Geheul an, um die Taggespenster zu ängstigen und sie vielleicht doch noch in die Flucht zu schlagen. Aber diese rührten sich nicht von der Stelle. Gut, dachte Wirch, dann nehmen wir eben das dargebotene Opfer an. Plötzlich blitzte es bei den Taggespenstern silbern auf. Wirch wurde unwillkürlich langsamer, weil ihn der silberne Schein blendete. Er heulte verärgert auf, aber
so nahe vor dem Ziel konnte ihn kein Hindernis mehr abschrecken. Die Taggespenster setzten sich in Bewegung – und es schien fast, als wollten sie zum Angriff übergehen. Die unberittenen Taggespenster in vorderster Linie hielten lange Stangen von sich gestreckt, deren Spitzen aus tödlichem Silber waren. Die Reiterinnen, die sich gestaffelt hinter ihnen hielten und jederzeit durch die Lücken der vordersten Linie brechen konnten, hatten kurze Silberstöcke in der Hand, die flach und breit waren und deren Ränder einen scharfen Grat hatten Schwerter hießen diese Waffen bei den Taggespenstern! Die ersten Mondherren hatten die vorderste Linie der Taggespenster erreicht, die langen Stangen stießen nach vorne, die Mondherren wollten den silbernen Spitzen ausweichen, ihre Wölfe sprangen die Taggespenster an, um sie niederzuringen und ihren Herren eine Bresche zu schlagen ... Die ersten Todesschreie klangen auf beiden Seiten auf. Mondherren, die von den Silberspitzen aufgespießt worden waren, schrien ihren Schmerz ebenso in die Nacht hinaus wie die Taggespenster, denen der Biß des Wolfes den Garaus machte. Wirch wich dem Todesstoß einer Lanze aus, verbiß sich in der Kehle der Lanzenträgerin und schleuderte sie vor die Hufe des nachfolgenden Reittiers. Danach
konnte er mit knapper Not dem Streich eines Silberschwertes entgehen. Seine Wölfe sprangen die Reiterin an, rissen sie aus dem Sattel und töteten sie. Wirch sah das Blut sprudeln, aber er hatte keine Zeit, sich daran zu laben. Die Taggespenster waren nie und nimmer willige Opfer. Sie wollten den Kampf, sie hatten die Mondherren mit List und Tücke herangelockt, um dann ihre Silberwaffen hervorzuholen und sich damit auf sie zu stürzen. Wirch sah, wie ein silberner Schwarm über den mondhellen Himmel zog – Pfeile mit silbernen Spitzen. Der Pfeilhagel ergoß sich über die nachdrängenden Mondherren, und Todesschreie zeigten, daß die Pfeile ihre Ziele gefunden hatten. Die Linien der widerspenstigen Taggespenster lichteten sich, so daß die Horden weiterstürmen konnten. Aber Wirch verspürte keinen Triumph über diesen Teilerfolg. Zu viele seiner Brüder wälzten sich sterbend am Boden, ihre Wölfe, nun führungslos, streunten verwirrt umher. Wirch befand sich an der Spitze des Rudels, das die Bresche in die Reihen der Taggespenster geschlagen hatte. Nur wenige Mondherren hatten mit ihm den Durchbruch geschafft, aber dafür befanden sich Hunderte von herrenlosen Wölfen in seiner Begleitung. Plötzlich tauchten vor ihnen weitere Taggespenster
auf. Sie hatten mächtige Bogen gespannt, von deren Sehnen sie einen Hagel von Pfeilen schnellen ließen. Wirch spürte, wie drei der Geschosse in seinen Körper eindrangen. Er glaubte sich verloren, doch als die Pfeile keine Wirkung an ihm zeigten, erkannte er erleichtert, daß sie keine silbernen Spitzen besaßen. Er entfernte die Pfeile aus seinem Körper und schleuderte sie wütend von sich. Während er das tat, starben die Wölfe dutzendweise links und rechts von ihm. So ungefährlich die Pfeile für die Mondherren waren, ihren Wolfsgefährten brachten sie den sicheren Tod. Wirch schwor bittere Rache. Er würde unter den Taggespenstern, die nicht mit Silberwaffen ausgerüstet waren, fürchterlich wüten. Noch ehe er jedoch die Bogenschützen erreicht hatte, preschten von allen Seiten Reiter heran, die mit Silber bewaffnet waren. Es war ein unübersehbares Heer, das nicht nur aus weiblichen Taggespenstern bestand – unter den Silberwaffenträgern waren auch viele Männchen, die sich mit großem Kampfgeist in die Schlacht warfen. Wirch mußte hilflos mit ansehen, wie sich die Reihen der Mondherren und deren Wölfen immer mehr lichteten. Und er erkannte, daß er sich in einem verlorenen Haufen befand, der rettungslos vom Hauptrudel abgeschnitten war. Er sah seine einzige
Rettung in der Flucht. Er mußte sich zum Hauptrudel durchschlagen, um seine Horden vielleicht doch noch zum Sieg über die Taggespenster zu führen. Hatte ihr Gott nicht gesagt, daß sie unverwundbar und unbesiegbar waren? Ihr Gott hatte nicht gelogen, aber er schien nicht gewußt zu haben, daß die Taggespenster mit Silber bewaffnet waren. Wirch wirbelte herum. Doch mitten in der Bewegung verhielt er. Bei einem der Taggespenster war ein Leuchten, das den Schein des Mondes bei weitem übertraf. Und von diesem Leuchten ging auch eine Kraft aus, die ihn viel mehr in den Bann schlug als die Strahlung des Vollmondes. Sein Körper war auf einmal wie gelähmt und erstarrte ... Grisha hatte sich mit ihren Silberwaffenträgerinnen den Horden der Nacht unerschrocken entgegengeworfen. Nachdem die meisten der Wolfsmenschen aus der vordersten Front gefallen waren, wichen ihre mit Silber bewaffneten Kriegerinnen nach Süden und Norden zurück, um die Horden von den Flanken her anzugreifen. Gleichzeitig setzte sich das Heer der mit normalen Waffen ausgerüsteten Kriegerinnen vom Osten her in Marsch, um sich dem Rudel der führungslos gewordenen Wölfe entgegenzuwerfen. Grishas Silberwaffenträgerinnen trafen im Norden
mit Parthos Truppen zusammen, die in einem großen Halbkreis, der bis nach Westen reichte, die Horden einkesselten. Im Süden stießen sie auf Agrions Amazonen. Die Heere schlossen sich zusammen und gingen vereint gegen die Wolfsmenschen vor. Agrion hatte inzwischen die Überzeugung gewonnen, daß die Ausstrahlung ihres Mondrings die Wolfsmenschen lähmte. Sie fragte nicht danach, warum das so war. Sie vermutete nur, daß der Ring das Mondlicht in sich aufsog und verstärkt widerspiegelte. Wie dem auch war, wo das Leuchten ihres Mondrings auf die Riesenwölfe traf, erstarrten sie zur Bewegungslosigkeit. Agrions Kriegerinnen hatten dann leichtes Spiel mit ihnen, denn die erstarrten Wolfsmenschen leisteten keinen Widerstand. Das machte Agrion leichtsinnig. Der Mondring gab ihr ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, seine Ausstrahlung machte die Wolfsmenschen zu einer leichten Beute. Es war fast wie bei Reiterspielen, bei denen man durch eine Gasse von Pfählen mußte und im Vorbeireiten so viele Ziele wie möglich von den Pfählen zu schlagen hatte. Agrion hatte den Mondring auf den Mittelfinger der linken Hand gesteckt und hielt den Arm von sich gestreckt. In der Rechten hielt sie das Silberschwert. So preschte sie mitten durch die Horden der Nacht und fällte die Wolfsmenschen Schlag auf Schlag, die links
und rechts von ihr zur Bewegungslosigkeit erstarrt waren. In ihrer Nähe befanden sich ständig ein halbes Dutzend Kriegerinnen, die ihr die Wölfe vom Leibe hielten, denn die Wölfe, denen das Leuchten des Mondrings nichts anhaben konnte, stellten die einzige wirkliche Gefahr für sie dar. Zwei ihrer Begleiterinnen fielen, als sie plötzlich von mehreren Wölfen gleichzeitig angesprungen wurden. Die Tiere zerrten sie aus den Satteln und zerrissen ihre Kehlen, als sie hilflos am Boden lagen. Eine andere Kriegerin verlor ihr Leben, als ihr Pferd strauchelte, an dessen Vorderbein sich ein Wolf verbissen hatte. Als die Kriegerin auf dem Boden landete, waren sofort mehrere Wölfe über ihr. Agrion hörte ihre verzweifelten Schreie, aber weder sie noch die anderen Amazonen konnten ihr helfen. Agrion hatte sich in ihrer Siegesgewißheit immer tiefer in das Rudel vorgewagt. Im hellen Mondlicht sah sie, daß dieses Rudel von allen Seiten eingekesselt war. Kriegerinnen und Reiter aus Parthos Truppe hatten sie vom Hauptrudel abgedrängt und eingekreist. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Rudel zerschlagen war, denn es stand einer Übermacht von Kriegern und Kriegerinnen gegenüber. Das machte Agrion überheblich. Sie verließ sich ganz auf die Kraft ihres Mondrings und auf ihre
Begleiterinnen, die ihr die Wölfe vom Hals schafften. Plötzlich stellte sie jedoch zu ihrem Schrecken fest, daß alle ihre Begleiterinnen den Wölfen zum Opfer gefallen waren. Und diese blutrünstigen Tiere umringten sie jetzt, sprangen zu ihr hoch und griffen ihr Pferd an. Agrion ließ ihr Pferd im Kreise tänzeln, damit die Wölfe kein sicheres Angriffsziel hatten. Dabei mußte sie sich gleichzeitig des Ansturms der Tiere erwehren und fand keine Zeit, die zur Bewegungslosigkeit verdammten Wolfsmenschen anzugreifen. Als sie sich für einen kurzen Augenblick aus der ärgsten Bedrängnis befreien konnte, sah sie sich auf einmal einem Riesenwolf mit vier Augen gegenüber. Ihr war sofort klar, daß dieser Wolfsmensch etwas Besonderes war. Allein seine Größe hob ihn von den anderen ab. Außerdem unterschied er sich von der Masse der Wolfsmenschen durch seine vier Augen. Er war etwas Außergewöhnliches. Möglicherweise handelte es sich hier um den Anführer der Horden der Nacht! Aber auch dieser Wolfsmensch wurde vom Leuchten des Mondrings in den Bann geschlagen. Agrion, die erkannte, daß ihre Lage aussichtslos geworden war, hatte nur noch den einen Wunsch, wenigstens den Rudelführer mit in den Tod zu nehmen.
Sie trieb ihr Pferd voran und schwang das Silberschwert über dem Kopf, um Wirch den Todesstoß zu geben. Doch bevor sie ihn erreicht hatte, wurde sie von seinen Wölfen angesprungen. Es waren noch sieben an der Zahl, die die ersten Angriffe überlebt hatten. Gemeinsam stürzten sie sich auf Agrion und auf ihr Pferd, als sie sahen, daß ihr Mondherr in Gefahr war. Agrions Reittier wieherte schrill auf und brach mit zerrissener Kehle zusammen. Es begrub drei Wölfe unter seinem Körper, ein vierter flog in hohem Bogen davon ... aber die anderen drei stürzten sich auf Agrion. Sie hatte, noch während sie aus dem Sattel sprang, ihren Dolch aus dem Gürtel gezogen und stieß ihn dem Wolf in den Rachen, der sie an der Kehle packen wollte. Die beiden übrigen Wölfe zogen sich seltsamerweise winselnd zurück. Gleich darauf tauchte ein Reiter vor ihr auf und zog sie zu sich in den Sattel hinauf. Sie erkannte Bodo, den jungen Mann aus dem Wolfsland, und sie bekam von ihm auch die Erklärung für den unverständlichen Rückzug der Wölfe. Während sie vor ihm im Sattel saß, gab er seltsame Knurrlaute von sich, unter denen sich die Wölfe duckten und sich zum Rückzug anschickten. Agrion blickte sich nach dem Wolfsmenschen mit den vier Augen um, aber er war verschwunden. Als die
Wirkung des Mondrings nachließ, mußte er die Gelegenheit zur Flucht sofort genutzt haben und zwischen den Kämpfenden untergetaucht sein. »Beherrscht du die Sprache der Wölfe?« erkundigte sich Agrion bei Bodo, nachdem sie aus der Gefahrenzone waren. Er ergriff ein herrenloses Pferd am Zügel und hielt es fest, damit Agrion in den anderen Sattel klettern konnte. »Ich war viele Sommer und Winter mit einem Wolf zusammen«, antwortete Bodo, dann wirbelte er sein Pferd herum und preschte mit vorgehaltener Lanze mitten in die Reihen der Kämpfenden hinein. Er kannte die Wölfe wie kein anderer, und er wußte auch einiges über die Horden der Nacht. Wenn ein Rudelführer fiel, dann waren dessen zwölf Wölfe fast hilflos. Da sie es gewohnt waren, von einem Wolfsmenschen beherrscht zu werden und nach dessen Befehlen zu handeln, wußten sie nicht mehr, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten sollten, wenn sie führungslos geworden waren. Diese Eigenart machte sich Bodo zunutze. Er vergrößerte die Verwirrung unter ihnen, indem er ihnen Laute in ihrer Sprache zurief, die oftmals von widersprechender Bedeutung waren. Er wußte, daß er die Wölfe nicht auf seine Seite bringen konnte, nur weil er sich ihnen verständlich machen konnte.
Bodo hatte auch nicht die Absicht, die Wölfe für sich zu gewinnen. Er wollte sie nur verwirren, sie verunsichern und das Chaos in ihren Reihen vergrößern. Das gelang ihm ganz gut. Er lenkte die Aufmerksamkeit der Wölfe auf sich, indem er ihnen vertraute Laute aus ihrer Sprache zurief – und tötete dann die Wolfsmenschen mit seiner Silberlanze.
Keine Wolke zeigte sich am nächtlichen Himmel, der von der hell strahlenden Mondsichel beherrscht wurde. Er schickte sein fahles Licht auf die Ebene von Sapca hinunter und enthüllte schonungslos die blutigen Kämpfe, die zwischen den Menschen und den Horden der Nacht stattfanden. Viele sagten später, daß sich in dieser Nacht der Mond im Widerschein des Blutes, das auf der Ebene von Sapca floß, rot gefärbt hatte. Dieser Mond, den die Wölfe anheulten und den die Wolfsmenschen verehrten, gab ihnen in dieser unseligen Nacht nicht die Kraft, die sie zum Siegen brauchten, sondern brachte ihnen mit seinen Strahlen den Tod. Es war ein kleiner Ring, der die Niederlage der Wolfsmenschen besiegelte. Der Ring am Finger einer
Frau, der die fahlen Mondstrahlen in sich speicherte und verstärkt wieder versprühte. Die Wolfsmenschen erstarrten, wenn sie in das Leuchten des Mondrings gerieten, waren unfähig, den vernichtenden Stößen der Silberwaffen auszuweichen ... Wenn der Bann sie dann wieder losließ, hatte die tödliche Kraft des Silbers, ihre Körper bereits durchsetzt. Die Wunden selbst waren nur selten schwer, denn den Kriegern blieb keine Zeit, die Lanze zielsicher zu stoßen oder einen wohlüberdachten Schwertstreich zu führen, denn sie wurden ständig von den Wölfen bedrängt, die verzweifelt das Leben ihrer Herren zu verteidigen versuchten. Aber Zielsicherheit war nicht das Gebot der Stunde, es genügte, den Wolfsmenschen mit der Silberwaffe eine Wunde zuzufügen. Und so kam es, daß Riesenwölfe auf dem Schlachtfeld zurückblieben, die keinen Tropfen Blut verloren hatten. Die Wunden, die ihnen die Silberwaffen geschlagen hatten, waren nicht rot, sondern zeigten sich als häßliche, schwarze Flecken, die sich unaufhaltsam und rasch vergrößerten. Es half den Mondherren nichts, wenn sie sich das verwesende Fleisch aus dem Körper rissen; sie bissen sich die vom Silber getroffenen Läufe ab und humpelten auf dreien weiter. Aber sie kamen nicht weit, denn die zersetzende
Kraft des Silbers war mit dem Blut durch ihren ganzen Körper gewandert, hatte sich überall festgesetzt und führte das zerstörerische Werk fort. Mondherren mit schwarzen Wunden überall am Körper, den unabwendbaren Tod vor Augen, ließen sich von ihren Wölfen töten, um sich die Leiden zu verkürzen. Es ging immer ganz schnell, ein Biß in die Kehle genügte ... denn ein durch Silber verwundeter Wolfsmensch hatte die Fähigkeit verloren, seine Wunden wieder schließen zu können. Andere vom Silber gezeichnete Mondherren stürzten sich in ihrer Verzweiflung auf ihre durch die Silberwaffen übermächtig gewordenen Feinde, um sich von ihnen den Gnadenstoß zu holen. Viele von ihnen begriffen rechtzeitig, daß sie sich in einer aussichtslosen Lage befanden. Wenn es ihnen gelang, eines der Taggespenster zu reißen, dann tauchten zwei von ihnen auf, um furchtbare Rache zu nehmen. Es blieb nur noch die Flucht. Doch der Rückweg war abgeschnitten. Aus der Richtung, in der das Land der Wölfe lag, wälzte sich ein riesiges Heer von Reitern und Kriegern ohne Pferde heran. Um deren geschlossene Schlachtreihe zu durchbrechen, hatten sich die Horden der Nacht sammeln und vereint zum Angriff übergehen müssen. Daran war jedoch nicht zu denken. Die Mondherren
hatten genug damit zu tun, um ihr Leben zu kämpfen. Sie konnten sich nicht untereinander absprechen. Zu all dem Übel kam noch dazu, daß die herrenlosen Wölfe kopflos herumstreunten und den Mondherren im Wege waren. Die Wolfsmenschen sahen nur eine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Sie mußten weiter nach Osten ziehen, denn dort war eine große Lücke in den Reihen der Angreifer entstanden, durch die die Horden entweichen konnten. Und so geschah es. Die Mondherren flüchteten mit ihren Wölfen in nordöstliche Richtung, die herrenlosen Wölfe schlossen sich ihnen an. Da ihnen die Taggespenster mit ihren Silberwaffen ständig im Nacken saßen, blieben ihnen keine Zeit, den sichersten Weg durch das unbekannte Land zu suchen. Sie waren nur darauf bedacht, von hier fortzukommen, dem tödlichen Silber zu entfliehen. Der Abstand zwischen den Horden der Nacht und den Verfolgern wurde immer größer, denn die Wölfe konnten schneller laufen als die Reittiere der Taggespenster. Der Kampflärm, der über der Ebene von Sapca lag, wurde immer leiser, das Donnern der Pferdehufe verklang in der Ferne ... Die Mondherren rannten weiter. Die ersten verlangsamten erst ihre Geschwindigkeit, als sie
weichen, nachgiebigen Boden unter ihren Läufen spürten. Aber sie konnten nicht anhalten, um vorsichtig zu wittern und das Gelände zu überprüfen, das vor ihnen lag. Die nachfolgenden Wölfe drängten sie vorwärts, immer tiefer hinein in den Sumpf. Die ersten Wölfe versanken in dem schlammigen Boden, die nachfolgenden setzten über sie hinweg, drückten sie noch tiefer in den Sumpf hinab, bis sie sich nicht mehr daraus befreien konnten. Immer mehr Wölfe gerieten in die Umklammerung des Sumpfes, wurden unerbittlich in den bodenlosen Schlamm hinabgezogen – und erstickten. Manche von ihnen hatten den Sumpf lebend hinter sich gebracht und sahen sich plötzlich vor einem endlos scheinenden Wasser, in dem sich die Mondsichel tausendfach widerspiegelte. Ihr Verstand riet den Mondherren und deren Wölfen, nicht in den Sumpf zurückzukehren, dem sie gerade noch lebend entronnen waren. So stürzten sie sich in den See hinein, in dem sie den Mond erblickten. Das Spiegelbild des Mondes war die Insel, die ihnen Rettung verhieß, aber je weiter sie schwammen – der Mond rückte von ihnen ab. Sie erreichten ihn nie. Sie kamen nicht einmal ans gegenüberliegende Ufer. Irgendwann verließen sie die Kräfte, und sie ertranken. Ein letztes Heulen, ein verzweifeltes
Um-sich-schlagen, ein Aufschäumen der Wasseroberfläche, einige platzende Luftblasen ... Dieser Vorgang wiederholte sich oftmals. Dann wurde der See wieder ruhig. Der Mond spiegelte sich in der glatten Wasseroberfläche, auf der immer mehr dunkle Körper auftauchten, die die Tiefe wieder freigab. Es war doch noch eine stille, friedliche Nacht geworden. Aus der Ebene von Sapca drangen noch vereinzelt Geräusche herüber. Aber bald verstummten auch sie. Die Entscheidung war gefallen, der Kampf der Menschen gegen die Horden der Nacht beendet. Die Menschen hatten viele Opfer zu beklagen, aber der Sieg gehörte ihnen. Und auf jeden gefallenen Menschen kamen dreißig Wölfe und Wolfsmenschen. »Wir haben sie nicht alle gekriegt«, sagte Sardak fluchend. »Einige von ihnen sind uns nach Westen entkommen. Wir können nicht verhindern, daß sie das enge Wasser erreichen und zum Wolfsland überwechseln.« »Viele werden es nicht sein«, meintePartho. »Ich glaube nicht, daß uns von den Horden der Nacht noch einmal Gefahr droht. Selbst wenn sie sich sammeln, sind es zuwenige, um etwas gegen unsere Silberwaffen ausrichten zu können.« »Trotzdem werde ich Kriegerinnen ausschicken, die
das Land zwischen Ad‘zhari und dem engen Wasser durchstreifen sollen«, erklärte Agrion. »Ich will sicher sein, daß kein Wolfsmensch in diesem Land am Leben bleibt.« Bodo starrte auf das Schlachtfeld hinaus. Wie zu sich selbst sagte er: »Ein Wolf merkt sich den Ort seiner Niederlage. Er kehrt nie mehr an ihn zurück!« Wirch heulte seine Wut zum Mond hinauf. Die sechs Wölfe, die er während der Flucht aufgegriffen und um sich geschart hatte, stimmten in das Geheul ein. Zwei von ihnen waren verwundet und würden die Überquerung des engen Wassers nicht überleben, so ließ er sie auf der Stelle von den anderen Wölfen reißen. Er selbst beteiligte sich nicht bei dem folgenden Mahl. Die anderen Mondherren, denen die Flucht zusammen mit ihm gelungen war, ruhten sich vor dem schweren Gang über das enge Wasser aus. Sie waren alle erschöpft und ausgehungert und von den vorangegangenen Kämpfen gezeichnet. Der Mond verblaßte langsam. Die Mondherren zogen sich zurück, um die bevorstehende Verwandlung zu erwarten. Vielleicht gönnten ihnen die Taggespenster eine kurze Pause,
damit sie sich ausruhen und zu Kräften kommen konnten. Dann würden sie den langen Weg antreten und nicht eher ruhen, bis sie am engen Wasser waren. Sie würden dieses Land verlassen, das nicht das ihre war. Und sie würden nie mehr wiederkommen, das schworen sie sich alle, auch wenn der Wolfsgott es von ihnen verlangte. Der Mond verschwand vom Himmel, und die Sonne kam. Als sie ihre ersten Strahlen über den Horizont schickte, kam ein großgewachsener Mann aus einer Mulde. Vier Wölfe drängten sich mit wedelnden Ruten um ihn. Er hatte vier Augen. Sein markantes Gesicht verzog sich plötzlich wie unter Schmerzen. Seine Hände zuckten empor, packten das zusätzliche Augenpaar und rissen es sich aus der Stirn. Wirch schmetterte den Gottesteil von sich und sagte: »Nie mehr will ich deinem Wort gehorchen, Wolfsgott! Nie mehr in diesem Leben!« Wirch sah nicht mehr, wie sich der Gottesteil in einen Vogel verwandelte und gen Süden davonflog. Er hockte sich ins Gras und ließ sich die Stirnwunde von seinen Wölfen ablecken.
6.
Es dauerte einige Zeit, bis sich Cnossos erholt hatte. Die Wunden, die ihm das Feuer der Brandpfeile gebrannt hatten, waren nicht besonders schwer. Nur geringe Teile seines Körpers waren davon betroffen, weil es ihm noch rechtzeitig gelungen war, sich in einen Tümpel zu stürzen und die Flammen zu löschen. Er verfluchte Dragon, der wieder einmal seine Pläne durchkreuzt hatte. Cnossos fragte sich, welche Waffen der Atlanter besaß, daß er ihn, Cnossos, entlarven konnte, obwohl er keinen Fehler begangen hatte. War er nicht das genaue Ebenbild von König Zogors Mumie gewesen? Wie war es Dragon möglich gewesen, ihn dennoch zu entlarven? Cnossos war sicher, daß Dragon seine Erinnerung noch nicht wiedererlangt hatte. Der Atlanter hatte Gedächtnislücken, was die Zeit vor dem Untergang von Atlantis betraf. Er wußte nicht mehr, daß er einst einem mächtigen Volk von Sternfahrern angehört hatte und konnte sich auch nicht mehr daran erinnern, daß er Cnossos schon damals begegnet war. Dragon schlief zweitausend Jahre lang und erwachte dann in dieser barbarischen Zeit, in der das sagenhafte Atlantis in Vergessenheit geraten war. Dragon
erwachte ohne Erinnerung an die Vergangenheit, so daß er nicht wissen konnte, wer Cnossos war und welche Fähigkeiten er besaß, Wie war es ihm dennoch möglich gewesen, Cnossos zu entlarven, als dieser sich in die Mumie des toten Zogors verwandelt hatte? Möglicherweise war Dragon durch die Impulse des Amuletts gewarnt worden, das er um den Hals trug und dessen wahre Bedeutung er nicht einmal kannte. Cnossos grübelte nicht mehr darüber nach. Er hatte eine Niederlage hinnehmen müssen, aber dadurch waren seine Pläne noch lange nicht vereitelt worden. Wenn es ihm auch nicht gelungen war, Dragons Leute an König Zogors Tod zweifeln zu lassen, hieß das nicht auch, daß es nicht möglich wäre, zumindest die Myraner zu täuschen. Einen von ihnen hatte er schon soweit, daß er an König Zogors Tod zweifelte: Ermyas, der den Thron vor vierzehn Tagen bestiegen hatte und ihn nun an ihn, Cnossos, verlieren würde. Cnossos hatte sich nach der Niederlage in Dragons Lager in den Palast zurückgezogen, wo er sich vorerst mit der Rolle des stillen, unsichtbaren Beobachters begnügte. Er wollte Zeit gewinnen, um seine Wunden auszukurieren und die Situation im Palast auszukundschaften. Es tat sich einiges, ein Unheil braute sich zusammen, das sich irgendwann gegen Ermyas entladen würde.
Cnossos, der sich einmal in eine steinerne Figur verwandelte, dann wieder in ein Möbel und ein andermal mit seiner Körpersubstanz als Relief eine Säule schmückte, war anwesend, wann und wo immer Gerüchte um den jungen König geboren oder Ränke gegen ihn geschmiedet wurden. Man sagte hinter Ermyas‘ Rücken, daß er nahe daran war, den Verstand zu verlieren. Man erzählte sich, daß er seinen Lieblingsjüngling Torffson erdolcht und die Tat dem toten Zogor angedichtet hatte. Man war überzeugt, daß Dämonen ihn befallen hatten, denn er traf Entscheidungen, die kein König mit klarem Verstand getroffen hätte. Und Ermyas nährte diese Gerüchte, als er vor einigen Zeugen behauptete, König Zogor wäre ihm, springlebendig und in Fleisch und Blut, gegenübergetreten. Niemand wagte, dem jungen König offen zu widersprechen; sie dienerten vor ihm, kamen scheinbar unterwürfig seinen Befehlen nach, aber kaum waren sie außer seiner Reichweite, zeigten sie ihr wahres Gesicht: Es gab kaum einen im Palast, der Ermyas noch treu war. Fast alle wünschten ihn in den Kerker zurück, von wo sie ihn vor vierzehn Tagen geholt hatten, und am sehnlichsten wünschte sich dies Gorey, der Ermyas in dem Glauben befreit hatte, der Neffe des toten Königs könne das myranische Reich vor dem Zusammenbruch
retten. Gorey, der von Ermyas zum Kanzler ernannt worden war, war es auch, der am stärksten gegen den jungen König intrigierte. Cnossos war dabei, als sich Gorey mit dem Hauptmann der Palastwache an einem geheimen Treffpunkt besprach und ihn für den bevorstehenden Aufstand gewann. Cnossos war der unsichtbare Dritte, wenn sich irgendwo zwei Adelige gegen den jungen König verschworen, er stand als steinerner Götze hinter dem Eunuchen, als dieser in den Plan eingeweiht wurde, Ermyas‘ Jünglinge zu vergiften. Cnossos erfuhr aber auch, welches Ziel die Rebellen mit ihren Intrigen gegen den jungen König verfolgten: Da alle Myraner der Meinung waren, daß König Zogor tot, Ermyas aber nicht würdig sei, seine Nachfolge anzutreten, wollten sie sich Dragons Heer kampflos ergeben und sich seinem Willen unterwerfen. Das würde Cnossos jedoch zu verhindern wissen, indem er zum gegebenen Zeitpunkt, noch ehe der Tag vorüber war, als König Zogor auftrat. Und zwar würde sein Auftritt zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem alle wichtigen Persönlichkeiten von Myra anwesend waren. Der Balamiter war siegessicher. Gorey stand neben Ermyas, als dieser von seinem
Fenster aus dem Henker das Zeichen gab. Der Kanzler blickte weg, als der Henker das Beil hob. Dreimal hörte er das Henkersbeil dumpf auf den Richtblöcken aufschlagen. Den Kanzler schmerzte es, daß er den Tod dieser drei Männer nicht hatte verhindern können. Aber er hoffte, daß es die letzten Opfer waren, denen Ermyas Launen das Leben gekostet hatte. Ermyas wandte sich vom Fenster ab, sah Gorey mit spöttischem Lächeln an und meinte anzüglich: »Du bist auf einmal so blaß, Kanzler. Dabei hast du der Hinrichtung gar nicht zugesehen. Waren diese drei Verräter vielleicht deine Freunde?« »In diesen Tagen kann sich niemand rühmen, Freunde zu besitzen«, meinte Gorey ausweichend und doppelsinnig zugleich. »Aber ich war von Anfang an der Meinung, daß diese drei Männer kein so ruchloses Vergehen begangen haben, das ihre Hinrichtung rechtfertigte.« »Das waren Feinde des Königs«, rief Ermyas aufgebracht. »Sie haben sich geweigert, den von mir geforderten Tribut zu zahlen. Ihr Tod wird den anderen eine Warnung sein. Du wirst sehen, daß keiner der Reichen sich mehr weigern wird, sein Vermögen an die königliche Schatzkammer abzuliefern.« Gorey nickte. »Die Angst um ihr Leben wird sie gefügig machen.
Aber kann dich das triumphieren lassen, Erhabener? Du kannst die königliche Schatzkammer auf diese Weise füllen, aber bedenke, daß du dann ein Herrscher über ein Volk von Armen bist.« »Das wird sich wieder ändern, wenn ich erst die Barbaren aus dem Osten zurückgeschlagen habe«, entgegnete Ermyas erregt. »Ich benötige das Geld, um ein schlagkräftiges Heer auf die Beine zu stellen. Und jene, die mir dabei geholfen haben, indem sie mir ihr Vermögen freiwillig überließen, werden es nach meinem Sieg doppelt zurückerstattet bekommen.« Gorey hätte einwenden können, daß kaum einer der Bürger seine Schätze dem König freiwillig überließ. Aber er schwieg, um den König nicht unnötig zu reizen. All diese Probleme wurden sich bald von selbst gelöst haben. Der Entschluß des Kanzlers stand längst fest, Ermyas seiner Macht zu entheben. Gorey mußte sich nur noch über einen Punkt Klarheit verschaffen, damit er wußte, wie das Schicksal von Myranien nach Ermyas‘ Entmachtung aussehen würde. Der Kanzler wechselte das Thema. »Ich habe von den Wachen den gesamten Palast durchsuchen lassen, mein König. Sie haben von den tief unter der Erde liegenden Verliesen bis zu den Dächern der Türme hinauf jeden Raum und jeden Winkel durchsucht. Aber sie fanden keine Spur von
König Zogor.« »So?« machte Ermyas und fügte lauernd hinzu: »Dann bist du wohl der Meinung, daß ich mich geirrt habe?« »Das wollte ich damit nicht sagen«, erwiderte Gorey. »Wie käme ich dazu, die Aussage meines Königs anzuzweifeln.« »Nun, du könntest zu der Ansicht gekommen sein, daß sich mein Verstand verwirrt hat, oder gar, daß ein Dämon ihn befallen hat«, meinte Ermyas gedehnt. »Solche Gedanken haben in meinem Kopf keinen Platz«, wehrte Gorey mit gespieltem Entsetzen ab. »Soll ich dann deine Worte so auslegen, daß du daran glaubst, Zogor sei noch am Leben?« erkundigte sich Ermyas. »Ich glaube daran, daß du als rechtmäßiger Nachfolger von Zogor den Thron bestiegen hast«, antwortete Gorey. Er vermied geschickt, sich irgendwie festzulegen. Es wäre Ermyas zuzutrauen gewesen, daß er ihm aus einem einzigen unbedachten Wort einen Strick gedreht hätte. So nahe dem Ziel wollte der Kanzler nichts tun, was Ermyas, der immer noch König von Myranien war, gegen ihn aufbringen könnte. »Du bist vorsichtig, Kanzler«, stellte Ermyas spöttisch fest. »Aber mit Vorsicht allein kannst du deinen Kopf nicht retten. Wie würdest du dich verhalten, wenn Zogor, entgegen aller Gerüchte, doch
noch am Leben ist? Nein, warte mit der Antwort. Diesmal lasse ich es nicht zu, daß du mir ausweichst. Ich möchte eine klare Stellungnahme von dir hören. Wenn Zogor lebend in Erscheinung treten würde, wer wäre dann in deinen Augen der rechtmäßige König, er oder ich?« »Du treibst ein ungnädiges Spiel mit mir, Erhabener«, meinte Gorey. »Aber da du eine klare Stellungnahme von mir wünschst, werde ich so klar antworten, wie es mir möglich ist. Eher werde ich mit dir sterben, mein König, als mich Zogor unterwerfen.« Ermyas nickte, obwohl er nicht ganz zufrieden mit der Antwort zu sein schien. Er hatte gehofft, daß sich Gorey eine Blöße gab, die es ermöglichte, gegen ihn vorzugehen. Ermyas hätte sich des Kanzlers gerne entledigt, denn er besaß in Myra einen zu starken Einfluß. Aber eben weil er ein mächtiger und beliebter Mann war, konnte ihn Ermyas nicht grundlos aus dem Weg räumen. »Hast du noch Staatsgeschäfte mit mir zu besprechen, Kanzler?« fragte Ermyas ungeduldig. »Wenn nicht, dann brauche ich dich nicht mehr länger.« »Es gäbe noch viel zu besprechen«, entgegnete Gorey, »aber es ist nichts, was unaufschiebbar wäre. Nur eine einzige Angelegenheit gibt es, die keinen Aufschub duldet.«
»Und was wäre das?« »Du weißt, mein König, daß die Bürgerschaft von Myra seit je Vertrauen in mich gesetzt hat«, begann Gorey. »Ich habe schon unter Zogor oft zwischen dem Königshaus und den Bürgern als Vermittler gedient und so manche Konflikte bereinigt. Als nun dein Anruf an die Bürger Myras erging, ihr gesamtes Vermögen an das Königshaus abzutreten, setzte man sich mit mir in Verbindung. Ich machte den Bürgern klar, daß es in dieser Angelegenheit keine Zwischenlösung geben könne. Ich konnte ihnen verständlich machen, daß es dem König in der augenblicklichen Lage unmöglich sei, auf die Unterstützung der Bürger zu verzichten. Sie schienen eingesehen zu haben, daß es keine Möglichkeit gibt, die Beschlagnahmung ihres Vermögens zu verhindern, es sei denn ...« »Sprich schon«, verlangte Ermyas ungeduldig. »Es sei denn, sie überlassen ihr Vermögen freiwillig dem Königshaus«, beendete Gorey den Satz. »Einige der Bürger haben eingesehen, daß das der vernünftigere Weg ist und wollen heute bei dir vorsprechen, um den Tribut bei dir abzuliefern.« Ermyas war für einen Augenblick sprachlos vor Überraschung. »Vielleicht bist du doch ein besserer Kanzler, als ich gedacht habe, Gorey«, meinte er schließlich. Er straffte sich und sagte: »Ich werde die Abordnung der
Bürgerschaft empfangen und die Geschenke annehmen. Aber laß sie meine Warnung hören: Wer von ihnen glaubt, mir auf diese Weise auch nur einen Silberling seines Vermögens vorenthalten zu können, wird mit dem Tode bestraft!« Gorey verneigte sich. »Ich bin sicher, daß dies niemand wagen wird, mein König.« Diesmal suchte der Kanzler in Begleitung seiner Dienerschaft das Haus des reichsten Mannes der Stadt auf. Er brauchte sich nicht auf Schleichwegen hin zu begeben, weil er vom König den Befehl zu diesem Besuch bekommen hatte. Doch verlief das Gespräch in den Wänden des Hauses ganz anders, als es der König auch nur ahnen konnte. Sämtliche Mitglieder der verschworenen Gemeinschaft waren bereits anwesend, als Gorey eintraf. »Der König will euch empfangen«, erklärte der Kanzler bei seinem Eintreffen. Die Männer nickten zufrieden, aber ihre Gesichter blieben ernst. Sie waren sich bewußt, daß von nun an die Entscheidung über das Schicksal von Myra und des gesamten myranischen Reiches auf ihren Schultern ruhte. »Wir können dir auch mit einer guten Nachricht
aufwarten«, sagte einer der Männer. »Gelogor ist zurückgekehrt.« »Wo ist er?« wollte Gorey wissen. Ein großgewachsener Mann trat in den Raum, der in die Kutte eines Wanderpriesters gekleidet war. Aber seinem Auftreten war anzumerken, daß er die Kutte nur vorübergehend trug und eher ein Kämpfer mit dem Schwert als ein Verfechter eines Götzenkultes war. Die Gruppe um Gorey, die sich gegen Ermyas verschworen hatte, hatte sich entschlossen, sich Gewißheit über König Zogors Schicksal zu verschaffen. Deshalb war einer von ihnen auserwählt worden, als Unterhändler zum Lager von Dragons Heer zu reiten. »Nun, was hast du zu berichten. Gelogor?« erkundigte sich Gorey. »Ich war im Lager der Urgoriten«, berichtete der Unterhändler, »und wurde zu Dragon vorgelassen. Er ist ganz anders, als ihn die Geschichten beschreiben, die man sich über ihn erzählt. Er ist kein Gott und kein Barbar, kein Wilder und kein Weiser, sondern ein kluger und aufrechter Mann, für den Ehre kein leeres Wort ist.« »Wenn man dich so reden hört, dann konnte man meinen, daß er dich verhext hat«, warf Gorey stirnrunzelnd ein. »Er hat mich in seinen Bann geschlagen«, gab Gelogor zu. »Aber er tat es nicht mit den Mitteln der
Zauberei, sondern allein durch seine Person. Wenn man seit Jahren nichts anderes kennt als Hinterlist, Verschlagenheit und Bösartigkeit, dann tut es gut, einem Mann zu begegnen, für den das alles fremde Begriffe sind. Ich sage euch, dieser Dragon besitzt das Herz eines Kriegers, die Klugheit und Gerechtigkeit eines wahrren Königs und ist verständnisvoll wie ein Bruder.« »Ich hoffe, die Götter haben dir ein gutes Urteilsvermögen bei deinen Beobachtungen beschert«, meinte Gorey. »Und hoffentlich haben sie dich deine eigentliche Aufgabe nicht vergessen lassen.« Gelogor schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vergessen, aus welchem Grund ich zu Dragons Heerlager ritt. Er hatte auch nichts dagegen, daß ich mir die Mumie ansah.« »Und?« »Es kann keinen Zweifel geben, daß es sich um König Zogor handelt«, erklärte Gelogor. »Aber Dragon gab zu, daß sich Ermyas vielleicht nicht nur einbildete, Zogor gesehen zu haben. Dragon sagte, es sei sogar möglich, daß König Zogor noch einmal und vor einem größeren Personenkreis in Erscheinung treten könnte.« »Aber wenn Zogor tot ist, wie kann er in Myra in Erscheinung treten?« fragte Gorey. »Nicht Zogor wird erscheinen, sondern ein Dämon, der uns glauben machen will, daß er Zogor sei«,
antwortete Gelogor. »Vor diesem Geschöpf müssen wir uns in acht nehmen ...« Ermyas saß mit der ihm eigenen Nachlässigkeit im Thron, umgeben von seinen blonden Jünglingen, seinen Kanzler zur Rechten. Der junge König traute den Bürgern nicht ganz, deshalb hatte er vorsichtshalber seine Bogenschützen hinter den Säulen des Rundgangs Aufstellung nehmen lassen. Zehn von ihnen hatten den Befehl, auf ein Zeichen des Königs den Kanzler unter Beschuß zu nehmen. Ermyas wollte endlich reinen Tisch machen und sich in seinen Handlungen nicht mehr von dem viel zu sanften Gorey behindern lassen. Ermyas winkte den Kanzler heran und fragte: »Bist du sicher, daß die Bürger ihre Haltung mir gegenüber so plötzlich geändert haben?« Gorey machte ein verwundertes Gesicht. »Sie waren dir von Anfang an treu verbunden, mein König. Warum sollten sich ihre Gefühle zu dir gewandelt haben? Als sie von Zogors Tod hörten, war es ihre einstimmige Meinung, daß du nun seine Nachfolge antreten solltest.« »Du mißverstehst mich – etwa mit Absicht?« sagte Ermyas mit einem Lächeln, das feinen Spott zeigte. »Das anfängliche Wohlwollen der Bürger verwandelte sich bald nach meiner Thronbesteigung ins Gegenteil.
Meine Spione haben mir zugetragen, daß viele meiner Maßnahmen vom Volk mißbilligt wurden. Deshalb wundert es mich, daß mich die Bürger auf einmal wieder ins Herz geschlossen haben sollen.« »Sie lieben dich nicht, Erhabener, sie fürchten dich«, entgegnete Gorey. »Aber da du noch nie etwas auf die Meinung des Volkes gegeben hast, braucht es dich nicht zu kümmern, welche Beweggründe sie haben, dir ihr Vermögen zu Füßen zu legen.« Ermyas preßte die Lippen so fest zusammen, daß alles Blut aus ihnen wich. Zum erstenmal hatte Gorey offen gegen ihn Stellung bezogen. Das zeigte, wie gut es gewesen war, die Beseitigung des Kanzlers vorzubereiten. Ermyas beruhigte sich wieder – es sollte das Vorrecht der Todgeweihten sein, ihre Meinung noch einmal frei äußern zu dürfen. »Du hast recht, Kanzler«, sagte er deshalb mit erzwungener Ruhe. »Für mich und Myranien ist es nur wichtig, daß Geld in die königliche Schatzkammer fließt. Durch das einsichtige Verhalten der Bürger gewinne ich die nötige Zeit, die ich brauche, um ein Heer auf die Beine zu stellen, die Dragon und seine tausend Urgoriten in die Flucht schlagen kann. Wie entgegenkommend von dem Barbar, seine Hauptstreitmacht gen Norden zu schicken, um Myranien vor den Horden der Nacht zu schützen! Er sah sich wohl schon als König, denn er handelte, als
gelte es sein Reich zu verteidigen.« »Vielleicht handelte er aber auch gar nicht aus selbstherrlichen Motiven, sondern dachte an das Wohl der Menschen, als er seine Krieger in den Kampf gegen die Horden der Nacht schickte«, gab Gorey zu bedenken. Das hörte sich beinahe so an, als hätte der Kanzler für den Barbar aus dem Osten Partei ergriffen! Ermyas hätte ihn zur Rede stellen müssen, aber er ging mit voller Absicht nicht näher darauf ein, um Goreys Hinrichtung noch hinausschieben zu können. »Welche Beweggründe Dragon auch gehabt haben mag, mir kann es nur recht sein, wenn sein Heer im Norden aufgerieben wird«, sagte Ermyas, »und wir es nur mit einem verlorenen Haufen von tausend Kriegern zu tun haben. Aber genug davon. Ich nehme an, den Bürgern brennt das Gold in den Händen, und sie wollen es so rasch wie möglich an mich loswerden. Ich will sie also nicht länger warten lassen.« Gorey verneigte sich vor dem jungen König und gab den Palastwachen ein Zeichen. Die Herolde stießen in ihre Hörner, und unter deren Klängen wurde das riesige Tor zum Thronsaal geöffnet. Dahinter wartete bereits die Abordnung der Bürger mit ihren Sklaven im Gefolge. Ermyas blickte unwillkürlich zum Rundgang hinauf, wo sich die Bogenschützen bereithielten. Noch waren
sie nicht zu sehen, aber sie würden augenblicklich in Erscheinung treten, wenn Ermyas es wollte. »Ich glaube, wir können uns das sonst bei solchen Anlässen übliche Zeremoniell ersparen, Kanzler«, sagte Ermyas. »Wir würden dabei nur unnötige Zeit verlieren. Die Bürger sollen den Tribut beim Schatzmeister abliefern, das genügt.« »Wie du befiehlst, Erhabener.« Gorey verneigte sich leicht, ging zu einem der Wachkommandanten und leitete den Befehl des Königs an ihn weiter. Inzwischen war die Bürgerabordnung vollzählig in den Thronsaal gekommen. Das Tor schloß sich wieder, die Wachen postierten sich davor. Die Bürger in ihrer bunten und kostbaren Festtagspracht, hatten in zwei Reihen Aufstellung genommen. Die dunkelhäutigen Sklaven, die die schweren Truhen geschultert hatten, hielten sich im Hintergrund. Als der Klang der Hörner erstarb und der erste der Bürger dem König seine Aufwartung machen wollte, wurde er von der Palastwache zurückgedrängt und darüber unterrichtet, daß seine persönliche Vorsprache unerwünscht sei und er nur das Geschenk an seinen König beim Schatzmeister abzuliefern habe. Ermyas schien es sich in diesem Augenblick jedoch anders überlegt haben. Er winkte den Wachtposten zurück und beugte sich in seinem Thronsessel etwas
vor. »Ah, Yazilio«, sagte er zu dem Bürger, der die Abordnung anführte. »Man sagt über dich, daß du der reichste Mann von Myra seist. Stimmt das?« Yazilio, in dessen Haus sich die Verschwörer getroffen hatten, war ein unglaublich dicker, kahlköpfiger Mann, der das fehlende Haupthaar durch ein Netz aus gesponnenem Gold ersetzte, in das an die hundert edle Steine eingefaßt waren. Er verneigte sich demütig und meinte bescheiden: »Man sagt so vieles über mich, wobei meine Neider ganz anderer Meinung sind als meine Gönner. Ich selbst glaube, daß ich trotz meines Goldes ein armer Mann wäre ohne die Großmut meines Königs.« Ermyas meinte spöttisch: »Nennst du es großmütig, wenn ich mich deines Reichtums bemächtige?« »Was ich besitze, gehört auch meinem König.« Ermyas lächelte kalt. »Dann laß sehen, was du besitzt – und von nun an mir gehört.« Zehn Sklaven schleppten fünf große Truhen heran, die sie an der Treppe abstellten, die zum Thron hinaufführte. Ermyas beleckte sich die Lippen. Wenn diese fünf riesigen Truhen mit Goldstücken gefüllt waren, dann konnte er allein damit zweitausend Krieger kaufen und sie für zwei Monde entlohnen. Aber selbst wenn es sich bei dem Inhalt der Truhen nur um Silberlinge handelte, dann reichte er als Sold für
dieselbe Anzahl von Kriegern für einen Mond. Der Schatzmeister kam herangewatschelt, und unter seiner Aufsicht klappten die Sklaven die Deckel der Schatztruhen zurück. »Steine!« entfuhr es dem Schatzmeister, als er den Inhalt der Truhen erblickte. »Wertlose Steine!« Ermyas sprang auf die Beine und beugte sich nach vorne, um in die Truhen blicken zu können. Für einen Moment war er fassungslos, aber dann rötete sich sein blasses Gesicht vor Zorn. »Du wolltest mich hintergehen, Yazilio!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Aber damit rettest du deine Schätze nicht und verlierst noch zusätzlich dein Leben. Wachen, ergreift ihn!« Aber die Wachen rührten sich nicht vom Fleck. Ermyas begriff in diesem Augenblick noch nicht die ganze Tragweite dieser offensichtlichen Befehlsverweigerung. Er machte eine Handbewegung, die von den Bogenschützen auf dem Rundgang gesehen werden mußte. Aber kein Pfeil schnellte von der Sehne. »Ich habe nicht gelogen, als ich behauptete, alles was mein ist, gehöre auch meinem König«, sagte Yazilio würdevoll. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Haß, und er spie die folgenden Worte förmlich aus: »Nur erkenne ich dich nicht mehr als meinen König an. Ermyas.«
Ermyas wurde blaß. Er griff nach seinem Schwert, um Yazilio eigenhändig zu töten. Doch bevor er es noch aus der Scheide ziehen konnte, ertönte aus dem Hintergrund des Thronsaales eine donnerartige Stimme, die allen vertraut war. »Yazilio verleugnet dich mit Recht, Ermyas. Denn solange ich lebe, hast du keinen Anspruch auf den Thron von Myranien.« »Zogor!« Zogor, den alle für tot gehalten hatten schritt hoheitsvoll durch die Gasse, die sich zwischen den zurückweichenden Bürgern bildete. Er kam so nahe an ihnen vorbei, daß sie alle Einzelheiten an ihm erkennen konnten – und keiner an ihnen zweifelte, daß das Wesen, das vor ihren Augen den Thronsaal durchquerte, ganz genau so aussah wie König Zogor. Ermyas stieß einen Wutschrei aus und zückte sein Schwert. Vergessen war die Demütigung des reichen Yazilio, vergessen auch die Befehlsverweigerung der Palastwachen und der Bogenschützen. In dem jungen König wurden wieder die Erlebnisse jener beiden Nächte wach, in denen er gegen Zogor gekämpft und in denen er ihn auch getötet hatte. »Wie viele Leben hast du noch, Zogor!« schrie Ermyas, außer sich vor Haß und Wut. »Wie oft muß ich dich noch töten, um Ruhe vor dir zu haben.« Die Zogorgestalt hatte ebenfalls das Schwert
gezogen. »Ich bin nicht gekommen, um mich vor dir töten zu lassen, Ermyas, sondern um als rechtmäßiger König den Thron zu besteigen. Und diesmal werde ich keine Gnade kennen. Dein Blut soll fließen, Ermyas!«
Gorey mußte sich in Erinnerung rufen, was ihm Gelogor berichtet hatte, um standhaft zu bleiben. Er glaubte wirklich und wahrhaftig, König Zogor vor sich zu haben. Er sah aus wie Zogor, sprach mit der Stimme Zogors und bewegte sich wie Zogor. Aber Gelogor hatte die Mumie gesehen und geschworen, daß es sich um König Zogor handelte. Gorey durfte sich nicht täuschen lassen, er mußte seinen kühlen Verstand bewahren und jeden seiner Schritte vorher reiflich überlegen. Es war so gekommen, wie Dragon es Gelogor vorausgesagt hatte. Die Zogorgestalt war im Augenblick der Entscheidung aufgetreten, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Fast alle im Thronsaal standen gegen Ermyas. Gorey hatte es wohlweislich so eingerichtet, daß nur Männer seines Vertrauens an diesem Tage für die Palastwache eingeteilt wurden. Die anderen Palastsoldaten, die seinem Wort gehorchten, hatten Ermyas Bogenschützen schon vorher überwältigt und deren
Plätze eingenommen. Damit wollte Gorey alle Voraussetzungen für einen unblutigen Sturz des Königs schaffen. Aber er hatte auch mit der Möglichkeit gerechnet, daß Dragons Voraussage zutraf und der Dämon in der Zogorgestalt auf den Plan trat, und hatte seine Männer darauf vorbereitet. Als er Zogor jetzt allerdings vor sich sah, kamen ihm Zweifel, daß es sich um einen Dämon handelte. War es nicht möglich, daß Zogor doch noch lebte, obwohl man ihn tausendfach totgesagt hatte? Gorey verscheuchte seine Gedanken, um sich durch sie nicht von den Geschehnissen ablenken zu lassen. Ermyas war die Stufen heruntergesprungen, griff in eine der Truhen, die Yazilios Sklaven herangeschleppt hatten, und holte einen schweren Stein heraus, den er nach Zogor schleuderte. Zogor wich dem Geschoß aus, und Gorey war es, als hätte er gesehen, daß Zogors Umhang davonwirbelte, als besäße er ein eigenes Leben. Wenn sich Gorey nicht geirrt hatte, dann stimmte seine Beobachtung mit Dragons Aussage überein, der Gelogor versichert hatte, daß der Dämon in der Zogorgestalt auch seine Kleider aus seinem Körper formte. Die Zogorgestalt wich einem Schwertstreich Ermyas‘ geschickt aus, täuschte dann einen Angriff von links vor, wirbelte das Schwert jedoch über den Kopf
und ließ es von der rechten Seite auf Ermyas niedersausen. Der junge König konnte den Schlag zwar parieren, aber durch die Wucht des Aufschlags wurde ihm das Schwert aus der Hand geschlagen. Er selbst stolperte über eine der Truhen hinter sich und fiel zu Boden. Noch ehe er auf die Beine kommen konnte, war die Zogorgestalt über ihm. »Ich werde dir nicht die Ehre antun, dich durch die Waffe sterben zu lassen«, rief Zogor und ließ das Schwert fallen. »Ich werde dich erwürgen wie einen räudigen Wolf!« Ermyas schrie auf, als sich Zogors Hände um seinen Hals legten und zudrückten. Der Schrei ging in ein Gurgeln und Röcheln über, das immer leiser wurde und schließlich erstarb. Ermyas war tot. Die Zogorgestalt erhob sich und drehte sich zu den Versammelten um. Gorey stellte fest, daß Zogor vom Kampf überhaupt nicht gezeichnet war. Obwohl er eine beachtliche Leibesfülle hatte, schien ihn die Auseinandersetzung überhaupt keine Anstrengung gekostet zu haben – er atmete nicht einmal schneller als sonst. Zogor wies seine Hände vor und sagte: »Seht her, ich habe mich nicht mit dem Blut meines Neffen beschmutzt. Ich habe reine Hände‘, auch wenn ich damit getötet habe. Das ist ein Zeichen der Götter,
das richtig gedeutet werden soll. Die Götter wollen damit sagen, daß ich mir reine Hände bewahrt habe, als ich die inneren Feinde Myras auslöschte. Aber das soll auch heißen, daß ich meine Hände nun im Blut der Feinde baden muß, die aus dem Osten gegen unsere Stadt ziehen.« Die Bürger standen unschlüssig da. Sie wußten offensichtlich nicht, wie sie sich zu verhalten hatten. Nicht anders erging es den Palastwachen, die geschlossen hinter Gorey standen, von diesem jedoch keinen Befehl zum Handeln erhielten. Gorey überlegte sich fieberhaft, wie er Zogor prüfen konnte, um eindeutig herauszufinden, ob es sich um den Dämon handelte. Zogor nützte das Schweigen, um einen flammenden Aufruf an seine Untertanen zu richten. »Feiert ihr so die Rückkehr eures Königs? Sinkt nieder und dankt den Göttern, daß sie mich am Leben ließen, obwohl rings um mich Tausende meiner Krieger starben. Dies soll ein Freudentag für Myra werden, denn ich werde euch heute zum Sieg über die Barbaren aus dem Osten führen.« Gorey sah, wie sich einige der Wachen in Bewegung setzten. Es waren fünf Männer, die ihre Schwerter gezückt hatten und Fackeln in den Händen trugen. An ihrer Spitze erkannte er Gelogor. Er riß die anderen aus ihrer Erstarrung, als er rief:
»Du kannst nicht Zogor sein, denn ich habe den Leichnam unseres Königs gesehen. Du bist ein Dämon in Zogors Gestalt, der uns heimsucht, um Verderben über unsere Stadt zu bringen.« »Wer bist du, daß du es wagst, an mir zu zweifeln!« rief die Zogorgestalt aufgebracht. »Ich werde solange an dir zweifeln, bis du die Feuerprobe bestanden hast!« erwiderte Gelogor. Er sprang plötzlich und unerwartet, nach vorne und stieß die Fackel nach der Zogorgestalt ... Als Cnossos die Flammen auf sich zukommen kam, die Hitze gegen sein Gesicht schlagen spürte, wich er mit einem Entsetzensschrei zurück. Er fürchtete nichts so sehr auf dieser Welt wie das Feuer, denn es war das einzige Element, das ihm gefährlich werden konnte. Die Furcht davor, daß das Feuer ihn versengen konnte, ließ ihn für kurze Zeit die Herrschaft über seinen Körper verlieren. In seinem Gesicht zuckte es und es schien langsam zu zerfließen. Zu spät merkte er, daß er sich eine Blöße gegeben hatte. Die Umstehenden hatten die Veränderung bemerkt, die in seinem Gesicht vor sich gegangen war, und jetzt kam auch Bewegung in sie. Sie drangen mit ihren Waffen auf ihn ein, bedachten ihn mit Schmährufen und verfluchten ihn. Cnossos sah sein Spiel endgültig verloren. Er erkannte, daß er alle Trümpfe verloren hatte und daß er sich nur noch durch Flucht retten konnte.
Die Schwertstiche und die Pfeile, die sich in seinen Körper bohrten, spürte er kaum. Aber da war immer noch das Feuer der Fackeln, das ihn ernstlich bedrohte. Er ließ sich Klauen wachsen und verteidigte sich so gut es ging, während er darauf wartete, daß seine Geierschwingen ihre endgültige Form erhielten und stark genug waren, ihn davonzutragen. Cnossos konnte zwei der Fackelträger töten. Aber kaum hatte er sie ausgeschaltet, traten andere an ihre Stelle, die ihn mit dem Feuer bedrängten. Er erschauerte unter dem furchtbaren Schmerz, den die Flammen seinem Körper verursachten, wenn sie über ihn hinwegzüngelten. Cnossos dachte nur daran, sich endlich in Sicherheit zu bringen. Als seine Schwingen endlich soweit gediehen waren, daß er sich auf ihnen erheben konnte, brachte er sich aus dem Gefahrenbereich. Aber jetzt, da er in Sicherheit war, als furchtbare Gestalt, halb Geier, halb Zogor, über seinen Feinden schwebte, da wurde der Wunsch nach Rache in ihm übermächtig. »Ihr habt euch gegen die Götter versündigt«, schmetterte er den Männern unter sich entgegen. »Dieser Frevel bleibt nicht ungesühnt! Euch wird eine Strafe treffen, die furchtbarer sein wird als ihr erahnen könnt. Ich schicke euch die Schrecken der Meere, die Myra überrennen, plündern und dem Erdoben gleichmachen werden. Wenn sie wieder abziehen, wird
dies eine Stätte des Todes sein.« Mit diesen Worten flog die furchterregende Geiergestalt durch eines der hohen Fenster und verschwand. Dragon wartete an der Spitze seines tausend Mann starken Heeres vor dem Osttor von Myra. Dort war eine Abteilung von Bürgern und Adeligen erschienen, von der sich ein einzelner Reiter löste und ohne besondere Eile herangeritten kam. »Jetzt wirst du König von Myranien«, sagte Yina dumpf, die mit ihrem Pferd an Dragons Seite stand. Dragon gab keine Antwort. Es stimmte, er hatte auf allen Linien gesiegt. Aber das war nicht sein persönliches Verdienst, sondern der Sieg einer durch die Bande der Freundschaft zusammengehaltenen Gemeinschaft. Von Kim hatte Dragon schon am Morgen dieses Tages erfahren, daß Parthos und Agrions Truppen die Horden der Nacht besiegt hatten und daß die Verluste in den eigenen Reihen weit unter den Erwartungen geblieben waren. Allerdings hatte Kims Bruder Kano, der mit Parthos Streitmacht nach Norden gezogen war, noch keine Angaben über das Schicksal ihrer Freunde machen können. Partho und Agrion hatten den Kampf überlebt, aber was aus Nabib, Sardak, Bodo und den anderen geworden war, darüber hatte Kano nichts
aussagen können. »Wirst du, da du nun König von Myranien wirst, Amee zur Frau nehmen. Dragon?« erkundigte sich Yina. Dragon lächelte ihr zu, gab jedoch keine Antwort. Er blickte sich kurz zu dem Krieger um, der dicht hinter ihm stand und einen Vogelkäfig in der Hand hielt. Darin war eine weiße Brieftaube, die mit Dragons Botschaft nach Urgor zu Amee fliegen würde. Er wollte die Botschaft jedoch erst abschicken, bis sich alles entschieden hatte. Das würde in wenigen Minuten sein, bis der einzelne Reiter aus Myra ihn erreicht hatte. Dragon konnte schon Einzelheiten an ihm erkennen – es war Gelogor, der Abgesandte des Kanzlers, der schon einmal in sein Lager gekommen war, um sich von der Echtheit der Königsmumie zu überzeugen. Gelogor zügelte sein Pferd wenige Schritte vor Dragon. Er schwang sich aus dem Sattel, ging vor Dragon auf die Knie und senkte das Haupt. »Verfügt über Myra und über Myranien und dessen Bewohner. Herr«, sagte er feierlich. »Gorey erwartet euch mit seinem Gefolge und den Daikanen, um euch die Stadt und den Thron anzubieten.« »Danke«, sagte Dragon nur und ließ Gelogor wieder sein Pferd besteigen. »Wie wirst du dich entscheiden. Dragon?« fragte
Yina. Er tippte ihr mit dem Finger auf die Nase und meinte lächelnd: »Sei nicht so neugierig, kleine Maus und unterstehe dich, in meinen Gedanken zu forschen.« Sie beobachtete, wie er eine Nachricht aus der Tasche holte, sie an das Bein der Brieftaube band und die Tür des Vogelkäfigs öffnete. Die Brieftaube flatterte heraus und flog in Richtung Osten davon. Trotz des Verbots konnte Yina der Versuchung nicht widerstehen. Sie drang vorsichtig in Dragons Gedanken ein. Komm bitte nach Myra, liebe Amee, und werde meine Frau ... Jetzt erst bin ich würdig, um deine Hand anzuhalten ... Es wird eine Ehe aus Liebe, aber auch eine Ehe zwischen Urgor und Myranien ... Zum erstenmal in ihrem Leben wurde Yina neidisch auf das Glück anderer Menschen. »Endlich«, sagte Kim, als sie sich in Bewegung setzten und auf Myra losritten. »Endlich ist diese Schlafmütze aufgewacht. Kano hat den ganzen lieben langen Tag verschlafen.« »Hast du Verbindung zu ihm?« fragte Yina aufgeregt. »Was sagt er? Sind alle wohlauf? Nabib, Sardak und ...« »Und Bodo«, fügte Kim hinzu. »Keinem von ihnen ist ein Härchen gekrümmt worden.«
»Und?« drängte Yina. »Hast du mir nichts von Kano auszurichten?« »Von ihm nichts«, antwortete Kim »Aber dafür von Bodo. Er läßt dir sagen, daß er dich mag ...« Yina war auf einmal viel gelöster, und sie konnte sich selbst nicht verstehen, daß sie eben noch auf das Glück der anderen neidisch gewesen war. Plötzlich war ihr jedoch, als stürze sie in einen endlosen Abgrund. Kims Worte drangen wie von Ferne durch einen dichten Nebel zu ihr, als er fortfuhr: »Aber Bodo wird nicht nach Myra kommen. Das Leben unter so vielen Menschen behagt ihm nicht, er braucht die endlose Weite und die Einsamkeit des Wolfslandes ...« Yina nahm an diesem Tag kaum noch wahr, was um sie vorging. Es war alles so wie in einem Traum ... als sie auf die Abgeordneten von Myra trafen ... in Triumph in die Stadt einritten ... von den Bewohnern als Befreier gefeiert wurden. Aber Yina weinte nicht. Tapfer unterdrückte sie die Tränen. ENDE Die Entscheidung vollzog sich im Zeichen des Mondes, und dem Atlanter, dessen Verbündete die Horden der Nacht bezwangen, fiel Myra, des toten Königs Zogor mächtige
Kapitale, kampflos in die Hand. Wie Dragon, der neue König von Myranien, die Früchte seines Sieges nutzt, wird erst die Zukunft erweisen. Wir blenden jetzt um zu den Himmelsbergen und ihren mächtigen Bewohnern, die einen Racheakt des Cnossos erleben. Schauplatz des düsteren Geschehens ist DAS TAL DER DRACHEN ... DAS TAL DER DRACHEN so heißt auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Als Verfasser des Romans zeichnet William Voltz.