Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 5
Im Zeichen des Kristallmondes von Bernhard Kempen
Im März 1225 Neuer Galaktische...
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Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 5
Im Zeichen des Kristallmondes von Bernhard Kempen
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenständiger Zivilisationen entwickeln. Und Geheimnisse, von denen die Menschen sowie die anderen Bewohner der Milchstraße nur träumen können … Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Dort müssen sie sofort um ihr Leben kämpfen. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Ar-
koniden. Der 2. Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent Viina. Nachdem ihr Boot kentert, setzen die Gefährten ihren Weg ins Land der Silbersäulen mit einer Dampflokomotive fort. Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara Vier. Dort treffen sie auf Savannenreiter, mit deren Hilfe sie versuchen, zur Zivilisation zurückzufinden. Sie werden in Zwistigkeiten der Afalharos verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Dabei geraten sie in die Fänge termitenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Atlan wird von seinem neuen Begleiter Tamiljon befreit. Zusammen erreichen sie das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Tamiljon muss unter allen Umständen dorthin gelangen, da eine Mission von größter Bedeutung davon abhängt. Die beiden werden von Fremden verfolgt, die sie an der Passage hindern wollen.
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Prolog Im orangeroten Schein der Sonne Verdran kamen die Verfolger immer näher. Sie waren bereits deutlich auf der spärlich bewachsenen Afal-Savanne zu erkennen. Nicht ihre Gesichter, die unter schweren Kapuzen verborgen waren, sondern die Gestalten in den schwarzen Kutten. Ich wusste immer noch nicht genau, warum die Perlenschleifer hinter uns her waren, aber ihr gezielter Vormarsch ließ keinen Zweifel an ihren feindseligen Absichten. »Was machen wir jetzt?«, wandte ich mich an Tamiljon, der genauso ratlos wie ich zu sein schien. »Einen Moment …«, murmelte er. »Ich muss mich konzentrieren.« »Ich fürchte, zur meditativen Einkehr haben wir jetzt keine Zeit.« »Wenn das Obsidiantor wider Erwarten verschlossen ist, bleibt mir noch die Möglichkeit, es zu öffnen.« »Dann tu es bitte!«, drängte ich ungeduldig. Falls Tamiljon es nicht rechtzeitig schaffte, seinen Schlüssel einzusetzen und uns aus der Gefahrenzone zu bringen, stand uns ein Kampf Mann gegen Mann bevor.
1. Ich blickte zum wuchtigen, schätzungsweise sechs Meter hohen und sieben Meter breiten Steinblock auf, fand aber nicht die Muße, die kunstvollen Reliefs und die leuchtenden Kristalle zu bewundern, die die gesamte Oberfläche zierten. Unser Problem war der Durchgang des Obsidiantors, in dem kein Flimmern oder Schimmern der Luft darauf hindeutete, dass sich das rätselhafte Transportfeld aktiviert hatte. Wenn uns dieser Ausweg verschlossen war, dann … Wach auf, Träumer!, flüsterte der Extrasinn. Ich drehte mich um und sah zu Tamiljon hinüber, der sich vor dem Tor in Stellung
gebracht und seinen Kristallstab erhoben hatte. Mit einem Mal hielt er in der Bewegung inne und erwiderte meinen Blick mit seinen gelblichen Augen. Wie auf ein geheimes Kommando wandten wir uns gleichzeitig den Gestalten zu, die inzwischen ein gutes Stück näher gekommen waren. »Du kümmerst dich um das Tor«, zischte ich ihm zu. »Ich werde versuchen, dir den Rücken freizuhalten.« Doch Tamiljon machte keine Anstalten, meinem Ratschlag Folge zu leisten. Stattdessen konzentrierte er seinen Blick auf die Verfolger, als wollte er sie durch bloße Willenskraft aufhalten. Hatte er vor, mit den Perlenschleifern zu verhandeln? Wollte er sich auf ein Handgemenge einlassen oder sich gar kampflos ergeben? Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt, Unruhe kam in die Reihe der Angreifer. Zunächst sah es aus, als wäre einer der Männer gestolpert. Doch als er zu Boden ging, versuchte er sich nicht wieder aufzurappeln, sondern wand sich schreiend im Staub der Savanne, bis seine Bewegungen unvermittelt erstarben und er reglos liegen blieb. Dann schienen drei weitere Perlenschleifer ohne erkennbaren Grund das Gleichgewicht zu verlieren. Als hätte sie eine Windhose gepackt, wurden sie durch die Luft gewirbelt und rissen mehrere ihrer Kollegen zu Boden. Der Angriff war ins Stocken geraten. Das rätselhafte Geschehen hatte uns ein paar Sekunden Spielraum verschafft, den wir dringend benötigten. Tamiljon warf mir einen weiteren kurzen, beinahe verlegenen Blick zu und drehte sich mit entnervender Gelassenheit zum Obsidiantor um. Ich unterdrückte meinen plötzlichen Drang, ihn anzuschreien, meine Hände um seinen Hals zu legen und ihn mit den wüstesten Flüchen zu bedenken, die ich im Laufe meines langen Lebens kennen gelernt hatte. Stattdessen beobachtete ich mit widerwilliger Faszination, wie er seinen knapp einen
Im Zeichen des Kristallmondes Meter langen Kristallstab erneut hob und damit die Oberfläche des Obsidiantors berührte – um genau zu sein, die etwa faustgroßen gesprenkelten Kugeln, die, von einer unbekannten Kraft gehalten, in Vertiefungen des dunkelgrauen Gesteins schwebten. Tamiljons Gesicht war vor Konzentration angespannt. Offenbar setzte er einen Kode ein. Es schien darauf anzukommen, die schwebenden Kugeln in einer ganz bestimmten Reihenfolge oder vielleicht sogar in genau definierten Zeitabständen zu berühren. Gleichzeitig sah ich, wie sich seine Lippen bewegten. Er murmelte etwas, nur ein einziges Wort, das er ständig wiederholte. Erst nach dem vierten oder fünften Mal konnte ich es deutlich genug hören – auch wenn ich die Bedeutung noch immer nicht verstand. Es klang wie: »Aroc, Aroc …« Gleichzeitig vernahm ich noch etwas anderes, was mit unserem unmittelbaren Problem zusammenhing. Zwei Perlenschleifer stürmten direkt auf uns zu. Ohne lange Überlegung lief ich ihnen ein paar Schritte entgegen, damit Tamiljon nicht in seiner Konzentration gestört wurde. Den ersten schaltete ich mit einem gezielten Dagorschlag gegen den Solarplexus aus, den zweiten riss ich zu Boden, indem ich mich ohne besondere Eleganz auf ihn warf. Wir wälzten uns im Staub, bis ich mir genügend Armfreiheit verschaffen konnte, um ihn mit einem kräftigen Kinnhaken ins Reich der Träume zu schicken. Ich ließ sofort von ihm ab, da ich aus dem Augenwinkel gesehen hatte, dass sich der erste Angreifer erstaunlich schnell erholte. Doch er beging den Fehler, meinen Begleiter als neues Ziel ins Auge zu fassen. Bevor er zum Sprung ansetzen konnte, hatte ich mich von hinten auf ihn gestürzt und ihn mit einem Genickschlag außer Gefecht gesetzt. Ich blieb für einen Moment schnaufend liegen und spürte, wie der Zellaktivatorchip unter meinem linken Schlüsselbein pochte. Wirkten sich die ungewöhnlichen physikalischen Verhältnisse meiner Umgebung auch auf die Funktion der Kosmokratentechnik
5 aus, die mir relative Unsterblichkeit verlieh? Seit ich vor gut drei Wochen auf Vinara IV gestrandet war, schien mein Zellaktivator immer häufiger lebenserhaltende Impulse senden zu müssen, um meine leichten Erschöpfungszustände auszugleichen. Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Als ich sie wieder öffnete, bemerkte ich einen Lichtschein, der vorher nicht da gewesen war. In der Toröffnung bildete sich ein Nebel, der von innen heraus zu leuchten schien. Davor nahm ich undeutlich Tamiljons Silhouette wahr. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Helligkeit wirkte der schwarzhäutige Humanoide, der obendrein einen pechschwarzen Anzug trug, schwärzer als ein Schwarzes Loch. Er hatte das Tor aktiviert! Steh endlich auf, Träumer!, ermahnte mich die Stimme des Extrasinns. Auch diesmal verzichtete ich darauf, mich auf einen gedanklichen Dialog einzulassen, der ohnehin zu nichts geführt hätte, weil die Stimme wieder einmal – wie meistens – Recht hatte. Es fiel mir ungewöhnlich schwer, auf die Beine zu kommen. Ich unterdrückte das Schwindelgefühl und beeilte mich, zum Obsidiantor zurückzukehren. »Worauf wartest du?«, fragte ich Tamiljon keuchend, der sich vom schimmernden Nebelfeld abgewandt hatte und reglos dastand. Er antwortete mir nicht, sondern schien sich ganz auf unsere Verfolger zu konzentrieren. Ein paar von ihnen hatten die Verwirrung abgeschüttelt und setzten den Angriff hartnäckig fort. Doch wieder schien es, als würden sie von einer unsichtbaren Faust abgewehrt werden. Während sie liefen, verloren sie den Boden unter den Füßen und wurden durch die Luft zurückgeschleudert. Als sie in die Gruppe ihrer schockierten Kameraden stürzten, sah Tamiljon mich an, und ich sah ihn an. Es war nur ein kurzer Blickkontakt, dann deutete er mit einer ungeduldigen Kopfbewegung zum Tor.
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»Lass uns verschwinden, Atlan«, sagte er knapp. Legst du gesteigerten Wert auf meinen Kommentar, oder kommst du ausnahmsweise von selber drauf?, stichelte der Extrasinn. Telekinese!, schoss es mir durch den Kopf. Nun war es mein Extrasinn, der auf eine Bemerkung verzichtete, weil meiner Erkenntnis nichts mehr hinzuzufügen war. Tamiljon war offensichtlich ein Telekinet. Er besaß die Gabe, Gegenstände – oder auch unliebsame Verfolger – mit reiner Geisteskraft zu bewegen, sie zum Beispiel meterweit durch die Luft zu schleudern. Eigentlich hätte ich schon viel früher darauf kommen müssen. In seiner Gegenwart war es immer wieder zur Entfaltung außergewöhnlicher Kräfte gekommen. Als die Termitenkönigin gegen die Wand geworfen wurde, als Tamiljon mühelos den Kokon aufgerissen hatte, in den die Insektenabkömmlinge mich eingesponnen hatten … Aber warum hatte er nie ein Wort darüber verloren? Welches Geheimnis trug er mit sich herum? Vermutlich hatte es keinen Sinn, ihn darauf anzusprechen. Wenn er sich bisher nicht dazu geäußert hatte, würde er meine Fragen zweifellos mit Schweigen beantworten. Außerdem war jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt für ein tief schürfendes Gespräch. Tamiljon schien zumindest zu ahnen, was mir durch den Kopf ging und meine Entschlusskraft beeinträchtigte. Kurz entschlossen packte er meinen Arm und zerrte mich mit. Das wütende Heulen unserer Verfolger im Ohr, taumelte ich ins Licht, in den schimmernden Nebel, der das Obsidiantor erfüllte …
* Lethem da Vokoban starrte entgeistert aus dem Zugfenster. Einer der Meteoriten schien am Himmel stillzustehen. Das Einzige, was sich am Glutball veränderte, war seine Größe. Und das konnte nur eins bedeuten: Der
kosmische Irrläufer raste genau auf sie zu. »Warum fahren wir nicht weiter?«, rief Enaa von Amenonter aufgeregt. Lethem drehte sich zur jungen Akonin um und schüttelte den Kopf. »Dazu ist es jetzt zu spät«, sagte er mit resignierter Gelassenheit. Der Zug hatte mitten auf der Strecke angehalten, als plötzlich ein Unwetter über sie hereingebrochen war und der Sternschnuppenhagel begonnen hatte. Es würde viel zu lange dauern, bis die altertümliche Dampflokomotive wieder Fahrt aufgenommen hatte. Es spielte auch keine Rolle, ob sie versuchten, zu Fuß die Flucht zu ergreifen, oder ob sie sich unter den Sitzbänken des Waggons verkrochen. Als Lethem wieder aus dem Fenster sah, bemerkte er, dass sich nun doch etwas zu verändern schien. Der Glutball am Himmel geriet in Bewegung, und im nächsten Moment platzte er auseinander. Zunächst hatte Lethem den Eindruck, als würde es lautlos geschehen. Der Meteorit teilte sich in sieben kleinere Stücke, die langsam auseinander drifteten. Erst kurz danach hallte der gewaltige Donner der Explosion über die Oberfläche von Vinara. Der Arkonide wusste, dass seine letzte Stunde geschlagen hatte. Diese Gewissheit gab ihm einen inneren Frieden, der sich auch auf seine Begleiter zu übertragen schien. Nach der ersten Panikreaktion begnügten sie sich nun damit, gebannt das Schauspiel zu verfolgen. Lethem blickte noch einmal nacheinander in ihre Gesichter, als wollte er sich stumm von ihnen verabschieden. Den Terraner Scaul Rellum Falk und den Luccianer Zanargun kannte er bereits aus der Zeit, als sie gemeinsam an Bord des Mutterschiffs ATLANTIS ihren Dienst verrichtet hatten. Sie wechselten zur Besatzung der TOSOMA, mit der sie auf diesem Planeten gestrandet waren. Die übrigen drei – der Springer Ondaix, die Akonin Enaa und die geheimnisvolle Varganin Kythara – hatten sich
Im Zeichen des Kristallmondes erst in Viinghodor kennen gelernt. Das tiefe Donnergrollen war allmählich stärker geworden, dann fegte die erste Druckwelle über das Land, als einer der Brocken kurz vor den Bergen am Horizont einschlug. Die nächsten Treffer verwandelten die Umgebung in ein apokalyptisches Szenario. Sandmassen wurden in die Atmosphäre geschleudert, und der Waggon schüttelte sich, als wollte er aus den Gleisen springen. Lethem war in Deckung gegangen und hatte unwillkürlich mitgezählt. … fünf … sechs … Einer stand noch aus. Als er wieder einen Blick nach oben riskierte, sah er ihn. Der letzte Brocken schien seine Flugbahn kaum verändert zu haben und hielt unbeirrt auf sie zu. Doch als hätte er es sich plötzlich anders überlegt, wich er vom Kurs ab, immer schneller, dann raste er seitlich davon. Der Meteorit musste den Zug um Haaresbreite verfehlt haben. Lethem spürte den Gluthauch der erhitzten Luft und ging erneut in Deckung. Im nächsten Moment spürte er fast gleichzeitig einen donnernden Knall und ein Beben, das erheblich stärker als die vorigen war. … sieben.
* Sardaengar war besorgt. Er hatte Grataar verlassen, seine Bastion im Herzen des Ograhan-Gebirges, und war unterwegs zu einem Obsidiantor. Aber nicht zu irgendeinem, sondern zu einem ganz bestimmten Obsidiantor. Jenem, das sich in einer der Silbersäulen befand. Mit Hilfe dieses Tores konnte er Einfluss auf sämtliche Tore nehmen. Natürlich nur in beschränktem Rahmen. Aber das genügte ihm. Es kam ihm darauf an, die anderen Tore aktivieren, blockieren oder Transportvorgänge umleiten zu können. Während Sardaengar unterwegs war, krei-
7 sten seine Gedanken um den Anlass seiner Besorgnis. Unvorhergesehene Dinge waren geschehen. Es hatte mit dem unerwarteten Auftauchen der Vergessenen Plattform in der Obsidian-Kluft begonnen, und kurz darauf war in der uralten Positronik ein Wesen erschienen, das die Ausstrahlung eines Imaginären besaß. Damit war ein unbekannter Faktor in die Gleichung seiner langfristigen Pläne geraten. Also musste dieser Faktor eliminiert oder ausgeglichen werden. Zum Glück gab es einen zweiten Faktor, der gewichtig genug war, ihm Hoffnung zu geben. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt war Atlan eingetroffen, der über zwölftausendjährige Arkonide mit der Aura eines Ritters der Tiefe. Somit standen die Voraussetzungen gut, dass Sardaengar die Dinge zum Positiven wenden konnte. Doch bedauerlicherweise zeichnete sich dieser Faktor durch eine gewisse Unberechenbarkeit aus. Anfangs hatte er einen Begleiter gehabt, der jedoch inzwischen getötet worden war. Seitdem war Tamiljon, ein Mitglied des Litrak-Ordens, nicht von Atlans Seite gewichen. Er war der Träger eines Mondsplitters, doch da keiner der Wächter Litraks mehr am Leben war, konnte er sich das Artefakt nur unrechtmäßig angeeignet haben. Damit wurde Tamiljon zu einem weiteren Faktor in der Gleichung, dessen Einfluss nicht zu unterschätzen war. Wie sich die Anwesenheit der Personen auswirken würde, die das auf Vinara I gestrandete Raumschiff TOSOMA verlassen hatten, konnte Sardaengar zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einschätzen. Daher hatte er vorsorglich eine weitere Gruppe von Perlenschleifern instruiert, ihre Bewegungen zu überwachen. Wenn Sardaengar ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass seine Erfolgsaussichten nicht besonders gut standen. Trotzdem würde er sich nicht davon abbringen lassen, alles für die Verwirklichung seiner Pläne zu tun. Er hatte sich vorgenommen, das Obsidiantor auf Vinara IV zu blockieren, damit At-
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lan den Planeten nicht verlassen und er Kontakt mit ihm aufnehmen konnte. Doch er wusste, dass Tamiljon Mittel und Wege besaß, eine solche Manipulation rückgängig zu machen. Für diesen Fall hatte Sardaengar einen Ausweichplan initiiert und die Garde von Aroc mobilisiert. Seine Helfer würden Atlan und Tamiljon ergreifen und festsetzen, bis er selbst eingetroffen war. Trotzdem musste sich Sardaengar beeilen. Er durfte nicht zulassen, dass die Ereignisse noch weiter von den Vorgaben seines ursprünglichen Plans abwichen.
* Wir waren durch! Das Obsidiantor hatte uns durch einen transmitterähnlichen Effekt an einen anderen Ort versetzt. So viel stand fest. Auch wenn es darauf zunächst keinen anderen Hinweis gab als den, dass wir in einer stockdunklen Umgebung herauskamen. Außerdem hatte sich die Luft spürbar verändert. Der trockene Staubgeruch der Savanne war einer feuchteren Duftmischung gewichen, wie sie für größere Ansiedlungen typisch war. Als ich spürte, wie Tamiljon meinen Arm losließ, blickte ich zur Seite. Nur undeutlich konnte ich die Konturen seines Gesichts wahrnehmen. Ich drehte mich um und sah das Nebelfeld, dessen Schein jedoch nicht weiter als ein paar Meter reichte. Dann bemerkte ich, was die Aufmerksamkeit meines Begleiters geweckt hatte. Im Leuchten des Obsidiantors bewegte sich etwas. Aus dem wabernden Licht schälte sich eine Gestalt, die von einem weit geschnittenen Umhang und einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze verhüllt wurde. Einer der Perlenschleifer hatte es gewagt, uns durch das Tor zu folgen. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann fasste er Tamiljon und mich ins Auge. Doch er ging nicht sofort zum Angriff über, sondern trat einen Schritt zur Seite und schien abzuwarten.
»Nichts wie weg!«, sagte ich zu Tamiljon. »Wenn die anderen kommen, geht die Treibjagd sofort weiter.« Tamiljon jedoch blieb völlig ruhig und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich unterdrückte meinen Fluchtreflex, weil ich nun ebenfalls den Grund für seine Zuversicht erkannte. Das Leuchten im Durchgang des Obsidiantors ließ nach, bis es völlig erlosch. Das Transportfeld war zusammengebrochen. Im letzten Widerschein sah ich, wie sich der Perlenschleifer erschrocken umdrehte. Die erhoffte Verstärkung würde nicht mehr eintreffen. Unser Verfolger war nun ganz auf sich allein gestellt. Trotzdem schien er nicht gewillt, den Kampf aufzugeben. Als er sich von seinem Schreck erholt hatte, ging er gebückt in Angriffshaltung. Doch bevor er sich in Bewegung setzen konnte, zuckte ein greller Schein durch die Dunkelheit. Instinktiv schloss ich die Augen, dann hörte ich einen gellenden Schrei. Als ich es wagte, sie wieder zu öffnen, sah ich nur noch die Reste der Glutwolke, in der der letzte unserer Verfolger vergangen war. Hatten wir es tatsächlich geschafft? War die Hetzjagd damit beendet? Ich bezweifelte, von nun an ein sorgenfreies Leben führen zu können. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wohin uns das Obsidiantor versetzt hatte. In der Dunkelheit, die uns umgab, lauerten mit Sicherheit die nächsten Gefahren. Was dann geschah, gab zwar noch keinen unmittelbaren Anlass zur Beunruhigung, aber es bestätigte meinen intuitiven Verdacht, dass wir nicht allein waren. Es begann mit einem Knistern und Zischen, und ich spürte, wie sich meine Haare aufrichteten, als würde sich irgendwo in der Nähe ein starkes elektrisches Feld aufbauen. Die Geräusche steigerten sich zu einem dumpfen Dröhnen, auf einmal wurde es schlagartig hell. Diesmal war ich auf den Beleuchtungswechsel vorbereitet und konnte mich verhältnismäßig schnell orientieren. Ich erkann-
Im Zeichen des Kristallmondes te hohe Masten, zwischen fünfzig und hundert Meter entfernt, an deren Spitzen Leuchtkörper montiert waren. Es handelte sich um große quadratische Flächen, die sich aus einzelnen strahlenden Punkten zusammensetzten. Die Lichter brannten mit einem hörbaren Zischen, und in unregelmäßigen Abständen prasselte und knallte es. Verblüfft erkannte ich, dass mit jedem platzenden Geräusch ein Punkt in der leuchtenden Fläche erlosch. Wo in aller Welt waren wir gelandet? »Ergebt euch! Jeder Widerstand ist zwecklos!« Das Kommando hallte verzerrt über den Platz, von Kratz- und Knistergeräuschen unterlegt, als hätte jemand ein antikes Grammofon an eine Batterie von Schalltrichtern angeschlossen. Etwas näherte sich. Eine Reihe aus dunklen Gestalten, die sich langsam aus dem Gegenlicht schälten. War das die Verstärkung der Perlenschleifer? Ich befürchtete, dass wir vom Regen in die Traufe geraten waren. Doch bald erkannte ich, dass die Gestalten nicht in die typischen Kutten der Perlenträger von Helmdor gekleidet waren. Hier herrschte eine völlig andere Mode – und zwar ein Stil, den ich von einem völlig anderen Ort und aus einer ganz anderen Zeit kannte. Eine Reihe von Soldaten rückte in militärisch korrekter Formation vor. Daran ließen die Uniformen aus dunkelblauem Stoff mit roten Zierstreifen keinen Zweifel. Die Köpfe der Männer waren durch halbkugelförmige Helme geschützt, die offenbar aus schwarzem Metall bestanden und von matt funkelnden Spitzen gekrönt wurden. Pickelhauben, bemerkte der Extrasinn überflüssigerweise. Die Ausstattung entspricht nahezu exakt den Uniformen, wie sie vor 1900 in der Armee des Deutschen Reiches verwendet wurden. Nur dass auf den Helmen statt des Reichsadlers ein kreisförmiges Symbol aus fünf schwarzen Punkten prangte. Das Zeichen der Perlenträger von Helmdor.
9 Ich besaß noch immer zu wenig Informationen, um einschätzen zu können, welche Interessen diese Gruppierung verfolgte. Eines war mir jedoch klar: Sie waren nicht mit Tamiljons Interessen identisch. Viel mehr Sorgen als die Kopfbedeckung der Soldaten bereiteten mir die langläufigen Büchsen, die sie auf ein gebelltes Kommando von den Schultern nahmen. Ich kannte diesen Waffentyp – einschüssige Zündnadelgewehre, eingeführt um 1850. Primitive Hinterlader, deren Patronen allerdings genauso tödlich wie ein Energiestrahl sein konnten. Auf ein weiteres unverständliches Kommando ging die erste Reihe in die Hocke, ein Knie auf den Boden gestützt. Dann legten die Männer gleichzeitig auf uns an. Die Lautsprecherstimme hatte uns zur Kapitulation aufgefordert. Wenn wir uns ruhig verhielten, konnten wir vielleicht darauf hoffen, nicht zur Zielscheibe altertümlicher Bleigeschosse zu werden. Tamiljon schien meine zaghafte Zuversicht nicht zu teilen. Er blickte sich mit sichtlicher Nervosität um und schien nach einem Fluchtweg zu suchen. Kannte er diese Truppe? Wollte er uns vor dem bewahren, was uns in der Gefangenschaft erwartete? Meine Überlegungen wurden gegenstandslos, als plötzlich ein Schuss ertönte. Während ich mich instinktiv duckte, suchte mein Blick in der Dunkelheit nach der Quelle des Geräusches. Es kam von weiter hinten, wo ich auf der Ladefläche eines Fahrzeugs einen Soldaten sah, der Gewehre an seine Kameraden verteilte. Anscheinend war eine der primitiven Feuerwaffen nicht korrekt gesichert gewesen, sodass sich ungewollt ein Schuss gelöst hatte. Der Knall bedeutete also nicht, dass der Angriff eröffnet worden war, aber er hatte die Wirkung des sprichwörtlichen Funkens, der das Pulverfass hochgehen ließ. Die folgenden Ereignisse beanspruchten nur wenige Sekunden, dennoch nahm ich sie wie in Zeitlupe wahr. Kurz hintereinander lösten sich zwei Schüsse aus der knienden
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Schützenreihe. Zum Glück waren die Soldaten von ihrer eigenen Reaktion überrascht, denn die Kugeln pfiffen in sicherem Abstand an uns vorbei. Der dritte Schuss ging senkrecht in die Luft, weil sich nun eine Szene wiederholte, die mir schon fast vertraut geworden war. Die Reihe der Schützen geriet plötzlich in Unordnung, dann wurden mehrere Männer gleichzeitig von den Beinen gerissen und warfen auch die übrigen Soldaten zu Boden. Ich spürte, wie Tamiljon wieder meinen Arm packte und mich fortzerrte. Diesmal verlor ich keine Zeit. Ich stürmte geduckt los und folgte meinem Begleiter zum Rand des Platzes. Da wir uns den Lichtmasten näherten, die auf das Zentrum der Fläche ausgerichtet waren, wurde es immer dunkler. Dennoch hetzte Tamiljon unbeirrt weiter – er schien sich hier auszukennen. Doch schon im nächsten Moment war mein Vertrauen in seine Ortskenntnisse wie weggeblasen – als ich spürte, dass ich unvermittelt keinen Boden mehr unter den Füßen hatte. Die Fläche, auf der sich das Obsidiantor erhob, war auf einmal zu Ende, und unter mir war nur noch ein dunkler Abgrund. Wir stürzten haltlos in die Tiefe, während die nachgerückten Soldaten uns von oben unter Feuer nahmen.
2. Das letzte Bruchstück des Meteoriten musste in unmittelbarer Nähe des Zuges eingeschlagen sein. Eine Wolke aus emporgeschleuderter Materie wälzte sich am Fenster vorbei, und der aufgeworfene Schutt prasselte auf das Waggondach. Dreck wurde durch die Scheibe ins Abteil gewirbelt, die unter dem Ansturm der Hagelkörner zerplatzt war. Lethem wartete noch eine Weile ab. Er gewann den Eindruck, als würde sich der Tumult langsam legen. Offenbar waren keine weiteren Einschläge zu erwarten. Das Beben und der Lärm hatten nachgelassen, und die Luft war wieder klar geworden. Auch das Gewitter hatte schlagartig aufgehört. Sie
schienen noch einmal mit heiler Haut davongekommen zu sein. »Das war aber verdammt knapp!«, schnaufte Falk. Als er sich über die Stirn wischte, hinterließ seine Hand einen Streifen aus Dreck und Schweiß. Doch niemand schien sich daran zu stören. »Was machen wir jetzt?«, fragte Enaa. Sie hatte sich in die hinterste Ecke des Abteils zurückgezogen. Lethem riss sich zusammen und schüttelte seine Benommenheit ab. Nachdem er bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte, fiel es ihm schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie wider Erwarten überlebt hatten. Er durfte sich jetzt nicht hängen lassen. Der Zweite Pilot der TOSOMA musste wieder die Rolle des Anführers übernehmen. »Wir gehen nach draußen und sehen uns den Schaden an«, sagte er und staunte selber, dass seine Stimme die gewohnte Autorität widerspiegelte. »Zanargun, du bleibst hier und behältst unsere Sachen im Auge.« Der Luccianer nickte wortlos, während die anderen fünf in den Gang hinaustraten, der vor ihrem Abteil verlief. Sie waren nicht die einzigen Passagiere, die zu den Ausgängen drängten. Lethem bemühte sich, nicht die Geduld zu verlieren, während sie sich nacheinander durch die Ausstiegstür schoben und sich auf der grasbewachsenen Ebene versammelten. Die ersten rötlichen Strahlen Verdrans schoben sich über den Horizont und tauchten die Szene in ein unheimliches Licht. Der Zug kauerte wie eine gigantische grauschwarze Raupe in der Landschaft. Unter der Dreckschicht hatte der Schmuck aus Metallschnörkeln und Obsidiansplittern an den Waggons seinen früheren Glanz verloren. Lethem beschloss, dem Strom der ausgestiegenen Passagiere zu folgen, die zum vorderen Ende des Zuges marschierten. Kurz darauf erhielten sie einen ersten Eindruck vom Ausmaß des Schadens. Der Meteorit musste zum größten Teil verglüht sein, sonst hätte er zweifellos ein gewaltigeres Loch in
Im Zeichen des Kristallmondes den Boden gerissen als den ungefähr zwanzig Meter durchmessenen Krater. »Verdammter Mist!« »Verdorbener Dendibokot!« Der Terraner und der Springer hatten es auf den Punkt gebracht, dachte Lethem. Denn nun sah auch er, dass die Gleise genau auf das Loch zuliefen und erst ein gutes Stück dahinter wieder in einen befahrbaren Zustand übergingen. Dazwischen waren nur noch ein paar verbogene Metallknäuel zu erkennen. »Wie sollen wir jetzt weiterkommen?«, fragte Enaa in die Runde. »Ganz einfach«, sagte Ondaix, »wir packen unsere Sachen zusammen und marschieren los.« »Ja klar, kein Problem!«, gab Falk zurück. »Wir haben ja nur noch knapp einhundert Kilometer vor uns!« »Schaut euch lieber an, was da drüben vor sich geht«, meldete sich plötzlich Kythara zu Wort. Alle fuhren gleichzeitig herum und starrten erschrocken auf den Meteoritenkrater.
* Ich wollte nicht schreien, aber ich tat es dennoch. Im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden Todes erschien es wenig sinnvoll, die Selbstbeherrschung zu wahren. Ich stürzte in die Tiefe. Neben mir pfiffen die Kugeln der Soldaten durch die Luft. Ich zog den Kopf zwischen die Schultern und streckte die Beine aus, um einerseits eine möglichst geringe Trefferfläche zu bieten und mich andererseits beim unvermeidlichen Aufprall abfangen zu können. Zumindest wollte ich versuchen, den zu erwartenden Schaden zu begrenzen, auch wenn ich nicht wusste, ob ich die nächsten Sekunden überleben würde. Was mir ein wenig Hoffnung gab, war die Tatsache, dass Tamiljon mich keineswegs hinterrücks in den Abgrund gestoßen hatte, sondern zusammen mit mir gesprungen war. Undeutlich nahm ich seinen schwachen
11 Schatten in der Dunkelheit wahr. Ich wusste, dass wir parallele Flugbahnen durch die Nacht beschrieben. Dann sah ich Licht unter mir. Nur gedämpft, keine klaren Konturen, der Widerschein einer indirekten Beleuchtung. Bevor ich mir weiter Gedanken darüber machen konnte, kam der Aufprall. Er war weicher, als ich befürchtet hatte. Ich spürte, wie der Boden unter mir nachgab, beinahe wie ein Trampolin. Doch ich wurde nicht wieder nach oben geworfen. Die Abwärtsbewegung hatte sich deutlich verlangsamt, war aber noch nicht zum Stillstand gekommen. Auf einmal hörte ich ein lautes, reißendes Geräusch, und im nächsten Moment fiel ich bereits wieder. Ich versuchte mich an der glatten und nachgiebigen Unterlage festzuhalten, konnte einen weiteren Aufprall jedoch nicht verhindern. In dieser Etappe war ich höchstens zwei Meter tief gefallen – lächerlich im Vergleich zur ersten, die meiner unzuverlässigen Einschätzung zufolge ungefähr das Zehnfache betragen haben musste. Dafür war dieser Aufprall umso schmerzhafter. Es gab ein lautes Krachen, als ich mit dem Rücken auf einer harten Fläche landete. Gleichzeitig bohrten sich zahllose spitze und scharfe Gegenstände in meine Haut. Ein wütendes Geschrei setzte ein. Vorsichtig stemmte ich den Oberkörper hoch, blinzelte und schüttelte den Kopf, um meine Benommenheit zu vertreiben. Ich befand mich auf einer Art Marktplatz und lag auf einem kunstlos zusammengezimmerten Holztisch, der mit kleinen Metallteilen übersät war. Der Tisch war nur einer von vielen, die in parallelen Reihen aufgestellt waren und auf denen die unterschiedlichsten Waren zum Verkauf angeboten wurden. Dazwischen drängten sich zahllose Lebewesen, offenbar Kunden und Verkäufer, die jedoch schlagartig das Interesse am Handel verloren hatten und nur noch in meine Richtung starrten. Ein Blue, dessen Warensortiment ich durch mein unverhofftes Erscheinen in Un-
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ordnung gebracht hatte, bedachte mich mit wüsten Flüchen. Dessen war ich mir ziemlich sicher, auch wenn ich kein Wort verstand. Seine Stimme war vor Aufregung in den Ultraschallbereich abgeglitten. Der breite Tellerkopf auf dem gefährlich dünnen Hals wackelte bedenklich, und das Rohrstück in seiner rechten Hand deutete ebenfalls nicht auf freundliche Absichten hin. Ich entschied mich für einen ehrenhaften Rückzug, weil ich es in meiner angeschlagenen Verfassung auf keinen Kampf ankommen lassen wollte. Als ich mich aufsetzte und vom Tisch gleiten ließ, zuckte ich zurück. Plötzlich baumelten zwei Beine in schwarzer Ledermontur vor meinem Gesicht – unmittelbar darauf folgte der Rest des Körpers. Tamiljon landete mit einem eleganten Sprung auf dem Boden. »Komm, wir müssen weiter«, sagte er und reichte mir eine Hand. Ich blickte kurz zu den Planen hinauf, die man mit einem primitiven Lattengestell über den Marktplatz gespannt hatte. Direkt über mir klaffte ein Riss im grauen Stoff, durch den die tiefschwarze Nacht zu sehen war. Entweder hatte Tamiljon sich für die Landung eine stabilere Dachkonstruktion ausgesucht, oder er hatte seinen Sturz mit telekinetischen Kräften abgebremst. Ich schüttelte den Kopf, verschmähte die angebotene Hand und stand aus eigener Kraft auf. »Wohin gehen wir?«, fragte ich. »Unsere Feinde werden weiter nach uns suchen«, erwiderte er ungeduldig. »Wir brauchen eine sichere Zuflucht.« »Keine schlechte Idee«, stimmte ich ihm zu. Außerdem überzeugte mich ein kurzer Blick zum Blue, der immer wütender mit dem Metallrohr herumfuchtelte, dass es wirklich angebracht war, eine gastlichere Umgebung aufzusuchen.
* Sardaengar hatte bereits ein gutes Stück Weg auf der unwirtlichen Ebene zurückge-
legt. Er war so sehr in Gedanken versunken und mit der Berechnung seiner Pläne beschäftigt, dass er den neuen Störfaktor erst im letzten Moment bemerkte. Verwundert blickte er auf. Er war es gewohnt, in größeren Maßstäben zu denken, deshalb hatte er nicht einmal ansatzweise daran gedacht, mit einer Bedrohung auf diesem elementaren Niveau konfrontiert zu werden. Unwillkürlich rief er sich den uralten Leitsatz ins Gedächtnis, dass man stets das Unerwartete erwarten sollte. Scaffrans. Nicht nur ein Tier, sondern ein ganzes Rudel. Sie waren sichtlich abgemagert, die Knochen stachen bereits durch das räudige Fell. Sardaengar hätte beinahe Mitleid für sie empfunden, doch er wusste, dass sie gefährliche Räuber waren, wenn sie im Rudel auftraten. Selbst jemand wie Sardaengar, der über andere Möglichkeiten als normalsterbliche Lebewesen verfügte, konnte einem koordinierten Angriff dieser Bestien zum Opfer fallen. Es war jedoch nicht die Bedrohung allein, die ihm Sorgen bereitete, sondern die Tatsache ihres Vorhandenseins auf Vinara. Denn Sardaengar wusste, dass diese Tiere ursprünglich vom Planeten Hayok stammten. Von Lemurern eingeschleppt, waren sie auf Vinara inzwischen heimisch geworden. Um die Scaffrans zu eliminieren, griff Sardaengar auf eine Macht zurück, die eine ureigene Fähigkeit seines Volkes war. Er sammelte seine Kräfte, fixierte die Tiere und setzte die Fähigkeit ein. Kurz darauf ergriffen die Scaffrans heulend und mit eingezogenen Schwänzen die Flucht.
3. Die Gruppe hatte einen kleinen Hügel bestiegen und beobachtete das Geschehen im Krater. Da sich der Meteorit in sehr flachem Winkel in den Boden gebohrt hatte, war die Mulde nicht allzu tief, sodass sie mühelos verfolgen konnten, was sich am Grund ab-
Im Zeichen des Kristallmondes spielte. Nachdem Verdran aufgegangen war, konnte Lethem nun einen Teil des Brockens erkennen, der aus der aufgeworfenen Erde ragte. Anfangs hatte er rot geglüht, doch nun schimmerte er in bläulichem Weiß, nachdem er die Reibungshitze, die beim Eintritt in die Atmosphäre entstanden war, an die Umgebung abgegeben hatte. Lethem wurde klar, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Meteoriten handeln konnte, da er bereits seit einiger Zeit in beständigem Licht strahlte. »Obsidian …«, flüsterte Enaa ehrfürchtig. Doch nun setzte ein unheimlicher Verwandlungsprozess ein. Vom Meteoriten stiegen bläulich weiße Schwaden auf, die sich am Grund der Senke sammelten und sich langsam in die Höhe schraubten. Es sah aus, als würde der Meteorit verdampfen. Lethem bemerkte, dass das sichtbare Stück immer kleiner wurde, wie verdunstendes Eis. Als sich anscheinend die gesamte Materie des Meteoriten umgewandelt hatte, zog sich der schimmernde Nebel zusammen. Es war, als würden darin einzelne Funken aufblitzen. Das Schauspiel setzte sich wie eine Kettenreaktion fort, und bald erkannte Lethem, dass die gasförmige Substanz zu winzigen Kristallen kondensierte. Obwohl es den Anschein hatte, dass sie zu fester Materie geworden waren, verhielten sie sich nicht wie gewöhnliche Kristalle, sondern schwebten weiter in der Luft über dem Meteoritenkrater. Nun gerieten sie sogar ohne erkennbaren Anlass in Bewegung. Sie umkreisten sich gegenseitig, und bald hatten sich Wirbel gebildet, die in einen wirren Tanz übergingen. »Ich weiß nicht, was ihr dazu sagt, aber mir gefällt das nicht.« Falk war der Erste, der die Sprache wieder gefunden hatte. Lethem warf einen kurzen Blick zu Kythara, ihre anfängliche Neugier schien sich ebenfalls in Besorgnis verwandelt zu haben. »Wir treten den Rückzug an«, sagte er schließlich, weil es ihm genauso wie den anderen ging. Diese Entwicklung war ihm nicht geheuer.
13 Lethem sah sich immer wieder um, während sie den Hügel verließen. Dann hielt er plötzlich inne, obwohl sein Instinkt ihm riet, schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. Doch er konnte seinen Blick nicht von der Fortsetzung dieses lautlosen Schauspiels lösen. Die wirbelnden Kristalle konzentrierten ihren Tanz und zogen sich zusammen, bis sie immer deutlicher Gestalt annahmen.
* Tamiljon schien diese Stadt wie seine Westentasche zu kennen. Er führte mich zwischen den Ständen des Marktes hindurch, dann schlugen wir uns in eine schmale Gasse. Nachdem wir ein paar Mal nach links oder rechts abgebogen waren, gab ich es auf, mir bewusst den Weg zu merken. Falls ich diese Informationen wirklich irgendwann brauchte, konnte ich sie jederzeit aus meinem fotografischen Gedächtnis abrufen. Als wir uns dem heller erleuchteten Ende einer Gasse näherten, gab Tamiljons nachtschwarze Silhouette ein Zeichen. Offenbar wollte er sich zunächst einen Überblick verschaffen, bevor es weiterging. Ich folgte seinem Beispiel und ging neben ihm hinter einen Wandvorsprung in Deckung. Von hier aus hatten wir eine gute Sicht, ohne dass man uns im Halbdunkel bemerkte. Erschöpft atmete ich aus; ich rieb mir die Augen und versuchte, einen Sinn in die chaotische Szene zu bringen, die sich vor uns abspielte. Ein buntes Treiben fand auf einer Straße statt, die deutlich breiter als die Gassen war, die ich bisher von dieser Stadt zu Gesicht bekommen hatte. Die gegenüberliegenden Häuserfassaden waren zwanzig Meter entfernt und mit abstrakten Verzierungen versehen, die bereits abblätterten. Was noch von der einstigen architektonischen Ästhetik übrig war, wurde durch Rohre, Kabel und andere technische Gerätschaften an den Außenwänden restlos zerstört.
14 Erstaunt blickte ich an einer der Konstruktionen hinauf, die in regelmäßigen Abständen am Straßenrand aufgestellt waren. Eine mit verschnörkelten Ornamenten verzierte Säule – offenbar aus Gusseisen oder einem ähnlichen Material – trug einen Glaskasten mit leicht überstehender Abdeckung. Und darin brannte unübersehbar eine Flamme. Kein Glühfaden, kein energetisch angeregter Leuchtstoff, kein hyperphysikalischer Photonenwandler, sondern ein simpler Verbrennungsvorgang, der Wärme und Licht freisetzte. Jeder Zweifel war restlos weggewischt, als ich das unterschwellige leise Zischen im Straßenlärm wahrnahm und den typischen Geruch in der Luft. Gaslicht, erkannte der Extrasinn lakonisch den Grund meiner Verwunderung. Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken, der infolge des Sturzes immer noch leicht schmerzte. So etwas hätte ich nie auf einem Planeten erwartet, von dem ich nicht einmal wusste, ob er sich im gleichen Universum wie meine Heimatgalaxis befand. Diese Szene war typisch für eine ganz bestimmte Epoche auf einem ganz bestimmten Planeten. Terra, Europa, mittleres Zeitalter der Industrialisierung, Ende neunzehntes Jahrhundert, hörte ich die vertraute Stimme des durch die ARK SUMMIA erweckten Extrasinns. Gaslaternen, eine Nähmaschine, die ein paar Meter weiter im Eingang eines Geschäfts ratterte, krächzende Grammofonmusik, die aus einer Art Kaffeehaus auf der anderen Straßenseite drang – all das erinnerte mich frappierend an London, Paris oder ähnliche Städte um das Jahr 1900 der terranischen Zeitrechnung. Das Bild wäre fast perfekt gewesen – wenn sich auf den Gehwegen nicht Intelligenzwesen unterschiedlichster Herkunft getummelt hätten. Ich sah drei Unither, die sich abwechselnd einen Gegenstand um den Rüssel schnallten, der auf den ersten Blick wie eine Gasmaske aussah, und danach mit verklärtem Blick und wankendem Gang weiterflanierten. In
Bernhard Kempen einem anderen Geschäft saß ein Blue vor einer Maschine, deren Zweck mir zunächst unverständlich war. Nachdem er verschiedene Hebel gedrückt hatte, stieß das Gerät laut zischend eine Dampfwolke aus. Der Blue zog einen Papierstreifen heraus und reichte ihn einem Terraner, der ihm daraufhin ein paar Obsidianperlen reichte und mit einem geflochtenen Korb den Laden verließ. Eine dampfbetriebene Registrierkasse? »Verdammt«, zischte Tamiljon, der sich vorsichtig an der Wand weitergeschoben und einen flüchtigen Blick um die Ecke riskiert hatte. »Nicht bewegen!« Ich sah ein, dass es besser war, den Anweisungen meines schwarzhäutigen Begleiters Folge zu leisten und keine Fragen zu stellen, die er mir wahrscheinlich ohnehin nicht beantwortet hätte. An die Wand gepresst, wartete ich reglos ab. Allmählich schälte sich ein neues Geräusch aus dem Straßenlärm heraus, ein rhythmisches Schnaufen, dessen Quelle sich uns zu nähern schien. Tamiljon verhielt sich absolut still, obwohl ich seine unterdrückte Nervosität körperlich spüren konnte. Dann riss ich erstaunt die Augen auf, hinter dem Wandvorsprung kam etwas zum Vorschein. Es war offensichtlich ein Fahrzeug, eine Konstruktion, die ich in dieser Form noch nie zuvor gesehen hatte. Das Gefährt bewegte sich auf vier großen Metallrädern mit Speichen vorwärts. Vorn befand sich der Motorblock, auf dem der Fahrer im Freien saß und mit Kurbeln und Hebeln hantierte, dahinter eine Ladefläche mit zurückgeschlagener Plane, auf der knapp ein Dutzend Soldaten Platz genommen hatten. Die Soldaten trugen dieselben dunkelblauen Uniformen wie diejenigen, die uns auf dem Platz vor dem Obsidiantor gestellt hatten. Ihre aufmerksamen Blicke, mit denen sie die Passanten auf der Straße musterten, ließen keinen Zweifel aufkommen. Sie suchten nach uns! Ich bemühte mich, nicht zu atmen, nicht einmal mit der Wimper zu zucken, während das Gefährt im Schritttempo an uns vorbei-
Im Zeichen des Kristallmondes rumpelte. Ich schaffte es sogar, nicht erstaunt den Kopf zu schütteln, als mir die technische Funktionsweise dieser Maschine klar wurde. Der Truppentransporter, der auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit mit den Lastkraftwagen des frühen 20. Jahrhunderts hatte, wurde mit Dampfkraft betrieben! Eine Lokomotive auf Rädern, nur dass der Motorblock kompakter gebaut war. Ansonsten war alles vorhanden, was ein Dampfkraftwagen benötigte: ein Wasserkessel, der offenbar mit einer petroleumähnlichen Flüssigkeit beheizt wurde, Pleuelstangen und sogar ein senkrechter Schornstein, durch den die Maschine zischend Dampf ausstieß. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als einer der Soldaten den Blick auf die Gasse fixierte, in der wir in Deckung gegangen waren. Hatte er uns entdeckt? Ich sammelte meine Reserven, um sofort die Flucht ergreifen zu können, falls er Alarm schlug.
* Lethem starrte auf die bläulich funkelnden Wolken, die sich entlang des Kraterrandes gruppiert hatten. Schlagartig brach der Materialisationsprozess ab. Der Arkonide schwankte noch immer zwischen Furcht und Faszination. Das Geschehen spielte sich in ungefähr dreißig Metern Entfernung ab. Er wollte es noch einen kleinen Moment länger beobachten, bis er die Gefahr genauer einschätzen konnte. Bis er den anderen raten würde, sich in Sicherheit zu bringen. Denn die Gestalten erweckten nicht den Eindruck, als wären sie in friedlicher Absicht erschienen. Lethem sagte sich, dass man nicht nach der äußeren Erscheinung gehen durfte. Doch es gelang ihm nicht, mit der Stimme der Vernunft seine instinktive Furcht zum Schweigen zu bringen. Aus den tanzenden Kristallen war etwas geworden, was auf unbegreifliche Art zu leben schien. Auf den ersten Blick wirkten die Gestalten durchaus humanoid – ein Kopf,
15 vier Extremitäten, aufrechter Gang –, doch damit hatte sich die Ähnlichkeit auch schon erschöpft. Die Kristallwesen setzten sich in Bewegung, machten mit skelettartigen Beinen die ersten Schritte, hoben die Arme, die nur aus bläulichen, scharfkantigen Knochen zu bestehen schienen, öffneten die Kiefer, in denen scharfe Kristallsplitter glitzerten. Nach der ersten Erstarrung wichen immer mehr der Schaulustigen zurück, die aus den Waggons geströmt waren und sich um den Meteoritenkrater versammelt hatten. Selbst die Perlenträger von Helmdor, die die letzten drei Waggons des Zuges belegt hatten, traten zögernd den Rückzug an. Lethem drehte sich erneut um und sah, dass die Verwandlung dieser Kreaturen offenbar immer noch nicht abgeschlossen war. Die kantigen Kristallknochen schienen sich zu glätten und zu wachsen. Die wandelnden Skelette bildeten Muskeln und Organe aus, die immer schneller wucherten. Doch bevor die Wesen ein halbwegs menschen- oder arkonidenähnliches Aussehen gewinnen konnten, kehrte sich der Prozess wieder um. Das Fleisch faulte und schrumpfte, es fiel klatschend zu Boden. Der Vorgang setzte bei allen Gestalten gleichzeitig ein. Ihr koordinierter Vormarsch geriet ins Stocken. Nun bewegten sie sich nicht mehr wie eine Roboterarmee, sondern wanden sich, als würden sie von unerträglichen Schmerzen gequält. Vereinzelte Splitter lösten sich von den Skeletten und verpufften zu bläulichen Schwaden. Der Auflösungsprozess schritt kontinuierlich fort. Die Kristallknochen zerfielen zu rieselndem Staub, der verwehte, bevor er den Boden erreichen konnte. Schlagartig war der Spuk vorbei. Die gespenstische Armee war spurlos verschwunden. Lethem und seine Begleiter sahen sich lange an. Keinem fiel eine passende Bemerkung ein.
*
16 Ich stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus, als der Dampflastwagen hinter einer Biegung verschwand. Der Soldat schien uns nicht bemerkt zu haben. Die Gaslaternen leuchteten die Straßenszene stimmungsvoll aus, aber ihr Schein reichte nicht bis in die Seitengassen. Wir hatten noch einmal Glück gehabt. Es sei denn, Tamiljon hatte ein weiteres seiner verborgenen Talente eingesetzt und uns durch irgendeinen Psi-Effekt unsichtbar gemacht. Nachdem wir noch ein paar Minuten reglos verharrt hatten, wagte er einen Blick um die Ecke. »Sie sind weg«, flüsterte er. »Weiter!« Er überquerte die Straße. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Wir gingen durch weitere Gassen, über Straßen und Plätze, an Geschäften vorbei, in denen Lebensmittel, Kleidung und typische Produkte der letzten Epoche vor dem Raumzeitalter verkauft wurden. In der Luft hing der gelbliche Schein der Gaslaternen und Petroleumlampen, mit denen die Innenräume der Häuser beleuchtet wurden. Und der allgegenwärtige Smog – eine üble Mischung aus Dampf, Ruß und Gestank, aus den Rückständen technischer Errungenschaften, die hauptsächlich auf Verbrennungsvorgängen basierten. Als Tamiljon eine enge steile Treppe hinaufstieg, musste ich mich noch einmal kräftig zusammenreißen, um die hohen Steinstufen zu erklimmen. Ich fühlte mich völlig erschöpft und ausgelaugt, ein Zustand, dem Zellaktivatorträger wesentlich seltener als Normalsterbliche ausgesetzt waren. Vermutlich spielten viele Faktoren zusammen: die Hetzjagd der vergangenen Tage, in denen ich kaum Schlaf gefunden hatte, vielleicht in Verbindung mit einem unerklärlichen Einfluss, den diese seltsame Welt auf meinen Metabolismus hatte, aber zweifellos auch die schlechte Luft, die mir die Lungen vergiftete. Am Ende der Treppe blieb Tamiljon vor einer verwitterten Holztür stehen. Er hob
Bernhard Kempen seinen Kristallstab, der die Wirren unserer Flucht unbeschadet überstanden hatte, und klopfte dagegen. Dreimal zwei Schläge, jeweils durch eine kurze Pause getrennt. Vermutlich ein geheimes Erkennungszeichen. Bald darauf hörte ich, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich knarrend, aber nur einen winzigen Spalt weit, durch den uns ein misstrauisches Auge mit rötlicher Iris musterte. Nach kurzer Zeit schwang die Tür auf, um uns einzulassen. Wir traten in einen Raum, in dem sich Kisten, Säcke und Körbe stapelten, die allem Anschein nach Lebensmittel enthielten. Das schwache, flackernde Licht kam von einer Petroleumlampe in der Hand des älteren Arkoniden, der die Tür sofort nach unserem Eintreten wieder verschloss. Er drehte sich zu uns um, begrüßte Tamiljon mit einem Brummen und taxierte mich von oben bis unten. »Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du meinem Freund Atlan eine Zeit lang Unterschlupf gewähren könntest«, sprach Tamiljon den alten Mann an. Seine Antwort bestand aus einem weiteren Brummlaut, begleitet von einem zustimmenden Nicken. Dann setzte er sich wortlos in Bewegung und stapfte an uns vorbei. Offenbar sollten wir ihm folgen. »Langsam gewöhne ich mich an die Gesellschaft schweigsamer Menschen«, sagte ich und warf Tamiljon einen vielsagenden Blick zu. »Keine Missverständnisse, kein dummes Geschwätz … Ja, das gefällt mir!« »Du kannst Kutron vertrauen«, erwiderte Tamiljon, ohne auf meine Stichelei einzugehen. »Bei ihm sind wir in Sicherheit.« »Auch daran habe ich mich inzwischen gewöhnt – geheimnisvollen Fremden blind zu vertrauen …« Meine leise Hoffnung, dass Tamiljon nun etwas mitteilsamer wurde, verflüchtigte sich, als er wieder in Schweigen verfiel. Wir verließen die Speisekammer und durchquerten einen Raum, der von einer umwerfenden Geruchsmischung erfüllt war. In der Mitte stand ein Tisch, auf dem halb zu-
Im Zeichen des Kristallmondes bereitete Fleisch- und Gemüsestücke lagen, die linke Wand wurde von einem technischen Monstrum dominiert, dessen Zweck sich mir erst auf den zweiten Blick erschloss. Das Ding bestand aus einer Ansammlung von Kesseln, Röhren, Klappen und glühenden Platten, auf und in denen es brodelte und zischte. Es war offensichtlich ein Herd – obwohl diese schlichte Bezeichnung einer solch komplexen und ausgetüftelten Erfindung kaum gerecht wurde. Durch eine weitere Tür kamen wir von der Küche in einen etwas größeren Raum mit mehreren Tischen und Stühlen. Lediglich drei Stühle waren besetzt. Ein Cheborparner, der uns einen kurzen Blick zuwarf und sich sofort wieder seiner Mahlzeit widmete, und zwei Akonenabkömmlinge, die sich leise unterhielten. Sie beachteten uns überhaupt nicht. Kutron verließ den Raum durch eine andere Tür, während Tamiljon mich zu einem Tisch im Hintergrund führte, wo wir einigermaßen geschützt waren vor neugierigen Blicken. »Du bist bestimmt hungrig und müde«, sagte er, als wir uns gesetzt hatten. »Kutron wird dir etwas zu essen bringen und ein Zimmer für dich herrichten lassen.« »Dafür, dass wir kaum miteinander reden, verstehen wir uns blendend«, sagte ich mit einem Grinsen und lehnte mich seufzend zurück. »Genau das wünsche ich mir jetzt, in exakt dieser Reihenfolge.« »Ich werde dich jetzt allein lassen, Atlan«, kündigte Tamiljon mit ernster Miene an. »Ich bitte dich inständig, das Hotel nicht zu verlassen, solange ich fort bin. Die Suchtrupps durchstreifen die ganze Stadt. Nur hier bist du in Sicherheit.« »Was hast du vor?« »Ich …« Tamiljon schien zu zögern, ob er mir seine Absichten offenbaren durfte. Dann schien er zur Erkenntnis zu gelangen, dass es besser wäre, mich zumindest teilweise einzuweihen, damit ich nicht auf die Idee kam, auf eigene Faust etwas zu unternehmen.
17 »Ich werde Kontakt mit dem Inneren Zirkel des Litrak-Ordens aufnehmen«, fuhr er fort. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, den wir unmöglich zu Fuß zurücklegen können. Ich will versuchen, eine geeignete Transportmöglichkeit für uns zu finden.« »Wohin soll die Reise gehen?« »Das erfährst du, wenn es so weit ist«, sagte Tamiljon. »Hab Geduld. Nutze die Gelegenheit, dich etwas auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln. Ich werde bald wieder zurück sein.« Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, hatte mein dunkelhäutiger Begleiter sich erhoben, warf mir einen letzten aufmunternden Blick zu und verließ den Raum durch eine dritte Tür. Das Letzte, was ich von ihm sah, war seine schwarze Gestalt, die sich vorsichtig nach draußen schob und dann in der Dunkelheit einer Gasse verschwand. »Was darf ich dir bringen?«, wurde ich im nächsten Moment von einer hübschen Frau angesprochen. Mit einem Lächeln im Gesicht drehte ich mich um und blickte auf. Doch dann erstarrte ich, als ich spürte, wie ich von einer eiskalten Faust gepackt wurde. Neben dem Tisch stand eine junge Frau mit schlanken Beinen in dunkelgrauen Leggings und einem hellgrauen Kittel, unter dem sich zwei äußerst aparte Rundungen abzeichneten. Doch das war es natürlich nicht, was mir einen solchen Schock versetzte. Es war das Gesicht: die rubinroten Augen und das knallrote kurze Haar! Li da Zoltral! Das konnte einfach nicht sein!
Zwischenspiel Weiß. Sie sah nur noch ein grellweißes Licht – eine alles durchdringende Helligkeit ohne Konturen, ohne Strukturen. Ein gleißendes Strahlen, das so tief wie die finsterste Dunkelheit war. Irgendwo in der Vergangenheit waren Erinnerungen, an etwas Vergessenes, an Wis-
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sen, das sie dem Vergessenen entrungen hatte. Und an unförmige Körper … Dann war sie geflohen. Zu einem Leuchten, einem hellblauen Licht. Und dann war aus Blau Weiß geworden. Weiß. Im Weiß war kein Wissen. Nur Vergessen. Und etwas … Vergessenes. Doch sie wusste, dass das Vergessene der Schlüssel zum Wissen war. Sie versuchte, sich an das Vergessene zu erinnern … Erinnerungen. Worte. Positronik … Hypertronik … Kristallmond … Hoagh … Litrak … Vinara … Wissen. Wo war Hoagh? Was war Litrak? Wer war Vinara? Nein, was … wer … wo! Vinara. Vinara war hier! Das Leuchten des Hoagh war das Licht. Aber aus dem Blau war Weiß geworden! Dies war nicht der Kristallmond. Hier war … Vinara. Dies war nicht ihr Ziel. Und die Zeit verging … Es war kein normaler Übergang, zu viel Zeit verging. Sie wusste und wusste nicht. Sie war da und noch nicht da. Viel Zeit verging …
4. Li da Zoltral war tot. Es war gerade einen Monat her … Noch einmal zogen die Ereignisse im Sternhaufen Omega Centauri vor meinem inneren Auge vorbei. Wie ich die arkonidische Historikerin auf Arkon kennen gelernt hatte, wie wir der Spur des gestohlenen Krish'un gefolgt waren, wie wir den lemurischen Sonnentransmitter entdeckt hatten und wie sie zweimal in meinen Armen gestorben war – zuerst ihr Körper, dann auch ihr Geist, der in die konservierte Hülle des Tamrats Nevus Mercova-Ban transferiert worden war
… Die Wunde, die ihr Tod in meinem Herzen gerissen hatte, war noch lange nicht verheilt. »Ist dir nicht gut? Kann ich dir irgendwie helfen?« Ich schüttelte nur sprachlos den Kopf, als die junge Frau mit besorgter Miene auf mich herabsah. Sie hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit meiner geliebten Li, aber nun bemerkte ich die feinen Unterschiede – den helleren Rotton ihres Haars, die etwas ausladendere Nase, den breiteren Mund, dessen Lippen sich mitfühlend verzogen hatten. »Nein, schon gut …«, brachte ich schließlich mit belegter Stimme heraus. »Ich … fühle mich nur etwas müde und erschöpft. Ich hatte einen schweren Tag.« »Ich verstehe«, sagte sie und schenkte mir das bezauberndste Lächeln, das ich seit langem gesehen hatte. »Ich werde dir etwas Gutes zu essen und zu trinken bringen. Dann geht es dir bald wieder besser.« Sie wandte sich ab, warf mir über die Schulter noch einen hinreißenden Blick zu und marschierte in Richtung Küche davon. Ich ertappte mich dabei, wie ich gebannt das Muskelspiel ihrer langen Beine in den Leggings beobachtete, wie mein Blick hinaufwanderte zu den wunderbaren … Reiß dich zusammen, Narr! Auf eine moralische Diskussion mit dem Extrasinn wollte ich mich nicht einlassen. Ich wunderte mich nicht einmal darüber, dass er mit seiner Gewohnheit brach, sich in solchen Angelegenheiten dezent zurückzuhalten. Stattdessen ließ ich mich von Erinnerungen an Li forttreiben …
* Nachdem die Kristallwesen verschwunden waren und nichts mehr darauf hindeutete, dass weitere Absonderlichkeiten im Meteoritenkrater lauerten, versammelten sich die Passagiere neben der im Leerlauf schnaufenden Dampflokomotive. Eine lebhafte Diskussion entbrannte, wie es weiter-
Im Zeichen des Kristallmondes gehen sollte. Lethem gab seinen Begleitern ein Zeichen, dass sie sich die Sache anhören wollten. »Wenn wir alle mit anpacken, kann die Fahrt schon bald weitergehen«, rief ein völlig rußverschmierter Mann, der offensichtlich der Lokführer war. »Redet nicht, macht euch endlich an die Arbeit!«, erwiderte Esturin Virol, der Anführer der Perlenträger. »Wir können es uns nicht leisten, noch länger zu warten.« Die Blicke, die er von den Umstehenden erntete, zeugten davon, dass er sich bei den Bewohnern von Vinara keiner allzu großen Beliebtheit erfreute. Lethem da Vokoban musterte den Arkonidenabkömmling, der genauso wie seine Kameraden ein knöchellanges schwarzes Gewand trug. Seine besondere Stellung war bereits daran zu erkennen, dass er den Kopf nicht unter einer Kapuze versteckte, sondern sich mit den orangefarbenen Insignien eines hoch stehenden Vertreters seiner Organisation ausgestattet hatte – einem obeliskenförmigen Hut und einer Stola, die auf den Schultern lag und bis zu den Hüften hinabreichte. Die Perlenträger von Helmdor schienen eine wichtige Rolle im Machtgefüge Vinaras zu spielen, doch selbst von Kythara hatten sie bisher kaum etwas Konkretes erfahren. Obwohl die Varganin in der Stadt Viinghodor wie eine Heilige verehrt wurde und zweifellos alles andere als eine unbedarfte Untertanin war. Lethem wusste nur, dass die Perlenträger durch die Kontrolle des Geldverkehrs eine bedeutende wirtschaftliche Macht darstellten und gerne mit der entsprechenden Arroganz auftraten. Er konnte nur hoffen, dass sie mehr in Erfahrung brachten, wenn sie Helmdor erreicht hatten. »Wer weiß, ob es nicht die Perlenträger selbst waren, die dieses Unglück heraufbeschworen haben«, murmelte ein Viin undefinierbarer Herkunft in Lethems Nähe. Esturin Virol schien etwas gehört zu haben und schaute sich zu ihm um, doch im
19 nächsten Moment meldete sich wieder der Lokführer zu Wort. »Da wir für die Arbeit kräftige Männer brauchen, können sich die Perlenträger darauf beschränken, den Uralten Sardaengar zu beschwören und für einen raschen Fortgang der Arbeiten zu beten. Alle freiwilligen Helfer mögen sich bitte am Tender versammeln …« Die Menge teilte sich sehr schnell auf – in Hilfswillige und solche, die nicht bereit oder in der Lage waren, die Besatzung der Dampflok zu unterstützen. Die Perlenträger waren die Ersten, die sich zurückzogen, allerdings nicht zu weit, damit sie jederzeit den Überblick behalten konnten. »Ich würde gerne die Gelegenheit nutzen, ein wenig meine Muskeln zu beanspruchen«, sagte Ondaix, der über zwei Meter große Springer. Scaul Rellum Falk, der an Bord der TOSOMA völlig in seiner Stellung als Funkund Ortungstechniker auf gegangen war, schien eine Sekunde länger überlegen zu müssen. »Ja, vielleicht könnte ich auch ein bisschen Bewegung vertragen«, sagte er schließlich. Seine Miene zeigte allerdings wenig Begeisterung. Wahrscheinlich ging es ihm nur darum, neben Ondaix nicht als Schwächling dazustehen. »Ich bleibe ebenfalls hier«, sagte Lethem. »Unseren edlen Damen erlaube ich, Zanargun Gesellschaft zu leisten.« »Ich hoffe doch«, warf Kythara ein, »dass diese Entscheidung auf Respekt vor dem weiblichen Geschlecht fußt und nicht auf der möglicherweise irrtümlichen Annahme, wir wären für körperliche Arbeiten ungeeignet.« Lethem musste unwillkürlich grinsen. Er wusste, dass im schlanken Körper der Varganin viel mehr Kraft steckte, als auf den ersten Blick ersichtlich war. Was Enaa betraf, war er sich nicht so sicher. Ihr Gesicht hatte wieder den gewohnten Ausdruck leicht überheblichen Stolzes angenommen, und sie ließ nicht erkennen, ob sie bereit war, sich die Hände schmutzig zu machen. »Gewiss, Maghalata«, erwiderte Lethem
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mit der Andeutung eines spöttischen Grinsens und einer artigen Verbeugung. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, eine Frau zu unterschätzen, und schon gar nicht eine Ehrwürdige Heilige.« Sie machten sich an die Arbeit.
* Offenbar war ich für einen kurzen Moment eingeschlafen, als die rothaarige Kellnerin mit einem Teller voller Fleisch und Gemüse und einer Karaffe mit einer dunkelroten Flüssigkeit zurückkehrte. Ich stürzte mich gierig auf die Mahlzeit und ließ mich vom Wein benebeln – kein Spitzenjahrgang, aber ein würziger Tropfen, der seinen Zweck voll und ganz erfüllte. »Darf ich mich für einen Moment zu dir setzen?«, fragte sie mich. »Bitte!« Schließlich wollte ich nicht unhöflich sein. Außerdem konnte sie nichts dafür, dass sie mich an Li erinnerte. Und sie machte wirklich einen sehr sympathischen Eindruck. Sie hieß Kalitra, war die Nichte des alten Arkoniden, dem diese Herberge gehörte, und arbeitete für ihn als Köchin und Serviererin. Das erzählte sie mir, während ich mich stärkte und nur gelegentlich ein paar Informationen über mich preisgab. Wie es schien, hatte ich mich ebenfalls von der Seuche der Wortkargheit anstecken lassen, die unter vielen Bewohnern dieser Welt grassierte. Schließlich legte ich das Besteck weg und lehnte mich mit einem wohligen Seufzer zurück. »Jetzt fehlt mir zum vollkommenen Glück nur noch ein weiches Bett«, brummte ich. »Es steht schon bereit«, erwiderte Kalitra mit einem Lächeln. Sie kniff leicht die Augenlider zusammen. Sollte das etwa ein Zwinkern sein? Ich war mir nicht sicher. Unter normalen Umständen geschah es nur selten, dass ich die geheimen Signale einer Frau falsch interpretierte, aber in diesem Fall …
»Ich werde dich auf dein Zimmer bringen«, verkündete sie und erhob sich. Ich fühlte mich zu schwach, um irgendeinen Einwand vorzubringen, also folgte ich ihr ergeben über eine schmale Treppe ins Obergeschoss. Dort nahm Kalitra einen Schlüssel aus einer Tasche ihres Kittels und öffnete eine Tür. Dann ließ sie mich eintreten. Das Zimmer war sehr schlicht eingerichtet – kahle Wände, ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, ein Paravent, der die primitiven sanitären Einrichtungen kaschierte, ein Fenster mit geschlossenen Läden. Sonst nichts. Es war alles vorhanden, was ich in diesem Moment brauchte. »Vielen Dank für die großzügige Gastfreundschaft, Kalitra«, sagte ich zu der Frau, die abwartend in der Tür stehen geblieben war. »Ich hoffe, dass ich …« Ich wusste nicht mehr, was ich als Nächstes sagen wollte, denn plötzlich stand Kalitra vor mir und hatte ihre Hände auf meine Schultern gelegt. »Hast du etwas dagegen, wenn ich dir noch ein wenig Gesellschaft leiste?«, flüsterte sie. Ich nahm ihren betörenden weiblichen Duft wahr und wäre um ein Haar schwach geworden. Buchstäblich – denn als ich ihr über das rote Haar streichen wollte, hatte ich mit einem Mal wieder Li vor Augen. Behutsam drängte ich sie zurück und lächelte ihr aufmunternd zu. »Nimm's mir nicht übel, Kalitra, aber ich bin wirklich todmüde. Nichts für ungut …« Sie schien zu erkennen, dass es keinen Sinn hatte, ihr Vorhaben weiterzuverfolgen, zumal ich mir nun keine Mühe mehr gab, meine Erschöpfung zu überspielen. »Ich verstehe«, sagte sie und kniff die Lippen zusammen. »Schlaf gut …« Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange und verließ das Zimmer. Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, ob ich diese Situation mit etwas mehr Ritterlichkeit hätte meistern können. Es tat mir in der Seele weh, einer schönen Frau eine Enttäuschung bereiten zu müssen.
Im Zeichen des Kristallmondes Aber ich fühlte mich einfach nicht in der Lage … Mit diesem Gedanken ließ ich mich aufs Bett fallen. Im nächsten Augenblick war ich bereits eingeschlafen.
Zwischenspiel Viel Zeit war vergangen … Irgendwann war das Weiß gewichen und das Wissen zurückgekehrt. Sie war immer noch nicht dort, wo sie nicht sein wollte. Stattdessen war sie hier, wo sie nicht war. Li da Zoltral wusste jetzt, dass die weißen Lichtsäulen sie nicht zum Kristallmond transferiert hatten. Es war anders gekommen. Auf der Flucht vor den Kreaturen der Vergessenen Positronik hatte sie sich dem Leuchten des Hoagh anvertraut, und seitdem trieb sie als halb materielle Existenz durch dieses undefinierbare Kontinuum. Sie war auf dem Weg nach Vinara, aber sie hatte ihr Ziel immer noch nicht erreicht. War sie in einer intradimensionalen Sphäre gestrandet? In raum- und zeitloser Ewigkeit gefangen? In der ihre substanzielle Existenz verwehen würde, bis nichts mehr war? Nein. Li spürte, dass da doch etwas war. Es wurde. Es entstand aus den substanzlosen Dimensionen des Hyperraums. Zuerst schwach und undeutlich, dann klarer. Es nahm Gestalt an, obwohl es hier keine Gestalt geben konnte. Eine brodelnde Bewegung. Wie Luftblasen, die unter einer dünnen Eisschicht vorbeitrieben. Es war Bewegung, Entwicklung, Wachstum. Es war Leben. Aber es war kein Leben, das geboren wurde, sich durch den Schlamm wühlte, sich ernährte und starb. Es war Leben in seiner wahren, substanzlosen Gestalt. Materielles Leben war darauf angewiesen, dass es von der Umwelt zehrte, dass es unablässig fraß, verschlang, absorbierte und verdaute. Doch diese Blasen, die das wahre Leben waren, lebten, weil sie Leben gaben.
21 Nun erkannte sie einen feinen Strom winziger Partikel, die von den Blasen ausgingen. Sie sprühten wie Funken, sie wirbelten chaotisch umher, als wollten sie einen ekstatischen Tanz aufführen. Doch sie erkannte auch, dass sich im Chaos erste Inseln der Ordnung bildeten. Immer häufiger verschmolzen die Teilchen zu größeren Flocken. Einige zerfielen bald wieder, doch immer mehr Flocken formierten sich zu dauerhaften Strukturen. Die Entwicklung hatte begonnen. On- und Noon-Quanten, dachte sie. Biophoren! Die Hyperspeicher sind durchlässig geworden! Li musste etwas unternehmen. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
5. Mein Extrasinn sagte mir, dass ich zehn Stunden geschlafen hatte – ein ungewöhnlich langer Schlaf für jemanden, der es gewohnt war, ständig vom Zellaktivatorchip fit gehalten zu werden. Nach dem Aufwachen blieb ich noch einen Moment liegen und betrachtete blinzelnd die orangefarbenen Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden ins Hotelzimmer drangen. Als es an der Tür klopfte, überlegte ich, ob ich mich frisch machen sollte, bevor ich Besuch empfing. Andererseits wurde mein möglicherweise vorhandener Körpergeruch mühelos vom allgegenwärtigen Gestank nach verbranntem Holz, Gas und Petroleum überlagert, der selbst geschlossene Räume wie mein bescheidenes Zimmer erfüllte. Also erhob ich mich mit einem gleichgültigen Achselzucken aus dem Bett und trat zur Tür. »Ich fürchte, wir müssen uns noch ein paar Tage gedulden«, sagte Tamiljon. Er trat ein, ohne meine Aufforderung abzuwarten. »Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Morgen«, gab ich zurück. »Verzeih meine Unhöflichkeit, aber ich hatte gehofft, dass wir die Stadt etwas früher verlassen können«, sagte er. »Stört es dich,
22 wenn ich etwas frische Luft hereinlasse?« »Nur zu«, sagte ich mit einem leisen Räuspern. Vielleicht hätte ich mich doch hinter den Paravent begeben sollen … Aber wer sich auf der Flucht befand und um sein Leben fürchtete, musste andere Prioritäten setzen. Tamiljon öffnete die Fenster, stieß die Läden auf und entriegelte auch die hüfthohen Türflügel. Erst jetzt sah ich, dass mein Zimmer über den Luxus eines Balkons verfügte, auf den Tamiljon nun hinaustrat, um tief einzuatmen. Ich folgte ihm, nicht nur, weil ich ebenfalls das Bedürfnis empfand, das stickige Zimmer zu verlassen, sondern auch aus Neugier. Denn was sich vor meinen erstaunten Blicken ausbreitete, als ich neben ihn ans niedrige Geländer des Balkons trat, war höchst interessant. Kutrons Herberge lag auf einer Anhöhe am Rand einer großen Senke, in der sich die Stadt ausdehnte. Der Blick reichte kaum bis zur anderen Seite, weil über allem eine dichte Dunstglocke hing. Darunter drängte sich ein Gewimmel aus Straßenzügen, Ziegeldächern und Schornsteinen, zwischen denen kein Flecken Grün Platz fand. Überragt wurden die höchstens vierstöckigen Häuser von wuchtigen Fabrikkomplexen mit hohen Schloten, aus denen dunkelgrauer Rauch quoll. Und von einem möglicherweise künstlich angelegten Plateau, auf dem ich das Obsidiantor erkannte. Ich versuchte, die Ereignisse der vergangenen Nacht zu rekonstruieren – wie die Truppen über die breite Rampe auf einer Seite des Plateaus angerückt waren, wie wir über die Kante der schätzungsweise zwanzig Meter hohen Steilwand gesprungen waren, unter der sich die Planen des Marktplatzes ausbreiteten, und wie wir durch das Gewirr der Gassen gelaufen waren … Überall war Bewegung. Eine lange Waggonkette schob sich, von einer Dampflokomotive angetrieben, ins Zentrum der Stadt. Ein Stück weiter gab es einen Hafen, von dem aus Dampf- und Segelschiffe auf die
Bernhard Kempen gleichförmige graue Fläche eines Meeres oder größeren Binnensees hinausfuhren. Selbst am Himmel erkannte ich längliche, zigarrenförmige Gebilde, die sich langsam durch den Dunst kämpften. »Sind das etwa Zeppeline?« »Wie bitte?« Natürlich konnte Tamiljon nichts mit diesem terranischen Begriff anfangen, der nie Eingang ins Interkosmo gefunden hatte. Es war unwahrscheinlich, dass sich die Erfindung des Grafen Ferdinand von Zeppelin bis zu dieser ungewöhnlichen Welt herumgesprochen hatte. »Luftschiffe. Auf Terra waren sie ein paar Jahrzehnte lang in Gebrauch, bevor sie durch Propeller- und Düsenflugzeuge verdrängt wurden. Auf Arkon wurde diese Technik …« »Ja, ich verstehe …«, unterbrach mich Tamiljon. Er wirkte für einen kurzen Moment irritiert. »Auf Vinara Drei werden sie häufig als Verkehrsmittel genutzt, um unzugängliche Regionen zu erreichen oder längere Strecken zurückzulegen.« »So etwas hätte ich auf Vinara Vier nie erwartet …« Ich stutzte. »Moment, sagtest du gerade …?« »Vinara Drei«, bestätigte Tamiljon mit einem Seitenblick, in dem Verlegenheit und Belustigung lagen. »Das bedeutet, als wir durch das Obsidiantor gegangen sind, wurden wir auf eine andere der fünf Spiegelwelten versetzt?« In der Hektik unserer Flucht hatte ich kaum Zeit gehabt, mir Gedanken über die geooder kosmografische Lage meiner Umgebung zu machen. »Das ist die Stadt Aroc auf der Spiegelwelt Vinara Drei«, holte Tamiljon nun das Versäumte nach. »Sie liegt auf dem Kontinent Viina am Ufer des Arocan-Sees.« Ich schwieg eine Weile, um diese Eröffnung zu verarbeiten. »Wenn ich dich richtig verstehe, ist sie nicht das Ziel unserer Reise. Und nun? Wie geht es von hier aus weiter?« »Wie ich bereits andeutete, bemühe ich mich darum, eine Möglichkeit zu finden,
Im Zeichen des Kristallmondes Aroc zu verlassen«, sagte Tamiljon. »Aber die Vorbereitungen werden sich leider um ein paar Tage verzögern. Ich bitte dich inständig, Geduld zu haben und keinen Fuß über die Schwelle dieser Herberge zu setzen.« Er drehte sich um und trat zurück ins Zimmer, wo er sich noch einmal zu mir umdrehte. »Und es wäre auch ratsam, dich nicht allzu oft hier draußen blicken zu lassen. Sardaengars Schergen haben gute Augen.« Die Unterhaltung war offenbar zu Ende, denn mein undurchschaubarer Begleiter ging. Ich hätte ihm noch tausend Fragen stellen können, ihn mit Schlussfolgerungen und Vermutungen konfrontieren können, aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass er darauf nur mit Schweigen oder Ausflüchten geantwortet hätte. Also begnügte ich mich damit, meine eigenen Überlegungen weiterzuverfolgen, während ich mich in den Hygienebereich meines schlichten Zimmers zurückzog.
* Der Lokführer ließ Schaufeln an die Freiwilligen verteilen. In erstaunlich kurzer Zeit waren die zugeschütteten Gleise frei geräumt und das Loch aufgefüllt, das der Einschlag des Meteoriten hinterlassen hatte. Nach einer kurzen Pause, in der die Perlenträger erneut ihr Missfallen über die Verzögerung bekundeten, luden die Arbeiter Bohlen und Ersatzschienen vom Tender. Dieser war nicht nur zum Transport des Brennstoffs für die Dampflokomotive gedacht, sondern schien für alle Eventualitäten ausgerüstet zu sein. Verblüfft beobachtete Lethem, wie Ondaix sich je eine Schiene auf die linke und die rechte Schulter legte und scheinbar mühelos davonstapfte. Als der Arkonide vorsichtig eine anhob, stellte er fest, dass sie ungewöhnlich leicht waren. Dazu trug zweifellos bei, dass sie höchstens zweieinhalb Meter lang waren. Außerdem schienen sie aus Aluminium gefertigt zu sein, wie der
23 stumpfe Glanz der Oberfläche vermuten ließ. Lediglich ein paar Stunden waren vergangen, als der letzte Nagel in die Bohlen geschlagen wurde und die Lücke in den Gleisen repariert war. Der Lokführer ließ alle Reisenden aussteigen. Sie versammelten sich neben der Strecke und warteten gespannt ab, ob die notdürftige Erneuerung der Eisenbahnstrecke hielt. »Auf gar keinen Fall!«, hörte Lethem plötzlich einen empörten Ausruf in seiner Nähe. Die Perlenträger stritten sich schon wieder mit dem Lokführer. »Was ist da los?«, fragte Lethem. »Die Perlenträger sträuben sich gegen den Vorschlag, die letzten drei Waggons, in denen sie Quartier bezogen haben, zurückzulassen, um die Belastung der Gleise zu verringern«, sagte Kythara. Sie war den Streitenden kaum näher als der Arkonide, aber sie schien keine Schwierigkeiten zu haben, das Gespräch zu verfolgen. »Für dieses Argument hätte ich auch kein Verständnis«, warf Falk ein. »Wenn die Gleise das Gewicht der Lok aushalten, gilt das erst recht für die wesentlich leichteren Waggons.« »Der Meinung sind die Perlenträger auch«, teilte Kythara mit. »Sie scheinen sich wieder einmal durchgesetzt zu haben«, fügte Lethem hinzu. Das technische Personal kehrte zur Lok zurück und traf alle Vorbereitungen, sie wieder in Gang zu setzen. Es war, als würde ein schlafendes Urweltungeheuer erwachen. Die dreißig Meter lange Riesenlokomotive mit dem mächtigen Schlot beschleunigte langsam den dampfenden Atemrhythmus, während die roten Scheinwerfer immer heller glühten. Als das Monstrum genügend Kraft gesammelt hatte, setzte es sich schwerfällig in Bewegung. Kolben und Stangen streckten sich wie die Gliedmaßen eines gigantischen schwarzen Krebses, dann schob sich das Ungetüm langsam vorwärts, als hätte es Bedenken, sich auf die Aluminiumschienen hinauszuwagen. Im Schritttempo ließ der Füh-
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rer die Lok auf das ausgebesserte Teilstück rollen. Lethem beobachtete gespannt das Geschehen, als das gesamte Gewicht der Dampflok auf den neuen Gleisen lag. Er sah, wie zuerst die Bohlen und dann die Schienen in den Boden gedrückt wurden. Von irgendwoher klang ein lauter metallischer Knall, die Lok setzte ihren Weg dennoch unbeirrt fort. Zentimeter für Zentimeter kroch sie weiter. Eine scheinbar ins Unendliche gedehnte Minute verging, bevor die ersten Räder sich mit einem schrillen Quietschen wieder auf das alte Gleisbett schoben. Es war deutlich zu erkennen, dass die Waggons durch eine leichte Senke fuhren, bevor sie rumpelnd und wankend auf die soliden Schienen zurücksprangen. Lethem bezweifelte, dass das ausgebesserte Stück ein zweites Mal befahren werden konnte, aber vorläufig hatte es seinen Zweck erfüllt. Die Fahrt konnte weitergehen.
* In den nächsten Tagen ließ sich Tamiljon nur zweimal kurz blicken, ohne neue Informationen. Er ermahnte mich dann jedes Mal eindringlich, mich in Geduld zu üben und auf keinen Fall die Herberge zu verlassen. Zähneknirschend beugte ich mich seinen Wünschen, obwohl es mich drängte, diese erstaunliche Stadt genauer zu erkunden. Außerdem war ich es nicht gewohnt, untätig herumzusitzen. Ich wollte das Rätsel der Spiegelwelten lösen. Es fiel mir schwer, mich in der Herberge zu verkriechen und die Zeit bis zu den Mahlzeiten totzuschlagen. Um wenigstens ein bisschen Abwechslung zu haben, nahm ich diese in der Wirtsstube ein. Einer gebrummten Bemerkung Kutrons entnahm ich, dass es ratsamer wäre, mich von den anderen Gästen fern zu halten. Es bestand jederzeit die Möglichkeit, dass sich ein Spion der Perlenschleifer hierher verirrte. Leider waren das die einzigen Worte, die der Wirt mit mir wechselte. Ich hätte mich
gerne ausführlicher mit ihm unterhalten als mit Kalitra, der ich immer wieder aus dem Weg zu gehen versuchte. Was in den beengten Verhältnissen innerhalb der Herberge – und angesichts ihrer unübersehbaren Reize – nicht ganz einfach war. »Hast du ein Problem, Atlan?«, fragte sie mich am vierten Tag, nachdem ich meine reichhaltige Mittagsmahlzeit kaum angerührt hatte. »Problem?« Ich nahm einen Schluck vom belebenden Getränk, das eine gewisse Ähnlichkeit mit terranischem Kaffee hatte. »Mein Problem ist, dass ich hier untätig herumsitzen muss und mich nicht von der Stelle rühren darf.« »Das meine ich nicht«, sagte Kalitra und sah mir ohne Scheu über den Tisch hinweg in die Augen. »Warum weichst du mir aus? Ich spüre genau, dass du etwas für mich empfindest. Trotzdem meidest du mich, als wäre ich ein räudiger Scaffran.« Ich beschloss, ihr reinen Wein einzuschenken, und erzählte ihr von Li. Wie sehr sie mich an meine verlorene Liebe erinnerte, wie sehr ihr Anblick mich zugleich beglückte und zutiefst schmerzte. »Das konnte ich nicht wissen, Atlan«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Du scheinst sie wirklich sehr geliebt zu haben.« Ich schwieg, doch meine stumme Antwort sprach Bände. Kalitra nickte verständnisvoll. »Vielleicht kann ich dir bei deinem anderen Problem helfen. Ich muss ein paar Einkäufe tätigen und hatte vor, auf dem Narador-Platz vorbeizuschauen. Hinter vorgehaltener Hand wurde die Nachricht verbreitet, dass dort die Spiegelgaukler ihr Programm aufführen werden. Das wäre eine gute Gelegenheit für ein wenig Abwechslung. Meinst du nicht?« »Ich weiß nicht recht. Ein solches Risiko möchte ich lieber nicht eingehen. Tamiljon hat gesagt …« »Bis zum Platz sind es nur zwei kurze Straßen. Du kannst innerhalb kürzester Zeit wieder in die Herberge zurückkehren.« Sie sah mich mit spöttisch funkelnden roten Au-
Im Zeichen des Kristallmondes gen an. »Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mann wie du zögert.« Unwillkürlich musste ich lächeln. Diese Frau gefiel mir. Sie hatte Recht. Ich konnte mich schließlich nicht auf ewig in diesem Loch verkriechen. Wir verließen die Herberge durch die Hintertür der Speisekammer und stiegen die Treppe zur Gasse hinunter, in der es völlig ruhig war. An der nächsten Ecke kaufte Kalitra einen kleinen Sack mit einem mehlähnlichen Pulver, dann schlichen wir uns auf den Narador-Platz, auf dem sich bereits eine kleine Zuschauermenge versammelt hatte. Im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stand ein Fahrzeug, bei dessen Anblick ich zuerst einen Schreck bekam. Doch dann erkannte ich, dass dieser Dampflastwagen ganz offensichtlich zivilen Zwecken diente. Die Ladefläche war zu einer einfachen Bühne umgebaut worden, auf der gerade das musikalische Vorprogramm lief, wie Kalitra mir erklärte. Einer der Gaukler spielte auf einer Dampforgel, die unmittelbar hinter dem Führerstand montiert war und mit der Kraft des Motors betrieben wurde. Anfangs konnte ich den Tönen, die den aufragenden Orgelpfeifen entwichen, nur wenig abgewinnen. Die Zuhörer empfanden das Schnaufen der Dampfmaschine nicht als störenden Lärm, sondern als gewollte rhythmische Begleitung. Zumindest Kalitra war von dieser industriellen Marschmusik völlig hingerissen. Zum Glück verstummte der Krach kurz darauf. Als nun eine Hand voll Schauspieler auf die Bühne trat und so etwas wie eine Posse zum Besten gab, deren Humor sich mir nicht erschließen wollte, überlegte ich bereits, ob ich den Rückzug antreten und die Ruhe meines Hotelzimmers genießen sollte. Doch dann wurde mir plötzlich klar, worauf die Spiegelgaukler mit ihrem Bauerntheater anspielten. Schlagartig war mein Interesse geweckt. In der Geschichte ging es um zwei Seeleute, die dieselbe Frau liebten. Die meiste Zeit war das kein Problem, weil ihre Schiffe nie
25 gleichzeitig in der Hafenstadt ankerten, in der die Dame ihrer Herzen wohnte. Doch eines Tages kam es zur unausweichlichen Begegnung zwischen den beiden Seeleuten. Ihre Namen waren Sardi und Litri, und die Angebetete hieß Vini. In der Hafentaverne begann eine wilde Rauferei. Sardi gelang es, seinen Widersacher zu Boden zu werfen, aber er brachte es nicht übers Herz, ihn zu töten. Stattdessen schleifte er ihn zum großen Lagerhaus am Hafen, wo er ihn in die Kühlkammer sperrte, in der die Fischkisten gelagert wurden. Während Litri mächtig fror, konnte sich Sardi ungehindert mit der schönen Vini vergnügen … Natürlich erkannte ich sofort die Bezüge zur Legende, die ich auf Vinara Vier bereits in den unterschiedlichsten Fassungen gehört hatte. Über den großen Götterkampf zwischen Sardaengar und Litrak, der schließlich als »Untoter Gott« in eine Eisgruft unter dem Casoreen-Gletscher gesperrt wurde. Ich rätselte noch, ob ich dieser neuen Version eine versteckte Bedeutung entnehmen konnte oder ob es wirklich nur eine Parodie von Schmierenkomödianten war, als sich plötzlich Unruhe in der Zuschauermenge ausbreitete. Kalitra griff meinen Arm und blickte zur mir auf, mit einer Miene, in der sich Furcht und schlechtes Gewissen mischten. »Wir müssen sofort weg!«, keuchte sie. »Die Garde der Perlenschleifer …«
6. Sardaengar hatte endlich sein vorläufiges Ziel erreicht. Doch als er an der Silbersäule emporblickte, wurde er sich eines weiteren Faktors bewusst, der ihm Anlass zur Besorgnis gab. Er spürte, dass der Einfluss des Kristallmondes erneut zugenommen hatte. Die Kraft durchströmte seinen Körper und drängte ihn dazu, seiner ursprünglichen Bestimmung zu folgen. Sardaengar stemmte sich gegen diesen unheilvollen Einfluss. Er durfte nicht zulas-
26 sen, dass die Kraft sich gegen seinen Willen durchsetzte. Wenn das geschah, war alles vorbei. Dann waren alle Vinara-Welten verloren. Es gelang ihm nicht, den Einfluss vollständig abzuschütteln, aber er konnte ihn so weit zurückdrängen, dass er nicht mehr in seiner Handlungsfreiheit beeinträchtigt wurde. Nachdem er sich wieder gefasst hatte, musterte er die Silbersäule. Sie trug ihren Namen zu Recht, da sie aus einem glatten Material bestand, das einst silbrig geglänzt hatte, nach der langen Zeit jedoch sichtlich matt und stumpf geworden war. Von außen wies der schlanke Zylinder von 150 Metern Höhe und 25 Metern Durchmesser keine erkennbare Struktur auf. Sardaengar jedoch wusste, dass er es mit dem Produkt einer hoch entwickelten Technik zu tun hatte. Die Säule bestand aus unzähligen Nanomodulen, mikroskopisch kleinen Maschinen, die im komplexen Zusammenspiel ihre Funktion erfüllten. Ihm war nicht bekannt, wer dieses technische Wunderwerk konstruiert hatte oder unter welchen Umständen es entstanden war. Aber die unverkennbare Ausstrahlung der Silbersäule ließ nur einen Schluss zu: dass ihr Ursprung in engem Zusammenhang mit dem Kristallmond stand. Für Normalsterbliche war die Silbersäule ein geschlossenes, monolithisches Gebilde ohne Türen oder andere Vorrichtungen, die ein Betreten ermöglichten. Doch für Sardaengar galten diese Beschränkungen nicht. Er blickte sich ein letztes Mal um, dann schritt er direkt auf die matt glänzende Wand zu und hindurch. Er spürte durchaus einen körperlichen Widerstand, aber er konnte ihn ohne besondere Mühe überwinden. Das Material verhielt sich wie eine schwere Flüssigkeit, beispielsweise Quecksilber, das Sardaengar während der Bewegung umfloss. Dann hatte er die Wand der Silbersäule durchschritten. Hinter ihm schloss sich die Oberfläche, und im nächsten Moment wies
Bernhard Kempen nichts mehr auf den Übergang hin. Aus der scheinbaren Flüssigkeit war wieder solides Material geworden. Sardaengar befand sich in einem kuppelförmigen Saal von zehn Metern Durchmesser und fünf Metern Höhe. Auf den ersten Blick wirkte der Raum leer, ohne technische Konstruktionen, wie sie von Normalsterblichen verwendet wurden. Die Wände bestanden aus völlig glatten Flächen. Nur ein kaum hörbares Summen, ein Vibrieren an der Wahrnehmungsschwelle, deutete darauf hin, dass sich hier unsichtbare Aktivitäten abspielten. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem einzigen Gegenstand innerhalb des Kuppelsaals zu, einem Quader von anderthalb Metern Breite und Tiefe. Er erhob sich direkt im Zentrum aus dem Boden. Auch dieses Gebilde schien nicht aus herkömmlicher fester Materie zu bestehen. Auf den ersten Blick sah es aus, als wäre der Quader eine Kristallisation von reinem, kalkweißem Licht. Sardaengar konzentrierte die Macht seines Geistes und ging langsam darauf zu, um gedanklichen Kontakt mit dem leuchtenden Quader aufzunehmen. Doch bevor er ihn berühren konnte, zuckte er wie unter einem elektrischen Schlag zusammen. Ein weiteres Mal spürte er, wie der Kristallmond ihn von seinem Weg abbringen wollte. Diesmal war es jedoch mehr als nur ein drängender Einfluss. Es war ein massiver Angriff, ein Schwall aus mentalen Impulsen, der ihn fortzuschwemmen drohte. Sardaengar musste seine gesamte Geistesmacht einsetzen, um sich gegen diesen psychischen Sturm zu wehren. Er durfte sich nicht darin verlieren, deshalb klammerte er sich an den Kern seiner Existenz, an das, was seine Identität ausmachte. Er fiel in Trance, suchte Zuflucht in Erinnerungen, Szenen und Bildern aus seiner Vergangenheit …
*
Im Zeichen des Kristallmondes Erst nachdem der Zug gestoppt und sich die Eisenbahner vom einwandfreien Zustand der Technik überzeugt hatten, durften die Passagiere wieder einsteigen. Lethem und seine Leute ließen sich erleichtert in die Sitze ihres Abteils im ersten Waggon unmittelbar hinter der Lok fallen, während die Landschaft immer schneller an ihnen vorbeizog. »Hoffen wir, dass es bis Helmdor keine weiteren unplanmäßigen Zwischenstopps gibt«, sagte Falk. »Heute ist der 15. April, falls ich mit meiner Strichliste nicht durcheinander gekommen bin. Das heißt, dass wir uns schon seit vier Wochen auf Vinara befinden.« »Wenigstens ist die statistische Wahrscheinlichkeit äußerst gering, dass der Zug ein zweites Mal von einem Meteoriten getroffen wird«, gab Lethem zurück. »Ich glaube nicht, dass in dieser Welt dieselben Gesetze der Wahrscheinlichkeit gelten wie in unserer«, warf Zanargun skeptisch ein. Der Luccianer redete normalerweise nicht viel, aber dieser Vorfall schien ihn sehr zu beschäftigen. »Dazu sind schon zu viele unwahrscheinliche Dinge passiert.« »Kann sich jemand diesen Spuk erklären?«, fragte Ondaix brummend. »Wir haben gesehen, dass der Kristallmond von Obsidianbrocken umkreist wird, die scheinbar aus dem Nichts materialisiert sind«, sagte Lethem. »Teile des Ringes sind bereits auf den Mond gestürzt und haben Kristallstücke herausgeschlagen.« »Es kommt mir trotzdem seltsam vor«, unkte Zanargun weiter. »Man könnte meinen, dass sie es auf uns abgesehen haben.« »Wieso ausgerechnet auf uns?«, erwiderte Falk. »Nur weil wir die Einzigen sind, die nach einer Möglichkeit suchen, wieder von hier wegzukommen?« Zanargun schwieg. »Und diese schrecklichen Wesen …?«, flüsterte Enaa nach einer Weile. Lethem zuckte hilflos mit den Schultern. »Hier scheint einiges nicht so zu sein, wie wir es gewohnt sind.« Als niemand darauf reagierte, blickte er
27 sich in der Runde um. »Was meinst du dazu?«, wandte er sich schließlich an Kythara, die bisher nichts zur Diskussion beigetragen hatte. Doch die Varganin zog es vor, schweigend aus einem der Zugfenster zu starren.
* Kalitra zerrte mich vom Narador-Platz weg, auf dem die Zuschauer wild durcheinander liefen und die Spiegelgaukler hektisch ihre Sachen zusammenpackten. Ich sah, wie mehrere Soldaten in dunkelblauen Uniformen aus den Gassen stürmten, und verfluchte meinen Leichtsinn. Oder meine Schwäche, die mich zu diesem Ausflug verleitet hatte. Den Soldaten folgten ein paar Gestalten in schwarzen Kutten, von denen einer die Insignien eines Würdenträgers der Perlenträger trug – den hohen orangeroten Hut und den Schal in der gleichen Farbe, beide mit dem Symbol aus fünf Punkten im weißen Kreis verziert. Die Perlenschleifer schrien wütend auf, als das Schnaufen des Dampflastwagens stärker und schneller wurde. Das Gefährt setzte sich rumpelnd in Bewegung. Mit einem Mal wurde mir klar, dass der Aufmarsch überhaupt nicht mir, sondern der fahrenden Truppe galt. »Die Spiegelgaukler haben sich mit ihren Aufführungen bei den Herrschenden von Aroc sehr unbeliebt gemacht«, stieß Kalitra keuchend hervor, während wir in einer Seitengasse Deckung suchten. »Vor allem die Perlenschleifer haben nicht das geringste Verständnis für ihre Art von Humor.« Mit wurde einiges klar. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, zuckte ich zusammen. Ich sah, dass sich zwei weitere Soldaten und ein Perlenschleifer durch die Gasse, in die wir uns geflüchtet hatten, dem Narador-Platz näherten. Ich senkte den Blick und drückte mich an die Wand. Die beiden Gardisten liefen an uns vorbei und versuchten wie ihre Kameraden, sich
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durch das Getümmel der Zuschauer einen Weg zum Wagen der Spiegelgaukler zu bahnen. Der Perlenschleifer, der ihnen im Abstand von etwa fünf Metern folgte, schien es dagegen nicht so eilig zu haben. Jedenfalls nahm er sich die Zeit, dem Pärchen in der Gasse einen längeren Blick zuzuwerfen. Als er stutzte und kurz darauf sogar stehen blieb, wusste ich, dass die Zeit zum Handeln gekommen war. Der Perlenschleifer hob einen Arm und zeigte auf mich, während er den Mund öffnete, um die Soldaten zurückzurufen. Doch er kam nur dazu, ein ersticktes Keuchen auszustoßen, denn im nächsten Moment hatte ich den Sack Mehl, den ich Kalitra abgenommen hatte, auf ihn geworfen. Der Sack platzte auf, als er die Brust des Mannes traf, und hüllte die schwarze Kutte in eine weiße Mehlwolke. Das feine Pulver drang ihm in die Augen, sodass er für einen Moment orientierungslos war. Ich griff nach Kalitras Hand und versetzte dem Perlenschleifer im Vorbeigehen einen Handkantenschlag ins Genick, der ihn bewusstlos zusammensacken ließ. Wir liefen los, hetzten um die nächste Ecke, erreichten die steile Treppe und schlugen die Tür zur Speisekammer hinter uns zu. Kalitra schob den Riegel vor – keine Sekunde zu spät, denn kurz darauf hörten wir hastige Schritte und Rufe aus der Gasse. Wir atmeten erleichtert auf, als sich die Schritte in die andere Richtung entfernten.
7. … und Sardaengar sah eine zeitlose Sphäre, die ursprüngliche Vollkommenheit der Obsidian-Kluft, in der nur die Reinheit des Kristallmondes strahlte. Dann wurde das Bild gestört. Materie und Leben drangen ein und beendeten den Zustand der Zeitlosigkeit. Ein Miniaturuniversum war entstanden, doch diese Veränderungen bedeuteten auch, dass die Sphäre ihre Schutzfunktion verlor und immer häufiger von außen durchdrungen werden konnte.
Die extremen hyperphysikalischen Bedingungen in der Obsidian-Kluft ließen die meisten der gestrandeten Raumschiffe als manövrierunfähige Wracks dahintreiben, in denen bald jedes Leben erlosch. Nur Sardaengar konnte sich aufgrund seiner besonderen Natur behaupten. Mit seinen paranormalen Sinnen erkannte er in den folgenden Jahrhunderten, dass der Kristallmond eine gewaltige Konzentration von Psi-Materie darstellte. Er sah auch die Hypertronik, die den Kern bildete, doch es gelang ihm nie, Zugang zu ihren immensen Datenspeichern zu erhalten. Schließlich reagierte der Kristall auf die zunehmenden Veränderungen und verwandelte einen Teil seiner Substanz in normale Materie. Bald kreiste ein Planet um die Sonne, und erst jetzt wurde aus dem Kristall der Kristallmond, als er einen Orbit um Vinara einschlug. Weitere Welten materialisierten, auf denen sich nun das gestrandete Leben ausbreiten konnte, bis die fünf Spiegelwelten komplett waren. Inzwischen war auch Litrak materialisiert, ein Geschöpf des Kristallmondes und das erste Lebewesen, das Sardaengar ebenbürtig war. Litrak strebte danach, gemeinsam mit Sardaengar das Potenzial des Kristallmondes zu nutzen, doch Sardaengar verfolgte seine eigenen Pläne. Immer wieder flüchtete er vor seinem Gegenspieler. Schließlich kam es zum entscheidenden Kampf, bei dem Sardaengar Litrak als Untoten Gott in die Eisgruft verbannte … Während Sardaengar noch einmal die Stunden des Triumphs durchlebte, spürte er, wie er neue Kraft schöpfte. Ihm wurde bewusst, dass viele Tage vergangen waren, doch nun konnte er den Einfluss des Kristallmondes zurückdrängen. Nicht vollständig, aber weit genug, um wieder Herr seiner Sinne zu sein. Und was seine Sinne ihm vermittelten, als er wieder in die Gegenwart zurückkehrte, machte ihm Sorgen. Atlan war in Aroc auf der Spiegelwelt Vinara Drei eingetroffen und hatte sich mit Tamiljons Hilfe dem Zu-
Im Zeichen des Kristallmondes griff der Garde entziehen können. Sardaengars Agenten hatten die Suche noch nicht aufgegeben, doch nun stand der Arkonide kurz davor, Kontakt mit dem Litrak-Orden aufzunehmen. Sardaengar musste verhindern, dass die geplante Expedition zur Eisgruft ihr Ziel erreichte, und schickte den Perlenschleifern in Aroc einen Befehl, nicht in ihren Bemühungen nachzulassen. Für einen Moment verspürte er eine leichte Niedergeschlagenheit, als ihm die Dynamik der Ereignisse bewusst wurde, die ins Rollen geraten waren, während er unter dem Einfluss des Kristallmondes handlungsunfähig gewesen war. Wie konnte er nur einen solch starken Strom aufhalten? Verzweifelt suchte er nach einem Ansatzpunkt und fand ihn schließlich, als er den Grund für die Dynamik der Ereigniskette erkannte. Sie wies eine außergewöhnlich starke historische Übereinstimmung auf. Seine Widersacher hatten sich ein Spiegelphänomen zunutze gemacht. Es war, als hätte er den Lauf eines verwitterten Flussbetts in einer ausgetrockneten Landschaft erkannt. Wenn in der Wüste zum ersten Mal seit Jahrtausenden wieder Regen fiel, würden die Fluten selbst nach dieser langen Zeit den uralten Bahnen folgen. Sardaengar wusste genau, welchen Verlauf der Strom vor fast dreitausend Jahren genommen hatte. Er musste nur dafür sorgen, dass sich die Geschichte wiederholte.
* Nach dieser Erfahrung verließ ich Kutrons Herberge nicht mehr. Tamiljon verschwieg ich den Zwischenfall, und der alte Kutron bedachte mich mit einem anzüglichen Augenzwinkern, als er sah, wie Kalitra und ich schwer atmend und mit geröteten Gesichtern aus der Speisekammer kamen. Er hatte mir gegenüber bereits mehrfach angedeutet, dass er nichts gegen einen gut aussehenden Arkoniden als Schwiegersohn einzuwenden hätte. Angesichts der Umstände verzichtete ich darauf, das Missverständnis auf-
29 zuklären. Auf Terra schrieb man den 17. April des Jahres 1225 NGZ, als Tamiljon mich erneut in der Herberge aufsuchte, in der ich zu diesem Zeitpunkt neun Nächte verbracht hatte. Mir war sofort klar, dass dieser Besuch ein besonderes Ereignis darstellte, denn diesmal kam er nicht allein. »Darf ich dir Großmeister Lelos Enhamor vorstellen?«, sagte Tamiljon, nachdem er mit drei Arkonidenabkömmlingen eingetreten war und sorgfältig die Tür meines Zimmers verschlossen hatte. »Er gehört dem Inneren Zirkel des Litrak-Ordens an.« »Ich grüße dich, Atlan«, sagte einer der Männer, dessen Charisma ihn unzweifelhaft als den Anführer der kleinen Gruppe auswies. Er hatte ungefähr meine Größe, war schätzungsweise 40 Jahre alt, hatte kurzes weißes Haar und klare dunkelrote Augen. Er trug die gleiche Kleidung wie seine Begleiter – einen eng geschnittenen grauen Anzug, der auf mich den Eindruck einer praktischen Arbeiter- oder Fliegermontur machte. »Es freut mich sehr, dass Tamiljon dich für unsere Sache gewinnen konnte.« Ich runzelte die Stirn und fixierte meinen Begleiter, der schuldbewusst den Blick abwandte und es vorzog zu schweigen. »Dein Vertrauen ehrt mich, Lelos«, erwiderte ich die Begrüßung des Arkoniden. »Trotzdem wäre es mir recht, wenn ich eine gewisse Vorstellung davon hätte, wofür ich mich vor den Karren spannen lasse.« Lelos lächelte voller Zuversicht, während er mich offen musterte. »Ich spüre genau, dass Tamiljon nicht untertrieben hat, als er uns bedrängte, dich an der Expedition teilnehmen zu lassen.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Lasst uns nicht durch lange Reden noch mehr Zeit verlieren. Wir haben einen weiten Weg vor uns.« Ich ließ mich nicht von seiner Euphorie anstecken, sondern wartete reglos und mit steinerner Miene auf weitere Erklärungen. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren, bevor ich wusste, welche Rolle mir in diesem sehr undurchschaubaren Spiel zuge-
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dacht war. »Es geht um das Schicksal dieser Welt«, ließ sich Tamiljon nun zu einer Erklärung herab. Offenbar hatte er eingesehen, dass mein Vorrat an blindem Vertrauen allmählich zur Neige ging. »Der Litrak-Orden hat es sich zum Ziel gesetzt, zum CasoreenGletscher vorzustoßen und Litraks Eisgruft aufzusuchen.« Ich fragte mich, wie diese Leute ein solch kühnes Vorhaben in die Tat umzusetzen gedachten. Nach meinen vagen Kenntnissen über die Geografie von Vinara Drei lag die Eisregion des Gebirges schätzungsweise 2000 Kilometer von Aroc entfernt. Und angesichts des primitiven technischen Entwicklungsstands der Zivilisation … Im nächsten Moment wurde die Tür zu meinem Hotelzimmer aufgerissen, und ein weiterer von Lelos Enhamors Gefolgsleuten stürmte herein. »Die Perlenschleifer!«, stieß er atemlos hervor.
* Kythara erwachte aus ihrer Starre, als sich die Landschaft veränderte. Aus den flachen Hügeln waren felsige Buckel geworden, und die Dampflok hatte die Fahrt spürbar verlangsamt, da sie sich eine leichte Steigung hinaufkämpfte. Die Varganin öffnete ein Fenster und beugte sich hinaus. Lethem tat es ihr nach. Im rußigen Wind kniff er die Augen zusammen und erkannte am Horizont hohe Berge, die sich kaum vom rötlichen Dunst des Spätnachmittags abhoben. Die Gleise liefen in einem lang gestreckten Bogen auf einen unregelmäßigen Fleck am Fuß der Berge zu. »Das Ograhan-Gebirge«, sagte Kythara, die plötzlich die Sprache wieder gefunden hatte. »Und das ist die Stadt Helmdor.« Lethem atmete auf. Sie waren ihrem Ziel ein gutes Stück näher gekommen. In den Ograhan-Bergen sollte sich die Bastion des Uralten Sardaengar befinden – und möglicherweise der Schlüssel, mit dessen Hilfe sie die Obsidian-Kluft verlassen und endlich
heimkehren konnten. Die ersten Häuser zogen an ihnen vorbei, offenbar die Randbezirke Helmdors. Doch es waren keine Bauten, die von Wohlstand zeugten, sondern eher schlichte Hütten, die den Eindruck machten, als wären sie aus sämtlichen verfügbaren Materialien zusammengezimmert worden. Kurz darauf wurde Lethems Aufmerksamkeit vom Zentrum der weitläufigen Stadt angezogen. »Was ist das?«, fragte er. »Die Schwarze Perle«, sagte Kythara. »Ein großes Gebäude mitten in der Stadt. Das Hauptquartier der Perlenträger von Helmdor.« »Es scheint in der Tat ein imposanter Bau zu sein, soweit ich das aus der Entfernung beurteilen kann.« »Eine perfekte schwarze Kugel von hundert Metern Durchmesser. Sie steht auf einem quaderförmigen Sockel. Alle anderen Gebäude in der eigentlichen Stadt weisen die gleiche Architektur auf, nur dass sie nicht schwarz und höchstens halb so groß sind.« Lethem betrachtete fasziniert, wie sich ein ungewöhnlicher Anblick aus dem Dunst schälte. Es war, als hätte hier jemand eine weiße Perlenkette abgelegt und die Kugeln sorgsam zu einem Haufen angeordnet, bis das Gebilde vom größten und einzigen schwarzen Stein gekrönt wurde. Sie waren noch etwa drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, als Lethem spürte, dass der Zug immer langsamer wurde. Dann war von vorn ein Quietschen zu hören, das ihm durch Mark und Bein ging. »Wir haben den Bahnhof von Helmdor erreicht«, sagte Kythara und zog sich vom Fenster zurück. »Zeit zum Aussteigen.« »Hier?«, fragte Lethem ungläubig. Die Häuser neben der Bahnstrecke machten immer noch einen baufälligen und armseligen Eindruck. »Zum Glück haben wir eine Maghalata dabei, die uns sicher durch das Chaos dieser Stadt führt.« »Macht euch keine zu großen Hoffnungen«, erwiderte Kythara. »Diese Stadt ist
Im Zeichen des Kristallmondes fest in der Hand der Perlenträger.« »Schau mal einer an«, sagte Falk leise zu Lethem, während die Varganin das Abteil verließ. »Unsere Ehrwürdige Heilige hat hier nichts zu melden!«
* Die Perlenträger von Helmdor hatten unser Versteck entdeckt. Lelos Enhamor fuhr mit wütender Miene zu Tamiljon herum. »Du hast uns versichert, Kutrons Herberge sei eine sichere Zuflucht! Wie konnte das passieren?« »Seit Tagen durchkämmen die Perlenschleifer die ganze Stadt«, gab Tamiljon zurück. »Ich habe euch gewarnt, die Vorbereitungen nicht zu lange hinauszuzögern.« »Ich schlage vor«, warf ich ein, »dass wir die langen Reden auf später verschieben und schnellstens die Herberge verlassen.« Der Arkonide, von dem ich nur wusste, dass er innerhalb des Litrak-Ordens eine bedeutendere Stellung innehaben musste, kniff die Lippen zusammen und gab mit knapper Geste das Zeichen zum Aufbruch. Ich folgte den Männern, die mein Zimmer verließen und die Treppe hinunterstürmten. Obwohl ich mangels genauerer Informationen keineswegs überzeugt war, auf der richtigen Seite zu stehen. Aber im Augenblick blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem Lauf der Dinge anzuvertrauen und auf das Beste zu hoffen … In Kutrons Wirtsstube rauften sich Lelos' Männer in den grauen Anzügen mit Perlenschleifern in schwarzen Kutten und Gardisten in blauen Uniformen. Die Verfolger waren durch die Hintertür eingedrungen. Unwillkürlich fragte ich mich, ob es mein Ausflug mit Kalitra gewesen war, der sie schließlich auf die richtige Spur geführt hatte. Doch jetzt war keine Zeit für reumütige Überlegungen. Während die Angehörigen des LitrakOrdens die Angreifer zurückzutreiben versuchten, drängte Tamiljon mich zwischen den Tischen hindurch zum Vordereingang
31 der Herberge. Er stieß mich in einen engen Korridor, wo die Gruppe eine kurze Pause einlegte, während zwei Männer vorsichtig die Tür öffneten, um nachzusehen, ob die Luft rein war. »Atlan!«, hörte ich einen erstickten Schrei, dann spürte ich, wie ich von schlanken Armen umschlungen wurde. »Kalitra …«, stieß ich hervor. »Keine Sorge, wir bringen dich in Sicherheit«, kam ich einem Einwand von Tamiljon oder Lelos zuvor, die mir bereits böse Blicke zuwarfen. »Wo ist Kutron?« »Auf dem Markt«, sagte Kalitra. »Wenn er zurückkommt, ist das hier hoffentlich schon vorbei …« »Weiter!«, rief einer der Männer von vorn. Die Gruppe setzte sich in Bewegung und trat auf die Straße. Wir wandten uns nach rechts, dann bogen wir in eine Gasse ab. Das Letzte, was ich von der Straße vor der Herberge sah, waren drei Perlenschleifer, die um eine Ecke kamen. Sie liefen zwei Ordensmitgliedern genau in die Arme, die unsere Rückendeckung übernommen hatten. Wir hetzten kreuz und quer durch die Gassen, bis Lelos und Tamiljon überzeugt waren, dass wir unsere Verfolger abgeschüttelt hatten. Danach ging es in einem etwas ruhigeren Tempo weiter. Kalitra hatte mühelos mit uns Schritt gehalten. Unwillkürlich verglich ich sie wieder mit Li, doch ich bezweifelte, dass sie eine genauso starke Kämpferin war. Inzwischen hegte ich Zweifel, ob es richtig gewesen war, sie mitzunehmen. »Da ist es!«, riss mich Lelos' Ausruf aus meinen Gedanken. Ich sah, dass er stehen geblieben war und die Hand ausgestreckt hatte. Mein Orientierungssinn sagte mir, dass wir in Richtung Hafen gelaufen waren. Wir hatten ein Stadtviertel erreicht, das von großen Lagerhäusern und Fabriken beherrscht wurde. Überall stampften urtümliche Maschinen, und Arbeiter luden Rohstoffe oder fertige Produkte auf Fahrzeuge und Förderbänder. Lelos zeigte auf ein Gebäude, dessen
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Ausmaße im Vergleich zur Umgebung beeindruckend waren. Ich schätzte es auf eine Länge von mindestens dreihundert Metern, eine Breite von knapp hundert und eine Höhe von über fünfzig. Es bestand aus gemauerten Ziegeln mit verhältnismäßig kleinen Fenstern, deren trübe Scheiben keinen Blick ins Innere zuließen. Wir überquerten den Platz vor der Fabrikhalle. Lelos zog eine knarrende Stahltür auf und ließ mir den Vortritt. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an das schwächere Licht im Innern zu gewöhnen. Als Erstes fiel mir auf, dass das Gebäude aus nur einem einzigen Raum bestand – es besaß weder Trennwände noch Stockwerke. Die Montagehalle nahm den gesamten verfügbaren Platz in der Fabrik ein. Dann wanderte mein Blick langsam nach oben, und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
* Lethem drehte sich noch einmal zum Bahnhofsgebäude um, einem aus rötlichen Ziegelsteinen gemauerten Komplex mit hohen schmalen Fenstern und einer Dachkonstruktion aus schwarzem oder verrußtem Metall. »Echt viktorianisch«, sagte Falk, der ebenfalls an der Fassade hinaufschaute. »Wie bitte?« »Mitte oder Ende des neunzehnten Jahrhunderts alter terranischer Zeitrechnung. Die Bahnhöfe und Fabriken aus dieser Epoche wurden als Kathedralen des technischen Zeitalters bezeichnet.« »Was sind Kathedralen?«, fragte der Arkonide. »Vergiss es.« Lethem hakte nicht weiter nach, da ihm ohnehin nicht der Sinn danach stand, sich über die Kunststile eines barbarischen Planeten belehren zu lassen. Obwohl der Bahnhof noch die interessanteste Architektur in der unmittelbaren Umgebung zu bieten hatte.
Vor ihnen lag ein großer Platz, der von niedrigen Baracken umgeben war. Auf der Freifläche drängten sich Hunderte von primitiven Fahrzeugen und Tausende von Viin unterschiedlichster Herkunft. Offenbar waren sie wegen des Zuges gekommen, doch nur die wenigsten holten Freunde oder Verwandte ab. Die meisten boten den Passagieren eine Fahrgelegenheit an. Überall standen zwei-, drei- oder vierrädrig pedalbetriebene Konstruktionen und Karren, von Dendibos gezogen, herum. Andere boten Nahrungsmittel und Getränke an oder versprachen den erschöpften Reisenden, sie zu preiswerten Herbergen zu führen. »Lasst uns möglichst schnell von hier verschwinden«, sagte Kythara und winkte der Gruppe, ihr in eine Seitenstraße zu folgen. Es dauerte eine Weile, bis sie die letzten Händler und Schlepper abgewimmelt hatten. Helmdor war laut und stank bestialisch. Zumindest in diesem Teil der Stadt, den sie bisher kennen gelernt hatten. »Wohin gehen wir?«, fragte Lethem die Varganin. »Ich versuche eine nicht zu schäbige Herberge zu finden, in der wir die Nacht verbringen können.« Lethem nickte nur, da es den Anschein hatte, dass Kythara sich hier einigermaßen auskannte. Solange sie das gleiche Ziel hatte, war er bereit, die Führungsrolle an die Varganin abzutreten. Verdran war bereits untergegangen, als sie immer noch durch die Straßen und Gassen irrten. Inzwischen hatten sie ein Stadtviertel erreicht, in dem die meisten Gebäude aus gemauerten Wänden bestanden und sogar mehrstöckig waren. Lethem bemühte sich, ein System in Kytharas Bewegungsmuster zu erkennen, gab es aber schon bald auf. Als sie schließlich innehielt, eine kurze Steintreppe hinaufstieg und an eine Tür klopfte, suchte der Arkonide vergeblich die Fassade nach Anzeichen ab, die sie dazu bewegt haben mochten, dieses Haus zu erwählen. Ein mürrisch dreinblickender Überschwe-
Im Zeichen des Kristallmondes rer öffnete ihr. Vom folgenden Gespräch bekam Lethem, der mit den anderen auf der Straße wartete, nicht allzu viel mit. Nur, dass Kythara sich offenbar nach freien Zimmern erkundigte und dann über den Preis verhandelte. Lethem fand, dass es ungewöhnlich lange dauerte, bis sie sich einig geworden waren. »Und?«, fragte er, als sie zur Gruppe zurückkehrte. »Ich habe ihn auf die Hälfte herunterhandeln können, aber es ist immer noch ein Wucherpreis«, sagte Kythara. »Sind wir bereit, ungefähr ein Viertel unseres gemeinsamen Vermögens für eine Übernachtung auszugeben?« »Gibt es keine bessere Alternative?«, wollte Falk wissen. »Ich fürchte, in den Augen jedes Herbergsbesitzers wird heller Lithra-Glanz erstrahlen, wenn er unserer illustren Truppe ansichtig wird.« »Gut, dann bleiben wir«, entschied Lethem. »Ich denke, wir sollten ohnehin versuchen, so schnell wie möglich die nächste Reiseetappe in Angriff zu nehmen.« »Eine Nacht werde ich hier überleben«, sagte Enaa. »Aber länger sollten wir uns nicht in Helmdor aufhalten. Diese Stadt gefällt mir nicht.«
8. Fast der gesamte Innenraum der Fabrikhalle wurde von einem Gebilde eingenommen, dessen Anblick auf mich den gleichen Eindruck machte, als würde plötzlich ein zum Leben erweckter Dinosaurier vor mir stehen. Im Laufe meines Lebens hatte ich schon gewaltigere Monstrositäten gesehen – lebende Geschöpfe mit gigantischen Ausmaßen und erst recht Raumschiffe von unvorstellbarer Größe. Trotzdem starrte ich bestimmt eine volle Minute lang mit offenem Mund auf dieses Produkt einer vergangenen technischen Epoche. »Wir haben sie auf den Namen LITRAK getauft, zu Ehren des Untoten Gottes«, sagte
33 Lelos, der neben mich getreten war und zufrieden meine fassungslose Reaktion beobachtete. »Wir sind zuversichtlich, dass sie uns sicher ans Ziel im Gletschergebiet bringen wird.« Für mich gab es nicht den geringsten Zweifel, worum es sich handelte. Die LITRAK war ein Zeppelin, ein klassisches Luftschiff in der typischen Zigarrenform. Genau über mir hingen die vier riesigen Heckflossen, die in den lang gezogenen grauen Rumpf übergingen. Darin mussten sich die Gastanks befinden, die dem Ganzen Auftrieb verliehen. Ein Stück weiter vorn klebte an der Unterseite die Führergondel. Doch der Hauptgrund für mein maßloses Erstaunen war die Tatsache, dass dieses Schiff offenbar bis zur letzten Schraube einem Bild glich, das sich vor etwas mehr als zweitausend Jahren meinem fotografischen Gedächtnis eingeprägt hatte. Die LZ 129, rief mein Extrasinn die Daten ab. Eine exakte Replik der berühmten HINDENBURG. Länge 245 Meter, größter Durchmesser 41,2 Meter, Prallgasinhalt 200.000 Kubikmeter, Leergewicht 118 Tonnen. Vier von 1000-PS-Dieselmotoren angetriebene Propeller, die das Starrluftschiff auf 120 Stundenkilometer beschleunigen können. Bis zum Eintritt ins interstellare Raumfahrtzeitalter war die HINDENBURG das größte fliegende Objekt gewesen, das jemals auf Terra erbaut worden war. Sämtliche später entwickelten Großraumflugzeuge hatten nie wieder solche Ausmaße erreicht. Leider hatte die LZ 129 diesen Rekord nur kurze Zeit gehalten, da sie bereits ein Jahr nach dem Jungfernflug in der amerikanischen Stadt Lakehurst verunglückt war. Ich konnte mich noch gut an die Bilder erinnern, die damals auf Terra ausgestrahlt worden waren … Bevor ich mich in historischen Memoiren verlieren konnte, trat Tamiljon in mein Sichtfeld. »Ihr solltet euch jetzt verabschieden«, sagte er und warf einen bedeutungsvollen Blick auf meine Begleiterin. An Ka-
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litra hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. »Warum nehmt ihr mich nicht einfach mit?«, fragte sie. »Ich wette, dass ich besser bin als euer Koch – falls ihr überhaupt daran gedacht habt, einen mitzunehmen.« Dieser Vorschlag hatte durchaus seinen Reiz – nicht nur, weil Kalitra in der Tat eine gute Köchin war. Aber ich erkannte sofort, dass Tamiljon Recht hatte. Niemand konnte vorhersagen, welchen Verlauf diese Reise nehmen würde. Eine solche Verantwortung durfte ich nicht übernehmen. »Glaub mir, es ist besser, wenn du in Aroc bleibst«, sagte ich zu ihr. »Kutron braucht dich jetzt.« »Atlan, ich …« »Bitte sprich nicht weiter«, unterbrach ich sie. »Was du auch sagst, ich könnte dir nur mit einem Nein antworten. Unter anderen Umständen hätten wir vielleicht … Aber ich habe dir erklärt, warum es nicht geht, warum es niemals gut gehen kann.« Kalitra blickte mit schimmernden Augen zu mir auf. Ich sah, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, wie sie mit sich rang. »Ich verstehe«, brachte sie schließlich mit erstickter Stimme heraus. Sie räusperte sich und richtete sich trotzig auf. Sie legte die Arme um meinen Hals. »Gute Reise«, flüsterte sie, bevor sie mich küsste. Es war ein herzlicher Abschiedskuss, von einer guten Freundin, die mich ohne Vorwurf oder Wehklage ziehen ließ. Ohne ein weiteres Wort löste sie sich von mir und lief zur Stahltür in der Hallenwand zurück. Doch bevor sie das Fabrikgebäude verlassen konnte, waren von mehreren Seiten laute Rufe zu hören. Ein Ordensbruder, der keine graue Montur, sondern eine rubinrote Robe trug, kam zu uns gerannt. »Die Perlenschleifer!«, keuchte der Mann. »Sie haben uns gefunden!«
* Der Überschwere hatte sie auf drei Doppelzimmer verteilt, die in entgegengesetzten
Ecken des verwinkelten Gebäudes lagen. Er behauptete, dass es ihm leider nicht möglich war, sie in benachbarten Räumen unterzubringen. Lethem gab es schnell auf, sich über diese Unannehmlichkeiten zu beschweren. Der Arkonide ließ sich erschöpft auf die durchgelegene Matratze des Bettes fallen. Sie hatten einen langen Tag hinter sich, und er kam kaum dazu, ihn noch einmal Revue passieren zu lassen, bevor er einschlief … »Ausgeglühte Schlacke!« Lethem hatte das Gefühl, nur für einen kurzen Moment eingenickt zu sein, als er durch den Ausruf des Luccianers geweckt wurde. Ich sollte mir Notizen machen, damit ich eines Tages das Lexikon typischer Flüche der verschiedenen Milchstraßenvölker veröffentlichen kann, dachte er, bevor er die Augen öffnete. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass Licht durch das winzige Fenster drang. Automatisch warf er einen Blick auf sein Multifunktionsarmband, aber die Zeitanzeige war noch immer genauso tot wie seit ihrer Ankunft in der Obsidian-Kluft. Wie es schien, hatte er doch mehrere Stunden geschlafen. »Was ist los? Hat man dir zu viel Zucker in den Frühstückskaffee getan?« »Lass die dummen Sprüche!«, gab Zanargun ungeduldig zurück. »Wir wurden ausgeraubt!« Lethem riss die Augen auf und sprang aus seinem Bett. »Wie bitte?« »Unser Geld ist weg.« »Wie konnte das passieren?« »Ich habe die Tasche mit unseren Sachen neben das Bett gestellt. Du kannst mir glauben, dass es nicht leicht ist, mich im Schlaf zu überraschen. Ich bin jedes Mal wach geworden, wenn du geschnarcht hast. Aber von einem Einbrecher habe ich nichts bemerkt. Ich verstehe nicht, warum ich …« Lethem war aufgestanden und neben Zanargun getreten, um die Tasche zu inspizieren. Der oder die Täter hatten nur den Beutel mit ihren Obsidianperlen entwendet. Sonst schien nichts zu fehlen. »Mach dir keine Vorwürfe«, sagte
Im Zeichen des Kristallmondes Lethem. »Es ist nicht deine Schuld. Zum Glück haben die anderen auch ein paar Lithras eingesteckt. Wir können nur hoffen, dass sie nicht ebenfalls ausgeraubt wurden.« Lethem und Zanargun verließen das Zimmer und suchten die Tür, hinter der sich Falk und Ondaix zurückgezogen hatten. Doch bei ihnen war nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Als sie zum Zimmer der Frauen weiterzogen, öffnete Kythara die Tür und hörte sich nachdenklich Lethems Bericht an. »Ich bin in der Nacht einmal aufgewacht«, sagte die Varganin schließlich, »und habe gespürt, dass sich jemand vor unserer Tür aufhielt. Dann hörte ich leise Schritte, die sich entfernten.« Als Varganin verfügte Kythara über telepathische Kräfte, die es ihr ermöglichten, so etwas wie eine Ahnung von den Gedanken anderer zu erhalten, ohne sie im buchstäblichen Sinn lesen zu können. »Wahrscheinlich hat der Einbrecher aus irgendeinem Grund Bedenken bekommen«, überlegte Falk laut. »Oder er hat sich nicht mehr die Mühe gemacht, bei uns vorbeizuschauen, nachdem er bei Lethem und Zanargun fündig geworden war.« »Ich werde den Wirt fragen, ob er etwas bemerkt hat«, sagte Lethem. »Begleitest du mich, Maghalata? Schließlich scheinst du ihn zu kennen. Oder gab es einen anderen Grund, seiner Gastfreundschaft zu vertrauen?« Kythara sagte nichts, als sie Lethem über die Treppe nach unten folgte.
* »Wir starten!«, rief Lelos Enhamor. In der scheinbaren Unordnung, die unmittelbar darauf unter den Männern in der Fabrikhalle ausbrach, erkannte ich sehr bald eine tadellose Koordination. Jeder schien genau zu wissen, wo sein Platz war. Ein Teil der Ordensbrüder in grauer und roter Kluft bestieg die Führergondel, etwa ein Dutzend weitere Mitglieder ergriffen die Leinen, die von der Hülle des Luftschiffs
35 hingen. Der Rest stürmte zu den Ausgängen, um die Angreifer abzuwehren. Zum Glück verfügte die Halle über kleine Tore, die sich mit verhältnismäßig wenig Aufwand verteidigen ließen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie Lelos den Perlenschleifern mit der LITRAK entkommen wollte. Das Dach der Fabrik war eine solide Stahlkonstruktion. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es sich durch einen ausgetüftelten Mechanismus innerhalb weniger Minuten aufklappen ließ. Ein Luftschiff kann nicht senkrecht aufsteigen, Narr, meldete sich mein Extrasinn zu Wort. Es kann nur gegen den Wind starten. Wie wollten diese Leute die LITRAK in die Luft bekommen? Hatten sie wirklich das nötige Know-how, um mit einem solchen Gefährt umzugehen? »Die Zeit drängt«, sagte Lelos zu Tamiljon und mir. »Gehen wir an Bord.« Wieder einmal ließ ich mich vom Lauf der Dinge mitreißen und hoffte, dass mich dieser Weg nicht ins Verderben führte. Wir liefen durch die Halle, genau unter dem mächtigen Bauch des Luftschiffs, bis wir die Führergondel erreicht hatten. Über eine ausklappbare Leiter bestiegen wir den Leitstand. Lelos führte uns nach vorn, wo die Fenster der Pilotenkanzel eine gute Rundumsicht ermöglichten. Dort übernahm er das Kommando von einem Ordensbruder, der als Erster Offizier die Startvorbereitungen geleitet hatte. Lelos beugte sich durch das Fenster, um dem Außenteam durch ein Megafon Kommandos zuzubrüllen. Ich bemerkte, wie plötzlich helleres Licht in die Halle drang. Genau vor uns hatte sich die Stirnwand der Fabrikhalle geteilt. Es handelte sich um ein riesiges Tor, dessen Hälften sich Meter für Meter auseinander bewegten. Im Vordergrund erkannte ich einen Hafenkai, von dem soeben ein kleines Dampfschiff abgelegt hatte. Dahinter breitete sich die braungraue Fläche des ArocanSees aus. Ich konnte über die perfekte Organisation
36 des Litrak-Ordens nur staunen. Plötzlich ging ein Ruck durch das Luftschiff, als sich eine der Leinen straffte. Sie verlief von der Nase der LITRAK bis zum Dampfschiff, das uns langsam aus der Halle zog. Die Männer am Boden zerrten an den Halteseilen, damit der Zeppelin nicht zur Seite abdriftete. Wir hatten bereits mehr als Schritttempo erreicht, als die Gondel an den offenen Toren vorbeiglitt. Dahinter kamen Perlenschleifer und Gardisten zum Vorschein. Sie stürzten sich auf die Männer des Litrak-Ordens, aber wie es aussah, konnten sie den Start des Luftschiffs nicht mehr verhindern. Als wir über den Kai und die Reihe der Fischkutter hinwegflogen, deren Besatzungen aufgeregt zu uns heraufzeigten, schätzte ich, dass die LITRAK den Hangar nun komplett verlassen hatte. Lelos brüllte weitere Kommandos, und kurz darauf setzte ein lautes Röhren ein. Die großen Propellermotoren waren angesprungen und verliehen dem Luftschiff zusätzlichen Schub. Wenig später überholten wir das kleine Dampfschiff, auf dem man das Zugseil gekappt hatte, das nun an der Nase frei im Wind baumelte. Ein lautes Klirren und ein plötzlicher Luftzug ließen mich herumfahren. Ich sah, wie sich direkt neben mir eine schwarze Kapuze durch ein eingeschlagenes Fenster schob. Offenbar war es einem der Perlenschleifer gelungen, bis zur Gondel vorzudringen und sich an einem Vorsprung festzuhalten. Es war kaum mehr als ein Reflex, als ich ihm meinen Ellbogen ins Gesicht rammte. Ich wollte ihn nur bewusstlos schlagen und dann ins Innere der Gondel zerren. Doch der Mann schrie auf und verlor den Halt, bevor ich ihn packen konnte. Mit einem mulmigen Gefühl verfolgte ich, wie er in die Tiefe stürzte. Wir hatten vielleicht eine Höhe von etwas über zehn Metern erreicht. Wenn er Glück hatte, überstand er den Sturz ins Wasser mit ein paar blauen Flecken. Ich hoffte es. Schließlich wusste ich immer noch zu wenig über diese Welt, um beurteilen zu können, ob er wirklich mein Feind war.
Bernhard Kempen Die gleiche Ungewissheit empfand ich, als Tamiljon neben mich trat und mir mit einem anerkennenden Lächeln eine Hand auf die Schulter legte. Konnte ich ihm wirklich vertrauen? Es gab nur wenige, für die ich mich in meiner derzeitigen Lage bedingungslos eingesetzt hätte. Seit dem Überfall der Perlenschleifer hatte ich nichts mehr von Kalitra gesehen. Ich konnte nur hoffen, dass sie das Handgemenge heil überstanden hatte. Offenbar blieb mit derzeit nichts anderes übrig, als mich an den Zustand des Nichtwissens und des blinden Vertrauens zu gewöhnen.
Zwischenspiel Li da Zoltral wusste genau, was sie zu tun hatte. Aber wie konnte sie Einfluss nehmen, wenn sie ohne reale Substanz war? Solange sie außerhalb von Raum und Zeit, von Ursache und Wirkung in einem undefinierten Quantenzustand oszillierte? Nein, sie wusste, dass das nicht stimmte. Der Hyperraum existierte. Was hier geschah, war auf eine andere Weise real. Es war nicht so eindeutig beschreibbar wie Ereignisse im materiellen vierdimensionalen Kontinuum, aber es war keineswegs eine Sphäre des Nichts oder der Beliebigkeit. Auch die Biophoren existierten und waren die Ursache einer realen Wirkung. Sie klammerte sich an diesen Gedanken und spürte, wie er Wirklichkeit wurde. Ihr Zustand war immer noch ein anderer als der von materiellen Körpern, die sich aus Atomen mit eindeutig messbaren Eigenschaften zusammensetzten. Aus Weiß war Wissen, aus Wissen war Wollen und aus Wollen war Wirken geworden. Fast wäre sie erneut ins Unbestimmte zurückgeglitten, aber dann schaffte sie es, sich zu konzentrieren. Sie dachte nicht an Vinara, sondern an den Kristallmond, der ihr Ziel war. Sie dachte an die Hypertronik und hoffte, sie im Hyperraum als Bezugspunkt definieren zu
Im Zeichen des Kristallmondes können. Den Punkt zu finden, an dem fünf zu vier Dimensionen kondensierten. Dann sah sie etwas. Ein Bild, das nicht in ihren Gedanken entstanden war, sondern eine äußere Realität besaß. Ähnlich klar und zugleich unklar wie die Biophoren, die einen engen Kontakt zur materiellen Welt des Lebens hatten. Zunächst war es nur ein Schatten, der jedoch bald Form und Farbe annahm. Ein großer Teil des Bildes blieb im Undefinierbaren, doch ein paar wesentliche Eigenschaften nahmen den Status des Konkreten an. Sie sah einen länglichen Körper, mit dem sie Größe assoziierte. Er hatte die Form eines gestreckten Zylinders, einer Walze. Und er hatte eine Farbe, die sich als Kobaltblau definieren ließ. Sie konnte nicht sagen, woher das Bild und das Wissen kamen, aber sie wusste, dass dieses Objekt ein Ziel hatte. Als sie spürte, wie ihr das Bild entglitt, nahm sie noch einmal ihre ganze Konzentration zusammen, um einen definierten Zustand zu schaffen. Doch je mehr sie sich konzentrierte, desto schneller verschwand das Objekt aus ihren Gedanken. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sie oder der raumlose Raum, in dem sie sich befand und nicht befand, umkippen. Als würden Unten und Oben vertauscht werden … oder Innen und Außen … oder Real und Nichtreal … Und im nächsten Augenblick, der unfassbar kurz und gleichzeitig ewig war, spürte sie vage und mit großer Klarheit eine gravierende Veränderung … Die Unschärfe kristallisierte endgültig zu materieller Existenz, und Li erkannte, dass der Transport durch den Hyperraum abgeschlossen war. Sie wusste nicht, wie sie den Vorgang nennen sollte, der weder ein normaler Transmitterdurchgang noch eine Transition gewesen war. Sie wusste nur, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Den festen Boden des Planeten Vinara. Bevor sie sich weiter orientieren konnte, schlugen die wenigen noch funktionierenden
37 Sensoren ihres Anzugs Alarm. Sie erkannte sofort, was die Daten bedeuteten. Li war nicht allein. Sie war in unmittelbarer Nähe eines mächtigen Wesens materialisiert, von dem eine große Gefahr ausging. Denn dieses Wesen stand unter dem Einfluss des Kristallmondes …
9. Der Besitzer der Herberge beteuerte wortreich, nichts von einem Einbrecher bemerkt zu haben. Er empörte sich geradezu über die Vorstellung, in seinem Haus könnten Diebe ein und ausgehen. »In diesem Fall«, sagte Lethem, »ist es wohl das Beste, wenn wir Anzeige bei den lokalen Ordnungshütern erstatten.« »Das werde ich nicht zulassen!«, tobte der Wirt. »Mein Haus hat einen guten Ruf! Wer es wagt, mich zu verleumden …«. »Allmählich erhalte ich den Eindruck, dass du mehr über den Diebstahl weißt, als du zugeben willst«, sagte Lethem gelassen. »Ich bin gespannt, was die Ordnungshüter sagen, wenn ich ihnen von deiner Reaktion berichte.« »Bitte! Hol doch die Perlenschleifer!«, schnaufte der Wirt verächtlich. »Falls sie überhaupt bereit sind, sich das armselige Gekläff eines elenden Scaffrans anzuhören!« Ohne weitere Diskussion gingen Lethem und Kythara auf die Straße. Schon nach kurzer Zeit stießen sie auf zwei der Perlenschleifer, die überall in der Stadt patrouillierten. Die Arkonidenabkömmlinge in den schwarzen Kutten verzogen keine Miene, als Lethem ihnen den Vorfall schilderte. Sie sahen sich nur kurz an, dann ließ sich einer der beiden dazu herab, Lethem zu antworten. »Wir haben Besseres zu tun, als uns um Besitzstreitigkeiten zwischen gewöhnlichen Viin zu kümmern. Raubt uns nicht noch mehr von unserer kostbaren Zeit!« Die Perlenschleifer zogen sich die Kapuzen über die Köpfe und entfernten sich. Lethem war fassungslos. Allmählich wurde ihm klar, was sie unter »Ordnung« ver-
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standen. Nicht etwa »Gerechtigkeit«, sondern die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen. »Lass uns gehen«, sagte Kythara. »In Helmdor können wir von niemandem Hilfe erwarten. Hier sind wir ganz auf uns allein gestellt.«
* Nachdem die LITRAK genügend Fahrt aufgenommen hatte, flog Kapitän Lelos Enhamor einen weiten Bogen über dem Arocan-See und ging auf Kurs Nordnordwest. Aroc zog an uns vorbei und wurde allmählich unter der Dunstglocke unsichtbar. Langsam verlor ich das Interesse an der Landschaft, außer hügeligen Grasflächen und vereinzelten Dörfern war nichts zu sehen. Ich nutzte die Zeit und sah mich im Innern der knapp zehn Meter langen Kommandogondel um, die durch zwei Querwände unterteilt war. Ganz vorn stand Lelos, der das Schiff mit dem Steuerrad lenkte. Der Erste Offizier hatte das Höhenruder übernommen, das auf der linken Seite der Kanzel angebracht war. Es war genau so, wie ich es aus Dokumentationen über die originale HINDENBURG kannte. Tamiljon bemerkte meine Neugier und erklärte sich bereit, mich durch die LITRAK zu führen. Wir gingen nach hinten durch in den Navigationsraum mit dem Bordtelefon und stiegen im Heckraum der Gondel über eine Leiter nach oben. So gelangten wir in einen schmalen Gang, der von schwach glimmenden Glühlampen erhellt wurde und sich offenbar an der Bauchnaht durch das gesamte Schiff zog. Tamiljon führte mich heckwärts zwischen den Frachträumen hindurch. Als ich einen Blick in zwei kleine Kammern warf, wunderte ich mich. Sie waren völlig leer. Etwas irritiert fragte ich bei Tamiljon nach. »Das sind nur die Poststation und der Funkraum«, antwortete er beiläufig.
Da sich die LITRAK nicht auf einem Linienflug befand, hatten die Ordensbrüder andere Dinge zu tun, als über abgelegenen Dörfern Postsäcke abzuwerfen. Und der merkwürdige Umstand, dass man zwar den Funkraum nachgebaut, aber keine Funkgeräte installiert hatte, war ein weiteres Zeichen für den unorthodoxen technischen Entwicklungsstand auf Vinara Drei. Dampfkraft wurde in sämtlichen Lebensbereichen eingesetzt, während die Elektrizität noch in den Kinderschuhen zu stecken schien. Ich erinnerte mich an die durchbrennenden Glühlampen beim Obsidiantor, wohingegen das Prinzip des Elektromotors völlig unbekannt zu sein schien. Ebenso wie die technische Nutzung von Radiowellen. Falls die Propeller dieses Luftschiffs durch Dieselmotoren angetrieben wurden, wäre das ein weiterer Anachronismus. Alles in allem hatte diese Welt einen Stand, der ungefähr dem Jahr 1900 auf Terra entsprach, dennoch gab es überall Elemente, die erheblich rückständiger oder fortschrittlicher waren. Nach wenigen Metern stieg Tamiljon über eine weitere Treppe ein Deck höher. »Hier sind die Kabinen«, erklärte er. »Wie du siehst, fehlen die Namensschilder noch. Du hast also freie Auswahl!« Ich besichtigte eine der winzigen Kajüten, in denen kaum mehr als ein Bett, ein Stuhl und ein Waschbecken Platz hatten. »Und hier geht es in den Salon«, sagte Tamiljon und führte mich zurück zum Treppenaufgang, neben dem sich eine Tür befand. Er öffnete sie vorsichtig, dann drehte er sich zu mir um und legte warnend einen Finger auf die Lippen. Ich hielt mich an das Schweigegebot und folgte ihm in einen Raum, der nach den engen Korridoren und Kabinen ungewöhnlich groß wirkte. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne Verdran fiel von der Seite durch schräge Fenster herein. Das Mobiliar entsprach durch sein schlichtes Design dem Stil des ersten Drittels des terranischen zwanzigsten Jahrhunderts. Doch die dazugehörige Mode mit Stresemann und Walzer-
Im Zeichen des Kristallmondes kleid schien unter den Passagieren verpönt zu sein. Um einen der Tische hatten sich fünf Ordensbrüder gruppiert, sie trugen alle rote Kutten. Mit geschlossenen Augen saßen sie völlig reglos da. Ich wusste nicht, was sie taten, aber es wirkte wie eine stille Andacht oder ein Meditationszirkel. Tamiljon verließ den Raum und zeigte mir auf der gegenüberliegenden Seite des Luftschiffs einen ähnlichen Aufenthaltsraum. Auch hier gab es eine Fensterfront, vor der eine schmale Promenade verlief. Dahinter erkannte ich zwei lange Tischreihen, die sicherlich zum »Captain's Dinner« eingedeckt wurden. »Das Restaurant«, stellte ich fest. Tamiljon nickte nur. Ich trat an ein Fenster und blickte hinaus, ohne etwas von der Landschaft wahrzunehmen. »Was bezweckt ihr mit dieser Vorführung?«, fragte ich ihn schließlich. »Hab Geduld. Deine Fragen werden alle …« »Verdammt, ich habe es allmählich satt, mich wie ein dummer Junge durchs Kuriositätenkabinett führen zu lassen!« Wütend fuhr ich zu ihm herum. »Glaubst du, ich merke nicht, was hier gespielt wird? Von diesem speziellen Luftschiffstyp wurden nur zwei Exemplare gebaut, die HINDENBURG, die im Jahr 1937 verbrannte, und die GRAF ZEPPELIN II, die 1940 demontiert wurde. Es erstaunt mich, dass ihr nicht die originalen Hoheitszeichen auf die Heckflossen gepinselt habt! Wenn es euch wirklich nur um eine geeignete Transportmöglichkeit gegangen wäre, hätte es auch eine Nummer kleiner sein können!« »Es tut mir wirklich Leid, Atlan, aber ich kann …« »Geh mir nicht auf die Nerven, wenn du mir nichts zu sagen hast!« Mein Zorn war nicht gespielt, als ich mich wieder zur Fensterfront umdrehte und Tamiljon mit eisigem Schweigen ignorierte. Irgendwann hörte ich, wie er durch die Tür hinausging und mich allein ließ.
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* Sie hatten ihre Sachen zusammengepackt und die ungastliche Herberge des Überschweren verlassen. Lethems Gruppe wollte sich im Stadtzentrum umsehen, zwischen den Gebäuden, die bereits durch ihre Architektur verrieten, dass sich hier die Macht der Perlenträger konzentrierte. Lethem war sich immer noch nicht sicher, welche Rolle die Perlenträger, die wie ein religiöser Orden organisiert waren, auf den fünf Vinara-Welten spielte. Ihr Name bezog sich darauf, dass sie das Zahlungsmittel kontrollierten, die Lithras; runde oder länglich geschliffene Obsidianperlen von unbekannter Herkunft, deren Wert nicht nur von ihrer Größe, sondern auch von ihrer Schönheit bestimmt wurde. Ein zweiter, möglicherweise viel wichtigerer Punkt war, dass sie in enger Beziehung zu Sardaengar standen, dem mysteriösen »Herrn der Welten« und Widersacher Litraks. Niemand konnte sagen, ob es sich nur um einen Mythos handelte oder ob Sardaengar tatsächlich existierte – oder existiert hatte. In jedem Fall schien er – oder das, was mit diesem Namen verbunden war – der Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses der Obsidian-Kluft zu sein. Das bedeutete, dass die Schwarze Perle im Stadtzentrum von Helmdor vielleicht wertvolle Hinweise bereithielt, die ihnen halfen auf ihrem weiten Weg nach Grataar, der sagenumwobenen Bergfestung des Uralten Sardaengar. Je näher sie dem inneren Bereich kamen, desto ansehnlicher wurde das Stadtbild. Sie hatten die Slums der Randzonen Helmdors hinter sich gelassen, die Straßen wurden breiter und sauberer. In den Häusern wohnten und arbeiteten Kaufleute und Handwerker, die offensichtlich von den Geschäften mit den Perlenträgern profitierten. Schließlich erreichten sie die Stadtmauer, hinter der sich die imposanten Kugelbauten des Zentrums erhoben. Die Barriere bestand
40 aus einem fugenlos glatten perlmuttfarbenen Material, die Mauerkrone bildete eine ununterbrochene Reihe aus zwei Meter durchmessenden Perlen. Die Straße führte direkt auf ein bogenförmiges Tor zu, das von mehreren Gestalten in schwarzen Kutten bewacht wurde. Doch der Verkehr strömte ungehindert durch den Bogen. Nur gelegentlich wiesen die Wächter einen Bettler oder andere Personen zurück, die ihnen wohl zwielichtig erschienen. »Ob man uns hineinspazieren lässt?«, fragte Lethem. »Lassen wir's darauf ankommen!«, erwiderte Kythara gelassen und ging weiter. Die anderen folgten der Varganin und gaben sich Mühe, einen möglichst harmlosen Eindruck zu erwecken. Die Perlenschleifer musterten jedes Mitglied der Gruppe, niemand verwehrte ihnen den Zugang. Unwillkürlich atmete Lethem erleichtert auf, als sie das Tor durchschritten hatten. Seine Aufmerksamkeit wurde sofort von den Gebäuden gefesselt, deren grandiose Schlichtheit einen krassen Gegensatz zu den natürlich gewucherten Außenbezirken bildete. Es war kaum zu glauben, dass sie sich immer noch in derselben Stadt befanden. Die von schimmernden Perlen gekrönten Quader waren von unterschiedlichen Größen und verteilten sich ohne erkennbares System. Dazwischen verliefen abwechselnd breite und schmale Gassen oder Straßen, die ein kaum durchschaubares Labyrinth ergaben. Gerade diese Unordnung bildete einen reizvollen Kontrast zur tadellosen geometrischen Perfektion der Kugelbauten. Lethem kam sich vor wie in der virtuellen Simulation eines Stadtplaners, dessen Entwurf völlig frei von Benutzungsspuren war. Selbst die wenigen Besucher, die sich zwischen den Perlenträgern mit den schwarzen Kutten und vereinzelten orangeroten Hüten bewegten, schienen sorgsam darauf bedacht zu sein, keinen Schmutz zu hinterlassen. Bald standen sie vor einem größeren Platz, dessen Mitte ein dreißig Meter hoher Sockel mit einer hundert Meter durchmes-
Bernhard Kempen senden Kugel bildete. In der tief schwarzen Oberfläche war kein Fenster, keine Fuge und keine sonstige Unregelmäßigkeit zu erkennen. »Was befindet sich in der Schwarzen Perle?«, fragte Lethem. »Darüber ist kaum etwas bekannt«, antwortete Kythara. »Man weiß nur, dass sie der Hauptsitz der Perlenträger von Helmdor ist. Hier laufen alle Fäden zusammen.« »Kann man das Gebäude besichtigen?« »Ich kenne niemanden, der es von innen gesehen hat«, sagte die Varganin. »Und die Perlenträger, die dort ein und aus gehen, haben darüber nie ein Sterbenswörtchen verloren.« »Versuchen wir's?«, fragte Falk. »In diesem Fall rate ich dringend ab. Mit den Wachen ist nicht zu spaßen.« Lethem musterte die dunklen Gestalten, die vor der einzigen Tür in einer Wand des Quaders Stellung bezogen hatten. Im Gegensatz zu den Wachen am Tor erweckten sie den Eindruck, dass sie fest entschlossen waren, niemanden durchzulassen, der keine Zugangsberechtigung vorzuweisen hatte. »Soll das alles gewesen sein?«, beschwerte sich der Arkonide. »Du führst uns zur Schwarzen Perle, aber mehr als ein Blick aus der Ferne ist nicht erlaubt?« »Ich weiß nicht, was du dir erhofft hast, aber du müsstest schon mit einer schlagkräftigen Truppe anrücken, wenn du dich unbedingt im Gebäude umsehen willst. Darf ich dich daran erinnern, dass unsere Mittel und Möglichkeiten sehr beschränkt sind?« Lethem starrte eine Weile schweigend auf die Wachen, die in diesem Moment eine Gruppe von Perlenträgern mit und ohne den farbigen Kopfschmuck der Würdenträger durch die Tür eintreten ließen. Mit einem unwilligen Brummen drehte sich der Arkonide um und stapfte zurück.
* Zufrieden verfolgte Sardaengar, wie die Ereignisse ihren Lauf nahmen. Endlich hatte
Im Zeichen des Kristallmondes er wieder das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Nun konnte er sich seinem ursprünglichen Vorhaben widmen, das ihn zur Silbersäule geführt hatte. Erneut wandte er sich dem Lichtquader zu, sammelte seine Kräfte und konzentrierte sich darauf, die Steuerung der Säule zu übernehmen. Er bemühte sich, eine Resonanz zwischen seinen Parasinnen und den nanotechnisch erzeugten Energiemustern herzustellen. Er veränderte die Modulation seiner psychischen Schwingungen, um die richtige Kontaktfrequenz zu finden. Doch er spürte bald, dass es ihm deutlich schwerer als sonst fiel. Normalerweise war es ein eher unbewusster Vorgang, mit all seinen geistigen Kräften auf die Nanoschaltungen zuzugreifen. Diesmal musste er sich konzentrieren. Hatte er sich zu sehr verausgabt, als er den Einfluss des Kristallmondes abgewehrt hatte? Nein, die Steuerung der Silbersäule erforderte keinen besonderen Kraftaufwand, es kam nur auf die richtige Feinabstimmung an. Trotzdem fühlte er sich zutiefst erschöpft, als er schließlich einsah, dass seine Anstrengungen nutzlos waren. Ihm blieb nichts anderes übrig, als diesen Teil seiner Planung aufzugeben. Es war ihm nicht möglich, die Steuerung der Säule zu übernehmen. Vermutlich hing es mit den Veränderungen der letzten Zeit zusammen, mit der Tatsache, dass die Obsidian-Kluft insgesamt an Stabilität verloren hatte. Hier konnte er nichts ausrichten. Der Kristallmond schien hier zu viel Macht über ihn zu haben. Widerstrebend fügte er sich der Konsequenz dieser Einsichten und trat ein zweites Mal auf die Wand der Silbersäule zu. Als er sie durchquerte, hatte er den Eindruck, dass der Widerstand der pseudoflüssigen Substanz zugenommen hatte, so als würde sie sich dagegen sträuben, ihn gehen zu lassen. Wankend brach er durch die glatte Oberfläche und lief sofort weiter, um sich dem Einfluss dieses Ortes zu entziehen. Schließlich blieb er stehen und blickte sich aufat-
41 mend um. Er war immer noch allein und fühlte, wie er bereits wieder zu Kräften kam. Doch als der Druck von seinen Parasinnen wich, durchzuckte ihn ein eisiger Schauer, als er die Bedeutung seiner neuen Wahrnehmung erkannte. Das Wesen mit der Ausstrahlung eines Imaginären hatte die Vergessene Plattform verlassen und war ganz in seiner unmittelbaren Nähe materialisiert! Diese Wendung löste in Sardaengar sehr unterschiedliche Empfindungen aus. Er hielt eine Weile inne, um die Gründe für seine zwiespältige Reaktion zu analysieren. Einerseits erfüllte ihn das Erscheinen des Wesens mit Hoffnung, auch wenn er nicht sagen konnte, worauf diese Emotion zurückzuführen war. Andererseits empfand er es als Bedrohung – möglicherweise, weil er nicht einzuschätzen vermochte, was das Auftauchen des Wesens in letzter Konsequenz für ihn bedeutete. Besonders verwirrend war für ihn der Umstand, dass das Gefühl der Bedrohung seinen Ursprung in den Bereichen seines Geistes zu haben schien, der unter dem Einfluss des Kristallmondes stand. Die Faktoren seiner Planung hatten sich so sehr verändert, dass er vielleicht gezwungen war, eine völlig neue Gleichung aufzustellen. Sardaengar beschloss, sich der ohnehin unvermeidlichen Konfrontation zu stellen, obwohl ihr Ausgang sehr ungewiss war …
10. Nachdem Tamiljon außer Sichtweite war, entschied ich, mich auf eigene Faust in der LITRAK umzusehen. Vom A-Deck, in dem die Passagiere untergebracht waren, stieg ich wieder hinunter und kam an bemerkenswert modernen sanitären Einrichtungen vorbei. Dahinter lagen die Mannschaftsmesse, die Küche und eine Bar, durch die es in einen weiteren Aufenthaltsraum ging. Der Rauchsalon, half mir der Extrasinn auf die Sprünge.
42 Ich erinnerte mich wieder. In der HINDENBURG hatte es einen Raum gegeben, der dem Inhalieren von Tabakrauch vorbehalten war. Und das an Bord eines Fahrzeugs, das mit 200.000 Kubikmetern leicht entzündlichem Wasserstoffgas gefüllt war! In der LITRAK wurde der Raum jedoch nicht zum Drogenkonsum genutzt. Hier hatten sich ebenfalls fünf Ordensbrüder versammelt, die leise eine Art Sprechgesang murmelten und sich damit in Trance zu versetzen schienen. Jedenfalls deutete nichts darauf hin, dass sie mich bemerkten, als ich den Kopf durch die Tür streckte. Ich verließ die Bar durch einen winzigen Raum, der keine erkennbare Funktion zu haben schien, und spürte ein Knacken in den Ohren – das Anzeichen einer plötzlichen Verringerung des Atmosphärendrucks. Irritiert hielt ich inne, weil ich nichts von einer Änderung der Flughöhe bemerkt hatte. Dann wurde mir klar, dass ich soeben durch eine raffiniert getarnte Luftschleuse getreten war. Der Rauchsalon stand unter leichtem Überdruck, wodurch verhindert wurde, dass eventuell austretender Wasserstoff eindrang und mit brennendem Tabak in Berührung kam. Bisher war ich noch keinem Mitglied des Litrak-Ordens begegnet, das diesem Laster frönte. Was mich auf die Frage brachte, ob die LITRAK tatsächlich genauso wie das Orginal mit Wasserstoff flog. Vielleicht nutzten sie unbrennbares Helium, um für den nötigen Auftrieb zu sorgen. Nachdem ich an verschiedenen Türen und Treppen vorbeigekommen war, stieß ich hinter den Mannschaftsquartieren auf einen senkrecht nach oben führenden Schacht, in dem eine Strickleiter hing. Ich kletterte etwa zwanzig Meter nach oben und gelangte zu einem Steg, der – wie alle stabilen Elemente des Luftschiffs – aus Aluminium oder einem ähnlichen Leichtmetall bestand. Hier bot sich mir ein Anblick, der mit einer Mischung aus Erstaunen und Fassungslosigkeit auf mich einwirkte. Ich musste mich ziemlich genau im Zentrum der
Bernhard Kempen LITRAK befinden, auf dem metallenen Rückgrat, das sich vom Bug bis zum Heck mitten durch das Gefährt zog. Ich stand genau zwischen zwei der insgesamt sechzehn Gaszellen, die wie riesige Wurmsegmente den weitaus größten Teil des Körpers ausfüllten. Die senkrecht gespannten Wände der Säcke waberten leicht in unsichtbaren Luftströmungen. Aufgrund der Tatsache, dass ich einen großen Teil meines Lebens in Raumschiffen verbracht hatte, empfand ich die LITRAK als winzig. Trotzdem spürte ich eine unerklärliche Ehrfurcht vor diesem Produkt einer Technikepoche, die kaum über die ersten Schritte zur Eroberung des Luftraums hinausgekommen war. Als ich ein Stück weiterging, sah ich am Steg ein Schild. Es zeigte eine symbolisierte Flamme mit einen Querbalken. Das universelle Zeichen für Feuergefahr. Ich hatte es geahnt. Mein Leben lag in den Händen von Wahnsinnigen! Sie hatten es tatsächlich gewagt, dieses Luftschiff mit Wasserstoff zu betanken!
* »Wohin gehen wir eigentlich?«, wollte Falk wissen, als die sechsköpfige Gruppe durch die Straßen von Helmdor streifte. »Ich denke, dass es an der Zeit ist, den nächsten Abschnitt unserer Reise vorzubereiten«, beschloss Kythara. »Wir müssen unsere Vorräte aufstocken und uns um Ausrüstung und eine Transportmöglichkeit kümmern.« »Was angesichts unseres pekuniären Engpasses schwierig werden könnte.« »Du hast unser Problem treffend auf den Punkt gebracht.« Kythara hatte sie in ein Geschäftsviertel geführt. Sie betrachtete die Auslagen, erkundigte sich hier und dort nach Preisen und zog weiter, ohne sich auf Verhandlungen einzulassen. Offensichtlich versuchte sie, möglichst kostengünstige Angebote einzuholen. »Schau dich doch bei Gelegenheit mal un-
Im Zeichen des Kristallmondes auffällig um«, bat Falk Lethem, als sie die Auslagen eines Händlers betrachteten, der Messer, Dolche und sonstige Stichwaffen in sämtlichen Größen und Formen führte. Seine Preisvorstellungen schienen etwas kundenfreundlicher zu sein; zumindest hatte sich Kythara auf ein längeres Gespräch mit dem Ladenbesitzer eingelassen. Lethem nahm sich ein Messer und drehte sich zur Seite, um die Klinge ins Sonnenlicht zu halten. Während er vorgab, die Schneide zu prüfen, nahm er aus dem Augenwinkel eine Gruppe von fünf Perlenschleifern wahr, die auf der anderen Straßenseite stehen geblieben waren. Es waren zwei Humanoide und drei Blues. Dann sah er, wie einer den anderen ein Handzeichen gab, worauf sie langsam weitergingen. »Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt«, sagte er, als er sich wieder zu Falk umgedreht hatte. »Soll ich mit dem Finger draufzeigen?«, erwiderte der Terraner ungehalten. »Die Kapuzenträger sind doch nicht zu übersehen!« »In der ganzen Stadt wimmelt es von Perlenschleifern.« »Aber diese Jungs sind uns gefolgt, seit wir durch das Tor der Stadtmauer getreten sind.« Lethem hob ein anderes Messer, dessen Klinge mit unbekannten Schriftzeichen verziert war. Er sah, wie die Perlenschleifer ohne Eile in eine Seitengasse bogen. Mit nachdenklicher Miene wandte er sich erneut an Falk. »Du hast mich gerade auf eine gute Idee gebracht«, sagte er.
* Als ich durch den Schacht nach unten stieg, hörte ich einen unterdrückten Fluch. Unter mir hatte sich ein Besatzungsmitglied in die Röhre gezwängt und musste notgedrungen wieder zurückklettern, weil ich ihm den Weg versperrte. Als ich in den waagerechten Korridor sprang, stand ich einem Mann gegenüber, der sich bereits äußerlich
43 von den Mitgliedern des Litrak-Ordens unterschied. Es handelte sich unverkennbar um einen Epsaler, auch wenn er mit ungefähr 1,70 Metern Höhe und 1,50 Metern Breite ein ungewöhnlich schlanker Vertreter dieser umweltangepassten Kolonialterraner war. »Tut mir Leid«, sagte ich mit einem bedauernden Achselzucken, »aber ich hätte wieder ganz nach oben klettern müssen, um dich vorbeizulassen.« »Schon gut«, brummte er mürrisch und fasste mich etwas genauer ins Auge. »Du bist dieser Atlan, nicht wahr?« »Und mit wem habe ich die Ehre?« »Peon Hoprald«, sagte er. »Ich habe dieses Ding konstruiert. Hätte ich gewusst, wie die Litrak-Bande damit umgeht, hätte ich …« »Moment!« Diese Gelegenheit wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. »Soll das heißen, du hast die Pläne für dieses Luftschiff geliefert?« »Das habe ich doch gerade gesagt!«, schnaufte er ungehalten. »Und jetzt lass mich bitte durch. Ich muss …« »Kommt nicht in Frage«, erwiderte ich und baute mich mit verschränkten Armen vor ihm auf. Er würde mich gewaltsam zurückdrängen müssen, um den senkrechten Schacht zu erreichen. Ich hoffte jedoch, dass er vorläufig darauf verzichtete, seine Kompaktkonstitution gegen mich einzusetzen. »Ich würde gerne von dir wissen, wie du es geschafft hast, diese exakte Kopie der LZ 129 zu bauen.« »Was soll das?«, gab er misstrauisch zurück. »Willst du mir vorwerfen, ich hätte meine Arbeit nicht ordentlich erledigt?« »Im Gegenteil. Ich finde, dass du sie außergewöhnlich ordentlich gemacht hast. Wie bist du hier, weit weg von Terra, an die Originalpläne gekommen?« »Was willst du damit andeuten?« Er ballte die Hände zu Fäusten und schien mit sich zu ringen. Unbeeindruckt wartete ich ab. Ich wollte auf keinen Fall lockerlassen, weil ich den Eindruck hatte, einem der größten Geheim-
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nisse der Spiegelwelten auf der Spur zu sein. »Also gut«, gab er schließlich nach. »Mein Meister, von dem ich alles über den Luftschiffbau gelernt habe, hat mir seine Unterlagen hinterlassen. Und ein ziemlich altes Buch über die HINDENBURG. Mit Fotos und Skizzen. Hat wahrscheinlich irgendjemand im Schrank gehabt, als sein Raumschiff vor Jahrhunderten in der Kluft strandete. Das habe ich als Anregung benutzt, als die Litrak-Leute ein möglichst großes und leistungsfähiges Luftschiff bestellten und weil ich endlich mal einen richtig großen Kahn bauen wollte.« »Als Anregung?«, wiederholte ich fassungslos. »Dieses Schiff könnte man jedem Experten als detailgetreue Kopie verkaufen! Selbst die Duschkabine entspricht exakt dem technischen Standard des Jahres 1936!« Peon bedachte mich mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er immer noch nicht ganz verstanden, was ich von ihm wollte. »Ich habe keine Ahnung, wie so eine Duschkabine ausgesehen haben soll«, sagte er in nachdenklichem Tonfall. »Ich habe mich nur an den Grunddaten orientiert. Die Einzelheiten, die nicht im Buch standen, habe ich selbst ausgearbeitet.« Ich hätte ihn gern gefragt, wie er auf diese Details gekommen war, würde von ihm aber sicherlich keine klareren Antworten erhalten. Soeben kam ich dem Geheimnis der Spiegel weiten ein Stück näher – zumindest glaubte ich das.
* Nachdem Lethem und Falk sich über die Einzelheiten des Plans einig geworden waren, weihten sie unauffällig die anderen ein. Kythara warnte eindringlich davor, sich mit den Perlenschleifern anzulegen. Doch es gelang ihr nicht, Lethem von seinem Vorhaben abzubringen. Er und die anderen waren bereit, das Risiko einzugehen. Widerstrebend fügte sich die Varganin der Mehrheitsentscheidung.
Die Gruppe kehrte um und lief in gemächlichem Tempo den Weg zurück, den sie gekommen war. Falk hatte eine geeignete Stelle vorgeschlagen, die sie auf dem Herweg passiert hatten. Kythara hatte beim Händler zwei Messer zu einem akzeptablen Preis erstanden und an Lethem weitergegeben. Eins behielt er für sich, das andere steckte er unterwegs Enaa zu. Von der Geschäftsstraße bogen sie in eine Seitengasse, die nur wenige Meter weiter wiederum in eine zweite Gasse abzweigte. Diesen Weg hatten sie beim ersten Mal genommen, als sie einen Händler aufsuchen wollten, der angeblich preisgünstige Reittiere im Angebot hatte. Doch an der angegebenen Adresse hatten sie nur ein Haus mit verrammelten Tür- und Fensterläden vorgefunden. Überhaupt wirkte dieser Winkel der Stadt wie ausgestorben. Hinter der zweiten Ecke gingen sie wie abgesprochen in Stellung. Ondaix, Zanargun und Falk drückten sich an die Wand, Enaa und Kythara gingen in einer Nische in Deckung. Der Arkonide kletterte auf einen Mauervorsprung, von der Quergasse aus war er nicht einsehbar. Es verging keine Minute, bis er leise Schritte hörte. Nach kurzem Zögern stürmten fünf Gestalten in schwarzen Kutten in die Gasse – und in den Hinterhalt. Ondaix hatte seine Axt gezückt und ließ den ersten Verfolger gegen die flache Doppelklinge laufen. Der schmerzhafte, aber nicht tödliche Hieb ließ den Arkoniden sofort zu Boden gehen. Zanargun brachte den zweiten – einen Blue – mit einem kräftigen Faustschlag gegen den Tellerkopf zu Fall. Und Falk stellte dem dritten ein Bein, ebenfalls ein Blue, und warf sich mit seiner beträchtlichen Körpermasse auf ihn. Lethem wartete, bis der letzte Perlenschleifer um die Ecke gekommen war, und sprang ihm auf den Rücken, um der Gruppe den Rückweg abzuschneiden. Während er mit dem Arkoniden rang, sah er, wie der dritte Blue im Bunde die Lage erfasste und sich auf die andere Seite der Gasse flüchtete.
Im Zeichen des Kristallmondes Es gelang ihm, sich vor Ondaix, Zanargun und Falk in Sicherheit zu bringen. Er konnte nicht ahnen, dass er Kythara und Enaa in die Arme lief. Die Varganin kam aus der Deckung und wollte den Blue mit einem Handkantenschlag ausschalten. Doch ihre flache Hand glitt wirkungslos am diskusförmigen Kopf des Perlenschleifers ab. Der Blue nutzte ihre Überraschung aus und rammte ihr eine geballte sechsfingrige Faust in die Magengrube. Kythara klappte zusammen und wurde rückwärts gegen die Wand geworfen. All das bekam Lethem nur am Rande mit, weil er sich keinen leichten Gegner ausgesucht hatte. Er musste sein ganzes Kampfgeschick einsetzen, bis es ihm schließlich gelang, einen Kinnhaken zu landen, der seinen arkonidischen Artgenossen bewusstlos zu Boden gehen ließ. Sofort sprang er auf, um Kythara zu Hilfe zu eilen, die sich immer noch nicht vom Schlag erholt hatte. Doch nun sah Lethem, dass sich der Blue und Enaa gegenüberstanden. Der Perlenschleifer stürmte los und schien sich darauf zu verlassen, dass er die zierliche Frau durch bloße Körperkraft umrennen oder zur Seite schleudern würde. Lethem sah etwas in Enaas Hand aufblitzen. Im nächsten Moment stieß der Blue ein helles Pfeifen aus, das sich im Ultraschallbereich verlor. Dann knickten seine Beine ein, und schließlich brach er zusammen. Der Kampf war vorbei. Lethem überzeugte sich mit einem schnellen Blick vom Gesundheitszustand seiner Begleiter. Sie hatten das Handgemenge unverletzt überstanden. Beruhigt registrierte er, dass inzwischen auch Kythara wieder auf die Beine gekommen war und ihre hüftlange Goldmähne ordnete. Lethem da Vokoban betrachtete die fünf reglosen Gestalten am Boden. »Habe ich ihn getötet?«, fragte Enaa mit stockender Stimme. »Das wollte ich nicht …« »Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Lethem. »Die Hauptsache ist, dass keiner
45 von uns zu Schaden gekommen ist.« »Die anderen scheinen nur bewusstlos zu sein«, rief Zanargun, der die übrigen Perlenschleifer flüchtig untersucht hatte. »Gut, dann machen wir uns jetzt an die Arbeit«, sagte Lethem.
11. Ich war mir nicht sicher, ob Peon Hoprald die Wahrheit gesagt hatte, doch wenn es so war, hatte ich zumindest einen Ansatz für die Erklärung der Spiegelphänomene. Im 20. Jahrhundert alter terranischer Zeitrechnung hatte jemand die Existenz von »morphogenetischen Feldern« postuliert. Dabei handelte es sich um einen nicht genauer lokalisierbaren Informationspool, so etwas wie einen kollektiven Wissensspeicher, in den neue Ideen einflossen, die dann wiederum allen Individuen zur Verfügung standen. Es erklärte, warum viele wissenschaftliche Entdeckungen häufig mehrmals gleichzeitig und unabhängig voneinander gemacht wurden. Die Skeptiker hatten natürlich eingewandt, dass solche parallelen Entdeckungen einfach darauf zurückzuführen waren, dass Forscher, die mit einem vergleichbaren Wissensstand am gleichen Problem arbeiteten, zwangsläufig auf die gleichen Ideen kommen mussten. Doch dann war die Theorie zu neuen Ehren gelangt, als wir während der Auseinandersetzungen um den Frostrubin von der Existenz der Kosmonukleotide erfahren hatten. Der »genetische Kode« des Universums nahm auf kosmische Entwicklungen in einer Weise Einfluss, die oft mit den morphogenetischen Feldern verglichen worden war. Das Besondere an der Obsidian-Kluft war die ungewöhnliche Häufung, mit der Ideen materialisierten, die irgendwo in der Luft zu liegen schienen. Schon die Existenz der fünf Spiegelwelten, die eine nahezu identische Geographie aufwiesen, deutete darauf hin, dass in dieser Sphäre außergewöhnliche Kräfte am Werk waren. Offenbar gab es hier
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einen Einfluss, der dafür sorgte, dass Dinge nach einem vorgegebenen Programm Gestalt annahmen, dass auf Vinara Drei eine Doppelgängerin von Li da Zoltral lebte, dass ein Luftschiffskonstrukteur die HINDENBURG mit einer Detailgenauigkeit nachbauen konnte, die sich nicht auf herkömmliche Weise erklären ließ. Es war wie in einer Welt, in der auf wundersame Weise Wünsche wahr wurden. Nur dass mir nicht klar war, wer sich hier etwas wünschen durfte. Hatte es mich vielleicht ins Innere eines Kosmonukleotids verschlagen? In ein Labor der Schöpfung, ein Miniaturuniversum, in dem ein kosmischer Zellkern Informationen sammelte und mit den Möglichkeiten der Existenz spielte? Wenn ja, war die Entstehung der Obsidian-Kluft nur eine Laune der Natur, oder erfüllte das Programm einen bestimmten Zweck? Es blieb ein Rätsel, und ich konnte nur hoffen, dass die Fahrt mit dem Luftschiff mich der Lösung näher brachte – und eines Tages in mein vertrautes Universum zurückzukehren ließ.
* Verdran war untergegangen. Die Straßen von Helmdor lagen im schwachen Schein der Petroleumlampen und des Kristallmondes, der von langsam dahintreibenden Obsidianbrocken umkreist wurde. Sechs Gestalten näherten sich der Stadtmauer, deren Tore wie in jeder Nacht verschlossen waren. Doch die Wächter ließen die Gruppe der Perlenschleifer anstandslos passieren. Sie störten sich auch nicht daran, dass ein Mitglied – eine junge Akonin in einem schlichten dunkelblauen Anzug – dem Orden nicht anzugehören schien. Es ging sie nichts an, zu welchem Zweck sie in den inneren Bereich der Stadt geführt wurde. Die Gruppe näherte sich ungehindert der Schwarzen Perle, die sich wie ein verfinsterter Riesenmond kaum vom sternenlosen Nachthimmel abhob. Sie überquerte den
Platz und trat schweigend den zwei Wachen entgegen, die vor der Tür standen. »Was wollt ihr?«, fragte einer der beiden Arkonidenabkömmlinge. Lethem zuckte leicht zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte gehofft, dass ihre Verkleidung genügte, um sich Zugang zur Schwarzen Perle zu verschaffen. Jetzt musste er improvisieren. »Esturin Virol hat uns beauftragt, diese Frau zum Verhör zu bringen«, sagte er und deutete auf Enaa von Amenonter. »Esturin hat das Gebäude vor ein paar Stunden verlassen, aber nichts von einem derartigen Auftrag erwähnt«, erwiderte der Wächter. »Habt ihr eine schriftliche Anweisung dabei?« Lethem fluchte stumm. Offenbar war es Perlenschleifern nicht gestattet, das Hauptquartier ohne ausdrückliche Erlaubnis eines Würdenträgers zu betreten. »Einen Moment …«, sagte Lethem und tat, als würde er in den Falten seines Gewandes nach etwas suchen. Dabei beugte er sich vor und warf Zanargun, der neben ihm stand, einen flüchtigen Blick zu. Der Luccianer reagierte sofort. Gleichzeitig stürzten sie sich auf die überraschten Wächter und schalteten sie mit gezielten Schlägen aus. Sie hatten nicht einmal die Gelegenheit gehabt, ihre Waffen einzusetzen. Lethem nahm seinem Gegner eine Armbrust ab, die er Enaa in die Hand drückte. Er sah, wie Zanargun etwas hervorzog. Der Gegenstand war an einer Kette befestigt, die in einer schweren Kugel endete. Lethem schaute sich um. Auf dem Platz war niemand zu sehen. Trotzdem mussten sie sich beeilen. Kythara machte sich an der Tür zu schaffen, die offenbar nur durch eine Art Riegel gesichert war. Sie drückte sie vorsichtig auf, warf einen Blick nach innen und winkte den anderen, ihr zu folgen. Sie traten in einen düsteren Gang, dessen Wände aus dem gleichen fugenlosen schwarzen Material wie das Äußere der Schwarzen Perle bestanden. Kythara ver-
Im Zeichen des Kristallmondes schloss die Tür, dann rückte die Gruppe behutsam weiter vor. Lethem hob den Arm und überprüfte sein Multifunktionsarmband. Es verfügte zwar nur über eingeschränkte Ortungsmöglichkeiten, zur Orientierung hätte es ihm dennoch wertvolle Dienste geleistet. Leider machte sich der störende Einfluss, der den Ausfall sämtlicher Geräte bewirkte, die auf hyperphysikalischer Basis arbeiteten, auch innerhalb der Schwarzen Perle bemerkbar. Also mussten sie sich auf ihre Augen und Ohren verlassen, um sich zurechtzufinden. Zum Glück verfügten sie inzwischen über eine eindrucksvolle Waffensammlung. In der abgelegenen Gasse hatten sie den Perlenschleifern nicht nur die Kutten, sondern viele weitere nützliche Dinge entwendet. Lethem hatte zwei unterarmlange Dolche in Lederscheiden mit aufklappbaren Klingen an sich genommen. Den gekauften Dolch hatte er Falk überlassen, der sich zusätzlich mit einem Schwert ausgerüstet hatte, und Kythara konnte sich jetzt mit einer ausfahrbaren Streitkeule verteidigen. Auch ihr Geldproblem war vorläufig gelöst, als sie in den Gewändern der Perlenschleifer mehrere Lederbeutel gefunden hatten, die prall mit Lithras gefüllt waren. Lethem hatte entschieden, jegliche Anwandlung eines schlechten Gewissens zu unterdrücken und die Angelegenheit als einen Akt ausgleichender Gerechtigkeit zu betrachten. Nach etwa zwanzig Metern stießen sie auf einen Quergang. Kythara, die wieder die Vorhut übernommen hatte, sah sich vorsichtig um. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass keine Gefahr drohte, winkte sie die anderen heran. Lethem blickte in einen Korridor, dessen Wände leicht gekrümmt waren, sodass er höchstens zehn Meter tief einsehbar war. Vermutlich führte er einmal im Kreis durch das gesamte Gebäude. Lethem und Zanargun hatten sich kaum in Bewegung gesetzt, als sie ein Geräusch hörten. Von links näherte sich jemand, hinter dem Bogen der Wand war er noch nicht zu sehen. Das Geräusch wurde lauter. Zweifel-
47 los handelte es sich um mehrere Wesen. Ihre schnellen Schritte ließen darauf schließen, dass ein Trupp Perlenschleifer genau auf sie zukam!
* Die Nacht verbrachte ich in einer der engen Passagierkabinen. Ich schlief unruhig, aber dank meines Zellaktivatorchips fühlte ich mich am nächsten Morgen einigermaßen erholt. Nachdem ich ein karges Frühstück im Bordrestaurant eingenommen hatte, stieg ich zur Führergondel hinunter. In den ersten Stunden waren wir gut vorangekommen, doch je weiter wir ins Landesinnere vordrangen, desto stärker wurde der Gegenwind. Kapitän Lelos schätzte, dass wir im Schnitt kaum mehr als fünfzig Kilometer pro Stunde zurücklegen würden. Also vertrieb ich mir die Zeit damit, den Rest des Luftschiffs zu erkunden, wobei ich mir alle Mühe gab, Tamiljon aus dem Weg zu gehen. Während es Peon darauf anzulegen schien, mir aus dem Weg zu gehen. Nachdem ich alles gesehen hatte, ließ ich es mir nicht nehmen, eines der vier Propellertriebwerke zu inspizieren. Die stromlinienförmigen Motoren waren außerhalb der Hülle angebracht und ließen sich über eine waghalsige Leiterkonstruktion erreichen. Von dort aus konnte ich durch das Gehäuse nach vorn kriechen, wo ich auf einen Mechaniker des Ordens stieß. Er warf mir einen überraschten Blick zu, widmete sich kurz darauf jedoch wieder seiner Arbeit. Ich schob mich weiter vor, bis ich genauso wie der Mann mit dem Oberkörper im Freien hing. Während mir der Fahrtwind und der Motorenlärm in den Ohren heulten, beobachtete ich, wie unter uns niedrige Wolken vorbeizogen. Hätte ich den Arm ausgestreckt, wäre mir die Hand von den Propellern zerrissen worden. Es war ein unbeschreibliches Fluggefühl – auch wenn mein Logiksektor mich wiederholt darauf hinwies, dass ein Zeppelin nicht flog, sondern fuhr. Ich berauschte mich ge-
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radezu am hautnahen Kontakt mit der Technik. Das war etwas ganz anderes, als mit einem Raumschiff unterwegs zu sein. Nach höchstens einer Minute hielt ich es nicht länger im Freien aus. Ich war bis auf die Knochen durchgefroren, und meine Ohren waren fast völlig taub.
* Kythara, die bereits ein Stück weiter in den gekrümmten Korridor vorgedrungen war, gab den anderen durch hektische Handzeichen zu verstehen, dass sie ihr folgen sollten. Lethem überlegte kurz, ob es nicht klüger wäre, sich wieder in den Gang zurückzuziehen, durch den sie gekommen waren. Wenn sie den Perlenschleifern vorausliefen, war die Gefahr viel größer, von ihnen eingeholt zu werden. Andererseits würden die Verfolger sie sofort entdecken, sobald sie einen flüchtigen Blick in den anderen Korridor warfen, der in gerader Linie bis zur Außentür führte und keine Versteckmöglichkeiten bot. Lethem hoffte, dass Kythara wusste, was sie tat, und lief ihr nach, so schnell er konnte. Dann sah er, was die Varganin entdeckt hatte. Ein kurzes Stück weiter befand sich eine Tür auf der konvex gekrümmten Seite des Gangs. Sie stand offen. Hastig stürmte die sechsköpfige Gruppe hindurch, während Kythara an der Tür wartete. Sie würde die Tür schließen, sobald der Letzte eingetreten war. Als Lethem sich im Raum umsah, stellte er fest, dass sie nicht allein waren.
* Am Nachmittag des folgenden Tages spürte ich, dass die Besatzungsmitglieder allmählich aus ihrer Trance erwachten und sich Unruhe ausbreitete. Ich stieg zur Führergondel hinunter, wo nicht mehr die Routine des Vortages herrschte. Schweigend trat ich neben Tamil-
jon, der durch die vorderen Sichtfenster in die Ferne starrte. »Wir haben unser vorläufiges Ziel erreicht«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Das ist Malenke, das Tempelzentrum des Litrak-Ordens.« Ich folgte seinem Blick. Genau vor uns lag im orangeroten Licht von Verdran eine Stadt. Aber ihre Architektur war nicht mit Aroc zu vergleichen. Überall funkelte und glitzerte es, als würden wir uns einer aus Eis geformten Skulptur nähern. Die Gebäude strebten in die Höhe, gekrönt von spitz zulaufenden Türmchen und Zwiebelkuppeln. Alles machte den Eindruck, als würde es aus Glas oder einem anderen durchsichtigen Material bestehen. Die eigentliche Stadt, die einen Durchmesser von schätzungsweise zwei Kilometern hatte, war von einem Ringwall umgeben, dessen Wachtürme ebenfalls im Sonnenlicht funkelten. Undeutlich erkannte ich zahlreiche Tore, durch die man von außen in den Tempelbereich gelangte. Erst jetzt sah ich, woher die ameisengleichen Scharen kamen, die sich durch die Tore drängten. Außerhalb des Ringwalls breitete sich ein Lager aus Zelten und anderen provisorischen Unterkünften aus. Es wirkte wie eine Belagerungsarmee, obwohl nirgendwo Anzeichen eines Kampfes zu erkennen waren. Ein andere Erklärung war, dass sich hier ein Heer aus Pilgern an einem heiligen Wallfahrtsort versammelt hatte. Als die LITRAK abdrehte und an den südlichen Ausläufern der Zeltstadt vorbeizog, sah ich, dass immer mehr der mutmaßlichen Wallfahrer auf uns aufmerksam wurden und nach oben zeigten. In dieser Region schien ein Luftschiff kein alltäglicher Anblick zu sein. Nachdem Lelos auf einen neuen Kurs gegangen war, flogen wir auf eine Metallkonstruktion zu, ein turmartiges Gerüst mit seitlichen Auslegern. Mein fotografisches Gedächtnis bestätigte mir, dass es eine genaue Nachbildung der Ankermasten war, wie man sie in der terranischen Ära der Luftschiff-
Im Zeichen des Kristallmondes fahrt errichtet hatte. Immer wieder ließ der Kapitän und Großmeister Wasserstoff ab, sodass die LITRAK spürbar an Höhe verlor. Am Boden verteilten sich kleine Gestalten. Sie folgten der Bewegung des Fahrzeugs. Als wir noch etwas tiefer gesunken waren, griffen sie nach den Leinen, die überall von der Hülle hingen. Ich erinnerte mich, dass ein Luftschiff praktisch kein Gewicht hatte und deshalb von einer Hand voll Helfer buchstäblich »eingefangen« werden konnte. Theoretisch hätte ein Mann es in jede beliebige Richtung ziehen können, sobald er es geschafft hätte, den Luftwiderstand zu überwinden … Ich wurde aus meinen Überlegungen gerissen, als ein leichter Ruck durch die LITRAK ging. Zuerst dachte ich, dass die Bodenmannschaft die Fahrt des Zeppelins gestoppt hatte. Doch dann sah ich, wie sich Lelos Enhamor zu seinen Leuten umdrehte. »Was war das?« Der Tonfall seiner Frage verriet mir, dass etwas nicht in Ordnung war. Im nächsten Moment fiel ein heller Lichtschein auf den Ankermast. Ich fuhr herum. War Verdran plötzlich hinter einer Wolke aufgetaucht? Nein, es war kein Sonnenlicht. Schlagartig wurde mir klar, was geschah. Im gleichen Moment hörte ich einen Ruf von einem Ordensbruder, der sich aus einem Fenster der Gondel gebeugt hatte. »Das Schiff brennt!« Ich erstarrte, während ich spürte, wie sich der Boden unter meinen Füßen nach vorn neigte. Lakehurst 1937!, gellte der Ruf des Extrasinns durch meinen gelähmten Geist.
* Der Raum in der Schwarzen Perle war wie ein schlichtes Büro eingerichtet. An den Wänden standen Regale und Tische, und an einem davon saß ein humanoider Perlenschleifer, der überrascht von seiner Arbeit aufgesprungen war, als Lethem und die anderen hereingestürmt waren.
49 Er schien unbewaffnet und alles andere als ein Kämpfer zu sein. Zweifellos würde er im nächsten Moment einen lauten Warnschrei ausstoßen. Wenn das geschah, würden die anderen Perlenschleifer wissen, wo wir uns aufhielten. Für Lethem stand fest, dass er keine Rücksicht nehmen durfte. Er zückte einen seiner langen Dolche und rammte ihn tief in die Kehle des Perlenschleifers – eine Maßnahme, die den Schrei bereits im Keim erstickte. Kythara hatte inzwischen die Tür geschlossen und wartete reglos ab. Die trampelnden Schritte im Korridor wurden immer lauter. Plötzlich hörte Lethem hinter sich ein lautes Poltern. Erschrocken fuhr er herum. Der Perlenschleifer mit der aufgeschlitzten Kehle war rückwärts gegen ein Regal gestoßen. Offenbar hatte sich der Todgeweihte noch für einen Moment auf den Beinen halten können, dann war er leblos zusammengebrochen – und hatte dabei mehrere Regalbretter und Akten mitgerissen. Hoffentlich hatten ihre mutmaßlichen Verfolger nichts gehört. Lethem war sich nicht ganz sicher, ob er ein kurzes Stocken der Schritte bemerkt hatte. Vielleicht war es auch nur ein Zufall … Jedenfalls schienen sich die Perlenschleifer nicht weiter irritieren zu lassen, denn es war deutlich zu hören, wie sie weiterliefen und sich wieder entfernten. »Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen«, murmelte Falk. »Warum hast du die Anwesenheit des Perlenschleifers nicht gespürt?«, wollte Lethem von Kythara wissen. Er drehte sich zu dem Toten um. »Tut mir Leid«, gab sie flüsternd zurück. »Ich hatte meine Sinne ganz auf die Horde da draußen konzentriert. Was schon schwierig genug war. Dieses Gebäude scheint meine Fähigkeiten irgendwie zu dämpfen. Ich empfange nur dann etwas, wenn ich gezielt Ausschau danach halte.« »Das sollte kein Vorwurf sein«, brummte Lethem.
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Bernhard Kempen
Sie warteten noch ein paar Minuten, dann übernahm Kythara wieder die Rolle der Kundschafterin und spähte vorsichtig auf den Gang hinaus, der nur von einem matt glimmenden Leuchtstreifen an der Decke erhellt wurde. Kurz darauf rückte die Gruppe mit leisen Schritten weiter vor. Nach mehreren Metern näherten sie sich einer weiteren Gangkreuzung. Da dieser Korridor in sehr flachem Winkel abzweigte, konnten sie ihn in ganzer Länge einsehen und sich davon überzeugen, dass er leer war. Kurz vor der Kreuzung blieb Kythara plötzlich stehen, als hätte sie etwas Ungewöhnliches bemerkt. Sie schien die anderen warnen zu wollen. Doch bevor sie dazu kam, stürmte ein Trupp Perlenschleifer in den Korridor. Lethem fluchte und zog seine zwei Dolche aus den Lederscheiden. Offenbar hatten die Verfolger doch etwas gehört, sich aber nichts anmerken lassen, sondern beschlossen, ihnen eine Falle zu stellen. Ein weiterer Akt ausgleichender Gerechtigkeit? Nach dem Überfall in der dunklen Gasse … Lethem erkannte fünf Blues, die mit kurzen Hellebarden zum Angriff übergingen. Sie waren aus einem zweiten Korridor gekommen, der im rechten Winkel auf den anderen stieß. Keine schlechte Wahl für einen Hin-
terhalt, musste Lethem widerwillig zugeben, denn der zweite Gang war vom Ringkorridor aus nicht auf den ersten Blick zu sehen. Die Perlenschleifer stürmten mitten in ihre Gruppe. Sie hatten keine Zeit, eine wirksame Verteidigungsformation einzunehmen. Lethem stand im Rücken der anderen, sodass er als Einziger keinen unmittelbaren Gegner hatte. Hektisch sah er sich um und versuchte zu entscheiden, an welcher Stelle er in den Kampf eingreifen sollte. Kythara holte mit der Streitkeule aus, Ondaix schwang die Doppelaxt, und Zanargun ließ den Morgenstern kreisen. Um die drei Kämpfernaturen machte er sich keine Sorgen. Als neben ihm Falk zu Boden ging, setzte er sich in Bewegung, um dem Terraner zu helfen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er das Funkeln einer langen Metallklinge. Lethem da Vokoban fuhr herum und sah, wie sich die Schneide unaufhaltsam dem schlanken Hals Enaas näherte. Wenn die Akonin nicht innerhalb der nächsten Sekundenbruchteile zurückwich, würde sie den tödlichen Hieb zu spüren bekommen. »Enaa!«, schrie Lethem und stürmte los …
ENDE
Lethem da Vokoban und seine Begleiter geraten bei der Erkundung der »Schwarzen Perle« in einen Hinterhalt und müssen sich dem Angriff der Perlenschleifer stellen. Zur gleichen Zeit befindet sich Atlan auf Vinara Drei in höchster Not. Der Arkonide ist in Begleitung Tamiljons und von Vertretern des Litrak-Ordens unterwegs zur CasoreenGletscherregion. Als eine Explosion das Luftschiff erschüttert, droht die LITRAK abzustürzen. Hans Kneifel berichtet in seinem Folgeband DIE EISGRUFT von den weiteren Geschehnissen. Band sechs dieser zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.