Katja Hericks Entkoppelt und institutionalisiert
Katja Hericks
Entkoppelt und institutionalisiert Gleichstellungspol...
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Katja Hericks Entkoppelt und institutionalisiert
Katja Hericks
Entkoppelt und institutionalisiert Gleichstellungspolitik in einem deutschen Konzern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18001-4
Inhalt
5
Inhalt
1
Einleitung ......................................................................................................... 9
2
Institutionalisierung und Entkopplung ...................................................... 15 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9
3
Geschlecht und Gleichstellung ..................................................................... 55 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7
4
Institution – eine Annäherung ................................................................... 15 Institutionalisierungen als ‚Allzumenschliches’ ....................................... 17 Institutionalisierungen als Möglichkeit von Gesellschaft ........................ 21 Legitimierungen ........................................................................................ 26 Institutionalisierungen und Institutionen – Begriffsabgrenzung .............. 31 Rationalität als institutionalisiertes Leitbild von Organisationen ............ 35 Entkopplungen als strategische Reaktionen ............................................. 41 Rechtfertigung und Heuchelei................................................................... 47 Diffusion von Leitbildern und Übersetzungen ......................................... 51
Einleitung ................................................................................................... 55 Institutionalisierte Zweigeschlechtlichkeit ............................................... 56 Ungleichheit, Gleichheitsnorm und Gleichstellungsnorm ....................... 60 Organisation und Geschlecht .................................................................... 62 Frauenpolitik und Frauenförderung .......................................................... 68 Modi und Moden der Gleichstellungspolitik ............................................ 71 Diversity Management und Rationalitätsmythen ..................................... 74
Forschungsdesign .......................................................................................... 79 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Präzisierung der Fragestellung vor dem theoretischen Hintergrund ........ 79 Forschungsfeld........................................................................................... 82 Ethnographie als Erforschung des fremden Bekannten............................ 83 Datenerhebung ........................................................................................... 86 Auswertung ................................................................................................ 89
6
Inhalt
5
„Förderung der Chancengleichheit“ – Über die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Gleichberechtigung und Ökonomie .......... 91 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9
6
„Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…’?“ – Eine Chronologie von Gleichheit und Unterscheidungen im Gleichstellungsansatz ......... 133 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9
7
„Die Unternehmen brauchen das Potenzial“ ............................................ 91 „der zunehmende Wunsch von Frauen berufstätig zu sein“..................... 97 „InformationsPlattform“.......................................................................... 102 „Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe“ .................................. 107 „das liegt natürlich an meiner Frau“ ....................................................... 114 „war das bei vielen Unternehmen schon im Kopf“ ................................ 118 „was wir tun, das tun wir zunächst einmal für uns selbst“ ..................... 122 „ein Konzern und ein Kindergarten, wie passt das zusammen?“........... 127 Organisation, Geschlecht und Gleichstellungspolitik ............................ 131
„Im Anzug oder im Kostüm“ .................................................................. 133 „eine Frage der Persönlichkeit“............................................................... 136 „Typisch Mann? Typisch Frau?“ ............................................................ 141 „Zusammenarbeit von Frauen und Männern“ ........................................ 144 „bei uns ist es nicht das Thema Chancengleichheit, bei uns ist es das Thema Diversity“ .................................................................................... 146 „Frauen und Männer mit ihren Stärken und Schwächen“ ...................... 148 „Ist Diversity also ein Luxus?“ ............................................................... 153 Organisation, Geschlecht und Gleichstellungspolitik ............................ 157 „Da erwischen Sie mich aufm falschen Fuß“ ......................................... 159
„Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“ – Egalitätsnorm versus Gleichstellungsnorm im Arbeitsalltag ................ 165 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8
„Hier im UBZ“ ........................................................................................ 165 „sich diesem Grundsatz auch unterwerfen und den auch aktiv leben“ .. 170 „Jetzt seien Sie mal tapfer!“ .................................................................... 174 „aber wir wehren uns tapfer“ – „und verlieren tapfer“ ........................... 181 „Das hätte kein Mann verstanden“.......................................................... 187 „Wir Männer gucken gar nicht auf die Beine!“ ...................................... 190 „Lieber einen guten Freund verlieren, als einen guten Witz!“ ............... 192 „ein klares Commitment“ – Chancengleichheit und Gleichstellung...... 195
Inhalt
8
7
„Mit einem durchaus heiklen Thema“ – Ein (legitimer) Umgang mit Sexualität............................................................................................... 201 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8
9
„Da sind wir auch ein bisschen Gutmensch“ – Gleichstellung für wen und wohin? .......................................................................................... 229 9.1 9.2 9.3 9.4
10
„Zeit ist unser Leben“ – Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort ........ 229 „da sind wir auch ganz gut unterwegs“ – Angebote für Eltern .............. 235 „Begleitung für den Weg aufwärts“ – Mentoring................................... 238 Gleichstellungspolitik, Frauenförderung und Familienfreundlichkeit ... 242
„Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“ – Bedeutung(en) des Frauennetzwerks......................................................................................... 245 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8
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„Existiert sexuelle Belästigung überhaupt?“ .......................................... 201 „Mobbing ist Terror“ ............................................................................... 204 „Unvereinbar mit unserer Unternehmenskultur“ .................................... 209 „Du, belästige mal meine Mitarbeiterin nicht…“ ................................... 213 „Das hat mir meine Frau schon lange nicht mehr gesagt“ ..................... 218 „Missbräuchliche Nutzung von Internet“ und „Schweinkram“ ............. 221 „Es ist für sie kein Mobbing, es war ein witziger Spruch“..................... 224 „Soll ich rausgehen?“ – Sexualität und Organisation ............................. 227
„Unsere Frauenaktivitäten“ ..................................................................... 245 „Für die Profit-AG das Bestmögliche erreichen“ ................................... 247 „Vertretung in Anführungszeichen“ ....................................................... 250 „An den harten Zielen arbeiten“ ............................................................. 255 „Aktiv fördern und fordern“.................................................................... 261 „Eine intelligente Verzahnung“ .............................................................. 263 „Was auch so die Stellung der Frau (...) fördern soll“ ............................ 267 Organisation, Geschlecht, Gleichstellungspolitik................................... 272
Schluss: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige ............ 273 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5
Institutionalisierung und Legitimierung der Gleichstellungspolitik ...... 274 Organisation, Geschlecht und Gleichstellung......................................... 280 Entkopplungen ......................................................................................... 287 Funktionen der Entkopplungen ............................................................... 291 Funktionen der entkoppelten Elemente .................................................. 295
Literatur ................................................................................................................ 305
8
Inhalt
„Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige.“ Karl Kraus
1. Einleitung
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1 Einleitung
1902 schreibt Georg Simmel, dass es sich in einigen britischen Fabriken „wie von selbst“ ergeben habe, dass Frauen „die ihren Körperkräften und ihrer Geschicklichkeit adäquaten Funktionen für sich gleichsam monopolisiert haben, den Männern die ihren Kräften zusagenden überlassend“ (ebd.: 164). Was Simmel hier (noch) recht unberührt von der Frage einer Gleichheit der Geschlechter so positiv bewertet, wird seit einigen Jahrzehnten als geschlechterdifferenzierende Segregation im Erwerbsbereich untersucht. Dabei geraten, wie schon in Simmels Beispiel, insbesondere Organisationen in den Blick: Auch Männer und Frauen mit den gleichen Berufen und Qualifikationen verteilen sich hier unterschiedlich auf Tätigkeitsbereiche, karriereträchtige Funktionen und Positionen (vgl. u.a. Achatz/Fuchs 2002; Allmendinger/Hintz 2007; Festing/Hansmeyer 2003). Dieser Befund ist die Ausgangssituation einer intensiven Forschung zur Frage, wie Geschlecht in Organisationen alltäglich bedeutsam gemacht wird (Acker 1990; Gherardi 1995; Kanter 1977; Krais 2000; Ridgeway 2001; Wilz 2002; Yoder 1991 u.v.m.). Aus den Forschungen und Diskussionen entstandene Gedanken und Begriffe, wie die Rede von der ‚gläsernen Decke’, haben auch Spuren in Politik, Wirtschaftsorganisationen und Medien hinterlassen. Vertikale Segregation als selbstverständliche Gegebenheit hinzunehmen, Frauen qua Geschlecht die Befähigung zu bestimmten Berufen abzusprechen und noch wie Simmel (1902) davon auszugehen, dass sich Lohnunterschiede über die „niedrigere und billigere Lebenshaltung“ von Frauen erklären ließen, und es gelte Wege zu suchen, wie „die Konkurrenz mit den Männern (...) abgelenkt werden“ könne (ebd.: 163), ist heutzutage nicht mehr opportun. Soziale Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern, die mit und aus der Segregation im Erwerbsbereich bestehen, gelten vielmehr „als ein gesamtgesellschaftliches Problem, für dessen Lösung der Staat zuständig ist“ (Heintz et al. 2001: 399). Vor diesem Hintergrund besteht der Handlungsauftrag staatlicher Politik, auf die „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung“ (Art. 3, Abs. 2, GG) hinzuwirken, d.h. aktiv Gleichstellung zwischen Männern und Frauen anzustreben (vgl. Gildemeister/Robert 2003). In Organisationen des öffentlichen Dienstes wurden zu diesem Zweck Stellen der Frauenbeauftragten und später Gleichstellungsbeauftragten geschaffen und mittlerweile Gender Mainstreaming eingeführt. Aber auch in der Privatwirtschaft, für die keine gesetzlichen Vorgaben bestehen, wird Gleichstellung zunehmend als aktiv zu leistende Aufgabe K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1. Einleitung
organisationaler Politik verstanden. Seit Ende der 1980er Jahre entwickeln daher immer mehr Unternehmen Gleichstellungsprogramme, entstehen und verbreiten sich Modelle und Moden organisationaler Gleichstellungspolitik und werden in privatwirtschaftlichen Organisationen den Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten des öffentlichen Dienstes analoge Funktionsstellen eingerichtet. Die Entwicklung, die organisationale Gleichstellungspolitik seit gut zwei Jahrzehnten nimmt, wird in der Geschlechterforschung nicht unkritisch gesehen. Zum einen wird auf die Unzulänglichkeit der Gleichstellungsprogramme hingewiesen, da sie bisher nur wenig – wenn auch immerhin etwas (vgl. Achatz et al. 2000) – auf eine Gleichstellung von Frauen und Männern hinwirken. Es wird aus der Geschlechterforschung heraus bemängelt, dass Knackpunkte wie Frauen benachteiligende Entlohnungen, Rekrutierungsprozesse oder Sozialpläne zum Stellenabbau selten in organisationaler Gleichstellungspolitik berücksichtigt werden, weswegen immer wieder kritisiert wird, dass „eine an sozialer Gerechtigkeit orientierte Personalpolitik (...) kein Charakteristikum privatwirtschaftlicher Frauenförderpolitik in der Bundesrepublik [war und ist]“ (Bednarz-Braun 2000: 155; vgl. auch Riegraf 1997; Meuser 2004; 2009; Wetterer 2003; 2005). Zum anderen wird auf ein Dilemma hingewiesen, mit dem Gleichstellungspolitik konfrontiert ist: Sie muss einerseits an empirischen Geschlechterungleichheiten und damit an der in die alltägliche Praxis eingelassenen Unterscheidung zwischen Männern und Frauen ansetzen. Andererseits muss sie das, was sie immer schon voraussetzt – die empirische Differenzierung nach Geschlecht – hinterfragen, um nicht die Geschlechterdifferenzierungen (nur) zu reproduzieren und zu verfestigen. Sie muss darauf hinwirken, die Kategorie Geschlecht bedeutungslos zu machen und damit letztlich darauf abzielen, ihren Gegenstand zu verlieren (vgl. Gildemeister/Robert 2003; Knapp 2008; Meuser 2004; Wetterer 2003). Dabei steht Gleichstellungspolitik nicht nur in Opposition zu bestehenden Geschlechter- und Machtverhältnissen in Organisationen, sondern auch zu einer normativen Geschlechtsneutralität, die für Interaktionen in Organisationen und die Organisation von Organisationen geltend gemacht wird. Gleichstellungspolitik haftet damit der Makel an, dem meritokratischen Prinzip in vermeintlich rationalen Organisationen zu widersprechen. Dies verstärkt das Dilemma gleichzeitig vorab gesetzter Bedeutsamkeit von empirischer Geschlechtszugehörigkeit und des Anspruchs, diese in den Hintergrund treten zu lassen: Da Ungleichheit zwischen Männern und Frauen aufgrund der Normativität von Meritokratie und Rationalität nicht durch Organisationen entstehen darf, werden ungleiche Positionierungen und Tätigkeiten im Ergebnis umso mehr (vergeschlechtlichten) Personen zugeschrieben (vgl. Gildemeister/Robert 2008; Nentwich 2004; Wilz 2002; 2007). Die Rede von normativen Konzepten der Geschlechtsneutralität, Meritokratie und Rationalität erfolgt in der vorliegenden Arbeit in Orientierung an organisati-
1. Einleitung
11
onssoziologischen Perspektiven, welche die nach wie vor weit verbreitete Annahme, Organisationen seien effiziente, zweckgerichtete und rational strukturierte Instrumente, nicht nur infrage gestellt, sondern dieser Annahme selber ein Platz im Organisieren von Organisationen zuzuweisen: als institutionalisierte Erwartung an Organisationen (vgl. Brunsson 1989; 1993; DiMaggio/Powell 1983; Meyer/Rowan 1977; Ortmann 2004; Ortmann/Sydow/Türk 1997; Scott 2008a). Die vorliegende Arbeit nutzt das in der Forschung zu Organisation und Geschlecht bisher wenig beachtete Potential dieser Sichtweise, um herauszuarbeiten, wie das Gleichstellungspostulat in einer privatwirtschaftlichen Organisation Bedeutung entfaltet. Bei der untersuchten Organisation handelt es sich um einen deutschen Konzern, der hierzulande zu den ersten Unternehmen gehörte, die Gleichstellungspolitik implementierten. Mittels der Anlage als ethnographische Einzelfallstudie werden verschiedene Ebenen in den Blick genommen. Es wird sowohl die organisationale Gleichstellungspolitik, mittels derer ein Anspruch auf aktive Gleichstellung in der Organisation formale Geltung erhält, analysiert, als auch der Frage nachgegangen, welchen Gehalt und welchen Stellenwert Gleichstellung im Arbeitsalltag in der Organisation erhält, sowie untersucht, in welchem Verhältnis organisationale Gleichstellungspolitik und Arbeitsalltag zueinander stehen. Zu Beginn der Forschung stellten sich viele Fragen, doch eine These, die die Forschung leitete und aus der die Forschungsfrage gerann, schien aufgrund des Forschungsstandes klar zu sein: Auf der einen Seite wurde davon ausgegangen, dass organisationale Gleichstellungspolitik darauf abzielt, Gleichberechtigung herzustellen (wofür Chancengleichheit synonym erschien). Auf der anderen Seite wurde angenommen, dass in die alltägliche Praxis in Organisationen hierarchische Geschlechterdifferenzierungen systematisch eingelassen sind, die der Geschlechtergleichheit widersprechen. Aufgrund dieser Vorannahmen wurde als Ausgangssituation erwartet, dass zwischen der Orientierung auf Gleichheit in organisationaler Gleichstellungspolitik und der Praxis im Arbeitsalltag Brüche bestehen und beobachtbar sein müssten. Im Verlaufe der Analysen zeigte sich diese These als wesentlich zu schlicht. Stattdessen rückte zum Einen eine Frage, die vorab beantwortet schien, ins Zentrum der Forschung: Was wird als Ziel von Gleichstellungspolitik angestrebt? Zum Zweiten zeigte sich, dass die Scheidelinie zwischen einem Gleichheitsgrundsatz auf organisationaler und Geschlechterdifferenzierungen auf interaktionaler Ebene wesentlich zu kurz griff. Erwartungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen ließen sich nicht einfach nach Ebenen differenzieren und Brüche fanden nicht einfach nur zwischen den Ebenen statt. Vielmehr gerieten im Verlauf der Analysen auch Widersprüche innerhalb von Ebenen in den Blick und nicht minder auch Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Ebenen. Aus der ersten These war die forschungsleitende Fragestellung hergeleitet worden: Wie wird im Arbeitsalltag Gleichstellungspolitik umgesetzt oder ihre Umsetzung vermieden?
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1. Einleitung
Mit der Revision der These verschob sich auch die Fragestellung. Sie richtet sich nun darauf, wie auf unterschiedlichen Ebenen widersprüchlichen Anforderungen, Normen und Auffassungen begegnet wird. Wie werden ‚Gleichstellung’ oder ‚Chancengleichheit’ verstanden? Inwiefern werden sie als vereinbar mit verschiedenen Wahrnehmungen von und Umgangsweisen mit normativen Erwartungen erachtet, und wie werden sie in diese integriert oder von diesen gelöst? Dies mündet nicht zuletzt auch in die Frage, welche (neuen und bekannten) Dilemmata sich daraus für Gleichstellungspolitik ergeben und wie mit diesen umgegangen wird. Das dieser Arbeit vorangestellte Zitat des österreichischen Satirikers Karl Kraus bringt ironisierend zum Ausdruck, wie mit Dilemmata, mit widersprüchlichen Anforderungen, mit diffusen Signalen und mit ungewissen Rahmenbedingungen zu verfahren sei: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige. Häufig ist es recht mühelos, den richtigen Weg einzuschlagen, weil der Großteil an Zweifelsfällen, die sich im Leben eines Individuums, in Interaktionen und für/in Organisationen ergeben könnten, über Institutionen sozial eingefangen wird: Der richtige Weg wird vorgezeichnet, denn ‚richtig’ und ‚falsch’ werden durch institutionalisierte Vorgaben definiert, Verhaltensweisen werden dahingehend kanalisiert und Organisationen entsprechend strukturiert. Damit ist die Unübersichtlichkeit jedoch nur teilweise eingefangen. Verschiedene Möglichkeiten können aus verschiedenen Perspektiven heraus den Anspruch erheben, das Richtige zu sein. Dadurch können Zweifelsfälle regelrecht zu Fallen werden, denn dann birgt jeder Weg, den man einschlägt, die Gefahr aus der einen oder der anderen Perspektive als der falsche angesehen zu werden. Das kann dann nicht nur Zweifel an der Richtigkeit der Wahl, sondern auch an den EntscheidungsträgerInnen und der Organisation hervorrufen. An dieser Stelle setzen Thesen im Neo-Institutionalismus an, die (mehr oder weniger strategische) Umgangsweisen mit Dilemmata, divergierenden Ansprüchen und unsicherem Terrain konzeptualisieren (vgl. Brunsson 1989; 1993; Campbell 2004; Meyer/Rowan 1977; Oliver 1991). Die beiden Forschungsrichtungen, die in dieser Arbeit zusammen gebracht werden – eine konstruktionstheoretisch ausgerichtete Geschlechterforschung und neoinstitutionalistische Ansätze in der Organisationssoziologie – basieren auf der Theorie sozialer Konstruktion von Wirklichkeit nach Berger und Luckmann (1969). Diese bildet die theoretische Grundlage der vorliegenden Studie, wobei die Prozesse der Institutionalisierung und Legitimierung von Institutionen, die im folgenden Kapitel dargestellt werden, im Zentrum stehen werden. Darauf werden die hier relevanten Thesen des Neo-Institutionalismus aufgebaut und bisherige neo-institutionalistisch orientierte Konzeptionalisierungen von Umgangsweisen in/durch Organisationen mit an sie gestellten Ansprüchen erörtert (vgl. Kap. 2 Institutionalisierung und Entkopplung). In Kapitel 3 werden der hier verwendete konstruktionstheoretische Ansatz der Geschlechterforschung ausgeführt und der
1. Einleitung
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Forschungsstand zu Organisation und Geschlecht mit Blick auf die vorliegende Fragestellung dargestellt (vgl. Kap. 3 Geschlecht und Gleichstellung). Anschließend wird die Fragestellung anhand der Theorien und des Forschungsstandes präzisiert, das Forschungsfeld vorgestellt, sowie das Forschungsdesign erläutert (vgl. Kap. 4 Forschungsdesign). „Förderung der Chancengleichheit“ lautet das erklärte Ziel der Vereinbarung von 2001 zwischen Bundesregierung und Wirtschaftsverbänden. Kapitel 5 setzt an dieser politischen Rahmung organisationaler Gleichstellungspolitik an und befasst sich damit, wie Zusammenhänge zwischen Gleichberechtigung und Ökonomie auf dieser Ebene hergestellt werden. Es wird untersucht, welche Erwartung hier an privatwirtschaftliche Gleichstellungspolitik besteht, wie sich dies in der Umwelt niederschlägt und inwiefern dieser Anspruch in der Außendarstellung und bei RepräsentantInnen der Organisation aufgenommen wird. Nicht zuletzt wird wie auch in den folgenden Kapiteln herausgearbeitet, welche Funktion Gleichstellungspolitik hier erfüllt (vgl. Kap. 5 „Förderung der Chancengleichheit“ – Über die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Gleichberechtigung und Ökonomie). Mit der Frage „Die Zukunft des Konzerns – nach Schema F…?“ betitelte das untersuchte Unternehmen das erste betriebsinterne Symposion zur Gleichstellung von Männern und Frauen, das 1991 stattfand. Diese Frage wird in Kapitel 6 an die Entwicklung der organisationalen Gleichstellungspolitik herangetragen. Es wird untersucht, welche Vorstellungen von Gleichstellung, Geschlecht und der Rolle der Organisation in Hinsicht auf Gleichstellung sich in der Entwicklung und Kommunikation organisationaler Gleichstellungspolitik zeigen (vgl. Kap. 6 „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…’?“ – Eine Chronologie von Gleichheit und Unterscheidungen im Gleichstellungsansatz). „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier ganz schön weit“, erklärte der Leiter des Unternehmensbereichs, in dem die teilnehmende Beobachtung stattfand, mit Blick auf organisationale Gleichstellungsbestrebungen. Kapitel 7 analysiert Wahrnehmung, Verständnis und Stellenwert von Chancengleichheit und Gleichstellung im Arbeitsalltag, sowie den Umgang mit diesen normativen Konzepten: Dabei wird gezeigt, welche besonderen Funktionen Scherzen, der Forschung und höflichen Umgangsformen zukommen. Vice versa wird herausgearbeitet, welche Funktionen Gleichheit und Differenz, Gleichstellung und Chancengleichheit für den Arbeitsalltag erfüllen (vgl. Kap. 7 „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“ – Egalitätsnorm versus Gleichstellungsnorm im Arbeitsalltag). „Mit einem durchaus heiklen Thema“ ist Zweigeschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft stets verbunden: Sexualität. Die Trias von Sexualität, Geschlecht und Organisation zeigt sich insbesondere hinsichtlich sexueller Belästigung. In Kapitel 8 wird zunächst erörtert, wie dieses Thema in der organisationalen Gleichstellungspolitik gehandhabt wird. Anschließend wird der Umgang mit sexueller Beläs-
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1. Einleitung
tigung im Arbeitsalltag untersucht. Dabei werden Übereinstimmungen und Brüche zwischen der Betriebsvereinbarung zu sexueller Belästigung, Mobbing und Diskriminierung und dem Arbeitsalltag analysiert (vgl. Kap. 8 „Mit einem durchaus heiklem Thema“ – ein (legitimer) Umgang mit Sexualität). Zur betriebseigenen Kindertagesstätte erklärte der Vorstandssprecher: „Da sind wir auch ein bisschen Gutmensch“. Kapitel 9 stellt diese und weitere gleichstellungspolitische Maßnahmen für Eltern, zur Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort und das Programm Cross-Mentoring vor. Diese Elemente der Gleichstellungspolitik werden zum Einen daraufhin untersucht, wie Gleichstellungspolitik hier inhaltlich gefüllt wird und inwiefern dabei stereotype Vorstellungen über zwei grundsätzlich verschiedene Geschlechter reproduziert werden. Zum Anderen wird analysiert, welche Bedeutung Gleichstellungsmaßnahmen in der organisationalen Wirklichkeit erhalten, inwiefern ihre Inhalte sich im Arbeitsalltag spiegeln und welche Erwartungen hier mit Gleichstellungspolitik bedient werden (vgl. Kap. 9 „Da sind wir auch ein bisschen Gutmensch“ – Gleichstellung für wen und wohin?). „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking?“ fragte der Schirmherr des organisationalen Frauennetzwerks im Interview. Kapitel 10 schließt an diese Frage an und stellt sie nun mit Blick auf die Forschungsfrage: Welche Bedeutung(en) werden Frauennetzwerken zugeschrieben? Das heißt zum Einen, die Frage danach zu stellen, welche Funktionen das Frauennetzwerk der Branche erstens für die darin organisierten Frauen, zweitens für Gleichstellung(spolitik) und drittens für Organisationen erfüllt. Zum Anderen wird aufgezeigt, welcher Stellenwert Frauennetzwerken für Gleichstellungspolitik zugeschrieben wird (vgl. Kap. 10 „Ist das nur sozusagen ein Networking“ – Bedeutungen(en) des Frauennetzwerks). Am Schluss der vorliegenden Arbeit wird die Frage, die das Zitat von Karl Kraus aufwirft, wieder aufgegriffen: Wie ist mit Zweifelsfällen umzugehen? Die zuvor herausgearbeiteten unterschiedlichen Erwartungen, Zweifelsfälle, Dilemmata und Brüche, die Umgangsweisen mit diesen, sowie die Bedeutung(en) der Gleichstellungsnorm werden in diesem Kapitel zusammengebracht. Dabei werden generelle Muster der untersuchten Institutionalisierungsprozesse mit Blick auf Rationalitätsmythen, und eine theoretische Konzeptualisierung des prominenten aber noch unterentwickelten Begriffs der Entkopplung vorgestellt (vgl. Kap. 11 Schluss: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige). An dieser Stelle sei allen Beteiligten des untersuchten Konzerns und der Gewerkschaft herzlich für die große Unterstützung dieser Forschung sowie Regine Gildemeister und Anja Schmid-Thomae für unzählige konstruktive Diskussionen gedankt.
2.1 Institution – eine Annäherung
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2 Institutionalisierung und Entkopplung
2.1 Institution – eine Annäherung Der Begriff der Institution gehört seit der Entstehung der Soziologie prominent zu ihrer Terminologie und Theoriegeschichte. Durkheims häufig zitierter Satz, die Soziologie sei „die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart“ (Durkheim 1895: 100) verdeutlicht das eindrücklich. Der hohe Stellenwert dieses Begriffs bedeutet aber nicht, dass dieser auch in einer einhelligen Weise definiert sei und so zeigen Lehrbücher und Wörterbücher, die eine möglichst umfassende und soweit möglich ‚allgemein gültige’ Definition kurz zu fassen suchen, wie vage und unpräzise der ‚kleinste gemeinsame Nenner’ ist (z.B. „Institutionen stabilisieren, steuern und kanalisieren das Verhalten von Menschen“ Gukenbiehl 1995: 103).1 Lipp (1998) definiert Institution im ersten Schritt als „soziale Einrichtung, die auf Dauer bestimmt, ‚was getan werden muß’.“ (ebd.: 148) und engt ihren Bedeutungshorizont durch Abgrenzung gegen soziale Gruppen und Organisationen ein (ähnlich u.a. Bernsdorf 1969; Fuchs-Heinritz et al. 2007). Bei Reinhold (2000) folgt auf die erste Begriffsbestimmung folgende Erläuterung: „Grundidee war und ist die begriffliche Fassung objektiver, soziokultureller, nicht auf ‚Natur’ oder individuelle, psychische Merkmale reduzierbarer Einflüsse auf soziales Verhalten (...). Die Begriffsbestimmung folgt dieser Grundidee und einem üblichen soziologischen Sprachgebrauch. Die Bedeutung ist ansonsten abhängig vom jeweiligen theoretischen Kontext. (...) Der Begriff hat zudem Eingang in die Umgangssprache und andere Disziplinen gefunden, deren unterschiedliche Verwendung des Konzepts in die Soziologie zurückwirkt und Unklarheit stiftet.“ (ebd.: 295) Einen Schritt weiter in den theoretischen Kontext gehend zeigt sich in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie eine nicht minder vage und vielfältige Bestimmung des hier unumstritten zentralen Begriffs, und so findet sich wiederum ein Satz häufig zitiert: „There is very little consensus on the definition of key 1
Vgl. auch: „Tatsächlich kann man alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen Institutionen nennen“ (Durkheim 1961: 100; zuerst 1895).
K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
concepts, measures or methods within this theory tradition.” (Tolbert/Zucker 1996: 175). Insbesondere um einen (möglichst gar gemeinsamen) Institutionenbegriff wird im Neo-Institutionalismus immer noch oder vielmehr neuerdings verstärkt gerungen (vgl. DiMaggio/Powell 1991; Jepperson 1991; Scott 2008a, zuerst 1995; 2008b; Senge 2005; 2006; Schiller-Merkens 2008; Mohr/Friedland 2008).2 Bei den als „Meilensteine“ (Hasse/Krücken 1999) gewürdigten Aufsätzen Meyer/Rowan (1977), Zucker (1977) und DiMaggio/Powell (1983) wird auf den Berger/Luckmannschen (1969) Institutionalisierungsbegriff hingewiesen. In den letzten Jahren hat man sich daher häufiger auf diese zurückbesonnen, um hierüber eine theoretische Fundierung zu erhalten (vgl. u.a. Senge 2005; Schiller-Merkens 2008). Berger und Luckmann (1969) werten die Durkheimsche ‚Festgesetztheit’ in zwei Dimensionen: als dem Einzelnen gegenüberstehende Wirklichkeit und als Ergebnis eines Prozesses. „[D]ie Gegenständlichkeit der institutionellen Welt, so dicht sie sich auch dem Einzelnen darstellen mag, [ist] von Menschen gemachte, konstruierte Objektivität.“ (Berger und Luckmann 1969: 64) Das dynamische Konzept der Institutionalisierung wird konsequent an Handlungen geknüpft, entsprechend findet Institutionalisierung statt, „sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“ (ebd.: 58), sind Objektivität und auf-Dauer-Gestelltheit von Institutionen stets an Produktion und Reproduktion im sozialen Handeln gekoppelt (vgl. ebd.). Über diesen interaktionstheoretisch gedachten Begriff von Institution hinaus werden im Folgenden Institutionalisierungsprozesse noch mit Rückgriff auf Arnold Gehlens anthropologischer Herleitung konturiert: „Jede Kultur ‚stilisiert’ gewisse Verhaltensformen heraus, macht sie verpflichtend und für alle ihre Zugehörigen modellvorbildlich. Solche Institutionen bedeuten dann für den einzelnen eine Entlastung von Grundentscheidungen und eine eingewöhnte Sicherheit der maßgeblichen Orientierung, so dass das Verhalten reflexionsfrei und stetig, auch in der Gegenseitigkeit gleichförmig erfolgen kann. Man muss daher das institutionell eingeregelte Verhalten (Fühlen, Denken, Werten usw.) als eine Wiederherstellung der verlorenen tierischen Instinktsicherheit auf sehr viel höherer Ebene auffassen.“ (Gehlen 1986: 68) 2
Da der neo-institutionalistische Ansatz v.a. als forschungsleitender Perspektivenwechsel verwendet wurde, sind pragmatische Arbeitsdefinitionen oder die Verwendung im Sinne des ‚üblichen soziologischen Sprachgebrauchs’ gängig und ursächlich für die Vagheit und eine sehr dünne theoretische Auseinandersetzung über mehr als zwei Jahrzehnte.
2.2 Institutionalisierungen als ‚Allzumenschliches’
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Gehlen verwurzelt Institutionen in der Bestimmung, was ein Mensch sei (vgl. Gehlen 1950,3 zuerst: 1940). Dieser Rückgriff auf Gehlen wird hier zum Einen unternommen, um die auch von Berger/Luckmann übernommene Sichtweise, dass sich der Mensch als handelndes Subjekt aus Institutionalisierungen herausschäle und zugleich ihr ‚größter Widersacher’ sei (vgl. Gehlen 1950; 1956; Berger/Luckmann 1969), zu präzisieren und somit Position zur Frage zu beziehen, in welchem Verhältnis Institutionen und Akteure gedacht werden. Zum anderen dient dieser Rückgriff dazu zu verdeutlichen, dass eine Durchwobenheit unserer Gesellschaftsordnung mit Institutionen zu konstatieren, nicht notwendig einen inflationären oder überdehnten Gebrauch des Institutionenbegriffs voraussetzen muss. 2.2 Institutionalisierungen als ‚Allzumenschliches’ Gehlens Anthropologie fragt nach den Existenzbedingungen des Menschen und stellt fest, dass er die denkbar schlechtesten hat: Leben kann der Mensch nur, wenn er das Manko an Existenzsicherheit zur Möglichkeit für Existenz bzw. darüber hinaus zur Wirklichkeit umbaut. Mangel und Möglichkeit des Menschen ist seine Unspezialisiertheit, die ihn per se unfähig und zu Unterschiedlichstem fähig macht (i.e. „Plastizität“ Gehlen 1950: 32 und 351ff.). Unspezialisiertheit und die dadurch gegebene Weltoffenheit sind zugleich Ursprung und Notwendigkeit von Kultur. Die Weltoffenheit bedeutet eine Reizüberflutung des Menschen, der diese für sich erst begreifen, einordnen und seinen „Antrieben“, d.h. diffusen Impulsen zuordnen muss (Gehlen 1950: 52). Der Begriff des Begreifens verdeutlicht Gehlens Verständnis des Erlernens und Schaffens von Wirklichkeit in einem sensomotorischen Kreisprozess (vgl. ebd.: 131ff.). Der Mensch verbindet im ersten Erlernen der Qualität eines Gegenstandes Nah- und Fernsinn: z.B. betastet er einen Gegenstand und nimmt ihn dabei gleichzeitig visuell wahr. Damit werden die aus dem Tasten geschlossenen Qualitäten bereits an die Sicht des Gegenstandes gekoppelt und so Aufwand an Zeit und Energie erspart – i.e. Entlastung (vgl. ebd.). Durch das Betasten verstehen wir jedoch nicht nur, sondern greifen auch ein: Wir schaffen Wirklichkeit. Wir machen das Ding z.B. zu einem sperrigen oder formen es. Das Verlagern der Erfahrung des Gegenstandes auf visuelles Wiedererkennen beinhaltet also nicht einfach ‚objektive’ Qualitäten, sondern immer schon seine Relation zu uns, zu unserer Handhabbarkeit: So ist eine Felswand eben nicht einfach Fels, sondern z.B. Hindernis, nicht essbar, hart, steil.4 Damit ist bereits im 3 4
Um den LeserInnen den Überblick zu erleichtern, werden im Folgenden bei Texten von Gehlen die Jahreszahlen genannt, die der Textfassung entsprechen. Dass nicht alles wörtlich betastbar und manipulierbar (eben handhabbar) ist, bedeutet nicht, dass ein In-Umgang-ziehen beschränkt sei auf in Reichweite liegende Objekte: „Gerade soweit sich
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
Erfahren, im Begreifen von Natur diese vom Menschen geschaffene Gestalt und auf uns hergestellte Beziehung enthalten: Es ist bereits Teil der Kultur. Begriffen zu haben, hat also zum Einen bereits entlastende Funktion von der Reizüberflutung und zum Anderen und immer zugleich auch konstruktiven Anteil an unserer Wirklichkeit. In der Sprache tritt dies besonders deutlich zutage, wobei nicht erst die Verknüpfung mit Dingen, sondern schon die Verbindung von Sprechen und die akustische Rückkopplung der Laute Wirklichkeit schafft. Diese Wirklichkeit lagert sich als Wissen ab, als Wissen um die Beschaffenheit unserer Welt, aus der wir uns selbst letztendlich nie hinaus denken können (vgl. Gehlen 1950). Dies ist ein erstes Merkmal, dass sich in Institutionen ausprägt: Entlastung durch und immer mit Beschränkung in Bezug auf unseren Lebensvollzug. An die eigentätig überschaubar gemachte Wahrnehmungswelt, die Orientierung darin und das Verfügbarmachen von Dingen, d.h. an die Schaffung von Kultur, die Wirklichkeit und Umwelt des Menschen ist, schließt sich die Organisation von Handlungskönnen an (vgl. Gehlen 1950: 48ff.). Darin zeigt sich ein zweites Merkmal von Institution, das bei Gehlen sowie Berger und Luckmann im Prozess der Habitualisierung dargestellt wird (vgl. ebd.: 76ff; Berger/Luckmann 1969: 56ff.): Die Erfahrung mit dem Gegenstand zu ‚archivieren‘, impliziert bereits, dass dieselben Qualitäten, die an das Ding im Nahsinn geschlossen wurden, als jederzeit – auch zukünftig – wieder abrufbare, d.h. dauerhafte fixiert werden. Ebenso impliziert das Abspeichern von Erfahrungen ihre Wiederholbarkeit als eben solche Erfahrung unter eben solchen Umständen, woran sich aufgrund der entlastenden Funktion eine Beschränkung der Umgangsweisen anschließt. Die Vielzahl möglicher Umgangsweisen wird reduziert auf wiederholbare und ‚wiederholungswürdige’. Die Wiederholungswürdigkeit wird gekoppelt an einen Zweck: Dieser Zweck ist Ergebnis des abgespeicherten und als abrufbar gewerteten, eben wiederholbaren Erfolgs. Erst zugleich mit der Bewusstheit über ein Ziel schält sich aus der Erfahrung die Bewusstheit eines Interesses, das wir dann z.B. Hunger nennen, heraus. Das Phantasma der Erfahrung wird erlebt als Stillung eines diffusen Drangs, der rückwirkend als ‚ich brauchte wohl etwas zu essen’ gefasst, d.h. mit Symbolik belegt wird. Damit wird der Weg umgekehrt: Sättigung erscheint nun als Zweck, Magenknurren wird als Anzeichen eines Bedürfnisses gewertet. Es entstehen der Begriff und ein Verständnis von Hunger. Der Prozess, der Zweck und Bedürfnis erst als solche hervorgebracht hat, erscheint nun als Mittel (vgl. Gehlen 1950). nämlich die Welt dem menschlichen Eingriff entzieht, soweit sie der verändernden und nutzschaffenden Aktion keine Handhabe bietet, also in ihren unveränderlichen Beständen, wird sie auf einen Sinn hin interpretiert, und an diese Interpretationen wenigstens werden Handlungsfolgen geknüpft, nämlich symbolische“ (Gehlen 1957: 22). In diesem Sinne wird die Distanz zu den Sternen ‚geschlossen’ durch Sternenkunde, Sterndeutung, das ‚Ablesen’ göttlichen Willens, menschlicher Eigenschaften oder der Zukunft an den Sternen (z.B. in ‚Sternzeichen’ und Horoskopen).
2.2 Institutionalisierungen als ‚Allzumenschliches’
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Habitualisiert ist eine Handlung jedoch noch nicht, wenn sie wiederholungswürdig, da erfolgversprechend ist, sondern erst, wenn sie zur Gewohnheit wird: Ihre Wiederholung immer und immer wieder erfolgt (vgl. Gehlen 1950: 65ff.). Dies zeigt eine weitere Dimension der Wiederholungswürdigkeit: Zweck und Bedürfnis müssen eine Bedeutung bekommen, die in meinem Beispiel schon impliziert war. Sie müssen als eine Ermöglichung von Lebensvollzug gewertet werden, d.h. auch eine gewisse Wiederholungsnotwendigkeit muss entstehen.5 Die anthropologischen Wurzeln von Institutionalisierungen beinhalten also bis zu dieser Stelle, a) die Entlastungsfunktion durch b) Schaffung einer als handhabbar überblickten Wirklichkeit, c) die gleichzeitige Entstehung von Bedürfnis und Zweck in der Erfahrung, die d) wiederholbare Erfahrungen mit Wiederholungswürdigkeit ausstattet, d.h. Wiederholung wird zweckmäßig. Im Prozess des Sich-Aneignens von Welt ist eine weitere Dimension enthalten: das ‚Sich’. Die Wirkung der in Handhabbarkeit und Überschaubarkeit abgelagerten Wirklichkeit war bisher implizit: Die Beule bei der Begegnung mit der Felswand, das freudige Einverleiben der Karotte sind mehr als nur ‚neue’ Reize. Sie stellen sich in Bezug zu uns und damit uns in Bezug zu ‚etwas’.6 In diesem InBezug-Setzen entstehen „Könnensphantasmen“ (Gehlen 1950: 62), die ein Bewusstsein über sich selbst, als ‚ich vermag’ und daraus resultierend ‚ich bin das’, herauskristallisieren. Der Mensch entwickelt sich hierin als Subjekt, als etwas von der Umwelt getrennt Erlebtes (ebd.: 180ff.).7 Die Herausbildung der Subjektivität ist bei Gehlen Produkt und Produzent von Kultur. Auch dies wird von Gehlen als wechselseitiger Prozess verstanden: Die Wiederholbarkeit von Handlung schafft Könnensphantasmen, die Bewusstsein ausmachen und Handlungen sowie Handelnde mit Interessen und Zielen ausstattet. Die gewohnheitsmäßige Wiederholung von Handlungen lagert diese wiederum im Können so ab, dass sie automatisiert werden und nicht mehr Bewusstsein brauchen (ebd.: 144ff.). Das im Handelnkön5
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Diese manifestiert sich nicht allein in den sogenannten natürlichen Bedürfnissen – auch wenn gerade diese hochgradig kulturell überformt sind und eine Vielzahl von Institutionalisierungen an sie gekoppelt werden (vgl. zum Beispiel der Nahrungsaufnahme z.B. Simmel 1911). Auch kulturell geschaffene Notwendigkeiten des Lebensvollzugs weisen diese Wiederholungsnotwendigkeit auf. Bspw. wird der Satz „ich brauche dringend Urlaub!“ vielleicht im Einzelfall infrage gestellt (z.B. „dafür müsste man das erst mal Arbeit nennen können, was du hier tust“), allgemein aber als quasi natürliches Bedürfnis nach Erholung und Entspannung gewertet. Mit der Schaffung einer vermeintlich außer mir entstehenden Wirklichkeit, geht die ebenso nur vermeintlich von dem Äußeren unabhängige Konstruktion von Innerlichkeit einher: Entfremdung eines Selbst ist notwendiger Bestandteil, um dieses Selbst zu haben (vgl. Gehlen 1950: 396). Gehlen bezieht sich hier auf den Begriff der Exzentrizität des Menschen nach Plessner (1928). Entsprechend hoch ist der Stellenwert, den Gehlen der Handlung für das Subjektwerden zuschreibt: „Die Akte seines [i.e. des Menschen] Stellungnehmens nach außen nennen wir Handlungen“ (Gehlen 1950: 32). Vgl. auch „Menschliches Leben muss sich ständig äußern und durch Aktivität verkörpern“ (Berger/Luckmann 1969: 58).
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
nen entstehende Bewusstsein wird also durch das gekonnte Handeln überschüssig. Die Entlastung, die aus der Reduktion der Reizfülle mittels abgespeicherter Erfahrungen von Welt als Wirklichkeit entstand, die sich fortpflanzte in der Reduktion der Umgangsweisen durch Wiederholbarkeit, wird in der Automatisierung durch Gewohnheitshandeln fortgeführt. Dabei bezieht sie sich nun nicht mehr nur auf die gegenwärtige Wahrnehmung (im ersten Schritt) und die Abrufbarkeit der Tätigkeit auch im Zukünftigen (im zweiten Schritt), sondern erstreckt sich als Hintergrunderfüllung auf das Subjekt als Bewusstsein-habendes, Zukunft und Vergangenheit vergegenwärtigendes Wesen.8 Die Hintergrunderfüllung wirkt ihrerseits wieder bekräftigend auf das Gewohnheitshandeln zurück: „Das so habitualisierte Verhalten wird eben dadurch, dass es der Intervention des Bewusstseins entgleitet und sich ablagert, auch stabilisiert, es wird kritikfest und einwandimmun und so die Basis für ein höheres, auf ihm erwachsendes variables Verhalten.“ (Gehlen 1950: 65) Andererseits kann dies freigesetzte Bewusstsein aber auch Stellung nehmen zur Tätigkeit selbst. D.h. der Mensch kann sich in seinem Handeln reflektieren: Die Gewohnheitshandlung besteht also in der Ambivalenz des automatisierten, internalisierten Vollzugs und einer durch das freigesetzte Bewusstsein gegebenen Möglichkeit des kritischen Blicks auf die Gewohnheitshandlung. Diese Spannung besteht für Gehlen nicht erst im Verhältnis von Tätigkeit und Bewusstsein, sondern immer schon im Verhältnis eines Subjekts zu einem ihm Äußeren (vgl. Gehlen 1950: 144ff.). Sie pflanzt sich fort bis in Interferenzen zweier Bewusstsein: „zwischen einem Bewusstsein, dem religiöse, moralische oder rechtliche Inhalte in jener einzigartigen Zwischenstellung zwischen Sein und Sollen erscheinen, die sie innehalten, solange sie zugleich Kategorien der Weltauffassung und Strukturprinzipien von Institutionen sind, und einem Bewusstsein, in dem dieselben Inhalte zu Vorstellungen versachlicht und damit zugleich als subjektiv und zurücknehmbar erlebt werden“ (ebd.: 386f.) Institutionalisierung bringt somit nach Gehlen eine ambivalente Spannung zwischen Selbstverständlichkeit und Hinterfragbarkeit mit hervor. Diese Spannung ist 8
Eine weitere Prämisse ist in meinem Text immer mitgeführt: die Sprache als symbolhaftes und (wiederum in Wechselwirkung gedacht) Bewusstsein und Wirklichkeit schaffendes Abstellen von Welt. An diesem Beispiel macht Gehlen insbesondere deutlich, wie Entlastung durch Kultur funktioniert (vgl. Gehlen 1950: 240ff.). Sprache kann jederzeit auf nicht-Gegenwärtiges zurückgreifen. Sie ist nicht einmal auf allgemeine Wahrnehmbarkeit angewiesen, sondern kann diese auch erst herstellen (z.B. in Liebesbriefen, die subjektives Empfinden einem Gegenüber vergegenwärtigen).
2.3 Institutionalisierungen als Möglichkeit von Gesellschaft
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als Grundlage zu verstehen für Legitimierungen, für die Notwendigkeit der Kopplung von Institutionen an Reproduktion und letztlich als Argument dagegen, dass Institutionen bereits dann brüchig würden, wenn sie hinterfragt werden. 2.3 Institutionalisierungen als Möglichkeit von Gesellschaft Auch in Hinsicht auf die Mit- und Zwischenmenschlichkeit gilt der oben genannte Mangel von instinktivem Verhalten, das dem Menschen von vorneherein ‚sagen’ könnte, wie er sich in eine Gruppe einpasst, wo sein Platz ist, wie er sich zu anderen zu verhalten hat: „Dieses Bedürfnis nach Soziabilität, das wir bloß aus seiner negativen Form als Vermissungserlebnis kennen, ist also in seinen Verhaltensformen völlig neutral.“ (Gehlen 1956: 45) Daraus folgt, dass eine Konkretisierung von aufeinander gerichtetem Verhalten erst entwickelt werden muss. Ein notwendiges Kriterium für die Ausformung von Reziprozität besteht in der „Dauergarantie“ (ebd.: 45), d.h. in der Ermöglichung auch Wirklichkeit, die auf das Gegenüber bezogen ist, als Verfügbarkeit, als Handlungskönnen, insgesamt als ‚schon bekannte’ Wirklichkeit zu erfahren und daher entlastet zu sein. Die Herstellung von Gemeinschaft mit eben dieser konstitutiven Komponente erfahrbarer Dauererfüllung durch Gegenseitigkeit entsteht nach Gehlen jedoch nicht in der direkten, sondern in der vermittelten Gegenseitigkeit. Das Gegenüber in Umgang zu ziehen, reicht hier gerade nicht, da sein Verhalten genauso plastisch und variabel ist, wie das eigene, da das Gegenüber genauso Erfahrungen macht und Handlungskönnen generiert. Das Verstehen eines menschlichen Gegenübers impliziert nicht nur eine Konstruktion des Gegenübers durch uns und auch nicht nur zusätzlich eine Konstruktion von uns durch das Gegenüber, sondern darüber hinaus ein Abgleichen möglicher unterschiedlicher Verhalten und Reaktionen. Jegliches Verstehen zwischen Menschen ist dementsprechend immer notwendigerweise ein Prozess der Verständigung. Dieser Prozess impliziert bei Gehlen in Anlehnung an Mead die Rolle des anderen einzunehmen, indem man z.B. im Gebrauch sprachlicher Symbole davon ausgeht, dass diese den gleichen Sinngehalt für das Gegenüber haben, wie für den Menschen, der diese äußert (vgl. Gehlen 1956: 46). Die Äußerlichkeit des Lautes (oder der Schrift) ist für die Verständigung zentrale Voraussetzung, sie ist das Dritte, das Verständigung als mittelbares Verstehen ermöglicht. Ein Bewusstsein des Miteinanders entsteht durch eben diese Vermitteltheit, über ein gemeinsames Abgleichen oder Abgrenzen, sich Hineinversetzen, Erfahren, Begreifen eines sol-
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
chen dritten Elements, d.h. über einen gemeinsam geschaffenen Horizont der als Wirklichkeit begriffenen Welt. Dies zeigt Gehlen insbesondere anhand von Totemismus und Ritualen, die die Welt handhabbar machen, dort wo der direkte Zugriff nicht möglich ist. Die symbolische Handhabung unveränderbarer Welt wird im Ritual zu einem diesem Äußeren gegenüber gemeinsamen Bewältigen. Damit liegt eine ganz andere Wiederholungsnotwendigkeit vor als im Falle individuell habitualisierter Handlung, da es dem einzelnen Menschen ebenso wie der Gemeinschaft wie ein Spiegel seiner/ihrer selbst vor Augen steht und auf ihn/sie zurück wirkt. Dies ist ein weiteres konstitutives Element von Institutionen. Sie ermöglichen mittelbares Verstehen menschlicher Gegenüber. Sie bieten ein Schonverständigtsein und damit eine stützende und entlastende Ordnung im Miteinander. D.h. sie sind elementarer Bestandteil menschlicher Sozialität (vgl. Gehlen 1950), damit ist die Handlung des Gegenübers „nicht mehr Quelle der Verwunderung, ja, drohender Gefahr“ (Berger/Luckmann 1969: 61).9 Gleichzeitig wird durch die Entlastung, hier mit der Möglichkeit weitere Verständigungsprozesse darauf aufzubauen, die so geschaffene Umwelt des ‚SchonBekannt’ und ‚Schon-Verständigt’ permanent verändert: Aus jeder durch Ordnung geschaffenen Entlastung entsteht neuer Freiraum, der wiederum per se ungeordnet ist. Dieses wird nach Berger und Luckmann (1969) daher sozial vorausgesetzt und aufgefangen: Plastizität ist so nicht nur anthropologisch konstitutiv für menschliches Leben, sondern wird auch in der Gesellschaftsordnung antizipiert. Damit wird Weltoffenheit durch die Gesellschaftsordnung wiederum als konstitutiv konstruiert und dabei gleichzeitig eingefangen in eine „relative Weltgeschlossenheit“ (ebd.: 55). Diese relative Weltgeschlossenheit besteht in einer von Institutionalisierungen durchwobenen Ordnung vorgegebener Handlungsmuster (insofern: geschlossen) und sich daraus ergebenden Freiräumen. Institutionen halten menschliches Verhalten unter Kontrolle „durch die bloße Tatsache ihres Vorhandenseins“ ebd.: 58). Anders gesagt: Gesellschaft ist möglich, weil eine zugleich freisetzende und zwingende Ordnung in Institutionalisierungsprozessen entsteht (vgl. Berger/Luckmann 1969; Gehlen 1950: 398ff.). Die Institutionalisierung oben beschriebenen Verhaltens macht Gesellschaft nicht nur möglich, ist also nicht nur Produzent von Verge9
Nicht das einmalige gemeinsame Bewältigen eines Schrecknisses, wie bspw. Beten, um bei einem Erdbeben den Weltuntergang abzuwehren, kann eine solche Funktion erfüllen. Erst eine gemeinschaftlich habitualisierte Handlung gewährleistet die Bewältigung des Schrecknisses ‚Mensch’. An das gemeinsame Erinnern und die rituelle Wiederholung des Betens können dann Interpretationen angeschlossen werden, die die ‚Moral der Geschichte’ entwickeln und zeigen, welches Verhalten gottgefällig sei, d.h. welches für die Gemeinschaft das ‚Richtige’ ist. Das Ritual transportiert somit nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl und das Überschaubarmachen von Verhalten, wie sie in der Geschichte stattfanden. Vielmehr ist nun ein gemeinsames ‚so haben wir das gemacht’ abgelegt als Erwartungshorizont für aufeinander bezogenes Verhalten und wird in der ritualisierten Reproduktion wiederum Grundlage für einen darauf aufbauenden Verständigungsprozess.
2.3 Institutionalisierungen als Möglichkeit von Gesellschaft
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sellschaftungsprozessen, sondern erfolgt auch nur in Verbindung mit ihr. Dies wird wiederum deutlich vom individuellen Handlungskönnen ausgehend. Die Erfindung von Werkzeugen koppelt Gehlen an ‚die Funktion überhaupt’. Eine Funktion wird zu einer ‚Funktion überhaupt’ über ihre Entzeitlichung und Entpersönlichung: „Dieses ‚überhaupt’ bedeutet zugleich: in allen Verwendungsfällen, in jedem Vollzugsvorgang. (...) Das Handlungsphantasma des Schneidens enthält nicht einmal die Vorstellung, dass ich es bin, der schneidet. Der Ausdruck ‚man kann…’ würde die Neutralität des Phantasmas auch in dieser Hinsicht wiedergeben (...). Es ist da für jeden Menschen, der zu irgendeiner Zeit in das vorausgesetzte Interesse eintritt.“ (Gehlen 1956: 11f.) Das spezifische Handlungsphantasma ist also entkoppelt von zeitlicher oder persönlicher Gegenwart, aber gekoppelt an ein vorausgesetztes Interesse, d.h. die Verwendung einer scharfen Klinge allein definiert noch nicht die verallgemeinerte Handlung des Schneidens. Andere potentielle Handlungsmotive werden aus dieser spezifizierten – genauer: typisierten – Handlung ausgeschlossen und separiert. Nicht nur das Handlungskönnen, sondern auch die eingelagerte Interessens- und Zwecksetzung wird typisiert. Dies setzt eine überindividuelle Relevanz der Handlungen voraus. Daraus folgt, dass einer so handelnden Person die Motivation, die diesem Handlungsvollzug angeschlossen ist, unterstellt wird und damit der typisierte Handlungszweck zugeschrieben wird. Sie ist in dieser Situation also nicht nur jemand, die gerade schneidet, sondern Handlung, Zweck und Interesse zeigen auf, wer ‚da schneidet’: z.B. eine Chirurgin, Mörderin oder Metzgerin. Akteure sind somit ebenso typisiert wie die Handlungsakte auch (vgl. Berger und Luckmann 1969: 58). Und entsprechend folgt auch andersherum diesen Typen von Handelnden die Definition sowohl von Zweck und Interesse als auch der Handlung selbst: z.B. Operation, Mord, Filetieren. Welche Handlungen institutionalisiert werden, lässt sich daran jedoch noch nicht hinreichend festmachen. Es genügt weder, dass eine überindividuelle Relevanz besteht, noch dass die Handlung eine Funktion für das Miteinander hat, z.B. einen Verständigungsprozess ermöglicht wie im Falle des Rituals, denn dieser Verständigungsprozess kann nach einer Weile schon vorausgesetzt werden, ohne das Ritual noch wiederholen zu müssen. Der Handlung muss sich vielmehr eine „sekundäre objektive Zweckmäßigkeit“ (Gehlen 1950: 398) anheften. Diese sekundäre Zweckmäßigkeit besteht in einer der Gemeinschaft nützlichen Funktionalisierung, die eine Wiederholungsnotwendigkeit auf diese spezifische Art und Weise (und eben nicht individuell variierbar) zu einer gemeinschaftlichen Angelegenheit werden lassen. Wie anhand individueller Habitualisierung gezeigt, muss
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
also zur Institutionalisierung einer Handlung eine Entlastung (nun konkretisiert als eine gemeinsame Entlastung) durch eben diese Handlung entstehen: „Das Fortwirken einer Institution gründet sich auf ihre gesellschaftliche Anerkennung als ‚permanente’ Lösung eines ‚permanenten’ Problems.“ (Berger/Luckmann 1969: 74) Die gemeinschaftliche Anerkennung als dauerhafte ‚Lösung’ ist voraussetzungsvoll. Wie oben angeführt stabilisiert sich automatisierter Handlungsvollzug zwar selbst und wird kritikfest und einwandimmun, wie aber ebenso angeführt, sind Typisierungen von Handlungen und Handelnden auch nicht von kritischer Reflexion des freigesetzten Bewusstseins ausgeschlossen. Beides hängt mit dem ObjektCharakter von Institutionalisierungen zusammen. Den Gedanken einer Objektivierung einer von uns geschaffenen Wirklichkeit findet man auch bei Simmel (1911), der Kultivierung als Prozess begreift, in dem der Mensch subjektiven Geist in Objekte gießt, die ihm dann als noch eigener und zugleich äußerer, ‚verfremdeter’, objektiver Geist gegenüberstehen und auf das Subjekt zurückwirken. Das Subjekt kann den eigenen Gedanken jedoch jederzeit nach persönlichen Kriterien überprüfen, abändern und verwerfen. Handelt es sich beispielsweise bei von mir zu Papier gebrachten Gedanken um die Auflistung von Nahrungsmitteln, die ich einkaufen möchte, habe ich damit gegenüber einem Einkauf ohne Einkaufszettel schon eine gewisse ‚objektive’ Richtschnur geschaffen, kann sie aber im Laden ‚widerrufen’, abändern, ergänzen. Der objektive Charakter durch die Externalisierung verdichtet sich dabei mit jedem der oben genannten Kriterien von Institutionalisierungen: a) Die Schaffung einer als handhabbar überblickten Wirklichkeit versieht die Umgebung meines Handelns mit einer ‚Welt’, die meinem Handeln entsprechend ist, da sie aus ihm hervorging. Institutionalisierungen sind also per se ‚passend’ zur mit ihr geschaffenen Wirklichkeit und so erscheint das Handeln logisch ableitbar aus den ‚Tatsachen’ meiner Wahrnehmungswelt. Im Falle meines Einkaufszettels ‚füllt’ dieser die Lücken in meinem Kühlschrank, die überhaupt erst zu Lücken werden, indem mein Einkaufszettel definiert: ‚das fehlt’. b) Aufgrund des gleichzeitigen Entstehens von Bedürfnissen und Zwecken mit den Handlungen sind Institutionalisierungen per se ‚zweckmäßig’ für den Lebensvollzug. Die Ausstattung mit Wiederholungswürdigkeit beruht gerade darauf, dass mir die Bedürfnisse ebenfalls als Tatsachen erscheinen, als immer wieder kehrende Zwänge, denen ich unterworfen bin;10 und so wird wiederum dessen 10
Das steckt bereits im Satz: „ich muss auf die Toilette.“ Dieser Zwang ergibt sich aus der institutionalisierten Handlung, nur bei sanitärer Einrichtung mit entblößtem Unterleib etc. zu urinieren und ansonsten einzuhalten. Das Bedürfnis wird erst im Einhalten bewusst (als „ich muss mal“) und mit dem entsprechenden Zweck („Toiletten sind dazu da“) verbunden.
2.3 Institutionalisierungen als Möglichkeit von Gesellschaft
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objektiver Charakter auf die Handlung übertragen, die dem Bedürfnis nur zu folgen scheint. Die Definition des Einkaufszettels ‚das fehlt’ erscheint mir als Bedürfnis, das Abarbeiten meines Einkaufszettels als Mittel zum Zweck. c) Die Entlastung, indem Bewusstsein von habitualisierten Handlungen freigesetzt wird, verleiht wie die Externalisierung dem institutionalisierten Handeln unmittelbar einen objektiven Charakter. Alles nicht mehr reflexiv Mitvollzogene, Internalisierte, Automatisierte erscheint mir substanziell und dinghaft: zugleich meins und doch mir nicht (mehr) unmittelbar zugänglich. d) Konstitutiv für menschliches Miteinander treten mir Institutionalisierungen als überpersönlich entgegen, wobei Handelnde zur gemeinsamen Verständigung Institutionalisierungen immer schon voraussetzen. Institutionalisierungen reihen sich also auch so in die mir als überpersönlich, zweckmäßig und dinghaft gegenüberstehende Wirklichkeit ein, insbesondere Sprache. Die Vollendung von Objektivität und damit von Institutionalisierungen verorten Berger und Luckmann (1969) in der Historizität, d.h. im Übergang an eine „zweite Generation“ (ebd.: 62). Der Einkaufszettel gewinnt eine qualitativ neue Objektivität, wenn er an jemanden weitergereicht wird, wenn beispielsweise Kinder, NachbarInnen oder PartnerInnen mit dem Einkaufszettel zum Einkaufen geschickt werden.11 Je weiter UrheberInnen der Einkaufszettel entfernt sind – z.B. als Mitglieder eines anderen Haushaltes etc. – umso weniger ist die intrinsische Bedeutung (z.B. die Bedeutung der einzelnen Elemente für das Gesamtgefüge) ersichtlich, umso weniger wirkt er veränderbar, umso mehr wird er zur objektiven Gegebenheit, umso mehr gewinnt er den Charakter von ‚so steht es da’. „Institutionen sind nun etwas, das seine eigene Wirklichkeit hat, eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenüber steht.“ (ebd.: 62) Die Objektivität beinhaltet also, dass sich Handlungen individuellem Nachvollzug entziehen und in Eigengesetzlichkeit umschlagen, d.h. die Vollendung der Institutionalisierung liegt darin, dass sie durch Historizität den Anspruch überpersönlicher Geltung gewinnt (Gehlen 1950: 397; Berger/Luckmann 1969: 62).
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Die Liste wird zur ‚objektiven’ Aussage darüber, was gekauft werden soll und bei Abweichungen sind Erklärungen notwendig. An dieser Stelle zeigt sich auch, inwiefern sich die Typisierung von Handelnden auf die ‚Objektivität’ des Einkaufszettels auswirkt. Dass ein Elternteil ein Kind mit einer Liste zu besorgender Dinge Einkaufen schickt, entspricht einer reziproken Typisierung von Handelnden und Handlung. Andersherum verfügt ein Zettel mit der Aufschrift „ganz viel Schokolade“, den ein Kind dem Elternteil vor dem Einkauf in die Hand drückt, nicht über dieses Merkmal einer Institutionalisierung und gilt daher im engeren Sinne nicht als Einkaufszettel.
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
2.4 Legitimierungen Institutionalisierungen bringen wie angeführt eine ambivalente Spannung zwischen Selbstverständlichkeit und Hinterfragbarkeit mit hervor. Diese schon innerhalb einer Generation angelegte Spannung verschärft sich mit der Ablösung durch eine neue Generation (vgl. Berger/Luckmann 1969: 66f.). Die Historizität impliziert hier auch eine andere Seite: Es ist schließlich ‚Geschichte’. Der überpersönliche Geltungsanspruch macht die Geltung fragiler als zuvor.12 Die Dimension der Wertung (‚das hat zu gelten‘) stellt die Frage nach dem Warum der Geltung (‚Warum soll ich mich daran halten?’ bzw. ‚Brauche ich das überhaupt?’) erst in den Raum. Das Resultat ist nicht selten, dass das, was für die Elterngeneration Geltung hat, der nachwachsenden Generation nicht als das für sie Richtige erscheint. Damit dieser Generation die Handlungsregulierungen als genauso sinnig erscheinen, muss sie die Handlungen ebenfalls als wesentlich für ihre Wirklichkeit wahrnehmen, sie habitualisieren, ihnen Bedürfnisbefriedigung zuschreiben, aus ihnen Entlastung ziehen und mit ihnen vergesellschaftet werden, ohne diesen Prozess selber in der gleichen Richtung durchlaufen zu können wie die erste Generation (vgl. Berger/ Luckmann 1969). Die Wirklichkeit kann nicht erst in erneuter oder neuer Handlung entstehen, sondern der bereits geschaffenen Wirklichkeit muss Geltung verschafft werden, sollen die vorgegebenen Handlungen angenommen werden: Die Interpretation, meine Handlung folge aus einer gegebenen Wirklichkeit, muss der nächsten Generation glaubhaft vermittelt werden. Den Institutionen muss eine „’sekundäre’ Objektivation von Sinn“ (ebd.: 98) zukommen: Sie müssen legitimiert werden. Hier differenzieren Berger und Luckmann vier Ebenen. Die erste Ebene ist die kognitive Legitimation, die weiteren drei sind normative Ebenen. Kognitive Legitimation bedeutet die Vermittlung als Wissen – in Abgrenzung zu Glauben oder individuellem Dafürhalten. Sie wird wiederum getragen und gestützt mit der in den Prozessen der Institutionalisierung so konstruierten Wirklichkeit, allem voran der sprachlichen Einbettung, die das soziale Voraussetzen einer gemeinsamen Wirklichkeit mit einem jederzeit abrufbaren institutionalisierten Instrument versieht. Sprache verdichtet und präformiert ihrerseits Wirklichkeit und lenkt die Wahrnehmung. Sie ist so selbst eine Verdinglichung von Wirklichkeit (vgl. Berger/Luckmann 1969). Die Geltung der Begriffe (z.B. ‚hier liegt der Einkaufszettel’) legitimiert die Institutionalisierung bereits kognitiv. Das bedeutet nicht, dass kognitive Legitimation ein für allemal festgeschrieben ist. Wenn z.B. Begriffe fehlen (‚Dingenskirchens’), ihre Bedeutung verlieren oder nicht als stimmig mit der Wirklichkeit gesehen werden, fehlt kognitive Legitimation (vgl. ebd.). 12
Da beispielsweise der von mir gemachte Einkaufszettel nicht nur von mir veränderbar, sondern von mir einsichtig so gemacht wurde, schreibe ich ihm keine normative Dimension zu: Er scheint mir rein ‚praktischer’ Natur, damit ich nicht vergesse, was ich so oder so brauche.
2.4 Legitimierungen
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Einem Bruch zwischen der sprachlichen Verankerung und der Wahrnehmungswelt entgegen steht die Konstruktion von entsprechenden Artefakten bzw. materiellen Einlassungen, die einen ‚Abgleich’ sprachlich vermittelter und gegenständlich wahrnehmbarer Wirklichkeit ermöglicht:13 z.B. indem es Filetiermesser, Dolche und Skalpelle gibt. Die Materialisierungen der Institutionalisierungen geben dem Geltungsanspruch einen ‚sachlichen’ Grund: Bereits Schaufenster mit Brautmoden verleihen der Institution Ehe Realität und Frauen- versus Männerparfüms machen die soziale Tatsache institutionalisierter Zweigeschlechtlichkeit wirkmächtiger. Auch ihr Gehalt kann einer kritischen Betrachtung ausgesetzt werden. Je mehr jedoch das Wissen mit Artefakten gesichert ist, je häufiger das Wissen abgerufen wird, je stärker es selber verinnerlicht ist, je häufiger die damit legitimierte Institutionalisierung reproduziert wird etc., umso stabiler wird das Wissen, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass es als überholt, als Aberglauben oder ähnliches gilt und der Institution kognitive Legitimation entzogen wird. Die kognitive Legitimation ist bei Berger und Luckmann (1969) nicht nur die erste, sondern die fundamentale Ebene der Legitimation. Auf dieser Grundlage bauen nun die normativen Ebenen auf. Die zweite Ebene beinhaltet die Entstehung einer Moral, die dritte kann als die Ebene der Theoriebildung gefasst werden und die vierte ist die symbolische Sinnwelt. Die unterste normative Ebene versieht die Institutionalisierung mit der Wertung gut (vs. schlecht oder böse). Das Wissen der kognitiven Ebene wird angereichert mit ‚moral facts’ (vgl. Garfinkel 1967).14 Nur diese Legitimation enthält Sanktionsmöglichkeiten. Eine Abweichung auf der Ebene kognitiver Legitimation stellt sich als Unwissenheit – im ungünstigsten Fall als Dummheit – dar und muss durch Erklärungen aufgefangen werden: So werden Sprachen zu Fremdsprachen, das Essen mit Stäbchen muss erst geübt werden und Einkaufszettel erhalten eine Definition, die erläutert, was das ist. Der Geltungsanspruch auf der kognitiven Ebene zeigt damit noch nicht auf, dass andere Handlungsmuster per se falsch seien, aber durchaus, dass die eigenen genauso (und für einen selbst noch etwas mehr) stimmen. Auf der zweiten Ebene dagegen sind Abweichungen nicht mehr akzeptabel. Darin liegt die Besonderheit dieser moralischen Legitimation: Einer Handlungsregulierung ist zu folgen, weil – wieder mit Gehlen (1957) gesprochen – mögliche Alternativen tabuisiert werden.15 Beispielsweise wird der Umgang mit 13
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Dies geschieht auch in Bezug auf so hochgradige Institutionalisierungen wie Zweigeschlechtlichkeit. Bei der Geburt eines intersexuellen Kindes ‚bricht’ sich die Geburtsklassifikation des Entweder/Oder mit den gegebenen Genitalien. Dem steht ein medizinischer Apparat entgegen, der die ‚Korrektur’ der Wahrnehmungswelt entsprechend der Institution mittels Operation vollzieht. Garfinkels Ethnomethodologie hat eine wesentliche Schnittstelle mit Berger/Luckmanns Institutionalisierungstheorie in der sozialen Dimension von Normalität. „Ein Tabu institutionalisiert eine ‚kritische Situation’ im Sinne der Distanzabstufung bis zu einer absoluten Distanzgrenze: berühren verboten.“ (Gehlen 1957: 213)
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
Messer und Gabel für kleine Kinder zunächst tabuisiert (‚Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht’), während später das Essen mit den Fingern tabuisiert wird und das Essen mit Essbesteck so als einzige legitime Möglichkeit herausgeschält wird. Einer Zuwiderhandlung wird dann mit Sanktionierungen begegnet (‚mit dir kann man nicht essen gehen!’).16 Die zweite normative Ebene, die Theoriebildung, versieht Institutionalisierungen mit Expertenwissen. Nun wird die Bedeutung der Institutionen mit immanenter Logik entwickelt und dadurch belegt.17 Expertise heißt dabei, dass eine Hierarchisierung des Wissens über die Institutionen und darauf aufgebauter Folgeinstitutionalisierungen erfolgt, und so durch die weitere Entwicklung das eine Verhalten als das höhere, d.h. passender bzw. richtiger gesehen wird. Die Frage des Wissens und Unwissens über das adäquate Verhalten ist damit eine Frage des höheren Status innerhalb dieses Expertensystems (vgl. Berger/Luckmann 1969). Der ‚Bildungsgrad’ in Hinsicht auf dieses eine Verhalten wird damit ‚ablesbar’ und evoziert z.B. die Erwartung, dass bei Erwachsenen das Hantieren mit Besteck gekonnter ist, als bei einem Grundschulkind. Mit der Integration in die symbolische Sinnwelt, der dritten normativen Ebene, werden die Bedeutungen, die Institutionen auf der Ebene der Theoretisierung zugewiesen werden, nun eingefangen in einen Komplex der Sinnhaftigkeit, in dem sie richtig und falsch im Rahmen eines objektivierten Wissens um ‚das Wahre’ sind. „Die symbolische Sinnwelt ist als die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen. Die ganze Geschichte der Gesellschaft und das ganze Leben des Einzelnen sind Ereignisse innerhalb dieser Sinnwelt.“ (Berger/Luckmann 1969: 103) Die Dichte an Institutionalisierungen insgesamt verstärkt den Anspruch an Geltung einer Institutionalisierung, da sie in diese Matrix eingepasst wird (vgl. ebd.). Dies 16
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Zuckers (1977) These, die Notwendigkeit von Sanktionierung zeige den niedrigen Grad der Institutionalisierungen an, wird häufig kritisiert (vgl. Schiller-Merkens 2008; Quack 2006). Hier wird jedoch die Legitimationsebene außer Acht gelassen. So kann eine Institutionalisierung, die auf der kognitiven Ebene ohne Sanktionierungen legitimiert wird, auch niedrig institutionalisiert sein. Auf der moralischen Ebene dagegen sind Sanktionsnotwendigkeiten durchaus Indikatoren. Entscheidend bei Zuckers (1977) Argument ist, dass Sanktionen nicht nur Alternativen aufzeigen, sondern implizit potentiellen Alternativen Attraktivität verleihen. Beispielsweise wird das Hantieren mit Besteck zunächst zur sinnvollen Möglichkeit, um sich nicht die Finger zu verbrühen, erklärt. Mit dieser Begründung wird nun der Umgang mit Besteck in Finessen als eigenes System entfaltet, z.B. dass das Besteck von außen nach innen zu benutzen, die Gabel in der linken, das Messer in der rechten Hand zu halten sei. Weitere Institutionalisierungen entstehen, die auf den ersteren aufbauen (wie z.B. ‚der Knigge’ für die Esskultur) und die Geltung nun in diesem so geschaffenen Bedeutungshorizont stützen.
2.4 Legitimierungen
29
geschieht auch dann, wenn Institutionalisierungen nicht per se miteinander verbunden sind, denn das Begreifen von Wirklichkeit entlastet umso mehr, je mehr einzelne Wirklichkeiten subsumiert werden können unter einem Gefüge von Wirklichkeit, das als logischer Zusammenhang gewertet wird (vgl. Gehlen 1950):18 „Die Logik steckt nicht in den Institutionen und ihrer äußeren Funktionalität, sondern in der Art, in der über sie reflektiert wird. Das reflektierende Bewusstsein überlagert die institutionale Ordnung mit seiner eigenen Logik.“ (Berger/Luckmann 1969: 69) Das Verständnis von Wirklichkeitserfahrungen als einzelne Puzzlestücke einer objektiven Realität schafft diese Ordnung – im mehrfachen Wortsinn – nach der alles so seine Richtigkeit hat, weil das eine durch das andere erklärt wird und damit wieder Erklärungen ‚abrufbar’ werden. „Wenn die Auslegung von Sinn durch Formeln und Rezepte für die neue Generation überzeugend sein soll, so müssen diese übereinstimmen und einen der institutionalen Ordnung entsprechenden Zusammenhang ergeben. (...) Die Folge ist, dass die sich weitende institutionale Ordnung ein ihr entsprechendes Dach aus Legitimationen erhalten muss, das sich in Form kognitiver und normativer Interpretationen schützend über sie breitet.“ (ebd.: 66) Die Zusammenfassung in einer symbolischen Sinnwelt ist als solche der Alltagserfahrung entzogen.19 Ihre Ergebnisse, d.h. der ‚logische’ Zusammenschluss unzusammenhängender Institutionen, erscheinen uns vielmehr als eigenständige Erklärungen, z.B. ‚lesen‘ wir am Umgang mit Besteck die Schichtzugehörigkeit ‚ab‘. Die symbolische Sinnwelt funktionierte aber nicht, würden Theorien, deren sozialer Ursprung Allgemeinwissen ist, unmittelbar verknüpft. Die Theorien der dritten Legitimationsebene werden auf dieser vierten Ebene vielmehr gestützt auf ‚unumstößliche Tatsachen’, d.h. auf genau diejenigen Bestandteile der Welt, die dem 18
19
Hier folgt meine Argumentation nicht Berger und Luckmann, sondern Gehlens Begriff der Entlastung und des Menschen als riskierten Wesens, das sich Welt aneignen muss. Weil der Mensch überfordert wäre, sich alles einzeln anzueignen, bedarf er der ‚Logik’, die ihm erklärt, dass das, was für ein X gilt, für ein anderes X ebenso gilt und dass X und Y in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen, ohne dass er es für jedes X oder Y überprüfen muss (vgl. Gehlen 1950). Wie gezeigt, weist Gehlen (1950) auf die Möglichkeit sich vom Hier und Jetzt mittels der Sprache zu lösen hin. Die Subsumption von Wirklichkeiten in einer symbolischen Sinnwelt, die jenseits der Alltagserfahrung angesiedelt wird, ist entsprechend auch erst dadurch möglich: „Weil Sprache die Kraft hat, das ‚Hier und Jetzt’ zu transzendieren, überbrückt sie die verschiedenen Zonen der Alltagswelt und integriert sie zu einem sinnhaften Ganzen“ (Berger/Luckmann 1969: 41).
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
Menschen als unveränderbare, seinem Handeln entzogene entgegentreten. Genau hier wirkt das Geflecht von Institutionalisierungen, ‚logischem’ Zusammenschluss und Funktionalisierungen für die menschliche ‚Natur’: Wenn sich wie bei ‚natürlichen Gegebenheiten’ oder ‚logischem Denken’ der menschliche Konstruktionsprozess dem Bewusstsein gänzlich entzieht und diese als präsozial fungieren,20 kann die von Menschen geschaffene Wirklichkeit zu einer geschlossenen Legitimation herangezogen werden. Dann erscheinen einzelne Theorien als Erkenntnisse von Phänomenen, „die Aspekte dieser ganzen Welt sind“ (Berger/Luckmann 1969: 103). Alternativen werden nun falsch im engeren Wortsinn: Der Geltungsanspruch ist nun eine Frage der einzigen Wahrheit, die jenseits erfahrbarer Alltagswirklichkeit verankert wird. Mit dieser Legitimationsebene, der Entstehung der symbolischen Sinnwelt, konstruiert sich soziale Wirklichkeit ‚wie von selbst’:21 „Viele unserer Beispiele haben deutlich gemacht, wie der kulturelle Prozeß vereinseitigte Hinsichten aus den naturalen Substraten herauszüchtet, die bei genügender traditioneller Verfestigung als ‚einzige Möglichkeit’, d.h. als natürlich imponieren.“ (Gehlen 1957: 212) Die Institutionalisierung verfestigt sich, wird auf Dauer gestellt, wird verbindlich, wird selbst-verständlich im doppelten Wortsinn, indem der Legitimationsprozess der Institutionalisierungen nun eine in sich schlüssige, nicht erfahrbare – und dadurch nicht ‚falsifizierbare’ – Sinnwelt schafft, an die sich Wirklichkeitserfahrung anheften kann. Mit der symbolischen Sinnwelt vollendet sich im Legitimierungsprozess die logische Umkehrung des Institutionalisierungsprozesses zeitgleich mit dem Institutionalisierungsprozess: „Die neue Generation erlernt die Legitimationen im gleichen Prozess, durch den sie in die institutionale Ordnung eingeführt und auf sie abgestimmt wird.“ (Berger/Luckmann 1969: 66) Die Übergabe an die nächste Generation vollendet den Institutionalisierungsprozess also gerade deswegen, weil die durch die Historizität entstehende Spannung zwischen der vollendeten Objektivation der Institutionalisierung und der daraus
20 21
Nur eine diffuse Welt ist vorsozial. Der sozialen Wirklichkeit haftet das Wissen so tief verinnerlicht an, dass Theorie als Prozess des ‚Erkennens’ einer objektiven Gegebenheit gewertet wird (vgl. auch Fn. 4). Damit folge ich der Begriffsdefinition der Symbolik sowohl Gehlens (wie oben belegt), als auch Berger/Luckmanns (1969): „symbolische Vorgänge sind Verweisungen auf andere Wirklichkeiten als die der Alltagserfahrung“ (ebd.: 102). Auf diesen Begriff wird auch zurückgegriffen, wenn später von symbolischer Reproduktion oder symbolischem Unterpfand die Rede sein wird.
2.5 Institutionalisierungen und Institutionen – Begriffsabgrenzung
31
entstehenden Fragilität ihrer Geltung im Legitimationsprozess aufgefangen wird. Das letzte konstitutive Element von Institutionalisierungen ist demnach, dass sie legitimiert sind: Sie gelten als legitim, sind aber nicht deswegen Institutionen, weil sie legitime Lösungen seien, sondern weil sie legitimiert wurden als Lösungen. Die Interpretation, die Handlung ergebe sich als logische Folge aus objektiver Wirklichkeit, gilt durch diesen doppelzügigen Prozess als Frage richtiger Erkenntnis. Der Konstruktionsprozess ist durch den entgegengesetzt verlaufenden Legitimationsprozess verschleiert und das Lüften des Schleiers im selben Zuge tabuisiert. 2.5 Institutionalisierungen und Institutionen – Begriffsabgrenzung Mit Berger und Luckmann lässt sich an die Entwicklung des Institutionalisierungskonzepts folgende Differenzierung zwischen Institution und Institutionalisierung anschließen: Institutionalisierte Handlungen werden sedimentiert in Zeichensystemen (zuallererst in Sprache), materielle Einlassungen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, insgesamt in Wirklichkeit (vgl. Berger/Luckmann 1996: 73). Diese Sedimente bilden zusammen mit den institutionalisierten Handlungen und ihren Legitimierungen Institutionen. Ähnlich sieht auch Scott (2008a) Institutionen als „multifaceted, durable social structures made up of symbolic elements, social activities and material resources” (ebd.: 48). Jepperson (1991) fasst Institutionen als Muster standardisierter Interaktionssequenzen, die in dem Prozess der Institutionalisierung den Status der Institutionalisiertheit erlangt haben. Er setzt den Schwerpunkt demnach einerseits auf soziale Interaktion, andererseits setzt aber auch er Institutionen nicht mit institutionalisierten Handlungen gleich. DiMaggio und Powell (1991) und Jepperson (1991) bezeichnen Institutionen auch als kontextuell abrufbare kulturelle Skripte institutionalisierter Handlungen („performance scripts“ Jepperson 1991: 145; „taken-forgranted scripts“ DiMaggio/Powell 1991: 15). Der Begriff des Skripts verdeutlicht in Anlehnung an das Skript eines Theaterstücks, dass die Handlung eingebettet ist in Rollenverteilung, Auftritte bei entsprechenden Stichworten, Szenen und Geschichte des Stücks, Kulisse, Erwartungen, die Definition von Patzern etc.22 Damit fängt diese Bezeichnung den Stellenwert der Reproduktion von Institutionen durch Handlung ein, verdeutlicht die Bedeutung der ‚eingespielten’ Interaktion der RollenträgerInnen und veranschaulicht die Funktion der Requisite. Institutionen als solche Skripte zu fassen und nicht mit institutionalisierten Handlungen in eins zu setzen, ist sinnvoll, um die Stabilität von Institutionen zu 22
Mit dem hier verwendeten Begriffsapparat soll nicht behauptet werden, unser Sozialleben bestünde in einer permanenten Selbstinszenierung von Individuen (vgl. auch Knoblauch 1994).
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
verstehen. Dass sich irgendjemand mal morgens einen Kaffee aufbrüht und trinkt, ist kein „stable design“ (Jepperson 1991: 145). Die Handlung als solche kann auch individuell ganz unterschiedlich habitualisiert sein.23 Das Skript des ‚morgendlichen Kaffees’ ist nicht einfach dadurch und darin eine Institution, dass Kaffeetrinken als institutionalisierte Handlung diese reproduziert und zuallererst hergestellt hat, sondern weil ein ganzer symbolischer und materieller Apparat besteht aus Kaffeemaschinen, Cafés, Kaffeepausen, Aussagen wie ‚Ohne Kaffee komm ich nicht in Schuss’, Distinktionsmöglichkeiten durch Kaffeespezialitäten etc.. Dieser Apparat rahmt und ermöglicht die einzelnen individuellen Kaffeetrinkvollzüge, lenkt die Wirklichkeitswahrnehmung und Handlungen, lässt Kaffee gegenüber z.B. einem morgendlichen Bier sinnvoll, normal und legitim erscheinen und macht die Institution Kaffeetrinken reproduzierbar, da sie der Handlung Kaffee zu trinken Geltung und jede Menge Gelegenheit verschafft. Das kulturelle Skript ‚morgendlicher Kaffee’ ist dabei einerseits Ergebnis, zugleich aber auch Sediment und so wiederum Basis der einzelnen institutionalisierten Handlungen (vgl. Berger/Luckmann 1969). Erst auf dieser Ablagerung können institutionalisierte Erwartungen erwachsen und z.B. an Frühstücksbüffets in Hotels oder Arbeitsplätze herangetragen werden, können Cartoons entstehen, die zur Frage nach ‚was war zuerst: Henne oder Ei?’ als dritte Möglichkeit eine Tasse mit dunkelbraunem Inhalt setzen, kann die Handlung Kaffee zu trinken immer wieder sozial vorausgesetzt werden als ‚ganz normaler’ Start in den Tag.24 Die Normalität, die eine Institution schafft und abbildet, bestimmt Jepperson (1991) als Selbstverständlichkeit („taken for granted” ebd.: 147) in dreifacher Hinsicht: a) Die Institution ist in sich selbst verständlich in dem Sinne, dass ihre Funktionalisierung und die Einbettung in die symbolische Sinnwelt ihre Existenz mit einem ‚guten Grund’ ausstatten, von dem man ausgeht, selbst wenn man ihn nicht kennt. b) Sie versteht sich von selbst, da im Prozess der Habitualisierung, des Ablagerns von Wirklichkeit in ihr und damit verbunden ihren kognitiven und moralischen Legitimierungen Handeln und Verhalten entsprechend der Institution zur besten Option oder gar alternativlos gemacht werden. Und c) ist sie selbstverständ23
24
Manche beherrschen die verschiedenen Handgriffe vom Bedienen der Kaffeemaschine bis hin zum letzten Schluck (noch) ‚im Schlaf’, anderen mag der Kaffee manchmal gelingen manchmal auch nicht, und dementsprechend mögen sie ihn trinken oder nicht, und wieder andere mögen dagegen morgens stets Tee, Saft oder Bier bevorzugen. Um diese Institution gegenüber anderen Verhaltensweisen durchzusetzen, ist nicht allein die Häufigkeit ihrer Reproduktion entscheidend. Den Tag mit einem Bier zu beginnen mag eine noch so häufige – in manchen Kontexten die überwiegend anzutreffende Art den Tag zu beginnen sein – institutionalisiert ist es nicht. Man gehe beispielsweise morgens um neun in eine Kneipe, in der alle anderen Anwesenden mit einem Pils in der Hand am Tresen sitzen. Dort einen Kaffee zu bestellen, wird nicht mit Argwohn betrachtet. Hingegen werden diejenigen, die dort mit einem Bier sitzen, sich der taxierenden Blicke der Kaffeetrinkenden durchaus bewusst sein.
2.5 Institutionalisierungen und Institutionen – Begriffsabgrenzung
33
lich in der Hinsicht, dass soziale Wirklichkeit so konstruiert ist, dass das ‚Stichwort’, auf das hin die institutionalisierte Handlung erfolgt, immer wieder in soziale Interaktion eingebettet ist und Handelnde für dessen Wahrnehmung sensibilisiert sind (vgl. ebd.). Institutionen aktivieren ihre Reproduktion in diesem Sinne selbst. So sind wir zu Beginn einer Interaktion nicht nur ‚geeicht’ darauf, die Situation selbst typisiert zu erfassen (z.B. als Bezahlen an der Supermarktkasse, Treffen mit Bekannten oder Sprechstundentermin), sondern sind auch sensibel für ‚Signale’, die z.B. spezifische Begrüßungen nahelegen. Institutionen bieten als Skripte solche ‚Signale’, die eine Entsprechung durch unser Verhalten in unterschiedlichen sozialen Situationen abrufen, so dass wir nicht einen Katalog an möglichen Situationen und ihnen adäquaten Verhaltensweisen verinnerlichen müssen. Die Selbstaktivierung institutionalisierten Handelns durch solche ‚Stichworte’ fasst Jepperson (1991) über die Differenzierung von enacting und acting: Institutionen werden ausgeführt, dagegen handelt man gezielt bzw. „takes action by departing from them” (ebd.: 149). Nur wenn eine Störung eintritt, muss institutionalisiertes Handeln und Verhalten durch Mobilisierung oder Intervention hervorgebracht werden. Zu unterscheiden ist daher nach Jepperson (1991) zum Einen, ob eine Handlung selbstverständlich und damit institutionalisiert ausgeführt wird oder ob sie durch Mobilisierung oder Intervention hervorgebracht wird. Zum anderen ist zu unterscheiden, ob in letzterem Falle eine Störung einen selbstverständlichen Ablauf verhindert hat, so dass es einer Reaktivierung der Institution durch eine entsprechende Mobilisierung bedurfte, oder ob die Mobilisierung an sich eine Störung eines selbstverständlichen Ablaufs ist, d.h. ein Abweichen („departing“) von institutionalisiertem Verhalten bedeutet. Dieses Abweichen muss nicht notwendigerweise illegitim sein. Jepperson zieht hier zwischen die Ebene des ‚durchlegitimierten’ institutionalisierten Verhaltens und der Ebene des von diesem abweichenden illegitimen Verhaltens die Ebene der akzeptierten kulturellen Erscheinungen, die häufig in einer Kultur anzutreffende, aber nicht institutionalisierte Muster sind. Alleinerziehend zu sein, unverheiratet ein gemeinsames Kind zu erziehen oder eine sogenannte ‚Patchworkfamilie’ zu bilden, ist beispielsweise weder unüblich noch illegitim. Institutionalisiert ist aber nach wie vor die Familienform, in der zwei volljährige verheiratete Personen unterschiedlichen Geschlechts gemeinsame leibliche Kinder aufziehen. Diese Institution – und nicht die davon abweichenden legitimen Muster – ist ausgestattet mit einem symbolischen und materiellen Apparat und Rollenverteilungen, setzt Aktivierungsimpulse und definiert die Normalitätsvorstellungen für so unterschiedliche Dinge wie Sorgerechtsbestimmungen, Basare an Grundschulen oder Werbespots für Joghurt. Die sozialen Situationen, in denen diese Impulse eingelassen und wahrgenommen werden, sind sozusagen Bühne, Szene (und damit Teil eines Akts und
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
Teil einer Geschichte) und Kulisse in einem.25 In einem Kontext, in dem andere legitime kulturelle Muster existieren, ist der Grad der Institutionalisiertheit durch diese relativiert. Oder anders gesagt: Institutionalisiertheit ist immer relativ zum Kontext zu begreifen (vgl. Jepperson 1991: 146). Um im Bild des Theaterstückes zu bleiben ist der Institutionalisierungsgrad relativ sowohl zum gesamten Stück, zum Akt und zur Szene jeweils ein anderer; er ist je nach der Bühne, auf der man sich bewegt, ein anderer, und je nach Kulisse, vor der die Institution reproduziert oder ausgesetzt wird.26 Neben dem Kontext identifiziert Jepperson (1991) als weitere Aspekte der Relativität von Institutionen einerseits die Positionierung innerhalb eines Komplexes, und andererseits spezifische Dimensionen von Beziehungen (vgl. ebd.: 146). In der Rangordnung innerhalb eines Komplexes sind grundlegende Institutionen relativ höher institutionalisiert zu darauf aufbauenden (z.B. ist auf einer Hochzeitsfeier die Eheschließung hochgradig institutionalisiert, der Brautstraußwurf dagegen geringer) und Kerne relativ höher zur Peripherie (z.B. gibt es zu den Brauteltern mehr Bräuche als zu den Großeltern, Tanten oder Onkeln des Brautpaars). Andererseits kann die Nähe zu einer Institution aber auch deren Institutionalisierungsgrad schwächen: Der Aufsichtsrat mag MitarbeiterInnen im Vertrieb eher als Institution erscheinen als bspw. den Vorstandsmitgliedern. Je nach Dimension der Beziehung z.B. von Kindern zu Eltern kann einmal das elterliche Wort umso selbstverständlicher Geltung haben gegenüber den Aussagen anderer Eltern,27 ein anderes Mal auch umso mehr infrage gestellt werden.28 Gemeinsam ist diesen Relationen, dass sie Einfluss darauf haben, inwiefern „relative vulnerability to social intervention“ (ebd.: 151) gegeben ist. Diese relative Anfälligkeit gegenüber sozialer Intervention ist ein Indikator für Institutionalisierungsgrade, allerdings nicht allein ausschlaggebend. Gerade durchregulierte Institutionen sind wesentlich störanfälliger als niedrig regulierte (vgl. ebd.). Dabei sind hochinstitutionalisierte Skripte (z.B. Familie, Organisation, Bildung) nicht selten mit einem komplexen Regelapparat wie Gesetzen, Sitten, Bräuchen etc. ausgestattet und werden häufiger 25 26
27 28
Soziale Situation wird hier verstanden im Sinne Goffmans (1994): „Unter einer sozialen Situation verstehe ich jeden räumlichen Schauplatz, auf dem sich eine eintretende Person der unmittelbaren Gegenwart einer oder mehrerer anderer ausgesetzt sieht“ (ebd.: 106). Auf der Makroebene ist der Kontext der Institution leiblicher Elternschaft ein anderer als auf Meso- und Mikroebenen und dementsprechend kann auch der Grad der Institutionalisiertheit ein anderer sein. Im Kontext gesetzgeberischer Prozesse ist die Institutionalisiertheit der ehelichen Kindschaft z.B. beim Erbrecht niedriger als sie beispielsweise im Schützenverein des Großvaters eines unehelichen Kindes sein mag. So findet man die Formulierung ‚mein Papa/ meine Mama hat gesagt…’ bei Kindergarten- und Grundschulkindern häufig als eine Art unerschütterlicher Grundweisheit. Wenn zwei Kinder die Eltern des einen nach einem Eis fragen, ist es meistens deren Kind, das ein Nein nicht unhinterfragt stehen lässt, eher nörgelt oder heimlich hintergeht.
2.6 Rationalität als institutionalisiertes Leitbild von Organisationen
35
durch Mobilisierung oder Intervention wiederhergestellt als z.B. an Sylvester ‚Dinner for one’ zu schauen. Ebenfalls eine hohe Störanfälligkeit unabhängig vom Institutionalisierungsgrad besteht bei besonders starren Institutionen. Flexible Institutionen können bei einem niedrigeren Institutionalisierungsgrad durchaus mehr Stabilität aufweisen (vgl. Nedelmann 1995).29 2.6 Rationalität als institutionalisiertes Leitbild von Organisationen Im Alltagsverständnis gilt Organisation als ein „zweckmäßiges Mittel der Menschen zur Erreichung ihrer Ziele“ (Ortmann et al. 1997: 15). Dieses Verständnis leitet auch weitgehend das funktionalistische Paradigma, das nach wie vor vielen ökonomischen Theorien zur Organisation unterliegt und dabei oft „affirmativ in die Reproduktion herrschender Verhältnisse eingebunden“ ist (Türk 1997: 125; vgl. auch Ortmann et al. 1997; Scherer 2006). Eine organisationssoziologische Herangehensweise, die sich mit Organisationen jenseits dieses „schier übermächtigen, rationalistischen und instrumentalistischen“ Verständnisses befasst (Ortmann et al. 1997: 15f.) und dieses Verständnis auch hinterfragt, bietet seit Ende der 1970er Jahre der Neo-Institutionalismus. Türk (1997) erklärt, diesem Ansatz käme vor allem das Verdienst zu, systematisch die „eigentlich soziologisch triviale“ Tatsache in Organisations- und Gesellschaftstheorie hineinzutragen, dass Organisationen „sich ‚in der Gesellschaft’ befinden“ (ebd.: 127). Hierunter ist zweierlei zu verstehen: Zum einen beinhaltet es, dass Organisationen „wesentliche strukturelle Momente der Gesellschaft sind“ (ebd.: 127), d.h. um Gesellschaft zu verstehen, muss man verstehen, welche Rolle Organisationen in ihr spielen. Zum zweiten bedeutet dies, dass Organisationen sich nur im Verhältnis zu ihrer Umwelt deuten und erklären lassen (vgl. Türk 1997). In diesem Verständnis werden Organisationen nicht mehr als nach außen geschlossene, systematische und immanent logische Einheiten gefasst, sondern werden als offene Systeme verhandelt, die ‚von Gesellschaft’ durchdrungen sind (vgl. Scott 2008a). So trivial diese Tatsache laut Türk (1997) sein mag, so komplex erweist sich die Beschreibung der Zusammenhänge zwischen Organisationen und Gesellschaft, was zu recht unterschiedlichen theoretischen Konturierungen führt. Im Neo-Institutionalismus – und das macht aus verschiedenen Ansätzen den Neo-Institutionalismus – besteht der gemeinsame Nenner darin, dass diese Zu29
So zeigen sich christliche Feiertage wie Ostern und Weihnachten gerade deswegen stabil, weil Handlungsmuster relativ variabel sind, sie eine neue sekundäre Zweckmäßigkeit erhalten können und als Frühlings- oder Familienfeste, Urlaubs- und Besinnungszeiten weiter reproduziert werden. Mit Streeck und Thelen (2005) ließe sich in diesem Kontext von einer teilweisen Konversion der Institutionen sprechen.
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
sammenhänge mit Blick auf Institutionalisierungen untersucht werden. Soziale Formungen von Organisationen werden als Ergebnis institutionalisierter Regeln verstanden: „Institutionalisierte kulturelle Regeln definieren die Bedeutung und die Identität des Individuums ebenso wie die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Handlungsmuster, in denen Individuen sich angemessenerweise betätigen können. In gleicher Weise konstituieren diese Regeln die Zwecke und die Legitimität von Organisationen, Professionen, Interessengruppen und Staaten, ebenso wie sie die angemessenen Handlungsbereiche für diese Einheiten abstecken.“ (Meyer/Boli/Thomas 2005: 17) Meyer, Boli und Thomas (2005) verstehen wie bereits Meyer und Rowan (1977) Organisationen als Akteure ebenso wie Individuen, die sich durch Handeln sozial konstruieren und konstituieren. DiMaggio und Powell (1983) bauen auf Meyer und Rowans Ansatz auf, nehmen aber Prozesse in den Blick, bei denen organisationale Elemente und weniger ‚ganze’ Organisationen im Zentrum stehen. Dabei werden feste Kopplungen innerorganisationaler Elemente nicht als Ausgangspunkt betrachtet und lose Kopplungen nicht erst als Ergebnis verstanden.30 Als Zusammenschau formulieren DiMaggio und Powell (1991) in Abgrenzung zu vorherigen institutionalistischen Theorien: „Organizational forms, structural components, and rules, not specific organizations, are institutionalized. Whereas the old institutionalism viewed organizations as organic wholes, the new institutionalism treats them as loosely coupled arrays of standardized elements.” (ebd.: 14) Organisationen haben demnach nicht einfach nur eine ‚Membran’, durch die Gesellschaft eindringen kann, sondern bestehen als unterschiedliche Dimensionen und Ebenen aus unterschiedlichen sozialen Komponenten. So verstanden, stellt sich erst als Frage, inwiefern eine Einheit hergestellt wird und öffnet sich die Perspektive, welche Mechanismen ‚lose gekoppelte Aufstellungen’ sozial geformter und normierter Elemente verbinden oder weiter lösen. Im o.g. funktionalistischen Paradigma gilt, dass Organisationen rational agieren und daher zweckgerichtet strukturierte Einheiten sind. Dies setzt voraus, dass 30
Der Unterschied zu Meyer und Kollegen (1977; 2005), die Organisationen zunächst analytisch als Einheiten verstehen, erscheint. als ‚halb voll oder halb leer’, da auch sie von einer losen Kopplung ausgehen. Der Unterschied ist aber nicht banal, stellt man sich im Einzelfalle die Frage, ob die lose Kopplung Ergebnis eines Anbindungs- oder eines Lockerungsprozesses ist (vgl. die Konzeptionen von Oliver 1991 und Brunsson 1989; 1993 ausgeführt in Kap. 2.7f.).
2.6 Rationalität als institutionalisiertes Leitbild von Organisationen
37
diejenigen strukturellen Elemente in Organisationen implementiert werden, die eine Steigerung der Produktivität (sei es an Gütern, Wohlfahrt oder Dienstleistungen) hervorbringen und diejenigen Elemente wieder eliminiert werden, die dies nicht leisten. Meyer und Rowan (1977) stellten jedoch in einer Studie fest, dass nicht die Arbeitsprozesse in Organisationen die Entwicklung formaler Strukturen bestimmen, sondern Anforderungen aus der Umwelt. Die unterstellte Kopplung von Effizienz und Rationalität sei hinfällig. Effizienzerfordernisse und die Annahme, was rational für Organisationen sei, fielen nicht nur nicht in eins, wie das funktionalistische Paradigma suggeriert, sondern Anforderungen aus der Umwelt werden übernommen, „independent of the immediate efficacy of the acquired practices and procedures.” (ebd.: 340). Daher vertreten sie die Position, dass Organisationen entlang institutionalisierter Vorstellungen von Rationalität strukturiert sind und werden. Die ‚Überlebensfähigkeit’ („survival prospects“) ist nicht allein und nicht einmal primär abhängig von einem optimalen Kosten-Nutzen-Verhältnis, mittels dessen Güter hergestellt und Dienste geleistet werden (nicht nur weil bereits ‚optimal’ unklar und interpretationsbedürftig ist), sondern von der glaubhaften Darstellung, dass die Organisation ‚rational’ strukturiert sei und agiere. Was jeweils als rational gilt, ist eingelassen in institutionalisierten Leitbildern (vgl. ebd.): “Many of the positions, policies, programs, and procedures of modern organizations are enforced by public opinion, by the views of important constituents, by knowledge legitimated through the educational system, by social prestige, by the laws, and by the definitions of negligence and prudence used by the courts.” (ebd.: 343) Mit Rückgriff auf Weber verstehen Meyer und Rowan hier Organisationen „vor allem vor dem Hintergrund der globalen Ausbreitung der westlichen Rationalitätsideologie“ (Türk 1997: 127). Diese umfasst Rationalisierung auf der Ebene von Weltbildern und Glaubenssystemen, auf der Ebene praktischer Lebensführung und auf der Ebene von Institutionen. Organisationen werden dabei zu einer Rationalität vermittelnden und darüber legitimierten Herrschaft, wie Weber (1976) idealtypisch für Bürokratien darstellt, indem sie formal strukturiert werden mit Arbeitsteilung, Weisungshierarchien, schriftlich fixierten Regelungen etc.31 Im Neo-Institutionalismus wird dieser Zusammenhang zwischen Rationalität und Legitimation als Schlüssel zum Verständnis von Organisationen verstanden:32 31 32
Vgl. „When the relational networks involved in economic exchange and political management become extremely complex, bureaucratic structures are thought to be most effective and rational means to standardize and control sub-units.” (Meyer/Rowan 1977: 342). Rationalität bildet den „der institutionalen Ordnung entsprechenden Zusammenhang“ (Berger/ Luckmann 1969: 66; vgl. 2.4), also die vierte Ebene der Legitimation durch die Einbettung in die
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
„Organisationen sind diejenigen sozialen Systeme, die ihre Legitimation aus einem systematischen Rationalitätsverweis – dem Verweis auf die Rationalität organisierten Prozedierens – beziehen und nicht anderswoher: nicht aus dem Verweis auf Blutsbande, Tradition, demokratische Einsetzung, Religion.“ (Ortmann 1995: 251)33 Legitimation bedeutet, dass Organisationen Vertrauen gewinnen. Die Annahme, dass Organisationen von Vertrauen abhängig sind, widerspricht – nicht nur im Alltagsdenken – der Vorstellung von rationaler Ordnung, die durch gesetzliche und gesetzmäßige Verbindlichkeit gekennzeichnet ist. Im Neo-Institutionalismus wird Legitimationsbedarf allerdings gerade deswegen betont, weil bspw. auch Vertragsabschlüsse auf dem Glauben beruhen, dass ihre Verbindlichkeit gesichert sei. So ist der Zugang zu Ressourcen, bei denen bspw. trotz eines ‚mageren’ materiellen Unterpfands Vorleistungen erbracht werden sollen (z.B. von GläubigerInnen, Arbeitskräften, Kundschaft, zuliefernden Betrieben etc.), abhängig von der Einschätzung der Seriosität beim Verfassen von Verträgen, der Gültigkeit von telefonischen Zusagen bis hin dazu, dass die Produkte nicht zu unerwarteten gesundheitlichen Schädigungen führen.34 All dies fasst sich zusammen darin, dass der Vertrauensvorschuss, dass schon alles ‚mit rechten Dingen’ zugehen wird, ein symbolisches Unterpfand braucht. Dieses Unterpfand besteht in der glaubhaften Darstellung von Rationalität. Der Begriff der Rationalität wird von Meyer und Rowan (1977) nicht definiert und erscheint in ihrer Konzeption nur recht grob, da es ihnen nicht darum geht, inwiefern die implementierten Elemente rational sind, sondern als rational gelten. In diesem Sinne geht es um „unpersönliche Regeln und Konstrukte (...), die jeweiligen Zwecken in regelhafter Weise Mittel zu ihrer angemessenen Erreichung kausal zuordnen“ (Tacke 2006: 95). In dieser Formulierung wird bereits deutlich, dass die Konzeption von Rationalität gegenläufig zu dem oben skizzierten Institutionalisierungsprozess ist, nach dem Zweckmäßigkeiten erst mit den institutionalisierten Handlungen entstehen und sich an diese anhaften (vgl. Kap. 2.2). Im Neo-
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symbolische Sinnwelt. Die Legitimation von Organisationen ist daher ebenso wenig wie Organisation selbst statisch zu verstehen. Legitimation und Organisation sind immer neue, wechselseitig aufeinander bezogene Prozesse des Interpretierens, Versinnbildlichens, Deutens und Verdeutlichens einer ‚reinen’ Idee von Rationalität (i.e. einem Chiffre), deren Synthese in einer unerreichbaren absoluten Rationalität liegt. Ortmann soll hier nicht zum Neo-Institutionalisten erklärt werden. Er greift aber auch auf den Neo-Institutionalismus zurück und verbindet ihn u.a. mit Giddens‘ Strukturationstheorie (vgl. Ortmann 2004). Diese Vorgehensweise ist mittlerweile recht verbreitet (vgl. Barley/Tolbert 1997; Hasse/Krücken 2005; Schiller-Merkens 2008). Die durchgängige und dadurch im Alltag kaum wahrgenommene Bedeutung von Vertrauen zeigt sich vor allem, wenn Vertrauen erschüttert wird, wie in der Finanzmarkt-/Wirtschaftskrise.
2.6 Rationalität als institutionalisiertes Leitbild von Organisationen
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Institutionalismus wird daher argumentiert, dass die Zwecke – im Alltagsverständnis und dem funktionalistischen Paradigma verstanden als Ursprung von Organisation(en) – vielmehr ebenfalls sozial zugeschrieben werden. Bei institutionalisierten Prozessen sind demnach Zwecke und Mittel zeitgleich – und mit ihnen eine Zweck-Mittel-Relation, die rationale Prozesse kennzeichnet – konstruiert: „Professions, policies, and programs are created along with the products that they are understood to produce rationally” (Meyer/Rowan 1977: 340). Brunsson und Olsen (1993) weisen darauf hin, dass nicht nur typisierte Prozesse und typisierte Akteure gleichzeitig mit den Zwecken entstehen, sondern auch ein Bedarf nach diesen konstruiert wird: „Institutional environments also create a supply of problems: there are widely held beliefs about what problems organizations have or should have; fashionable problems are suited to solutions that are in fashion.” (ebd.: 37)35 Institutionalisierten Leitbildern zugeschriebene Rationalität basiert also nicht auf einer faktischen Lösung eines gegebenen Bedarfs durch entsprechende Mittel. Vielmehr kommt zum Glauben, dass eben dieses Mittel das richtige oder gar einzige für gerade eben diesen Zweck sei, der Glaube hinzu, dass genau das Problem, dass zusammen mit der Zweck-Mittel-Setzung konstruiert wird, einem Bedarf entspreche.36 Leitbilder, die sich in dieser Hinsicht als institutionalisierte durchsetzen, tun dies, wie Sahlin und Wedlin (2008) anhand des Forschungsstandes erklären, nicht aufgrund dessen, dass dieser Glaube an die Leitbilder sich bewahrheite: „Once we start analyzing and comparing ideas, however, it is difficult to find any intrinsic success criteria for ideas that will ‘make it’. (...) So it appears to be not so much a case of ideas flowing widely because they are powerful, but rather of ideas becoming powerful as they circulate” (ebd.: 221) Zentral für den Institutionalisierungsprozess ist hier also wiederum die Weitergabe zu verstehen, die den Glauben festigt, es sei eine logische Kette. DiMaggio und Powell (1983) stellen die strukturellen Ähnlichkeiten von Organisationen, die durch die Diffusion von Leitbildern entstehen, in das Zentrum ihrer Betrachtung. 35 36
Vgl. zur Konstruktion eines Problems bei vorhandener Lösung Kapitel 5.1f. und 5.6f. Zur Differenzierung zwischen Bedarf – Mittel – Zweck sei noch einmal an das Beispiel ‚Hunger – Essen – Sättigung’ erinnert (vgl. 2.2). Bei Organisationen ist das ‚diffuse Gefühl in der Magengegend’ noch einiges diffuser und komplexer als beim Individuum und daher die Konstruktion eines griffigen Problems ein wesentlich größerer Abstraktionsprozess, der an einem Bedarf vorbeizielen kann, wie Brunsson und Olsen (1993) anhand eines permanenten Reformbedarfs verdeutlichen.
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
Sie identifizieren hier drei Prozesse, wie solche Isomorphien zustande kommen: a) Mimetische Prozesse bezeichnen das Kopieren als erfolgreich wahrgenommener Organisationen im Feld; b) Normative Isomorphien stellen sich ein durch Standardisierungsprozesse im ‚Wissensvorrat’, d.h. indem Personal rekrutiert wird, das über standardisierte Bildungsverfahren und Bildungsinhalte ‚den Status quo’ des Wissens in die Organisationen hineinbringt und z.B. über Netzwerke weiter pflegt; c) ‚Äußerer’ Druck kann von gesetzlichem Zwang (z.B. Vertragsrecht, Umweltrichtlinien oder Geldwäschegesetze) über öffentlichkeitswirksame Aktivitäten von NGOs bis hin zu kulturellen Gepflogenheiten oder Moralvorstellungen der Umwelt einer Organisation reichen. Da Organisationsmitglieder auch immer Mitglieder einer Gesellschaft sind, kann ein solcher Druck durchaus in Organisationen entstehen, oder auch erst ‚spürbar’ werden. Scott (2008a) konstatiert bei empirischen Studien, die sich mit der Diffusion organisationaler Elemente befasst haben, ein generelles Muster: „In the early stages of an institutionalization process, adoption of the practice by organizations represents a choice on their part that can reflect their varying specific needs or interests. As the institutionalization process proceeds, normative and cultural pressures mount to the point where adoption becomes less of a choice and more of a requirement.” (ebd.: 163). Auf den über die Diffusion gefestigten Glauben an die Zweckmäßigkeit der Leitbilder heben Meyer und Rowan (1977) ab, wenn sie davon sprechen, dass es sich um rationalisierte Mythen handele: „Such elements of formal structure are manifestations of powerful institutional rules which function as highly rationalized myths that are binding on particular organizations.” (ebd.: 343) Entscheidend ist, dass die Mythen rationalisiert sind, indem die Legitimationsmuster, die sich über sie legen, diese Leitbilder an die symbolische Sinnwelt einer normativen organisationalen Rationalität anschließen, wodurch die institutionalisierten Leitbilder aus dieser logisch abgeleitet erscheinen (vgl. Kap. 2.4). D.h. eine Zweck-Mittel-Relation wird aus ihnen herausgelesen und sie werden ‚der Rationalität’ zugeordnet, die für die Form Organisation verbindlich gemacht wird.37 37
„In diesem Sinne ist auch die Vorstellung, Organisationen seien soziale Einheiten, die einer rationalen Steuerung unterliegen, d.h. Einheiten, in denen Ressourcenbedarf systematisch ermittelt, Innovationen systematisch geplant, Sicherheit gemanagt, Produktion rational kalkuliert, Arbeitsbeziehungen sowie Beziehungen zu anderen Organisationen optimal gestaltet und Mitarbeiter professionalisiert sind, ein solcher Mythos.“ (Walgenbach und Meyer 2008: 18)
2.7 Entkopplungen als strategische Reaktionen
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Institutionalisierte Leitbilder werden durch diese Einbettung als objektive Wirklichkeit wahrgenommen und nicht hinterfragt. Der Unterschied zwischen faktisch rationalen Implementierungen und solchen Rationalitätsmythen liegt also darin, dass für erstere Beweise erbracht werden müssen, während letztere durch ihre Selbstverständlichkeit in dem mehrfachen Sinne Jeppersons (1991; vgl. 0) ihre Gültigkeit aus sich heraus beanspruchen. Mehr noch geht mit der Institutionalisierung die Möglichkeit einer Beweisführung verloren, da Alternativen nicht wahrgenommen werden. Im Extremfall bedeutet dies, dass es keine Alternativen zu geben scheint, in anderen Fällen zumindest keine ‚echten’ Alternativen, d.h. keine gleichermaßen als richtig, legitim und/oder sinnvoll anerkannten Möglichkeiten. Wahrgenommen, im Sinne von aufgegriffen, werden Alternativen aber auch deswegen nicht, weil die Übernahme institutionalisierter Praktiken (‚organisationaler Bausteine’) handlungsentlastend ist: „After all, the building blocks for organizations come to be littered around the societal landscape; it takes only a little entrepreneurial energy to assemble them into structure.” (Meyer/Rowan 1977: 345)38 2.7 Entkopplungen als strategische Reaktionen Die Frage, inwiefern ein institutionalisiertes Element also das zweckmäßigste Mittel ist, erübrigt sich aufgrund mangelnder Vergleichsmöglichkeiten. Trotz dieser Prozesse, die mit der Institutionalisierung von Leitbildern einhergehen, kann ihre Übernahme problematisch sein. Darauf baut das Konzept der Entkopplung bei Meyer und Rowan (1977) auf. Sie unterscheiden zwei generelle Probleme: „First, technical activities and demands for efficiency create conflicts and inconsistencies in an institutionalized organization’s efforts to conform to the ceremonial rules of production. Second, because these ceremonial rules are transmitted by myths that may arise from different parts of the environment, the rules may conflict with one another.” (ebd.: 355) Das erste Problem ist also, dass rationalisierte Leitbilder sich in der Arbeitspraxis als ‚unpraktisch’ erweisen.39 Das zweite Problem besteht in konfligierenden Leit38 39
Brunsson und Olsen (1993) zeigen hier Selbstläufer auf: „The task of identifying new norms to imitate is made easy by the eagerness of other organizations to show off their forms” (ebd.: 37). Meyer und Rowan (1977) gehen davon aus, dass für die Ebenen der formalen Struktur und die „actual day-to-day work activities“ (ebd.: 341) unterschiedliche Imperative gelten: Rationalität für die Formalstruktur, Effizienz für die Arbeitsaktivitäten. Dies ist insofern problematisch, als die
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
bildern. Dies ist nicht unerheblich, da Organisationen einer Vielzahl von Anspruchsgruppen gegenüberstehen, die mehr oder weniger Macht haben, ihre Ansprüche zu vertreten, aber auch – und von der ersten genannten Macht unabhängig – mehr oder weniger Macht haben, die Verwirklichung ihrer Ansprüche zu überprüfen. Unter der Annahme, dass die Mythen im Umfeld der Organisation wirkmächtig sind, erscheint eine Implementierung der Leitbilder zur Legitimation jedoch notwendig, auch wenn sie problematisch ist. Meyer und Rowan (1977) sehen hier als einzige praktikable Lösung die Möglichkeit, die Mythen zeremoniell zu bedienen, d.h. sie ausschließlich symbolisch zu reproduzieren, ohne dass diese jedoch in die Arbeitsprozesse implementiert werden. Der Arbeitsalltag wird von diesen entkoppelt, dabei jedoch der Glaube aufrechterhalten, dass eine Orientierung an den Leitbildern stattfinde.40 Als Strategien die fehlende Umsetzung im Inneren der Organisation zu verschleiern, verstehen Meyer und Rowan Vorgaben vage und uneindeutig zu formulieren, erreichbarere und praktisch orientierte ‚Zwischenziele’ ersatzweise einzuschieben, Evaluationen zu meiden bzw. Ersatz hierfür zu bieten und nicht zuletzt im Arbeitsprozess verstärkt auf informelle Vorgaben zu setzen. Eine Möglichkeit zur Vermeidung von Evaluationen, die gleichzeitig der Vertrauensbildung dient, ist die Schaffung entsprechender einzelner Funktionsstellen, deren Aufgabe letztlich weniger die Umsetzung der Leitbilder als ihre symbolische Repräsentation darstellt.41 Hier werden Meyer und Rowan (1977) allerdings inkonsequent in zweierlei Hinsichten. Zum einen wird eine Entkopplung als strategisches Management von Inkonsistenzen aufgefasst. Türk (1997) kritisiert daher, Meyer und Rowan gingen „von dem entscheidungsautonomen (korporativen) Akteur ‚Organisation’ aus, der sich subjektiv rational ‚externen’ Erwartungen durch Strategien von Entkopplung, Vertrauensbildung etc. anpasst“ (ebd.: 133). Damit gerate unter der Hand das „strategisch-zweckrationalistische Modell der Organisation“ (ebd.: 132), gegen das Meyer und Rowan argumentieren, wieder in die Analyse hinein. Zum zweiten, so bspw. die Kritik Tolberts und Zuckers (1996), wird mit der Vorstellung zeremoniellen Bedienens gültiger – und damit institutionalisierter – Mythen das Verständnis von Institutionalisierung als kognitive Skripte ausgesetzt:
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Autoren den Begriff der Effizienz als deskriptiv werten und übersehen, dass er auch bei ihnen implizit normativ aufgeladen ist (vgl. Türk 1997; Ortmann 2004). Der Begriff ‚unpraktisch’ erweist sich beim bisherigen Forschungsstand als passender. Bspw. zeigen Studien zum Einsatz von Computern auf, dass die Benutzung von Computern auch am mangelnden Willen der Arbeitskräfte sich umzustellen, scheitern kann (vgl. Faust/Bahnmüller 1996; Degele 2000). Meyer und Rowan formulieren dies als zwei Elemente „decoupling and the logic of confidence“ (1977: 356), die in der Rezeption häufig zusammen als Entkopplungsprozess aufgegriffen werden (vgl. Senge 2005; Hasse/Krücken 2005; anders: Türk 1997; Walgenbach/Meyer 2008). Das Beauftragtenwesen, auf das in Kap. 3.5 hinsichtlich Gleichstellungspolitik eingegangen wird, kann in diesem Sinne als eine solche Strategie genutzt werden (vgl. auch Kap. 5.1ff. und 6.5ff.).
2.7 Entkopplungen als strategische Reaktionen
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„This creates an inherent ambiguity in their underlying phenomenological argument, because the definition of ‚institutionalized’ itself contradicts the claim, that institutional structures are apt to be decoupled from behaviour. To be institutional, structure must generate action.” (ebd.: 179) Tacke (2006) argumentiert gegen diese Kritik mit der ambivalenten Spannung zwischen Selbstverständlichkeit und Hinterfragbarkeit, die der Objektcharakter von Institutionen in sich birgt: „Erst unter der Annahme, dass es sich um Konstrukte handelt, die dem Einzelnen nicht ‚innerlich’ sind, sondern als ‚äußerlich’ entgegentreten, kann plausibel gemacht werden, dass den institutionalisierten Normen der Rationalität in ‚zeremonieller’ Weise nachgekommen wird – also (...) Formalund Aktivitätsstrukturen in Organisationen auseinanderfallen.“ (ebd.: 97) In diesem Verständnis weiter gedacht, erscheint aber bereits die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen Leitbild und Organisationspraxis einer De-Mythisierung Vorschub zu leisten, und die Entkopplung sowie ein zeremonielles Bedienen rationalisierter Leitbilder einer De-Institutionalisierung.42 Verliert der Mythos an Wirkmacht, werden also die institutionalisierten Leitbilder hinterfragbar, werden wiederum Alternativen denk- und auch machbar. Dann kann z.B. ein Konkurrenzunternehmen einen höheren Gewinn mit einer anderen Strategie erzielen – ohne die Kosten des Legitimationsverlustes tragen zu müssen. Dadurch können Vergleiche entstehen, ‚Gegenbeweise’ erbracht und ‚Beweise’ eingefordert werden. Es kann also ein Prozess institutionellen Wandels entstehen, der ein institutionalisiertes Leitbild in einem neuen Gewand restabilisiert oder durch andere Leitbilder ablöst (vgl. hierzu Kap. 2.9). Aus dem oben skizzierten Institutionenbegriff ergibt sich jedoch noch eine zweite Perspektive. Nach Gehlen (1950), sowie Berger und Luckmann (1969) können Institutionen in verschiedenen Formen reproduziert werden. Nicht nur die Implementierung in handlungspraktisch formulierten Vorgaben reproduziert Institutionen, sondern auch schon symbolische Reproduktionen z.B. sprachlich oder mittels ritueller Handlungen (vgl. Gehlen 1950). Sofern also symbolische Reproduktion institutionalisierter Leitbilder im Sinne eines ‚enactments’ (Jepperson 1991) gegeben ist, kann diese durchaus auch im Glauben an das Leitbild erfolgen. Dies ist jedoch nicht denkbar, wenn zugleich Entkopplung strategisch erfolgt. 42
Tolberts und Zuckers Argument wird damit also ebenfalls nicht entkräftet, sondern mit der von ihnen zugrunde gelegten Institutionentheorie Bergers und Luckmanns ein Stück weit integriert. Allerdings greifen dann Scotts (2008) Zweifel, ob eine Entkopplung dauerhaft funktionieren könne, bzw. die im Folgenden ausgeführte Schlussfolgerung.
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
Die bisher vorliegenden neo-institutionalistisch orientierten theoretischen Ansätze fassen ihre Antworten auf die Frage, warum institutionalisierte Leitbilder oftmals nicht ‚eins-zu-eins’ in Organisationen implementiert sind, mit recht unterschiedlichen Begriffen und Konzeptionen. Sie werden im Folgenden in ihrem Beitrag zu einer theoretischen Konturierung der Entkopplungsthese vorgestellt, um auf dieser Grundlage einen ersten Arbeitsbegriff zu erhalten, der an die Ergebnisse der Studie angelegt werden kann. Eine systematische Theoretisierung der Reaktionsmöglichkeiten von Organisationen auf Erwartungen aus der Umwelt liefert Oliver (1991) in ihrem daher einschlägig gewordenen Aufsatz. Sie beschreibt diese als fünf verschiedene ‚Strategien’: sich zu fügen („acquiesce“), Kompromisse zu schließen, Vermeidung („avoid“), zu trotzen („defy“) und Manipulation, die durch je drei ‚Taktiken’ umgesetzt würden.43 In Hinsicht auf Entkopplungen ist hier interessant, welche dieser Strategien und Taktiken geeignet sind, den ‚guten Glauben’ (Meyer/Rowan 1977) aufrechtzuerhalten, ohne dass eine Umsetzung erfolgt. Unter diesem Blick sollen Taktiken der Kompromissbildung und der Vermeidung beleuchtet werden.44 Kompromisse „ represent the thin edge of the wedge in organizational resistance to institutional pressures” (Oliver 1991: 153), weil sie – um in diesem Bild zu bleiben – die institutionalisierten Erwartungen nicht ‚fällen’, sondern zwischen diese und die organisationale Praxis geschoben werden und so den Druck etwas abfedern. Als Taktiken der Strategie „compromise“ gelten ihr Ausbalancieren unterschiedlicher Ansprüche, Beschwichtigungen und Feilschen. Das Ausbalancieren kann sich zum Einen auf divergierende Erwartungen aus der Umwelt beziehen, z.B. unterschiedliche Interessen von AktionärInnen und Politik bezüglich Offshoring, zum Zweiten auf organisationale Interessen vs. externe Erwartungen (vgl. ebd.). Als Entkopplungsstrategie (insbes. im engeren Sinne einer Strategie) ist Ausbalancieren m.E. nicht in jedem Fall zu verstehen: Die Harmonisierung externer Erwartungen, so dass sie umsetzbar werden, bedeutet zwar, dass keine vollständige Konformität mit einer der Erwartungen erreicht wer43
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Sich den institutionalisierten Erwartungen zu fügen, werde verwirklicht durch „Habit: Following invisible, taken-for-granted norms“; „Imitation: Mimicking institutional models” und „Comply: obeying rules and accepting norms“ (Oliver 1991: 152). Hier von Taktik und Strategie zu sprechen, überdehnt die Konzepte m.E. gänzlich, wenn sie solche Verhaltensweisen auch als unbewusst vollzogene versteht: „Habit refers to unconscious or blind adherence to preconscious or taken-for-granted rules or values“ (ebd.: 152). So liest sich auch ihre Erläuterung, wieso es zur Kompromissbildung kommen müsse, ähnlich zu Meyers und Rowans (1977) Erklärung für Entkopplungen (vgl. Kap. 2.7): „Organizations are often confronted with conflicting institutional demands or with inconsistencies between institutional expectations and internal organizational objectives related to efficiency or autonomy“ (Oliver 1991: 153). Neu gegenüber Meyer und Rowan ist hier, dass Effizienz nicht mehr als objektives Maß gesetzt wird, sondern über interne organisationale Zielsetzungen definiert wird und als weiteres Motiv die Aufrechterhaltung von Autonomie ins Spiel kommt.
2.7 Entkopplungen als strategische Reaktionen
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den kann, aber eine Umsetzung nichts desto trotz angestrebt und weitestmöglich geleistet wird. Divergierende Erwartungen können aber auch so gegeneinander ‚auszuspielen’, dass es durchaus als eine Entkopplungsstrategie verstanden werden kann: Dann kann die Fassade aufgebaut werden, den Erwartungen bestmöglich ‚gerecht’ zu werden, während diejenigen Anforderungen, die eigenen Interessen widersprechen, als divergierend zu den anderen Erwartungen an die Organisation dargestellt werden (vgl. Powell und Friedkin 1986; zit. nach Oliver 1991). Olivers (1991) Konzeption von Beschwichtigung lässt sich sowohl als Entkopplung als auch als Taktik verstehen: Während Anforderungen aus der Umwelt zwar gerade nicht konkret entsprochen wird, wird ein symbolischer ‚Ersatz’ angeboten, der eine Orientierung an den institutionalisierten Vorstellungen demonstriert. Beispielsweise wird die Produktion von als umweltschädlich angesehen Gütern nicht eingestellt, aber zugleich demonstriert, dass Umweltschutz als Handlungsmaßgabe verstanden wird, z.B. indem belegt wird, dass die Güter weniger umweltschädlich seien als angenommen und/oder demonstriert wird, dass intensive Forschung betrieben werde, um das Produkt umweltfreundlicher zu gestalten. Das Feilschen mit externen Anspruchsgruppen (z.B. Regierungen, Gewerkschaften, AktionärInnen), bietet fraglos eine Möglichkeit, um die Implementierung von Anforderungen ein Stück weit abzuwehren (vgl. ebd.). Eine Fassade wird dabei jedoch nicht aufgebaut. In diesem Sinn fehlt der Anschein glaubwürdiger Orientierung an Erwartungen (sofern dies nicht als Hinhaltetaktik erfolgt). Im Gegensatz zur vollständigen oder durch Kompromissbildung nur teilweisen Übernahme von institutionalisierten Erwartungen ist Vermeidung bei Oliver (1991) motiviert durch den Wunsch „to circumvent the conditions that make conforming behaviour necessary“ (ebd. 156). Dies bedeutet, dass hier nicht (einfach oder nur) Anpassung vermieden werden soll, sondern versucht wird, die Bedingungen, die eine Anpassung notwendig machen würden, zu ‚überlisten’. Als Taktiken der Vermeidungsstrategie bezeichnet sie Kaschieren („conceal“), Puffern und Flucht. Mit Kaschieren, nimmt Oliver (1991) Bezug auf Meyers und Rowans (1977) Entkopplungsstrategien: „An organization may (...) establish elaborate rational plans and procedures in response to institutional requirements in order to disguise the fact that it does not intend to implement them. Organizations may, additionally, engage in ‘window dressing’; ritualism; ceremonial pretence; or symbolic acceptance of institutional norms, rules or requirements.” (Oliver 1991: 154 f.) Puffern bezeichnet die bei Meyer und Rowan zum Kaschieren ergänzend als notwendig erachtete Vorgehensweise, eingehende Überprüfungen der Praxis zu vermeiden. Oliver (1991) macht darauf aufmerksam, dass dies als Taktik nur funktio-
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
niere, wenn Arbeitsprozesse und öffentliche Billigung voneinander unabhängig sind. Dies lässt sich bspw. für Produktionsbetriebe vorstellen, bei denen vorrangig die Produkte (und Nebenprodukte wie Abfall, Abwasser und Abgase) bspw. technischer oder ökologischer Überprüfung standhalten können müssen und weniger die Arbeitsprozesse selbst. Für diejenigen Organisationen, deren Arbeitsprozesse jedoch entscheidend die öffentliche Billigung ausmachen (Olivers Beispiel sind hier Schulen), führe eine Vermeidung der Einblicknahme dagegen zu Misstrauen und Verlust von Legitimation (vgl. ebd.).45 Die dritte ‚Taktik’, die am deutlichsten macht, inwiefern hier die Bedingungen umgangen werden sollen, um Anpassung zu vermeiden, ist die Flucht. Hierfür sieht Oliver zwei Möglichkeiten, bei denen sich Bedingungen als ‚äußere’ und ‚innere’ differenzieren lassen. Die eine Möglichkeit ist, die Anspruchsgruppen zu ‚wechseln’, bspw. indem die Produktion in Länder mit offeneren oder gänzlich fehlenden Vorgaben in den entsprechenden Bereichen verlagert wird. Zum zweiten bestünde die Möglichkeit, die ‚inneren’ Bedingungen zu ändern, indem bspw. die Produktpalette verändert wird, so dass die Maßgaben nicht mehr greifen (vgl. ebd.). Denkbar ist auch eine Mischform, z.B. die Anspruchsgruppe der Kundschaft zu wechseln, indem die Produkte einer anderen Gruppe angepasst werden. Erwartungen zu trotzen wertet Oliver (1991) ebenso wie Meyer und Rowan (1977) als grundsätzlich riskant, außer wenn der Legitimationsverlust gering erscheint.46 Manipulation von institutionalisierten Erwartungen wertet Oliver (1991) als die aktivste Form im Umgang mit diesen: „Manipulation involves the active intent to use institutional processes and relations opportunistically, to co-opt and neutralize institutional constituents, to shape and redefine institutionalized norms and external criteria of evaluation, and to control or dominate the source allocation or expression of social approval and legitimation.“ (ebd.: 159) Kooptieren bezeichnet hier das Verfahren, Mitglieder von Anspruchsgruppen ‚an Bord’ zu holen und damit auch die Anpassung der Organisation an Erwartungen 45 46
Die Überprüfung von ‚Arbeitsprozessen’ ist bspw. in deutschen Schulen durch Unterrichtsbesuche des Oberschulamts etabliert. Die Überprüfung von ‚Produkten’ jedoch recht neu. Wie an PISA deutlich wurde, besagt die Evaluation des einen nicht unbedingt etwas über das andere. Dies kann dann der Fall sein, wenn die spezifischen Erwartungen nur niedrig institutionalisiert sind oder wenig Gewicht haben und ‚richtiges’ und ‚rationales’ Handeln auch durch andere Verhaltensweisen belegt werden kann. Zu Widerstand gegen institutionalisierte Erwartungen könne es aber auch trotz eines hohen Legitimationsverlusts kommen, wenn die herangetragenen Erwartungen von internen Ansprüchen ‚dramatisch’ abweichen, oder „when organizations believe they have little to lose“ (Oliver 1991: 157), z.B. weil die Existenz des Unternehmens davon abhängt, sich auf Ansprüche von Gläubigern zu konzentrieren und andere zu ignorieren (vgl. ebd.).
2.8 Rechtfertigung und Heuchelei
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ein Stück weit umzudrehen, d.h. Erwartungen an die Organisation anzupassen. Da die Koalition mit oder die Einbindung von Anspruchsgruppen Legitimation erhöht, kann Kooptation auch Entkopplung ermöglichen, da sie auch zur Beschwichtigung beiträgt, also Engagement und guten Willen demonstriert, ohne dass den Erwartungen konkret Folge geleistet wird (vgl. ebd.). Vor dem von ihr vorausgesetzten Hintergrund, dass institutionalisierte Erwartungen von strategischen Akteuren als Einschränkung ihrer Handlungsspielräume wahrgenommen werden, vermutet Oliver (1991), dass die Wahrscheinlichkeit von institutionalisierten Erwartungen abzuweichen, d.h. zu trotzen oder zu entkoppeln, sich erhöht, je niedriger die erwartete Legitimation und je niedriger der erwartete ökonomische Gewinn ist, je zahlreicher die verschiedenen Anspruchsgruppen sind und je geringer die Abhängigkeit von den einzelnen Anspruchsgruppen ist, je weniger sich die Anforderungen mit organisationalen Zielen decken und je größer der Ermessensspielraum erscheint, je geringer der gesetzliche Zwang oder die (freiwillige) Verbreitung ist, und je niedriger der Grad der Unsicherheit und der Grad der Vernetzung im Umfeld der Organisation sind (vgl. ebd.). Scott (2008a) sieht die von Oliver aufgezeigten strategischen Reaktionen eher möglich bei regulativen Anforderungen als bei normativ oder kognitiv verankerten Institutionen. Entkopplung – und darunter versteht er Olivers (1991) Strategie der Vermeidung – hält Scott (2008a) für wahrscheinlicher, wenn nicht nur die Kosten einer Umsetzung sehr hoch sind, sondern auch (entgegen Olivers Ansicht) die erwartete Legitimation sehr hoch ist. 2.8 Rechtfertigung und Heuchelei Brunsson (1989; 1993; sowie mit Olsen 1993) baut wie Oliver (1991) in seinem Ansatz ebenfalls auf der Konzeption Meyers und Rowans (1977) auf, verbindet diese mit March und Olsen (1976) und entwickelt ein eigenes Denkmodell, in dem die Trennung von „ talk“, „decision“ und „action“ als alltägliches Management von Heuchelei besteht („organization of hypocrisy“). Brunssons Konzeption beruht darauf, dass Gesellschaft und Organisationen analog zum Geist-Körper-Dualismus bei Individuen aufgebaut seien, sprich: dass Ideen und Handlungen voneinander getrennt gedacht und verortet werden. Im Sinne einer – von ihm ebenfalls als normativ verstandenen – Rationalität werde dann davon ausgegangen, dass der ‚Geist’ (i.e. Ideen) die Handlungen steuere. Die Realisierung dieser Vorstellung sei jedoch nicht die einzige und auch nicht die am häufigsten anzutreffende Form. Vielmehr könnten zum Einen Ideen und Handlungen „two worlds“ bilden, „without influence on each other“ (Brunsson 1993: 503), also schlicht isoliert sein, zum Zweiten können Handlungen Ideen steuern und zum
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
Dritten können Handlung und Ideen systematisch inkonsistent sein. Um eine Verbindung zwischen einer ideengenerierenden Konstitutive und der als Ausführungsorgan konzipierten Handlungsebene zu leisten, komme bei (aber durchaus auch in Form von) Organisationen die Entscheidungsebene (i.e. Exekutive) hinzu. Anders als Meyer und Rowan (1977) sind also in Brunssons (1989; 1993) Denkmodell die Ebenen zunächst getrennt voneinander zu verstehen und müssen erst durch Kommunikation miteinander verbunden werden. Die Abstimmungsleistung zwischen Ideen und Handlung wirft nach Brunsson (1993) drei Probleme auf. Zum einen sind Inhalte von Ideen und von Handlungen nicht einfach in einander übersetzbar (Konsistenzproblem). Dies ist aufgeschlüsselt in, was getan, aber nicht gesagt werden kann, und was gesagt, aber nicht getan werden kann. Letzteres heißt bspw., dass Wünsche formuliert, aber nicht immer umgesetzt werden können. Es kann an dem nötigen Wissen, Ressourcen, Zeit und Macht mangeln. Brunsson (1993) konstatiert zudem, dass Ideen zumeist umso mehr Zustimmung erhalten, je weniger sie auf Umsetzbarkeit hin formuliert seien. „The differences between the conditions for talk and action (...) highlight the usefulness of the social structure we are examining here: it seems sensible to distinguish between talk and action, perhaps by discussing things on certain occasions and taking action on others, or by letting certain people or organizations or parts of organizations specialize in talk, while others specialize in action.” (ebd.: 495) Allerdings stellt sich dann die Frage: Wie kann die eingeforderte Kontrolle des ‚Geistes’ über die Handlung gewährleistet werden? Einen möglichen Mechanismus hierzu sieht Brunsson (1993) in der o.g. Verknüpfung durch Entscheidungen. Entscheidungen könnten mögliche Schwankungen, Vagheit und Inkonsistenzen von Ideen auffangen, „converting debates into the requirements of action“ (ebd.: 495). Entscheidung heißt so letztlich aber auch, dass Ideen reduziert und konkurrierende Ideen ausgesondert werden. Handelnde könnten nun dadurch aber die Entscheidung infrage stellen, da sie ihrer (präferierten) Idee widerspreche.47 Da Handelnde über eine Expertise ihrer Handlungen und entsprechend deren Erfordernissen verfügen, die den EntscheidungsträgerInnen fehlt, können sie die Entscheidungen auch als unangepasst an ihren Arbeitskontext und ihr Wissen werten. 47
Hier gilt es zu berücksichtigen, dass die Handelnden bei Brunsson (1993) ebenfalls zur Konstitutive gezählt werden. Dies macht Brunsson am Staat deutlich, es gilt aber gerade im Falle des Themas vorliegender Arbeit auch für institutionalisierte Erwartungen an privatwirtschaftliche Organisationen: Gleichstellungspolitik ist immer mit Vorstellungen über Geschlechter, bestehende und erwünschte Geschlechterverhältnisse konfrontiert, die die Arbeitskräfte mit in die Organisation hinein und an EntscheidungsträgerInnen heran tragen.
2.8 Rechtfertigung und Heuchelei
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Dann kann das Problem der Kontrolle der Idee über Handlungen schlicht bedeuten, dass eine Umsetzung von Entscheidungen nicht erfolgt. Um ihre Entscheidungen durchsetzen zu können, ‚empfiehlt’ es sich daher für EntscheidungsträgerInnen, sich in ihrer Entscheidungsfindung so nah wie möglich am Handlungskontext zu orientieren. Dadurch neigen sie jedoch auch dazu, die Sichtweisen der Handelnden zu übernehmen. Was dann aufgrund der Konsistenz von Handlung und Entscheidung als vollständige Kontrolle der Handlungen erscheine, sei aber nun das entscheidendere und dabei regelrecht unsichtbare Kontrollproblem, da nun letztlich Handlungen die Kontrolle über Entscheidungen haben (vgl. ebd.). Als drittes Problem wertet Brunsson (1993) das Problem der Zeit, „ideas may arise and also disappear more quickly than the corresponding actions“ (ebd.: 497). Ideen seien schon beim einzelnen Individuum abhängig von Kontexten und Zeit, die öffentliche Meinung („public opinion“) wandele sich zudem mit der Aufmerksamkeit, die einzelnen Lösungen, Problemen oder Personen(gruppen) gewidmet würde.48 Handlungen hingegen seien insbesondere als organisationale Handlungen stabil und dauerhaft angelegt aufgrund der durch Arbeitsteilung notwendigen Koordination von Handlungen und Handelnden, der benötigten Zeit, bis Handlungen abgeschlossen seien, und aufgrund der Routinisierung von Handlungsabläufen „according to written or unwritten rules“ (ebd.: 498). Dadurch werde nun aber die Abstimmung zwischen Konsistenz und Kontrolle problematisch: „If ideas are to control actions, ideas must forego actions. If the ideas then change during the time it takes to initiate and implement the actions, then at the time when the actions are being realized, ideas and actions will not be consistent.” (ebd.: 498) Das Problem könnte nun im Prinzip durch Entscheidungen gelöst werden, da Entscheidungen Ideen ‚einfrieren’, allerdings verlagert dies nur wiederum (wie beim 2. Kontrollproblem) die Inkonsistenz auf das Verhältnis von Ideen und Entscheidungen (vgl. ebd.). Als mögliche Teillösungen der drei Probleme entfaltet Brunsson (1993) seine Konzepte von Rechtfertigung („Justification“) und Heuchelei („Hypocrisy“). Beide Lösungen sind Lösungen der Kommunikation (eben: „talk“). Rechtfertigung bedeutet, dass Ideen, die anhand von geplanten oder vollzogenen Handlungen entwickelt werden, als die richtigen ‚verteidigt’ werden: „Successful justification adapts people’s ideas to actions“ (ebd.: 500). Die im zweiten, dem unsichtbaren Kontrollproblem gegebene Inkonsistenz zwischen Ideen und Entscheidungen wird gelöst, 48
Für institutionalisierte Leitbilder wird das aufgrund der Auf-Dauer-Gestelltheit von Institutionen nicht die gleiche Geschwindigkeit implizieren, wie bei ‚bloßen’ Meinungen oder Moden. Je höher die Dauer der Idee, umso eher können nach Brunsson Handlungen mit der Idee konsistent sein.
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
indem die Verkehrung der Kontrolle bis zu der Konstitutive ‚durchgezogen’ wird. Mit dieser Lösung gewinnen nicht nur die Handelnden, sondern auch EntscheidungsträgerInnen, da sie Kontrolle über die Handlungsebene suggerieren können und so ihre Führungsposition herstellen bzw. bestätigen: „Thus executives who put great effort into seeking control may easily reveal their failure to achieve either control or consistency. Those who go in for justification have a better chance of appearing successful as regards both consistency and control.” (ebd.: 500f.) Allerdings vermag die Rechtfertigung das Konsistenzproblem nicht zu lösen, dass manches getan, aber nicht gesagt werden kann. Dies betrifft Handlungen, die aus moralischen oder ästhetischen Gründen nicht thematisiert werden (können), bspw. Diskriminierung oder Sexualität in Organisationen (vgl. Kap. 9.10) und: „What can be said must be true. (...) But what is regarded as truth is not always determined by what happens in practice. (...) The official truth is part of what are known as social institutions.“ (Brunsson 1993: 492) An dieser Stelle erfolgt statt Rechtfertigung Heuchelei, d.h. Ideen, die die Exekutive produziert und darstellt, decken sich nicht (wie bei der Rechtfertigung) mit Handlungen, sondern kompensieren sie, stattdessen können sie sich aber nun mit den Ideen der Konstitutive decken: „Hypocrisy may provide the only chance of achieving some action without the risk of losing general support for the executives or the actors and thus also for the action.“ (ebd.: 501) Aus zwei entscheidenden Gründen kann Heuchelei funktionieren. Zum einen wird der Kommunikation und den kommunizierten Entscheidungen ein Stellenwert an sich zugeschrieben, da sie leichter erfassbar sind als Handlungen. Zum zweiten und dem entgegengesetzt wird Reden und Entscheidungen kein Stellenwert an sich zugeschrieben, sondern ihr Wert – gemäß der Annahme von Rationalität – aus der Unterstellung bezogen, dass Gesagtes und Entschiedenes Handlungen leiten. Dieser Widerspruch vereint sich zu einer ‚Lösung’: Je größer der Glaube an die Handlungsleitung der Entscheidung ist, umso mehr Eigenwert wird der kommunizierten Entscheidung zugeschrieben (vgl. ebd.).49 49
Formulierungen als Ziele und Visionen für die Zukunft verstärken nach Brunsson (1993) diesen Glauben. Hier erinnert seine Konzeption an Olivers (1991) Taktik der Beschwichtigung: „Today’s action can then be excused by reference to the future“ (Brunsson 1993: 502).
2.9 Diffusion von Leitbildern und Übersetzungen
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Weder zur Rechtfertigung noch zur Heuchelei bedarf es, nach Brunsson, großer oder überhaupt der Energie oder Mobilisierung: „Whether or not they wish it, actors and executives often find themselves compelled to defend actions that they may not even approve of anymore, but which cannot be changed (...). Hypocrisy can be the result of the decision-makers’ failure to control action, with a resulting discrepancy between talk and action.” (ebd.: 502) In dieser Konzeption als „Hypocrisy“ können (gelungene) Entkopplung und symbolische Reproduktion von Leitbildern also strategisch oder intendiert erfolgen, müssen es aber nicht. Dass Ideen und Handlungen isoliert sind, Handlungen gerechtfertigt oder geheuchelt werden, sind für Brunsson wiederum Dinge, „ that can be done, but not said“: Sie passieren alltäglich, man dürfe aber nicht darüber reden. Die normativ rationale Vorstellung, Ideen würden Handlungen kontrollieren hingegen „can be said, but not done“, d.h. sie ist praktisch unmöglich. Und man kann ergänzen: ,must be said’, denn dieses Verständnis durch Heuchelei zu bedienen, hält die Vorstellungen aufrecht, die Menschen über sich als Individuen, über „the attribution of responsibility, and consequently on legitimacy and the power to act“ (Brunsson 1993: 505) haben. Kurz: Heuchelei hält den alltäglichen Glauben an Rationalität und rationales Handeln aufrecht. 2.9 Diffusion von Leitbildern und Übersetzungen Scott (2008a) sowie Boxenbaum und Jonsson (2008) thematisieren Entkopplungen mit Blick auf die Diffusion institutioneller Leitbilder. Boxenbaum und Jonsson (2008) fassen aktuelle empirische Befunde zur Entkopplung dahingehend zusammen, dass nicht in erster Linie die Inkompatibilität zweier organisationaler Ebenen (Struktur und Arbeitsprozesse) Entkopplungen erkläre, sondern die Wahrnehmung widersprüchlicher Anforderungen. Dies sei vor allem der Heterogenität des organisationalen Feldes geschuldet. Die bisherige Forschung zeige dabei auf, dass vorrangig diejenigen Organisationen institutionalisierte Anforderungen tatsächlich bedienen, die dies recht früh tun, während diejenigen, die sie verhältnismäßig spät adaptieren, dies häufig besonders enthusiastisch proklamieren – und entkoppeln. Mit der Diffusion entstehe nämlich nicht nur Druck sich anzupassen, sondern vor allem auch Uneindeutigkeit in der Umwelt, die eine eins-zu-eins-Übertragung unmöglich mache (vgl. ebd.). Dabei weisen die AutorInnen allerdings auch darauf hin, dass Abweichungen von Konformität nicht nur Prozesse (mehr oder weniger strategischer) Entkopplungen oder Widerstände, sondern auch ‚Adaptions-
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
schwund’ sind. Scott (2008a) benennt hier Veränderungen durch Kommunikationswege und KommunikatorInnen (soz. ‚stille Post‘), Übersetzung institutioneller Regeln in verschiedene Kontexte, Missverständnisse oder Fehler in der Anwendung, Anpassungen oder Innovationen durch AnwenderInnen und Integrationsversuche konkurrierender Leitbilder (vgl. ebd.). Dies steht in Bezug zu Konzepten, die im Zusammenhang mit institutionellem Wandel die Diffusion institutionalisierter Leitbilder untersuchen. Diese gehen nun nicht mehr davon aus, dass konkrete Praktiken und Elemente übernommen werden, sondern vielmehr, dass „ideas travel“ (Czarniawska/Joerges 1996: 23; zit. nach Walgenbach/Meyer 2008: 109): „Diffused ideas could add to or result in changes to organizational identities as normal, desirable and possible – thus circulated ideas appeared to trigger institutional change.” (Sahlin/Wedlin 2008: 221) Die Reise der Ideen gehe, um das Bild weiter zu führen, in fremde Länder und damit fremde Kulturen, in denen bereits andere Institutionen (und Sprachen) bestehen.50 Institutionalisierte Leitbilder würden daher Prozessen der Interpretation und Übersetzung unterliegen und nicht ‚einfach’ übernommen oder abgelehnt werden (vgl. Campbell 2004; 2007; Sahlin/Wedlin 2008). Zentral ist für Campbell (2004; 2007), welche Rolle Akteure im institutionellen Wandel spielen und damit die Frage nach Konflikten und Verhandlungen über Institutionen: „This is especially important because it reveals how institutional reproduction and change are flip sides of the same coin. That is, institutions are contested. (...) In this sense the process of institutional reproduction and change are mutually constitutive – many of the forces that change institutions also stabilize them.” (Campbell 2007: 19) In diesem Verständnis sind Institutionen weder deterministisch, noch werden sie durch Akteure strategisch ‚ausgeklammert’. Die Interpretation institutionalisierter Leitbilder ist immer als ‚erster Schritt’ bedeutsam für den Umgang mit ihnen. Daran schließt sich in Campbells Konzept die Übersetzung an: Zur Reproduktion institutionalisierter Leitbilder werden diese modifiziert (‚eingedeutscht’), um in den Kontext eingepasst, d.h. mit bisherigen Institutionen verbunden werden zu können. Der dritte Aspekt, den Campbell (2004; 2007) für die Analyse institutionellen Wandels wesentlich sieht, ist der endogene Wandel durch Bricolage:
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Dieses Bild trifft den Kontext der meisten Studien, da sie auch globale Verbreitungsprozesse untersuchen. Die Konzepte erscheinen jedoch auch interessant, um das ‚Wandern’ von Ideen in den Arbeitsalltag zu untersuchen.
2.9 Diffusion von Leitbildern und Übersetzungen
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‚Heimwerkerei’ ist hier recht wörtlich zu verstehen, es bezeichnet den Prozess, ‚zu Hause’ aufgefundene Module auf neue Weise miteinander zu verbinden: „Bricolage tends to result in path-dependent, evolutionary change. (...) previously given institutions provide a repertoire of principles and practices with which actors can innovate creatively through recombination. (...) the finite nature of this repertoire constrains the range of possible innovative combinations available to them. Hence, institutions simultaneously enable and constrain innovation.” (Campbell 2007: 4) Campbell differenziert zwischen zwei Formen der Bricolage: substantieller und symbolischer. Substantielle Bricolage folge der Logik von Instrumentalität, d.h. bestehende Praktiken werden neu zusammengesetzt um ‚praktische’ Probleme zu lösen, bspw. zur Ausschussvermeidung oder Beschleunigung der Kommunikationswege. Symbolische Bricolage dagegen folge der Logik der Angemessenheit und diene somit der Lösung von Legitimationsproblemen. Symbolische Bricolage dominierender Institutionen werde bspw. auch notwendig, um neue Implementierungen zu rahmen bzw. einzubetten: „The utilization of symbolic language, rhetorical devices, lofty and culturally accepted principles, and analogies to what is believed to be the natural world are central to this framing exercise.” (Campbell 2004: 70) Sahlin-Andersson (1996) fasst diese Prozesse, die zugleich Übersetzung und Einbettung neuer Ideen leisten, als Editieren. Auch sie geht zwar davon aus, dass sich nicht Modelle per se verbreiten, sondern letztlich Ideen, aber diese immer nur in Form eines Modells vorliegen. D.h. dass bspw. die Idee ‚Gleichstellung‘ nur eingelassen in einem Modell ‚Gleichstellungspolitik‘ im organisationalen Feld an Bedeutung gewinnen kann. Die Adaption der Idee erfolge anhand der Reformulierung und Rekonzeptualisierung dieses Modells innerhalb einer Infrastruktur bestehender Institutionen, die Mittel und Wege zur Implementierung bereitstellt, aber auch eingrenzt (vgl. Sahlin/Wedlin 2008). In den neueren Konzeptionen werden Abweichungen zwischen Leitbildern und organisationalen Prozessen also nun weniger über Entkopplungen (Meyer/ Rowan 1977), Vermeidungen (Oliver 1991) und So-tun-als-ob (Brunsson 1993), sondern v.a. durch erweiterte Konzeptionen von Adaptionsprozessen, d.h. durch Diffusions- und letztlich Institutionalisierungs- und De-Institutionalisierungsprozesse erklärt. Dabei wird in diesen Konzepten die von Meyer und Rowan (1977) vorgenommene scharfe Trennung zwischen formaler Struktur und Arbeitsprozessen aufgeweicht zugunsten der Analyse von Strukturierungsprozessen. Im
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2. Institutionalisierung und Entkopplung
Verständnis Brunssons (1993) und der neueren Konzepte wird durch die Rede von Ideen die Frage eröffnet, auf welcher Ebene Leitbilder wirkmächtig werden und aufgezeigt, dass Diskrepanzen zwischen ‚talk’ und ‚action’ beim einzelnen Individuum ebenso wie bei komplexen sozialen Einheiten auftreten können. Eine dritte Öffnung gegenüber Meyers und Rowans (1977) sowie Olivers (1991) Ansätzen enthalten die neueren Konzeptionen und Brunssons ‚Hypocrisy’, indem nun Divergenzen und ihr Verschleiern oder mit Ortmann (1995) ‚Verdrängen’ nicht notwendig als Ergebnisse strategischer Handlungen verstanden werden. Für die vorliegende Fragestellung sind diese Öffnungen des Entkopplungsprozesses relevant. Denn im Vergleich zu Studien, die Implementierungs- und Entkopplungsprozesse von z.B. Computern, ISO-Normen oder Audit-Programmen untersuchen (vgl. u.a. Faust/Bahnmüller 1996; Basu et al. 1999; Walgenbach 1998), hat diese Arbeit es zum Einen mit einem recht vagen Leitbild zu tun: Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern zu erreichen, ist kein Programm, sondern zunächst eine diffuse (normative) Vorstellung, die je nachdem wie ähnlich oder unterschiedlich Männer und Frauen gedacht werden, sich auch ganz unterschiedlich konkretisieren kann. Zum zweiten stammt dieses Leitbild in der allgemeinen Wahrnehmung genuin aus einem politischen/sozialen Bereich und nicht aus dem Bereich ökonomischer oder technischer Innovation. Vergleichbar erscheint es eher mit ökologischen Anforderungen, für die jedoch auch in der Privatwirtschaft im Gegensatz zur Gleichstellung der Geschlechter eine Vielzahl an gesetzlich verankerten Richtlinien besteht. Die Gleichstellungsnorm hingegen ist bisher in Deutschland nur als Handlungsauftrag des Staates gesetzlich verankert, und liegt für die Privatwirtschaft nur in Form einer freiwilligen Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Wirtschaftsverbänden schriftlich vor. Zum dritten ist das Leitbild der Geschlechtergleichstellung eingebettet in eine hochgradig institutionalisierte Zweigeschlechtlichkeit, die der interaktiven Reproduktion von Geschlecht unterliegt. In diese sind kontingente Kopplungen zwischen Gleichheit und Differenz und Diskrepanzen zwischen Egalität und Ungleichheit bereits eingelagert, die sich in einer Implementierung des Leitbildes fortpflanzen können. Im folgenden Kapitel wird dies anhand von Theorie und Forschungsstand zu Geschlecht und Gleichstellung entwickelt.
3.1 Einleitung
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3 Geschlecht und Gleichstellung
3.1 Einleitung Männer und Frauen – so scheint es sich immer mehr in unserer Lebenswirklichkeit zu zeigen – verfügen immer weniger über eindeutig nach Geschlecht differierende Lebensverläufe. In den 1970er und 80er Jahren ging die Frauenbewegung und mit ihr Frauenforschung und -politik noch davon aus, dass grundlegende Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestünden, wobei Geschlecht als omnirelevante Strukturkategorie sozialen Lebens gesehen wurde (vgl. Becker-Schmidt 1987): Frauen würden systematisch benachteiligt, ihre Bedürfnisse übergangen und – weswegen es der Frauenforschung bedürfe – ihre Erfahrungen übersehen. Gegenüber der Annahme einer Omnirelevanz von Geschlecht stand und steht auf der anderen Seite eine „soziologische Indifferenz [in den ‚grand theories’] gegenüber dem sozialen Phänomen der Geschlechterunterscheidung“ (Hirschauer 1994: 669). Als Gründe hierfür sieht Hirschauer (1994) zum Einen die ‚Arbeitsteilung’ in der Soziologie mit der Frauenforschung: „Das Thema der Geschlechterbeziehungen ist (auch) in der Soziologie feminisiert worden“ (ebd.: 669). Der zweite Grund liege in einer impliziten Naturalisierung von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen, die dem Alltagsdenken entsprechend auch soziologische Theorien durchzögen (vgl. ebd.); und Heintz (2008) verdeutlicht: „Aus modernisierungstheoretischer Sicht sind die Funktionsprinzipien moderner Gesellschaften unvereinbar mit einer Zuweisung von Positionen und Rollen nach zugeschriebenen Kriterien – Geschlechterungleichheit wird entsprechend als ein vormodernes Relikt betrachtet, das auf eine unvollständige Modernisierung verweist.“ (ebd.: 231). Das ‚vormoderne Relikt’ erweist sich einerseits als relativ hartnäckig, andererseits greift die Annahme, dass Geschlecht omnirelevant sei, zu kurz. Die Grundannahmen einer kategorialen Verschiedenheit und entsprechend ebenso kategorial gesetzter Homogenität innerhalb der Genusgruppen erweisen sich als theoretisch und praktisch gleichermaßen unzureichend (vgl. für die Frauenbewegung Gerhard 2000; für die Frauenpolitik Müller 2005; für die Frauenforschung Gildemeister/Wetter 1992; für eine Zusammenschau dieser drei Wetterer 2005). K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3. Geschlecht und Gleichstellung
3.2 Institutionalisierte Zweigeschlechtlichkeit Ansätze, die eine soziale Bedeutung von Geschlecht überbetonen, weisen mit denjenigen, die sie herunterspielen, eine Gemeinsamkeit auf: Sie setzen eine (natur)gegebene Zweigeschlechtlichkeit voraus. Geschlecht wird in unserer Gesellschaft a) grundsätzlich binär gedacht: Menschen scheinen uns immer entweder als Männer oder Frauen zu begegnen. Etwas, das jenseits der beiden Kategorien liegt, gibt es in der Alltagswahrnehmung nicht. ‚Sein Geschlecht’ hat man den Alltagsannahmen entsprechend b) von Natur aus, da es am Körper ablesbar sei; c) bestehe diese Geschlechtszugehörigkeit ein Leben lang (vgl. Kessler/McKenna 1978). In unserer Gesellschaft geht man, so Garfinkel (1967), von einer „real world of sexed persons“ aus und behandelt diese als „matter of objective, institutionalized facts, i.e., moral facts“ (ebd.: 122). Die moralische Tatsache zieht die ‚natürlichen’ zu ihrer Evidenz hinzu: „For normals, the presence in the environment of sexed objects has the feature of ‘a natural matter of fact’. This naturalness carries along with it, as a constituent part of its meaning, the sense of its being right and correct, i.e., morally proper that it be that way.” (ebd.: 123) Dies ist hoch voraussetzungsvoll und erstaunlich resistent, wie neben Garfinkel (1967) bspw. auch Kessler und McKenna (1978), Douglas (1987) und Goffman (1994, zuerst 1977) zeigen: „Um die – im Vergleich zu allen anderen – geringen biologischen Unterschiede als Ursachen derjenigen sozialen Konsequenzen ansehen zu können, die scheinbar selbstverständlich aus ihnen folgen, bedarf es eines umfassenden, geschlossenen Bündels sozialer Glaubensvorstellungen und Praktiken, das zusammenhängend und komplex genug ist, um die Wiederauferstehung altmodischer funktionalistischer Ansätze zu seiner Analyse zu rechtfertigen.“ (ebd.: 106) Bereits die Zuordnung zu einer Geschlechtsklasse51 bei der Geburt anhand der äußeren Sexualorgane basiert nicht auf einer natürlichen kategorialen Differenz. Die Zuordnung erfolgt zwar anhand der äußeren Sexualorgane, aber immer mit und auf der Grundlage der Zuschreibung, dass die äußeren mit den inneren Organen, Hormonen und Chromosomen konsistent seien und das so vergeschlechtlichte 51
Goffmans Begriff der Geschlechtsklasse entspricht West/Zimmermans (1987) Geschlechtsklassifikation: „In allen Gesellschaften bildet die anfängliche Zuordnung zu einer Geschlechtsklasse den ersten Schritt in einem fortwährenden Sortierungsprozess“ (Goffman 1994: 109).
3.2 Institutionalisierte Zweigeschlechtlichkeit
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Wesen später der Fortpflanzung fähig. Zu den Zeiten im Leben der Individuen, in denen sich diese Zuschreibung verifizieren ließe oder eben auch widerlegt wird, z.B. während der Pubertät, bei der Realisierung von Fortpflanzung oder einem unerfüllten Kinderwunsch, ist die Person längst aufgrund dieser Zuschreibung ein Mann oder eine Frau und als solche dann, wenn sie von der Zuschreibung abweicht, ‚pathologisch’: D.h. dann erst entstehen bspw. medizinische ‚Gründe’ der Unfruchtbarkeit (vgl. Kessler/McKenna 1978).52 Das geschlossene Bündel, von dem Goffman (1994) spricht, greift also nicht erst im Verlaufe eines Lebens, sondern wird von vorneherein an dieses herangetragen. Goffman (1994) stellt daher fest, dass es der Erklärung bedürfe, wie die Differenzierung zwischen den körperlichen Merkmalen „für unsere sozialen Arrangements geltend gemacht wurden (und werden)“ (ebd.: 107). Gildemeister und Wetterer (1992) beantworten dies mit Bezug auf Berger/Luckmann (1969), Douglas (1987) und Goffman (1994) über die Institutionenhaftigkeit der Zweigeschlechtlichkeit. Wie für Institutionen oben aufgezeigt, werden Handelnde und Handlungen reziprok typisiert. So werden bspw. sexuelle Akte und Fortpflanzungen zu ‚Geschlechtsakten’ erklärt und im Zuge dessen Ausführende zu Trägern dieser Akte typisiert. Ihnen wird eine Funktion in diesen Akten zugeschrieben, die als ‚Geschlechtszugehörigkeit’ die potentielle Funktionsausübung auch dann präsent macht, wenn der Akt nicht vollzogen wird. Die Typisierung der Handelnden als (potentielle) Ei-Träger und (potentielle) Spermien-Träger wird gestützt durch die Tabuisierung von Alternativen. Die Institutionalisierung der so als heterosexuelle Geschlechtsakte konstruierten Fortpflanzungen geht einher mit einer Tabuisierung z.B. von Homosexualität, und die Institutionalisierung der Zweigeschlechtlichkeit geht einher mit einem Gleichheitstabu zwischen den so geschaffenen Gruppen. Der von Rubin (1975) geprägte Begriff des „sameness-taboo“ setzt ebenso wie die oben zitierten AutorInnen daran an, dass die Betrachtung natürlicher Gegebenheiten die Gemeinsamkeiten und nicht die marginalen Unterschiede hervorstechen lassen müssten.53 Der in den Alltagsannahmen vorausgesetzte Bezug zwischen ‚Natur’ und ‚Zweigeschlechtlichkeit’ dient der Legitimation der Institution: Legitimierung erfolgt über die als letztlich unveränderbar gesetzten und scheinbar von Menschen nicht beeinflussbaren Aspekte, wobei es entscheidend sei, dass diese Legitimierung „nicht als gesellschaftlich erzeugtes Produkt erkennbar ist“ 52 53
Entsprechend begründet dann der Umkehrschluss, die „legitimate posession“ der dem Geschlecht ‚zugehörigen’ Geschlechtsorgane, als „what nature meant to be there“ (Garfinkel 1967: 127). Wie Gildemeister und Robert (1999) die Arbeitsteilung als zentralen Modus der Geschlechterdifferenzierung werten, sieht Rubin (1975) Arbeitsteilung als Modus der Tabuisierung der (natürlichen) Gleichheit: „The division of labor by sex can therefore be seen as a ‚taboo‘: a taboo against the sameness of men and women, a taboo dividing the sexes into two mutually exclusive categories, a taboo which exacerbates the biological differences between the sexes and thereby creates gender“ (Rubin 1975: 178).
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3. Geschlecht und Gleichstellung
(Douglas 1991: 84; zit. nach Gildemeister/Wetterer 1992: 241).54 Die Legitimierung schließt, wie gezeigt, die Institutionalisierung ab, indem sie den Konstruktionsprozess umkehrt und die Zuordnung zur Folge der daraus resultierenden Unterscheidung erklärt. Die Legitimierung von Zweigeschlechtlichkeit als Natur vermittelt uns so die ‚Erkenntnis’, an den Sexualorganen ließe sich das Geschlecht von Menschen ablesen: Sie werden zu Geschlechtsinsignien (vgl. Hirschauer 1994).55 Die Glaubensvorstellungen, die man im Alltag stets parat hat und die, so Goffman (1994), marginale physische Bestände ausbeuten zur Legitimierung und Reifizierung von Geschlechterunterscheidungen, reiben sich ebenso mit den empirischen Gegebenheiten, wie die Geschlechterunterscheidung selbst. Daher schließt sich an die o.g. Frage, wie solch geringe Unterschiede bedeutsam gemacht werden, die Frage an, „wie die institutionellen Mechanismen der Gesellschaft sicherstellen konnten, dass uns diese Erklärungen stichhaltig erscheinen“ (ebd.: 107). „Wir können in einem Gedankenexperiment die Gleichung umdrehen und fragen, was aus der Umwelt herausgefiltert oder in sie hineinprojiziert werden musste, damit die angeborenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern (...) überhaupt irgendeine Bedeutung (...) bekommen können. Hier geht es also um institutionelle Reflexivität.“ (ebd.: 128) D.h. es geht also vorrangig um die Frage, wie uns soziale Tatsachen tagtäglich über das Fehlen von Evidenzen hinweg sehen lassen und uns spärliche Evidenz plausibilisieren können: Goffmans Begriff der institutionellen Reflexivität ist zu verstehen als Wechselwirkungen zwischen sozialen Wissensbeständen, institutionellen Arrangements und Praktiken. Das Wissen legitimiert die Praktiken und institutionellen Arrangements. Die institutionellen Arrangements bestätigen das Wissen über die Zweigeschlechtlichkeit und dessen Darstellung: Die Konstellation des heterosexuellen monogamen Liebespaares dient z.B. als Beleg für die Komplementarität von Männern und Frauen und Paarbildungsnormen ‚beweisen’, dass Männer größer sind als Frauen. Selbst diejenigen Arrangements, die das Misslingen auffangen, und damit einen Hinweis darauf böten, dass die an die Paarbildung geknüpften Wissensbestände eine solche Gültigkeit, wie ihnen zugeschrieben wird, nicht haben, bilden ergänzende Wissensbestände aus, wie sich in den alltäglichen Erklärungen für Homosexualität zeigt (vgl. z.B. die Beiträge in Hartmann et al. 2007). Die Praktiken wiede54 55
In den Feldforschungen Douglas’ galten als solche, bspw. religiöse Gewissheiten, „wie die Planeten in ihrem Lauf bestimmt sind oder wie Planeten, Menschen oder Tiere sich von Natur aus verhalten“ (Douglas 1991: 82; zit. nach Gildemeister/Wetterer 1992: 239). Die Integration in die symbolische Sinnwelt führt dann wiederum dazu, dass sie als Legitimation für weiteres gilt.
3.2 Institutionalisierte Zweigeschlechtlichkeit
59
rum bestätigen die Arrangements und das Wissen, indem sie diese in Interaktionen reproduzieren: Indem Männer und Frauen sich als Paare verhalten, existieren Paare überhaupt erst. Und auch hier gilt: Abweichungen werden nicht als Infragestellungen des Wissens und der Arrangements wahrgenommen, sondern integriert und formen ihrerseits Wissensbestände aus. So bietet z.B. der Streit in einem Paar Evidenz für die ‚Tatsache’, dass Männer und Frauen sich gegenseitig nicht verstehen (können), aber umso mehr brauchen sie einander (quod erat demonstrandum, denn es sind ja nun Paare, die sich streiten). „Zahlreiche soziokulturelle Strukturen nehmen die Geschlechterdifferenz also in sich auf und machen sie konsequenzenreich, indem sie sie für die Lösung multipler Organisationsprobleme (Sequenzierung, Paarbildung, Allokation usw.) nutzen. Zugleich katalysieren diese Einsätze die Geschlechterunterscheidung von Personen, indem sie entweder die Nachfrage nach eindeutiger Geschlechtszugehörigkeit verschärfen (so verlangen Grammatik wie Sportdisziplinen nach ‚Geschlechtsdiagnostik‘) oder indem sie Gelegenheitsstrukturen für Geschlechtsdarstellungen bereitstellen (Umgangsformen oder ‚Männerberufe‘ bieten es an, ‚den Mann zu machen‘).“ (Hirschauer 2001: 224; Herv. i.O.) Ein zentrales Merkmal der Geschlechtszuordnung ist die im ‚moral fact’ eingelassene Pflicht, die eigene Geschlechtszugehörigkeit auch sichtbar zu machen und die Geschlechtszugehörigkeit anderer ‚wahrzunehmen’. Diese wechselseitige Übereinkunft, dass man ausreichend Hinweise biete, damit das Gegenüber eine ‚verlässliche’ Zuordnung vornehmen könne, macht Geschlecht omnipräsent in alltäglichen Situationen. Omnipräsenz bedeutet aber nicht Omnirelevanz in Interaktionen: Die Geschlechtszugehörigkeit kann nach der ersten Zuordnung auch ‚ad acta’ gelegt werden (vgl. Hirschauer 2001). Damit schließt Hirschauer an Goffmans Konzeption einer losen Kopplung an:56 Die institutionelle Reflexivität verstärkt über die Wechselwirkungen die einzelnen ‚Bausteine’ zwar, sie besteht jedoch nicht in einer ‚festgezurrten’ Verbindung, sondern im situativen Abrufen, Ruhen lassen und durchaus auch – eben situativ – möglichen Konterkarieren (vgl. Goffman 1994).
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Vgl. „Im großen und ganzen (und von wichtigen Ausnahmen abgesehen) stehen demnach interaktive Praktiken und soziale Strukturen, wenigstens in modernen Gesellschaften, in einer nicht determinierten Beziehung zueinander, die sich als ‚lose Kopplung‘ beschreiben ließe; in Interaktionen beobachten wir ein Auseinanderfallen von sozialen Schichten und Strukturen in breitere Kategorien, wobei diese Kategorien selbst nicht einem eins-zu-eins Verhältnis zu etwas in der Sozialstruktur stehen müssen, sondern vielmehr an eine Verzahnung erinnern, die verschiedene soziale Strukturen auf die Zahnräder der Interaktion überträgt.“ (Goffman 1994: 85)
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3. Geschlecht und Gleichstellung
3.3 Ungleichheit, Gleichheitsnorm und Gleichstellungsnorm In der so geöffneten Forschungsperspektive, in der Geschlecht nicht mehr Personen als Merkmal angehaftet wird, sondern dessen Reproduktion in Interaktionen untersucht wird, zeigt sich, dass ‚die’ Frauen und ‚die’ Männer so kategorial nicht (mehr) zu trennen sind, wie dies für die Lebenslagen von Männern und Frauen vor zwanzig, dreißig Jahren erscheint. Angleichungen zwischen den Geschlechtern und Pluralisierungen innerhalb der Genusgruppen werden in der Geschlechterforschung und verwandten Disziplinen z.B. in Hinsicht auf Bildungs- und Erwerbsbiographien und Bedeutungszuweisungen an Familie und Beruf verstärkt in den Blick genommen (vgl. zum Überblick Gildemeister/Robert 2008). Dabei wird eine sozialstrukturelle Relevanz von Geschlecht nicht (mehr) a priori vorausgesetzt, sondern in das Zentrum der Fragestellung gerückt: „Wenn sich die Lebenslagen von Männern und Frauen gleichzeitig ausdifferenzieren und aneinander angleichen, und das in breiter Streuung, was ist das dann – ein Strukturwandel, punktuelles (temporär oder lokal begrenztes) ‚De-Gendering’ innerhalb vergeschlechtlichter Strukturen, eine klare DeInstitutionalisierung von Geschlechterdifferenzen und/oder ein Prozess der Individualisierung, in dem Geschlecht (immer mehr) ein Merkmal der Person, aber nicht (mehr) eines der gesellschaftlichen Grundstrukturen ist?“ (Wilz 2007: 114) ‚Degendering’ – ein von Lorber (2000) als politische Strategie geprägter Begriff – heißt, die Kategorie Geschlecht als solche zu hinterfragen, um einer Platzanweisungsfunktion von Geschlecht entgegenzusteuern. Lorbers These ist, dass solange Zweigeschlechtlichkeit immer wieder reproduziert werde, diese auch eine Hierarchisierung der Geschlechter hervorbrächte, gemäß ihrer Beobachtung „the more things change, the more they stay the same“ (2000: 89). Was Lorber mit diesem Wortspiel fasst, bezieht sich auf einen breiten Befund, dass trotz oben angeführter Angleichungen nach wie vor Kanalisierungsprozesse stattfinden, so dass Männer und Frauen unterschiedlich häufig in bestimmte Tätigkeiten, Berufen und Positionen gelangen (vgl. für Deutschland Achatz 2005; Allmendinger/Podsiadlowski 2001; Allmendinger/Hintz 2007). Diese Diskrepanz fassten Heintz und Nadai 1998 erstmals mit der These einer De-Institutionalisierung von Geschlecht: „Während die Geschlechterdifferenz lange Zeit institutionell abgesichert war, muß sie heute vermehrt über Handeln erzeugt und symbolisch markiert werden. Dies führt zu einer ‚Kontextualisierung’ der Geschlechterdifferenz, das heißt, die Aufrechterhaltung geschlechtsspezifischer Ungleichheitsver-
3.3 Ungleichheit, Gleichheitsnorm und Gleichstellungsnorm
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hältnisse wird zu einem voraussetzungsvollen Prozess, der an spezifische Konstellationen gebunden ist.“ (ebd.: 75) Solche spezifischen Konstellationen sind demnach beispielsweise abhängig von Organisationen, Berufen oder Tätigkeiten (vgl. Heintz et al. 1997), bzw. für den Wissenschaftsbetrieb z.B. von Fachkulturen, Formalisierungen, Standardisierungen (vgl. Heintz et al. 2004). Heintz und Nadai verstehen 1998 unter De-Institutionalisierung „eine Umstellung der Reproduktionsmechanismen von routineartigem Vollzug zu bewusstem und gezieltem Handeln“ (ebd.: 78). 2003 ergänzt Heintz, „diese Mechanismen [müssen] nicht auf gezieltes und bewusstes Handeln beschränkt sein“, sondern können „im Hintergrund wirken“ (ebd.: 214). Mit DeInstitutionalisierung bezeichnet sie nun: „die Institution verliert ihren überindividuellen Faktizitätscharakter“ (ebd.: 214). In der Überarbeitung ihrer These 2008 fasst Heintz erneut mit Jepperson (1991) De-Institutionalisierung als Umstellung der Reproduktionsmechanismen von ‚enacting’ zu ‚acting’ und illustriert dies an der geschlechterdifferenzierenden Höflichkeitsregel, dass Männer Frauen in den Mantel helfen. Ein Vollzug sei nicht mehr selbstverständlich und routineartig zu erwarten, sondern müsse jetzt situationsabhängig hervorgebracht oder unterlassen werden. De-Institutionalisierung wird hier entsprechend als Aufweichen, nicht aber als Auflösung von Institutionen verstanden „während die Individualisierungsthese aus dem Abbau normativer Vorgaben vorschnell auf Entstrukturierung und Auflösung schließt“ (Heintz 2008: 234). Auch wenn die ‚De-Institutionalisierungs-These‘ durchaus kritisch aufgenommen wurde (vgl. Gildemeister et al. 2003), hat sie für die darauffolgende Diskussion und als Ansatzpunkt für zukünftige Forschungen den Blick auf zwei – der nach wie vor bestehenden Institution der Geschlechterdifferenzierung gegenläufige – Institutionalisierungen gelenkt: Zum einen lässt sich eine Institutionalisierung der Gleichberechtigungsnorm beobachten, zum Anderen zeigt sich auf diskursiver Ebene eine Gleichheitsnorm (vgl. Gildemeister/Robert 2003). Als Institutionalisierung der Gleichberechtigungsnorm lässt sich die Entwicklung beschreiben, dass Gleichberechtigung verbreitet politisch und rechtlich verankert wird (vgl. Wobbe 2001; Cichowsky 2001; Heintz et al. 2001). An diese schließt sich im Grundgesetz ein Handlungsauftrag an, auf die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen hinzuwirken (vgl. auch Kap. 5.1; Klein 2006 für die EU): „Geschlecht wird auf diese Weise in wesentlichen Teilen, nämlich in seiner sozialen Gestalt, aus seiner scheinbar vorsozialen, quasi ‚natürlichen’ Selbstverständlichkeit überführt in die Bereiche des sozial Kontingenten, der Beeinflussbarkeit und Verantwortung.“ (Gildemeister/Robert 2003: 217)
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3. Geschlecht und Gleichstellung
Gleichzeitig zu einer (gesetzlich verankerten) Gleichstellungsnorm entwickelt sich mit und aus der Institutionalisierung der Gleichberechtigungsnorm ein Diskurs normativer Gleichheit, den Heintz (2008) als eine „Semantik der Gleichberechtigung“ (ebd.: 232) beschreibt. Nentwich (2004) bezeichnet dies mit Wittgenstein als ein „Sprachspiel der Gleichheit“ und Funder, Dörhöfer und Rauch (2006) begreifen dies in Anlehnung an den Neo-Institutionalismus als „Egalitätsmythos“. Mit diesen Formulierungen wollen die AutorInnen begrifflich fassen, dass quasi ein modernisierungstheoretisches Paradigma in das Alltagsdenken Einzug hält, in dem eine Ordnungsfunktion von Geschlecht als „ein vormodernes Relikt“ (Heintz 2008: 231) betrachtet wird. Dieser Diskurs beinhaltet nicht, Zweigeschlechtlichkeit in Frage zu stellen. Die Differenzsemantik des 19. Jahrhunderts wird zwar einerseits (nicht nur in Bereichen staatlicher Reglementierung) zurück gedrängt, aber kann sich andererseits wieder an die zwei getrennten Geschlechter über Essentialisierungen und Naturalisierungen anhaften. Zu unterscheiden sind hier also drei Ebenen: Auf der rechtlich-politischen Ebene kommt es zu einem Abbau geschlechterdifferenzierender Zugänge, Rechte und Pflichten. auf einer diskursiven Ebene entsteht die normative Annahme, dass Geschlechterdifferenzierungen nicht hierarchisch seien/sein sollten. In Interaktionen finden Neutralisierungen der Bedeutung von Geschlecht statt. Diese drei Prozesse weisen darauf hin, dass Geschlecht als Kategorie sozialer Ordnung an Bedeutung verliert. In Studien, die die Bruchstelle zwischen Gleichheitsnormen auf politischer oder diskursiver Ebene und dem ‚Ist‘-Zustand in den Blick nehmen, wird jedoch die analytische Trennung dieser Prozesse genutzt, um nicht vorschnell bzw. unverhältnismäßig auf einen Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht zu schließen. Denn a) bestehen auf den verschiedenen Ebenen verschiedene Ausmaße und Verhältnisse von Gleichheit, Egalität, Ungleichheit und Differenz und b) folgt der wechselseitige Einfluss dieser drei Ebenen aufeinander nicht schlichten Kausalzusammenhängen. 3.4 Organisation und Geschlecht „Noch bis vor kurzem galt es in der Frauen- und Geschlechterforschung als ausgemachte Sache, dass Organisationen systematisch vergeschlechtlicht sind (und im Mainstream der Arbeits-, Industrie- und Organisationssoziologie als ebenso ausgemachte Sache, dass sie es nicht sind.)“ (Wilz 2004: 227) Auch hier gilt, wie für die Annahme einer sozialstrukturellen Omnirelevanz von Geschlecht einerseits und einer Indifferenz andererseits, dass beide Seiten zu kurz
3.4 Organisation und Geschlecht
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greifen. Diskutiert wird, wo und wann Geschlecht in Organisationen relevant wird, unter welchen Bedingungen sich dies als Vergeschlechtlichung von Organisationen darstellt und ob dies als Gendering formaler Strukturen (vgl. Acker 1990; 1998; Britton 2000; Wilson 1996), als doing gender in der Interaktion (vgl. Gherardi 1995; Heintz et al. 1997; 2004; Krais 2000; Schlamelcher 2010; Wilz 2002;) oder als numerische Dominanz eines Geschlechts mit mehr oder weniger Auswirkungen auf andere Ebenen erfolge (vgl. Kanter 1977; Krüger 2007; Wilz 2004; Quack 1997; Ridgeway 2001; Yoder 1991). Eine grundsätzliche Frage ist aktuell, in welchem Verhältnis Organisation und Geschlecht gedacht werden und auf welche Weise Differenz und Gleichheit in dieses Verhältnis eingelassen sind. Wilz (2002) zeigt, dass dies nach Organisation verschieden sein kann: Für die untersuchte Polizei konstatiert sie eine Gleichzeitigkeit von Egalität und Differenz im Diskurs, die „in aller Widersprüchlichkeit und Spannungsgeladenheit nebeneinander und ineinander ‚gespielt’“ (Wilz 2004: 239) werden. In der untersuchten Versicherung werden dagegen zur Aufgabenverteilung in der Alltagspraxis Geschlechterdifferenzierungen nicht abgerufen. Hier herrschen die Annahmen von Gleichheit und Individualisierung vor. Dennoch kommt es in diesem Bereich zu Aktualisierungen von Geschlechterstereotypen, wenn es um Personalentscheidungen geht. Nach Wilz (2002; 2004) werden Personalauswahlverfahren verstanden als Entscheidungen über eine ‚Passung’ von Person und Aufgabe. Für dieses Passungsverhältnis kann neben funktionalistischen Kriterien wie Qualifikation, Leistung und Berufserfahrung auch auf Geschlechterstereotype zurückgegriffen werden, „um die Personalauswahl als rational, funktional, legitim und konsensfähig zu begründen“ (Wilz 2004: 233). Geschlechterstereotypisierende Annahmen bestehen als Naturalisierungen von Geschlecht und damit als Naturalisierung so vergeschlechtlichter Personen. Damit schließen sie die Lücke zwischen Person und Aufgabe, die aufgrund der normativen Annahme eines Passungsverhältnisses zwischen Person und Aufgabe nicht gegeben sein darf und die EntscheidungsträgerInnen bei der Stellenbesetzung zu bewältigen haben. Naturalisierte vergeschlechtlichte Kompetenzen, die dann Personen für eine Stelle passend erscheinen lassen, ‚füllen‘ dieses Passungsverhältnisses im Einzelfall. So reproduziert die Entscheidung die normative Annahme einer solchen Passung, so dass sich auch hier in institutioneller Reflexivität Praxis, institutionelle Arrangements und soziales Wissen wechselseitig legitimieren. So trägt Geschlecht nicht unmittelbar und explizit, aber mittelbar als naturalisiertes Passungsverhältnis zur Legitimation von Beförderungen bei (vgl. ebd.): „Der Rückgriff auf Naturhaftigkeit und Emotionalität (...) zeigt die Funktionalität des Bezugs auf Geschlecht für Organisationen: Komplexität wird reduziert, Entscheidungen werden begründbar und legitim, (...) die Konkur-
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3. Geschlecht und Gleichstellung
renz wird minimiert und die Maßgabe der Geschlechtergerechtigkeit nicht direkt negiert, weil Qualifikationen und Kompetenzen (dadurch, dass die Geschlechterstereotypisierung mit den Arbeitsanforderungen verquickt wird) zwar ‚durch die Geschlechterbrille’ wahrgenommen und zugeschrieben, aber individuell attributiert und begründet wird.“ (Wilz 2004: 245) Geschlecht kann (muss aber nicht) aufgrund seiner Omnipräsenz in Organisationen relevant gemacht werden. Wenn dies geschieht, ist es keineswegs beliebig, sondern rekurriert auf die – der Gleichzeitigkeit von Differenz und Gleichheit unterliegende – Annahme einer naturgegebenen Zweigeschlechtlichkeit und damit einer natürlichen Verschiedenheit der Geschlechter (vgl. ebd.). Funder, Dörhöfer und Rauch (2006) gehen der Frage nach, inwiefern Geschlecht an Platzanweisungsfunktion verliere in einer zunehmend ‚wissensbasierten’ Unternehmenslandschaft, wie sie besonders für die Informations- und Telekommunikationsbranche gelte. Anhand einer quantitativen Erhebung des Geschlechterproporz in der Branche und qualitativen Untersuchungen in sieben Unternehmen stellen sie fest, dass die Frauenanteile in den Kernberufen und im Management zwar als überdurchschnittlich hoch anzusehen seien, der aufgrund aktueller Diskussionen erwartete Bedeutungsverlust von Geschlecht jedoch nicht eingetroffen sei: Horizontale und vertikale Segregation bestehe und nehme tendenziell eher zu. Informelle ‚Kanäle’ und Netzwerke spielten eine zunehmend wichtige Rolle für Rekrutierungsprozesse und trügen zur Stabilisierung und Verschärfung bestehender Geschlechterverteilungen bei. Ebenso zeigte sich in der Studie, dass stereotype Zuschreibungen an Frauen und Männer durchaus aktualisiert und für berufliche Entwicklungen relevant gemacht werden (vgl. ebd.). Innerhalb der Organisationen wird jedoch betont, Rekrutierung erfolge allein nach Qualifikation und ohne Ansehen des Geschlechts. Dies verstehen Funder et al. (2006) mit Bezug auf den Neo-Institutionalismus als „Egalitätsmythos“ (ebd.: 203ff.). Zunächst legen Funder et al. dar, dass sich Geschlechteregalität in die als effizient geltenden Organisationsprinzipen, d.h. dem Mythos der Rationalität, einfüge und daher auch nach außen kommuniziert werde: Die größtenteils recht jungen Unternehmen dieser Branche seien besonders darauf angewiesen, „Legitimität nach außen zu erzielen“, indem sie „den Anschein vermitteln (...), sich an der Gleichberechtigungsnorm zu orientieren“ (ebd.: 204). „Traditionelle Frauen- und Männerbilder“ gelten als „antiquiert“, so die AutorInnen, und widersprächen dem in der Branche dominierenden Leitbild einer „flexiblen, dezentralen, selbstorganisierten, weitgehend hierarchielosen Unternehmung, in der eine Diskriminierung qua Geschlecht selbstverständlich keinen Platz haben darf“ (ebd.: 205). Obwohl ungleichheitsgenerierende Prozesse im Arbeitsalltag stattfinden, die der deklarierten Egalität widersprechen, wird Egalität als Teil des Organisationsprinzips ver-
3.4 Organisation und Geschlecht
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standen. Der Glaube, Chancengleichheit bestehe, legt sich als Deutungsmuster über diese Prozesse und entkoppelt ungleichheitsgenerierende Prozesse in der Organisation von der Rhetorik. Auch Nentwich (2004) sieht eine Gleichzeitigkeit von Egalität und Geschlechterdifferenzierung in der von ihr untersuchten Organisation. Wie Wilz (2002) betont sie die Bedeutung der geteilten Annahme einer naturgegebenen Zweigeschlechtlichkeit, die Grundlage für eine wechselseitige Stabilisierung von Differenz- und Gleichheitssemantik sei: „Sie scheinen dabei das gemeinsame Ziel der Stabilisierung des Geschlechterverhältnisses zu verfolgen“ (Nentwich 2004: 291). Die Gleichheitssemantik bezieht sich in der von Nentwich (2004) untersuchten Organisation auf ‚die‘ Organisation, während die Differenzsemantik sich an Individuen hafte. Auf der Ebene von Person und Interaktion werden Frauen und Männer entsprechend eines Gleichheitstabus unterschieden: „Wird das Individuum, die einzelnen Mitarbeitenden fokussiert, so werden Unterschiede beschrieben. Frauen und Männer scheinen dann über unterschiedliche Eigenschaften zu verfügen, die auch ihre unterschiedlichen Positionierungen in Gesellschaft und Organisation begründen. Andererseits wird jedoch von einem Grundsatz der Gleichheit ausgegangen, sobald es um organisationale Themen geht. Jeder und jede haben die Chance Karriere zu machen oder eine Führungsposition zu besetzen.“ (ebd.: 245) Daraus folgt im Verständnis der Befragten dieser Studie eine Gleichsetzung von Gleichstellungspolitik mit der Absenz von Diskriminierung, genauer: struktureller Diskriminierung. In dieser Sichtweise wird dann auch der Organisation in den Interviews bescheinigt, nicht zu diskriminieren und damit Chancengleichheit zu gewährleisten, aber zugleich von Nachteilen erzählt, die Frauen in den männerdominierten Teams als „Behinderungen“ erleben (ebd.: 264). Die Annahme, Chancengleichheit sei in der Organisation grundsätzlich gegeben, wird gestützt durch die Norm, dass funktionale Differenzierungen in der Organisation Geschlechterunterscheidungen überlagern. Unterschiede werden in der Gleichheitssemantik gemäß legitimen, also ‚funktionalen’ Kriterien (wie Eignung, Ausbildung, Position, Vertragssituation) gemacht, nicht aber nach Geschlecht, einem illegitimen Kriterium. Entsprechend wird davon ausgegangen, dass Unterschiede außerhalb des Unternehmens entstehen bzw. gemacht werden, und so erklären sich die Befragten die geringen Frauenanteile insbesondere in Führungsetagen über Prozesse, die der Organisation vorgelagert sind. Als solche werden verschiedene Qualifikationsniveaus von Frauen und Männern in den Ausbildungen, geschlechterdifferentes Berufswahlverhalten, eine „konservative Gesellschaft“ (ebd.: 276) oder konservative Männer (auch im Unternehmen) angeführt, wobei
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3. Geschlecht und Gleichstellung
letztere nicht ‚das’ Unternehmen darstellen, somit aus der egalitären Organisation ‚herausdefiniert’ werden. Trotz auffallend geringem Frauenanteil in Führungsetagen erscheint Chancengleichheit in der Organisation und durch ‚die’ Organisation auf diese Weise glaubwürdig (vgl. ebd.; ähnlich Belinszki 2002): „Die Nachteile [für Frauen in männlich dominierten Teams] werden innerhalb des Sprachspiels der Unterschiede als persönliche Hürden und Schwierigkeiten dargestellt und nicht auf der strukturellen oder kulturellen Ebene betrachtet. Nur so ist es möglich, dass diese erlebten Diskriminierungen in keinem Widerspruch zu der Aussage zu stehen scheinen, dass keine Diskriminierung stattfinde.“ (Nentwich 2004: 296) Die beiden Tabus – das Gleichheitstabu von Männern und Frauen auf der Ebene von Person und Interaktion sowie das Unterschiedstabu auf einer Ebene struktureller Gleichheitssemantik – dissoziieren Ungleichheitspraktiken und ermöglichen dadurch sie auszublenden (vgl. ebd.): Dabei wird das Thema Diskriminierung von der Ebene der Interaktion auf die strukturelle Ebene verlagert, auf der dann wiederum dem allgemeinen Verständnis nach keine Diskriminierung stattfindet, sodass sich das Thema erübrigt. Dies ermöglicht es, dass – in einer neo-institutionalistischen Lesart der Ergebnisse Nentwichs – das Unterschiedstabu (also die Gleichheitssemantik) auf organisationaler Ebene aufrechterhalten und zugleich dem Gleichheitstabu (also der Geschlechterdifferenzierung) entsprechend die Ebene der Interaktion von Gleichstellungsanforderungen entkoppelt werden kann. Für ungarische JournalistInnen stellt Belinszki (2002) fest, dass im beruflichen Bereich die Gleichheitsnorm in hohem Maße verbindlich war und Geschlechterdifferenzierungen auf der Basis von beruflicher Arbeit als illegitim galten. Eine Weise, wie sie jedoch legitim eindrangen, war die Re-Naturalisierung von Geschlecht über von Frauen zu leistende Reproduktion durch Schwangerschaft und Geburt sowie die Vereinbarung von Familien- und Berufsarbeit, die implizit die sozial in Körper eingeschriebenen Unterscheidungen zwischen Geschlechtern reproduzierte. Indem die Zuständigkeit für Familienarbeit Frauen zugewiesen wurde, wurde die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als privates Problem (allein) von Frauen gewertet und nicht zu einer Aufgabe der Organisation. Eine vergleichbare Ausgangssituation konstatiert auch Nentwich (2004): „Indem durch die Assoziation von Familie und Frauen die Diskussion zur Flexibilität von Mitarbeitenden in den Bereich der Rollen- und Arbeitsteilung eines Paares verlagert wird, wird die Diskussion [zur Trennung zwischen Privatem und Beruflichem] zugleich in den privaten Raum verschoben und tabuisiert.“ (ebd.: 296)
3.4 Organisation und Geschlecht
67
In der von ihr beschriebenen Organisation wird auf Grundlage dieser so aus der Organisation heraus verlagerten Geschlechterdifferenzierung nun Gleichstellungspolitik betrieben. Ihre Ergebnisse weitergeführt, ließe sich sagen, dass sich nur so diejenigen Maßnahmen, die Nentwich als ‚Familienfreundlichkeit des Betriebs’ bezeichnet, legitim in die Gleichheitssemantik einfügen: Nur durch eine Renaturalisierung von Differenz ist es möglich, dass innerhalb der Gleichheitssemantik Unterschiede als solche in der Organisation wahrgenommen werden, denen mit organisationaler Gleichstellungspolitik begegnet werden soll, ohne dass das strukturelle Unterschiedstabu infrage gestellt würde. Die Unterschiede, die gemacht und benannt werden, dringen in der von Nentwich (2004) beschriebenen männerdominierten Organisation nur durch das ‚andere Geschlecht‘ i.e. Frauen ein. Die Norm bzw. ‚das Neutrale’ (i.e. Männer) wird kontrastiert durch Frauen: „Nur durch sie [Frauen] wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Organisation ein Thema, und nur durch sie wird es notwendig, die Trennung zwischen Beruflichem und Privatem in Frage zu stellen. Indem diese Verknüpfung zwischen Frauen und Familienverantwortung als unhinterfragte Annahme besteht, kann Kinderbetreuung als angewandter Feminismus bezeichnet werden und wird ‚familienfreundlich’ zum Synonym für ‚frauenfreundlich’.“ (ebd.: 281) Die Renaturalisierung der Geschlechterunterscheidung, die an Frauen festgemacht wird, bezieht sich allerdings nicht nur auf die Reproduktion und die daraus abgeleitete institutionalisierte Zuweisung der Verantwortung für Familie. Vielmehr wird auf der Grundlage einer normativen Heterosexualität und der daraus resultierenden Annahme, dass in Interaktionen zwischen Männern Körperlichkeit keine Rolle spiele, der weibliche Körper zum Modus differendi zwischen den Geschlechtern: „So kommt zum Beispiel der Körper erst ins Spiel wenn Frauen in die Unternehmung kommen. (...) Nur durch die Annahme einer männlichen Norm, in der Körper nicht relevant sind, kann die Attraktivität von jungen Frauen als ein Vorteil in einer männerdominierten Abteilung beschrieben werden.(...) Das Thema Körper, sexuelle Anziehung und (heterosexuelle) Sexualität in der Organisation scheint erst dadurch zu entstehen, dass Frauen dazu kommen.“ (ebd.: 279f.) In der von Nentwich (2004) untersuchten Organisation wird Gleichstellung vor dem Hintergrund eines organisationalen Unterschiedstabus, einer Renaturalisierung und Individualisierung von Geschlechterunterscheidungen, sowie durch die Kontrastierung zwischen Männern als Norm und Frauen als Abweichungen von
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3. Geschlecht und Gleichstellung
dieser, als ein „Thema von Frauen und nicht ein Problem des Geschlechterverhältnisses“ (ebd.: 282) verstanden. Gleichstellung wird so ein „Kampf (...) einer einzelnen Frau gegen das gesamte System“ (ebd.: 284), während Männer Frauen nur darin unterstützen, aber selber nicht auf Gleichstellung dringen können, „da das Ziel nicht als ihr eigenes Ziel verstanden wird“ (ebd.: 284). 3.5 Frauenpolitik und Frauenförderung Gleichstellungspolitik allein als Anliegen von Frauen zu werten, ist nicht neu: Im Gegenteil, die zweite Welle der Frauenbewegungen brachte zunächst eine reine Frauenpolitik in Gang. Müller (2005) beschreibt dies rückblickend als „Geschlechterkampf in vier Runden“ (ebd.: 67). Dabei wurde durch den Anspruch auf Macht über die eigene Sexualität und Reproduktionsfähigkeit (z.B. bez. §218), mit dem Anprangern von Gewalt gegen Frauen und über die Aufwertung von Haus- und Familientätigkeiten als Arbeit gezielt der Privatbereich politisiert. Doch auch auf den öffentlichen Bereich zielten frauenpolitische Aktivitäten ab: Ein Erfolg zeichnete sich im Bereich der öffentlichen Verwaltung Mitte der 1980er Jahre ab, indem dort Stellen für kommunale Frauenbeauftragte, Frauenbüros und Frauenministerien eingerichtet wurden und sukzessive Gleichstellungsgesetze für den öffentlichen Dienst erlassen wurden (vgl. Bednarz-Braun 2000). Entscheidender war jedoch zu Beginn der frauenpolitischen Anliegen die Möglichkeit zu schaffen, dass Frauen durch existenzsichernde Erwerbstätigkeit finanziell unabhängig von versorgenden Ehemännern wurden. Dieses Ziel jedoch, so Müller (2005), ging im Zuge der frauenpolitischen Entwicklungen verloren: „Nicht Arbeitszeitverkürzung für alle – und damit die Erhöhung der Chance, dass Männer sich an Haus- und Familienarbeit beteiligen können –, nicht Erhöhung der Einkommen in Frauenberufen hatte Priorität, es wurde das Hauptgewicht auf die Erhöhung des Frauenanteils in Männerberufen und -bereichen, wie Führungspositionen gelegt.“ (Müller 2005: 77) Über letzteres drang Gleichstellungspolitik verstärkt in Organisationen ein. Auch wenn in der Privatwirtschaft für Gleichstellungspolitik keine gesetzlich verbindliche Regelung geschaffen wurde, so zeitigten doch bereits Ende der 1980er Jahre Forderungen insbes. von Gewerkschafterinnen nach betrieblichen Gleichstellungsprogrammen kleine Erfolge: Einzelne Großbetriebe richteten – in Anlehnung an den öffentlichen Dienst – Frauenförderpläne ein, die zumeist auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzielten (vgl. Bednarz-Braun 2000; Riegraf
3.5 Frauenpolitik und Frauenförderung
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1997). Im Zuge dessen wurden vor allem Wiedereinstiegsmöglichkeiten auch über die gesetzlichen Verpflichtungen hinaus angeboten und Teilzeitarbeit ermöglicht: „Nur wenige Fördermaßnahmen richteten sich auf die Verbesserung des beruflichen Aufstiegs von Frauen. Zentrale Benachteiligungen, wie ungleiche Entlohnung und ungünstige Arbeitsbedingungen, werden in den Maßnahmen weitgehend ausgeklammert.“ (Bednarz-Braun 2000: 154) Bednarz-Braun (2000) resümiert mit Blick auf Studien, die erste betriebliche Frauenfördermaßnahmen der 80er und frühen 90er Jahre untersuchen, dass diese Maßnahmen vor allem vor dem Hintergrund eines antizipierten Fachkräftemangels und Innovationsbedarfs entstanden seien. Dementsprechend stünden in den Betrieben keine Maßnahmen an, die Frauen in Konkurrenz zu Männern stellen, bzw. Männer durch eine Konkurrenz von Frauen bedrohen oder benachteiligen könnten wie bspw. Quotenregelungen. Frauenförderpolitik stehe unter „dem Primat der Kostenökonomie“ (ebd.: 155). Zur Frage, ob diese Maßnahmen (dennoch) zu einem Abbau sozialer Ungleichheit zwischen Männern und Frauen beitragen können, resümiert Riegraf (1997) anhand des Forschungsstands Anfang der 90er, „dass die vorhandenen Maßnahmen an bestehende Rollenstereotype anknüpfen, diese erneut zementieren und eher als kontraproduktiv einzuschätzen sind.“ (ebd.: 57) In ihrer eigenen Studie zur Frauenförderung in einer Organisation im Einzelhandel stellt Riegraf (1993; 1997) fest, dass sich Reichweite, Wirksamkeit und Grenzen gleichstellungspolitischer Maßnahmen weder allein durch ökonomische Faktoren noch über die Güte der Instrumente erklären lässt, sondern vor allem auch „Resultat komplexer organisationsspezifischer Entscheidungs-, Aushandlungs- und Kompromißbildungsprozesse in Organisationen“ (Riegraf 1997: 54) sind. Hierbei stellt sie sowohl für den Prozess der Entstehung als auch für die Umsetzung die Gestaltungsmöglichkeiten verschiedener innerorganisationaler AkteurInnen und deren Interessen in den Mittelpunkt. In einer Top-Down-Strategie im von ihr untersuchten Unternehmen ging die Unternehmensspitze „intuitiv“ von einer Notwendigkeit aus, Maßnahmen zu entwickeln, um (mehr) Frauen den Zugang zu höheren Führungsebenen zu ermöglichen (ebd.: 55). Riegraf sieht darin zwei Mankos: Zum einen wurde bis auf die ‚Feststellung’, dass Frauen in Führungsebenen unterrepräsentiert sind, weder die Situation weiblicher Beschäftigter eruiert, noch wurden Aufstiegsbarrieren identifiziert, so dass die Maßnahmen an den beschäftigten Frauen und der organisationalen Situation vorbeizielten. Zum zweiten wurde von der Unternehmensspitze die Verbindlichkeit formaler Weisung überschätzt, denn die Gleichstellungspolitik wurde „durch aktive und passive Formen der Obstruktion (von der Nichtbeachtung bis zu expliziten Versuchen der Blockierung) von Teilen der Beschäftigten behindert“ (ebd.: 55).
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3. Geschlecht und Gleichstellung
Exemplarisch für Missachtungen der Vorgaben stellt Riegraf (1993) die Interpretationen zweier Geschäftsleiter vor. Im Unternehmen erachten sie Chancengleichheit als gegeben und erklären, in ihren Entscheidungen über Beförderungen keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu machen. In diesem Sinne sehen sie ihrerseits keinen Handlungsbedarf für frauenfördernde Maßnahmen, lehnen sie eher ab, da sie Beförderungen nach ‚Qualifikation’ eher entgegenstünden. Zum Zweiten sehen die beiden Führungskräfte keine Handlungsmöglichkeit in Hinsicht auf die „ganz natürliche Sache“ (Interview Geschäftsleiter zit. nach Riegraf 1993: 109), dass Frauen schwanger werden, was ein ‚frauenspezifisches’ Risiko für das Unternehmen darstelle. Das „Desinteresse“ (ebd.: 102) dieser Führungskräfte an Gleichstellungsmaßnahmen kann aber nur dann virulent werden, wenn Möglichkeiten bestehen, diese zu ignorieren, ohne dass es als Weisungsmissachtung augenfällig wird und ohne der Organisation zu schaden. Eine solche Situation ist hier nun zum Einen durch mangelhafte Kommunikation der Gleichstellungsmaßnahmen gegeben. Diese wurden in einer „Leitlinie einer Personalpolitik für Frauen“ (ebd.: 102) festgehalten, die in Form einer Broschüre ohne weitere Erläuterungen postalisch von der Unternehmensspitze den Führungskräften zugesandt wurde. So erhalten diese Führungskräfte Spielraum, über Sinn und Zweck dieser Leitlinie zu mutmaßen und zu urteilen (vgl. „Die genauen Hintergründe kenn ich nicht, vielleicht ist das ‚in’, man muss ja so etwas heute machen“ Interview Geschäftsleiter zit. nach Riegraf 1993: 102). Zum zweiten sieht Riegraf (1993) im Vergleich zum Thema Ökologie einen Mangel an gesellschaftlichem Druck, der dazu führen würde, dass die Führungskräfte der Frauenförderung Relevanz für die Organisation zuschreiben. Auch fehlten drittens konkrete Operationalisierungen, bspw. Zielvereinbarungen. Eine Verbindlichkeit der Maßnahmen kann von den Führungskräften so ‚guten Gewissens’ außer Kraft gesetzt werden. Riegraf folgert, dass vor allem eine intensivere Kommunikation, die auch einen breiteren Konsens erzielt, eine erfolgreichere Gleichstellungspolitik ermöglicht hätte.57 „Ein partizipations- und kommunikationsorientierter Ansatz hätte in der Programmvorbereitungsphase dazu beitragen können, die komplexen organisationsinternen und personalen Aufstiegsbarrieren zu erkennen und so die Chancen erhöht, angemessene Fördermaßnahmen zu entwickeln. Zudem hätte eine konsensorientierte Diskussion über die Notwendigkeit von Frauenfördermaßnahmen und deren Ziele in Gang gesetzt werden können.“ (ebd.: 117) 57
Vgl. hierzu auch Brunssons (1989; 1993) Ansatz, Entscheidungs- und Handlungsebene müssten durch Kommunikation verbunden werden.
3.6 Modi und Moden der Gleichstellungspolitik
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3.6 Modi und Moden der Gleichstellungspolitik Anfang der 1990er Jahre gewinnt Gleichstellungspolitik an Bedeutung, auch wenn nur wenige privatwirtschaftliche Organisationen Gleichstellungsprogramme implementieren. Erste Evaluationen erfolgen, ein Markt für Ratgeberliteratur entsteht und eine kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung beginnt. Im Zentrum der Kritik stehen (anders als bei vorwiegend evaluativen Studien) vor allem die Konzeptionen von Geschlecht(ern), die den Frauenfördermaßnahmen unterliegen. So stellen Hausen und Krell 1993 fest: „Gemessen am Mann erscheinen berufstätige Frauen als Arbeitskräfte zweiter Klasse, Mängelwesen bzw. Mitglieder einer Problemgruppe. Maßnahmen gezielter Frauenförderung wie Quotierung etc. werden dementsprechend als Entwicklungshilfe angesehen. Als entwicklungsbedürftig gelten dabei nicht Organisationen, Arbeitsbedingungen oder (zumeist männliche) Führungskräfte wegen der von ihnen ausgehenden unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierungen, sondern die diesen Diskriminierungen ausgesetzten Frauen.“ (ebd.: 9) Hier deutet sich der Paradigmenwechsel an, für den Roloff (1998) die Formulierung ‚Gleichstellung ist Strukturpolitik‘ prägte. Sie solle nicht als ‚Förderung’ von (implizit) defizitären Frauen an eine männliche Norm, sondern als Abbau ‚vergeschlechtlichter Strukturen’ von Organisationen gelten (vgl. ebd.). Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 hielt in die bundesdeutsche Gleichstellungspolitik das Konzept des Gender Mainstreaming Einzug. Für den öffentlichen Dienst als Maßgabe gesetzt, erscheint Gender Mainstreaming fast als Synonym für aktuelle Gleichstellungspolitik, „gäbe es nicht die ein oder andere Tagung und Publikation zum Managing Diversity, der zweiten derzeit viel diskutierten geschlechterpolitischen Option“ (Wetterer 2005: 48). Der einseitige Fokus von Gleichstellungspolitik auf Frauen, der mit dem Verständnis von Gleichstellung als Strukturpolitik ausgehebelt werden sollte, kommt nach Meuser (2009) bei diesen beiden Konzepten wieder hinein: Wenn bei Gender Mainstreaming und Diversity Management von Geschlecht als besonderer Humanressource die Rede sei, so sei damit letztlich immer das ‚andere Geschlecht‘, sprich Frauen, gemeint: Frauen werden zu demjenigen ‚Humankapital’ gemacht, „dem jene Generalität fehlt, die für reine Management-Aufgaben und von Männern selbstverständlich erwartet werden“ (Priddat 2004: 185): „Sogenannte ‚soft skills’ und ‚soziale Kompetenzen’ werden als bedeutsam für den Organisationserfolg entdeckt, und sie gelten als knappes Gut. Ver-
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3. Geschlecht und Gleichstellung
mutet werden diese Kompetenzen, den üblichen Geschlechterstereotypen folgend, bei Frauen.“ (Meuser 2009: 99) Wetterer (2002) fasst dies als Neubelebung des insbes. von Beck-Gernsheim und Ostner (1978) entwickelten Konzepts des „weiblichen Arbeitsvermögens“, mit dem eine Positivierung der Differenz (genauer: des Weiblichen) angestrebt wurde und das die zweigeschlechtliche Ordnung dabei unhinterfragt voraussetzte, die Geschlechterdifferenz sei auch bei Gender Mainstreaming und Diversity Management wieder „der Dreh- und Angelpunkt“ (Wetterer 2003: 137). Damit wird vorausgesetzt, was sich bereits bei den Bestrebungen nach Gleichberechtigung in der ersten Frauenbewegung als unhaltbar zeigte, denn „es gibt sie empirisch nicht mehr (falls es sie je gegeben hat): ‚die’ Frauen und ‚die’ Männer“ (ebd.: 137). Wetterer fasst die Reaktivierung dieser Vorannahmen unter neuen Bezeichnungen als rhetorische Modernisierung. Für Gender Mainstreaming und Managing Diversity gelte, dass sie sich „in einer Sprache [präsentieren], die nicht nur moderner und weitaus professioneller klingt als die alte“ (ebd.: 132), sondern sich vor allem nicht-allgemeinverständlicher Begriffe bediene. Dies widerspricht einer (gleichstellungs-)politischen Ausrichtung, „da sich die Präsentation politischer Ziele und Maßnahmen aus Gründen ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit in aller Regel durch griffige Formulierungen und eingängige Slogans auszeichnet“ (ebd.: 132). Sie identifiziert diese Konzepte als Verwaltungsmodernisierungs- bzw. ökonomische Maßnahmen, die als gleichstellungspolitische dargestellt und angenommen werden: „Gewundert und auch irritiert haben mich ganz am Anfang die Worte ‚Managing’ und ‚Mainstreaming’ und ihre Verwandlung in Synonyme für politisches Handeln (...), dass die neuen Strategien – anders gesagt – so schnell als politische Strategien akzeptiert worden sind.“ (ebd.: 135) Dies steht für Wetterer im Widerspruch dazu, dass sie nicht geeignet seien, gleichstellungspolitisch wirksam zu werden. Zu ihrer Analyse hinsichtlich potentieller Wirkung bedient sie sich dem von Knapp (2008, zuerst 1997) entwickelten Konzept, dass Gleichstellungspolitik Gleichheit, Differenz und Dekonstruktion zusammen bringen müsse. Knapp (2008) versteht diese als notwendige Bestandteile einer Perspektive, der a) die Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit von Frauen und Männer unterliege, wobei b) gesehen werde, dass sozial Unterschiede hergestellt und Ungleichheit in diese Unterscheidung eingelassen sei und c) es gelte diese Unterscheidungspraxis abzubauen, wozu es der Dekonstruktion bedürfe:
3.6 Modi und Moden der Gleichstellungspolitik
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„Die theoretische Aktivität dekonstruktivistisch orientierter Feministinnen ist dementsprechend darauf orientiert, die Reproduktion des blau-rosa Codes der Zweigeschlechtlichkeit zu unterlaufen, auch und besonders dort, wo er als Frauenforschung bzw. Frauenförderung auftritt und ihn lediglich verdoppelt.“ (ebd.: 166) Jede Position, ob Gleichheit, Differenz oder Dekonstruktion für sich genommen berge ein Dilemma: Das Unterschiedsdilemma besteht in der diskursiven Dramatisierung der Geschlechterdifferenz, wodurch die Polarisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit fortgeschrieben und verstärkt wird (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992). Eine Positivierung der Differenz verfestigt nur Ungleichheit und reproduziert Segregation, indem Frauen und Männern eine einseitige Eignung bzw. Nichteignung für jeweilige Berufe, Tätigkeiten und Positionen qua Geschlecht zugeschrieben wird. Das Gleichheitsdilemma besteht darin, dass mit der Annahme einer allgemeinen Gleichheit bestehende strukturelle Unterschiede übersehen werden. Dies führt zu dem in den oben angeführten Studien beschriebenen Ungleichgewicht einer nur vermeintlich geschlechtsneutralen, de facto männlichen Norm (vgl. auch Gherardi 1995; Wilson 1996), einer Verlagerung struktureller Defizite auf Individuen und einer Dissoziation von stattfindender Diskriminierung und organisationaler Gleichstellungspolitik (vgl. Nentwich 2004; Funder et al. 2006). Ebenso wie für das Gleichheitsdilemma gilt für das Dekonstruktionsdilemma, dass der Weg umso weniger gangbar ist, wenn das Ziel bereits zum Ausgangspunkt erklärt wird. Pluralität innerhalb und Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern anzunehmen, trägt alleine nicht, um eine Gleichstellung zwischen Männern und Frauen zu erreichen. Dekonstruktion läuft politisch leer, wenn sie nicht berücksichtigt, dass Unterscheidungen zwischen Männern und Frauen sozial gemacht und institutionell verfestigt werden (vgl. Knapp 2008). Vor diesem Hintergrund sieht Wetterer (2003) für die neuen Moden insbesondere einen Mangel: Dekonstruktiv sind sie nicht. Im Gegenteil werde die Unterscheidungspraxis noch kultiviert und stereotyp unterschiedliche Erwartungen letztlich zementiert, indem als gegeben angenommene Geschlechterunterschiede in eine Semantik ökonomischer Nutzbarkeit übersetzt werden. Diese kritische Sicht Wetterers ist Bezugspunkt auch für AutorInnen, die gleichstellungspolitische Chancen in den aktuellen Konzepten sehen (vgl. Krell 2008; z.T. Meuser 2004; 2009). So wertet Meuser (2004) die ‚Gender-Optik’ von Gender Mainstreaming als Möglichkeit das Ignorieren vergeschlechtlichter Strukturen, das deren Aufrechterhaltung stützt, aufzubrechen. Institutionalisierte Strukturen könnten so hinterfragbar und die Diskrepanz zur Gleichheitssemantik sichtbar gemacht werden. Auch die ‚rhetorische Modernisierung‘ durch die neuen
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3. Geschlecht und Gleichstellung
Gleichstellungskonzepte versteht Meuser (2009) hier als Chance, denn „semantische Verschiebungen weisen auf veränderte Relevantsetzungen“ (ebd.: 97). Gerade in der ökonomischen Ausrichtung von Diversity Management sieht Meuser (2004) nun ein Potential zur Dekonstruktion der Geschlechterdifferenzierung: „Möglicherweise führt gerade ein unpolitisches Verständnis von Managing Diversity in der Praxis dazu, dass tradierte bipolare Denkgewohnheiten und Deutungsmuster aufbrechen und Männer und Frauen nicht als zwei gleichsam monolithische Blöcke wahrgenommen werden“ (ebd.: 332) Auch sieht er die Chance, dass Gleichstellungspolitik organisational anschlussfähig wird, denn bei diesen Top-Down-Strategien solle die Initiative „nun mehr aus den Machtzentren selbst kommen.“ (Meuser 2009: 95f.). Das gilt nach Wetterer (2003) allerdings nur, wenn es sich bei Gender Mainstreaming und Diversity Management tatsächlich um Gleichstellungspolitik handelt. Wird Geschlecht über Erwartungen an Frauen und Männer als ‚geschlechtsspezifische Skills’ verstanden, so seien hier mehr Risiken zu sehen, dass Kanalisierungsprozesse, die Männern und Frauen unterschiedliche Aufgaben zuwiesen, sich verschärfen (vgl. ebd.). 3.7 Diversity Management und Rationalitätsmythen In einer branchenübergreifenden Studie fragt Lederle (2008) auf der Grundlage des Neo-Institutionalismus, inwiefern es bei Diversity Management zu einer „Ökonomisierung des Anderen“ (Lederle 2008) kommt. Sie identifiziert zunächst isomorphe Prozesse in der Verbreitung von Diversity Management: USamerikanische Konzernmütter üben Zwang auf deutsche Töchter aus, Netzwerke der Gleichstellungsbeauftragten, die nun Diversity Managerinnen heißen, tragen zur Ausdehnung bei und dienen als Austauschforen für das ‚richtige’ Diversity Management und nicht zuletzt kann sich Diversity Management vor dem Hintergrund eines angekündigten Anti-Diskriminierungs-Gesetzes (dem jetzigen AGG) durchsetzen: „Die Institutionalisierung von Diversity Management erfolgt nicht, weil die Akteure in den verschiedenen Organisationen personelle Vielfalt und deren Auswirkungen direkt beobachten, sondern aufgrund der Anhäufung bzw. Ablagerung von organisationalen, wissenschaftlichen, medialen und legislativen Aussageereignissen, die ‚Spuren‘ hinterlassen, welche in den Diskurs einfließen und ihn konstituieren. Es sind Erwartungen und Erwartungserwartungen, denen die zentrale strukturbildende Funktion zukommt.“ (ebd.: 262)
3.7 Diversity Management und Rationalitätsmythen
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Damit widerspricht Lederles Analyse diametral den im Feld vorherrschenden Vorstellungen, denn diese begründen Diversity Management durch eine klar ‚rationale’ „Herstellung eines Zusammenhangs von Problemdefinition, Zuständigkeit und Problemlösung“ (ebd.: 264), demnach ein ökonomischer Bedarf für Diversity Management dessen Implementierung erkläre. Die Problemdefinition besteht für die von Lederle (2008) interviewten Diversity Managerinnen in der Diskrepanz zwischen der bestehenden und der gewünschten Vielfalt. Als Ursachen benennen die Interviewten zum Einen die demographische Entwicklung, derentwegen es zu einem Fachkräftemangel käme und eine Rekrutierung ‚anderer’ Arbeitskräfte notwendig mache. Zum Zweiten wird ein Legitimationsbedarf gegenüber Stakeholdern geltend gemacht, die die Homogenität hinterfragten. Drittens wird die Diskrepanz an der Art und Weise, wie ‚die Anderen’ integriert seien, festgemacht und argumentiert, dass Heterogenität erst bewältigt, eben gemanagt werden müsse, da sie historisch neu sei. Die Zuständigkeit sehen diese Organisationsvertreterinnen zum Einen bei den ‚Anderen’, d.h. bei den nun von der zuvor homogenen Gruppe der Beschäftigten Abweichenden, zum Anderen bei den Organisationen: „Organisationen positionieren sich selbst als Vertreter der ökonomischen Vernunft, die freiwillig, d.h. ohne legislativen Zwang mittels verschiedener Maßnahmen das Bewusstsein schaffen wollen, dass personelle Vielfalt gut ist. Die Lösung liege in der Einführung von Diversity Management, eines innovativen Konzeptes, bei dem sich der Andere lohnt und zur ökonomischen Effizienz beiträgt.“ (ebd.: 264) Die Problemlösung ‚Diversity Management’ wird in diesem Bild aus drei Komponenten bestehend gedacht: das o.g. „Bewusstsein schaffen“, die „freiwillige Erhöhung der Vielfalt“ (ebd.: 207) und das Einrichten von Maßnahmen bspw. für (zuvor spezifizierte) MitarbeiterInnengruppen. Innerhalb dieses im organisationalen Diversity Management-Diskurs bestehenden Interpretationsschemas (Problem, Zuständigkeit, Lösung) identifiziert Lederle (2008) drei Deutungsmuster: Innovation, Vielfalt und Effizienz. Die Deutung als Innovation ist nach Lederle (2008) auch in der von Wetterer (2003) kritisierten Unverständlichkeit des Begriffs begründet: Dieser bringt nicht nur Erklärungsbedarf hervor, sondern „die ‚inhaltliche Leerstelle’ ist zugleich dessen Stärke“ (Lederle 2008: 211), denn sie lässt Deutungsspielraum offen und steht für eine Ablösung ‚alter’ Muster der Gleichstellungspolitik: „Es scheint eine ‚Modernisierungshierarchie’ der Begriffe zu existieren: auf der untersten Stufe steht Frauenförderung, ganz oben findet sich Diversity
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3. Geschlecht und Gleichstellung
Management. Obwohl überwiegend dieselben Programme weitergeführt werden, sind sie verpackt unter einem neuen, unbelasteten, modischen Signifikanten, der weniger Reaktanz hervorruft.“ (ebd.: 212) Die rhetorische Abgrenzung von ‚veralteten’ Konzepten und die dadurch suggerierte Modernität, sowie die Erklärungsbedürftigkeit des (‚neudeutschen’) Begriffs erleichtern es den ‚Diversity Expertinnen’, die (alten) Maßnahmen nun neu zu vermarkten. Die Innovation durch Diversity Management dient, so Lederle (2008), auch in der Außendarstellung zur Sicherung von Legitimität durch die Darstellung als „offenes und modernes Unternehmen“ (ebd.: 214). Das Deutungsmuster ‚Vielfalt’ knüpft zum Einen an eine als positiv gewertete Individualität an (vgl. auch Kap. 6.6 f.). Zum anderen wird mit dem Begriff die Differenzierung des Eigenen und des Fremdartigen abgerufen, wobei insbesondere über die Entlehnungen aus einem naturwissenschaftlichen Vielfaltsdiskurs eine Essentialisierung und Reifizierung von Unterschieden mitläuft. Demnach werden die sog. „Dimensionen“ von Diversity in Organisationen (i.e. Geschlecht, Behinderung, Herkunft, Religion, Alter und sexuelle Orientierung) als das jeweilige ‚Wesen’ von Menschen fixiert und naturalisiert, da sie als „angeboren, fest, unverändert und unveränderlich“ gelten (Lederle 2008: 184): „Der Umgang mit Vielfalt im Diversity Management-Diskurs setzt auf der Ebene von ‚Arten’ bzw. Gruppen an, die holistisch als integriertes und organisches Ganzes verstanden werden (...) Dabei wird Vielfalt innerhalb der Gruppen vernachlässigt: ‚Dimensionen’ werden als in sich geschlossene Klassen beschrieben, deren Mitglieder jeweils miteinander identisch und von den Angehörigen jedes anderen Typs scharf getrennt sind.“ (ebd.: 184) In diesem Sinne wird ‚Vielfalt’ als differenzierendes und ungleichheitsherstellendes Deutungsmuster relevant und damit einer grundsätzlichen Gleichheit und einer Neutralisierung von Unterscheidungspraktiken diametral entgegen gesetzt: „Durch die Definition von Diversity Management als Management von Gruppen wird erst eine spezifische Beziehung der nicht-diversen, normalen, alten Gruppe zu den diversen, a-normalen, neuen Gruppen der Belegschaft (...) konstituiert. Diesem Beziehungsverhältnis kommt eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung und Aufrechterhaltung von Ordnungsstrukturen zu, denn indem wir etwas als fremd bezeichnen, ‚machen wir deutlich, wie wir die Welt um uns herum ordnen und strukturieren, welchen Platz wir uns selbst in ihr geben und welchen wir unseren Mitmenschen zugestehen’ (Reuter 2002, S. 27).“ (ebd.: 218)
3.7 Diversity Management und Rationalitätsmythen
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Das Deutungsmuster Vielfalt ist hier kein Dekonstruktionsansatz, wie der Verweis auf Pluralisierungen innerhalb von Genusgruppen (vgl. Knapp 2008), sondern bedient wie Nentwichs (2004) „Sprachspiel der Unterschiede“ das Gleichheitstabu. Als das dominante Deutungsmuster arbeitet Lederle (2008) das Deutungsmuster Effizienz heraus. Ebenso wie Innovation dient es zur Abgrenzung des Konzepts Diversity Management von gleichstellungspolitischen Programmen, die unter Bezeichnungen wie ‚Frauenförderung‘, ‚Chancengleichheit‘ oder ‚Gender Mainstreaming‘ laufen. Letztere gelten nicht nur als unmodern, sondern auch als „Sozialthemen“ (ebd.: 220). Diversity Management wird dagegen als ‚Business Case‘ verstanden, der Wettbewerbsvorteile verschaffe. Diese so zugeschriebene Effizienz beruht auf zwei Aspekten. Zum einen wird personelle Vielfalt als Potential in den Bereichen Kreativität, Marketing, Personalmarketing, Problemlösung und Flexibilität gewertet, indem die befragten Diversity Beauftragten die Heterogenität, die sie an sozialen Differenzierungen der Beschäftigten festmachen, in die Personen hinein verlagern.58 So werden die oben angeführten Essentialisierungen in eine an den Human Relations-Ansatz angelehnte ‚Neudefinition‘ der Arbeitskraft integriert (vgl. ebd.): „Ausschlaggebend ist nicht die abstrahierte, kontrollierte Arbeitskraft, sondern ‚das Persönliche‘, der Mensch mit seinem Körper, seinem Geist, seinen Gefühlen und sozialen Bedürfnissen (...). Der Rationalitätsgedanke wird [gegenüber Human Relations] verstärkt, da vormals private Bereiche inkorporiert und nutzbar gemacht werden.“ (ebd.: 221) Die ‚Anderen‘ werden über diesen Rekurs auf das ihnen ‚wesenhaft‘ zugeschriebene Anderssein als das ‚reguläre‘ Organisationsmitglied auch aus dem dominierenden organisationalen Diskurs heraus definiert: Sie stellen das ‚Andere des Organisationsprinzips‘, d.h. das ‚Andere‘ der ‚Rationalität‘ dar. Damit ist das Andere, das private, emotionale bzw. ‚irrationale‘ (z.B. Religion oder Sexualität), das die ‚Anderen‘ in die Organisation hineinbringen, auch eine Bedrohung des Funktionierens von Organisation. Und dies ist der zweite Aspekt, der Diversity Management ‚effizient‘ macht: Dieses ‚Andere‘ muss ‚rational‘ gemanagt werden: Diversity Management gilt also in diesem Bild als Effizienzsteigerung, weil es im ersten Schritt die Bedrohung des Organisationsprinzips, welche die ‚Anderen‘ darstellen, einfängt, und im zweiten Schritt das Potential des ‚Irrationalen‘ zu nutzen versteht (vgl. ebd.).
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In diesem Verständnis denken bspw. Schwule und Lesben nicht nur in Fragen privater Partnerschaften ‚anders‘ als Heterosexuelle, sondern auch bezüglich Arbeitszeiten, Staubsaugern, Altersvorsorge etc. und diese ‚andere‘ Sicht bilde so eine Erweiterung der bestehenden Sichtweisen.
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3. Geschlecht und Gleichstellung
Über die Deutungsmuster Innovation, Vielfalt und Effizienz erfolgt, zusammengefasst, eine „diskursive ‚Ökonomisierung des Anderen‘“ (ebd.: 224), und eine Einpassung von Diversity Management in die Rationalitätserwartungen, die an Organisationen gestellt werden und diese legitimieren. Vor diesem Horizont beleuchtet Lederle (2008) im nächsten Schritt die Maßnahmen, die unter Diversity Management subsumiert werden und stellt fest: „Es entsteht der Eindruck, dass Diversity Management ein neuer Oberbegriff inklusive neuer Ideologie ist, unter dem Maßnahmen versammelt werden, die schon zuvor unter anderen Bezeichnungen (Chancengleichheit, Gleichstellung, Gender Mainstreaming etc.) durchgeführt wurden.“ (ebd.: 236) Das Gros der Maßnahmen ziele nach wie vor auf Geschlecht bzw. auf Frauen ab. Die anderen ‚Dimensionen‘ von Diversity (Behinderung, Herkunft, Religion, Alter und sexuelle Orientierung) werden jedoch auch dann als ‚Handlungsfelder‘ bezeichnet, wenn keine Maßnahmen diesbezüglich bestehen, sondern sie nur in Broschüren und allgemeinen Appellen, Vielfalt wertzuschätzen, thematisch werden. Lederle (2008) kommt daher zu dem Schluss, dass es sich in diesen Hinsichten um eine rein symbolische Praxis handele, bei der die Suggestion des Begriffs ‚Handlungsfeld‘ „die Abweichung der nach außen kommunizierten Tätigkeiten von den im Unternehmen tatsächlich praktizierten verschleiert“ (ebd.: 236). Ähnlich wie Meuser (2009), der in den „semantische[n] Verschiebungen“ (ebd.: 97) Chancen für einen Durchschlag auf die soziale Wirklichkeit sieht, geht allerdings auch Lederle (2008) davon aus, dass durch „die textförmige Diskursivierung des ‚nützlichen Anderen‘ (...) eine neue Wirklichkeit geschaffen“ (ebd.: 236) werde. Soziale Homogenität in Führungsetagen werde so de-institutionalisiert: Sie sei nicht mehr ‚taken for granted‘ (vgl. ebd.).
4.1 Präzisierung der Fragestellung vor dem theoretischen Hintergrund
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4 Forschungsdesign
4.1 Präzisierung der Fragestellung vor dem theoretischen Hintergrund Die zentrale Fragestellung der Arbeit lautet, inwiefern eine normative Gleichstellung in eine Organisation eindringt. Dies differenziert sich in die Fragen aus, inwiefern eine solche Norm in der Organisation existiert, inwiefern sie als organisationale Gleichstellungspolitik formal fixiert werde und inwiefern sie im Arbeitsalltag reproduziert wird. Das Augenmerk wird insbesondere darauf gerichtet, inwiefern hierbei Institutionalisierungen festgestellt werden können und/oder inwiefern, falls eine Gleichstellungsnorm und/oder daran angeschlossene Gleichstellungspolitik nicht in den Arbeitsalltag durch dringt, hier Entkopplungsprozesse stattfinden/stattgefunden haben. Diese Fragen werden im Folgenden anhand der bisher herausgearbeiteten Arbeitsbegriffe präzisiert und sensibilisierende Konzepte für die Forschung zusammengefasst. In Kapitel 2 wurde der Prozess der Institutionalisierung vorgestellt und ein Institutionenbegriff gefasst, der in der Arbeit verwendet wird. Handlungen gelten demnach als institutionalisiert, wenn sie habitualisiert sind, ihnen also Wiederholungswürdigkeit und -notwendigkeit zugeschrieben wurde, sie an andere weitergegeben, dabei objektiviert werden und Geltungsanspruch stellen. Dieser Geltungsanspruch wird durch kognitive und normative Legitimationen bestätigt, die eine logische Umkehrung des Institutionalisierungsprozesses darstellen und ihn gerade damit abschließen, dass der Tatsachencharakter institutionalisierten Handelns und Verhaltens nun aus einem jenseits dessen gegebenen Sinn abgeleitet erscheint. So wird der Konstruktionsprozess durch die Entkopplung vom Ursprung des Institutionalisierungsprozesses und der Legitimierung der Institution verschleiert. Institution wird als Skript gefasst, dass sich als soziale Tatsache und damit in jeder Hinsicht selbstverständlich darstellt und Handlungen in spezifischen Situationen und Kontexten gemäß des Skripts evoziert, wobei dies auch symbolische bzw. rituelle Handlungen sein können. Institutionen schaffen und bewältigen Wirklichkeit und setzen dadurch Bewusstsein frei. Sie ermöglichen menschliches Miteinander und sind funktionalisierbar zu kollektiver Entlastung. Sie setzen Interessen und Zwecke, die Handelnden unterstellt werden, wenn sie entsprechend der Handlung typisiert werden und sind somit Grundlage und Modus funktionaler Differenzierung.
K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4. Forschungsdesign
Diese Kriterien werden als Maßstab für Institutionalisierung an Prozesse in der Organisation angelegt. Dabei wird gefragt, in welcher Form und in welchem Kontext Handlungen institutionalisiert werden oder sind. Sofern die Prozesse nicht rekonstruiert werden können, wird gefragt, inwiefern Situationen ein Skript unterliegt, das bestimmte Verhaltensweisen logisch und richtig erscheinen lässt, sodass Abweichungen zumindest erschwert, begründungs- oder gar rechtfertigungsbedürftig, illegitim oder sogar unmöglich werden. Geteilte ‚Selbstverständlichkeit‘, d.h. eine Sedimentierung im Common Sense auf der einen Seite und Legitimationsbedürftigkeit auf der anderen Seite gelten als zentrales Scheidekriterium. Anschließend wurde dargestellt, dass Organisation als ‚offenes System‘ (Scott 2008a) verstanden wird, das von Gesellschaft und von dem Gesellschaft durchdrungen werden kann. Das Verständnis von Organisation als „zweckmäßiges Mittel der Menschen zur Erreichung ihrer Ziele“ (Ortmann et al. 1997: 15) wird als Anspruch an Organisationen gedeutet, der soziale Wirklichkeit dahingehend schafft, dass Organisationen zur Legitimation als rational dargestellt werden müssen. Dies erfolgt über die Reproduktion institutionalisierter rationalisierter Leitbilder bzw. rationalisierter Mythen: Wenn Vorstellungen von rationalem Organisieren mindestens ein Zwangscharakter zugeschrieben wird, so dass eine Abweichung legitimierungsbedürftig ist, gelten sie als institutionalisierte Leitbilder. Als Rationalitätsmythen gelten Leitbilder nur dann, wenn der Glaube besteht, dass sie rational, funktionsfähig und implementiert/implementierbar sind, ohne dass Belege für ihre Rationalität erwartet werden. Ihre Gültigkeit, Wirkmacht oder Glaubwürdigkeit muss jedoch in einer Gesellschaft nicht universell gelten. In den Kontexten, in denen sie von strategisch agierenden FunktionsträgerInnen mit entsprechender (Deutungs-)Macht als unzulänglich wahrgenommen und gezielt umgangen werden, gelten sie dann nicht als rationalisierte Mythen. Zu Entkopplungen von Leitbildern und Praxis liegen neben den ersten Formulierungen Meyers und Rowans (1977) mit Oliver (1991) und Brunsson (1993) zwei Theorien vor, die solche Prozesse konkretisieren. Nicht zuletzt die kritische Aufnahme des Konzepts der Entkopplung und die forschungspraktischen Schwierigkeiten solche Prozesse aufzuspüren, haben theoretische Ansätze hervorgebracht, die nun nicht mehr von Entkopplungen, sondern von ‚Adaptionsschwund‘ im Zuge von Übersetzungs- bzw. Editingprozessen ausgehen. Für die Frage, inwiefern Entkopplungen stattfinden, ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Abweichungen Entkopplungsprozessen geschuldet sind. Sie können entweder auch Ergebnisse von Übersetzungen diffuser Leitbilder sein, oder zwei Elemente können per se isoliert sein, so dass eine Entkopplung unnötig ist, da realiter insbesondere Großorganisationen weder über eine reibungslose Arbeitsteilung noch über eine lückenlose Kommunikation verfügen und ‚Ausschuss‘ in Regelformulierungen, wie im Handeln produzieren (vgl. Ortmann 2004). Als Entkopplungen gelten für diese Arbeit
4.1 Präzisierung der Fragestellung vor dem theoretischen Hintergrund
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daher nur Prozesse, in denen zwei Elemente aufgrund einer Divergenz voneinander getrennt werden, das eine Element aktualisiert d.h. wirkmächtig wird, das andere symbolisch reproduziert wird. Der Arbeitsbegriff der Entkopplung, der hier verwendet wird, orientiert sich dahingehend an der Konzeption von Hypokrisie nach Brunsson (1993), dass anders als in der Konzeption Meyer und Rowans (1977) solche Prozesse nicht als strategisch verstanden werden und die Frage, wo zwischen Leitbild und Arbeitsalltag entkoppelt wird, nicht vorab damit beantwortet wird, dass dies zwischen formaler Organisationsstruktur und ‚day-to-day work activity‘ geschehe. Vielmehr wird in jedem Schritt untersucht, ob ein Leitbild besteht und dieses Wirkmacht entfaltet oder eine Orientierung daran nur vordergründig erfolgt, während – verschleiert – eine davon abweichende Praxis besteht. Dabei wird Ortmanns (2004) Kritik berücksichtigt, dass sowohl Brunsson (1989) als auch Meyer und Rowan (1977) Konsistenz auf der Ebene von Handlungen voraussetzen. Die verschiedenen ‚Strategien‘ und ‚Taktiken‘, die Meyer und Rowan (1977) sowie Oliver (1991) vorstellen, werden als sensibilisierende Konzepte verwendet, um mögliche Modi der Entkopplung herauszuarbeiten. Der Forschungsstand zu Geschlecht und Organisation sowie zur Gleichstellungspolitik legt nahe, dass in und von Organisationen Chancengleichheit und/oder Gleichstellung als Leitbild anerkannt werden muss. Er liefert aber auch erste ‚Puzzleteile‘, die darauf hinweisen, dass ein Glaube an bestehende Egalität und/oder ein Glaube an ‚naturgegebene‘ Unterschiede zwischen Geschlechtern Gleichstellungspolitik auf die eine oder andere Weise obsolet erscheinen lassen kann. Beide Vorannahmen können einer Institutionalisierung der Gleichstellungsnorm entgegenwirken und darüber hinaus zu einer Entkopplung von Gleichstellung führen. Der Grat dazwischen, auf dem Gleichstellung im Arbeitsalltag harmoniert, also die Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit von Männern und Frauen bei gleichzeitiger Wahrnehmung sozial hergestellter Ungleichheit nach Geschlecht, erscheint recht schmal. Da die Annahme einer natürlichen Geschlechterdifferenz institutionalisiert und die Annahme einer gegebenen Egalität normativ aufgeladen ist, ist eine Gratwanderung dazwischen auch heikel (vgl. Gildemeister/Robert 2008). Die kritische Diskussion zur aktuellen Gleichstellungsmode Diversity Management macht darauf aufmerksam, dass Diversity Management nicht notwendig als Gleichstellungspolitik zu verstehen sei. Lederle (2008) zeigt jedoch auf, dass es sich bei Diversity Management um nicht mehr als eine rein zeremonielle Reproduktion handeln könnte. Da sie dies allerdings daran verdeutlicht, dass unter dem Label ‚Vielfalt‘ weiterhin primär Maßnahmen zur Gleichstellung von Männern und Frauen laufen, ist für die vorliegende Fragestellung die Frage noch nicht beantwortet: Durchaus könnte dieser Befund bedeuten, dass Diversity Management für nichts anderes als, aber dann durchaus zur Gleichstellung von Männern und Frauen betrieben werde.
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4. Forschungsdesign
4.2 Forschungsfeld Bei der untersuchten For-Profit-Organisation (im Folgenden: Profit-AG) handelt es sich um einen deutschen Konzern, der von einem Vorstand geführt und durch den Aufsichtsrat kontrolliert wird.59 Das Management unterhalb des Vorstands ist in vier Ebenen untergliedert: Dem Vorstand sind die Führungskräfte der Ebene 1 direkt unterstellt. Hierzu zählen die Leitungen der zentralen Unternehmensbereiche. Allgemein werden die zentralen Abteilungen in Fachbereiche (Führungsebene 2)‚ Gruppen (Führungsebene 3) und letztlich in Teams (Führungsebene 4) untergliedert. Nur in dem Unternehmensbereich (UBZ), in dem die teilnehmende Beobachtung stattfand, ist aufgrund der besonderen Größe der Abteilung zwischen die erste und zweite Führungsebene noch eine weitere Ebene eingefügt. Auf dieser Ebene ist der Unternehmensbereich in vier Geschäftsbereiche gegliedert (Führungsebene 1b), wobei der Unternehmensbereichsleiter Dietrich L. Zagermann in Personalunion auch einen Geschäftsbereich leitet.60 Frauen und Männer sind zu gleichen Teilen im Konzern beschäftigt.61 Unter den Auszubildenden ist der Männeranteil etwas geringer, dort beträgt er im Beobachtungszeitraum 40%. Auch unter den Trainees bilden Frauen mit 55% eine knappe Mehrheit. Im tariflichen Bereich sind Männer ebenfalls unterrepräsentiert, nur 30% der tariflich Beschäftigten sind Männer. Sie besetzen jedoch 76% der außertariflich bezahlten Stellen. Diese Überrepräsentanz von Männern und Unterrepräsentanz von Frauen in gehobenen Positionen spitzt sich mit den Führungsebenen zu: Im unteren Management sind 78% Männer und 22% Frauen, im mittleren Management besetzen Frauen nur 6% der Stellen, im höheren Management (ohne Vorstand) 5%. Insgesamt macht dies einen Männeranteil an Führungspositionen unterhalb des Vorstands von 82% aus.62 Der Vorstand ist ausschließlich mit Männern besetzt. Für das Topmanagement insgesamt gibt die Profit-AG für Ende 2005 einen Frauenanteil von 4,3% an. Mit diesem Geschlechterproporz liegt sie wie ihre wichtigsten Konkurrenten etwa im Durchschnitt der Branche. 59 60 61 62
Die Angaben im Folgenden beziehen sich auf den Zeitraum der teilnehmenden Beobachtung 2005, sofern nicht anders vermerkt. Eine weitergehende Beschreibung des konkreten Umfelds, in dem die teilnehmende Beobachtung stattfand, erfolgt in Kap. 5.4 und 8.2 einleitend zur Darstellung des Arbeitsalltags. Der Geschlechterproporz liegt mit Stand November 2004 für die Inlandsbeschäftigten vor. Der Frauenanteil im Topmanagement ist von Ende 2004 bis Ende 2008 um 1% gestiegen. Dies liegt nicht daran, dass sich die Anzahl der Frauen erhöht hat, sondern dass sich die Anzahl der Männer reduziert hat, da eine von einem Mann besetzte Stelle im Topmanagement gestrichen wurde. Auch beim Plus um 2% im mittleren Management in diesem Zeitraum ist zu berücksichtigen, dass Outsourcing und Reorganisationen stattgefunden haben, die die Stellenanzahl im mittleren Management reduziert haben. Diese Prozesse betrafen nicht die Stabsabteilungen, in denen nach Quack (1997) weibliche Führungskräfte überproportional häufig angesiedelt sind.
4.3 Ethnographie als Erforschung des fremden Bekannten
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Neben dem Linienmanagement sind zwei weitere Karrierewege im Konzern möglich. Die Karriere im Projekt hat nur zwei formale Ebenen: Projektmitarbeit und Projektleitung. Die Größe des Projekts, sein Budget und seine Bedeutung für Erfolg und Bestand der Organisation sind jedoch aussagekräftige Maßstäbe für die de facto erreichte Karriere. Der zweite Karriereweg enthält keine Führungsaufgabe: Die Karriere so genannter SpezialistInnen (i.e. Fachlaufbahn) wird auf sehr unterschiedliche Weisen gegliedert, je nach Spezialisierungsgebiet. Die einzige einheitliche formale Gliederung besteht darin, welcher Führungsebene im Linienmanagement die SpezialistInnen direkt unterstellt sind. Dies korrespondiert nicht notwendig mit einer entsprechenden Staffelung der Entlohnung. Der Auswertung des IAB-Betriebspanels zufolge hat bis 2002 die Hälfte dieser Branche tarifliche und/oder betriebliche Vereinbarungen oder freiwillige Initiativen geschlossen, womit die Branche insgesamt an der Spitze liegt. Neben der Branche spielt auch die Größe der Organisation eine zentrale Rolle für die Häufigkeit der Implementierung von Gleichstellungspolitik: Weit über einem Durchschnitt von 9% an betrieblichen und/oder tariflichen Vereinbarungen bei allen Betrieben liegen Großbetriebe mit über 1000 Beschäftigten, von denen über 45% betriebliche und/oder tarifliche Vereinbarungen geschlossen haben (vgl. Möller/Allmendinger 2003).63 Da in der Profit-AG bereits Ende der 1980er Jahre mit konkreten Maßnahmen zur Gleichstellungspolitik begonnen wurde, kann sie in der Privatwirtschaft zu den Vorreiterinnen gezählt werden. Innerhalb der Branche war sie nach Angaben von Expertinnen die erste, in der Gleichstellungspolitik nicht nur als Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefasst wurde (vgl. Interview Landesfachbereichsleiterin Gewerkschaft). 4.3 Ethnographie als Erforschung des fremden Bekannten Das Entdecken derjenigen unbekannten Welten, „die wir selbst bewohnen“ (Hirschauer/Amann 1997: 9) ist für die Geschlechterforschung keine neue Herausforderung: In die Zweigeschlechtlichkeit und die Geschlechterverhältnisse, die es zu erforschen gilt, sind die ForscherInnen stets selbst eingebunden. Nicht anders stellten sich das Forschungsfeld Organisation auf der einen Seite und der For63
Interessant ist, mit welchen Items dies abgefragt wird. Als Maßnahmen werden zum Einen verschiedene Angebote zur ‚Vereinbarkeit’ von Familie und Beruf genannt: Unterstützende Maßnahmen zur Kinderbetreuung (in drei Items aufgeteilt), „besondere Rücksichtnahme auf Eltern bei der Arbeitszeit- und Arbeitsplatzgestaltung“ sowie Maßnahmen zur Kontaktpflege bei Elternzeit. Neben Angeboten für Eltern werden „Beratungs- und Informationsangebote“ und Maßnahmen zur Förderung weiblichen Nachwuchses abgefragt sowie, ob es eine „für Chancengleichheit zuständige Stelle oder Funktion“ gebe (vgl. Möller/Allmendinger 2003). Inwiefern auf Chancengleichheit hingearbeitet wird, die über (nur) diese Maßnahme verfügen, steht auf einem anderen Blatt.
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4. Forschungsdesign
schungsgegenstand Gleichstellung auf der anderen Seite dar. Mit Organisationen hat man seit dem Kindergarten Erfahrungen sammeln können und zur ‚Emanzipation’ hat man im Alltagsleben i.d.R. auch eine Meinung – wie (un)differenziert auch immer sie sein mag. Die Erforschung des Bekannten drängt sich wenig auf und so erschien zu Beginn des Forschungsprozesses der explorative Charakter darin zu liegen, dass das Verhältnis zweier als bekannt vorausgesetzter Größen – Gleichheitspostulat auf organisationaler Ebene einerseits und Reproduktion von Geschlechterdifferenzierungen in Interaktionen andererseits – noch nicht systematisch und hinreichend erforscht war. Explorativ zeigte sich die Forschung dann aber in wesentlich mehr Hinsichten, und Schlussfolgerungen der Forscherin aus dem Forschungsstand mussten im Zuge dessen immer weiter revidiert werden: Die Ethnographie fand damit nicht nur als methodische „Befremdung der eigenen Kultur“ (Hirschauer/Amann 1997: Titel) statt, in der die Forschenden den Gegenstand auf Distanz bringen, sondern als Entfremdung vom eigenen Wissen – dem Alltagswissen nicht weniger als dem wissenschaftlichen. Die Metamorphose, die das bisherige (eigene) Wissen im Forschungsprozess erfährt, dass es immer wieder grundlegend infrage gestellt, als mangelhaft und dem Gegenstand inadäquat empfunden wird, wird in der Grounded Theory nach Glaser und Strauss (1967) zu einem systematischen Bestandteil des Forschens, ebenso wie die Offenheit dem Gegenstand gegenüber, die auch bedeutet, sich vom Forschungsprozess selbst ein Stück weit leiten zu lassen (vgl. Strauß 1994).. Institutionalisierungsprozesse zu untersuchen, beinhaltet ein wichtiges methodisches Problem: Sie bedürfen vor allem eines und das ist Zeit. Eine Ethnographie kann diese Zeit nicht einplanen, sondern muss sie kompensieren. Für Prozesse auf der organisationalen Ebene wurde dies vor allem darüber geleistet, dass sie anhand von Zeitdokumenten rekonstruiert wurden. Institutionalisierungsprozesse im Arbeitsalltag finden sich dagegen nicht dokumentiert; sie sind nur in Situationen zu fassen. Der Selbstverständlichkeitscharakter, die Funktion als Hintergrunderfüllung, die Sedimentierung im Alltagswissen machen Institutionalisierungen zudem regelrecht ‚unsichtbar’ und schwer greifbar. Transparent werden Institutionalisierungs- und Legitimationsprozesse für die Forschung allerdings dann, wenn institutionelles Wissen übermittelt wird, mit Berger und Luckmann (1969) ausgedrückt, bei der Einführung einer neuen Generation in die institutionale Ordnung. Hier ergab sich zum Einen die Gelegenheit, dass die Forscherin als ein Neuling galt und ihr manches ‚so-macht-man-das’ nahe gebracht werden musste. In den ersten Wochen zeigte sich die Forschung als eine Art Krise, da mit ihr ein Umgang erfolgen musste, weil die unterstellte größere Expertise der Forscherin zu Gleichstellungsfragen Unsicherheiten hervorrief, die die „socially-santioned-facts-of-lifein-society-that-any-bona-fide-member-of-the-society-knows“ (Garfinkel 1967: 76) ein Stück weit an die Oberfläche spülten.
4.3 Ethnographie als Erforschung des fremden Bekannten
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Um an die stabilen und sicheren Wissensbestände zu gelangen und nicht durch die Forschung hervorgebrachte Unsicherheit mit dem Alltag ohne Forscherin zu verwechseln, ergab sich ein Zufall, der sich forschungspraktisch nutzen ließ: Ein Mitglied des näheren Umfelds, Herr Shaboa, der seit seinem Studium in Deutschland lebt, aber in einer nicht europäisch geprägten Kultur aufwuchs, fungierte hier öfter als der ‚Kulturfremde‘ zu den vorherrschenden Vorstellungen im Beobachtungsumfeld. Er wurde im Arbeitsalltag gerade auch in Hinsicht auf Gleichstellung in die geltenden Normen eingeführt, und so ließ sich an seinem Wissen und Verhalten sowie in den Unterweisungen durch die anderen ablesen, wie weit Normen im Beobachtungsumfeld institutionell verankert waren. Aus ganz anderem Grund sind Entkopplungen nicht minder ‚unsichtbar’ und schwer fassbar, was nach Walgenbach und Meyer (2008) die geringe Anzahl bisheriger Forschungen zu Entkopplungen erklärt: „Die Analyse entkoppelter Strukturen, deren Sichtbarkeit eine Organisation – wenn die Argumente von Meyer und Rowan (1977) zutreffen – vermeiden muss, um die Legitimität der Organisation und deren Überleben zu sichern, setzt entweder eine genaue Kenntnis nicht nur der formalen Struktur, sondern auch der tatsächlichen Arbeitsprozesse in der Organisation oder aber Vertrauen in den Forschenden voraus, dass dieser gewährte Blicke hinter die Fassaden der formalen Organisation nicht gegen die Organisation oder die Befragten verwenden wird. Mit Methoden, die auf eine standardisierte und großzahlige Untersuchung abzielen, lässt sich Entkopplung deshalb nur schwerlich erfassen. Aber auch mit qualitativen Methoden ist dem möglichen Phänomen der Entkopplung aus den oben genannten Gründen nur schwer beizukommen.“ (Walgenbach/Meyer 2008: 82) Teilnehmende Beobachtung ermöglicht weit mehr als Interviews, Einblick in die Arbeitsprozesse zu erhalten. Die Untersuchung einer Organisation mit einer fünfstelligen Zahl an Beschäftigten erhöht dabei einerseits die Wahrscheinlichkeit, dass Elemente entkoppelt werden, andererseits bedeutet dies aber auch, dass ein Überblick über die Organisation kaum möglich ist und dadurch Entkopplungsprozesse auch schwieriger nachvollziehbar werden. Dies konnte die Forschung (nur) so lösen, dass erste Hinweise auf Entkopplungen weiter verfolgt wurden. Hier zeigt sich zum Einen eine Stärke der Grounded Theory, da für das Sampling Datenerhebung und Auswertung als überlappende Phasen verstanden werden. Zum Zweiten erwies sich hierzu die für Ethnographien übliche Triangulation als sehr nützlich (vgl. Flick 2007; Denzin 1989). So ergab sich neben dem Beobachtungsprotokoll als zentralem Datum ein Fundus an Interviews und Dokumente, die vor, während und nach der Feldphase gesammelt wurden, um diese Prozesse zu rekonstruieren.
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4. Forschungsdesign
4.4 Datenerhebung Bei Forschung gemäß der Grounded Theory nach Glaser und Strauss (1967) wird ein theoretisches Sampling verfolgt, indem Erhebung und Auswertung parallel erfolgen: Die ersten erhobenen Daten werden einer Analyse unterzogen und leiten die Erhebung weiteren Materials. Zu den bereits gewonnenen Ergebnissen werden maximale und minimale Kontrastierungen gesucht, Daten hierzu erhoben und ausgewertet (vgl. Merkens 2000). Diese Form eines „kontinuierlichen Wechsels von Handeln und Reflexion“ (Strübing 2004: 15) wird so lange wiederholt, bis keine neuen Aspekte hinzutreten, so dass eine theoretische Sättigung erreicht wird. Erhebung und Auswertung von Daten zu Erwartungen, die in Hinsicht auf Gleichstellung an Organisationen gestellt werden, verliefen im Forschungsprozess überwiegend parallel. Die organisationale Gleichstellungspolitik wurde durch eine Vollerhebung aller formalisierten Elemente untersucht. Für die Untersuchung des Arbeitsalltags wurde wie oben angeführt das theoretische Sampling gezielt genutzt, um Entkopplungsprozesse nachzuvollziehen. Aufgrund dessen, dass hier die Datenerhebung im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung als Praktikantin im Feld erfolgte, war allerdings zeitlich wenig Spielraum für eine Auswertung während der Erhebungsphase gegeben. Erste Analysen konnten zwar parallel erfolgen, vorrangig erfolgte eine Annäherung an ein theoretisches Sampling, indem die Feldphase genutzt wurde für eine recht ausschöpfende Datenerhebung. Dies ergab neben einem ausführlichen Beobachtungsprotokoll 59 qualitative Interviews, ein umfassendes Archiv elektronischer und gedruckter Dokumente, woraus Daten nach dem Verfahren interner Kontrastierung zur weiteren Analyse ausgewählt wurden. Gleichstellung ist ein Thema, das alle Gesellschaftsmitglieder in gewisser Weise betrifft, aufgrund dessen, dass empirisch Menschen in Frauen und Männer unterteilt werden, die ‚als Frauen‘ oder ‚als Männer‘ Erwartungen an Gleichstellungspolitik stellen können. Für organisationale Gleichstellungspolitik sind hier vorrangig Organisationsmitglieder Anspruchsgruppen, teilnehmende Beobachtung und Interviews fingen dies ein. Inwiefern deren Ansprüche bei der Implementierung der Gleichstellungspolitik eine Rolle spielten, wurde aus Zeitdokumenten und ExpertInnen-Interviews herausgearbeitet. Da die ersten Ansätze in der Organisation, Gleichstellungspolitik in die Wege zu leiten, vor nunmehr zwei Jahrzehnten erfolgten, war nur eine Rekonstruktion damaliger Sichtweisen und des damaligen Kontextes möglich (vgl. auch Kap. 3.5f.). Eine entscheidende Anspruchsgruppe stellt die Politik dar. Inwiefern in der bundesdeutschen Politik Erwartungen an privatwirtschaftliche Organisationen in Hinsicht auf Gleichstellungspolitik formuliert werden, wurde aus den hierzu relevanten schriftlichen Vorgaben (Gesetzen und Vereinbarungen) und dem Forschungsstand zu staatlicher Gleichstellungspolitik herausgearbeitet. Weitere Er-
4.4 Datenerhebung
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wartungen, die in den Anfängen der organisationalen Gleichstellungspolitik eine Rolle spielte, stammen aus der Gewerkschaft. Hier fand ein Interview mit einer Expertin statt, die bereits vor zwei Jahrzehnten in der damals zuständigen Gewerkschaft aktiv war und die Prozesse bei der Profit-AG intensiv verfolgte. Für die Erwartungen der Kundschaft konnte auf Zeitdokumente der Organisation zurückgegriffen werden. In diesen zeigte sich eine ausführliche Auseinandersetzung mit weiblicher Kundschaft. Die Ansätze, die Profit-AG seit den 1960er Jahren mittels Werbung und später entsprechenden Programmen gegenüber weiblicher Kundschaft als ‚frauenorientierten’ Konzern darzustellen, erfolgten allerdings weitgehend ohne Zusammenhang zur organisationalen Gleichstellungspolitik oder Bezug zum Frauenanteil in der Organisation. Ein Datum stellt Kundschaft und Gleichstellungsorientierung innerhalb der Organisation in einen Zusammenhang und wird in Kapitel 6.1 vorgestellt.64 Zur Erhebung, inwiefern Gleichstellungspolitik in der Organisation formalisiert wurde, wurde vor der teilnehmenden Beobachtung der Internetauftritt durchsucht, die Zusendung entsprechender Materialien angefragt, alle Jahrgänge der Hauszeitschrift des Gesamtkonzerns („Profitables“) gesichtet und Interviews mit Expertinnen geführt. Hier zeigte sich eine bemerkenswert hohe Bereitschaft der Forschung Dokumente zugänglich zu machen, Interviews zu geben und letztlich den Feldzugang zu ermöglichen (vgl. insbes. Kap. 6.4 und 8.4.). Die interviewten Expertinnen waren neben genannter Gewerkschafterin eine Betriebsrätin, die in entsprechenden Ausschüssen mitarbeitet und eine für Gleichstellungsmaßnahmen zuständige Funktionsträgerin der Personalabteilung. Während des Feldaufenthalts wurden weitere für die Formalisierung Zuständige befragt und im Intranet recherchiert. Nach dem Feldaufenthalt wurden die während der teilnehmenden Beobachtung gesammelten Jahrgänge der Hauszeitschrift des UBZ („Produktiv“) gesichtet. Der Arbeitsalltag von Organisationsmitgliedern, die keine FunktionsträgerInnen der Gleichstellungspolitik sind, wurde in der zwölfwöchigen teilnehmenden Beobachtung erhoben und im Beobachtungsprotokoll festgehalten. Um verzerrende Effekte zu reduzieren, wurden drei Kriterien an die Auswahl des konkreten Forschungsumfeldes angelegt:
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AktionärInnen als potentielle Anspruchsgruppe für Gleichstellungspolitik wurden weder in Interviews noch in Dokumenten oder bei der besuchten Hauptversammlung relevant gemacht. Eine weitere Quelle potentieller Formulierungen von Erwartungen wurde in Medien vermutet und entsprechend recherchiert. In der Organisation wurden Medien für die organisationale Gleichstellungspolitik nicht relevant gemacht. Sie erschienen eher als Repräsentanzen des Allgemeinwissens. So wurden von Organisationsmitgliedern während des Forschungsaufenthaltes Zeitungsund Zeitschriftenartikel für die Forscherin gesucht und ausgeschnitten wurden, die im weitesten Sinne einen Bezug zu Gleichstellungsfragen aufwiesen. Auf diese Weise konnten zwei ältere Zeitschriftenartikel zu Cross-Mentoring und Vaterschaft für die Analyse berücksichtigt werden.
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4. Forschungsdesign
Stabsabteilungen wie Personalabteilung oder Kommunikation wurden ausgeschlossen, da Führungspositionen in diesen Bereichen aufgrund von Spezialisierungen erreicht werden, die sich gegenüber breiter angelegten Führungspositionen in zentralen Geschäftsfeldern als Sackgassen erweisen (vgl. Quack 1997). Die Abteilung, in der die Untersuchung stattfand, gehörte zum konzerntypischen Geschäftsbetrieb. Die Hälfte der Mitglieder im Team „Projektarbeit“, in dem die teilnehmende Beobachtung stattfand, verfügte über branchenspezifische Ausbildungen und Karrieren (zwei Frauen, ein Mann).65 Die Mitglieder im Team sollten bereits über eine (erfolgreiche) Berufslaufbahn in der Organisation verfügen, jedoch noch nicht in einem Alter sein, in dem eine weitere Karriere nicht mehr realistisch erscheint. Zum einen sollten also auch Erfahrungen in der und mit der Organisation vorliegen, die bei Auszubildenden oder Trainees noch nicht erwartet werden können. Zum zweiten sollten Fragen der beruflichen Entwicklung weder nur als ferne Zukunft oder Wunschträume eine Rolle spielen, noch nur der Vergangenheit zugeschrieben werden, sondern aktuell sein.66 Dieses Kriterium traf auf den Großteil im direkten Umfeld der Beobachtung zu (gut 20 Personen) außer für eine Trainee, eine junge Assistentin und eine Person, die binnen der nächsten fünf Jahre in den Ruhestand zu gehen erklärte. Das dritte Kriterium war eine relative numerische Integration im Beobachtungshorizont, um nicht in der Forschung ein oder zwei Frauen bzw. Männer zu „Tokens“ (Kanter 1977) zu machen, indem sie stellvertretend für ihre Geschlechtskategorie gesehen werden. Auch dies war im Beobachtungshorizont gegeben und nur bei den beiden höchsten Führungskräften (zwei Männern) und ihren beiden Assistentinnen fand sich eine vertikale Segregation im direkten Umfeld.67 Ergänzend zur teilnehmenden Beobachtung wurden alle Organisationsmitglieder interviewt, mit denen im untersuchten Arbeitsalltag in Form von Zusammenarbeit, bei häufigeren gemeinsamen Mittagessen oder mehreren Unterhaltungen regelmäßig interagiert wurde und die daher zum relevanten Beobachtungsumfeld zu zählen sind. Weitere leitfadengestützte Interviews erfolgten nach externen Kriterien, um ein breit angelegtes Sample zu erhalten. Das wichtigste externe Kriterium waren Positionen: In der Sachbearbeitung, bei SpezialistInnen, in der Projektleitung, Teamleitung, Gruppenleitung und Fachbereichsleitung wurden jeweils 65 66 67
Im Interview wurde auch gefragt, wo man sich in 10 Jahren sehe. Die Tätigkeit im Team ‚Projektarbeit’ erschien hierbei nicht als ‚Sackgasse’, bzw. als ‚Einbahnstraße’ in die Bereiche, die Quack (1997) als ‚marktferne’ und damit wenig prestige- und karriereträchtige Bereiche identifiziert. Fragen der beruflichen Entwicklung müssen noch nicht Karriereambitionen oder -pläne sein. Durchaus mehr vertikale Segregation fand sich im weiteren Umfeld, da während der Feldphase relativ häufig Kontakt zu Führungskräften der zweiten Ebene gegeben war. Entscheidend auch für eine im Arbeitsalltag ‚gefühlte‘ numerische Gleichverteilung war die Durchmischung auf dem Stockwerk, auf dem neben den beiden genannten Führungskräften der Ebenen 1 und 1b auch eine weibliche Führungskraft (Führungsebene 3) Büro und MitarbeiterInnen hatte.
4.5 Auswertung
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mindestens zwei Frauen und zwei Männer befragt. Zwei Männer und eine Frau wurden auf der Ebene der Unternehmensbereichsleitung interviewt, sowie drei Mitglieder des nur von Männern besetzten Vorstandes und ein ehemaliges Mitglied. Darüber hinaus wurden eine Geschäftsführerin eines kleineren Tochterunternehmens (ca. 50 Beschäftigte) und ein weibliches Vorstandsmitglied des größten Tochterunternehmens, aus dem auch Mitglieder des Konzernvorstands rekrutiert werden, befragt. Als AssistentInnen konnten nur Frauen befragt werden. Als zweites Kriterium wurden Personen interviewt, die konkrete gleichstellungspolitische Maßnahmen in Anspruch nahmen, d.h. Mitglieder der Frauen- und Homosexuellen-Netzwerke (bei letzterem ebenfalls zwei Frauen und zwei Männer), ein Mitglied des in Gründung befindlichen Väter-Netzwerks, Personen, die Elternzeit genommen hatten, Teilzeit arbeiteten oder beim Cross-Mentoring (vgl. Kap. 9.3) teilgenommen hatten. Zu letzterem wurden je zwei Mentoren und zwei Mentees der aktuellen Runde und der Anfänge befragt. Als ergänzende Kriterien wurden diejenigen genutzt, die im Diversity Management über die genannten hinaus relevant gemacht werden (vgl. Kap. 3.7 und 6.6), entsprechend wurden noch behinderte Männer und Frauen sowie AusländerInnen interviewt. 4.5 Auswertung Strübing (2004) übersetzt Grounded Theory als „Forschungsstil zur Erarbeitung von in empirischen Daten gegründeten Theorien“ (ebd.: 13f.): Im Zentrum des Forschens nach der Grounded Theory steht eine konzeptuell dichte Theorie gegenstandsbezogen zu entwickeln, denn, wie Strauss (2004) hervorhebt, „wir sind der festen Überzeugung, dass soziale Phänomene komplexe Phänomene sind“ (ebd.: 435). Konzeptuell dicht bedeutet daher vor allem, dass „viele Konzepte mit ihren Querverbindungen erarbeitet werden“ müssen, um der Komplexität des Gegenstandes gerecht zu werden (ebd.: 439). Dabei wird die Vorstellung aufgehoben, dass soziale Wirklichkeit zu vorhandenen Konzepten und Theorien passt und stattdessen davon ausgegangen, dass aus Daten eigene Konzepte und Theorien entstehen, die dann wiederum zu einer Schärfung vorheriger Theorien beitragen. Daten jeglicher Art, wie Dokumente, protokollierte Situationen, Gesprächsmitschnitte oder Bilder werden zunächst offen kodiert. Hierzu werden sie schrittweise interpretiert und in Memos festgehalten, bis sich für das jeweilige Material ein erstes ‚Profil’ erstellen lässt. Aus dieser Interpretation werden ‚in vivo’ Kodes gewonnen: Die ersten Ergebnisse werden unter Bezeichnungen subsumiert, die dem Material entnommen werden. Ab der ersten Erschließung des Materials werden kontinuierlich Daten verglichen und die Kodes zu Kategorien verdichtet. Im axialen Kodieren werden die Verhältnisse der Konzepte und Kategorien zueinan-
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4. Forschungsdesign
der in den Blick genommen und ein „phänomenbezogenes Zusammenhangsmodell“ erarbeitet (Strübing 2000: 20). Aus dem Geflecht der Kategorien wird die Schlüsselkategorie herausgearbeitet, von der aus das Phänomen erschlossen werden kann. Im selektiven Kodieren werden die bisherigen Ergebnisse in Hinsicht auf diese Schlüsselkategorie rekodiert. Jede Kategorie und ihre Ausprägungen werden nun darauf hin in den Blick genommen, in welchem Zusammenhang sie zur Schlüsselkategorie stehen und so zu einer gegenstandsbezogenen Theorie verdichtet (vgl. Böhm 2000). Zur Erarbeitung der Fragestellung sind Arbeitsbegriffe unerlässlich (vgl. Kap. 4.1), auch wenn sie sich im Zuge der Analyse verändern. Ebenso ist zu Beginn der Forschung eine breite und tiefe Kenntnis des Forschungsstandes und infrage kommender Theorien unabdingbar, auch wenn die Ordnung und die Bedeutung der theoretischen Ansätze und des Forschungsstandes letztlich erst vor dem Hintergrund entstehen, dass die Ergebnisse bereits vorliegen. Beides ist also zugleich Voraussetzung und Ergebnis des Forschungsprozesses. Zu Beginn der Analysen werden Theorien als sensibilisierende Konzepte genutzt. Im Zuge des Forschungsprozesses können sich nicht selten und nicht von ungefähr diejenigen Begriffe, die bereits in der Formulierung der Forschungsfrage einen aus der Theorie und dem Forschungsstand herrührenden zentralen Stellenwert einnehmen, als wichtige Kategorien aus der Analyse herausschälen, denn schließlich sind der Überblick über ein Thema und Unschärfen in Forschungstand und Theorien zur Fragestellung Ausgangspunkt der Forschung (vgl. Strauss 2004). Im Zuge des Analyseprozesses werden die theoretischen ebenso wie alltägliche Vorannahmen der Forschenden stets reflektiert, um sie nicht dem Material überzustülpen. Auch bereits bei der Datenerhebung in Form von teilnehmender Beobachtung und leitfadengestützten Interviews tragen die Forschenden ihre Annahmen in die Forschung hinein und müssen entsprechend ebenfalls analysiert werden (vgl. Flick 2006). Hinzu kommt im Falle dieser Forschung, dass es sich um ein normativ aufgeladenes Thema und bei der Forscherin um eine junge Frau handelt, der aufgrund des Promotionsvorhabens auch Karriereambition zugeschrieben werden konnte, die also zur ‚klassischen Zielgruppe‘ von Gleichstellungspolitik gezählt werden könnte. Das wurde zum Einen im Feld auch explizit gemacht (vgl. Kap. 7.3). Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass es auch im Feld den Interaktionen mit der Forscherin unterliegen kann, indem der Forscherin umso mehr eine normative Sichtweise zugeschrieben und daher davon ausgegangen wird, dass ihr gegenüber auch eine entsprechende Bedeutungszuweisung an ‚Chancengleichheit‘ demonstriert werden muss. Die Wahrnehmung der Forscherin durch die Beteiligten wurde daher stets in der Analyse beachtet und zum Gegenstand der Analyse gemacht (vgl. insbes. Kap. 7.1 ff.).
5.1 „Die Unternehmen brauchen das Potenzial“
91
5 „Förderung der Chancengleichheit“ – Über die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Gleichberechtigung und Ökonomie
5.1 „Die Unternehmen brauchen das Potenzial“ Heintz (2008) erklärt, dass „das Prinzip Gleichberechtigung nicht eine auf westliche Länder beschränkte Norm ist, sondern auf globaler Ebene institutionalisiert wurde und die Geschlechterverhältnisse weltweit affiziert“ (ebd.: 232; vgl. auch Heintz et al. 2001; Ramirez 2001; Wobbe 2001). Im Anschluss an die World Polity-Forschung (vgl. Meyer 2005) lässt sich vor diesem Hintergrund Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen als eines der wichtigen Leitbilder okzidentaler Rationalisierung fassen wie bspw. Bildung und Demokratie.68 Für die Bundesrepublik Deutschland wurde dieses Leitbild im Jahr 1949 in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes verankert. 1994 wurde dieser Absatz novelliert: „(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes (...) benachteiligt oder bevorzugt werden.“ (Art. 3 GG; Herv. der Novellierung KKH) Diese Novellierung zeigt, dass eine Diskrepanz zwischen Gleichberechtigung und nach wie vor bestehender Ungleichheit als Handlungsbedarf wahrgenommen wurde (vgl. Gildemeister/Robert 2003).69 Diesem entsprechend wurden verbindliche 68
69
„Die westliche Gesellschaft ist im Wesentlichen ein kulturelles Projekt zur Organisation menschlichen Handelns, durch das die richtigen Verknüpfungen zwischen der moralischen und der natürlichen Welt hergestellt werden sollen“ (Meyer et al. 2005: 17). Darin entstehen und wirken institutionalisierte Regeln, die „sich in kulturellen Theorien, Ideologien und Vorschriften über das Funktionieren der Gesellschaft [manifestieren], wie es tatsächlich ist oder im Lichte bestimmter kollektiver Ziele sein sollte, insbesondere der sich herausbildenden Ziele Gerechtigkeit und Fortschritt“ (ebd.: 17); ähnlich fassen dies Gildemeister und Robert (2003) für Geschlechteregalität. Bereits der Aufbau der Absätze verbildlicht, dass zwischen Gleichheitsgrundsatz und tatsächlicher Gleichbehandlung mehrere Schritte liegen.
K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
Regelungen zur Gleichstellung von Männern und Frauen im öffentlichen Dienst erlassen (vgl. Klein 2006), die darauf hinweisen, dass sich auf EU-, Bundes- und Landesebene neben einer Gleichberechtigungs- auch eine Gleichstellungsnorm politisch durchsetzt. Vier Jahre nach der Novellierung von Absatz 2 wurde im Koalitionsvertrag von SPD und Grünen die Absicht festgehalten, auch ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft auf den Weg zu bringen: „VIII. Neuer Aufbruch für die Frauenpolitik Die neue Bundesregierung will die Gleichstellung von Mann und Frau wieder zu einem großen gesellschaftlichen Reformprojekt machen. (...) Wir wollen die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen in Beruf und Gesellschaft. Dazu sollen die berufliche Integration und der Aufstieg von Frauen in Unternehmen und Verwaltungen sowie ihre Existenzgründungen gefördert werden. Nur wenn sich das geistige Potential und die Kreativität der Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft voll entfalten können, wird unser Land die Herausforderungen der Zukunft bestehen. Zu dem Aktionsprogramm ‚Frau und Beruf‘ gehören: - Ein effektives Gleichstellungsgesetz. Wir werden verbindliche Regelungen zur Frauenförderung einführen, die auch in der Privatwirtschaft Anwendung finden müssen.“ (Koalitionsvereinbarung SPD/Grüne 1998) Die Gleichstellungsnorm erscheint hier noch nicht institutionalisiert, da ein Begründungsbedarf angenommen wird, also keine Selbstverständlichkeit für Gleichstellungspolitik besteht. Entsprechend der Institutionalisierung von Gleichberechtigung im Horizont okzidentaler Rationalisierung wird zur Legitimation von Gleichstellungspolitik eine unvermittelte und so als selbstverständlich gesetzte Verbindung von Gleichberechtigung und dem ‚Wohl der Nation‘ genutzt. Von einer Expertinnen-Kommission wurde bis 2001 im Auftrag des BMFSFJ ein Gleichstellungsgesetz entworfen, das diesem Koalitionsvertrag entspricht (vgl. Pfarr 2001). Am 2. Juli 2001, wenige Monate nach der Erarbeitung des Gesetzentwurfs, wurde ein mögliches Gesetz ausgesetzt70 und an seiner Statt eine freiwillige Vereinbarung geschlossen: „Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft“ (Vereinbarung 2001) 70
Alemann (2007) beurteilt dies folgendermaßen: „mit Blick auf die Bundesregierung lässt sich der Konfliktausgang als Tauschgeschäft bewerten, wurde doch das Stillhalten der Wirtschaft gegenüber dem Betriebsverfassungsgesetz, durch das die Regierung die Gewerkschaften auf ihre Seite bringen wollte, durch ein Nachgeben beim Gleichstellungsgesetz erkauft“ (ebd.: 192).
5.1 „Die Unternehmen brauchen das Potenzial“
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Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sind organisierte Interessensverbünde privatwirtschaftlicher Organisationen, die in Kontexten auftreten, in denen angenommen wird, dass die Interessen ihrer Mitglieder unter einer gemeinsamen Ägide subsumiert werden können,71 was auf Rahmenbedingungen der Ökonomie verweist. Sie treten hier auf der Ebene des Partners der Vereinbarung (Bundesregierung) auf, d.h. auf politischer Ebene: Wirtschaftsvertretungen werden also mit dieser Vereinbarung im Bereich der Wirtschaftspolitik nicht auf Lobbyarbeit beschränkt, sondern mitspracheberechtigt und können somit Ansprüche stellen. Die Vereinbarung beginnt im Wortlaut nun folgendermaßen: „I. Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein großes Potenzial gut ausgebildeter weiblicher Arbeitskräfte.“ (ebd.) In dieser ersten Stellungnahme72 werden Frauen aus der Rekrutierungsperspektive von Wirtschaftsorganisationen beschrieben. Dies stellt einen deutlichen Kontrast zum Koalitionsvertrag (1998) dar, der Frauen als Akteure setzt, denen „Wirtschaft und Gesellschaft“ als Handlungsfeld ihrer „gleichberechtigten Teilhabe“ und als Medien dienen (sollen), ihr „geistiges Potential“ zu entfalten. In der Vereinbarung werden Frauen dagegen als Objekte gezeichnet: als Ausstattung der Bundesrepublik, die über sie „verfügt“, und als interessante (vgl. „gut ausgebildete“) Humanressourcen für Arbeitsorganisationen. Adressatinnen und Entscheidungsträgerinnen dieses ersten Satzes sind weder erwerbstätige Frauen noch die Bundesregierung, sondern Wirtschaftsorganisationen, die Arbeitskräfte rekrutieren und (attraktive) Standorte wählen. Damit werden ihre Interessen zum Maßstab der Vereinbarung. Im Zusammenhang mit Gender Mainstreaming und Diversity Management konstatiert Wetterer (2002): „Das neue Zauberwort, das die Brücke [von Ökonomie] zur Gleichstellungspolitik schlagen soll, heißt also einmal mehr: Potenziale von Frauen.“ (Wetterer 2002: 134). Hier lässt sich dies nun für die umgekehrte Richtung konstatieren: Über das ‚Zauberwort’ „Potenzial gut ausgebildeter weiblicher Arbeitskräfte“ (Vereinbarung 2001) wird eine Brücke von Gleichstellungspolitik zur Ökonomie geschlagen. Diese Brücke wird im Folgenden beschritten, indem sowohl die Begründung als 71 72
Sie treten in Kontexten auf, in denen sie gemeinsame und nicht gleiche Interessen zeigen (z.B. gegenüber Gewerkschaften als Tarifpartner). Die gleichen Interessen machen Unternehmen zu Konkurrenten z.B. im Vertrieb oder bei der Arbeitskräfterekrutierung. Die Gliederung („I.“) vermittelt den Eindruck, dies sei ein Aspekt, den man vereinbart habe und kennzeichnet diesen Absatz als vollständig.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
auch das Vorgehen für die „Förderung der Chancengleichheit“ der im ersten Absatz vermittelten Argumentationslogik folgen: „II. Die Unternehmen brauchen das Potenzial der gut ausgebildeten und motivierten Frauen, um im nationalen ebenso wie im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Die Spitzenverbände der Wirtschaft und die Bundesregierung sind sich einig, dass es sich unser Land auf Dauer nicht leisten kann, in großem Umfang in Bildung und Ausbildung von Frauen zu investieren und das so gebildete Potenzial dann nicht zu nutzen.“ (ebd.) Die Objektivierung von Frauen wird mit der Begründung weiter ausgebaut, indem ihr Nutzen für die Wirtschaft dem Staat entstandenen Kosten gegenüber gestellt wird. Die Begründung wird hiermit ‚ökonomisch‘ im doppelten Wortsinn: an der Privatwirtschaft und an ‚Rentabilität‘ ausgerichtet. Auf diese Weise wird „die Förderung der Chancengleichheit“ von Gleichberechtigung abgespalten: Nicht nur wird hier nicht ein von BürgerInnen gestellter Anspruch der „Beseitigung bestehender Nachteile“ (Artikel 3 GG) zur Begründung herangezogen, sondern mehr noch Gleichstellung aus dem Zusammenhang mit Gleichberechtigung, der Grundgesetz und Koalitionsvereinbarung trägt, herausgelöst und in ein ökonomisches Paradigma verlagert. Die Frage ‚wem nützt Gleichstellung?‘ ist so weder von vorneherein über die institutionalisierte Gleichberechtigung beantwortet, noch einfach (wieder) offen, sondern umgemünzt in ‚nützt es der Wirtschaft?‘. In dieser Orientierung auf ökonomischen Nutzen statt auf BürgerInnenrechte erscheint ein Vorgehen zur „Förderung der Chancengleichheit“ im Sinne ‚neoliberaler’ Wirtschaftspolitik quasi logisch. Statt „verbindliche[r] Regelungen zur Frauenförderung“ (Koalitionsvereinbarung SPD/Grüne 1998) heißt es nun: „Die Spitzenverbände der Wirtschaft sagen zu, ihren Mitgliedern betriebliche Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit von Frauen und Männern sowie der Familienfreundlichkeit zu empfehlen.“ (Vereinbarung 2001) Die Zusage der Spitzenverbände betrifft hier nicht verbindliche Maßnahmen oder Handlungen, sondern allein das Aussprechen von Empfehlungen. Die Selbstverpflichtung der Spitzenverbände in Hinsicht auf das Aussprechen von Empfehlung wird an anderer Stelle noch gefüttert, eine darüber hinausgehende Verpflichtung ist in der Vereinbarung nicht zu finden. Das Insistieren auf eine Einhaltung i.S. der Formulierung, dass die Regelungen „Anwendung finden müssen“ (Koalitionsvereinbarung SPD/Grüne 1998), entfällt gänzlich: Weder für die Spitzenverbände noch für die einzelnen Betriebe wird verbindlich festgehalten, Gleichstellung zu
5.1 „Die Unternehmen brauchen das Potenzial“
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schaffen. Vielmehr wird in (impliziter) Abgrenzung zu einem Gesetz einer allgemein gültigen Regelung Unsachgemäßheit zugeschrieben: „Geeignete betriebliche Maßnahmen sind abhängig von Situation, Größe, Branche und Struktur der Unternehmen und der Arbeitnehmerschaft“ (Vereinbarung 2001) Die Schlussfolgerung ist dementsprechend auch nicht, dass die Bundesregierung ein ‚Recht’ hat, der Wirtschaft Gleichstellungspolitik vorzuschreiben, sondern dass sie zusagt, von weiteren Schritten abzusehen: „Solange die ‚Vereinbarung der Bundesregierung und der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft’ erfolgreich umgesetzt wird, wird die Bundesregierung keine Initiative ergreifen, um die Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft auf gesetzlichem Wege zu erreichen. Davon unberührt bleibt die Umsetzung von zwingendem EURecht.“ (ebd.) Im Gegensatz zur Wirtschaft gibt die Bundesregierung eine verbindliche Zusage, die ihr Handeln betrifft. Diese Zusage wird an eine „erfolgreiche Umsetzung“ gebunden. „Erfolgreich“ wird hier an die „Umsetzung dieser Vereinbarung“ und „die erzielten Fortschritte in den Unternehmen“ (Vereinbarung 2001) geknüpft. Definition und Maßstab für „die erzielten Fortschritte in den Unternehmen“ sind jedoch, wie die erste Bilanz 2003 noch einmal verdeutlicht, nicht Gegenstand der Vereinbarung und bleiben gänzlich offen: „Ziele der Vereinbarung waren und sind, durch bewusstseinsbildende Maßnahmen, Information, Präsentation von gelungenen Beispielen und durch gemeinsame Aktivitäten mit Unternehmen die Ausbildungsperspektiven und die beruflichen Chancen von Frauen sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter nachhaltig zu verbessern.“ (Bilanz 2003) Statt Nachweise für erfolgreiche oder erfolgversprechende Gleichstellungsarbeit einzufordern, sollen ArbeitgeberInnen zeigen, dass sie über ein Bewusstsein für die Thematik verfügen, d.h. dass Chancengleichheit in den Organisationen ein aktuelles, sichtbares Thema ist, in dem eine positive Aufladung von Frauenerwerbstätigkeit und Karrieren von Frauen enthalten sei und Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Problem wahrgenommen werde. Daran angeschlossen können sie dann durch die Hervorhebung von ‚vorbildhaften’ Einzelfällen als Vorreiter positioniert
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
werden. Dem Anpreisen von „gelungenen Beispielen“ steht allerdings kein Anprangern von Unterlassungen oder der Chancengleichheit entgegenstehenden Vorgehensweisen gegenüber. ‚Mittel‘ zur Zielerreichung werden – ergänzt um Information und „gemeinsame Aktivitäten“ – als Zwischenziele in den Vordergrund gerückt und so das Ziel der Förderung von Chancengleichheit scheinbar konkretisiert, als Gegenstand der Vereinbarung jedoch durch diese ersetzt und die Zielsetzung ‚Chancengleichheit’ auf diese Weise vertagt. So wird einer Entkopplung der Gleichstellungsnorm von der Praxis in Organisationen noch Vorschub geleistet: Der Gleichstellungsnorm kann auf der Ebene symbolischer Reproduktion Genüge getan werden. Exemplarisch angeführte ‚good practice‘ kann dann auch den Organisationen der Verschleierung einer Entkopplung dienen. Entsprechend weisen die Bilanzen 2003 und 2006 auch noch Handlungsbedarf aus, sie konstatieren aber zugleich: „Bundesregierung und Wirtschaft sind sich im Zusammenhang mit der 2. Bilanz der Vereinbarung einig, dass es unbeschadet der Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien der EU in nationales Recht keiner weiteren gesetzlichen Regelungen zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Erwerbsleben bedarf. Die Strategie der freiwilligen Vereinbarung zwischen den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und der Politik ist ein Erfolg.“ (Bilanz 2006) In evaluativen Studien zeigten sich nur geringfügige Veränderungen in Hinsicht auf die Implementierung von Gleichstellungsprogrammen in Unternehmen, die eine Formulierung als „Erfolg“ relativieren (vgl. Klenner 2003; Krell/Ortlieb 2003; Möller/Allmendinger 2003). Krell und Ortlieb (2003) befragten Verantwortliche in 500 Unternehmen, wobei 47,3% der Befragten zwei Jahre nach der Vereinbarung noch nicht einmal von dieser wussten (ebd.: 10). Die Bilanzierung ist in diesem Sinne auch etwas geschönt: „Der explizite Bezug auf wissenschaftliche Studien fällt jedoch selektiv aus. Eine Auseinandersetzung mit Studien, die die Umsetzung der Vereinbarung weniger positiv beurteilten, bleibt aus.“ (Alemann 2007: 187) Die freiwillige Vereinbarung von 2001 erscheint zunächst als Übersetzungsprozess im Sinne Campbells (2004). Die Herauslösung von Gleichberechtigung aus der Konzeption von Chancengleichheit und Gleichstellung lässt sich jedoch nicht auf einen ‚Adaptionsschwund‘ reduzieren: Gleichstellung zwischen Männern und Frauen ist nichts anderes als die Durchsetzung der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Potential von Frauen ökonomisch ‚optimal‘ zu nutzen, wi-
5.2 „der zunehmende Wunsch von Frauen berufstätig zu sein“
97
derspricht dem Begriff von Gleichstellung. Das Herauslösen dieses Anspruchs bedeutet, dass „Förderung von Chancengleichheit“ auf eine hohle Floskel reduziert wird. Das macht aus der freiwilligen Vereinbarung, wie von KritikerInnen konstatiert eine Farce (vgl. von Alemann 2007; djb 2004). Für eine Entkopplung im Sinne des hier verwendeten Begriffs sind zwei weitere Kriterien notwendig: Das entkoppelte Element muss symbolisch reproduziert werden, während eine andere Praxis ermöglicht wird, und die Diskrepanz muss verschleiert sein.73 Die symbolische Reproduktion des Anspruchs Gleichstellung zu erreichen, erfolgt z.B. in den Bilanzen zu dieser Vereinbarung (vgl. „Ziele der Vereinbarung waren und sind, (...) die beruflichen Chancen von Frauen (...) nachhaltig zu verbessern.“ Bilanz 2003; sie ersetze erfolgreich „gesetzliche Regelungen zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Erwerbsleben“ Bilanz 2006). Dass eine Praxis ermöglicht wird, die nicht auf Gleichstellung zwischen Männern und Frauen abzielt, zeigt sich bereits in der Unverbindlichkeit dieser Vereinbarung.74 Der Ersatz durch ‚Zwischenziele‘ (wie das Aussprechen von Empfehlungen oder die Darstellung von ‚best practice‘), die vagen Formulierungen der Zielsetzung und vor allem ihrer Konditionen, indem auf ‚betriebsspezifische Bedingungen‘ hingewiesen wird, sowie eine selektive Rezeption von Evaluationen in den Bilanzen verschleiern die hier vorliegende Entkopplung. 5.2 „der zunehmende Wunsch von Frauen berufstätig zu sein“ Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände gibt entsprechend der Vereinbarung eine Broschüre mit den zugesagten Empfehlungen heraus. Der zentrale Titel „Chancen für Frauen in der Wirtschaft“ hebt nicht auf die Nutzung eines Ressourcenpotentials ab, sondern weist eine Orientierung an Frauen und ihre ‚Integration‘ in der Wirtschaft auf. Oberhalb des Titels sind die Begriffe „Personalentwicklung“, „Arbeitszeitmodelle“, „Beruf und Familie“ und „Führungskraft Frau“ zu lesen. Der Untertitel lautet: „Empfehlungen für eine an Chancengleichheit und Familienfreundlichkeit orientierte Personalpolitik“. Diese Rahmung des Titels zeigt, an wen diese Broschüre gerichtet ist: FunktionsträgerInnen, insbesondere Personalverantwortliche in Organisationen, die „Arbeitszeitmodelle“ entwickeln und anbieten, „Personalentwicklung“ vornehmen und in Hinsicht auf „Beruf und Familie“ z.B. Elternphasen und Wiedereinstiege koordinieren. Da sich „Personalentwicklung“ auf Weiterbildung und Ausbau von Potential bei Mitarbei73 74
Dass eine genaue und kritische Inspektion wie die der o.g. KritikerInnen oder externer Evaluationen, diese Verschleierung durchbricht, lässt das Kartenhaus noch nicht zusammenbrechen. Dass diese Möglichkeit auch genutzt wird, zeigt sich nicht zuletzt in den o.g. evaluativen Studien, die den proklamierten Erfolg relativieren.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
terInnen bezieht, irritiert die zusätzliche Nennung von „Führungskraft Frau“ an dieser Stelle. Menschen – und darunter sind auch Frauen zu verstehen – als Führungskräfte einzusetzen, entspricht der Entwicklung von Personal. Durch die explizite Nennung der „Führungskraft Frau“ wird also auf die Besonderung weiblicher Führungskräfte abgehoben und damit auf eine dem Kollektivsubjekt Frau zugeschriebene andersartige Weise, eine solche Funktion auszufüllen. Das Titelblatt vermittelt, dass Frauen als (irgendwie) anderem Teil des Personals andere Chancen in der Wirtschaft erteilt werden und daraus abgeleitet, sie in der Personalpolitik gesondert zu betrachten sind. Die Broschüre beginnt mit einem Vorwort des Präsidenten der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände: „Der Erfolg der Unternehmen hängt im Zeitalter der Globalisierung noch mehr als in der Vergangenheit auch von ihrer Anpassungsfähigkeit an wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen ab. Eine der großen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten beiden Jahrzehnte ist der zunehmende Wunsch von Frauen, berufstätig zu sein und Familie und Beruf miteinander zu verbinden“ (Vorwort Hundt 2001) Die von Hundt hier angeführten Veränderungen im bereits von Marx 1848 beschworenen Zeitalter der Globalisierung sind wohl bei den meisten angesprochenen Organisationen längst bekannt.75 Die scheinbare Notwendigkeit und Dringlichkeit (denn schließlich ist Zeit Geld), die in der Aussage vermittelt werden, sind so nur Schein. Diese Plattitüde wird herangezogen, um auf eine Veränderung besonders hinzuweisen: „der zunehmende Wunsch von Frauen berufstätig zu sein“. Die Formulierung als „Wunsch“ bedeutet eine Marginalisierung in zweifacher Hinsicht: zum Einen gegenüber berechtigten Ansprüchen von Frauen einer „gleichberechtigten Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft“ (Koalitionsvereinbarung 1998) und zum Zweiten gegenüber einer Notwendigkeit von Erwerbstätigkeit zur Lebenssicherung.76 In dieser Formulierung ist angelegt, dass Frauen einen Familienernährer im Hintergrund haben, der die Grundversorgung zu leisten hat und leisten kann. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, wenn neben dem „zunehmenden Wunsch von Frauen berufstätig zu sein“ – und mit diesem logisch 75
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Mehr noch: Organisationsleitungen werden über differenzierte Kenntnisse zu Anforderungen der Globalisierung verfügen und bereits auf sie reagiert haben, so z.B. die Internationalisierung von Märkten sowie Near- und Offshoring-Möglichkeiten nutzen, internationales Wirtschafts- und Arbeitsrecht in ihren Rechtsabteilungen oder bei ihren Rechtsvertretungen etabliert wissen etc.. Gerade in Zeiten, in denen die Bedrohung der Existenz durch Arbeitslosigkeit als eines der größten sozialen und politischen Probleme gewertet wird, erscheint der „Wunsch“ von Frauen, berufstätig zu sein, bedeutungslos gegenüber den ‚echten’ Problemen und Anforderungen, denen sich Organisationen „im Zeitalter der Globalisierung“ stellen müssen.
5.2 „der zunehmende Wunsch von Frauen berufstätig zu sein“
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verbunden – auch der zunehmende Wunsch „Familie und Beruf miteinander zu verbinden“ besteht und Frauen so in der Wahrnehmung des Präsidenten der BDA eingebettet werden als Ehefrauen und Mütter mit traditioneller Rollenverteilung. Bei Hundt ist damit organisationale Gleichstellungspolitik zweifach von Gleichberechtigung entkoppelt, woraus sich ein Abgleich von Erfolgen der Gleichstellungspolitik mit z.B. Segregationsquoten erübrigt: „Hinsichtlich der Verbesserung der Chancen von Frauen im Berufsleben und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind in den letzten Jahren beträchtliche Fortschritte erzielt worden. Das Konzept der betrieblichen Personalpolitik, das konsequent Chancengleichheit verwirklicht, hat sich in der Vergangenheit bewährt.“ (Vorwort Hundt 2001) Diese Selbstbestätigung macht deutlich, dass seines Erachtens keine weitere Handlungsnotwendigkeit besteht. Die Anpassung an eine veränderte Erwerbsbeteiligung von Frauen, wie oben scheinbar angemahnt, ist in dieser Darstellung bereits erfolgreich vollzogen: „Chancengleichheit“ wird bereits „verwirklicht“ und so bedarf es keiner Erweiterung, Umstellung oder Steigerung des Engagements geschweige einer Innovation, die zeit- und kostenaufwändig sein könnte. Dass hier Altgedientes aus „der Vergangenheit“ als vollkommen hinreichend gewertet wird, erscheint widersprüchlich zur Verkündung der erforderlichen Anpassung an „wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen“. Dieser Widerspruch pflanzt sich fort: „Der Strukturwandel in der Wirtschafts- und Arbeitswelt hat weitreichende Konsequenzen für die moderne Personalarbeit. Sie muss zunehmend mehr gruppenspezifische und individuelle Besonderheiten berücksichtigen. Frauen rücken als Zielgruppe verstärkt in den Blickpunkt der unternehmerischen Personalarbeit. Frauen bieten ein großes Potenzial an qualifizierten Arbeitskräften und stehen den Veränderungen für neue innovative Arbeitsformen positiv gegenüber.“ (ebd.) Hundts Aussage über Frauen in der Arbeitswelt summiert sich darin, dass sie grundsätzliche Voraussetzungen einer Eignung von Arbeitskräften erfüllen, indem sie eine gute Humanressource darstellen und der modernen Organisation von Arbeit nicht ablehnend begegnen, jedoch über diese basalen Anforderungen hinaus als Kollektiv ganz andere („gruppenspezifische“) Bedingungen mit sich bringen. Hundt beschwört also über das überstrapazierte Schlagwort der Globalisierung Veränderungen, die er zugleich aber gerade nicht dem „Zeitalter“, sondern der neu- und fremdartigen Arbeitskraft ‚Frau’ anhaftet. Zwar wird dies als „weitreichende Konsequenzen“ für Personalarbeit gefasst, denen kann aber mit altge-
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
dienten Verfahren begegnet werden, weil Frauenerwerbsarbeit so bagatellisiert ist, dass dem Phänomen ‚Arbeitskraft Frau‘ keine ernstzunehmende ökonomische Bedeutung zugewiesen werden muss. Möglich ist diese Aneinanderreihung widersprüchlicher Aussagen als Vorwort einer gedruckten, offiziellen Stellungnahme der BDA nur, weil dem Verständnis, das auch die Vereinbarung (2001) trägt, (vorrangig über die verwendeten Schlagworte) symbolisch Genüge getan wird. Der Inhalt der Broschüre stellt die Schlagworte in einen Zusammenhang: „1. Die Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen - Die Entwicklung von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft wird weiter fortschreiten. Die Folge sind Dezentralisierung, Abflachen hierarchischer Strukturen und Flexibilisierung der Produktion. - Dies führt zu veränderten Arbeitsinhalten. Dienstleistungstätigkeiten werden einen höheren Stellenwert bekommen. Die Anforderungen an die fachlichen Qualifikationen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wachsen. - Die Globalisierung der Wirtschaftsräume verschärft den Wettbewerb zwischen den Unternehmen. Die Bedeutung des Produktionsfaktors ‚qualifiziertes Personal‘ wächst. - Aufgrund der rasanten technologischen Entwicklung wächst der Anteil an höher qualifiziertem Personal, der Anteil an gering qualifizierter Arbeit sinkt. Diese Entwicklung erfordert verstärkte Weiterbildungsaktivitäten der Arbeitnehmer und lebenslanges Lernen. - Angesichts rückläufiger Geburtenrate und Überalterung der Bevölkerung werden Fachkräfte knapp. - Die Einstellung zur Erwerbsarbeit ändert sich: Der Stellenwert von Eigenverantwortung, Zeitsouveränität und individueller Entfaltung wächst. - Das Erwerbsverhalten der Frauen ändert sich. Die Dauer der Unterbrechung der Berufstätigkeit aufgrund familiärer Aufgaben ist rückläufig. Individuelle Arbeitszeitmuster, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern, gewinnen an Bedeutung.“ (BDA Broschüre 2001) Die Aufzählung von sieben Thesen zu Veränderungen struktureller Rahmenbedingungen, teilweise als reine Zukunftsprognosen, teilweise als derzeitige Veränderungen mit weiterreichenden Folgen formuliert, vermittelt den Eindruck einer differenzierten Sichtweise. Die Thesen werden nicht empirisch belegt, sondern erscheinen durch Plausibilität zu ‚bestechen‘ (zumindest vor dem Wissenshintergrund einer regelmäßigen Zeitungslektüre). Die an die erste ‚Charakterisierung‘ von Gesellschaft anschließenden Thesen zielen darauf ab, die zukünftige Unterdeckung an qualifiziertem Personal aufzuzeigen. Die sechste These stellt veränderte Ansprüche der ArbeitnehmerInnen dar und in der siebten These werden nun Ver-
5.2 „der zunehmende Wunsch von Frauen berufstätig zu sein“
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änderungen bei Frauen eingeführt. Der (seit langem viel beschworene) zukünftige Fachkräftemangel und die insgesamt auf Flexibilisierung hinauslaufenden Veränderungen von Erwerbstätigkeit in Organisationen rahmen diese siebte These. Rahmung ist es zum Einen nur, weil das Erwerbsverhalten „der“ Frauen doch wieder von obigen strukturellen Veränderungen gesondert betrachtet wird. Rahmung ist es zum Anderen aber gerade, weil sich das veränderte Erwerbsverhalten von Frauen harmonisch in die strukturellen Veränderungen einfügt: Frauen erscheinen als gar nicht mehr so andere Ressource an Fachkräften, da ihre ‚gruppenspezifischen Bedürfnisse‘ sich mit allgemeinen Erwartungen an Erwerbsarbeit im Zuge einer hier gezeichneten Entwicklung decken werden.77 Liest man diese dargestellten Punkte aufgrund des Titels der Broschüre als Rahmenbedingungen für Chancen, die Frauen in der Wirtschaft haben, so scheinen sie auf einen Bedeutungsverlust von Geschlecht zuzulaufen. In der Schlussfolgerung aus den Thesen zeigt sich dann jedoch, dass es nicht darum ging, die strukturellen Rahmenbedingungen für Erwerbstätigkeit und Karrieren von Frauen vorzustellen, sondern Rahmenbedingungen für Personalmanagement: „Der Strukturwandel in der Wirtschafts- und Arbeitswelt hat Konsequenzen für die moderne Personalarbeit. Die technologischen und demographischen Entwicklungen stellen die Unternehmen vor veränderte Rahmenbedingungen, auf die sie mit personalpolitischen und unternehmenspolitischen Maßnahmen reagieren müssen.“ (BDA Broschüre 2001) Unternehmen sind hier nicht beteiligt am gezeichneten Wandel, was sie selbst zu Rahmenbedingungen von „Chancen für Frauen in der Wirtschaft“ (Titel; Herv. KKH) machen würde. Vielmehr werden sie (wie bei Hundt) aus gesellschaftlichen Entwicklungen heraus definiert und sind genötigt Anpassungsleistungen an ihre Umwelt hervorzubringen (vgl. „reagieren müssen“).78 Konsequenz in dieser Konzeption von Organisation und Umwelt ist, dass Unternehmen so gut wie möglich die Folgen der sich verändernden Rahmenbedingungen abschätzen können müssen und sich auf solch unsicherem Terrain gewappnet zeigen müssen. Diesem Verständnis entsprechend wird Gleichstellungs-
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Diese Gleichzeitigkeit eines Einbezugs und einer Besonderung von Frauen zeigt sich auch darin, dass in der zweiten These von „Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen“ die Rede ist, während in der vierten These das generische Maskulinum verwendet wird. An den strukturellen Wandel wird im Folgenden noch ein „Bewusstseinswandel“ angeschlossen. Dieser wird ausgeführt als gewandelte Haltung von Frauen zu Familien- und Erwerbsarbeit, bei der eine Annäherung weiblicher Biographien an männliche Normalbiographien erfolge. In diesem Kontext werden Unternehmen ein (kleines) Stück weit zu Akteuren, indem erklärt wird, sie „unterstützen diese Entwicklung“.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
politik – nun kommt zum ersten Mal die Thematik der Broschüre hinein – als ein unter rationalen Erwägungen sinniges personalpolitisches Instrument dargestellt: „Die unternehmerische Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit kann von einer Einbeziehung des Qualifikationspotentials von Frauen nur profitieren. Durch die Entwicklung neuer, flexibler Arbeitsformen und Arbeitszeitmodelle kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie deutlich erleichtert werden. Von einer Flexibilisierung der Arbeitswelt profitieren Unternehmen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleichermaßen. Die Erfahrungen der Unternehmen, die sich bereits auf diese Veränderungen eingestellt haben, sind positiv.“ (BDA Broschüre) Die Empfehlung, Gleichstellungspolitik zu betreiben, wird mit lose aneinander gereihten Begründungen versehen, die ein wenig dem Prinzip ‚kann ja nicht schaden’ folgen (vgl. „kann (...) nur profitieren“),79 es werden ‚einsichtige‘, aber unbelegte ‚Tatsachen‘ konstatiert und letztlich mit bisherigen „Erfahrungen“ in der Einführung dieser Instrumente gestützt. Dass die Instrumente tragfähig sind für die zukünftige Entwicklung wird tautologisch impliziert (vgl. „die sich bereits auf diese Veränderungen eingestellt haben“). Im Horizont eines ökonomischen Paradigmas als Rahmung von Gleichstellung (wie in der Vereinbarung 2001; vgl. Kap. 5.1) wird auf der Basis plausibler Thesen zu zukünftigen sozialen Veränderungen ein Handlungsbedarf für Unternehmen konstruiert, der Gleichstellungspolitik ökonomisch sinnvoll darstellen will. Anders als im Vorwort Hundts, bei dem sich ein solcher Sinn letztlich in der Bagatellisierung verliert, zeichnet sich hier jedoch schon ein wenngleich auch noch etwas dünner Ansatz ab, Gleichstellung zu rationalisieren, der in ein rationalisiertes Leitbild für Organisation münden kann. 5.3 „InformationsPlattform“ Im IAB-Betriebspanel wird der Branche der Profit-AG eine überdurchschnittliche Aktivität hinsichtlich organisationaler Gleichstellungspolitik bescheinigt (vgl. Möller/Allmendinger 2003). Insbesondere diese Branche signalisiert ein Engage79
Alemann (2007) konstatiert für das Jahr 2000 eine Verschiebung im gleichstellungspolitischen Diskurs: „Statt das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Frauen weiterhin als Benachteiligungsverhältnis zu thematisieren, werden im neuen Diskurs gemeinsame Interessen von Wirtschaft, Politik und den betroffenen Frauen unterstellt“ (ebd.: 173). Dies unterliegt der hier vorgestellten ‚Win-Win’-Situation: „Von einer Flexibilisierung der Arbeitswelt profitieren Unternehmen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleichermaßen.“ Das kann entscheidend sein (vgl. Kap. 6 und10).
5.3 „InformationsPlattform“
103
ment für Chancengleichheit auch in entsprechenden Foren: In Vereinigungen wie „Taten statt Worte e.V.“ und „Forum Frauen n der Wirtschaft“, unter den TrägerInnen des „Total E-Quality Prädikats“, den TeilnehmerInnen von groß angelegten Diversity-Studien und des „Audit Familie und Beruf“ sowie den AutorInnen und Falldarstellungen von ‚Best Practice‘-Publikationen (vgl. Krell et al. 2008; zuerst 1997) etc. befinden sich oft mehrere deutsche Privatkonzerne. Ein besonders beachtetes Forum ist der von der Bundesregierung geförderte und von der Universität der Bundeswehr in Hamburg eingepflegte Genderdax (http://www.genderdax.de). Bereits 2005, dem ersten Jahr dieser Plattform, stammen vier der elf im Genderdax aufgenommenen Organisationen aus dieser Branche. Der Begriff Genderdax setzt sich zusammen aus dem neudeutschen Begriff ‚Gender’ und aus der Abkürzung für den Deutschen Aktienindex. Letzterer suggeriert konkrete Daten, die auf einen monetären Wert von Unternehmen verweisen. Der Genderdax könnte daher als Index verstanden werden, anhand dessen der in Hinsicht auf Geschlecht bzw. Gleichstellung gegebene Wert eines Unternehmens ermittelbar wird. Der erläuternde Untertitel des Genderdax lautet: „Top Unternehmen für hochqualifizierte Frauen“. Dies bestätigt die Vermutung, es handele sich um die Messung eines Wertes von Unternehmen und ergänzt, dass nur die besten Unternehmen in diesen Index aufgenommen werden. Gender wird – was angesichts des fälschlichen Gebrauchs des Fachbegriffs nicht weiter verwundert (vgl. Gildemeister/Robert 2003) – mit ‚Frauen’ gefüllt, indem sie als alleinige Genusgruppe angesprochen werden. Die Ansprache wird reduziert auf „hochqualifizierte“ Frauen, wodurch die Zielgruppe mit den ebenfalls an der Spitze angesiedelten „Top Unternehmen“ korrespondiert. Das Niveau der Verbindung von Unternehmen und Frauen entspricht damit der Aufwärtsrichtung der Kurve im rechts neben dem Titel stehenden Koordinatensystem. Auf der Homepage des Genderdax wird nun verdeutlicht, wie es zu verstehen sei, dass diese Top Unternehmen für hochqualifizierte Frauen seien: „genderdax – InformationsPlattform [Überschrift] genderdax ist eine InformationsPlattform im Internet, die hochqualifizierten Frauen einen umfassenden Überblick über Beschäftigungsmöglichkeiten und Karrierechancen bei Unternehmen in Deutschland gibt.“ (ebd.) Die schon aufgrund der Bezeichnung bestehende Erwartung an den Genderdax, mit präzisen Daten aufzuwarten, wird durch die Ankündigung des umfassenden Überblicks verstärkt. Ein umfassender Überblick über Beschäftigungsmöglichkeiten und Karrierechancen bestünde z.B. darin, dass Hochschulabsolventinnen Anzeigen für Traineestellen und ambitionierte berufserfahrene Frauen Stellenangebote mit Führungsverantwortung, hohem Gehalt und/oder Entwicklungspotential dort
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
finden können. Diese naheliegende Vermutung wird im rechts nebenstehenden Kästchen etwas zurück genommen. Dort heißt es: „genderdax bietet Ihnen online Informationen und Suchfunktionen zu Unternehmen, die Frauen aktiv in ihrer Karriere unterstützen.“ (ebd.) Damit gelten die Informationen also nicht mehr einzelnen Arbeitsplätzen, sondern den Unternehmen. Der Unterschied ist entscheidend, denn erstes Kriterium für Bewerbungen ist das eigene Qualifikationsprofil und dies korrespondiert mit Berufs- und Stellenprofilen und nicht mit Unternehmensprofilen. Eine Verknüpfung von Stellen- und Unternehmensprofil schiene hier am sinnigsten zur Erfüllung des oben gesetzten Anspruchs, wird aber nicht mehr nahegelegt und – folgt man den Links – auch nicht geboten. Damit weicht die Ausrichtung auf Arbeitskräfte (vgl. „für hochqualifizierte Frauen“) ein Stück weit der Betonung von Unternehmen, was sich in der zweiten und dritten Zeile noch verstärkt (vgl. „genderdax – Für Unternehmen“ und „genderdax - Bewerbungsbogen“80). Analog zur Ansprache hochqualifizierter Frauen über Qualifikation und Perspektive (vgl. „Sie sind Hochschulabsolventin oder bereits erfolgreich im Beruf und suchen nach neuen Herausforderungen?“) werden Unternehmen im Kästchen „genderdax – Für Unternehmen“ über ihre ‚Qualifikation’ (vgl. „Ihr Unternehmen unterstützt aktiv Frauen“) und über ‚Perspektiven‘ angesprochen: „Sie wollen die Chance nutzen ein genderdax Unternehmen zu werden und damit Ihre Attraktivität für weibliche Fach- und Führungskräfte steigern.“ (ebd.) Der Genderdax wird hier als wirksames Forum zur Profilierung als attraktiver Arbeitgeber beworben: Die zentrale Aussicht – die „Attraktivität“ des Unternehmens zu steigern – wird kausal gebunden an die Bezeichnung „genderdax Unternehmen“, die damit zum Prädikat stilisiert wird. Diese Bedeutungszuschreibung wird koproduziert durch die Darstellungen im rechten Seitenrand: Zum einen werden als PartnerInnen eine Karriereplattform des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und die Universität Hamburg vorgestellt und somit an statushohe Institutionen in Bildung und Politik angeknüpft, deren Legitimität auf die Plattform abfärbt. 2009 springt vor allem aber die rechts oben stehende Überschrift „genderdax wird 40!“ ins Auge. Diese Formulierung suggeriert, es gäbe den Genderdax seit 40 Jahren, was einer Darstellung als etabliertem Index zuspielt. Im Text darunter wird diese Interpretation korrigiert: 80
Mit diesem bewerben sich Unternehmen zur Aufnahme in den Genderdax.
5.3 „InformationsPlattform“
105
„Mit der XY GmbH hat genderdax ein neues attraktives Großunternehmen gewonnen. Somit steigt die Gesamtzahl der auf der InfoPlattform dargestellten Unternehmen und Forschungszentren auf 40.“ (ebd. 2009) Die Betonung der Attraktivität des hinzugewonnenen Großunternehmens impliziert zwei verschiedene Reize: Zum Einen die oben angeführte Attraktivität der Unternehmen für weibliche Arbeitskräfte, die gleichermaßen Voraussetzung für die Aufnahme in den Genderdax als auch Folge daraus ist ein „genderdax Unternehmen“ zu sein. Zum Anderen besteht die Attraktivität des namhaften Großunternehmens für den Genderdax: Die Teilnahme bekannter und ökonomisch bedeutender Großunternehmen am Genderdax vermittelt Anerkennung und stellt dessen Status her.81 Die Gleichzeitigkeit ein Unternehmen gewinnen zu müssen und ein Bewerbungsverfahren zu offerieren, das Unternehmen ‚bestehen’ müssen, vermittelt den Eindruck eines elitären Klubs, der die Besten aber auch nur die Besten anwirbt und andere aussiebt. So steigt der Druck für Unternehmen, die noch nicht vertreten sind, sich zu bewerben, wenn deren Konkurrenz bei der Personalrekrutierung diesem ‚Klub’ angehört. Die inhaltliche Füllung dieser Unternehmensdarstellungen wird über den Bewerbungsbogen vorgegeben, da dieser zur Darstellung der Unternehmen auf der Plattform verwendet wird. Das Bewerbungsverfahren besteht im Ausfüllen dieses Bogens, der dann nach drei Kriterien bewertet werde: „input“, „promotion“, output“. Der Output bezeichnet den Erfolg der Gleichstellungsmaßnahmen: „Welche konkreten Ergebnisse sind bereits erzielt worden?“ Betrachtet man unter dieser Fragestellung den Bewerbungsbogen, so irritiert die Absenz der „konkreten Ergebnisse“: Präzise Daten, die aufgrund des Namensrekurses auf den Deutschen Aktienindex erwartet werden und die konkrete Ergebnisse der Gleichstellungspolitik zeigen könnten, werden nur marginal abgefragt. Frauenanteile insgesamt und auf Führungsebenen werden zwar erfragt, eine Verpflichtung diese zu nennen, besteht jedoch nicht.82 Entscheidende Fragen, wie die nach der Entwicklung des Frauenanteils auf Führungsebenen, werden nicht gestellt. Ebenso wenig wird gefragt, wie die einzelnen Maßnahmen inhaltlich gestaltet sind, inwiefern sie geeignet sind, Gleichstel-
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Die ‚Korrektur’ enttäuscht zwar die Erwartung, der Genderdax sei etabliert, da er schon seit vierzig Jahren bestehe, verstärkt aber den Eindruck, es handele sich um einen Index und repariert die Ent-Täuschung der Etablierung dahingehend, dass in diesem Index viele namhafte Organisationen seien, was eine Anerkennung des Index in ‚der’ Wirtschaft vermittelt. Bei mehreren Großunternehmen steht 2009 unter „9. Quantitative Angaben“ überwiegend oder ausschließlich „k.A.“. Abgefragt werden „Anteil Hochulabsolventinnen bei Neueinstellungen für hochqualifizierte Tätigkeiten (in Forschung und Entwicklung, Spezialfunktionen u.ä.) sowie von Führungsnachwuchskräften“, unteres, mittleres und Topmanagement, sowie Fachlaufbahnen.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
lung zu erreichen, und inwiefern sich eine Wirkung der Maßnahmen abzeichnet.83 Insgesamt gibt es also keine Fragen, die Erfolge der Gleichstellungspolitik eruieren. Wohl aber gibt es Fragen, die potentielle Erfolge suggerieren: „Auf welchem Weg erhält das Unternehmen Rückmeldungen über die Wirksamkeit der Maßnahmen von den hochqualifizierten Frauen selbst?“ (ebd.: Frage 7) „Gibt es in dem Unternehmen konkrete Rückmeldungen über den Erfolg der Förderung hochqualifizierter Frauen?“ (ebd.: Frage 8) Nur eine Frage zielt darauf ab, den Erfolg von Gleichstellungspolitik zu ‚messen’: „Hat das Unternehmen bereits ein Zertifikat, Audit, Preis, Award oder eine sonstige Auszeichnung erhalten (z.B.: von Beruf & Familie gGmbH (Hertie), Total E-Quality e.V., bei Wettbewerben), bei der (auch) die Förderung hochqualifizierter Frauen besonders berücksichtigt wurde?“ (ebd.: Frage 6) Insbesondere in dieser Frage und den Antworten hierzu wird die in der Vereinbarung angelegte symbolische Reproduktion der Gleichstellungsnorm im Genderdax geleistet. Suggerierte der Untertitel des Genderdax‘ „Top Unternehmen für hochqualifizierte Frauen“ eine Ausrichtung des Genderdax als Dienstleistung für Frauen, so zeigen die Ausführungen auf der Homepage hingegen einen Bias zugunsten der Selbstdarstellung von Unternehmen.84 Dabei schrauben sich der Genderdax und die vertretenen Unternehmen in der Zuschreibung von Bedeutung und „Attraktivität“ gegenseitig nach oben.85 Auch die verschiedenen Plattformen und Zertifizierungen werden verschränkt und spielen sich wechselseitig Bedeutung zu, was wiederum auf die Organisationen zurückwirkt, die sich dort darstellen.86 Auf die Ebene inhaltlicher Transparenz dringt der Genderdax ebenso wenig wie die Ver-
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84 85 86
Nicht nur für Zertifikate und ‚Prädikate‘, wie Genderdax, Total E-Quality, Audit Familie und Beruf, sondern auch für quantitative Erhebungen wie das IAB-Betriebspanel gilt, dass sie viele Fragen, die für die Evaluation, die sie zu leisten erklären, wichtig wären, nicht stellen: z.B. ob Diskrepanzen zwischen Gehältern von Männern und Frauen eruiert und reduziert werden oder ob im Rahmen von Stellenabbau ‚Sozialpläne‘, die Frauen nicht benachteiligen, existieren und umgesetzt werden. Solche Fragen scheinen sich aufgrund ihrer politischen Brisanz zu verbieten. Dies zeigt sich auch daran, dass Corporate Designs, Logos und Slogans der Unternehmen viel Raum gegeben wird in der nach Größe getrennten alphabetischen Auflistung und Verlinkung zur Unternehmensdarstellungen. Der Genderdax wird i.d.R. auf den Homepages der teilnehmenden Organisationen, sowie des BMFSFJ verlinkt und damit seine Bedeutung deutlich herausgestrichen. Dies gilt weder nu bei der Frage nach Auditierung noch nur für die Darstellungen im Genderdax.
5.4 „Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe“
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einbarung zur Förderung von Chancengleichheit: Eine wirksame Gleichstellungspolitik wird zur Aufnahme nicht verlangt. Vielmehr scheint es zur Aufnahme in den öffentlichkeitswirksamen Genderdax auch in erster Linie einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit zu bedürfen. Diese Öffentlichkeitsarbeit wird von den aufgenommenen Organisationen auch geleistet. Entsprechend brachte eine Internetrecherche über eine Suchmaschine eine kaum zu überblickende Anzahl von Weblinks bei Suchbegriffen wie „Chancengleichheit“, „Diversity“, „Frauenförderung“ etc. in Verbindung mit der hier relevanten Branche hervor. Konkrete Informationen zur organisationalen Gleichstellungspolitik fanden sich so allerdings nicht, wie exemplarisch am noch relativ ausführlichen Genderdax gezeigt wurde. Hierfür wurden nun die Homepages der deutschen Konzerne dieser Branche besucht.87 5.4 „Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe“ Die Aktualisierung der Gleichstellungsnorm durch die Branche mittels ihrer Präsenz in den genannten Foren ließ vermuten, dass sich Isomorphien zwischen den Konzernen in Hinsicht auf die Einbettung von Gleichstellungspolitik in der Organisation zeigen würden. Bereits aber bei der Suche nach Informationen zum Themenspektrum organisationaler Gleichstellungspolitik auf den Homepages weisen die Großunternehmen gravierende Unterschiede auf, wobei die Profit-AG deutlich heraus sticht: Die Webseite zum Thema Chancengleichheit war über zwei Webadressen zu erreichen, zum Einen über die entsprechenden Menüpunkte der Homepage der Profit-AG, zum Anderen über eine direkte URL („www.chancengleichheit-profit-ag.de“), die von der Profit-AG auch auf Anzeigen, Plakaten und Internetbannern angeführt und beworben wurde.88 Im Vergleich zur direkten Konkurrenz waren die Seiten zu Gleichstellungsthemen einfacher und schneller zu finden. Ein Konzern führte zwar bereits auf einer höheren Menüebene das Thema „Beruf und Familie“ an, eine (darüber hinausreichende) Thematisierung von Chancengleichheit oder Gleichstellung fand sich dort jedoch nicht. Einen umfassenden Überblick darüber zu erhalten, was unter Gleichstellungspolitik gefasst werde, z.B. welche Maßnahmen hierzu bestünden, war mit den auf 87
88
Ein Internetauftritt einer Organisation eröffnet einem breiten und diffusen Publikum eine Vorstellung derselben, indem er im Interesse der Organisation gefärbte Informationen zu Themen bereitstellt, die dieses diffuse Publikum interessieren könnten. Dabei definiert er so auch AdressatInnen: D.h. in der Gestaltung des Internetauftritts wird ein Verhältnis zwischen BesucherInnen und der Organisation hergestellt. Aufgrund der Gleichsetzung von Chancengleichheit und Gleichstellung in den Außendarstellungen wurde in den Interviews über den Begriff Chancengleichheit in das Thema eingestiegen.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
den Homepages gebotenen Informationen nicht möglich. Daher wurde bei den vier relevanten Konzernen nach Kontaktdaten gesucht, um weitere Informationsmaterialien anzufragen. Bei zwei Unternehmen fanden sich auf den Seiten zur Gleichstellungspolitik keine Kontaktdaten, bei der dritten nur eine ungültige Emailadresse. Bei diesen drei Organisationen wurde über eine allgemeine Kontaktadresse um Informationsmaterial zu Gleichstellungsprogrammen der Organisation gebeten. Diese Emails kamen nicht als unzustellbar zurück – die Kontaktdaten schienen somit gültig und nutzbar. Sie wurden aber ebenso wenig beantwortet. Im Falle einer Organisation – die sich als eine Vorreiterin vermarktet – kann allerdings davon ausgegangen werden, dass die Email bearbeitet wurde: Seitdem habe ich an die von mir angegebene Postanschrift Werbesendungen zu Produkten erhalten – nicht aber zur Gleichstellungspolitik. Auf dieser Vergleichsebene stellte sich die Profit-AG anders dar: Eine Anfrage wurde über ein spezielles Kontaktfeld auf der Seite zu Chancengleichheit ermöglicht. Wenige Tage später erhielt ich ein Päckchen mit allen zu dem Zeitpunkt in der Profit-AG intern veröffentlichten Informationen, sowie verschiedenen Stiften mit Aufdrucken aus diesem Themenkomplex (z.B. ‚www.chancengleichheitprofit-ag.de’ oder ‚diversity’) und einem Begleitgruß einer Mitarbeiterin des für Gleichstellungspolitik zuständigen Diversity-Teams mit Post- und Besuchsanschrift, Durchwahlnummer und persönlicher Email-Adresse. Dieser erste Einblick zeigt, dass diese Organisationen zwar mittels Prädikaten und Mitgliedschaften sichtbar machen, dass Gleichstellungspolitik als Thema wahr- und ernst genommen wird, vorrangig indem ihre Namen und Logos auf den Homepages der verschiedenen Plattformen erscheinen. Eine über diese werbeträchtige und öffentlichkeitswirksame Darstellung im Internet hinausgehende Informationspolitik, die auch Inhalten der Gleichstellungspolitik Rechnung trägt, wurde jedoch ausschließlich von der Profit-AG geboten. Dies legt einerseits nahe, dass die von Gildemeister und Robert (2003) konstatierte Gleichstellungsnorm wirksam ist, in dem Sinne, dass Organisationen verdeutlichen, dieser Norm zu entsprechen und Gleichstellungspolitik ‚zertifiziert’ zu betreiben. Da diese Demonstration aber in weiten Teilen sehr oberflächlich und symbolhaft bleibt, weist dies andererseits auf eine eher zeremonielle Praxis hin (vgl. Meyer/Rowan 1977). Über die Profit-AG kann das mit Blick auf die Homepage nicht ausgesagt werden. Die Webseite „www.chancengleichheit-profit-ag.de“ erscheint auf den ersten Blick als Teil einer einheitlichen, ruhigen, seriösen und komplexen Darstellung des Konzerns. Die Einfassung bietet eine offene Struktur und symbolisiert so auch Unternehmensstrukturen, die sich der Umwelt nicht verschließen.89 Die Seite ge89
Dies wird auch durch den Inhalt fortgeführt, bspw. vermitteln zwei Bilder (ein Stempelaufdruck ‚Facts’ und eine Kurve) die Offenlegung von Daten (hier zum Thema Chancengleichheit), die
5.4 „Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe“
109
hört zum Menüpunkt „Karriere“.90 Mit der Verwendung dieses Begriffs wird vorausgesetzt, dass die Personen, die über diesen Webauftritt angeworben werden sollen, höhere Ansprüche an Erwerbstätigkeit als die bloße Existenzsicherung haben, eben selber karriereorientiert und – das ist implizit vorausgesetzt – auch karriereträchtig sind. Die Untergliederung des Menüpunkts „Karriere“ erscheint an Bedürfnissen potentieller Arbeitskräfte orientiert: Über „Jobbörse“ und die Darstellung unterschiedlicher „Unternehmensbereiche“ wird die Annahme eines Passungsverhältnisses zwischen Qualifikation der Arbeitskraft und Arbeitsplatz hergestellt. „Karrierestart“, „Karriereberater“ und „Perspektiven“ zeigen, dass nicht nur die Stelle, sondern auch die weitere berufliche Entwicklung in ein solches Passungsverhältnis integriert werden – entsprechend der Antizipation karriereorientierter InteressentInnen. Neben den Möglichkeiten des Aufstiegs werden weitere Anreize für Arbeitskräfte aufgeführt und verlinkt (also auch ausgeführt): „Vergütung“, „Zusatzleistungen“, „Flexibel arbeiten“, „International arbeiten“. Die Karrieremenüleiste weist somit nicht nur den Anspruch auf, einen guten Start in die bzw. in der Organisation zu ermöglichen, sondern vermittelt, dass der Konzern offen für Wünsche und Bedürfnisse ihrer (zukünftigen) Arbeitskräfte sei.91 Damit wird das Passungsverhältnis, das bezüglich der Stelle um die berufliche Entwicklung erweitert wurde, nun auch hinsichtlich der Arbeitskräfte geöffnet: Arbeitskräfte werden nicht nur mit Blick auf ihre Qualifikation, sondern als Personen mit Ansprüchen und Erwartungen wahrgenommen. Damit bedient die Darstellung nicht das Bild abstrakter Arbeitskräfte, die von Personen nur konkretisiert werden.92 Aus einem solchen Bild würde folgen, dass die organisationale Struktur nicht auf Personen abgestimmt werden muss, wobei abstrakte, körperlose Arbeitskraft und damit auch die Strukturen als ‚geschlechtsneutral‘ verstanden werden. Gegenüber dieser Annahme erklärt Acker (1990), dass die weitest mögliche Annäherung an die ‚abstrakte Arbeitskraft’ die männliche Normalarbeitskraft sei, die ihren Körper sozial ‚vergessen‘ könne (vgl. auch Nentwich 2004; Kap. 3.4) und deren körperliche Bedürfnisse im Hintergrund erfüllt
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92
Einblick zur Evaluation der Gleichstellungspolitik ermöglichen. Folgt man den Links, so finden sich aktuelle Zahlen zu Frauenanteilen, sowie Zertifikate und Prädikate. Die Menüpunkte finden sich in einer waagerechten Leiste oberhalb des jeweiligen Textes; die Untergliederungen des angewählten Menüpunktes stehen links in einem senkrechten Balken. Entsprechend vermittelt der letzte Menüpunkt „Ihre Meinung“, sowie ein Bild rechts, das Kontakt über Telefon, Schriftverkehr in elektronischer und in Briefform anbietet, dass die Organisation sich nicht nur zur Betrachtung öffnet, sondern auch offen ist für Anregungen, Fragen, insgesamt für eine aktive Teilnahme der BesucherInnen der Homepage an der Organisation. Vgl. „Die [formale] Struktur gilt als das feste Gerippe der Organisation. Sie wird getrennt gedacht von den konkreten Personen, die dann durch ihr strukturgerechtes oder -konformes Denken und Handeln das derart vorstrukturierte Gebilde verlebendigen sollen“ (Gukenbiehl 1995: 106).
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
würden (vgl. Acker 1990).93 Die Menüführung zu „Karriere“ ruft nicht das Bild einer generalisiert und geschlechtsneutral verstandenen männlichen Arbeitskraft ab, vielmehr erscheint die Frage, was die bestmögliche Verlebendigung der abstrakten Arbeitskraft sei, in zwei Richtungen geöffnet.94 Zum Einen wendet sie sich auch an andere Lebensentwürfe als (männliche) Normalbiographien: „Flexibel arbeiten“ wird zum Bestandteil einer Rekrutierung von karriereträchtigem und orientiertem Personal. Auf die Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen abgestimmte Arbeitszeiten sind hiermit weder dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf untergeordnet und/oder unter das Stichwort Frauenförderung gefasst, noch werden sie zum ‚Karrierekiller’ (vgl. auch Kap. 9.1f.). Zum Zweiten folgen die Punkte „Diversity” und „Chancengleichheit“, womit die Verlebendigung der abstrakten Arbeitskraft auch anderen soziale Gruppen eröffnet wird. Der Menüpunkt ‚Chancengleichheit’, zu dem man direkt durch die beworbene URL „www.chancengleichheit-profit-ag.de“ gelangt, beinhaltet zwei untergeordnete Menüpunkte: „Frauen“ und „Familie & Beruf“. Die zwei Aspekte erscheinen als Schwerpunktsetzung: Orientierung an Frauen und ein davon gesondert betrachtete ‚Vereinbarkeitsproblem‘ werden als wichtige Punkte für das Erreichen von Chancengleichheit bewertet, aber nicht damit oder miteinander gleichgesetzt. In der Mitte der Seite befindet sich der Inhalt des Menüpunkts „Chancengleichheit“. Unterhalb des waagerechten Menübalkens befindet sich eine Reihe von sechs Bildern, die auf hellblauem, wolkigem Hintergrund Scrabblesteine zeigen (a, f, m, n, n, r, u). Da Scrabble kein Glücksspiel, sondern ein lösungsorientiertes Denkspiel ist, verbildlichen die Scrabblesteine, dass die Frage von gleichen Chancen nicht als eine Glückssache zu sehen sei bzw. hier gesehen wird, sondern auf spielerische Weise zu einer Lösung geführt werden könne – wobei hier niemand siegen oder verlieren kann, da keine Zahlen für die Wertung auf den Steinen zu sehen sind. Pro Bild sind maximal sieben Steine mal ordentlich gelegt, mal durcheinander und mal gestapelt zu sehen. Im ersten Bild, in dem die Steine zu einem schräg liegenden Kreuz zusammengefügt sind, erscheint das Legen der beiden Begriffe ‚Mann‘ und ‚Frau‘ nur möglich, wenn man das ‚a‘ als Schnittstelle nutzt. So wird eine stabile Ordnung der wechselseitigen Ergänzung und Abhängigkeit abgebildet, die mit der heterosexuellen Paarmatrix korrespondiert (vgl. Nielsen et al. 2000). Durch die Schieflage sind beide Begriffe zudem ‚ebenbürtig‘, was Partnerschaftlichkeit impliziert (vgl. Hahn/Burkart 1998). Im zweiten und fünften 93 94
Vgl. „The closest the disembodied worker doing the abstract job comes to a real worker is the male worker whose life centers on his full-time lifelong job, while his wife or another woman takes care of his personal need and his children.” (Acker 1990: 149) Damit zeigt die Homepage, was Nentwich (2004) als Resümee ihrer Studie für eine Gleichstellungspolitik fordert: „Organisationen, die nicht nur Flexibilität von den Mitarbeitenden fordern, sondern flexibel in ihren Definitionen der ‚normalen Mitarbeitenden sind‘“ (ebd.: 302).
5.4 „Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe“
111
Bild sind die Begriffe aus dem vorherigen gegenseitig abhängigen Begriffspaar herausgelöst. ‚Frau’ und ‚Mann‘ werden jeweils eigenständig betrachtet bzw. ins Blickfeld gerückt. Zum Einen wird so einem ‚Übersehen’ von Frauen, wie dies die zweite Frauenbewegung für Wirtschaft, Wissenschaft und Politik konstatierte (vgl. Gerhard 2000), entgegen gewirkt. Zum Anderen wird in diesem Spiel mit den Geschlechtern nun auch der Mann als Geschlechtswesen konzipiert.95 Im dritten Bild liegen die Steine ungeordnet und teilweise schräg. Jedoch wird so nicht nur die Ordnung aufgehoben, vielmehr werden, indem man bei zwei Steinen nur die Rückseite sieht, die Bedeutungen der Begriffe auch nicht mehr abrufbar, man kann sich nichts ‚zusammenreimen’. Die Geschlechterordnung wird also aufgegeben und die einzelnen Elemente stehen wieder zur freien Disposition und können nach anderen Bedeutungen sortiert werden, z.B. nach Berufen.96 Im vierten Bild sind die sieben Steine auf zwei nebeneinander liegende Stapel verteilt. Die Neuordnung ergibt jedoch keine semantische Bedeutung, sondern zeigt nur eine Aufteilung der Steine in einen höheren und einen niedrigeren Stapel. Das zeigt, dass ein Versuch die Steine getrennt zu ordnen, zu einer Asymmetrie führt und suggeriert somit Ungleichheitsverhältnisse, die entstehen, wenn ein Zusammenspiel zwischen allen Mitgliedern (in der Organisation) ausbleibt. Im sechsten Bild sind alle Steine aufeinander gestapelt. Die im fünften Bild wieder aufgegriffene Fokussierung wird im sechsten Bild so wieder irrelevant gesetzt. Wie im dritten Bild wird jegliche Bedeutung aufgelöst, im Gegensatz zu diesem jedoch eine Ordnung jenseits des Inhalts und jenseits von Geschlecht gefunden, die nicht wie im vierten Bild in einen Vergleich mündet, sondern ein gemeinsames (organisiertes) Gebilde darstellt. In der Bildfolge und im Schluss, auf den sie zusteuert, existiert keine Dominanz. Singuläre, dichotome, differenzierende und komplementäre aber auch neutralisierende Umgangsweisen mit Geschlecht(ern) stehen nebeneinander, ebenso wie zwischen ‚Frau’ und ‚Mann’ keine Dominanz entsteht. Das Spielerische zeigt eine Konstruktion und Dekonstruktion der Kategorien: Es handelt sich nur um Bausteine, die nach bestimmten Schemata zusammengesetzt werden, aber auch wieder auseinander genommen werden können. Unter der waagerechten Bildfolge steht der Begriff Chancengleichheit in Schriftsetzung, Farbe und Rahmung, die im Corporate Design für die Formatierung des Slogans und anderer Profit-AG-spezifischer Aktionen und Aussagen (Werbeslogans, Veranstaltungsbezeichnungen etc.) verwendet werden. Unterhalb dessen 95 96
Dies ist insofern etwas Besonderes, als dass schon Simmel (1902) bemerkte, dass der Mann in der Regel als Mensch gesetzt werde und in dem Sinne geschlechtslos gedacht wird. ‚Liest’ man die sichtbaren Buchstaben, so ergibt sich ‚FAN’ und durch das quer liegende zweite ‚N’ das Wort ‚ZU’. Die Herauslösung aus den Geschlechtern resultierte in dieser Lesart darin, dass man sich über das eigene Interesse definiert, was mit dem o.g. Passungsverhältnis von Person und Arbeitsplatz/Organisation harmoniert.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
steht in der Profit-AG-typischen Untertitelung „Das Projekt Konsens“. Da es in Großbuchstaben und schwarz fett gedruckt, Chancengleichheit in gleicher Schriftgröße aber in Kleinbuchstaben und heller gehalten ist, wird der Schriftzug gegenüber Chancengleichheit hervorgehoben. Es liest sich wie „im Rahmen von Chancengleichheit: DAS PROJEKT KONSENS“. D.h. das Thema Chancengleichheit erscheint durch das Projekt Konsens repräsentiert und nicht darin erschöpft. Der darauf folgende Text ist bündig gehalten. Nach zwei kurzen Absätzen folgt eine Auflistung von drei durch Aufzählungszeichen abgehobenen Aspekten. Der Text vermittelt den Eindruck alle notwendigen Informationen zu beinhalten und das Thema auf den Punkt bringen zu können. Dadurch wird eine Machbarkeit bzw. Handhabbarkeit des Themas suggeriert: „Frauen wollen die gleichen beruflichen Chancen wie Männer. Sie möchten ihr berufliches Engagement von ihrem Können und ihren Interessen abhängig machen – nicht jedoch von Vorurteilen und eingefahrenen Strukturen. Zudem wünschen sich immer mehr Männer eine bessere Balance zwischen Beruf und Privatleben. Sie wollen selbst darüber bestimmen, wie viel Arbeitszeit sie im Konzern verbringen und wie viel z.B. mit ihrer Familie. Diese Prozesse unterstützen wir aktiv seit 1989, indem wir - Frauen in ihrer beruflichen Entwicklung unterstützen, - Eltern helfen, Familie und Beruf zu vereinbaren und - Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe von Frauen und Männern schaffen.“ (www.chancengleichheit-profit-ag.de) Die beiden Absätze gehen auf Wünsche und nicht auf Rechte oder Pflichten ein. Der erste Absatz behandelt die beruflichen Wünsche von Frauen im Sinne eines Passungsverhältnisses von Beruf und Person. Quasi in Entsprechung einer Orientierung von Frauen an einem ‚Männerleben’, hebt der zweite Abschnitt auf Freizeit- und Familienorientierung von („immer mehr“) Männern ab: Diese „wünschen sich“ eine doppelte Verortung, die i.d.R. Frauen zugeschrieben wird (vgl. BeckerSchmidt 1987). Indem der Konzern „diese Prozesse“ unterstützt, werden die Wünsche als angemessen und legitim vorgestellt. Als „Prozesse“ bezeichnet werden sie, da sie als neue und positive – d.h. fortschrittliche – Entwicklungen gegenüber „eingefahrenen Strukturen“ und „Vorurteilen“ gewertet werden: Keine Veränderung zu wünschen, wird über diese Begriffe illegitim. Chancengleichheit zu schaffen wird damit dem Legitimationsmythos Fortschritt zugeordnet (vgl. Fn. 68). Gleichstellungspolitik zielt hier nicht nur auf Frauen und nicht nur auf den im ersten Punkt genannten Bereich beruflicher Entwicklung ab, sondern überschreitet beide Grenzen und dringt a) in die ‚Frauendomäne’ Familie und somit in die Privatsphäre ein und b) in die Konzeption männlicher ‚Normalbiographie’. Darüber
5.4 „Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe“
113
werden im Text die alltägliche Konstruktion geschlechterdifferenzierender Sphärentrennung und analog zur Bildreihe Geschlechtergrenzen aufgeweicht. Chancengleichheit wird in dieser Rahmung als individuelle Gewichtung von Privat- und Erwerbssphäre beider Geschlechter gewertet, die jedoch unterschiedliche Ausgangssituationen haben. Die individuelle Gewichtung wird durch den Verweis auf den Wunsch nach Selbstbestimmung und die Legitimität unterschiedlicher Lebensentwürfe – entsprechend der Personalanwerbung – betont und aufgewertet. Die angedeuteten Probleme „Vorurteile“, „eingefahrene Strukturen“, (bisherige) Unerfülltheit von Wünschen und Bedarf an Unterstützung erfahren durch den Konzern Lösungen: Man kann spielerisch Chancengleichheit schaffen durch einfache klare Maßnahmen.97 Herstellung von Chancengleichheit erscheint somit selber nicht als Problem, denn das Projekt Konsens bietet ja die Lösung, die – darauf verweist bereits der Begriff Konsens – als Ziel aller Beteiligten selber unproblematisch und unstrittig erscheint. Zusammengefasst zeigt sich bei der Betrachtung dieser Webseite, dass in die Offenheit vermittelnde Unternehmensdarstellung eine ebensolche Auffassung von Geschlecht eingelassen ist, indem mit der Geschlechterdichotomie und ihrer wechselseitigen Exklusion vor einem himmelblauen mit offener Weite konnotierten Hintergrund spielerisch Möglichkeiten ausprobiert werden. Auch bei dem Projekt Konsens wird die Schwerpunktsetzung auf Offenheit weitergeführt. Es wirkt daher konsequent, dass der letzte angeführte Punkt der Agenda, „Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe von Frauen und Männern schaffen“, lautet. So schließt die Anlage der Gleichstellungspolitik an das auf der Webseite geschaffene Verhältnis von Organisation und Geschlecht nahtlos an: Gleichstellungspolitik erscheint hier nicht als Fremdkörper, sondern integriert. Für die Thematisierung von Chancengleichheit in diesem Unternehmen, so lässt sich an diesen Auftritt für die Analyse des Folgenden anschließen, zeigt sich die Einpassung eines Verständnisses von Geschlecht in das Organisationsverständnis als Rahmung, innerhalb dessen sich ein spezifischer Ansatz von Gleichstellungspolitik herausbildet. Zum Einen gilt es daher im Folgenden zu beleuchten, wie Organisation konzipiert und vorgestellt wird, die inhaltliche Füllung von und die Bedeutungszuweisung an Geschlecht herauszuarbeiten und das Verhältnis der Auffassung von Geschlecht zum Organisationsverständnis zu betrachten. Zum Zweiten schließt für die weitere Analyse die These an, dass dieses Verhältnis erschließt, inwiefern – d.h. in welchem Grad und in welcher Dimension – Institutionalisierungen gleichstellungspolitischer Maßnahmen auf Meso- und Mikroebene stattfinden, sowie welche unterschiedlichen Kopplungen und Entkopplungen von 97
Indem das Projekt besteht und das Thema Chancengleichheit bearbeitet, wird es einerseits ernst genommen und nicht als bedeutungslos ‚heruntergespielt’, es wird ihm jedoch durch den spielerischen Konnex Brisanz und eine mögliche Problematik genommen – es gibt keine Verlierer.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
Strukturen, Handlungen und Verhalten sich ergeben. Anders gesagt: Verschiedene Vorstellungen und Annahmen im Feld über eine Organisation können unterschiedliche Rahmungen produzieren, in die Geschlecht mehr oder weniger, schlechter oder besser eingepasst werden kann und die dabei in unterschiedlichem Ausmaß Gleichstellungsnorm und -politik anschlussfähig machen oder ausschließen. 5.5 „das liegt natürlich an meiner Frau“ Der ehemalige Personalvorstand der Profit-AG, Jürgen Belz, ist 2005 Mitglied des Aufsichtsrates und somit nach wie vor für die Profit-AG tätig. Er repräsentiert insofern die organisationale Gleichstellungspolitik, als dass die ersten (und die meisten) gleichstellungspolitischen Maßnahmen in seine Vorstandszeit und seinen Verantwortungsbereich fallen.98 Nach einem kurzen Vorgespräch wurde das Interview mit folgender Frage begonnen: I: „Ich hatte Ihnen ja schon erzählt, dass ich in Gesprächen ähm unter anderem mit der Frau von der Gewerkschaft immer wieder erfahren habe, dass Ihr Name im Zusammenhang mit dem Engagement der Profit-AG für Förderung der Chancengleichheit genannt wurde, ähm deswegen möchte ich Sie bitten mir zu erzählen, wie kam es damals zu diesem frühen Engagement?“ Belz: „Jetzt fangen Sie bitte nicht an zu lachen, das liegt natürlich an meiner Frau. Denn die habe ich nämlich ganz übel und ganz schlecht behandelt. Meine Frau ist Juristin, wie ich – Jurist bin, und im Gegensatz zu mir ist sie eine hochbegabte Juristin.“ (Interview Belz) In der Frage ist eine Verbindung der Person des Interviewpartners mit dem Ursprung des frühen Engagements angelegt. Belz greift diese Verbindung auf, indem er ein persönliches Verhältnis heranzieht. Die einleitenden Worte (vgl. „Jetzt fangen Sie bitte nicht an zu lachen“) wirken an dieser Stelle zum Einen daraufhin, anzuzeigen, dass die Interviewerin es nicht ganz so ernst nehmen solle, und verleihen zum Anderen der Situation eine intime Färbung: Es wird suggeriert, dass ihr etwas anvertraut wird, mit dem sich der Erzähler lächerlich machen könnte.99 Das, worüber man lachen könnte, ist der Verweis darauf, dass es „natürlich“ an seiner Ehefrau liegt. Über den Begriff „natürlich“ wird eine alles entscheidende Schlüs98 99
Die Repräsentation erfolgte recht aktiv. So vertrat er die Organisation in Vereinen wie „Forum Frauen in der Wirtschaft“, bei Podiumsgesprächen und in Interviews zu Chancengleichheit. Eine ‚Preisgabe’ ist hier jedoch nicht statusgefährdend: Das Gefälle von Belz zur Interviewerin ist schließlich in wesentlich stabilere ‚Merkmale’ eingelassen, v.a. Alter und Position.
5.5 „das liegt natürlich an meiner Frau“
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selfunktion konstruiert. Die in der Interviewfrage angelegte Zuweisung einer solchen Schlüsselfunktion an ihn verlagert Belz also auf seine Ehefrau – nicht aufgrund einer generalisierten Zuschreibung von Gleichstellungspolitik an Frauen, sondern aus der Reflexion eines privaten Verhältnisses heraus. So wird eine zwischenmenschliche Beziehung mit einer moralischen Wertung verbunden relevant gesetzt, das Thema voll und ganz in sein Leben integriert und nicht durch eine Trennung der Sphären unterbrochen. Indem er die Schlüsselfunktion nicht – organisationsintern – sich oder seinen MitarbeiterInnen zuschreibt, sondern seiner Ehefrau, wird die Frage nach der Entwicklung der Chancengleichheit keine Geschichte ‚des’ Konzerns, sondern eine persönliche Geschichte im doppelten Sinne, d.h. eine private und eine an seine Person geknüpfte, so dass diese Entwicklung durch nichts und niemanden anderes angestoßen werden konnte als durch ihn – bzw. seine Frau. Andere Elemente wie der ‚Zeitgeist’ (sprich: Frauenbewegung) oder die von der Diversity-Team-Leiterin angeführte MitarbeiterInnenbefragung (vgl. Kap. 5.6) werden so nicht einfach (nur) ausgeblendet, sondern erscheinen zur Motivation, Gleichstellungspolitik anzustoßen, unzureichend. Indem er erklärt, er habe seine Frau „ganz übel“ behandelt, wird ein ‚Fass aufgemacht’ und nun stellt sich die Frage: wie? Belz: „Und als sie dann unser Kind bekam, (1) hab ich dann relativ frühzeitig erklärt, nun pass mal auf, wer hier Karriere von uns macht, ist ziemlich klar, das bin ich, aber du darfst da ruhig deinen Richterberuf und so was machen, soweit das vereinbar ist, und das habe ich dann auch so getan, relativ rücksichtslos, und mir ist dann in der Arbeit im Konzern insbesondere im Personalressort und das gar nicht so spät, sondern relativ bald klar geworden, dass dieses Prinzip (1) des Anordnens, ich bin der Boss und alles andere hat hier dienende Funktion, nicht funktioniert in einem- einer Gemeinschaft, die ein Unternehmen nun mal darstellt, es war also insofern ganz simpel, ich bin nicht so sehr von Emotion- weil ich Frauen netter finde als Männer – was ich tue – aber es war die schlichte Erkenntnis, so kann man das nicht machen,“ (Interview Belz) Belz schildert hier nicht die Implementierung von Gleichstellungspolitik, sondern seinen Erkenntnisprozess. Der Erkenntnisgewinn – die Moral von der Geschichte – liegt nicht in dem, was aufgrund seiner begabteren Frau zu erwarten gewesen wäre: Es ist nicht die Erkenntnis, dass man nur auf Qualifikationen achten solle und dass Geschlecht zweitrangig sein solle, was eine ‚rationale’ Begründung vermitteln würde. Die Erkenntnis ist vielmehr die wechselseitige Übertragung dessen, was er im Unternehmen erlebt, auf das in der privaten Beziehung Erlebte. Das „Prinzip des Anordnens“ wird in Frage gestellt, Weisungsbefugnis qua Hierarchie somit
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
problematisiert und das Unternehmen wird stattdessen (aus der Analogie zur Familie hergeleitet) zur Gemeinschaft, die ein partnerschaftliches Miteinander verlangt. In dieses Organisationsverständnis wird nun sein Verständnis von Geschlecht eingebettet und daraus Gleichstellungspolitik abgeleitet: Belz: „wir müssen irgendwie zu einer- versuchen, mehr ist das alles nicht, versuchen den natürlichen Nachteil, den eine Frau hat, indem sie in einer bestimmten Phase ein Baby bekommt in der- na, ist es noch die Regel? Na gut, aber bei vielen zumindest noch, den müssen wir versuchen ein bisschen aufzufangen im Betrieb, das können wir auch, wenn wir uns Mühe geben, aber der Prozess, den ich versucht hab in Gang zu bringen, is ja nicht- es geht ja nicht, ich kann ja kein Rundschreiben machen, liebe Leute nun seid alle nett zu einander, Hamburger Abendblatt-Motto und benehmt Euch anständig, lasst die Frauen zuerst durch die Tür gehen und gebt ihnen auch mal ne Information, damit sie nicht völlig verblöden, so geht’s ja also nicht, das ist ja ein evolutionärer Prozess, den Sie anstoßen müssen und bei dem man sich am Anfang, das ist ja also jetzt 17, 18 fast 20 Jahre her, da war man schon ein kleiner Trottel in den Augen mancher Männer, wenn man sich mit Themen wie Progress, was wir dann in die Welt gesetzt haben, hier unsere Frauenaktivitäten, die sie auf Eigeninitiative hin ja entfalten. Das alles war ein bisschen schwierig, aber nach und nach gewann man denn auch ein paar in den, nicht zwingend Vorstand, aber in den Ebenen dadrunter, die das dann stützten, trugen, die sich bereit erklärten für irgendwelche Sponsoring oder irgendwelche Patenschaften, oder wie immer Sie das nennen wollen, das war eigentlich der Prozess, aber der Auslöser war eigentlich, dass ich selbst etwas praktiziert habe, was so wirklich nicht praktizierbar ist.“100 (Interview Belz) Partnerschaftliches Verhalten wird zum Einen darin deutlich, dass er Führungskräfte auf den Ebenen unter ihm ‚gewinnt’, statt sie anzuweisen, und zum Zweiten in Hinsicht auf Geschlechterverhältnisse. Zunächst und scheinbar unumstößlich begründet sich hier Zweigeschlechtlichkeit in der Natur. Diese wird jedoch reduziert auf Fortpflanzung, d.h. Familiengründung, wobei er die Übernahme der Funktion des Austragens und Gebärens durch Frauen als einen Nachteil für die Einbindung in die Erwerbssphäre versteht. Als ‚naturgegebener’ Nachteil wendet er die so gesetzte Geschlechterdifferenz nun nicht als eine auf Natur begründete Legitimierung für einen Ausschluss von Frauen, sondern weicht auch hier die Sphären100 Sein Erkenntnisprozess ist für ihn klar benennbar. Die Gleichstellungspolitik ist umso weniger scharf zu umreißen. Dies zeigt er auch, indem er mögliche Versuche kurz und prägnant Gleichheit herzustellen als lächerlich darstellt, sie in ein übertriebenes und ironisches Beispiel kleidet.
5.5 „das liegt natürlich an meiner Frau“
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trennung auf: Dementsprechend und gemäß der Maßgabe von Partnerschaftlichkeit ist Familiengründung nicht (nur) der Privatsphäre zugeordnet, sondern muss durch Gleichstellungspolitik in der Organisation gemeinschaftlich getragen werden. In der Interaktion – konkret: dem Verhalten von Männern gegenüber Frauen (vgl. „benehmt Euch anständig“) – wird ein weiterer Aspekt von Geschlecht verortet: Geschlechterdifferenzierendes Verhalten wird bei Belz unterteilt in eine wünschenswerte und eine unerwünschte unterschiedliche Behandlung von Frauen. Wünschenswert erscheinen die Umgangskonventionen, d.h. ein Verhalten als ‚Kavalier‘ gegenüber einer ‚Dame‘ (vgl. „lasst die Frauen zuerst durch die Tür“), die eine Bevorzugung von Frauen vermitteln (vgl. Goffman 1994).101 Nicht wünschenswert sind dagegen augenfällige Benachteiligungen, die hier sach- und aufgabenbezogen dargestellt werden (vgl. „gebt ihnen auch mal ne Information“). In die Ablehnung dieser letzteren Differenzierung ist eine Neutralisierung der Bedeutung von Geschlecht durch den Arbeitsvollzug (vgl. „Information“), aber auch durch eine Fokussierung auf die Person (vgl. „verblöden“) eingelagert. Gemeinschaft, Partnerschaftlichkeit und Umgangskonventionen als Legitimationen von Gleichstellungspolitik sind auf der Ebene von Moral angesiedelt. Kontrastierend gerahmt durch das „übel“ Behandeln seiner Frau, wird Gleichstellungspolitik im Bereich moralisch guten Handelns verortet (vgl. auch „nun seid alle nett zu einander“; „benehmt Euch anständig“). Die moralische Qualität verstärkt sich durch das Einzelkämpfertum, indem er sich als „kleiner Trottel in den Augen mancher Männer“102 bezeichnet. Entsprechend schließt Belz die Erzählung ab, indem er noch einmal die ‚Moral von der Geschichte’ verdeutlicht (vgl. „das war eigentlich der Prozess, aber der Auslöser war eigentlich, dass ich selbst etwas praktiziert habe, was so wirklich nicht praktizierbar ist“). Aus dem moralischen, persönlichen und aus seiner Person hergeleiteten Impetus gerinnt also die überpersönliche Konklusion „was so wirklich nicht praktizierbar ist“. Diese überpersönliche Konklusion spannt ein Netz normativer Legitimation über Gleichstellungspolitik, seine Position und die Organisation: Zunächst wird die Legitimation für die Einführung von Gleichstellungspolitik geltend gemacht, dann wird sie übertragen auf Füh101 Diese Höflichkeiten machen Frauen nach Goffman (1994) zu einer „benachteiligte[n] Gruppe besonderer Art“ (ebd.: 149): Sie „können als Wiedergutmachung für die reservierte Rolle verstanden werden, zu der sie verpflichtet sind, während ihnen die Höflichkeiten zuteil werden. Was an der Situation von Frauen als gut angesehen werden kann, scheint immer auch das zu bemänteln, was man für schlecht halten könnte“ (ebd.: 151). 102 Das „Prinzip des Anordnens“ wird so von einem Symbol für den Status aufgrund seiner Führungsposition in ein Symbol (männlicher) Dominanz umgewertet. Sein Status wird dabei durchaus ‚angekratzt’, indem er als ein „kleiner Trottel“ erscheint. Diese Kontrastierung seiner selbst von manchen anderen Männern verdeutlicht auch, inwiefern in seiner Rekonstruktion Aspekte, die von anderen Personen oder Dokumenten zur Erklärung herangezogen werden (vgl. Kap. 5.6f.; 6.1f.), unzureichend für die Entwicklung organisationaler Gleichstellungspolitik sind.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
rungsverhalten, indem der (veraltete) Führungsstil des Anordnens durch einen ‚emanzipierten’ abgelöst wird, so dass die Einführung von Gleichstellungspolitik mit einem Legitimationserhalt seiner Position durch emanzipiertes und emanzipierendes Führungsverhalten einhergeht und führt letztlich zu einem moralisch aufgeladenen Legitimationsgewinn der auf diese Weise ‚gut’ und ‚richtig’ funktionierenden „Gemeinschaft“ Organisation. 5.6 „war das bei vielen Unternehmen schon im Kopf“ Die Diversity-Teamleiterin Hannelore Wagner wird ebenfalls nach den Ursprüngen der relativ früh initiierten organisationalen Gleichstellungpolitik gefragt: I: „und zwar habe ich gelesen, dass ähm die Profit-AG bereits seit Ende der achtziger Jahre ja schon konkrete Maßnahmen ergriffen hat oder in die Wege geleitet hat. [Wagner: Mhm] und das ist ja schon relativ früh deswegen möchte ich gerne wissen, wie es dazu kam, damals.“ Wagner: „Ja, das hat Ende der achtziger Jahre, also ganz genau siebenundachtzig angefangen, damals hat es eine Befragung aller Mitarbeiter n Mitarbeiterinnen gegeben und in dieser Befragung ist deutlich geworden, dass sich die Mitarbeiterinnen, also die Frauen im Konzern nicht an allen Entwicklungsmöglichkeiten beteiligt fühlen, (Einatmen) äh jetzt muss man wissen, dass das damals schon über fünfzig Prozent der Belegschaft waren und der damalige Personalvorstand hat gesagt, es kann nicht sein, dass man die Wünsche und Bedürfnisse und Anliegen von über fünfzig Prozent aller Mitarbeiter n Mitarbeiterinnen links liegen lässt.“ I: „Mhm. (1) e Darf ich fragen, wer diese Umfrage initiiert hat?“ Wagner: „m, das war eine Gesamtbefragung aller Mitarbeiter n Mitarbeiterinnen und die ist vom vom äh Personalbereich initiiert worden.“ I: „Mhm und da kam, das war sozusagen eher Zufallsergebnis, dass man“ Wagner: º „Nein das war eine ganz gezielte Frage an die Mitarbeiterinnen, fühlen Sie sich an allen Möglichkeiten, die das Haus bietet, beteiligt und viele Frauen haben eben gesagt, nein das tun wir nicht und es gibt strukturelle Dinge, die hier verändert werden müssen.“ I: „Mhm, ähm ja mich würde halt auch interessieren ähm wer kam sozusagen auf die Idee, ich meine, (lachend) mal so konkret nachzufragen“ Wagner: „Ähm, das war der Personalbereich gewesen.“ (Interview Wagner) Die Intervieweingangsfrage zielt darauf ab, die Besonderheit des relativ frühen Engagements zu verdeutlichen und unterstellt somit, dass es sich bei dem Prozess
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der Implementierung von Maßnahmen zur Erreichung von Chancengleichheit nicht um einen ‚Selbstläufer’ handeln kann, sondern einen außergewöhnlichen Ursprung haben muss. Die Antwort Wagners macht den Ursprung zunächst zu einem Faktum, indem der Beginn der Maßnahmen datiert wird. Dies geht in ihrer Erklärung mit einem konkreten, monokausalen und durchgängig bewusst gesteuerten Entwicklungsprozess einher. Hier wird keine Geschichte erzählt, es gibt keine an eine (außergewöhnliche) Person geknüpfte ‚Entstehungslegende’. Vielmehr wird ein konkreter Ablauf beschrieben, der alltäglich für Organisationen erscheint (MitarbeiterInnenbefragungen sind gängige Instrumentarien des Personalmanagements). Der Personalvorstand kommt in der Antwort Wagners nur in seiner Funktion vor. Er reagiert Wagner zufolge auf diese Befragung, die nach ihrer Formulierung ein eindeutiges Ergebnis hatte, das von der Personalabteilung und der ihr vorstehenden Führungskraft nicht ignoriert werden konnte. Der hier geschilderte Prozess ist Teil eines zweckrationalen, funktional differenzierten organisationalen Settings. Es erscheint als Teil eines klar abgesteckten Aufgabenbereichs einer spezifischen Abteilung, die mit ihren Arbeitsmethoden und über ein Objektivität, Validität und Reliabilität sicherndes Instrumentarium sachlich feststellbare Mängel gezielt eruiert (vgl. „strukturelle Dinge, die hier verändert werden müssen“) und ihnen nun durch geeignete Maßnahmen entgegen tritt. Wagners Argumentation beansprucht also Rationalität für sich und rahmt so das Thema ‚Chancengleichheit’ als ‚rational’ gesehen ökonomisch notwendige Aufgabe in Organisationen, die unter Personalmanagement subsumiert wird. So wird Gleichstellungspolitik als nicht legitimierungsbedürftig markiert. Im Gegenteil: Die Aussage „es kann nicht sein, dass man die Wünsche und Bedürfnisse und Anliegen von über fünfzig Prozent aller Mitarbeiter n Mitarbeiterinnen links liegen lässt“ vermittelt, dass ein Unterlassen von Gleichstellungspolitik einer Begründung bedürfte. Diese Rationalität schreibt sie auch dem historischen Kontext zu: „Also in den 60er Jahren fing das Thema Emanzipation ja noch mal von einer ganz anderen Richtung an zu wirken, Anfang der 70er Jahre hat man sich sehr viele Gedanken um das Thema Bildungspolitik gemacht, Beteiligung von Frauen im Erwerbsleben und ich denke, Ende 80er Jahre waren ein paar Sachen dann eingerichtet, viele Mädchen haben eine gute Ausbildung gehabt, und das lag einfach auf der Hand und wir hatten damals schon mit einem drohenden Fach- und Führungskräftemangel zu kämpfen oder man vermutete, dass einer kommen wird und dann besinnt man sich ja immer sehr schnell auch auf Ressourcen, die man nicht so schnell nutzt [I: „mhm“] und in diesem Kontext war das bei vielen Unternehmen, denke ich, Ende der 80er Jahre schon im Kopf, einfach mal zu fragen, was machen vor allem bei [denen], die über fünfzig Prozent Frauen im im Haus haben,
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wie geht’s den Frauen eigentlich und fühlen die sich gewertschätzt und können die ihre Karriere so vorantreiben, wie sie das gerne möchten.“ (Interview Wagner) Das „Thema Emanzipation“ wird hier nicht bspw. von Frauen der zweiten Frauenbewegung vorangetrieben, sondern ist durch bildungspolitische, arbeitsmarktpolitische „Gedanken“, Vermutungen und ‚Wissen’ (vgl. „im Kopf“) getragen und durch politisch geschaffene Fakten (vgl. „ein paar Sachen eingerichtet“). Der Zeitgeist zeigt sich hier eher als Zeit-Geist von Organisationen, die als rationale anthropomorphe Akteure eingeführt werden103 und sich mit einem Überblick über ökonomische Gegebenheiten und zukünftige Bedürfnisse auf Humanressourcen „besinnen“, auf die ein spezifisches Personalmanagement zugeschnitten werden muss. Die Simplizität „einfach mal zu fragen“ geht einher mit einer klar strukturierten Auffassung der Dienlichkeit von Gleichstellungspolitik (vgl. „gewertschätzt fühlen“, „Karriere so vorantreiben, wie sie das gerne möchten“), die scheinbar logisch und daher gänzlich unvermittelt aus den als Gründen aufgeführten Aspekten folgen. Der gleichen Logik und Zuschreibung von Rationalität folgt in diesem Verständnis Gleichstellungsarbeit als Mittel zum Zweck: I: „Sie haben es ja schon ein bisschen angesprochen, was gehört denn zum Thema Chancengleichheit alles dazu.“ Wagner: „Also bei uns ist es nicht das Thema Chancengleichheit, bei uns ist es das Thema Diversity. Dazu gehört es auf der einen Seite die Bedürfnisse verschiedener Mitarbeiterzielgruppen zu bearbeiten, zu koordinieren, zu initiieren und so weiter und so fort, aber auch das ganz große Ziel nämlich die Integration all dieser Gruppen zu gewährleisten. Diversity heißt, dass man dem Menschen so wie er ist mit all seinen Unterschiedlichkeiten Respekt entgegenbringt, Wertschätzung, aber das klingt alles so esoterisch, letztendlich steckt dahinter die Einstellung, dass unsere Kunden und Kundinnen auch sehr unterschiedlich sind und ein passendes Gegenüber haben wollen.“ (Interview Wagner) Das Begriffsinstrumentarium, insbesondere die Verben (bearbeiten, koordinieren, initiieren) kennzeichnen Arbeitsprozesse.104 Der Begriff der Zielgruppen bezeichnet im organisationalen Sprachgebrauch zumeist KundInnen (interne und externe), auf die beim Absatz von Produkten abgezielt wird. Über diese Formulierungen 103 So auch ihre obige Konzeption eines denkenden, Ideen entwerfenden und rational handelnden Akteurs „der Personalbereich“. Vgl. zu diesem Organisationsbild Brunsson (1993); Kap. 2.8. 104 Gerade da es nicht sinnvoll erscheint, Bedürfnisse von Mitarbeiterzielgruppen zu initiieren, scheint der Begriff hier eher der Füllung mit ‚Fachlichkeit‘ und Tätigkeitsfülle zu dienen.
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bindet Wagner das Thema Diversity in den Wertschöpfungsprozess der Organisation ein. Entsprechend wird Diversity gegen vermeintlich ‚esoterische Anklänge’ abgegrenzt, eine Begründung über den Rekurs auf die Kundschaft nach ökonomischer Logik formuliert und Diversity Management eingeführt: „aber das funktioniert nur dann, wenn diese Unterschiedlichkeit auch gemanaged wird und wenn am Ende die Integration steht, (...) Das ist ein weiter Weg, das ist auch nicht so einfach zu transportieren, aber viele Untersuchungen zeigen eben, dass heterogen zusammengesetzte Teams sehr viel erfolgreicher sind, nicht am Anfang, wenn man sehr viele unterschiedliche Menschen hat, ist es sehr schwierig so einen Prozess zu moderieren, aber das braucht es eben, es braucht ein gutes Management und eine gute Moderation.“ (Interview Wagner) Produktivität und Profitmaximierung durch Unterschiedlichkeit bestehen nicht per se, sondern es bedarf des Managements. Es ist die Begleitung eines Prozesses, eine Frage der Kommunikation (vgl. „zu transportieren“) und der Moderation, insgesamt eines Personalmanagements, das durch Gleichstellungspolitik – hier in Form von Diversity Management – geleistet wird. Die Unterschiede zu Belz‘ Erzählung zeigen sich mehrdimensional: Statt eines moralischen Imperativs (behandele deine MitarbeiterInnen, wie du deine Frau hättest behandeln sollen) ergibt sich eine ökonomische Notwendigkeit aus einer linearen Entwicklung des Arbeitsmarktes, an dem Frauen immer mehr und besser qualifiziert teilhaben und nachgefragt werden. Entsprechend dieser ökonomischen Notwendigkeit aus der Arbeitsmarktsituation wird die Profit-AG nicht besondert, sondern in eine Reihe mit Unternehmen „mit über 50 % Frauen“ gestellt. In der sprachlichen Darstellung wird so Legitimierung durch Konformität verfolgt. Gleichstellungspolitik ist bei Wagner nicht wie bei Belz ein aufwendiger, verworrener, „evolutionärer“ (Interview Belz) Prozess, der Erkenntnisprozesse im Sinne von ‚Aha-Effekten’ und willige ‚Mitstreiter’ braucht, sondern ein reguläres Instrumentarium, das auf klar formulierbare und leicht eruierbare Bedürfnisse reagiert. Gleichstellungspolitik wird auch nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen bzw. auf Interaktionen von Menschen abzielend verortet (wie bei Belz durch Führungsstil oder „seid nett zueinander“), sondern als ‚pflegende’ Behandlung weiblicher Arbeitskräfte durch ein als ‚kopfgesteuerter’, anthropomorpher Handlungsträger verstandenes Unternehmen. In Belz’ Beschreibung eines Unternehmens als Gemeinschaft von Handelnden obliegt ein Streben nach Chancengleichheit Individuen. Wagners Sichtweise begründet dagegen einen von Personen abstrahierten Legitimationsbedarf organisationalen Handelns. So verbindet sich die Bedarfsdeckung einer Organisation – die Erfüllung von Organisationszwecken –
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mit Aufgaben der Gleichstellung zu einem unerlässlichen ‚rationalen’ und legitimierenden Ganzen. In dieser Rahmung ist Gleichstellungsarbeit in das ‚alltägliche’ Human Ressource Management subsumiert, und trägt so zur pragmatischen Legitimierung der Organisation (vgl. Suchmann 1995) gegenüber ihren Mitarbeiterinnen qua gezielt gesteuerter Personalpolitik bei. Dementsprechend erscheint bei Wagner niemand als „kleiner Trottel“ (Interview Belz), Gleichstellungspolitik in einer privatwirtschaftlichen Organisation zu betreiben. 5.7 „was wir tun, das tun wir zunächst einmal für uns selbst“ Der Vorstandsvorsitzende Horst Jansen wird ebenfalls nach den Anfängen der organisationalen Gleichstellungspolitik gefragt: I: „Wie war das, als Sie zurück kamen nach Deutschland, das war, Sie haben es ja gesagt, das war 87 und ähm, nach meinen Recherchen hat- war 87 ein offener Brief im Profitablen, der auch so ein bisschen den Stein ins Rollen gebracht hat hier in der Profit-AG mit der Chancengleichheit, also das war so die- der erste Anknüpfungspunkt den ich finden konnte, also ich hab ja mit Herrn Belz gesprochen und so weiter, wie haben Sie das damals dann erlebt, dass- wie die Chancengleichheit ins Rollen kam.“ Jansen: „Also wir ham- also das war für mich nicht als großer Durchbruch erlebbar, ich hab das anders als das jetzt ihre Frage so impliziert, nicht so erlebt, mein Gott ist das toll, dass wir jetzt so einen Brief hier haben, was ein Stückchen damit zusammen hing, dass in meiner beruflichen Umgebung, (...), dort gab es Frauen in leitenden Funktionen, so dass also die erste Frau in leitender Funktion für mich nicht nicht der Mann auf dem Mond war, nich? So, so dieses Erlebnis hat sich nicht damit verbunden, so dass es also nicht so das Besondere für mich war, ich bin über relativ viele Strecken meines Lebens, also relativ früh, von guten Frauen umgeben gewesen, so dass der große Aha-Effekt mich 1987 nicht erreicht hat.“ (Interview Jansen) In der Frage wird ein Prozess beschrieben (vgl. „ins Rollen kam“), der einen initialen Punkt hat (vgl. „ein bisschen den Stein ins Rollen gebracht“), der aber aus verschiedenen Schritten besteht (vgl. „der erste Anknüpfungspunkt“). In seiner Antwort geht Jansen jedoch nicht auf den in der Frage angelegten Prozess ein, sondern unterstellt, dass die Interviewerin einen kurzen und prägnanten, quasi alles verändernden „Durchbruch“ und einen großen „Aha-Effekt“ durch den Brief erwartet. Diese Kopplung von (Er)Kenntnis und politischer Veränderung durch den Brief negiert Jansen in Hinsicht auf die initiale Bedeutung des Briefs in seinem
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Erfahrungshorizont mit dem Verweis, dass er schon „von guten Frauen umgeben gewesen“ sei. Entscheidend in seinem Horizont ist hinsichtlich des „ins Rollen“Kommens von Chancengleichheit also nicht Gleichstellungspolitik, sondern „Frauen in leitenden Funktionen“ vorzufinden, weil so ein Beleg dafür existiert, dass es Frauen in der Organisation möglich ist, in höhere Positionen zu gelangen. Seiner Sicht auf Chancengleichheit stellt Jansen anschließend ein politisches und/oder soziales Ideal gegenüber: „Im Übrigen würde ich auf eins eins großen Wert legen, ich halte die Diskussion um Chancengleichheit für häufig unehrlich geführt. Ich sage Ihnen ganz offen, zum Thema Chancengleichheit tue ich nichts um Frauen gefällig zu sein, das ist auch nicht meine Aufgabe, ich tue auch nichts, weil ich ein professioneller Gutmensch bin, ich tue es, weil ich sehe, dass wir überhaupt, dass wir es uns nicht erlauben können (Telefonklingeln), auf das Potential – Entschuldigung (entfernt sich vom Mikrofon) – an guten Frauen zu verzichten.“ (Interview Jansen) Der Rekurs auf „die Diskussion“ um Chancengleichheit zeigt ihren allgemeinen Charakter an. Es ist nichts Spezifisches der Profit-AG oder unter Vorstandssprechern, sondern eine ‚breite Öffentlichkeit’, für die keine Vertreter, nicht einmal Subjekte wie ‚wir’, ‚die anderen’, ‚manche Leute’ benannt werden müssen. Diese diffuse „häufig unehrlich geführt[e]“ Diskussion kontrastiert Jansen mit seiner eigenen Ehrlichkeit (vgl. „Ich sage Ihnen ganz offen“). Seine ehrliche Aussage ist der Verweis auf seine Funktion als Vorstandssprecher. In seiner Verantwortung liegt es, das zu tun, was für den Konzern gut ist und dazu gehört Gleichstellungspolitik. Chancengleichheit wird also in der hier explizierten ‚Wahrheit‘ nicht als moralisches Ideal verfolgt, sondern aus betrieblichen Gründen. Es wird in ein zweckrationales ökonomisches Organisationshandeln eingefügt. Dies wird noch einmal deutlich, als Jansen die Aussage, die aufgrund des Telefonats abgebrochen wurde, wiederholt: „Also zum dritten Mal, es kommt mir im Wesentlichen darauf an, dass wir die richtigen Menschen für die richtigen Funktionen finden und es ist gar kein Zweifel daran, dass gerade in der (...)Branche immer mehr Frauen den ä, den akademischen Abschluss machen, (...), es bewerben sich bei uns mehr Frauen als Männer, es bestehen mehr Frauen unsere Assessment Center mit entsprechend guter Benotung als Männer, so dass ganz folgerichtig in der Profit-AG hochqualifizierte Frauen ihr Berufsleben beginnen nach nach Vollendung ihrer Ausbildung, so. Und da kann ich mir im Grunde genommen überhaupt nicht erlauben als Vorstandssprecher anders zu operie-
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ren, als so, dass ich diesen Frauen Karrierechancen biete, die es ihnen geraten sein lassen bei der Profit-AG zu bleiben und hier ihren Weg zu machen. Deshalb denke ich, dass ich es Ihnen in einem ehrlichen Interview schuldig bin, Ihnen zu sagen, das hat weniger was mit Gutmensch zu tun, als mit dem ganz nüchternen Evaluieren von Qualifikation und dem ganz nüchternen ähm, ähm Verständnis, dass man natürlich einfach gut beraten ist, Talent, das man im Haus hat, nicht gehen zu lassen. Wenn dann diese Frauen durchs Managementtraineeprogramm gelaufen sind, dann haben wir auch noch richtig in sie investiert. Wenn ich diese Frauen dann anschließend durch ne ungeschickte Personalpolitik verschrecke, oder oder zu viele davon verliere, dann habe ich auch noch fehlinvestiert, das ist- das ist dann noch blöder.“ (Interview Jansen) Die Verbindung von Chancengleichheit und betrieblichem Nutzen wird über Rationalität im Sinne „ganz nüchterner“ Zweck-Mittel-Relation gezogen. Eine komplexere Herleitung, eine Abwägung gegen Alternativen, eine Infragestellung dieser ‚Rationalität’ erfolgt nicht. Vielmehr wird alles als „folgerichtig“, logisch, im Grunde genommen überhaupt nicht anders möglich beschrieben. Die Formulierung, „das ist dann noch blöder“ zeigt, dass man jetzt ein „kleiner Trottel“ (Interview Belz) ist, wenn man keine Gleichstellungspolitik betreibt. Durch die Entgegensetzung des (fadenscheinigen) moralischen Anspruchs mit dem ehrlichen ökonomischen Charakter wird das als im öffentlichen Meinungsbild verankerte (vgl. „die Diskussion“), normative Leitbild Chancengleichheit in die rationale Betriebsführung eingepasst: Es wird zu einem rationalisierten Leitbild. Die Rationalisierung des Leitbildes lässt, trotz der mehrfachen und im Tonfall heftigen Negierung einer moral(ist)ischen Motivation diesem Leitbild zu folgen, die Verbindlichkeit eines moralischen Anspruchs allerdings in Kraft: „was wir tun, das tun wir zunächst einmal für uns selbst. Und die Frauen, für die wir’s tun, haben sich dafür qualifiziert. Weder tun wir’s, weil wir gut sind, noch müssen die Frauen sich beschenkt fühlen. Die Jobs, die sie von uns kriegen, die Aufgaben, die sie von uns kriegen, die haben sie verdient, weil sie qualifiziert sind. Ich möchte mal gerne damit dieses Gutmenschengerede aufheben.“ (ebd.) Indem Jansen betont, dass sich die Frauen nicht beschenkt fühlen müssen, sondern es verdient haben, wird dem gönnerhaften Verhalten eines „Gutmenschen“ Gerechtigkeit gegenübergestellt. Auf diese Weise wird Gleichstellungspolitik rückgebunden an eine normative Fundierung und Chancengleichheit im Horizont gleicher Rechte von Frauen und Männern verhandelt.
5.7 „was wir tun, das tun wir zunächst einmal für uns selbst“
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In der Zusammenschau der drei Interviews zeigt sich, wie eine Gleichstellungsnorm entsteht, verbindlich gemacht und rationalisiert wird: Belz expliziert die Erkenntnis, dass Benachteiligungen von Frauen nicht legitim seien und dies auch in der Organisation Geltung erlangen müsse, als Ausgangspunkt seines Handelns und begründet mit dieser Erkenntnis eine Verbindung des Leitbilds ‚Chancengleichheit’ mit organisationaler Gleichstellungspolitik. Wagner und Jansen benötigen diese Herleitung nicht mehr: Für sie ist die Anschlussfähigkeit von Gleichstellungspolitik an organisationales Personalmanagement bereits vorausgesetzt. Ohne dass sie also die Begründungen von Belz explizieren oder auch nur nachvollziehen müssten, geschweige dass ein entsprechender Erkenntnisprozess erfolgen müsste (vgl. „[nicht] der große Aha-Effekt“ im Interview Jansen vs. „aber es war die schlichte Erkenntnis“ im Interview Belz), wird von ihnen angenommen, dass formale Gleichberechtigung nicht genüge, sondern Gleichstellungspolitik notwendig sei (vgl. „Tun zum Thema Chancengleichheit“; Interview Jansen). Anders gesagt: Es wird vorausgesetzt, dass die „Beseitigung bestehender Nachteile“ (Art. 3, Abs. 2 GG) erst dann gegeben ist, wenn Organisationen es Frauen ermöglichen, ihre „Karrieren so vorantreiben, wie sie es möchten“ (Interview Wagner). In diesem Sinne geht bei Jansen und Wagner das „Wissen (...) den Werten voraus“ (Berger/Luckmann 1969: 100). Wagner und Jansen können damit als ‚zweite Generation’ im Sinne Bergers und Luckmanns (1969) gelten, denen eine Gleichstellungsnorm nicht mehr begründungsbedürftig ist, sondern als objektivierte soziale Tatsache eine selbstverständliche Voraussetzung ist. Während entsprechend bei Belz eine explizierte moralische Legitimierung von Gleichstellungspolitik über Partnerschaftlichkeit in einer Gemeinschaft den Brückenschlag zwischen Organisation und Gleichstellung leistet, ist bei Jansen und Wagner eine moralische Legitimation in der Gleichstellungsnorm bereits unterlegt (vgl. „wie geht’s den Frauen eigentlich und fühlen die sich gewertschätzt“ Interview Wagner). Auf dieser aufbauend wird nun eine Abgrenzung gegen „Gutmenschengerede“ (Interview Jansen) bzw. „esoterische“ Anklänge (Interview Wagner) und damit eine Rationalisierung vollzogen. Dadurch wird (bei Jansen) bzw. ist (bei Wagner) die Kopplung von ‚rationaler‘ Organisation und Gleichstellungspolitik ‚festgezurrt‘ und von dort aus kann Gleichstellungspolitik als in formale Struktur eingebetteter Rationalitätsmythos zur Legitimation der Organisation fungieren im Sinne Meyers und Rowans (1977): „In modern societies, the myths generating formal organizational structure have two key properties. First, they are rationalized and impersonal prescriptions that identify various social purposes as technical ones and specify in a rulelike way the appropriate means to pursue these technical purposes rationally (Ellul 1964). Second, they are highly institutionalized and
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
thus in some measure beyond the discretion of any individual participant or organization.” (ebd.: 343f.; Herv. KKH) Dies passiert bei Wagner und Jansen: Ein sozialer Zweck wird als ökonomischer identifiziert, dem mit organisationaler Gleichstellungspolitik begegnet wird, und es ist jenseits der Möglichkeiten von Jansen und Wagner, es zu ermessen, angesiedelt: Die Institutionalisierung der Gleichstellungsnorm verbietet es hier die Frage zu stellen oder gar in der (internen) Öffentlichkeit zu diskutieren, ob Gleichstellungspolitik zu betreiben, wirklich eine optimale Nutzung von Human Ressourcen ist, oder ob es nicht vielleicht viel rentabler ist, (weiterhin) nur in Männer richtig zu investieren, Frauen allein in schlechter bezahlbare Tätigkeiten einzubinden. Ein Mythos unterscheidet sich nach Barthes (1964) von anderen Aussagen nicht durch seinen Inhalt (i.e. „das Objekt seiner Botschaft“; ebd.: 85), sondern durch „die Art und Weise, wie er dies ausspricht“ (ebd.: 85). Entscheidend für den Mythos ist, dass er über den Aussagegehalt (Sinn) einer bestehenden Aussage hinausgeht und diesen hinter sich zurücklässt. D.h. die Aussage wird von ihrem Sinn ‚entleert’, um ihr einen neuen Gehalt zu geben (vgl. ebd.): „Der Sinn verliert seinen Wert, aber er bleibt am Leben, und die Form des Mythos nährt sich davon. Der Sinn ist für die Form wie ein Vorrat an Geschichte, wie ein unterworfener Reichtum, der in raschem Wechsel zurückgerufen und wieder entfernt werden kann.“ (ebd.: 97) Die ‚ursprüngliche’ Aussage von Gleichstellungspolitik ist, dass „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ (Art. 3, Abs. 2, GG) gefördert werde. Der Rationalitätsmythos ‚bedient‘ sich nun dessen und nutzt Gleichstellungspolitik als seine Form, um darüber seinen eigenen Sinn zu transportieren. Mit Barthes’ Worten wird der Sinn der Aussage „ausgeborgt“ (1964: 98): Gleichstellung dient nun zur Darstellung des meritokratischen Prinzips, der Erhabenheit von Qualifikation über ‚vormoderne Relikte’, insgesamt der Rationalität organisationalen Human Ressource Managements. Die Einbettung von Gleichstellungspolitik in die Agenda, Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu gewährleisten, ist in diesem neuen Aussagegehalt nicht mehr enthalten, doch die Existenz eines solchen ‚Vorrats an Geschichte’ im Hintergrund – ‚theoretisch’ jederzeit abrufbar und ‚einsichtig’ – stattet den Mythos mit Überzeugungskraft aus: „Die Form muss unablässig wieder Wurzeln im Sinn fassen und aus ihm sich mit Natur nähren können, und insbesondere muss sie sich in ihm verbergen können. Es ist dieses unablässige Versteckspiel von Sinn und Form, durch das der Mythos definiert wird.“ (Barthes 1964: 98)
5.8 „ein Konzern und ein Kindergarten, wie passt das zusammen?“
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Der ‚moralische’ Impetus, der in den Auffassungen zu Gleichstellung bei Jansen und Wagner latent ist, die Entstehungsgeschichte der Gleichstellungspolitik in der Organisation und ihre soziohistorische Rahmung bilden diesen Vorrat, aus dem sich der Mythos, Gleichstellung sei rational-ökonomisch, nähren kann, bzw. den Horizont, innerhalb dessen Gleichstellung ‚rationalisiert‘ werden kann. Vergleicht man die rationalisierten Mythen ‚Gleichstellung’ und ‚Egalität’/‚Chancengleichheit’ (vgl. Funder et al. 2006; Kap. 3.4), so überbietet ersteres letzteres in Hinsicht auf seine Funktion zur Darstellung der ‚richtigen’ Unternehmensführung. Denn Gleichstellung – das „Tun zum Thema Chancengleichheit“ (Interview Jansen) – vermittelt das Bild einer aktiv steuernden und gesteuerten Organisation, indem sie nicht nur Rekrutierungsprozesse rational handhabt und Human Ressourcen effizient abschöpft, wie dies bei ‚Chancengleichheit‘ realisiert gilt, sondern Humankapital entwickelt und steigert und es so noch produktiver, effizienter, rentabler macht. Inwiefern Gleichstellungspolitik tatsächlich eine unterstellte Kostenminimierung und Gewinnmaximierung leisten kann, ist dabei nicht überprüfbar und wird hier nicht überprüft. Das ist – kennzeichnend für rationalisierte Mythen (vgl. Kap. 2.6) – Glaubenssache. 5.8 „ein Konzern und ein Kindergarten, wie passt das zusammen?“ Inwiefern Gleichstellungspolitik als Rationalitätsmythos im Sinne Meyers und Rowans (1977) gelten kann, ist neben den oben gestellten Fragen, inwiefern hier etwas für ‚rational’ erklärt wird und inwiefern es von Evaluationen unabhängig gemacht wird, es also trotz mangelnder Möglichkeiten Profitmaximierung, Effizienzsteigerung o.ä. zu belegen, praktiziert wird, die Frage, inwiefern es zur Legitimation dienlich ist. Dies lässt sich insbesondere dort untersuchen, wo erhöhter Legitimationsbedarf besteht, vor allem also in Aktivitäten jenseits gesetzlicher Vorgaben bzw. ihrer Umsetzungen, wie bspw. anhand von Berichten zur Corporate Responsibility nachvollziehbar wird. Eine zunehmende Anzahl an Ratings und Forschungen, NachhaltigkeitsIndices, Kommissionen, die Foren bieten und Richtlinien erarbeiten, und Normierungsprozesse der ISO produzieren ExpertInnen und Expertise. Sie etablieren sich als durch Status legitimierte Instanzen, die organisationalen Praktiken auch Legitimität ab- oder zusprechen können (vgl. Schranz 2007). Dabei (re)produzieren sie öffentliche Diskussionen, verstärken Handlungsbedarf in Unternehmen und bringen ihn hervor. Bei der Bewertung des Engagements spielt die Berichterstattung, d.h. die öffentliche Darstellung des Engagements, eine zentrale Rolle (Scoris 2005). Entsprechend veröffentlicht die Profit-AG im Anschluss an das SIRI-Rating von 2005 einen ersten Bericht zur unternehmerischen Verantwortung.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
Die zu dem Zeitpunkt seit bald zwei Jahrzehnten entwickelte Gleichstellungspolitik erscheint in diesem Bericht als ein wichtiges Kapital und um die soziale Verantwortung gegenüber Angestellten zu verbildlichen als das Aushängeschild. Über die Platzierung in diesem Bericht wird die Legitimation der Organisation durch Gleichstellungspolitik mit sozialen und moralischen Werten verknüpft und geht in der im Konzept von Corporate Social Responsibility vermittelten Integrationsfähigkeit moralisch guten und profitorientierten Handelns auf. Auf der Homepage der Profit-AG kann der ca. elfminütige Imagefilm des Konzerns angesehen werden. Dieser beginnt mit der Einblendung des Firmenlogos und dem im Corporate Design verfassten Titel „Die Profit-AG mitten in Europa“. Der Konzern wird hier nicht nur in seinem geographischen, sondern vor allem in seinem ökonomischen und politischen Kontext verortet, denn der Standort des Konzerns liegt nicht in der geographischen Mitte des Kontinents, sondern der EU. Dieses europäische Bekenntnis entspricht einer in Deutschland häufig als ökonomisch und politisch zukunftsträchtig gewerteten Perspektive. Die räumliche Verortung, die sie zu einer sichtbaren, begehbaren, greifbaren Tatsache macht – wie die Alpen oder der Rhein – suggeriert Sicherheit und Stabilität. Gekoppelt an eine Einbindung der Organisation in einen ökonomischen und politischen Kontext, wird die Verortung zu einer Verankerung, in der die Organisation weder starr ist, noch mit ihrem Kontext verschwimmt. Die Profit-AG legitimiert sich hier also zunächst über eine Vereinbarung von Stabilität und zukunftsorientierter Dynamik. Nach dem Vorspann ist der Vorstandssprecher Jansen zu sehen, er spricht in einem freundlichen Ton, lächelt und bewegt sich während seiner Rede: „Guten Tag liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Herzlich Willkommen bei der Profit-AG, meine Name ist Horst Jansen, ich bin der Sprecher des Vorstands. Wir möchten die Profit-AG etwas näher vorstellen. Vielen Dank, dass Sie sich für uns interessieren. Gerne informieren wir Sie in den nächsten Minuten darüber, wofür die Profit-AG steht, was wir für unsere Kunden tun, denn alle hier in unserem Konzern arbeiten für unsere Kunden – also wenn Sie möchten auch für Sie.“ (Imagefilm 2005) Die Organisation wird durch ihren Repräsentanten personifiziert (vgl. „Horst Jansen“) und damit konkret und ansprechbar.105 Diese Ansprechbarkeit baut ein imaginäres Wechselverhältnis zwischen Organisation und Zuschauenden auf. Der Begriff „Kunden“ setzt die Zuschauenden in eine funktionale Beziehung zur Orga105 Vgl. hierzu Fieseler (2008): „Wie in den Interviews mit Analysten, Investoren und Journalisten immer wieder betont wurde, wird die Bereitschaft von Seiten der Geschäftsleitung, das Unternehmen persönlich vorzustellen, nicht nur als positiver, sondern oftmals als unbedingt notwendiger Faktor angesehen“ (ebd.: 208).
5.8 „ein Konzern und ein Kindergarten, wie passt das zusammen?“
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nisation und wird über die direkte Ansprache (vgl. „Sie“) mit ihrer Person verknüpft. Indem die Organisation über menschliche Handlungen definiert wird (vgl. „was wir für unsere Kunden tun“), können die Zuschauenden als KundInnen zu InteraktionspartnerInnen einer so verlebendigten Organisation werden. Die Profit-AG wird also konkretisiert zum Einen über eine mögliche Interaktion zwischen Personen und zum Anderen über die Darstellung als legitimer Organisation mittels Rekurs auf Funktionalisierung, Stabilität und Zukunftsträchtigkeit. Das in der Videopräsentation angelegte Bestreben, eine Transparenz organisationaler Prozesse zu schaffen, wird zugleich begrenzt (vgl. „Wir möchten die Profit-AG etwas näher vorstellen“), wodurch eine Komplexität der Organisation vermittelt wird, die sie letztlich für Außenstehende nicht in Gänze ergründbar macht. Dem Vorstandssprecher als Repräsentanten und Personifizierung des Konzerns scheint diese Komplexität vollständig offenbart, so dass er zum Vermittler gegenüber der Außenwelt werden kann. Im Imagefilm wird diese Verbindung einer Öffnung für die Umwelt und undurchschaubarer Komplexität weitergeführt: Während der Aussage Jansens wird das Bild aufgezogen und links erscheint das gemalte Bild eines Clowns. Bei der Betrachtung erscheint dies irritierend, da ein Clown und ein Konzern nicht in einem nachvollziehbaren Bezug zu einander stehen, sondern z.T. entgegengesetzte Assoziationen wecken (z.B. Missgeschicke vs. Seriosität). Erwartungsgemäß schließt sich an dieses Bild eine Erklärung Jansens an: „Die Umgebung, die Sie hier sehen, wird Sie vielleicht erstaunen, ein Konzern und ein Kindergarten, wie passt das zusammen? Nur, was Sie hier sehen, ist nicht irgendein Kindergarten, sondern „ProKids“, die Kindertagesstätte der Profit-AG. Hier können unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Kinder in Notfällen, also bei akutem Bedarf betreuen lassen. Das ist eine Besonderheit der Profit-AG. Wir unterstützen unsere Mitarbeiter, damit sie den Kopf frei haben, um für unsere Kunden das Beste zu geben.“ (ebd.) Die Kindertagesstätte, die über die Abkürzung „Pro“ bereits eine Verbindung des Konzerns mit Kindern in ihrem Namen herstellt, wird als Bestandteil der Organisation Konzern vorgestellt.106 Da zuvor erklärt wurde, dass das Handeln für die Kundschaft transparent gemacht werde, muss eine Verbindung zu den Produkten der Organisation aufgebaut werden, zu denen Kinderbetreuung nicht zählt. Diese Verbindung wird über das Engagement ‚des Konzerns‘ für ihre Angestellten und daraus resultierendem Engagement der MitarbeiterInnen für die Kundschaft hergestellt. Damit wird zum Einen signalisiert, dass die komplexen Prozesse ‚richtig‘ und ‚gut‘ funktionieren und – symbolisiert durch die indirekte Verbindung der 106 Vgl. zur Kinderbetreuungseinrichtung „ProKids“ Kap.10.2.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
Produkte mit dem „Kindergarten“ – die Komplexität nachgrade notwendig ist für dieses ‚richtige‘ und ‚gute‘ Funktionieren, wobei immer noch jemand (Jansen) den Überblick behält. Zum anderen verbindet sich die Organisation mit der Lebenswelt von Personen: Das Privatleben der Angestellten wird an die Organisation geknüpft, die somit ein Teil der Lebenswelt ihrer MitarbeiterInnen über die Erwerbstätigkeit hinaus ist. Die Profit-AG wird also nicht nur als Teil der geographischen, politischen und ökonomischen Umwelt vorgestellt, sondern auch in gesellschaftliche und der Privatsphäre zugeschriebene Bereiche/Prozesse eingebunden. Im Imagefilm wird also mit der Ausrichtung auf Kundschaft Legitimation wie im CR-Bericht hergestellt, indem die ökonomische Orientierung mit sozialer Verantwortung verknüpft wird, wobei der Schwerpunkt hier auf dem Nutzen liegt, der sich im Engagement der Profit-AGlerInnen für die Kundschaft niederschlägt. Die Kindertagesstätte wird dabei zu einem Symbol für die Organisation gemacht: Sie verbildlicht das, was komplex und nicht kurz und schlicht erklärbar ist (nämlich: „wofür die Profit-AG steht“) und dient somit hier nicht nur als ‚Aushängeschild‘, sondern selbst als Mythos, d.h. als Bild, welches das Chiffre (die Idee) in einer den Menschen verständlichen und ‚erträglichen‘ Form darstellt (vgl. Deutschmann 1997: 63f.), mit dem hier die undurchschaubar komplexe Organisation interpretiert, ein Stück weit dechiffriert und so der Öffentlichkeit verständlicher wird: „Im Mythos ist das komplexe Geflecht der beteiligten Variablen und ihrer u.U. zufälligen und flüchtigen Relationen auf markante ‚Grundtatsachen‘ reduziert, die einen unkontroversen Sinngehalt suggerieren“ (Wiesenthal 1996: 567). In der Zusammenschau der verschiedenen Legitimierungen erscheint Gleichstellungspolitik zeitgleich als rationale Betriebsführung und/oder als normatives Leitbild interpretiert und interpretierbar. Darüber hinaus erscheint dieser rationalisierte Mythos aber auch in verschiedenen Kontexten zur jeweiligen Versinnbildlichung solch unterschiedlicher Orientierungen einsetzbar: als Aushängeschild für soziale unternehmerische Verantwortung wie im ersten CR-Bericht der Profit-AG,107 zur Illustration der Integration menschlicher Bedürfnisse für eine besonders ‚gute‘ Organisation wie im Imagefilm, zur Darstellung einer partnerschaftlichen (Belz) bzw. einer modernen, optimierten Personalsteuerung (Wagner) oder zur Demonstration einer Kosten-Nutzen-Optimierung im Sinne Jansens. In dieser mehrfachen Hinsicht ist die wechselseitige Legitimierung von Gleichstellungspolitik und Or-
107 Bei Belz und im CR-Bericht ist die Verantwortung, die der Organisation für ihre Mitglieder zugeschrieben wird, ein primäres, bei Wagner und im Imagefilm ein der Rationalisierung nachgeordnetes, tragendes Element der Einbettung von Gleichstellungspolitik.
5.9 Organisation, Geschlecht und Gleichstellungspolitik
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ganisation eingelassen, kann Gleichstellungspolitik als Sinnbild für ‚die richtige‘ Unternehmensführung herangezogen werden. 5.9 Organisation, Geschlecht und Gleichstellungspolitik In der politischen Auseinandersetzung um Gleichstellungspolitik in der Privatwirtschaft werden Organisationen einem funktionalistischen Paradigma entsprechend als geschlechtsneutrale Gebilde in einem eigenen Raum (Wirtschaft) gezeichnet, zu dem Politik und Gesellschaft (und damit auch Frauen) „strukturelle Rahmenbedingungen“ darstellen (vgl. Kap. 5.1f.). Organisationen bilden so einen monolithischen Block, dem Geschlechtswesen gegenüber gestellt werden, die ebenfalls einen monolithischen Block bilden: Frauen. In Gestalt dieser mehr oder weniger ‚anderen‘ Arbeitskräfte dringt die Kategorie Geschlecht erst in Organisationen ein, was diese – zumindest scheinbar (wie bei Hundt) – zu Veränderungen nötigt (unabhängig davon, ob Deckungsgleichheit der Interessen konzipiert wird), welche dann als organisationale Gleichstellungspolitik verstanden werden.108 In Folge dessen kommt es zu einer Einbindung von Organisationen in gesellschaftliche Prozesse, wodurch aus Organisationen rationale (Re)Akteure gemacht werden und in dieser Hinsicht eine Differenzierung zwischen ihnen hergestellt wird: Auf der Darstellungsebene sondert sich die Gruppe mit der ‚best practice‘, d.h. derjenigen, die hier Aktivität demonstrieren, vom Rest ab (vgl. Kap. 5.3). Die Webseite zu Chancengleichheit der Profit-AG bricht die Konstellation beider monolithischer Blöcke sowie das Verhältnis zwischen diesen auf (vgl. Kap. 5.4). Oberhalb des Menüpunkts „Frauen“ kommen Männer und Frauen als Geschlechtswesen in die Darstellung hinein und zugleich erfährt Geschlecht Neutralisierungen und Pluralisierungen. Über eine allgemeine Personalisierung von Arbeitskräften werden hier nicht Geschlechtswesen und geschlechtslose Wesen entlang der Linie Arbeitskräfte (Männer) und andere Arbeitskräfte (Frauen) getrennt. Ebenso wenig werden sie der Organisation gegenüber gestellt, sondern Personen (situativ mit oder ohne, dass deren Geschlecht Bedeutung erfährt) werden qua „Karriere“ in einem Passungsverhältnis zur Organisation gedacht. In dieses erscheint Gleichstellungspolitik harmonisch integriert.
108 An das Eindringen von (dem) Geschlecht haften sich dann quasi automatisch sowohl in der freiwilligen Vereinbarung als auch bei der BDA-Broschüre (insbes. bei Hundt) Thematisierungen, Problematisierungen und Lösungsbedarf bezüglich Fortpflanzung, Kinder und Vereinbarkeit von Familie und Beruf an. Es ist immer wieder frappierend, dass in solchen Thematisierungen ganz selbstverständlich Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Problem vorausgesetzt wird, angesichts dessen, dass seit Jahrhunderten Männer, die Familie haben, erwerbstätig sind.
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5. „Förderung der Chancengleichheit“
In der jeweiligen Rekonstruktion des Beginns organisationaler Gleichstellungspolitik im Konzern erfolgt dies anders: Gleichstellungspolitik setzt wiederum am ‚anderen‘ Geschlecht, an den ‚anderen‘ Arbeitskräften an, die bei Belz zunächst wieder mittels der Kontrastierung von Geschlechtswesen (qua Gebärfähigkeit und daraus abgeleiteter Zuständigkeit für Familie) und geschlechtslosen Organisationswesen (Männern) hergestellt werden. Durch die Übertragung von normativer Partnerschaftlichkeit aus der Familie auf die Organisation wird im nächsten Schritt Geschlecht als Element von Organisation in dieser verortet und Gleichstellungspolitik daran angeschlossen (vgl. Kap. 5.5). Wagner differenziert etwas anders: In ihrer Rekonstruktion wird eine Differenzierung nach Geschlecht zu Beginn an der Grenze zwischen ‚Zufriedenheit’ und ‚Unzufriedenheit’ aktualisiert. Da Organisation bei ihr ein eigenständiger rationaler Akteur ist, folgt Gleichstellungspolitik mittels Rationalisierung ‚logisch‘ aus der Betrachtung dieser Differenz, da ‚Unzufriedenheit’ als ‚rational’ bearbeitbar verstanden wird. Anschließend verwischt diese Geschlechtergrenze ein Stück weit über Pluralisierungen, die aus Gleichstellungspolitik erst folgen (vgl. „verschiedener Mitarbeiterzielgruppen“; Kap. 5.6). Auch Jansens Rekonstruktion unterliegt das Bild einer durchgängig rationalen Organisation, nicht aber als eigenständiger Akteur, sondern getragen von rationalen Akteuren, insbes. dem Topmanagement (vgl. „wir“; Kap. 5.7 und 6.8). Diesem stehen nun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegenüber, die in zwei Gruppen unterteilt werden: „gute Frauen“, die „anspruchsvolle Karrieren“ (Interview Jansen; vgl.10.2) machen und „Frauen in Führungspositionen“ werden wollen und sich damit auf dem Weg zur Integration in das „wir“ befinden, und der Rest (vgl. Kap. 5.7). Gleichstellungspolitik schließt daran an, da sie zur Vermeidung „ungeschickte[r] Personalpolitik“ gegenüber der ersten Gruppe dient.
6.1 „Im Anzug oder im Kostüm“
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6 „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…’?“ – Eine Chronologie von Gleichheit und Unterscheidungen im Gleichstellungsansatz
6.1 „Im Anzug oder im Kostüm“ Die zeitlich erste öffentliche Darstellung des Themas ‚Chancengleichheit’ bestand in einer Werbeanzeige des Konzerns Mitte der 1980er Jahre. Sie zeigt eine dem damaligen Schönheitsideal entsprechend frisierte Frau, die in einem Kostüm und mit einer Aktentasche unter dem Arm ziel- und selbstsicher dem Betrachter entgegen zu treten scheint. Neben dieser Abbildung steht in Fettschrift „Für die Betreuung Ihres Unternehmens sollten Sie den besten Mann verlangen“. Im Text der Anzeige wird deutlich, dass die Frau im Kostüm hier die „Kundenberater“ des Konzerns repräsentiert: „Bei der Auswahl unserer Kundenberater zählt nur eins: Qualifikation. Und darum ist er oder sie von der Profit-AG mehr als Ihre Verbindung zum Konzern. (...) Kommen Sie zur Profit-AG. Dann kommt das erfolgreiche Konzept zu Ihnen. Im Anzug oder im Kostüm.“ (Werbeplakat) Die Anzeige vermittelt so nicht nur, dass ‚der beste Mann’ in der Profit-AG und nicht bei der Konkurrenz zu finden ist, sondern gibt auch eine ‚Erklärung’ dafür: die Priorisierung von „Qualifikation“. Um dies zu verdeutlichen, greift sie auf eine der Erwartung widersprechende Ressource für „den besten Mann“ zurück: Frauen. Die Organisation wird so explizit übergeschlechtlich auf der Ebene von Kompetenz, Qualifikation, Sachlichkeit, einem klaren, nicht durch Irrelevantes und Vorurteile verstellten Blick aufs Wesentliche – kurz: rational – dargestellt. Die dem ‚Entweder-Oder’ der Norm der Zweigeschlechtlichkeit entspringende Entgegensetzung der Werbeträgerin und des ‚besten Mannes’ wird im Zuge dessen aufgelöst: ‚Die’ Frau wird mittels Qualifikation einsetzbar in die Funktion ‚bester Mann’. Die Kategorie Geschlecht wird so zum Einen über die Hervorhebung und Kontrastierung der beiden Geschlechter ‚Mann’ und ‚Frau’ aktualisiert (statt eines Geschlechtswesens und eines geschlechtslosen) und zugleich mittels des Konzepts geschlechtsneutraler Kompetenz neutralisiert (vgl. „das erfolgreiche Konzept“). K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
Die symbolische Geschlechterordnung eingelassen in Kleidung erscheint hier auf diese reduziert: Ebenso wie Kostüm oder Anzug erscheint Geschlechtszugehörigkeit als Hülle. Geschlechter ‚trägt’ man, ohne dass sie berufsrelevant erscheinen, denn die Berufsrelevanz setzt nicht am Unterschied zwischen Anzug und Kostüm, sondern am Unterschied von diesen zu Freizeitbekleidung an. Anzug und Kostüm stellen gleichermaßen seriöse, angemessene und der Repräsentation des Konzerns entsprechende Verkörperungen der sachlich ‚rationalen’ Organisation dar. Auf diese Anzeige baut ein 1987 von vier Mitarbeiterinnen des Konzerns geschriebener offener Brief in der Hauszeitschrift der Profit-AG „Profitables“ auf. Die Anzeige ist neben dem Beitrag abgebildet, und wird im Titel zitiert: „Verlangen Sie den besten Mann….“. Dem Beitrag ist ein Text vorgeschaltet, der vermutlich von der Redaktion verfasst wurde. „’Für die Betreuung Ihres Unternehmens sollten Sie den besten Mann verlangen’ lautet der Slogan einer Profit-AG-Anzeige, die wir nebenstehend abgebildet haben. Vier engagierte Mitarbeiterinnen unseres Konzerns, auf einem Management-Seminar mit der Lücke zwischen Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frauen im Beruf konfrontiert, nahmen sie zum Anlaß, den Gründen für dieses Defizit nachzugehen. Wie steht’s mit der beruflichen Gleichberechtigung in der Praxis?“ (Profitables 3/1987) Die Thematisierung von Gleichstellung wird mit den ‚engagierten Mitarbeiterinnen‘ implizit in der und nicht gegenüber der Profit-AG legitimiert: Das „Management Seminar“ stellt erstens einen praktischen Bezug zu den persönlichen Karrieren der Autorinnen her und dadurch wird das Thema ein Stück weit einem Ideologieverdacht feministischer Kreise entzogen. Es bettet zweitens die Thematisierung im Kontext organisationaler Weiterbildungsmaßnahmen ein. Verstärkt durch den Bezug auf die Kampagne wird das Engagement der Mitarbeiterinnen so von ihrer eigenen Karriere auf ein Engagement für die Profit-AG gelenkt: Ihr Beitrag scheint nun einer in der Kampagne verbildlichten organisationalen Zielsetzung zu dienen. Der offene Brief geht zunächst auf die Frage ein, wieso Frauenförderung in das öffentliche Blickfeld geriet und beantwortet dies mit der erhöhten Bildungsund Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie dem Bevölkerungsrückgang. Als nächstes wird die vertikale Segregation angesprochen und mit statistischen Daten über die gesamte deutsche Wirtschaft und die Profit-AG belegt. Im dritten Schritt werden Faktoren aufgeführt, die zur vertikalen Segregation führen, hierbei werden „Ausbildungsstand, Mobilität und Betriebszugehörigkeit“ angesprochen, Vorurteile aufgeführt und die „Doppelbelastung“ Familie und Beruf erörtert. Der Artikel resümiert, dass „für die Gleichberechtigung im Beruf noch viel getan werden muss“ und führt hierzu die „Verbesserung der Aufstiegschancen sowie Wiederein-
6.1 „Im Anzug oder im Kostüm“
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gliederung nach einer Familienphase, flexiblere Arbeitszeitgestaltung und Einrichtung von mehr und qualifizierteren Teilzeit-Arbeitsplätzen“ an. Die Profit-AG wird hier nicht gelobt für ihre emanzipatorische Haltung, die die Anzeige bewirbt: Sie erscheint nicht besser als andere Wirtschaftsunternehmen, andererseits aber auch nicht schlechter: Es werden „inner- und außerbetriebliche Faktoren“ als Ursachen für mangelnde Gleichberechtigung herangezogen und erklärt, die Profit-AG befinde sich „im bundesweiten Durchschnitt vergleichbarer Unternehmen“. Obwohl gezeigt wird, dass sich die Anzeige nicht mit der Realität deckt, wird sie hier weder ‚entlarvt‘ noch zynisch gewendet: Die in der Anzeige implizierte Chancengleichheit wird zwar im Ergebnis in Frage gestellt, aber zugleich als (gemeinsame) Zielsetzung in der Profit-AG bestätigt. Die Kampagne und der Beitrag der vier Mitarbeiterinnen ergänzen sich somit zu einem Bild eines ‚gemeinsamen‘ Bestrebens von ‚dem‘ Konzern und aus dem Konzern heraus, also einer Verbindung von Bottom-Up und Top-Down Prozess.109 Zu dieser Zeit (Ende der 1980er Jahre) ergriffen weitere AkteurInnen Initiativen: Gewerkschaft, Betriebsrat und Personalabteilung (hier insbesondere der damalige Personalvorstand; vgl. Kap. 5.5). Im Interview mit der Gewerkschaftsfunktionärin Anja Becker werden diese Initiativen in der Profit-AG innerhalb der Branchen als pionierhaft gewertet, weil sie über die Vereinbarkeitsthematik hinausgingen. Als entscheidende Quelle und Motor der Chancengleichheitsförderung in der Profit-AG wertet Becker das Zusammenspiel der AkteurInnen: „Also bei der Profit-AG war das das Vorstandsmitglied Belz, der selbst ne berufstätige Frau hat, was sie ja oft selbst nicht haben, ja. Je höher sie angesiedelt sind. Und für den war das ein Thema selbst. Der hat gesagt, ich will hier vernünftige Bedingungen mit dieser Frage haben, ich unterstütze das. Und äh da konnte die Personalabteilung dann arbeiten, ja. Das war dann nicht nur Anliegen des Betriebsrates, sondern die Unternehmensebene hat das genauso aufgenommen und dann waren auch echte Erfolge zu erzielen, ja. Wenn das nur gegeneinander erst mal organisiert werden muss, wird das sehr sehr schwierig.(...) wir hatten so einen Arbeitskreis, der lief über 1½ Jahre und dann haben die-, so eine Betriebsrätin hat das auch sehr intensiv aufgenommen, dann gab es eine Betriebsratsversammlung, die gemeinsam von Personalabteilung, Betriebsrat und der Gewerkschaft gestaltet wurde. (...) Ich denke da gab’s im Betriebsrat aktive, also insbesondere eine aktive Kollegin. Es gab in der Personalabteilung engagierte Frauen, die sich auch Gedanken gemacht haben, was sinnvoll im Unternehmen verändert werden 109 Auch 18 Jahre nach Erscheinen des offenen Briefes wiesen mich einzelne (langjährige) Organisationsmitglieder auf diesen Brief und seine Bedeutung für die organisationale Gleichstellungspolitik hin, die vom Vorstandsvorsitzenden relativiert, aber nicht negiert wird.
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
kann und es gab ein Vorstandsmitglied, diesen Herrn Belz, bei dem wir auf offene Ohren gestoßen sind, der das dann unterstützt hat und von oberster Ebene gesagt hat, das werde entwickelt und es wird auch, ich sag mal, sehr professionell entwickelt.“ (Interview Becker) Becker sieht die Initiativen ineinander verwoben und so sei eine gemeinsame Initiative konzernintern aber auch durch die Einbindung der Gewerkschaft entstanden. Die Funktion des Personalvorstandes wird hier hervorgehoben und als ausschlaggebend für eine ‚professionelle’ Entwicklung gesehen. In Dokumenten der Profit-AG werden vor allem der Zeitgeist und ein daraus resultierender Bedarf auf veränderte Umstände zu reagieren als Impulse für gleichstellungspolitische Ansätze benannt, so in dem von Belz verantworteten Artikel in einer Jubiläumsfestschrift 1995: „Wenngleich zu Beginn der achtziger Jahre der Anteil von Frauen in den Führungspositionen noch immer gering ist, entsteht – vielleicht gerade deshalb – eine intensive gesellschaftspolitische Diskussion über ‚Frauen im Berufsleben’. Immer mehr Frauen sehen in ihrem Beruf eine neue Lebensgrundlage und qualifizieren sich weiter. Dieses Thema wird in der ProfitAG frühzeitig aufgenommen. Schon bald werden erste Erfolge bei dem Bemühen, vorhandene Arbeitshemmnisse zu überwinden, erzielt. 1989 nimmt im Rahmen des Projekts ‚Frauen im modernen Konzern’ ein Koordinierungsteam des Personalressorts die Arbeit auf, mit dem Ziel, im Alltag des Konzerns die Chancen von Frauen zu verbessern.“ (Festschrift 1995) 6.2 „eine Frage der Persönlichkeit“ Das genannte Koordinierungsteam tritt 1989 „unter der Zielsetzung ‚Chancengleichheit’“ zusammen (Hauszeitschrift „Profitables“ 2/1990). Es ist mit je einem Mitglied aus den sechs Fachbereichen der Personalabteilung besetzt, insgesamt vier Frauen und zwei Männern, die ihre Arbeit als „sozusagen ‚ehrenamtlicher’ Natur“ bezeichnen (2/1991),110 da sie neben ihren täglichen Aufgaben im Konzern zusammen kommen. Das Team zeichnet sich nicht allein verantwortlich für die Umsetzung von Gleichstellungspolitik, sondern vielmehr für die Abstimmung verschiedener Bestrebungen im Konzern und für organisatorische Aufgaben. Hierzu werden MultiplikatorInnen („Gebietskoordinatoren“) eingesetzt, womit eine dezentrale Vorgehensweise in der Gleichstellungspolitik angegangen wurde. 110 Sofern nicht anders gekennzeichnet, wird im Folgenden auf „Profitables“ Bezug genommen.
6.2 „eine Frage der Persönlichkeit“
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Von der Ausgabe 2/1990 an erscheint in jeder Ausgabe der Hauszeitschrift „Profitables“ mindestens eine Seite, meistens eine Doppelseite zu einem vom Koordinierungsteam „Frauen im modernen Konzern“ bearbeiteten Thema. Die Seiten werden durch ein Logo markiert, einer Strichzeichnung eines kurzhaarigen Frauenkopfes einschließlich Hals und Kragen. In diesem Logo gehen Weiblichkeit und Berufstätigkeit eine unproblematische Synthese ein, bei der Weiblichkeit nicht in den Vordergrund tritt: Der Kragen ist schlicht, ‚geschlechtsneutral’ und verweist auf klassisch seriöse Bekleidung, wie sie in ‚white collar jobs’ gängig ist. Die Frisur ist modisch ohne flippig zu sein, scheint für keine Altersklasse unpassend und wirkt sowohl feminin als auch praktisch und gepflegt, so dass sie ebenfalls einer Berufstätigkeit adäquat erscheint, in der Seriosität vermittelt werden soll. 1990 stellt sich das Koordinierungsteam in der Hauszeitschrift der internen Öffentlichkeit vor unter dem Titel: „Akzeptanz und Förderung müssen eine Frage der Persönlichkeit sein!“ (2/1990). Der Titel vermittelt einen normativen Anspruch und fordert ihn imperativisch ein. Der Begriff der Förderung ist in einem organisationalen Kontext gängig. „Akzeptanz“ ist dagegen in diesem Kontext nicht spezifisch besetzt und verbleibt hier auf der Ebene eines diffusen Alltagsbegriffs. Die Bedeutung, die hier der „Persönlichkeit“ beigemessen wird, ist in einem zweckrational-instrumentalistischen Verständnis von Organisation nicht unterlegt. „Persönlichkeit“ wird vielmehr abgegrenzt gegen die Funktion und gilt als außerorganisational (vgl. Preisendörfer 2005; Scherer 2006). Indem die Persönlichkeit von Menschen in dem Titel normativ mit Förderung und Akzeptanz verknüpft wird, wird sie hier in den organisationalen Kontext hineingezogen und relevant gemacht für organisationale Prozesse. Der Titel wird im Fließtext noch einmal aufgegriffen: „Wir setzen auf die Qualifikation und das Engagement unserer derzeitigen und zukünftigen Mitarbeiterinnen und darauf, dass Akzeptanz und Förderung nicht eine Frage des Geschlechts sondern der Persönlichkeit sind.“ (2/1990) Das hier angedeutete Verständnis einer Organisation setzt also gerade nicht die abstrakte Arbeitskraft voraus, sondern besteht in einer Verbindung von persönlichen und funktionalen Beziehungen. In dieses Organisationsverständnis sind Geschlechterverhältnisse eingepasst: „Die Anzahl der Frauen, die sich mit ihrem Beruf identifizieren und viel Engagement in ihre persönliche und fachliche Qualifizierung investieren, nimmt stetig zu. Es ist erfreulich zu sehen, dass sich dieser gesellschaftliche Trend auch in unserem Unternehmen fortsetzt. Diese positiven Entwicklun-
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gen zu unterstützen, hat sich das Koordinierungsteam ‚Frauen im modernen Konzern’ unter dem nebenstehenden Signum zum Ziel gesetzt.“ (2/1990) Die Entwicklung einer steigenden qualifizierten Frauenerwerbstätigkeit wird verknüpft mit den Konzepten und Begriffen der Identifikation mit dem Beruf, der Investition in die eigenen Bildung, Engagement und der Verknüpfung persönlicher mit fachlicher Qualifikation. Diese Konzepte bzw. Begriffe zielen in die gleiche Richtung wie die Darstellung der „Karriere“-Webseite 2005 (vgl. Kap. 5.4), hier konkretisiert über identitätsstiftende Funktionen von Beruflichkeit und Bildung (vgl. Kurtz 2002). Das Organisationsverständnis ist durch die Einbindung des Differenzierungskriteriums ‚Persönlichkeit’ geöffnet für diese Konzepte. Der konstatierte Wandel erscheint dabei nicht nur betont positiv konnotiert und als Fortschritt gewertet, sondern auch weder bezüglich seiner Ursachen noch ihrer positiven Bewertung erklärungsbedürftig. Damit erscheint ‚Individualisierung’ als institutionalisierte selbsterklärende und selbstverständliche Begründung für die Forderung im Titel des Artikels implizit. Für die hier explizierte Zielsetzung, diese Entwicklung zu unterstützen, resultiert daraus eine Konzeption von Gleichstellungspolitik, die eine Ausrichtung auf Frauen nicht mit Stereotypisierungen von Frauen verknüpft. Das ‚personenbezogene Datum’ Geschlecht wird vielmehr reduziert: Die jeweilige Persönlichkeit erscheint gerade nicht ‚geschlechtsspezifisch‘. Die Differenz zwischen Soll und Ist, die im Titel vermittelt wird, d.h. die Notwendigkeit von Gleichstellungspolitik, wird im ersten Absatz des Textes gefüllt, indem die MitarbeiterInnen-Befragung angeführt wird, nach der ein Drittel der Mitarbeiterinnen angab, „als Frau benachteiligt zu werden“ (2/1990). Als Schwerpunktthemen der zukünftigen Artikel werden in dieser Ausgabe Teilzeitmodelle, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Frauen in Führungspositionen benannt. Die bereits im Logo symbolisierte harmonische Verbindung von Weiblichkeit und Berufstätigkeit wird in den Artikeln fortgeführt. Unter dem Titel „Teilzeitangebote lassen Familie und Beruf besser miteinander verbinden“ (3/1990) wird eine Prokuristin mit einer Führungskarriere interviewt. Dem Interview ist eine kurze Stellungnahme der Abteilung beigefügt, in welcher der Vorgesetzte der Interviewten mehrere gute Gründe für die Einrichtung der Teilzeitstelle benennt. Die Prokuristin wird zunächst nach ihrem Werdegang und der Reaktion ihrer Mitarbeiter auf sie als weibliche Führungskraft befragt, bevor auf ihre Entscheidung für Erziehungsurlaub und Teilzeittätigkeit sowie die Erfahrungen damit eingegangen wird. Ihre Antworten erscheinen ‚bilderbuchmäßig’. Sie schildert eine ‚typische’ Karriere, bei der sie alle zwei bis drei Jahre die Stelle gewechselt hat und sich nun in einer verantwortungsvollen Tätigkeit befindet. Auch die Reaktionen ihrer Mitarbeiter, Kunden, Kollegen und Vorgesetzten ihr gegenüber schildert sie als durchweg beispielhaft und nicht anders als auf männliche Kollegen. In ihren
6.2 „eine Frage der Persönlichkeit“
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Antworten betont sie ihre Karriereorientierung und ihr ‚Commitment’ zum Konzern. Karriere zu machen stellt sich in diesem Interview für Frauen nicht weniger attraktiv und nicht weniger realisierbar dar als für Männer. Sie erscheint als emanzipierte Frau mit einem Ehemann, der mit ihr „die häuslichen Aufgaben“ teilt. Dabei ist sie durch die Selbstdarstellung als Mutter auch ‚ganz’ Frau und keine Rabenmutter, da sie sich „darüber im klaren [war], dass ich den Anforderungen durch Kindererziehung und Beruf nur mit einer Teilzeitbeschäftigung gerecht werden kann.“ Schließlich wird sie gefragt, welchen Rat sie anderen Frauen im Konzern geben würde, sie antwortet: „Niemals halbherzig bei einer Sache zu sein“ und referiert die Entwicklung des Fachkräftebedarfs so, „dass deren Geschlecht bei der Frage von Stellenbesetzungen immer mehr in den Hintergrund tritt“ (3/1990). Ihre emanzipatorische Orientierung greift die bestehende Geschlechterordnung nicht an, sondern resultiert aus ihren Veränderungen. Sie ist eine Vorzeigekarrierefrau, selbstbewusst als Fachkraft und als Frau. Diese Form der Gestaltung ist auch in den folgenden Ausgaben die häufigste. Jeweils werden ein oder zwei Frauen vorgestellt und zu einem Thema des Koordinierungsteams befragt, wobei zumeist auch dann der familiären Situation Platz eingeräumt wird, wenn sie nicht Thema des Artikels ist. Die Darstellungen produzieren ein Bild, genauer ein Vorbild, der ‚modernen Frau im modernen Konzern’, bei dem Karriere und ‚ Frau-Sein’ eine harmonische Verbindung eingehen. Die individuelle familiäre Situation der vorgestellten Frauen tritt in den folgenden Jahren in den Hintergrund, insbesondere wenn diese nicht nur als erfolgreiche Arbeitskräfte, sondern auch noch über ihre Funktion in Gremien vorgestellt werden. Dies geht jedoch nicht damit einher, dass der Blick verstärkt auf Frauen als erfolgreiche Berufstätige gelenkt würde: Ein solcher Artikel trägt beispielsweise den Titel „Engagement über die Doppelbelastung hinaus“ (2/1992). Die Thematisierung einer Doppelbelastung wird also hier nicht mehr geöffnet durch Beispiele, die darstellen, dass eine emanzipierte Beziehung Doppelbelastung löst, der Ehemann bereit ist, seine erfolgreiche Gattin ebenso zu unterstützen wie traditionell andersherum oder Privat- und Berufsleben gar nicht als doppelte Belastung erlebt werden. Vielmehr wird jetzt die Verbindung von Privat- und Berufsleben bei Frauen als doppelte Belastung und somit als problematisch vorausgesetzt, auch wenn (oder gerade weil) das „Entgegenkommen unseres Konzerns, beides besser vereinbaren zu können“ insbesondere durch Teilzeit hervorgehoben wird (2/1992).111 Die Synthese von ‘Frau-Sein’ und Berufstätigkeit bricht also zunehmend an generalisierend formulierten Zuweisungen von Vereinbarkeit an Frauen auf: 111 Zwei Ausgaben zuvor wurde das Thema Teilzeitarbeit explizit als Thema für Männer und Frauen angesprochen („Der Trend, Erfüllung in der Arbeit in Einklang mit einem harmonischen Familienleben zu bringen, ist völlig geschlechterunspezifisch“ 4/1991) und implizit über die Frage der Mutterschaft gehoben, indem auch eine kinderlose Teilzeitkraft vorgestellt wurde.
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
„Diese Position in diesem Beruf mit dieser Berufsauffassung – das ginge nicht gut als ‚Nebenjob’ neben Hausfrau und Mutter. Sondern wohl ehrlicherweise nur solo oder so ähnlich wie bei ihr: in einer partnerschaftlichen Ehe ohne Kinder.“ (2/1992) 1993 wird die Strichzeichnung des oben genannten Logos durch ein Foto einer jungen Frau mit lockigen Haaren und V-Ausschnitt abgelöst. Das Bild ist insgesamt auf natürliche junge Weiblichkeit eingestellt. Verweise auf Berufstätigkeit finden sich hier keine mehr. Damit deutet sich in der Differenz der Logos eine verstärkte Grenzziehung zwischen Geschlechterdarstellungen an, die mit Stereotypisierungen von Weiblichkeit und evtl. auch einer kontrastiv gesetzten Männlichkeit einhergehen könnte. Auch in den Texten verstärken sich Essentialisierungen von ‚Frau-Sein’. Es werden erstmalig ‚weibliche’ Führungskompetenzen genannt: „Frauen gehen meiner Erfahrung nach sehr offen in eine Lernphase. Sie hinterfragen viel und können auch mal zugeben, dass sie etwas (noch) nicht wissen. Sie sind einfühlsam und gehen meist locker auf andere Menschen zu.“ (4/1993) Einfühlsamkeit und kommunikative Fähigkeiten werden (von Frauen und Männern) Frauen zugeschrieben und als ihre „Erfolgsgeheimnisse“ gewertet (4/1994; 4/1995). Entsprechend der Zeit (vgl. Gildemeister 2007) wird dies der ‚weiblichen Sozialisation’ ebenso wie ‚Frauen an sich’ zugeschrieben. ‚Die’ Differenz zwischen Männern und Frauen wird hier nicht nur als gegeben beschrieben, sondern mit dem „Sameness-Taboo“ (Rubin 1975) verfestigt, denn „Frauen sollten authentisch bleiben. Frauen haben es nicht nötig, männliche Verhaltensweisen ‚abzukupfern“ (4/1995).112 Die zunehmend generalisierte Zuschreibung von Vereinbarkeitsproblemen an Frauen und die zunehmend essentialisierende Betonung von Weiblichkeit gehen wie im zweiten Logo bereits angedeutet mit einem veränderten Verständnis des Verhältnisses von ‘Frau-Sein’ und Berufstätigkeit einher. Die im Logo sichtbare ‚Entberuflichung’ durch die Betonung von Femininität zeigt sich dabei als eine Dimension eines mehrschichtigen Prozesses. Eine weitere zeigt sich insbesondere im Vergleich der Symposien von 1991 und 1995. 112 Diese Sicht wird nicht unkritisch stehen gelassen: „typisch weibliche oder typisch männliche Eigenschaften“ werden mit Rückblick auf das 2. Symposion auch als „Vorurteile und Klischees“ bezeichnet. Das Koordinierungsteam meint, diese ‚Typiken’ bestünden „zwar offensichtlich in den Köpfen, in der Realität dominiert jedoch die ‚gute Mischung’“ und der satirische Kommentar erklärt: „wobei wir immer wieder erschüttert sind, wenn eine Frau nur deshalb etwas geworden ist, weil sie am besten die männlichen Eigenschaften eingesetzt hat.“ (2/1996)
6.3 „Typisch Mann? Typisch Frau?“
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6.3 „Typisch Mann? Typisch Frau?“ Im Mai 1991 findet das erste Symposion zur Chancengleichheit statt unter dem Titel „Die Zukunft des Konzerns – nach Schema ‚F…’? – Frauen im modernen Konzern“. Die Auslassung erfolgt hier nur des Wortspiels wegen und ist im Kontext des Untertitels klar als „Frau“ identifizierbar. Die Frage eröffnet nicht nur die Option, dass es nach Geschlecht differierende Strukturierungsformen geben könnte, sondern auch, dass eine Frauen ‚entsprechende’ Struktur die Zukunft des Konzerns gestalten könnte. Hier wird also nicht die Frage gestellt, ob oder wie Frauen ‚integriert’ werden könnten, sondern es wird die Möglichkeit eines Strukturwandels durch Frauen angesprochen.113 Zu diesem Symposion wurden ausschließlich Frauen geladen. In der Einladung heißt es: „1991 werden wir uns stärker der Situation der aktiven Mitarbeiterinnen114 im Konzern zuwenden. Dabei ist es zuerst einmal besonders wichtig, Meinungen und Bedürfnisse von Frauen in der Profit-AG kennenzulernen, damit wir von Anfang an den richtigen Weg einschlagen können.“ (2/1989) Die VeranstalterInnen des Symposions setzen demnach nicht voraus, ‚die’ Frau und ihre Bedürfnisse zu kennen, sondern gehen implizit von einer Pluralität von Meinungen und Bedürfnissen unterschiedlicher Frauen aus. Aus diesen, so die Annahme, ergeben sich Handlungserfordernisse in der Gestaltung der Gleichstellungsarbeit.115 800 Mitarbeiterinnen bewarben sich auf die 60 Plätze dieses Symposions. Da die Teilnehmerinnen nach einer breiten Fächerung von Arbeitsstätten und Funktionen ausgesucht wurden, scheinen Vorhandensein und Pluralität der Bedürfnisse von Mitarbeiterinnen an ihren Stellenerfordernissen festgemacht zu werden: Die Beruflichkeit wird – wie bereits im damaligen Logo verbildlicht – zu einem wesentlichen Charakteristikum von ‚Frau-Sein’ und dementsprechend führen hier verschiedene Berufe zu einer Pluralität weiblicher Identitäten. Die angebotenen fünf Workshops behandelten die Themen „Frauen in Führungspositionen“, „Frauen in der Weiterbildung“, „Frauen in Beruf und Familie“, „Frauen in Werbung und Öffentlichkeitsarbeit“ und „Frauen als Kundinnen des 113 Die recht hohe Bedeutung dieses Symposions im Konzern, lässt sich anhand der zu den abendlichen Diskussionen geladenen Gäste darstellen: der Personalvorstand, eine Mitinhaberin einer Unternehmensberatung, hochrangige Führungskräfte auch aus der Personalabteilung und Mitglieder von Gremien wie dem Betriebsrat. Zudem wurden Folgeveranstaltungen an den verschiedenen Standorten angeboten, bei denen Teilnehmerinnen des Symposions die Ergebnisse präsentierten. 114 Als inaktive MitarbeiterInnen werden Mitglieder in Elternzeit bezeichnet. Für diese wurde ein Wiedereingliederungsprogramm geschaffen (vgl. Kap. 9.2). 115 Hiermit wird also das vollzogen, was Riegraf (1993) als Desiderat sieht: die Bedürfnisse von Mitarbeiterinnen zu erheben, statt sie als bekannt vorauszusetzen.
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
Konzerns“ Mit dem Thema Weiterbildung wird auf die individuelle berufliche Entwicklung abgehoben. Die Formulierung „Frauen in Führungspositionen“ beschreibt dies ebenfalls, zeigt aber auch Auswirkungen auf die demographische Struktur des Konzerns auf und verweist somit auf eine offensichtlichere Veränderung der Organisation. Ebenso zielt die Thematisierung von Frauen in Werbung und Öffentlichkeitsarbeit und als Kundinnen des Konzerns auf eine Wahrnehmung der Präsenz von Frauen und auf eine Mitgestaltung nach ‚Schema Frau’ ab. Die Themen der Workshops zeigen also dem Titel entsprechend den Anspruch, dass die Organisation grundlegend und umfassend durch Frauen verändert werde. Im Oktober 1995 werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum 2. Symposion „Come together – Zusammenarbeit von Männern und Frauen im Unternehmen“ eingeladen. 25 Männer und 36 Frauen nehmen an folgenden Workshops teil: „Vereinbarkeit von Beruf und Familie – nicht nur für Mütter“, „Die Vorgesetzte / der Vorgesetzte“, „Der Kunde / Die Kundenbetreuerin – oder umgekehrt?“, „Typisch Mann? Typisch Frau?“ „Und wie sieht Ihre Planung aus?“ Auch hier weist das Themenspektrum eine umfassende Erarbeitung des Themas auf. Allerdings weist schon die Listung eine andere Ordnung auf. Karrieren (von Frauen) stehen nicht mehr im Vordergrund, sondern werden im letzten Workshop angesprochen. Die Erweiterung des Blickwinkels von Frauen auf beide Geschlechter neutralisiert nicht die Geschlechtszugehörigkeit, sondern grenzt die Geschlechter voneinander ab. Der Workshoptitel im ersten Symposion „Frauen in Familie und Beruf“ öffnet eine Diskussion zu Rollen von Frauen in diesen Feldern entsprechend der oben gezeigten als individuell gerahmten Gestaltungsmöglichkeiten. Nun wird über den Begriff der „Vereinbarkeit“ eine notwendige Synthetisierung hergestellt. Die Formulierung, dass das „nicht nur“ Mütter beträfe, legt vorab fest, dass Mütter eine solche Synthetisierung zu leisten haben. Die zunehmende Schließung gegenüber individualisierten Konzepten über eine Festschreibung der Geschlechterdifferenz wird auch daran deutlich, dass statt der Frage nach Darstellungen von Frauen in Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, auf in Typiken reproduzierbare Geschlechterdifferenzen rekurriert wird (vgl. „Typisch Mann? Typisch Frau?“). Während im ersten Symposion auf das Verhältnis zwischen Mitarbeiterinnen und Konzern abgehoben wird, eine Veränderung der Organisation durch Frauen als Arbeit in der und für die Organisation gerahmt wird, erscheint das zweite Symposion sich auf Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zu beziehen. Die verstärkte Aufmerksamkeit auf (potentielle) Unterschiede zwischen zunehmend generalisiert gezeichneten Männern und Frauen drängt die Bedeutung der Berufstätigkeit in den Hintergrund und lässt Veränderungsprozesse organisationaler Strukturen außen vor. Die Organisation erscheint so als festes Gehäuse eines in ihr statt-
6.3 „Typisch Mann? Typisch Frau?“
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findenden, unterhaltsam116 aufzubereitenden Vergeschlechtlichungsprozesses von Organisationsmitgliedern – auch jenseits ihrer Mitgliedschaft. Eine weitere Tendenz zeichnet sich in diesen Jahren ab. In der 3. Ausgabe 1992 wird die Umsetzung des Wiedereingliederungsprogramms in die Breite der Organisation thematisiert. Hierzu wird auch ein Vorgesetzter befragt, der einer in der Familienphase befindlichen Frau einen Heimarbeitsplatz einrichtete, so dass sie Vertretungen übernehmen konnte. Er erklärt ihren Einsatz gegenüber der „Mobilen Einsatzgruppe“ als vorteilhaft. Er resümiert: „Insgesamt kann einer Betriebsstätte nichts Besseres passieren, als wenn sie ständig eine Mitarbeiterin ‚in Reserve’ hat, die auch bei Urlaubsvertretungen, Krankheiten und Engpässen relativ schnell und glatt einspringen kann.“ (3/1992) Eine solche Flexibilität ist nicht vereinbar mit der durchgängigen Berufstätigkeit eines ‚Familienernährers’. In diesem Satz ist daher auch die Rede von einer Mitarbeiterin statt des sonst verwendeten generischen Maskulinums: Ausschließlich bei weiblichen Arbeitskräften erscheint eine solche ‚Reservesituation’ naheliegend. Hier verbindet sich die oben gezeigte Gewichtsverlagerung von der (übergeschlechtlichen) Berufstätigkeit zur Relevantsetzung von Geschlecht mit einer Abwertung weiblicher Berufstätigkeit und einer expliziten Betonung der Nützlichkeit der Maßnahmen für den Konzern. In den Heften 3/1990 bis 4/1991 wurde ein Nutzen nur am Rande erwähnt. In der Ausgabe 1/1992 wird er erstmalig zu einem eigenen Thema unter dem Titel: „Teilzeitarbeit: Flexible Lösungen können für Mitarbeiter und Konzern vorteilhaft sein“. Insgesamt lassen sich folgende Tendenzen zusammenfassen: eine generalisiertere implizite Setzung, Frauen seien für Familie zuständig; eine verstärkte Essentialisierung von Geschlecht, wobei ‚Frau-Sein’ und ‚Beruflichkeit‘ auseinanderdriften und Frauenerwerbstätigkeit im Zuge dessen marginalisiert wird; weg von einem Organisationsverständnis als Gegenstand von Geschlechterverhältnissen und damit verbunden eine Tendenz Organisation als unabhängig von Geschlechterverhältnissen zu betrachten; eine zunehmende Orientierung auf einen unternehmerischen Nutzen der Gleichstellungspolitik. 116 Statt einer Podiumsdiskussion wird 1995 eine „Talkshow mit ‚Profit-AG-Prominenten’“ geboten, nun moderiert durch eine bekannte Fernsehmoderatorin und mit Kabarett-Programm gerahmt. Zu den internen „Prominenten“ zählen wiederum der Personalvorstand, eine Direktorin, aber auch eine Nachwuchsführungskraft und der einzige Mann in Erziehungsurlaub.
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
6.4 „Zusammenarbeit von Frauen und Männern“ Diese Tendenzen verstärken sich noch mit der Ablösung des Projekts „Frauen im modernen Konzern“ durch „Konsens“ 1998. Zum Einen werden die Geschlechter noch deutlicher polarisiert. Wurde in der nachträglichen Dokumentation des Symposions 1995 noch auf die „gute Mischung“ von ‚typisch weiblichen’ und ‚typisch männlichen’ Eigenschaften in den einzelnen Personen Bezug genommen und als ein Ergebnis festgehalten, dass es sich bei solchen Eigenschaften um Zuschreibungen handle (vgl. Fn.112), suggeriert 1998 die Darstellung dieses zweiten Symposions, dass in den Workshops Unterschiede zwischen Männern und Frauen festgestellt wurden: „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter untersuchten zwei Tage lang vor allem männliches und weibliches Führungsverhalten, typische Situationen zwischen Frauen und Männern im Vertrieb sowie unterschiedliche Sprach- und Verhaltensweisen.“ (3/1998)117 Zum zweiten erfolgt eine Feminisierung: Es wird zwar betont, dass sich immer mehr Männer den Themen, die Chancengleichheit betreffen, „nähern“ (ebd.). Entgegen der Rhetorik sind jetzt jedoch nur noch Frauen als Multiplikatorinnen tätig, während sich vorher sowohl im Koordinierungsteam, als auch bei den GebietskoordinatorInnen Frauen und Männer fanden. Der dritte Unterschied liegt in der inhaltlichen Schwerpunktsetzung. Statt „Familie und Beruf“, „Teilzeit“ und „Frauen in Führungspositionen“ heißt es nun: „Frauen im modernen Konzern: Angebote, die Mitarbeiterinnen in ihrer beruflichen Entwicklung unterstützen“ „Zusammenarbeit von Frauen und Männern: Angebote, die über die zwischenmenschlichen Aspekte informieren, sensibilisieren und zum Umdenken anregen“ „Familie und Beruf: Angebote, die Betriebsangehörige in der Familienphase unterstützen.“ (ebd.) Der zweite Aspekt ist neu hinzugekommen, demnach die Zusammenarbeit von Frauen und Männern für das Team von „Konsens“ eine notwendig zu bewältigende Aufgabe darstellt. In den Interviews, die das Projekt „Frauen im modernen 117 Der Rückgriff auf ‚ weibliches Verhalten’ dient auch zur Beantwortung der Frage: „Was hindert Frauen daran, den gleichen beruflichen Weg wie Männer einzuschlagen? Aus unserer Sicht ist es eine Mischung aus persönlichen und familiären, unternehmensspezifischen und sozialisationsbedingten Gründen, die in unterschiedlich starker Ausprägung hemmend wirken“ (3/1998).
6.4 „Zusammenarbeit von Frauen und Männern“
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Konzern“ zu Beginn in der Hauszeitschrift veröffentlichte, wurde durchgängig die Zusammenarbeit zwischen männlichen und weiblichen Kollegen als unproblematisch dargestellt (vgl. Kap. 6.2), Frauen in verantwortungsvollen Positionen erklärten, nicht anders behandelt zu werden als ihre männlichen Kollegen. Die Zusammenarbeit wird also nun im Vergleich problematisiert. Dabei scheinen MitarbeiterInnen nun über zwischenmenschliche Aspekte zwischen Männern und Frauen informiert werden zu müssen, was in einer heteronormativen Gesellschaft irritiert. Damit entspricht es zum Einen dem aufgezeigten Trend der Essentialisierung: Männer und Frauen werden nun als so unterschiedlich dargestellt, dass sie, plakativ formuliert, sich nicht verstehen. Zum Anderen lässt sich hinter dieser Formulierung eine veränderte Situation in der Profit-AG vermuten, in der „zwischenmenschliche Aspekte“ zwischen Männern und Frauen de facto problematischer wurden im Laufe der Jahre und dies nun aufgefangen werden muss. So kann nach Yoder (1991) ein rasant ansteigender Frauenanteil in Organisationen zu vermehrten Abgrenzungsprozessen von Seiten der dominierenden Gruppe der Männer führen.118 Gleichstellungspolitik im Rahmen des Projektes „Konsens“ kann dann auch die Funktion erfüllen, diese Grenzziehungsprozesse thematisierbar zu machen, sie im Rahmen einer geschlechtsindifferenten, ‚rationalen’ und nur nach dem Leistungsprinzip diskriminierenden Organisation zu enttabuisieren. Auf die Problematisierung und die Möglichkeit, das Problem durch die Gleichstellungspolitik thematisieren zu können, weist auch der vierte Unterschied hin. Der neue Name wird in der Hauszeitschrift folgendermaßen begründet: „Weil Konsens wörtlich unterstreicht, dass es sich beim Thema Chancengleichheit um einen Prozess handelt, in dem beide Seiten – Frauen und Männer, Mütter und Väter, Arbeitnehmer/innen und Konzern – nach fairen Lösungen suchen.“ (3/1998) Wie dargestellt wurde seit Beginn der 1990er Jahre auf die Vorteile des Konzerns durch Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen und Männern hingewiesen. Dabei entstand der Eindruck, dass die Bedürfnisse des Konzerns und die verschie118 Die Daten stützen die Vermutung: Der Frauenanteil im außertariflichen Bereich stieg zwischen 1989 und 2003 von 3% auf 23%. Seit 1993 stieg dabei die Zahl der Beschäftigten insgesamt nicht mehr kontinuierlich an. Bis 1995 einschließlich erhöhte sich der Anteil der außertariflich Bezahlten zwar, während sich der Anteil der Tarifbeschäftigten reduzierte, zwischen 1995 und 2000 stagnierte dieser Prozess jedoch. Kosteneinsparungsmaßnahmen führten zudem regelmäßig zu Stellenabbau, dem weit verbreiteten Trend entsprechend wurde das mittlere Management ‚verschlankt’, und durch Nearshoring, Outsourcing und im Zuge des Börseneinbruchs entstandene Unsicherheiten könnten Prozesse des „Boundary Heightening“ (Kanter 1977) zudem noch verstärkt haben. In diesem Kontext kann auch die im Jahr 2000 beginnende organisationsöffentliche Thematisierung von Mobbing gesehen werden (vgl. Kap. 8.1).
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
denen Belange von Frauen, die bei „Frauen im modernen Konzern“ berücksichtigt wurden, harmonisch ineinander gefügt waren. Nach „fairen Lösungen“ suchen zu müssen, widerspricht dem Gedanken, dass „Konsens“ bestünde oder bestehen könnte. Vielmehr entspricht es einem Kompromiss. Es impliziert, dass hier nichtharmonisierende Wünsche und Bedürfnisse erst aufeinander abgestimmt und dabei auch Abstriche gemacht werden müssen. Die Entwicklung ab Ende der 1980er Jahre bis zur Jahrtausendwende zeigt sich zusammengefasst folgendermaßen: Geschlecht wird von einem mit einem Kleidungsstück gleich gesetzten äußerlichen Merkmal zu einem stereotypisierten, auch aufgrund „geschlechtsspezifischer Sozialisation“ essentiellen Bestandteil von Personen. So wird die auf einem rationalen Verständnis von Organisation fußende Offenheit gegenüber FunktionsträgerInnen, die jenseits von Geschlecht gewertet wurden, gegenüber nun vergeschlechtlichten Personen geschlossen. Damit gehen eine Abwertung der Berufstätigkeit von Frauen (vgl. „Reserve“) und eine ökonomisierte Legitimierung für Gleichstellungspolitik einher. „Schema F…“ zeigt sich nun als stereotypisierende und essentialisierende Fassung von ‚Frau-Sein’ und wird von organisationalen Strukturen getrennt verhandelt. Die Option „Die Zukunft des Konzerns – nach ‚Schema F…’?“ erscheint ausgeschlossen. 6.5 „bei uns ist es nicht das Thema Chancengleichheit, bei uns ist es das Thema Diversity“ 2000 geht das Projekt Konsens in „Diversity“ auf. Aus der vorhergehenden Analyse lässt sich die Frage anschließen, inwiefern sich diese Eingliederung der Gleichstellungspolitik in Diversity Management auf das Verhältnis zwischen einer Geschlechterkonzeption und der Organisation auswirkt: Kommt es (wieder) zu Pluralisierungen von Frauen- und Männerbildern und wird so Essentialisierungen entgegengewirkt? Werden andere Kategorien sozialer Differenzierung Geschlecht überlagern und in den Hintergrund rücken? Fungiert ‚Diversity’ als ein neues ‚Bindeglied’ zwischen Organisation und Geschlecht? Und wenn ja, ist es dann überhaupt neu angelegt oder zeichnet sich hier vielmehr eine „rhetorische Modernisierung“ (Wetterer 2003) einer bereits da gewesenen Konzeption ab? Im Interview mit der Diversity-Teamleiterin finden sich hierzu erste Antworten: I: „Sie haben es ja schon ein bisschen angesprochen, was gehört denn zum Thema Chancengleichheit alles dazu.“ Wagner: „Also bei uns ist es nicht das Thema Chancengleichheit, bei uns ist es das Thema Diversity. (...) Diversity heißt, dass man dem Menschen so wie er ist mit all seinen Unterschiedlichkeiten Respekt entgegenbringt,
6.5 „bei uns ist es nicht das Thema Chancengleichheit, bei uns ist es das Thema Diversity“
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Wertschätzung, aber das klingt alles so esoterisch, letztendlich steckt dahinter die Einstellung, dass unsere Kunden und Kundinnen auch sehr unterschiedlich sind und ein passendes Gegenüber haben wollen. Es steckt die Idee dahinter, dass man Produkte dann besser entwickeln kann, wenn man sein Gegenüber richtig gut einschätzen kann, das können nicht nur – um’s jetzt mal schwarz-weiß zu machen –Männer Mitte dreißig sach jetzt mal mit Familie, ein Laden muss bestehen aus älteren und jüngeren Mitarbeitern, muss aus Männern und Frauen bestehen, sollte heute auch international aufgestellt sein und und und,“ (Interview Wagner) Die Antwort zielt wie der Artikel (2/1990) des Koordinierungsteams auf Persönlichkeiten ab (vgl. „dem Menschen (...) mit all seinen Unterschiedlichkeiten“), geht aber mit den Begriffen Respekt und Wertschätzung über die dort benannte „Akzeptanz“ hinaus. Allerdings wird dies wieder ein Stück weit zurückgenommen, indem diesen Begriffen der Anstrich des Esoterischen zugeschrieben wird. Die Abgrenzung davon wird nun mit der Orientierung auf die Kundschaft geleistet: Diese wollen „ein passendes Gegenüber“. Damit wird implizit die Gleichwertigkeit (vgl. „Wertschätzung“) heterogener Menschen zurück gestellt hinter Homogenität, die zwischen Kundschaft und „passende[m] Gegenüber“ hergestellt wird. In der Hauszeitschrift wird die Einführung von Diversity nicht thematisiert. Die bis dahin in jeder Ausgabe zu findenden Beiträge der vorherigen Projekte fallen einfach weg. Stattdessen finden sich in unregelmäßigen Abständen Themen der Gleichstellungspolitik unter dem Stichwort „Personal“. Eine Forcierung gleichstellungspolitischer Bestrebungen durch Diversity Management ist in diesem Medium somit nicht wahrnehmbar. Das Gegenteil scheint der Fall. Erst 2004 wird „Diversity“ zu einem eigenen Thema in der Hauszeitschrift. In der Herbstausgabe ist es Titelthema, hier sind ihm drei doppelseitige Artikel gewidmet. Auf dem Titelblatt wird das Thema mit „Diversity: Vielfalt leben“ eingeführt. Der Begriff Diversity wird somit nicht als allgemein verständlich vorausgesetzt, sondern durch die deutsche Übersetzung von Diversity erläutert. Die Formulierung „Vielfalt leben“ erscheint hier diffus. Eine nähere Erläuterung ist notwendig und man erwartet, dass das Titelbild Aufschluss bietet. Auf dem Titelblatt sind drei Frauen zu sehen, die mit angewinkelten Knien auf einem Teppichboden sitzen. Ihre Hände sind wie eine schützende Geste vor den Knien übereinander gelegt. Sie sitzen wie ein dreiblättriges Kleeblatt Schulter an Schulter eng aneinander, so dass der Bezug zueinander ein ‚Schulterschluss’ bzw. ein ‚Schulter an Schulter kämpfen’ – wie bei den drei Musketieren – scheint. Alle drei Frauen blicken in die Kamera, die sie aus der Vogelperspektive einfängt. Sie wirken mitteleuropäisch mit hell- bis dunkelblonden Haaren und sind dem Aussehen nach im Alter zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig. Keine der drei
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
Frauen erscheint auffällig groß, klein, dick oder dünn. Sie sind in braunen Anzügen gekleidet, die sich allein in den Farbnuancen unterscheiden. Hierzu tragen sie Oberteile und Accessoires, die in ihren Farben dezent und harmonisch wirken. Sie sind ebenso geschminkt, tragen eine kurze bis kinnlange Frisur, die weiblich aber nicht erotisch oder jugendlich wirkt, und Schmuck, der unauffällig ist. Die von ihnen verkörperte Weiblichkeit ist dezent, nicht sexuell konnotiert und harmoniert mit der Verkörperung von Seriosität. Zusammen wirken die Frauen sehr aufeinander abgestimmt: Die farbliche Absetzung der Bluse oder des Schals erfolgt jeweils passend zur Augenfarbe, die Helligkeit des jeweiligen Brauntons des Anzugs entspricht der graduellen Abstufung ihrer Haarfarbe. Sie wirken aufgrund der Ähnlichkeiten wie Nuancierungen ein und desselben Frauentypus. Die Sitzposition auf dem Boden erscheint geschlechtsneutral, relativ bequem und unkompliziert, aber entspricht nicht der gängigen Sitzhaltung in einer Wirtschaftsorganisation. Bei den drei Frauen ist das Sitzen auf dem Boden jedoch nicht so irritierend, wie es bei Vorstandsmitgliedern wäre. Dort würde es übertrieben ungezwungen und somit falsch wirken. Bei diesen Frauen mutet die Ungezwungenheit im Kontext eines gestellten Fotos locker, fröhlich und ‚sportlich’ an.119 Die Titelseite erweckt den Eindruck, dass ‚Diversity Management’ in der Organisation verfolgt wird, indem es einem Team aus drei spezifischen Funktionsträgerinnen zugeordnet ist, wobei es nicht allzu ernsthaft dargestellt wird. Vielmehr wird das Thema weiblich, locker ohne unseriös zu werden, in sich – d.h. zwischen den Frauen – sehr harmonisch und einhellig, sowie relativ macht- und daher eher harmlos verbildlicht. Indem „Diversity“ nicht über den Gegenstand der Vielfalt sondern über die Abbildung der Funktionsträgerinnen vermittelt wird, wird es so (ausschließlich) an ihre Tätigkeit gekoppelt. „Vielfalt leben“ erscheint hier z.B. als Formulierung ihres Erfolgs, als Beschreibung ihrer Aufgabe oder als ein Werbeslogan mit dem sich das Team als Dienstleister gegenüber Kundschaft präsentiert. Anders gesagt: Diversity scheint durch diese Funktionsträgerinnen geleistet zu werden und gerade nicht – wie der Untertitel verhieß – von denjenigen, die als vielfältig gelten, (einfach) gelebt: z.B. von einer vielfältigen Belegschaft. 6.6 „Frauen und Männer mit ihren Stärken und Schwächen“ Wendet man sich nun den Artikeln dieses Titelthemas zu, wird man zunächst auf den Titel der ersten Doppelseite aufmerksam „Unter einem Dach – aber nicht auf einem Nenner“ (3/2004). Mit der Redensart ‚unter einem Dach’ wird zum Einen 119 Vorstandsmitglieder und andere hochrangige Führungskräfte werden dagegen in der Hauszeitschrift am Tisch sitzend, oder Standfestigkeit ohne ‚stehenzubleiben’ signalisierend, stehend, nach vorne orientiert abgebildet.
6.6 „Frauen und Männer mit ihren Stärken und Schwächen“
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die gemeinschaftsstiftende Gegebenheit des Konzerns, in der alle integriert sind, abgerufen. Sie besteht als eine Einheit. Hingegen auf die Mitglieder trifft dies nicht zu. Sie sind zu komplex, zu unterschiedlich, als dass ein gemeinsamer Nenner zur Beschreibung aber auch zum Miteinander gefunden werden könnte. Das Nebeneinander unter einem Dach besteht nicht in Form einer Gemeinsamkeit miteinander sondern in der Verbundenheit mit dem Konzern. Sie ist die Einheit (das Dach) über allen Gegensätzen. Die Unterschiedlichkeit erscheint somit nicht unproblematisch. Eigentlich wäre eher zu erwarten, dass sie gegenüber der Identifikation mit dem Konzern herunter gespielt würde. Stattdessen wird auch durch die Reihenfolge die Verschiedenheit hervorgehoben und als nicht gelöst, nicht konsensträchtig dargestellt. Die Tendenz zur Differenzierung und der Notwendigkeit zwischen nicht harmonisierenden sozialen Gruppen, wie dies bei Konsens für Männer und Frauen geltend gemacht wurde, zu vermitteln, wird hier verstärkt und auf weitere soziale Klassifizierungen anwendbar: Ein Bedarf an Diversity Management wird so bereits im Titel kreiert. Indem der Konzern als Dach dargestellt wird, ist er statisch gegenüber den in ihr stattfindenden Prozessen und muss es auch sein: Nur durch seine Statik kann er als schützendes und alle unter sich versammelndes Dach fungieren. Die Tendenz die Organisation als bloßen Rahmen zu fassen verstärkt sich somit ebenfalls. Es zeigt sich ein Organisationsverständnis, das die Abkopplung der Organisationsstruktur von sozialen Kategorisierungen notwendig erscheinen lässt. Dem Artikel ist nun ein größer gedruckter Vortext vorgeschaltet: „‚Diversity’ heißt Vielfalt. Gemeint ist die Vielfalt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in all ihren unterschiedlichen Eigenschaften und Eigenheiten. Unternehmen, die sie fördern, arbeiten produktiver. Diesem Ziel hat sich das Diversity-Team in der Personalabteilung verschrieben. Gefordert ist jedoch der Konzern als Ganzes und jeder Einzelne. Denn Vielfalt kann sich nur entfalten, wo Vertrauen, Toleranz und Chancengleichheit den Boden bereiten.“ (3/2004) Die Vielfalt wird auf Eigenschaften und Eigenheiten gemünzt. Damit werden sie zu personenbezogenen Daten und die Frage der Persönlichkeit spielt wie schon 1989 hier wieder eine Rolle, nun jedoch nicht in Bezug auf Rechte der Arbeitskräfte, akzeptiert und gefördert zu werden, sondern als Nutzen für den Konzern. Indem die zuvor als potentiell problematisch angesprochene Unterschiedlichkeit für das Unternehmen sinnvoll ist, wird sie ‚entproblematisiert’. Dass ein Konsens zwischen verschiedenen Gruppen hergestellt werden müsse, wie in dem Konzept des Projekts „Konsens“ angelegt, ist hier nicht mehr der Fall: Mangelnde Einigkeit erscheint hier gerade nicht als Mangel. Dies wird über zwei Aspekte getragen:
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
Funktionsstellen entlasten die Einzelnen von der Problematik der Unterschiedlichkeit und statt Einigung anzustreben, wird auf Vertrauen, Toleranz und Chancengleichheit abgehoben, d.h. auf ebenso diffuse, wie alltagsverständliche und normative Verhaltenserwartungen. Das Bild eines Hauses entsteht, in dem ein statischer schützender Rahmen von der Organisation bereitgestellt wird: das gemeinsame Dach. Das Fundament, der „Boden“ – ein fruchtbares Erdreich, auf dem sich Vielfalt „entfalten“ kann – besteht aus geteilten Werten, aus denen Verhaltensweisen und Handlungen resultieren, die dieser Hausgemeinschaft ermöglichen, Vielfalt zu „leben“. Das Hendiadyoin „Konzern als Ganzes und jeder Einzelne“ stellt dabei die Wände dar: „Jeder Einzelne“ verbindet „den Konzern als Ganzes“ mit dem Boden der Werte und trägt so das „Dach“ Profit-AG mit. Eine Kopplung von Organisation und Gleichstellungspolitik ist hierin also angelegt als Verbindung zweier analytisch getrennter Ebenen (Dach und Boden) durch Personal. Ein Bild (ein Plakat der Personalabteilung) springt beim Aufschlagen der Seiten besonders ins Auge: Dort sind drei Männer und drei Frauen einer Altersklasse, eines Kleidungsstils, einer Statur (groß und schlank) und in einer einheitlichen Körperhaltung (stehend, Hände locker vor dem Unterleib übereinander gefaltet) allerdings unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit und Haarfarben zu sehen. Die Frauen sind etwa gleich groß und ein gutes Stück kleiner als die Männer.120 Die Männer tragen stereotyp männliche, die Frauen stereotyp weibliche Frisuren und sind geschlechterdifferenzierend bekleidet. Ihre Beine sind von einem farbigen Balken verdeckt, in dem ein angenommenes Vorurteil beschrieben wird: Personen, die in dieser Branche arbeiten, „sind alle gleich“. Das Bild ist eine (ironische) Brechung mit dem Text in Hinsicht auf die ethnische Zugehörigkeit, aber auch zugleich bestätigend bezüglich der anderen Merkmale. In kleinerer Schrift steht „Frauen und Männer, die einen eigenen Kopf haben, bewerben sich“. Der „eigene Kopf“ ist ein Sinnbild für Eigenwilligkeit und Kreativität. Er steht hier für das, was die Personen in den Konzern einbringen: ihre individuelle Persönlichkeit, die über die Unterschiede herausgestrichen wird. Es ist nun nicht mehr „das Konzept“ (unpersönlich und geschlechtslos; vgl. 6.1), sondern eine Person, die auftritt und deren Geschlecht entsprechend relevant gemacht werden kann: Die Geschlechtszughörigkeit ist ‚am Kopf‘ ablesbar und wird über die Frisuren dichotom differenziert, aber über Ethnizität auch pluralisiert. Der Kopf – das heißt: das Denken – ist dabei auch das, was sie für einen ‚White-Collar-Job‘ im Konzern benötigen. Der Kopf steht damit zum Einen für eine Person/Persönlichkeit, zum Anderen aber auch für die Arbeitsleistung bzw. die Arbeitskraft. Da alle 120 Diese Differenz zwischen Frauen und Männern entspricht einer sozialen Konvention der Paarbildung, wonach Männer größer sein müssen, als die sie begleitenden Frauen (vgl. Goffman 1994).
6.6 „Frauen und Männer mit ihren Stärken und Schwächen“
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sechs Personen schlank, jung und nicht behindert sind, wird ihnen eine Annäherung an die ideale Verlebendigung der abstrakten Arbeitskraft, dem „disembodied worker“ (Acker 1990) dahingehend zugeschrieben, dass ihre Körper zunächst keine Probleme und Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit mit sich bringen, d.h. sie diesen auch ein Stück weit ‚vergessen‘ können. Die ‚Individualisierung‘ einerseits und die Abstraktion von körperlichen Bedürfnissen andererseits hebelt jedoch die in Text und Bild eindeutige Unterscheidung nach Geschlecht nicht aus. Im Gegenteil wird Geschlecht zum entscheidenden Differenzierungskriterium in der physischen Erscheinung und macht geschlechterdifferenzierende Konventionen relevant. Dies zeigt sich zum Einen an der Bekleidung: Während die Oberbekleidung bei den drei abgebildeten Frauen hinsichtlich der Schnitte und Farben verschieden erscheint, wirken die drei Männer mit Anzug, Hemd und Krawatte identisch gekleidet. Die Männer verbildlichen somit eine Norm der Arbeitskraft, von der die Frauen hier abweichen. Zu der Differenzierung zwischen Norm und Abweichung kommt über Statur und Anordnung der Personen auf dem Bild noch eine Relevantsetzung des Geschlechterverhältnisses hinzu: Die drei Frauen stehen in einem Dreieck angeordnet (vorne eine, hinten zwei) und werden von den drei Männern gerahmt (vorne ganz außen zwei und ganz hinten einer). So erweckt es den Eindruck, dass die Männer den Frauen Schutz bieten, was durch den kleineren und schmaleren Körperbau der Frauen gegenüber den Männern noch verstärkt wird. Die Körper von Frauen werden somit als Körper sozial relevant, denn „für die Frauen bedeutet diese [sich zu Männern ergänzende] Position auch Verletzlichkeit“ (Goffman 1994: 152). Die Zuschreibung einer ‚Geschlechtslosigkeit‘ (als Norm) und einer weitestmöglichen Annäherung an den „disembodied worker“ wird auf diesem Plakat so (wieder) nur für männliche Arbeitskräfte geltend gemacht. Hirschauer (1994) erörtert dies anhand der „Tätigkeiten und Umgangsformen“ von Männern und Frauen in männerdominierten Berufen: „Geschlechtsneutralität erscheint hier also auf Seiten der Männer als institutionell gesichertes Arrangement, auf Seiten der Frauen als eine Neutralisierungsarbeit, die einen stillschweigenden Obolus an die sexuierende Aufmerksamkeit des Umfeldes entrichtet: frau versichert es ihrer normalen Geschlechtszugehörigkeit, bevor sie auf deren Irrelevanz bestehen kann.“ (ebd.: 678f.) Bezogen auf das Plakat werden das institutionelle Arrangement von ‚männlicher‘ Geschlechtsneutralität einerseits und die Konzessionen von Frauen an ihre Sexuierung andererseits durch die abgebildeten Personen physisch präsent und somit sichtbar gemacht und zum Anderen mittels der Konstellation, die die heterosexuel-
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
le Paarbildung und die sich ergänzenden Funktionen von Männern und Frauen in Paaren abruft, „praktisch durchgeführt“ (Hirschauer 1994: 674). Geschlecht wird auch im weiteren Artikel der Hauszeitschrift nicht über Arbeitsaufgaben und -funktionen neutralisiert, sondern an ‚Merkmalsträgern’ festgemacht, polarisiert und jeder anderen Differenzierung vorgelagert: „was ist Diversity? (…) Die ‚Markenrechte’ gehören, wie so oft, den Amerikanern. Sie haben Vielfalt zum Programm erhoben. Ihre Überlegungen: Frauen und Männer mit ihren Stärken und Schwächen, Sicht- und Arbeitsweisen erarbeiten gemeinsam bessere Ergebnisse.“ (3/2004) Vielfalt ist hier durchgängig binär (vgl. „Frauen und Männer“, „Stärken und Schwächen“, „Sicht- und Arbeitsweisen“), was zusammen „bessere Ergebnisse“ erbringt. Vielfalt (in erster Linie als Geschlechterdichotomie) wird also in komplementären, per se gegebenen und vor allem nützlichen Unterschieden gedacht. Diese werden dann in ein Ungleichheitsverhältnis gesetzt, wie ein Mitglied des Diversity-Teams erklärt: „Die Chancengleichheit von Frauen in der Profit-AG hat auch in unserem Konzept einen besonderen Platz“ (ebd.). Die Offenheit der (damaligen) Webseite, in der Chancengleichheit Männer und Frauen gleichermaßen betrifft, wird hier geschlossen. Chancengleichheit erscheint als Angleichung von Frauen an die Stellung des als generell gesetzten Mannes und werden so als Abweichung von der Norm unter der Hand förderungsbedürftig gemacht. Nach Frauen werden Familie und Beruf, Generationen, „Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund“ und „aktive Väter“ benannt, sowie die MitarbeiterInnen-Initiativen aufgeführt (Frauennetzwerk, Homosexuellen-Netzwerk und der entstehende Zusammenschluss von Vätern.). Die Darstellung gruppiert also zunächst MitarbeiterInnen anhand von ‚Merkmalen’. Sie werden dann als diejenigen dargestellt, die „Anliegen“ haben und diese mittels der Initiativen in die Hand nehmen. Daran angeschlossen wird, dass „die Aussicht auf Erfolg zugleich mit der Akzeptanz bei den Kolleginnen und Kollegen [wächst]“ (ebd.). Die so geschaffenen Gruppen werden in dieser Aussage zu Betroffenen erklärt, die auf die Akzeptanz der dominanten Gruppe angewiesen sind: „Die Profit-AG ist alles andere als ein sturer Laden und Toleranz ist bei uns kein Fremdwort, (...) was aber nicht heißt, dass es uns immer gelingt, dem Anderen mit der wohlwollenden Anerkennung zu begegnen, die er verdient. Das dürfen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen, denn der Betroffene kann das auch nicht.“ (ebd.)
6.7 „Ist Diversity also ein Luxus?“
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Der Begriff „Toleranz“ statt „Respekt“ (Interview Wagner) verstärkt das Gefälle noch: „Betroffene“ werden den ‚Nichtbetroffenen’ unterlegen dargestellt. Über die oben genannten ‚Merkmale‘, die Gruppen schaffen und zu ‚Betroffenen’ machen, wird die Anzahl der ‚Dominierenden’ stark reduziert.121 Diversity Management zielt hier also nicht auf Gleichheit ab, sondern auf Differenzierung. 6.7 „Ist Diversity also ein Luxus?“ Entsprechend der Nützlichkeit der Unterschiede scheint Diversity Management ein ‚human ressource management tool‘ zu sein (vgl. auch Kap. 5.6). Betrachtet man erneut den Vortext des ersten Artikels schließt sich daran die Bedeutung des Teams an: „‘Diversity’ heißt Vielfalt. Gemeint ist die Vielfalt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in all ihren unterschiedlichen Eigenschaften und Eigenheiten. Unternehmen, die sie fördern, arbeiten produktiver. Diesem Ziel hat sich das Diversity-Team in der Personalabteilung Zentrale verschrieben. Gefordert ist jedoch der Konzern als Ganzes und jeder Einzelne. Denn Vielfalt kann sich nur entfalten, wo Vertrauen, Toleranz und Chancengleichheit den Boden bereiten.“ (3/2004; Herv. KKH) Die Nützlichkeit von Vielfalt wird an die Förderung derselben angeschlossen, welche den als „Diversity-Team“ bezeichneten und somit spezifisch für ‚Diversity’ zuständigen Funktionsträgerinnen obliegt. Indem das Team an den gleichen Zielen (Produktivitätssteigerung) arbeitet, wie alle MitarbeiterInnen, wird es in das ‚große Ganze’ eingebunden. Dies legitimiert das Team und macht es zu einem Gleichen unter Gleichen – zu Profit-AGlerInnen. Das Team „Diversity“ und das Thema „Diversity“ verleihen sich so wechselseitig Bedeutsamkeit. Es wird vermittelt, dass das Thema nicht nur ein abstraktes Leitbild ist, sondern würdig, Arbeitsauftrag eines Teams zu sein – also umgesetzt wird; und es bedarf eines ganzen Teams, um diese Aufgabe zu leisten, damit „Vielfalt leben“ funktionieren und produktiv eingesetzt werden kann. Diese wechselseitige Herstellung von Bedarf des Konzerns an Diversity und dem Diversity-Team zieht sich durch die weiteren Artikel und bestätigt sich. Das Team ist allerdings nicht nur mittelbar (d.h. über die Produktivitätssteigerung mittels Diversity) legitimiert, sondern legitimiert sich auch unmittelbar durch ‚Diversity Management’: 121 Auf die Gruppe „um’s jetzt mal schwarz-weiß zu machen – Männer Mitte dreißig sach jetzt mal mit Familie“ (Interview Wagner) und mit einer Frau, die die Familienarbeit leistet.
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
„’Wir arbeiten seit 15 Jahren kontinuierlich an Diversity, wenngleich auch unter anderem Namen. In dieser Zeit haben wir Einiges erreicht, nicht zuletzt für die Karriere der Profit-AGlerinnen’ erklärt Renate Leibnitz aus dem Diversity Team klar.“ (3/2004) Der Rückblick bietet die Möglichkeit der Evaluation: Vorweisbare Erfolge legitimieren das Team. Die Gleichstellungspolitik seit Ende der 1980er Jahre wird nicht nur unter Diversity subsumiert, sondern erscheint als Vorläufer. Dadurch wird zum Einen ein potentieller Schrecken genommen: Hat die Arbeit dieses Teams in den letzten 15 Jahren keine Störungen des Arbeitsalltags bedeutet, so wird dies auch in Zukunft nicht bedeuten, dass sich Arbeitskräfte auf veränderte Arbeitsbedingungen, mehr Kontrollen o.ä. einstellen müssen. Wie Managing Diversity ‚funktioniert‘, wird von der Diversity-Teamleiterin vermittelt: „Manchmal können zwei kleine Überlegungen helfen da [aus den Vorurteilen] herauszukommen. (...) Jeder ist anders! Wir sind doch alle stolz auf unsere Persönlichkeit. Das bedeutet aber zugleich, dass keiner wie der andere ist und zwar ganz unabhängig davon, ob wir Geschlecht oder Hautfarbe teilen oder nicht. (...) Jeder von uns ist viel mehr als das eine Merkmal, auf das wir ihn reduzieren: Der eine ist blind, hat aber Durchblick, der andere ist trotz Adleraugen mit Blindheit geschlagen. Der eine ist hell-, der andere dunkelhäutig, aber beide sind sie dünnhäutig.“ (ebd.) Die Formulierung „zwei kleine Überlegungen“ signalisiert, dass „Vielfalt leben“ ein Denk- und Lernprozess ist, der keine große Anstrengung bedeutet und von jedem zu leisten ist, der allerdings der Anregung bedarf. So werden alle in die gleiche Lage versetzt und dort abgeholt, wo sie stehen. Die „zwei kleinen Überlegungen“ funktionieren durch Abstraktion. Die erste Überlegung setzt auf die normative Bedeutung von Individualität, so dass sich alle – auch das Diversity Team (vgl. „wir“) – darin wieder finden. Zwischen ‚Betroffenen’ und ‚Nichtbetroffenen’ wird so ‚Gleichheit’ im Sinne von ‚different but equal’ hergestellt. ‚Die eigene Persönlichkeit’ wird hiermit zur Grundlage einer leicht zu vermittelnden Idee von ‚gelebtem’ Diversity. Die zweite „kleine“ Überlegung funktioniert, indem über die Verwendung von Metaphern Vielfalt (wie bereits bei Geschlecht) dichotom und komplementär gefasst wird, Komplexität also auf das schlichte Schema von A und Nicht-A reduziert wird. Dabei korrespondiert hier jeweils ein „Merkmal“, d.h. eine soziale Kategorie mit einer ‚Eigenschaft’ (vgl. „blind“ und „mit Blindheit geschlagen“). Empirisch sozial relevante Kategorisierungen werden dadurch rhetorisch in ihrer Bedeutung reduziert. Im gleichen Zuge werden ‚Charaktereigenschaften’ diesen nicht nur zu-, sondern an Bedeutung übergeordnet.
6.7 „Ist Diversity also ein Luxus?“
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Mit diesen zwei Anregungen zum ‚Umdenken’ bietet das Diversity-Team also gut ‚verdauliche’, einfach zu handhabende, professionell wirkende Ratschläge für den Umgang mit ‚Vielfalt’ und erweist sich in diesem Sinne als Expertinnen im Sinne Wetterers (2003). Für diese Expertinnen konstatiert Wetterer, dass sie im Zuge der Umstellung auf Gender Mainstreaming und Diversity Management ihre Funktion stabilisieren und legitimieren, indem sie einen Professionalisierungsprozess in Gang setzen, den Wetterer über drei grundlegende Aspekte darstellt: „- Sie profilieren sich als Expertinnen, indem sie nicht nur ein Fachwissen, sondern auch eine Fachsprache entwickeln, die signalisiert, dass sich ihr Expertenwissen erkennbar von dem Alltags- und Laienwissen der ‚normalen’ Gesellschaftsmitglieder unterscheidet. - Sie erbringen den Nachweis, dass ihr Wissen für andere anschlussfähig und von Nutzen ist, etwa indem sie zeigen, dass und wie ihr Expertenwissen zugleich der Förderung der Ziele derjenigen dient, denen sie ihre Dienste anbieten möchten. - Und sie sind bestrebt, unter Beweis zu stellen, dass das, was sie wissen und können auch für die Öffentlichkeit hoch bedeutsam und bei der Erreichung gesellschaftlich anerkannter Ziele und Werte von beträchtlichem Nutzen ist.“ (Wetterer 2003: 139) Die oben gezeigte strukturelle Verankerung des Teams bildet die Grundlage dieses Professionalisierungsprozesses (vgl. auch Fn. 122). Im nächsten Schritt wird ein Komplex von Fachwissen unter dem erklärungsbedürftigen Begriff „Diversity“ aufgebaut (vgl. auch Kap. 5.6). Das Wissen wird dann zum Einen anschlussfähig gemacht über die „zwei kleinen Überlegungen“ und zum Anderen wird demonstriert, dass ihre Leistung von Nutzen ist, indem sie subsumiert wird unter die Produktivitätssteigerung der Organisation. Der dritte Aspekt nach Wetterer (2003) ist bereits über die Thematisierung der „Chancengleichheit für Frauen“ und den Rekurs auf die diskriminierungsfreie Organisation gegeben. Der Nutzen des Teams erscheint in dem Artikel der Hauszeitschrift fraglos. Der Nutzen von Diversity wird trotz der genannten Produktivitätssteigerung noch einmal rhetorisch erfragt: „ist Diversity also ein Luxus, schön fürs Gewissen, aber schlecht fürs Geschäft?“ (3/2004) Bereits in der Frage ist der Anspruch an ‚Rationalität‘ im Sinne eines Kosten-Nutzenkalküls angelegt und wird in den Antworten des Personalvorstands, der Leiterin des Diversity-Teams, des Personalleiters und des Fachbereichsleiters, dem das Team Diversity unterstellt ist, bestätigt.122 122 Die Befragung der gesamten Führungslinie, der das Diversity-Team zugeordnet ist, bettet nicht nur das Team ganz konkret in die Organisation ein (wie ein Organigramm), sondern stellt vor allem eine Reihe von ‚ExpertInnen’ her. Diese vermitteln ein ‚Gesamtbild’ des ökonomischen Nut-
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
Auf der nächsten Doppelseite wird der Artikel folgendermaßen überschrieben: „Diversity ganz konkret - Wie die Profit-AG ihre Mitarbeiter unterstützt Diversity ist ein Programm zur Förderung von Chancengleichheit und Vielfalt – die Profit-AG bekennt sich dazu seit langem. Der bunte Strauß von Aktivitäten und Initiativen ist im Laufe der Jahre gewachsen. In zahlreichen Lebens- und Arbeitssituationen unterstützt der Konzern seine Mitarbeiter. Und nimmt auch heute, in Zeiten knapper Kassen, neue Projekte in Angriff.“ (3/2004) Der Begriff der „Unterstützung“ und der Verweis darauf, dass trotz „knapper Kassen“ die Profit-AG diese Unterstützung leistet, brechen sich mit der oben angeführten ökonomischen Nützlichkeit durch Diversity Management. Der Begriff der Unterstützung ruft gerade nicht produktivitätssteigernde Weiterbildungen oder zur Profitmaximierung notwendig erscheinende Maßnahmen ab, sondern verweist auf die Personen hinter den Funktionen.123 Die Begründung für die Förderung des Diversity Management wird hier aber nicht eingepasst in ein Verhältnis, in dem beide Seiten etwas davon haben,124 sondern verbleibt in einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von ökonomischer Nützlichkeit und kostenintensiver Zuwendung. Hierin zeigt sich noch einmal der dritte Aspekt, den Wetterer für die „GenderExpertinnen“ von Gender Mainstreaming und Diversity Management konstatiert: die Anschlussfähigkeit an gesellschaftliche Werte und Ziele. Das Personalmanagementtool ‚Diversity Management’ wird dem ökonomischen (und damit auf Kostenreduktion gerichteten) Gewand ein Stück weit – aber auch nur so weit – entkleidet, dass es den Anstrich einer sozialen Verantwortung des Arbeitgebers gegenüber den MitarbeiterInnen enthält (vgl. Kap. 5.8). ‚Unter der Hand’ wird Diversity Management so nachträglich wieder zur Gleichstellungspolitik erklärt (vgl. „Förderung von Chancengleichheit“) und so tritt an die Stelle der ‚win-win-Situation‘ für Arbeitskräfte und Arbeitgeber von 1992 eine ‚win-win-win’-Situation, in die Gesellschaft mit einbezogen ist: Dieser Einbezug umschließt die Lebenswirklichkeit der Mitglieder über ihre Arbeitsleistung hinaus (vgl. auch Kap. 5.8 und 10.6), zens von ‚Diversity Management’ durch sich ergänzende Aussagen sowie mit sich von ‚unten‘ nach ‚oben‘ erweiterndem Blickwinkel und ausdehnenden Kompetenzen. Als Belege bringen sie vor, dass heterogene Teams bessere Leistungen erbringen, unterschiedliche KundInnen individuelle, differenzierte Betreuung wünschen und es der Rekrutierung hochqualifizierter Nachwuchskräfte dienlich sei, denn „vielen Mitarbeitern ist ein gutes Betriebsklima wichtiger als das Gehalt, belegen Untersuchungen über die Attraktivität von Arbeitgebern.“ Vgl. auch die Legitimierung von Gleichstellungspolitik als Rationalitätsmythos in Kapitel 5.6. 123 Unterstützungen können z.B. Betriebsrenten oder Outplacement-Projekte sein. 124 Vgl. dagegen „Teilzeitarbeit: Flexible Lösungen können für Mitarbeiter und Konzern vorteilhaft sein“ (1/1992).
6.8 Organisation, Geschlecht und Gleichstellungspolitik
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betrifft den Menschen jenseits der Arbeitskraft (vgl. auch Lederle 2008) und fügt sich harmonisch in das als zukunftsträchtig beschworene Personalmanagement in der „Wissensgesellschaft“ (Meuser 2009: 101) ein: „Diese Trennung [von Person und Arbeitskraft] verliert in der Wissensgesellschaft an Bedeutung, es findet eine Subjektivierung von Arbeit statt (...) [die] ein neuer Modus der Rationalisierung [ist], in dem auf die ‚ganze Person’ zugegriffen wird, auf deren Kreativität, Spontaneität, Emotionalität und Sensualität.“ (Meuser 2009: 102) 6.8 Organisation, Geschlecht und Gleichstellungspolitik Diese Veränderung der Sichtweise auf die ideale Arbeitskraft kann auch die Verschiebung von der als geschlechtsneutral verstandenen abstrakten Arbeitskraft hin zu einer Idealisierung von ‚Vielfalt‘ erklären. Wurden Frauen und Männer zu Beginn der Gleichstellungspolitik noch weitgehend als gleich gesehen, so werden im Laufe der Entwicklung Unterscheidungen zunächst essentialisiert und die Ergebnisse problematisiert: Gemäß des Ideals der abstrakten Arbeitskraft wurden sie als Divergenzen zwischen Männern und Frauen sowie ArbeitnehmerInnen und Arbeitgeberin ‚Konzern’ aufgefasst (vgl. Kap. 6.4). Soll jedoch nun die Person ‚hinter‘ den FunktionsträgerInnen gezielt eingefangen werden, statt nur unerwünscht im Arbeitsalltag mit hineinzuspielen, sollen wie Meuser (2009) aufzählt „Kreativität, Spontaneität, Emotionalität und Sensualität“ produktiv gemacht werden, kommt eine unüberschaubare Bandbreite und Diffusität mit jeder an der individuellen Person festgemachten ‚Eigenschaft’ hinein. Um dieser Herr zu werden, erscheint die Kategorisierung ‚individueller Persönlichkeiten’ entlang an der Person festgemachter „Merkmale“ wie Geschlecht, Behinderung, Ethnizität etc. als ein naheliegendes Mittel, um Personalmanagement möglich zu machen. Essentialisierungen, wie die Zuschreibung nach Geschlecht unterschiedlicher „Stärken und Schwächen“ (Profitables 3/2004) als ‚(natur)gegebene‘ Unterschiede erhalten dann eine Funktion für Personalmanagement (vgl. auch Lederle 2008). Das in der Differenzierung eingelassene Statusgefälle zwischen verschiedenen ‚MerkmalsträgerInnen‘ könnte die Differenzierung nun problematisch erscheinen lassen. Es wird jedoch nicht problematisiert, sondern stattdessen mit der Aufforderung zu Toleranz und „Chancengleichheit für Frauen“ (Profitables 3/2004) reproduziert. Mittels Diversity Management kann so also die (auch hierarchische) Geschlechterdifferenzierung systematisch und quasi logisch in ‚rationale‘ Organisation eingelassen und zur Ressource erklärt werden.
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
Parallel und wechselseitig damit verbunden verändert sich ‚die Rolle‘, die der Organisation in der Gleichstellungspolitik zugeschrieben wird, von einem Gegenstand der Gleichstellungspolitik zu einem Schauplatz und mit der Schaffung der Funktionsstellen letztlich zum Anbieter von Gleichstellungspolitik. Mit obigem verbunden ist es zum Einen, weil Geschlecht umso mehr zu einem Merkmal von Personen und Interaktionen gemacht wird, je weniger es als Merkmal organisationaler Strukturen gilt und thematisiert wird. Je mehr dies erfolgt und je eher Organisation mit formalen Strukturen gleichgesetzt wird, die als festes Gerippe verstanden werden, das durch Personen nur ‚verlebendigt‘ werden soll (vgl. Gukenbiehl 1995), umso unabhängiger werden organisationale Strukturen von der Vergeschlechtlichung von Interaktionen und Personen gedacht. Organisationale Gleichstellungspolitik kann dann auch auf eine Service-Leistung reduziert werden, in der ‚Diversity Management’ über kleine Denkanstöße für den Arbeitsalltag unverbindlich – eben nicht über formale Vorgaben – erfolgt. Dieser Prozess, in dem sich das Verhältnis von Organisation zu Geschlecht und Gleichstellung verändert, hängt mit der formalen Einbettung von Gleichstellungspolitik zusammen: Indem Gleichstellung – zunächst unter anderem – als ein Thema des Personalmanagements dargestellt wurde, waren Personalvorstand und Personalabteilung hier legitimierte AkteurInnen, die dies auch angingen. Dadurch wurde es mit der Zeit aber immer mehr zu einem Thema des Personalmanagements, wozu ‚strukturelle Veränderungen‘ in der Organisation nicht gehören. Zunehmend als Thema des Personalmanagements verstanden, fielen dann auch nach und nach weitere AkteurInnen heraus bis es letztlich in der Personalabteilung zentralisiert wurde:125 Statt eines Netzes „sozusagen ehrenamtlich“ tätiger KoordinatorInnen aus den verschiedenen Fachbereichen der Personalabteilung und GebietskoordinatorInnen in der Breite der Profit-AG ist nun ein aus drei Frauen bestehendes, in einem Fachbereich der Personalabteilung verankertes, hauptamtliches Team zuständig. D.h. die formale Anpassung an organisationale Strukturierung geht mit einer geschlechtlichen Homogenisierung (genauer: Feminisierung), einer ‚Professionalisierung‘ und schlicht auch mit einer Reduktion der Verantwortlichen einher. Durch die Formalisierung änderte sich zudem die Zuständigkeit: Da zu Beginn niemand (überhaupt oder speziell) zuständig war, ist ein Zusammenspiel, wie Becker es beschreibt, zwischen Betriebsrat, Personalabteilung, Personalvorstand und Gewerkschaft eher nötig. Damit wurde Gleichstellungspolitik aber auch mit formaler Macht gefüllt. Die strukturelle Einbettung eines Teams auf mittlerer Ebene
125 Es entstanden parallel aber auch neue AkteurInnen: Netzwerke und der Betriebsratsausschuss für ‚Chancengleichheit, Familie und Beruf‘, die Gleichstellungspolitik wiederum als Aufgabenstellung ihren Funktionen anpassten (vgl. Kap. 8 und 10). Und es heißt noch nicht, dass Gleichstellung nur als Aufgabe von FunktionsträgerInnen verstanden wird (vgl. Kap. 7 und 8).
6.9 „Da erwischen Sie mich aufm falschen Fuß“
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bedeutet dementsprechend auch eine Reduktion von Macht, mit der gleichstellungspolitische Themen angegangen werden (können).126 Die wechselseitige Typisierung von AkteurInnen und Handlung weist Gleichstellungspolitik einen festen Platz in der formalen Struktur zu. Dieser macht Gleichstellungspolitik ein Stück weit zu einer objektiven Gegebenheit. Ebenso bedeutet die nachlassende Kommunikation auch, dass ein geringerer Legitimationsbedarf gesehen wird und entsprechend eine höhere Selbstverständlichkeit (zumindest in der Personalabteilung und der Redaktion der Hauszeitschrift), was sich besonders im Vergleich zwischen Chancengleichheit und Diversity Management zeigt: Diversity wird in dem Titelthema ausführlich und in jede Richtung legitimiert; „Chancengleichheit für Frauen“ (3/2004) und die langjährige Gleichstellungspolitik können bereits zur Legitimation von Diversity herangezogen werden. Die Verankerung in einer institutionalisierten Form bedeutet zum Anderen aber wegen ihres ‚festen Platzes‘ und der nachlassenden Kommunikation einen Rückzug organisationaler Gleichstellungspolitik aus der Präsenz im Konzern, was durch den erklärungsbedürftigen Namen des neuen Labels (vgl. „was ist Diversity?“; Profitables 3/2004) verstärkt wird. Daher stellt sich die Frage, inwiefern organisationale Gleichstellungspolitik, zumal unter dem Namen ‚Diversity‘, im Arbeitsalltag von Organisationsmitgliedern Tatsachencharakter hat, die nicht FunktionsträgerInnen der organisationalen Gleichstellungspolitik sind. 6.9 „Da erwischen Sie mich aufm falschen Fuß“ In Hinsicht auf das Konzept Diversity lässt sich die Frage recht einfach beantworten: Diversity Management hatte im Wahrnehmungshorizont der organisationalen Öffentlichkeit keinen ‚festen Platz‘. Im Gegenteil: Es hatte selten überhaupt einen Platz. Trotz des wenige Monate zuvor erschienen sechsseitigen Artikels war ‚Diversity‘ bei vielen Interviewten nicht bekannt, seltener noch gefüllt.127 Zu erwarten wäre, dass der Großteil derjenigen, die von Diversity-Maßnahmen angesprochen werden sollen, also die ‚Zielgruppen‘ von Diversity (z.B. AusländerInnen, Behinderte, Homosexuelle, Eltern) über Diversity informiert seien. Dies traf nicht zu,128 126 Dies heißt nicht, dass es keine Wege gibt, wie Themen der Gleichstellungspolitik ‚nach oben‘ durch dringen können. Die gibt es (vgl. Kap. 7.3; 8.2; 9.2 und 10.1). 127 Vgl. exemplarisch I: „Was bedeutet und beinhaltet für Sie ‚Diversity‘?“ Elise Vedder: „Weiß ich nicht. Hab ich so keine (.)“ I: „Keine Assoziation.“ Vedder: „Ne. Ne, kann ich nix zu sagen. So nicht jetzt so“ (Spezialistin einer Führungskraft der Ebene 1b).“ I: „Bekommen Sie irgendetwas mit, was das Team Diversity tut?“ Rickert: „Nein“ I: „Ne. Mhm.“ (Sachbearbeiter). 128 Vgl. exemplarisch: I: „Was bedeutet und beinhaltet für Sie ‚Diversity‘?“ Antonia Ricci: „Ich hör's eben zum ersten Mal (lacht).“ I: „Mhm. Was könnten Sie sich darunter vorstellen?“ Ricci: „Keine Ahnung? I: „Mhm.“ Ricci: „Was heißt des?“ I: „Diversity heißt äh Vielfältigkeit.“ (Assistentin;
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
ebenso wenig bei denjenigen, die unter Diversity subsumierte Maßnahmen in Anspruch nahmen, die sich Netzwerken anschlossen, auf Maßnahmen zur Vereinbarung von Familie und Beruf zurückgriffen, oder sich als Mentees oder MentorInnen beim Cross-Mentoring (vgl. Kap. 9.3.) beteiligten.129 Als Frage im Rahmen des Interviews zum Thema Gleichstellungspolitik wurde ‚Diversity’ durch die Interviewerin mit dem Thema Gleichstellung verbunden, was sich auch im Antwortverhalten spiegelte: I: „Was bedeutet und beinhaltet für Sie ‚Diversity‘?“ Angela Schlenker: „Ich kann da eigentlich relativ wenig zu sagen. Ich hab keine Kinder. Ich hab zwar nen Freund, aber der arbeitet auch viel, wobei ich da eigentlich nie diese Probleme hatte Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Die hab ich einfach nich. Von daher kann ich da natürlich wenig zu sagen, was das bedeutet.“ (Interview Schlenker; Führungsebene 4) Schlenker deutet das Thema Diversity im Sinne einer Vereinbarung von Beruf und Familie und daran anschließend als ein ‚Betroffenenthema’. Als Begründung, warum sie zu diesem Thema wenig sagen kann, erscheint ihr daher logisch (vgl. „natürlich“) und ausreichend, dass sie nicht betroffen sei.130 Nicht von Diversity betroffen zu sein, wurde jedoch nicht von allen Interviewten als legitime Begründung gewertet, um mit Diversity nicht vertraut zu sein:131 I: „Was bedeutet und beinhaltet für Sie ‚Diversity‘?“ Richard Hilvert: „Da erwischen Sie mich ma aufm falschen Fuß. Weil ich hab mich um 2002 damit beschäftigt, aber ich hab mich nicht intensiv damit auseinander gesetzt. Muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. [I: „Mhm.“] Weil äh äh äh, weiß ich nicht, was ham wa da denn alles drinnen gehabt, war da Ausländerin). I: „Aber so von der Arbeit des Teams ‚Diversity’ bekommen Sie da etwas mit?“ Torben Klose: „Is mir nix bekannt“ (Führungsebene 3; behindert). 129 Vgl. exemplarisch: I: „Was bedeutet für Sie der Begriff ‚Diversity’?“ Mentor 1: „Ähm, ich weiß noch nich so viel darüber, ich hab da son son bisschen was nur gehört, muss ich gestehen. Hab mich nich so intensiv drum gekümmert.“ (Führungsebene 2). I: „Inwiefern erleben Sie- oder bekommen Sie im Arbeitsalltag etwas von dem, was das Team ‚Diversity’ macht, mit, abgesehen von dem Cross-Mentoring?“ Mentee: „Eigentlich ehrlich gesagt gar nichts.“ (Führungsebene 4). 130 Vgl. ebenso: I: „Was bedeutet für Sie der Begriff ‚Diversity’?“ Ursula Mitsch: „Garnix. Hab ich mich nie mit beschäftigt. Weil ich eben (lacht) der Meinung bin, dass man als Frau nicht automatisch benachteiligt ist. Mhm.“ (Führungsebene 3). 131 Dies galt v.a. für höhereFührungskräfte: vgl Thieme: „A- am Alumnitag vor drei Jahren hatten wir einen Vortrag da drüber (lacht), eigentlich müsst ich was drüber wissen. Ähm, ‚Diversity‘ (2) unterschiedliche Kulturen, Ansichten und Personen in einem Unternehmen zu integrieren?“ (Führungsebene 2). I: „Wie bekommen Sie so im Arbeitsalltag mit, was äh das Team ‚Diversity‘ macht?“ Maren Krause: „Muss zu meiner Schande gestehen, nich so viel“ (Führungsebene 2).
6.9 „Da erwischen Sie mich aufm falschen Fuß“
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nicht auch [Kundinnenprogramm] und so weiter damit dabei und solche Geschichten? Ich ich weiß es nicht, also ähm äh da erwischen Sie mich aufm falschen Fuß. Kann ich im Moment nichts zu sagen, weil äh ich ich äh denke mir, dass äh ich dazu äh son son son Programm oder son Projekt nicht brauche, um das zu verinnerlichen. (lacht) Ja? Also, das überfliege ich, ja, okay, das nehm ich auch zur Kenntnis, aber äh nee also es is für mich war das kein treibendes Thema.“ (Interview Hilvert; Führungsebene 2) Durch die Verbindung zwischen Diversity und Gleichstellung wird Diversity normativ aufgeladen: Indem Hilvert davon spricht, dass die Interviewerin ihn auf dem falschen Fuß erwischt, bekommt die Interviewfrage den Anstrich einer Prüfungssituation. Hilvert gerät in ‚Erklärungsnot’, rät, was darunter zu verstehen sei und fragt bei der Interviewerin nach, ob er damit richtig liege (vgl. „war da nicht auch [Kundinnenprogramm] und so weiter damit dabei und solche Geschichten?“).132 Zur Erklärung, warum er dies nun nicht weiß, zieht Hilvert den falschen Zeitpunkt heran.133 Anschließend legitimiert er dann seine Unkenntnis, indem er dem Projekt die Verinnerlichung gegenüberstellt (vgl. auch Kap. 7.2). Mit der Aussage „das überfliege ich“ bezieht sich Hilvert auf einen Text, genauer gesagt: Diversity ist für ihn Text (hier evtl. der Artikel). Dies wird in den meisten Interviews so gesetzt: I: „Mhm. Ähm, wie bekommen Sie so im Arbeitsalltag mit, was das Team Diversity so macht?“ Schlenker: „Eigentlich gar nicht. Es sei denn, ich kuck mal im Intranet, wobei ich im Moment gar nicht wüsste, wo ich da was finden würde.“ (Interview Schlenker; Führungsebene 4) Schlenker erwartet, die Arbeit des Teams nicht in Form praktischer Umsetzung im Arbeitsalltag wahrzunehmen, sondern im Intranet.134 Vergleicht man dies mit anderen Querschnittstätigkeiten im Konzern, z.B. der Betriebsärztin, dem HardwareService, der Poststelle etc. erscheint im Intranet zu schauen nur sinnig, wenn das Tätigkeitsspektrum weitestgehend in der Bereitstellung von Informationen besteht. Diese Reduktion auf Text, über den man sich informieren kann, vielleicht sogar sollte, zieht sich durch die Interviews durch: 132 Dieses Programm, das gezielt Frauen als Kundschaft ansprach, war nicht Teil von Diversity Management und wurde auch in einer anderen Abteilung entwickelt. 133 Vgl. auch: I: „Was bedeutet und beinhaltet für Sie ‚Diversity‘?“ Johanna Busch: „Ich muss dazu sagen, ehm, wie gesagt, ich hab mich da in der Vergangenheit nicht so beschäftigt mit, ich bin ja auch jetzt bei der Profit-AG grad mal drei Jahre“ (Führungsebene 2). 134 Dies ist umso auffälliger, da ihre Antwort so in keiner Weise an die von ihr vorgestellte Gleichsetzung von Diversity mit Vereinbarung von Familie und Beruf anschließt. Dann könnte ihre Antwort auf KollegInnen oder MitarbeiterInnen zielen, die solche Maßnahmen in Anspruch nehmen.
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
Michael Wolthoff: „(3) Is eigentlich für mich sowas wie'n, wie die Modernisierung eines Schlagworts. Chancengleichheit is, das hören- ich mein, natürlich kann man das alles jetzt irgendwo unter nem neuen Begriff zusammenfassen, aber im Endeffekt seh ich da überhaupt gar nichts. [I: „Mhm.“] „Für-fürchterlich wenig würd ich mir da drunter vorstellen, ja.“ I: „Mhm. Und ähm, wie bekommen Sie es so im Arbeitsalltag mit, was das Team Diversity macht?“ Wolthoff: „Überhaupt nich. (lacht)“ I: „(lacht) Joa, des (lacht) eine knappe Antwort. (lacht)“ Wolthoff: „Ja, man liest ma hier was oder da was, aber es is, also der Bezug fehlt einfach und dann liest man blitzschnell da drüber weg.“ (Interview Wolthoff; Team Projektarbeit) Das Auseinanderdriften der ‚Modernisierung’ von Gleichstellungspolitik und Arbeitsalltag wird durch diesen ‚Fachbegriff‘ nicht nur verschärft, sondern kann wie Wolthoff verdeutlicht, auch kritisch gewertet werden (vgl. „Modernisierung eines Schlagworts“).135 Diversity Management erscheint damit nicht nur als bloßer Text (und nicht mehr), sondern inhaltslos und so ohne Bezug zum Arbeitsalltag. Etwas anders stellt sich die Inhaltslosigkeit des Konzepts in einem Interview dar, das als einziges Diversity bereits im Zusammenhang mit der Einstiegsfrage des Interviews thematisierte: I: „Was bedeutet für Sie Chancengleichheit in der Profit-AG?“ Regina Wilke: „(3) Also für mich bedeutet Chancengleichheit in der ProfitAG eigentlich jetzt nichts anderes als Chancengleichheit (lachend) überhaupt, also ich würd da nicht differenzieren zwischen Profit-AG und allgemein. Chancengleichheit, ja, ist für mich, dass man gleichberechtigt und fair miteinander umgeht (2), das sowohl in beide Richtungen. Gegenüber Männer und gegenüber Frauen. Ich seh das nicht als frauenspezifisches Thema. Chancengleichheit auch könnte man sagen ähm füüür Leute, diiie irgendeine Behinderung haben, oder f- wenn man in internationalen Unternehmen ist, aus anderen Ländern kommen, farbig sind, oder Sprachdefizite haben, äh Hörprobleme, das sehe ich alles unter Chancengleichheit. Ich verstehe da nicht nur die Chancengleichheit gegenüber Frauen drunter.“ I: „Mhm. Und wie erleben Sie das so im Arbeitsalltag?“ Wilke: „äh- Ach so! und zu der Chancengleichheit muss ich allerdings sagen, sehe ich in der Profit-AG schon, dass man sich jetzt mehr so mit dieser 135 Vgl. auch Anja Hartmann: „Ja, also ‚Diversity‘ isch für mich ähm, was bedeutet des für mich, bissle n komplizierte ähm Begriff, ja ich fände des Thema, also wenn ma's Chancengleichheit nennen würde, wäre es eindeutiger, klarer“ (Führungsebene 3; ehemals Mentee).
6.9 „Da erwischen Sie mich aufm falschen Fuß“
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Frauensache beschäftigt, aber schon unter Diversity wird ja auch das gesamte Spektrum betrachtet. (…) Also im Arbeitsalltag (3) ich würd da auch wieder nicht den Arbeitsalltag so differenzieren, zu dem was man normal, also was man im Leben vorher, also an der Schule, an der Uni oder sonst im Privaten erlebt, da hat man ja jetzt auch irgendwie nen Umgang mit dem ganzen Spektrum von Menschen. Und ich denk da geht man ja auch unterschiedlich mit n Reaktion derer um und hat da auch seine Erfahrung drin.“ (Interview Wilke; Führungsebene 2) In Wilkes Antwort wird explizit die Trennung zwischen innerhalb und außerhalb der Profit-AG hinsichtlich der Frage, was Chancengleichheit ist, aufgehoben und die Frage nicht einmal im Rahmen von Erwerbsarbeit thematisiert (z.B. über Karrierechancen). Vielmehr wird Chancengleichheit und mit ihr die Gleichstellungspolitik und Diversity Management am „gleichberechtigt und fair miteinander“ umgehen festgemacht. So wird Diversity zwar inhaltlich gefüllt, aber über ihre eigene Vorstellung einer politisch-moralisch gebotenen Chancengleichheit, in der ein Kosten-Nutzen-Kalkül keinen Platz hat. Im zweiten Schritt, in dem sie eine Differenzierung zwischen Arbeitsalltag und privatem Alltag aufhebt, wird ein weiterer Aspekt aus der Konzeption von Diversity Management heraus verlagert: Das Management, denn man kennt den Umgang mit unterschiedlichen Personen schon aus dem Privatleben „und hat da auch seine Erfahrung drin“. FunktionsträgerInnen der Gleichstellungspolitik und Vorstandsmitglieder ausgenommen, ist die Ausweitung des Personenspektrums die häufigste Füllung bei denjenigen, denen Diversity ein Begriff ist.136 Eine Positivierung von Heterogenität wurde sehr selten benannt. Bei einem Mitglied des Teams Projektarbeit, Ulrike Krüger, kam die Vorstellung von ‚Diversity‘ der Konzeption von Diversity Management am nächsten, indem dort eine Fruchtbarkeit heterogener Arbeitsteams thematisiert wurde: I: „Ähm, also mich interessiert zunächst einmal, was für Sie ‚Diversity‘ bedeutet und beinhaltet?“ Krüger: „In der Übersetzung ‚Vielfalt‘. Heißt, ähm, dass man letztendlich mit sehr viel unterschiedlichen Menschen zusammenarbeitet. (...) Ich ich mag das. Ähm mit Leuten zusammen zu sein, die einfach anders sind, anders denken, anders heran gehen, weil ich finde, das hat n hohes Lernpotenzial. Also, ich kann da für mich sehr viel rausnehmen. Insofern für mich bedeutet Vielfalt spannenderes Arbeiten. Von der reinen Theorie her bedeutet 136 Vgl. auch Katrin Rosenplänter: „Diversity bedeutet für mich Chancengleichheit ähm für alle. Diversity ist für mich nicht nur auf Frauen bezogen“ (Interview Rosenplänter; Führungsebene 1).
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6. „Die Zukunft der AG – nach Schema ‚F…‘?“
es ja offenbar auch ähm bessere Lösungen zu finden. Ob das wirklich so ist, keine Ahnung. Ähm, weil man ja die Alternative letztendlich nicht hat, dass man so ne Parallelgruppe fährt, die das gleiche bearbeitet und wo kein ‚Diversity‘ drin is.“ (Interview Krüger; Team ‚Projektarbeit‘) Heterogenität fruchtbar zu finden, ist für Krüger eine Frage individueller Haltung: Sie „mag das“, für sie hat das ein „hohes Lernpotential“ und sie findet es daher „spannend“. Die Frage, inwiefern hier für die Organisation ein Nutzen durch Vielfalt besteht, stellt sie allerdings als rein theoretisch dar: Ein rationalisierter Mythos ist Vielfalt bei Krüger nicht. Im Gegenteil gibt sie –wie Meyer und Rowan (1977) für Rationalitätsmythen – zu bedenken, dass ohne Vergleichsmöglichkeiten Belege fehlen. Anders als die Frage nach Diversity wurde die Frage, was Chancengleichheit bedeute, von allen InterviewpartnerInnen gefüllt und ein Bezug zu Gleichstellung konkretisiert. Chancengleichheit und Gleichstellung spielten im Beobachtungshorizont auch eine wichtige Rolle im Team und für das Team. Im folgenden Kapitel wird diese Bedeutung herausgearbeitet und dabei dargestellt, wie Organisation, Geschlecht und Gleichstellung im Arbeitsalltag gefüllt und in welches Verhältnis sie zueinander gestellt wurden.
7.1 „Hier im UBZ“
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7 „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“ – Egalitätsnorm versus Gleichstellungsnorm im Arbeitsalltag
7.1 „Hier im UBZ“ Der Unternehmensbereich UBZ umfasst im Jahr 2005 ca. 3000 Angestellte in verschiedenen Städten. Am zentralen Standort des Konzerns ist er in drei Gebäuden untergebracht. Das wichtigste Gebäude des UBZ, in dem auch das Praktikum stattfand, ist das höchste Gebäude eines größeren Gebäudekomplexes des Konzerns. Im obersten Stockwerk befindet sich das Büro des Unternehmensbereichsleiters, dem das Team „Projektarbeit“ als Stab zugeordnet ist. Neben Büroräumen sind auf dem Stockwerk ein Besprechungsraum, ein Kopier- und Postraum und am Ende des Flurs eine Teeküche. Die letzten Räume vor der Teeküche sind die Büros Zagermanns (UBZ-Leitung; Führungsebene 1) und Wartls (Führungsebene 1b) sowie der zwischen diesen liegende Raum ihrer Assistentinnen. Ihnen gegenüber befinden sich der Besprechungsraum und das große Büro, in dem zu der Zeit meines Feldaufenthalts Sandra Maier, Thorsten Kienzle, Mareike Braun, Eva Mende und ich arbeiteten. Das Büro ist recht großzügig geschnitten, so dass es trotz der sechs Schreibtische nicht eng wirkt. Nahe der Tür befindet sich ein Stehtisch mit drei Barhockern, auf dem Süßigkeiten stehen. Über die Süßigkeiten ist der Stehtisch als Pausenort markiert, ist aber auch dazu geeignet daran zu arbeiten.137 Die freien Wände sind zum Teil mit privaten Bildern geschmückt, zum Teil mit tätigkeitsspezifischen Plakaten wie dem Faltblatt zur anstehenden UBZ-Hausmesse und einer Magnetwand behängt. Über die privaten Bilder an den Wänden wird eine Verbindung des 137 An diesem Stehtisch wurden auch ad-hoc-Besprechungen und der Jour Fix mit Zagermann abgehalten. Die wichtigste Funktion war jedoch, dass die Süßigkeiten auf dem Stehtisch eine Einladung darstellten. Dadurch bot sich das Büro als ‚Warteraum‘ für Führungskräfte der 2. Ebene an, die bei Zagermann oder Wartl einen Termin hatten, zu denen auf diese Weise das Team auch Kontakt pflegte und es bot anderen die Gelegenheit den Kontakt zum Team zu pflegen. Feiern (z.B. Geburtstage) erschienen durch den einladenden Stehtisch offener, so dass sich auch Personen dazu gesellten, mit denen man sonst im Arbeitsalltag keine Berührungspunkte hatte. Bspw. schauten bei meinem Abschied Führungskräfte der 2. Ebene nach einer Besprechung im Nachbarraum noch vorbei, um sich zu erkundigen, was gefeiert werde und noch ein wenig zu plaudern.
K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
Raums mit den einzelnen Teammitgliedern hergestellt und darüber zwischen den Einzelnen und der Bürogemeinschaft. Die Arbeitsmaterialien verknüpfen sichtbar das Team und die Teammitglieder mit der Projektarbeit und dem UBZ. Ein großes Werbeplakat der Profit-AG, das an der Türseite hängt, springt besonders ins Auge. (Nur) über dieses Plakat kommt die Organisation Profit-AG hinein. Indem das Team dieses Plakat im Büro aufgehängt hat, wird eine Sichtweise der Bürogemeinschaft auf die Organisation verdeutlicht, nicht notwendig wie sie schon ist, vielleicht wie sie werden soll, z.B. woran man mitarbeiten will. Man sieht darauf eine Frau vor zwei einander gegenüberstehenden Schreibtischen ein Rad schlagen. An einem der beiden Schreibtische mit dem Rücken zu ihr, sich aber nach ihr umdrehend, sitzt ein Mann im Hemd. Sein Jackett hängt (genauso wie ihres) über der Stuhllehne. Der großzügige Schnitt des abgebildeten Büros, die Fensterfront, sowie die weite Rasenfläche davor symbolisieren, dass die Organisation Raum bietet, Freiraum lässt, sich Gedanken, Kreativität etc. ausdehnen können. Das Radschlagen nutzt diesen Raum entsprechend. Die Anordnung der Schreibtische (auf dem Plakat ebenso wie im Büro des Teams Projektarbeit) vermittelt das Bild eines guten bzw. kollegialen Miteinanders in der Bürogemeinschaft. Die Organisation erscheint auf diesem Plakat so als Rahmung zum Einen individueller Aktivitäten und Freiräume und zum Anderen der Zusammenarbeit. In einem farbigen Balken unter dem Bild steht der Werbetext: „Man sagt: [Berufstätige dieser Branche] sind unbeweglich. Männer und Frauen, die manches anders sehen, bewerben sich: [URL] Profit-AGler – in der Regel die Ausnahme“ Das Plakat wirbt mit der Entgegensetzung von stereotypen Vorstellungen über bestimmte Berufsgruppen und den besonderen Profit-AGlerInnen: Hier wird die Individualität (vgl. „die Ausnahme“) aller Profit-AGlerInnen über Flexibilität und unkonventionelle Perspektiven transportiert und durch eine Frau repräsentiert. Im Text wird diese andere Perspektive explizit beiden Geschlechtern zugeschrieben, d.h. zu einer gemeinsamen anderen und nicht nach Geschlecht unterschiedlichen Perspektive. Das Plakat besagt insgesamt, dass in der Profit-AG zum Einen ein Selbstverständnis, welches Aktivität, Individualität und Gleichberechtigung betont, gewünscht wird, und zum Anderen, dass Männern und Frauen zugleich individuelle, gemeinsame und gleiche Perspektiven zugeschrieben werden. Die unkonventionelle Sichtweise kann auch in dem Sinne für das Team Projektarbeit geltend gemacht werden, als dass a) sie z.T. auch über Bildungshintergründe (z.B. Lehramtsstudium) und Berufsbiographien verfügen, die nicht typisch für diese Branche sind und b) sie mit der Projektarbeit flexibel sind, z.T. auch branchenuntypische Themen aufgreifen oder unkonventionelle Lösungswege einschlagen.
7.1 „Hier im UBZ“
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Neben den vier Teammitgliedern, die zur Zeit des Feldaufenthalts dieses Büro teilten, gehörten formal zum Team Projektarbeit Michael Wolthoff und Ulrike Krüger, die jeweils über ein Einzelbüro verfügten. Da die Arbeit in verschiedenen Projektteams einen wesentlichen Teil der Arbeitszeit einnimmt, sind weitere Personen temporär als ProjektmitarbeiterInnen formal an dieses Team angeschlossen.138 Die Teamgrenzen sind auf diese Weise durchlässig. Informelle Teamgrenzen spielen auch aus diesem Grund eine wesentliche Rolle. Wer ‚dazu gehört‘ wird im Arbeitsalltag beispielsweise sichtbar bei den Jours Fix mit Zagermann: Dort waren während des Feldaufenthalts nur die oben genannten formal zugehörigen Mitglieder des Teams Projektarbeit anwesend. Herr Shaboa, der als Spezialist einer Führungskraft Zagermanns zugeordnet ist,139 hatte zu einem früheren Zeitpunkt teilgenommen, war aber durch Herrn Zagermann davon „entwöhnt“ worden (Gespräch mit Maier). Eine weitere Teamgrenze wird durch das Mittagessen, insbesondere das freitägliche „Mittagessen mit dem Chef“ hergestellt: An diesem nahmen regelmäßig neben Zagermann, Krüger, Kienzle, Maier, Mende und Wolthoff auch Shaboa und Zagermanns Assistentin Pirker teil.140 Das wöchentliche „Mittagessen mit dem Chef“ ist ebenso Teil der Leitung durch Zagermann wie der wöchentliche Jour Fix – auch wenn Arbeitsthemen bei ersterem in den Hintergrund, bei letzterem in den Vordergrund gestellt werden. Analog zu diesem Mittagessen lädt Zagermann einmal im Monat ca. 15-20 Mitglieder des UBZ zum „Frühstück mit dem Chef“ ein, in dem ein Austausch zu verschiedenen Themen des UBZ und der einzelnen MitarbeiterInnen stattfindet.141 Teilnehmende Beobachtung bringt mit sich, dass der Alltag, den es zu erforschen gilt, durch die Anwesenheit einer Forscherin eine Veränderung erfährt. Mein 138 Die Teams der während der Feldforschung laufenden Projekte waren unterschiedlich besetzt. Zum Team ‚Wissensverknüpfung‘ (Leitung Maier) gehörten außer mir und einer weiteren Praktikantin drei IT-Spezialisten in gehobenen Funktionen, zeitweise wurde eine weitere IT-Spezialistin hinzugezogen. Beim Projekt ‚Organisationsentwicklung‘ (Leitung Maier) fand während meiner Anwesenheit nur noch eine Nacherhebung statt. Neben Braun, Kienzle und mir nahmen an Sitzungen unregelmäßig bis zu vier weitere Personen teil (SpezialistInnen und Führungskräfte). Beim Projekt ‚Hausmesse‘ (Leitung Kienzle) wurde die Organisation und die Koordination der einzelnen Stände primär von Kienzle geleistet. Weitere Aufgaben wurden im Team Projektarbeit übernommen. Das recht große Projektteam, das neben Braun, Maier und mir Assistentinnen, Trainees und SpezialistInnen umfasste, kam während meiner Anwesenheit einmal vorher zusammen und diente vor allem dazu, während der Hausmesse AusstellerInnen und BesucherInnen zu betreuen. 139 Dieser sitzt in einem anderen Gebäude in derselben Stadt. Dass Shaboa dennoch in diesem Stockwerk ein Büro hatte, konnte von den Teammitgliedern nicht erklärt werden. 140 Frau Braun, die in Teilzeit dienstags bis donnerstags arbeitet, war entsprechend bei diesen Mittagessen nie anwesend. An den Tagen ihrer Anwesenheit gehörte auch sie zu diesem Personenkreis, bei dem jeden Mittag angefragt wurde, wer zum Essen mitgehe. 141 Bei dem Frühstück, an dem ich teilnehmen durfte, erhielten auch private Themen wie die Geburt von Kindern Raum. Eine Frau nutzte die Gelegenheit, um Zagermann recht forsch auf ihre konkreten beruflichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten anzusprechen.
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
Eintritt in die Profit-AG brachte für die Angestellten durch das Wissen ‚beforscht’ zu werden einen ‚Fremdkörper’ hinein, mit dem eine andere Aktualität und Relevantsetzung des Themas Gleichstellung einherging. Indem die ‚Beforschten’ auf die Perspektive, den Konzern als Forschungsfeld zu betrachten, aufmerksam wurden, zeigten sich in ihren Reaktionen Haltungen zu und Verständnis von Gleichstellungspolitik und der gleichstellungspolitischen Situation des Konzerns. Herr Shaboa kam ins Büro und wir begrüßten uns. Auf die Frage, was genau ich jetzt hier mache (es ist allen bekannt, dass es mir hier um meine Forschung geht), habe ich kurz erklärt, dass ich über Gleichstellungspolitik arbeite. Er begann zu witzeln, dass ich feststellen würde, dass hier im UBZ [Unternehmensbereich] die Männer die Unterstützung bräuchten, dass ich wohl da sei, um ihnen zur Gleichberechtigung zu verhelfen. Insgesamt habe ich jetzt schon öfter gehört, dass der UBZ wegen Herrn Zagermann (manchmal: und Frau Maier) „sehr fortschrittlich“ sei. Herr Zagermann läge viel daran Frauen zu fördern. Es würde zwar immer gesagt, die Männer hätten das Sagen, aber hier im UBZ seien es dann am Ende doch die Frauen, die siegen. (Woche 1; Dienstag) Über den Begriff der Gleichberechtigung wird eine Normativität des Themas vom Gesprächspartner eingeführt. Shaboa impliziert über die Begriffe „Unterstützung“ und „verhelfen“ auch die Durchsetzung dieser Norm, also die Gleichstellung, und schreibt diese der Forscherin scherzhaft als Funktion zu. Die von Shaboa angenommene Realitätsferne, auf der der Scherz basiert (vgl. Berger 1998), macht sich zum Einen daran fest, dass Männern nicht zur Gleichberechtigung verholfen werden müsse und ist zum Zweiten auf die Funktionalisierung der Forscherin bezogen. Zum dritten – und dies ist Grundlage der beiden anderen Aspekte – wird hiermit implizit die Situation im UBZ beurteilt: Ein Witz über Männerförderung kann nur ‚funktionieren‘, wenn Gleichstellung im Sinne einer Frauenförderung nicht als ernsthaftes Problem bewertet wird. Implizit wird Gleichstellung also als unnötig gesetzt. Dies beruht nicht auf einer positiven Beurteilung potentiell unterschiedlicher Ausgangslagen von Frauen und Männern – Gleichberechtigung als Norm wird durch diesen Witz gerade nicht infrage gestellt – sondern auf der Annahme, dass Frauen gegenüber Männern nicht benachteiligt seien, also Gleichberechtigung bestehe. Die Aussage wird durch das Witzeln entschärft: Es macht eine Unsicherheit Shaboas deutlich in Hinsicht darauf, welche Reaktionen er von der Forscherin erwarten muss: Eine solche Meinung könnte sozial unerwünscht sein. In der Wahrnehmung der Forscherin an diesem zweiten Tag des Feldaufenthalts dagegen deckt sich Shaboas Scherz mit weiteren Aussagen im Feld. Die von Shaboa verwendeten Begriffe ‚Unterstützung‘ und ‚zur Gleichberechtigung verhel-
7.1 „Hier im UBZ“
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fen‘ werden als Synonyme für die zuvor gehörten Begriffe der ‚Förderung‘ und des ‚Fortschritts‘ aufgefasst. Sein Witzeln harmoniert mit Scherzen, die einen ‚Geschlechterkampf’ andeuten. Dabei wird, indem Frauen der Sieg zugesprochen wird, zum Einen Erwartungen entgegengesteuert, zum Anderen schwingt implizit das Klischee der heimlichen Macht von Frauen mit. Über diesen an die Geschlechter gehafteten Antagonismus zwischen der (scheinbaren) Macht der Männer und der (heimlichen) Macht von Frauen wird in der Entgegensetzung ‚anderer Leute‘ (vgl. „Es würde zwar immer gesagt“) und der spezifischen Abteilung (vgl. „hier im UBZ“) ein Identifikationspool eröffnet und Abgrenzung nach außen vollzogen. Die Besonderung des UBZ wird in Aussagen gegenüber der Forscherin über zwei Aspekte getragen, zum Einen über die als Fortschritt thematisierte Gleichstellung, zum Zweiten über eine Personalisierung: Chancengleichheit und Gleichstellung werden weder an der rechtlichen Rahmung, noch an der Organisation, sondern an der Person des Unternehmensbereichsleiters festgemacht.142 Für den Arbeitsalltag ergibt sich daraus folgendes erstes Bild: 1. Gleichberechtigt zu sein, erscheint als Norm. Daran schließt sich die Hypothese an, dass Egalität und Chancengleichheit als gegeben gesehen wird. 2. Gleichstellung wird als Fortschritt gewertet. Daran schließen sich als Hypothesen an, dass a) ein Bewusstsein über Gleichstellungsbedarf bestehen muss, b) aus diesem Bewusstsein Handlungen erwachsen, also Chancengleichheit erst hergestellt werden muss. 3. Der Forschung bzw. der Forscherin wird zur Umsetzung dieser Norm eine Funktion zugeschrieben. Daran schließt sich die Hypothese an, dass Gleichstellung auch als Aufgabe spezifischer FunktionsträgerInnen gewertet wird, die eine spezifische Qualifikation voraussetzt. 4. Das Eindringen der Forscherin wird nicht (nur) als unproblematisch gesehen, da sie feststellen könnte, dass man nicht der Norm gerecht wird. Daran schließen sich als Hypothesen an, dass a) die Norm im Arbeitsalltag diffus ist, dagegen der ‚Expertin‘ eine genaue Kenntnis unterstellt wird, b) Orientierung bzw. ein Maßstab gesucht wird. 5. Auf der anderen Seite wird die Realisierung der Norm an der Person des Unternehmensbereichsleiters festgemacht wird. Daran schließt sich die Hypothese an, dass Gleichstellung nicht als Vorgabe der Organisation, sondern als persönliche Einstellung verstanden wird.
142 Vgl. auch „bei Herrn Zagermann hier überhaupt im UBZ sind sehr viele Frauen, die sehr viel Positionen haben, die sie vielleicht in anderen Geschäftslinien nicht haben“ (Interview Braun); Kienzle: „denn der UBZ ist ja schon, wegen Herrn Zagermann, der ist ja sehr aufgeschlossen gegenüber dem Thema Gleichstellung und Frauen und so“ (Woche 1; Mittwoch).
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
Die Hypothesen aus den ersten beiden Ergebnissen sind zunächst widersprüchlich zueinander. Es bedürfte daher Mechanismen, die diese Widersprüchlichkeit im organisationalen Alltag auflöst. Das könnte beispielsweise bedeuten, dass sie auf verschiedenen Ebenen und somit entkoppelt verhandelt werden, was dann hieße, dass nur eine der beiden Normen im Arbeitsalltag tatsächlich relevant wird. Der Forschungsstand legt nahe, dass sich die Vorstellung, man verhalte sich bereits egalitär, im Arbeitsalltag durchsetzt, während Gleichstellung davon gelöst der organisationalen Ebene zugeschrieben wird (vgl. Kap. 3.4). Die dritte und vierte These und die Anschlusshypothesen werfen die Frage auf, inwiefern Gleichstellung in diesem Umfeld als Thema/Aufgabe von ‚ExpertInnen‘ verstanden wird. Dies könnte zur Entkopplung von Gleichstellung und organisationalem Alltag dienen, indem alle, die keine ‚ExpertInnen‘ sind, hier nicht Gleichstellung zu leisten haben. Es kann aber auch zur Verbindung organisationaler Gleichstellungspolitik und Arbeitsalltag führen, indem Orientierung an den ‚ExpertInnen‘ erfolgt. Die Betonung der Haltung Zagermanns erscheint dem entgegen gesetzt: Ist es eine Frage persönlicher Haltung, Gleichstellung wichtig zu finden und zu betreiben, dann kann das der Orientierung an organisationalen Vorgaben entgegen wirken, einer Gleichstellungsnorm im Arbeitsalltag jedoch zuspielen. 7.2 „sich diesem Grundsatz auch unterwerfen und den auch aktiv leben“ Für die Hauszeitschrift des UBZ („Produktiv“) verfasst Zagermann i.d.R. ein Anschreiben, in dem er virulente Themen des UBZ aufgreift und zu diesen Stellung bezieht. Anschließend ruft er seine MitarbeiterInnen auf, ihm ihre Meinung zu schreiben. Ein solches Anschreiben wird exemplarisch vorgestellt, da es die reguläre Aktualisierung seiner Führung ist, in der Zagermann direkt die Mitglieder seiner Abteilung anspricht und sein Verständnis von Organisation und ihrer Funktionsweise so an seine MitarbeiterInnen heranträgt (kontrastiv dazu: vgl. Kap. 8.6). Im ‚Produktiv‘ 12/2004 schreiben Zagermann und die beiden ihm unterstellten Geschäftsbereichsleiter Rüdiger Wartl und Otto Mirbach jeweils eine Begrüßung für einen neu in den UBZ integrierten Geschäftsbereich, der in dieser Ausgabe von den Führungskräften des Bereichs ausführlich vorgestellt wird. „Liebe Kolleginnen und Kollegen des UBZ International, dieses Produktiv ist Ihnen und Ihrer Arbeit gewidmet. Dem UBZ insgesamt einen Einblick in Ihre Aufgaben, Ihre Arbeit, Ihre Leistungen zu geben, ist die Voraussetzung dafür, dass wir im UBZ unsere Zusammenarbeit weiter verbessern können. Verständnis ist die Grundlage für Wertschätzung und Vertrauen; Werte, die uns im UBZ sehr wichtig sind.“ (Produktiv 12/2004)
7.2 „sich diesem Grundsatz auch unterwerfen und den auch aktiv leben“
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Der Begriff Kollege/Kollegin verflacht die Hierarchie rhetorisch und suggeriert Ebenbürtigkeit zwischen Zagermann und den ihm unterstellten MitarbeiterInnen. Die Verflachung wird in den Dienst der guten Beziehung zueinander gestellt: Im Mittelpunkt der Beziehung zwischen KollegInnen steht die ‚Kollegialität’ und damit gegenseitige Unterstützung, Rücksichtnahme, Respekt, Verlässlichkeit etc. Nicht die Arbeit an einem übergeordneten Zweck (an dem alle mitarbeiten), sondern die Interaktion zwischen den Arbeitenden, getragen durch geteilte Werte und daraus resultierender Wertschätzung, wird so in den Vordergrund gestellt. Dies weist bereits darauf hin, dass der im funktionalistischen Organisationsverständnis zentrale Organisationszweck (z.B. bei Jansen) hinter einer anderen Eigenwertigkeit zurücktritt und somit an Eigenwert verliert: Die Interaktion bzw. die Zusammenarbeit wird hier als das entscheidende Element eingeführt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesem Verständnis und der Orientierung am wirtschaftlichen Erfolg liegt darin, dass ersteres nach innen gerichtet ist, zweiteres stellt die Funktion des UBZ in den Dienst z.B. einer Profitmaximierung oder Kostenreduktion, von der vorrangig der Gesamtkonzern und AktionärInnen profitieren.143 Mit der Betonung der Zusammenarbeit im UBZ wird jedoch die Umwelt – auch die anderen Bereiche des Konzerns – ausgeblendet. Zum zweiten wird durch die hohe Bedeutung der Kooperation die Leistung des/der Einzelnen der Gemeinschaft untergeordnet. Damit wird das ‚Wir-Gefühl’ nicht einfach nur bestärkt, sondern Zusammenarbeit wird zum konstitutiven Bestandteil des UBZ erhoben: Die Existenzfähigkeit wird am richtigen Miteinander im UBZ festgemacht, indem die Verbesserung der Zusammenarbeit als Ziel gesetzt wird, der Begründung dient und nicht selber begründet oder legitimiert wird. Sie ist quasi axiomatisch. Der Organisationsbegriff wird so zum Dritten dynamisiert: Sie existiert, indem Menschen sie tagtäglich über Zusammenarbeit herstellen. Dieses Organisationsverständnis bei Zagermann erhält nun soziale Normen, die die Organisation lenken und sozial tragen, indem der Zusammenhang von „Einblick geben“ und „guter Zusammenarbeit“ über Werte hergeleitet wird: Aus Einblick geben/haben folgt „Verständnis“, und das ist wiederum Grundlage für „Wertschätzung und Vertrauen“, die als Werte per se dargestellt werden. Diesem Verständnis schließt sich Zagermanns Sicht auf Chancengleichheit an: I: „[Was bedeutet für] Sie Chancengleichheit in der Profit-AG?“ Zagermann: „(4) jo, also, sach ich mal, gleich anspruchsvolle Aufgaben, (3) vergleichbare Bezahlung, (1) vergleichbare Aufstiegschancen, (1) vergleichbare Behandlung, (2) ja, vergleichbare In-ten-si-tät der Arbeitsleis143 Vgl. im sog. „Leitbild“ der Organisation: „Wir sind ergebnisorientiert: Wir streben unter sorgfältiger Abwägung von Chancen und Risiken eine langfristige Gewinnoptimierung an. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für die angemessene Verzinsung des Kapitals unserer Aktionäre.“
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
tungen, (2) vergleichbares ä soziales Ansehen. (2) ja, ich glaub das sind genug Dimensionen (lacht), ja?“ I: „mhm, für wen und von wem?“ Zagermann: „Für wen und von wem, dann also für wen, ja ich sach mal für alle ä unterschiedlichen Gruppen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die wir da haben. Ne? (...) also wir versuchen jaa so langsam zu verstehen, welche unterschiedlichen Gruppierungen es objektiv und subjektiv gibt. Ne? (...)Und von wem also sach ich mal von der Öffentlichkeit des Konzerns also jetzt nicht nur von den Vorgesetzten, also ich stelle oft fest, dass die Mitarbeiter manchmal sehr viel ähm unemanzipierter handeln, als die Vorgesetzten, ja? (...) Ja, also ich hab da ganz interessante Erfahrungen gemacht, dass der Grad der Intoleranz ähm nicht an bestimmten Funktionen hängen bleibt, also dass man nicht sagt die Vorgesetzten, was auch immer das ist – um Gottes willen, da will ich erst gar nicht drüber nachdenken – sondern innerhalb der Gruppen gibt’s da auch durchaus ganz intolerante Menschen, (...) also von wem? Von den Mitgliedern dieses Konzerns. Und da erwarte ich von allen, dass sie sich diesem Grundsatz auch unterwerfen und den auch aktiv leben. Schönes Verlangen, (lachend) bisschen romantisch ist das natürlich auch, das zu verlangen.“ (Interview Zagermann) Zagermanns Antwort besteht in der Auflistung von allgemein sozial nachvollziehbaren Elementen (nur die Intensität der Arbeitsleistungen bildet hier eine Ausnahme). Man könnte sogar sagen: Dass zunächst keine Besonderheit auffällt, zeigt, wie weitgehend sie einem sozialen Konsens zu Chancengleichheit entspricht. In der Kontrastierung zum Vorstandssprecher Jansen zeigt sich ihre Besonderheit in der Absenz verschiedener Aspekte (vgl. Kap. 5.7). Mit dem sehr informellen Auftakt (vgl. „jo also ich sach mal“) spricht Zagermann wie ‚der Mann auf der Straße’, also im Gegensatz zu Jansen gerade nicht aus seiner Funktion als Topmanager heraus. Die Pausen markieren ergänzend hierzu, dass er nicht auf eine standardisierte Antwort zurückgreift,144 dennoch aber durchaus ohne langes Nachdenken eine Meinung hierzu produzieren kann. Ebenso wenig spezifiziert er seine Antwort auf „in der Profit-AG“. Weder ein ‚wir’ noch ein ‚bei uns’ oder ‚hier’ markieren, dass sich seine Antwort auf den Konzern bezieht. Vielmehr ist seine Aussage allgemein auf das (Erwerbs)Leben bezogen. Zagermanns Antwort präsentiert sich hier ein Stück weit als „Jedermanns-Wissen“ (Berger/Luckmann 1969). Chancengleichheit wird bei Zagermann – ebenfalls in Übereinstimmung mit sozialem Konsens und im Kontrast zu Jansen – als Zustand dargestellt. Dieser Zustand wird aus der Sicht von denjenigen, die in einer Organisation tätig sind, 144 Dagegen wirkt die Antwort Jansens (und anderer Vorstandsmitglieder) eingespielt.
7.2 „sich diesem Grundsatz auch unterwerfen und den auch aktiv leben“
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beschrieben, also denjenigen, die gleiche oder ungleiche Chancen erhalten und nutzen und nicht wie bei Jansen aus der Sicht der Organisation oder Führungsriege, die solche Chancen bietet. Erwerbsarbeit ist hier nur der Kontext, innerhalb dessen entsprechend des guten Miteinanders „soziales Ansehen“ in der Interaktion hergestellt und nicht von ‚dem Konzern’ geleistet werden kann. Rationalisierungen, wie bei Jansen, erfolgen hier entsprechend auch nicht, vielmehr scheint eine Kopplung von Gleichberechtigung und Gleichstellungspolitik durch (vgl. „dass die Mitarbeiter (...) unemanzipierter handeln“). Der von Zagermann beschriebene Zustand wird zunächst nicht relativiert in Hinsicht auf seinen Realisierungsgrad. Es wird kein ‚mehr oder weniger’ kein ‚sollte’ etc. eingeführt. Dieses zusammen mit dem fehlenden Bezug auf die Verortung in der ‚Profit-AG’ erinnert an die Benennung von Rechten im Grundgesetz.145 Die Realisierung ist damit obligatorisch. Zur Realisierung bedarf es dabei keiner Programmatik, sie wird ‚gelebt’ und nur dann, wenn dies nicht der Fall ist, wenn ein Verstoß erfolgt, wird sie thematisch. Dann kann sich der ‚Staatsbürger’ – auf die Rechte Bezug nehmend – gegen die Missachtung dieser zur Wehr setzen. Entsprechend wird Chancengleichheit bei Zagermann nicht nur von der Führungsebene getragen, sie gilt als Recht und als Pflicht für alle Mitglieder der organisationalen Gesellschaft (vgl. „sich diesem Grundsatz auch unterwerfen“). Ebenso wie das Grundgesetz das Zusammenleben in Deutschland fundiert, ohne dass wir im Alltag beständig darauf rekurrieren, wird Chancengleichheit hier zu einem unhintergehbaren, nicht begründungsbedürftigen Fundament für organisationales Miteinander auf der Basis der Rechte und Pflichten der Mitglieder.146 Dabei zeigt sich in Zagermanns Ausführungen, dass der Konzern und mit ihm Vorgaben nachrangig gesetzt werden. Der Interaktionsebene dagegen wird von Zagermann explizit Priorität eingeräumt. Dementsprechend zeigte sich in der Feldforschung, dass bei seiner Führung formale Vorgaben nachrangig gemacht wurden.147 Dies kann auch hinsichtlich organisationaler Maßnahmen zur Gleichstel145 Auch dort heißt es nicht: ‚jeder Mensch sollte die Freiheit haben, seine Meinung zu äußern’, oder ‚in Deutschland ist Meinungsfreiheit weitestgehend erreicht.’ 146 „Romantisch“ wird die Erwartung somit nicht, weil es sich als bloßer Idealismus darstellt, sondern weil es als utopisch gilt, dass sich alle Menschen immer daran halten, weswegen es Sanktionsregelungen bedarf. Auch Zagermann greift auf ein solches Verständnis zurück (vgl. Kap. 8.6). 147 Dabei kommt auch Zagermann nicht gänzlich an formalen Vorgaben vorbei bspw. bei den Assessment Centern, die er grundsätzlich ablehnt. Er übt schriftlich scharfe Kritik an Assessment Verfahren und dem internen Katalog zu Führungskompetenzen. Das änderte nichts daran, dass auch seine Führungskräfte die AC durchlaufen müssen. Allerdings konnte er gegenüber der Personalabteilung eine Ausnahmeregelung durchsetzen, als ein kommissarisch von ihm eingesetzter Fachbereichsleiter das AC nicht bestand. Insgesamt lehnt Zagermann viele formale Regelungen ab z.B. auch bei Stellenstreichungen und -besetzungen, Kündigungen, Weisungsbefugnissen und Beurteilungen. Daher erscheint es hier aufschlussreich, nicht nur das Aussetzen, sondern gerade Rückgriffe Zagermanns auf formale Vorgaben zu beleuchten (vgl. Kap. 8.6).
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
lung den Boden für Entkopplungen bereiten und Institutionalisierungen erschweren. Entsprechend schließt sich die Frage an, wie sich das informell hergestellte Verständnis von Chancengleichheit zu organisationaler Gleichstellungspolitik verhält, inwiefern sie auseinander klaffen und inwiefern sich organisationale Gleichstellungspolitik ‚durchsetzen‘ kann. 7.3 „Jetzt seien Sie mal tapfer!“ Im Feldzugang zeigte sich bei den angesprochenen AkteurInnen ein bemerkenswertes Interesse daran, die Forschung in der Profit-AG zu ermöglichen. Als erste Ansprechpartnerin für einen möglichen Zugang wurde eine Gewerkschaftsfunktionärin gewählt, in deren Bereich die wichtigsten Konzerne dieser Branche fallen. Die von ihr benannte Betriebsrätin wurde anschließend mit Bezug auf die Gewerkschafterin angeschrieben und ebenfalls um ein Interview gebeten. Auch sie signalisierte sofort Bereitschaft für ein Treffen und Interesse an dem Thema. Nach dem Interview erläuterte ich mein Forschungsvorhaben und bat um eine Empfehlung für einen Bereich nach meinen Auswahlkriterien (vgl. Kap. 4.4). Die Betriebsrätin bot gleich an eine Bewerbung von mir an eine entsprechende Stelle weiterzureichen, da sie dort jemanden aus dem Frauennetzwerk kenne (Sandra Maier). Dieser schriftlichen Bewerbung folgte zügig eine Zusage von Frau Maier in Absprache mit Zagermann für ein vergütetes dreimonatiges Praktikum unter Vorbehalt der Zustimmung der Personalabteilung, verbunden mit einer Einladung zu einem Kennenlernen bei gemeinsamem Mittagessen und Kaffeetrinken. Die Bereitschaft der drei angesprochenen Frauen, die Forschung zu unterstützen, harmoniert mit ihrem Engagement, sich in organisierten Verbünden verschiedener Art mit dem Thema Gleichstellung auseinander zu setzen: Frauennetzwerk der Profit-AG (vgl. zu Maiers Sicht auf das Netzwerk Kap. 10.3), dem Betriebsratsausschuss „Chancengleichheit, Familie und Beruf“ bzw. entsprechenden Funktionen und Ausschüssen der Gewerkschaft. Das intensive Interesse an einer Forschung erschien hinsichtlich dieser Akteurinnen somit auch als ein Interesse an einer wissenschaftlichen Evaluation der organisationalen Gleichstellungspolitik. Durch die doppelte Funktion im Konzern als Forscherin und Praktikantin wurden zwei Positionierungen produziert. Die Einbettung im Feld wurde über den Praktikumsvertrag formal festgeschrieben. Die Positionierung als Praktikantin erfolgte im Feld der zuarbeitenden Funktion entsprechend: Alle Teammitglieder waren mir gegenüber weisungsbefugt, wobei ich direkt Frau Maier zugewiesen war. Die Position als Forscherin war hingegen nicht formal vorstrukturiert. Sie wurde aber auch nicht ausgehandelt, sondern durch Frau Maier und Herrn Zagermann gesetzt, der die Anwesenheit einer Forscherin verantwortete. Die Setzung
7.3 „Jetzt seien Sie mal tapfer!“
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durch Frau Maier erfolgte aufgrund der direkten Zusammenarbeit in Verbindung mit meinen Tätigkeiten als Praktikantin und somit größtenteils im alltäglichen Umgang. Zu Beginn meiner Praktikumszeit legte mir Frau Maier ihre Vorstellungen der Vereinbarung von Praktikumserfüllung und Forschungsarbeit dar und setzte dabei einen sehr weiten Rahmen der Forschungsarbeit: Bis zu 50% meines Arbeitstages sollten mir für Termine, die sich allein auf meine Forschung beziehen, zur Verfügung stehen. Zudem band sie mich in verschiedene Projekte ein und ermöglichte mir u.a. Zugang zu InterviewpartnerInnen, Teilnahme an Besprechungen und einer Veranstaltung des Frauennetzwerks. Auch Zagermanns Einbettung meiner Forschung ging über die Annahme meiner Bewerbung hinaus: Beim Mittagessen in der Kantine habe ich Zagermann gefragt, ob ich ihn bitten könne, mal darüber nachzudenken, mir für ein Interview zur Verfügung zu stehen (mir erschienen der Ort und die Situation etwas unpassend für die Frage und habe es deswegen so höflich wie möglich formuliert.) Herr Zagermann meinte, er müsse darüber gar nicht nachdenken, ich müsse nur sagen: Wann machen wir nen Termin und dafür müsse ich mich an Frau Pirker (seine Assistentin) wenden. (Woche 2; Freitag) Indem die Forscherin die Frage nach einem Interview vorsichtig formuliert, setzt sie eine Ablehnung des Interviews als nicht weniger möglich und wahrscheinlich im Vergleich zur Zustimmung. Die Antwort Zagermanns ist dieser Annahme entgegengesetzt. Indem er seine Zustimmung damit verbindet, dass er gar nicht darüber nachdenken müsse, setzt er sie als selbstverständlich. Er geht darüber auch noch hinaus, indem er signalisiert, ich könne seine Zustimmung voraussetzen und müsse nur noch einen Termin mit seiner Assistentin ausmachen – also ohne ihn in den Prozess der Absprache zu integrieren. Auf diese Weise wird das Interview mit anderen, regelmäßig auftretenden Situationen legitimer Terminsetzungen gleichgesetzt. Solche Situationen bestehen unter der Bedingung, dass ihm direkt unterstellte MitarbeiterInnen (hochrangige Führungskräfte und die Mitglieder des Teams Projektarbeit) eine für den Arbeitsablauf sinnvolle Rücksprache mit ihm benötigen. Das Interview wird so in einen Rahmen gestellt, in dem es als integraler Bestandteil des Geschäftsbetriebs gewertet wird und als wichtig eingestuft wird. Damit demonstriert Zagermann nicht nur der Forscherin, sondern vor allem den weiteren Anwesenden (Kienzle, Krüger, Mende, Pirker, Shaboa), dass die Forschung als Teil meiner Arbeit für die Organisation gilt.148 Somit könnten Ablehnungen von Interviews und Beschränkungen von Zugängen eine Behinderung meiner Arbeits148 Die Einbindung der Forschung in den Organisationsbetrieb zeigte sich auch darin, dass auch die Interviewten die Interviews als Arbeitszeit anrechnen konnten und eine Bahnfahrt (ca. 500km) für ein Interview ganz selbstverständlich von Zagermann als Dienstreise gewertet wurde.
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leistung und Missachtung seiner Weisung darstellen.149 Gegenüber seinen Vorgesetzten (dem Vorstand) und ihm gleichrangigen Führungskräften wird von Zagermann über eine andere Herangehensweise die Bedeutung, die er der Forschung beimisst, vermittelt: Ich habe Zagermann gefragt, ob ich bei der Anfrage nach einem Interviewtermin schreiben dürfe, dass mein Promotionsvorhaben seine freundliche Unterstützung erfährt. Er hat mir das zugesagt und gefragt, um wen es denn da ginge, damit er wisse, für welche Interviews er mit seinem Namen herhalte. Ich habe ihm ein paar Namen genannt und ihm gesagt, dass ich ihm gerne die Liste schicken könne.150 (Woche 3; Mittwoch) Zagermann erklärte, dass er jetzt überlege, „wie wir die Herren und Damen der oberen Führungsriege dazu bewegen können, sich von Ihnen interviewen zu lassen“. Ich habe gestrahlt und gefragt, ob er schon meine Mail gelesen habe (was er nicht hatte) und dass ich ihm dann noch was schreiben werde, was wir verwenden könnten und wie er das handhaben wolle, wann wir uns denn da mal zusammensetzen könnten etc. Schließlich unterbrach er mich und meinte, ich solle ihn einfach mal machen lassen, wenn mir mein Chef schon anbiete für mich eine Mail zu schreiben, was sein Chef nie gemacht habe, dann solle ich das einfach mal annehmen. (Woche 3; Freitag) Zagermann macht so die Förderung der Forschung erneut zur ‚Chefsache’ und konzipiert einen Brief, bei dem er Frau Maier als Präsidiumsmitglied von Progress als Zweitunterzeichnerin einbezieht. In diesem wird die Chefsache noch weiter geführt. Der Brief wird gerahmt durch den offiziellen Briefkopf der Profit-AG, womit er gegenüber KollegInnen und Vorgesetzten als ein Repräsentant der ProfitAG in der Funktion der UBZ-Leitung auftritt und diesem Anliegen so den Status einer (auch für den Vorstand relevanten) Angelegenheit des Konzerns zuschreibt. Daneben steht der Briefkopf des Frauennetzwerks Progress‘, der dies einerseits etwas abschwächt, da es so auf den ersten Blick nicht in den regulären Geschäftsbetrieb des Linienmanagements, sondern zu Rahmenbedingungen gezählt wird, andererseits einen weiteren wichtigen Akteur einbezieht. „die Profit-AG hat in Bezug auf Förderung von Frauen einen guten Ruf – zu Recht meinen wir. Um diesem Ruf auch im Kleinen gerecht zu werden, bitten wir Sie heute um Ihre Aufmerksamkeit und um Ihre Zeit. Dies tun 149 Das Team Projektarbeit unterstütze die Forschung ohnehin, indem sie mir gewünschte InterviewpartnerInnen vermittelten und Zugänge zu Veranstaltungen wie der Hauptversammlung schufen. 150 Es handelte sich um drei Mitglieder des Vorstands, den ehemaligen Personalvorstand und drei Mitglieder der ersten Führungsebene sowie ein Vorstandsmitglied einer Tochtergesellschaft.
7.3 „Jetzt seien Sie mal tapfer!“
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wir, obwohl wir wissen, dass es vieles gibt, was Ihrer Aufmerksamkeit bedarf und Ihre Zeit in Anspruch nimmt. Unser Anliegen ist, dass Sie einer jungen Wissenschaftlerin (…) für ein etwa halbstündiges Interview zur Verfügung stehen. Frau Hericks ist Doktorandin am Lehrstuhl „Soziologie der Geschlechterverhältnisse“ des Instituts für Soziologie an der EberhardKarls-Universität Tübingen und ist derzeit als Praktikantin im UBZ. Sie untersucht den Einfluss von organisationaler Gleichstellungspolitik auf den Arbeitsalltag am Beispiel der Profit-AG. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, wird das Sekretariat des Rechtsunterzeichners mit Ihrem Sekretariat ein Zeitfenster für das halbstündige Interview suchen.“ (Brief Zagermann) In dem Brief wird den Angeschriebenen über verschiedene Formulierungen die Möglichkeit genommen, sich dem Interview zu entziehen, ohne direkt ablehnen zu müssen. So wird zunächst auf den guten Ruf der Profit-AG eingegangen und zugleich auf die Verantwortung der (repräsentativen) Funktion im Topmanagement, den Ruf auch zu wahren. Über die Formulierung „dem Ruf auch im Kleinen gerecht werden“, wird die Unterstützung einer Forscherin zu einer Aufgabe von Frauenförderung. Die Möglichkeit mangelnde Zeit als Ablehnungsgrund zu benennen wird über den Hinweis auf das Wissen um die Zeitknappheit genommen. Die Forscherin wird über die Einbettung sowohl in ihren akademischen Kontext als auch in den UBZ doppelt legitimiert und zugleich gezeigt, dass Zagermann zur Unterstützung dieser Forschung sich auch nicht scheut, der Forscherin Zutritt zu seinem Funktionsbereich und somit einen genaueren Blick auf diesen zu gewähren. Die letzte Möglichkeit der AdressatInnen sich dieser Anfrage zu entziehen, bestünde im Ignorieren des Anschreibens. Zagermann eröffnet sich jedoch die Möglichkeit das Ausbleiben einer Antwort als Zustimmung zu werten und die Terminvereinbarung zu veranlassen. Auch bei Personen, denen gegenüber er nicht weisungsbefugt ist, lässt Zagermann also keine Zweifel an der Eindeutigkeit des Aufrufs zur Unterstützung aufkommen. Bis auf eine Person sagten alle so Angefragten (letztlich) zu. Nur eine weibliche Führungskraft sagte dezidiert ab: Zagermann erschien in unserem Büro und erzählte mir, dass Frau Leukamp leider nicht bereit sei mit mir zu sprechen, bezeichnete sie als Krawallbürste und meinte, ich solle in meiner Dissertation schreiben, dass diese Krawallbürste151 das Thema nicht wichtig genug fände und an sich für ausdiskutiert und ich sollte sie am besten namentlich erwähnen. (Woche 8; Donnerstag)
151 Die ‚Krawallbürste’ ist bei Zagermann die weibliche Form des ‚Krawallbruders‘, als den er auch sich bezeichnete. Ein Krawallmensch ist zu verstehen als jemand, dessen Meinung unbeliebt ist, der sie aber dennoch standhaft oder stur (je nach Kontext) auch gegenüber Vorgesetzten vertritt.
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Die hier vorgestellte Position in Worten Zagermanns zeigt, dass Frau Leukamp als Frau sich das Recht ein solches Interview abzulehnen eher nehmen kann. Auch wenn es von Zagermann nicht akzeptiert wird, wird es jedoch auch nicht als ‚Angst’ oder Chauvinismus abgestempelt, sondern verbleibt auf der inhaltlichen Ebene.152 Im Vergleich hierzu zeigte sich, dass einem männlichen Vorstandsmitglied (Rüdiger Henke) keine Glaubwürdigkeit einer sachlichen Ablehnungsbegründung zugestanden wurde: Kurz Zeit später erschien Herr Zagermann und sprach mich wegen der Zusage seines Vorgesetzten an, der auf Zagermanns Brief krakelig vermerkt hatte, dass Frau Wagner [Leitung Diversity Team] gegebenenfalls dabei sein solle und dies an Wagner und Zagermann faxte. (...) Herr Zagermann meinte: „Herr Henke hat ja Angst vor Ihnen, Frau Hericks!“ (...) Herr Zagermann fragte, ob er seinen Vorgesetzten darauf ansprechen solle, (...) er könne noch mal mit seinem Vorgesetzten reden und würde ihm sagen: „Herr Henke, die Frau Hericks ist zwar gefährlich intelligent, aber jetzt seien Sie mal tapfer!“ (Woche 7; Freitag) Zagermann stellt die Forschung scherzhaft als ‚angsteinflößend’ und ‚gefährlich’ dar. Diese Bemerkungen sind zwar überzeichnet, weisen jedoch auf, dass die Forschung von ihm durchaus als kritischer Blick verstanden wird. Dies zeigt, dass Zagermann von Lücken in der Gleichstellungspolitik ausgeht und ebenso wie die o.g. Funktionsträgerinnen aus Netzwerk, Betriebsrat und Gewerkschaft ein Interesse daran hat, auch ‚Baustellen‘ aufgezeigt zu sehen. Eine Sichtweise wie Frau Leukamps, das Thema an sich für ausdiskutiert zu halten, widerspricht seiner Vorstellung, dass ein Bewusstsein über Gleichstellungsbedarf bestehen, weiter verfolgt und hier z.B. über Forschung differenziert gefüllt werden müsse. Dies geht auch bei ihm mit der Annahme eines ‚Fortschritts‘ durch Gleichstellung einher: Zu mir gewandt meinte Herr Zagermann witzelnd bezüglich des Lapsus von Herrn Kienzle [vgl. Kap. 8.4], was für ein Bild ich bekommen müsse, wenn Herr Kienzle so die Mitarbeiterinnen belästige. „Aber im Ernst, die ProfitAG ist hier schon ganz schön weit“, wenn man das im Vergleich mit anderen Unternehmen sehe. (Woche 2; Freitag) Zagermann nimmt Bezug auf die Erhebungsmethode der teilnehmenden Beobachtung und bindet sie in die allgemeine Erheiterung über eine beobachtete Situation 152 Die Aufforderung Frau Leukamp namentlich in der Dissertation zu erwähnen, macht sie zum ‚schwarzen Schaf‘ und damit zur Ausnahme. Folglich sind somit diejenigen als ‚die Regel‘ gesetzt, die Gleichstellung wichtig und weiterhin als Aufgabe werten.
7.3 „Jetzt seien Sie mal tapfer!“
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mit ein. Damit setzt er die Forschung als Bezugsrahmen für das Folgende. Ernsthaft wird nun aber nicht behauptet, dass sexuelle Belästigung in der Organisation nicht vorhanden sei, sondern die Profit-AG im Vergleich mit anderen Organisationen nach Dafürhalten Zagermanns ‚besser’ abschneidet: Die hier durch ‚ganz schön weit’ wie im Begriff des ‚Fortschritts’ positiv gewertete, zukunftsgerichtete Entwicklung (vgl. Berger et al. 1975) des Konzerns kann bzw. sollte auch in der Forschung gesehen bzw. erkannt werden. Das Interesse an der Forschung kann auf der anderen Seite also auch in der Bestätigung der (erfolgreichen) Gleichstellungspolitik gesehen werden, d.h. in der Realisierung der Gleichstellungsnorm, auch wenn Gleichstellung nicht als abgeschlossen gilt: Der Konzern ist zwar schon weit, aber noch nicht am Ziel. Sowohl bei den Türöffnerinnen als auch bei Zagermann zeigt sich zusammengefasst die Vorstellung einer als Fortschritt gewerteten Gleichstellung, die Problembewusstsein verlangt und bei der entsprechend Handlungsbedarf noch gesehen werden muss. Dies geht bei Zagermann auch mit der Darstellung der Einhaltung dieser Norm einher und der Annahme des legitimierenden Potentials (vgl. „einen guten Ruf“) von Gleichstellungsbestrebungen. Die Forschung wird von Zagermann gerahmt als selbstverständlicher Bestandteil des Organisationsbetriebs und so mit einer Funktion für die Gleichstellungspolitik versehen. Eine Entkopplung des Themas mittels Konzentration der Aufgabe auf die Forscherin findet hier aber nicht statt. Die Forscherin wird vielmehr zu einem weiteren Baustein. Die Annahme einer Expertise der Forscherin (per se und durch die Forschung) löst ein Stück weit den Widerspruch zwischen den Normen, Chancengleichheit habe zu bestehen und Gleichstellungspolitik habe als erforderlich zu gelten: Die Diskrepanz zwischen ‚Soll‘ und ‚Haben‘ besteht in dem Wissen um (weitere) Baustellen der Gleichstellungspolitik. Dieses Wissen ist ExpertInnenwissen, das den Mitgliedern des UBZ so nicht eigen sein muss. Für sie darf die Norm auch etwas diffus sein. Durch das Zulassen von Forschung wird es so nun möglich zu zeigen, dass man nach bestem Wissen Chancengleichheit „lebt“ (Interview Zagermann) und bereit ist, diese weiter zu entwickeln. Innerhalb dieser von Zagermann gesetzten Rahmung wird von MitarbeiterInnen die Funktion(stüchtigkeit) der Forschung auch hinterfragt: [Frau Krüger] meinte, es kämen so oft Anfragen für solche Arbeiten, Diplomarbeiten und so zu diesem Thema, ihr scheine das Thema so „ausgelutscht“. Auf dem World Women Working Kongress würde jedes Jahr über das Gleiche diskutiert und es fände doch niemand eine Lösung, es würde sich ja alles nur so minimal bewegen, und wenn man sich mal ansehe, dass in den DAX30 Unternehmen nur eine Vorstandsfrau sei, dann zeigt sich doch, dass es letztlich nichts bringt da noch weiter drüber zu diskutieren
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und forschen, es sei schon alles gesagt und man wisse doch keine Lösung. (Woche 1; Donnerstag) Das Thema sieht Frau Krüger (ähnlich wie Leukamp) als „ausgelutscht“. Die Forschung gilt für sie an dieser Stelle als unnötig, da nutzlos in Hinsicht auf die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungsetagen. Forschung hätte demnach auf die Erhöhung des Frauenanteils unter Führungskräften hin zu wirken. War mit Frau Krüger und Frau Mende essen. Habe sie ebenfalls gefragt, ob ich sie interviewen dürfe. Frau Krüger fragte: „welches Thema?“ ich antwortete: „Chancengleichheit“. Frau Mende lächelte zynisch: „Ham wer das? Na, da ham Sie mit mir ganz bestimmt nicht die richtige Ansprechpartnerin“ Beide stellten sich dann für ein Interview zur Verfügung, zuerst Frau Krüger und Frau Mende meinte dann gleich anschließend „ja ja, natürlich“. (Woche 2; Donnerstag) Frau Krügers Rückfrage bezieht sich darauf, dass sie ein Interview mit einem engen Fokus erwartet. Diese Erwartung resultiert daraus, dass in den Projekten häufig mit fokussierten Interviews gearbeitet wird und den InterviewpartnerInnen vorab eine konkrete Fragestellung genannt wird. Die so geführten Interviews zielen auf eine Erhebung von ‚Problemfeldern’ und konkreten Lösungsvorschlägen und Ideen ab, die dann auf ihre Umsetzbarkeit hin bewertet und entsprechend öffentlich gemacht oder implementiert werden. Frau Mende reproduziert diese Annahme über die Forschung durch eine Abgrenzung von dem angenommenen ‚konstruktiven’, auf positive Veränderung hinwirkenden Forschungsinteresse. Frau Mendes Reaktion zeigt über den zynischen Kommentar „Ham wer das?“, dass sie eine Chancengleichheit im Feld nicht sieht und für sie die Erforschung des Themas ein Vorhandensein von Chancengleichheit voraussetzt. Im zweiten Satz konkretisiert sie, warum sie das so setzt: Indem sie sich aufgrund ihrer zynisch-kritischen Haltung als „ganz bestimmt nicht richtige Ansprechpartnerin“ versteht, unterstellt sie der Forscherin eine auf Zuversicht (oder auch ‚Naivität’) beruhende affirmative Einstellung zur Gleichstellungspolitik in der Organisation.153 Zum zweiten impliziert dies, dass sie hier ihres Er153 In der Frage steckt auch der Hinweis, wenn die Forscherin genau beobachte, werde sie feststellen, dass es mit der Chancengleichheit nicht weit her sei. Dies zeigt sich als ‚Realismus‘ im Interview: „(5) Chancengleichheit in der Profit-AG würde für mich bedeuten, ähm dass (.) Frauen und Männer eine Gleichstellung haben, sowohl in den Positionen als auch in gehaltlicher Hinsicht. (...) ähm generell denke ich, dass Frauen es schwer sehr schwer haben hier in geeignete Führungspositionen zu kommen, weil nach wie vor die Branche eine Männerdomäne ist, zwar nicht so sehr jetzt wenn Sie betrachten Angestelltenverhältnisse, (...) aber je höher die Positionen, desto dünner wird die Luft.“ (Interview Mende)
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achtens eine außergewöhnliche Haltung einnimmt: Sie setzt sich außerhalb der Ansichten anderer, denen sie eine unzynische und unkritischere Wahrnehmung der Situation unterstellt, die Chancengleichheit für vorhanden oder zumindest erreichbar halten. Damit grenzt sie sich implizit von einem Egalitätsmythos ab. Adäquate AnsprechpartnerIn für das Forschungsthema Chancengleichheit zu sein, wird auch aus einer anderen Perspektive infrage gestellt: Herr Zagermann meinte, er müsse darüber gar nicht nachdenken, ich müsse nur sagen: Wann machen wir nen Termin und dafür müsse ich mich an Frau Pirker (seine Assistentin) wenden. Ich habe daraufhin auch Frau Pirker und Herrn Shaboa gefragt, ob sie mir für ein Interview zur Verfügung stünden. Frau Pirker war zwar überrascht, wofür ich sie interviewen wolle, sagte aber sofort zu. Auch Herr Shaboa sagte zu, richtete sich aber nun zum zweiten Mal an mich mit den Worten: Ich müsse dafür kämpfen, dass die Männer es hier nicht so schwer hätten. (Woche 2; Freitag) Zagermanns Assistentin erwartet nicht eine relevante Aussage über Chancengleichheit machen zu können. Das Forschungsthema ist nach ihrem Dafürhalten also nicht auf einen Zustand bezogen, der alle MitarbeiterInnen gleichermaßen betrifft bzw. in dem alle gleichermaßen ‚ExpertInnen des eigenen Erfahrens‘ sind. Für sie ist das Thema in der Befragung von Führungskräften – d.h. hier: Herrn Zagermann – abgedeckt. Zusammengefasst zeigt sich, dass der Forschung selbst dann eine Funktion zur Gleichstellung zugeschrieben wird, wenn sie hinterfragt wird. Dabei wird die Zuschreibung einer Expertise an die Forscherin aufgebaut, indem z.B. die institutionelle Anbindung der Forschung benannt oder diese mit Diskussionen auf dem „World Women Working“ Kongress verglichen wird. Zum anderen wird das Thema über die InterviewpartnerInnen zu einem Thema von spezifischen Personen erklärt, die auf die eine oder andere Weise ExpertInnen sind, und in diesem Kontext selbstverständlich zur ‚Chefsache‘. Ein Thema, zu dessen Erforschung alle kompetente AnsprechpartnerInnen sind, ist es somit nicht. Ein Thema, zu dem nur Frauen und/oder Minderheiten wie Homosexuelle, AusländerInnen und Behinderte kompetente AnsprechpartnerInnen sind, ist es aber gerade auch nicht – Shaboa antwortet nicht ‚als’ Ausländer, sondern ‚als’ Mann. 7.4 „aber wir wehren uns tapfer“ – „und verlieren tapfer“ Im Horizont der Zuschreibung einer affirmativen Haltung zu Gleichstellungspolitik gegenüber der Forscherin und der Auseinandersetzung mit der Forschung im Ar-
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beitsalltag wurden das eigene Verhalten und das Verhalten als bzw. im Team reflektiert und der Forscherin verdeutlicht: Jour Fix mit dem Chef. (...) Ich wurde von ihm bedacht mit einem Vermerk: „ach dann muss ich ja jetzt aufpassen mit meinen chauvinistischen Sprüchen, wenn Sie jetzt da sind.“ (...) Zagermann: „Sie werden beobachten, die ganzen chauvinistischen Sprüche kommen hier von den Frauen. – Die sind da richtig fies, so Sprüche, wie, Männer sind nur eine Entwicklungsstufe über der Nacktschnecke und so. – Die sind richtig chauvinistisch.“ Später lachend: „aber wir wehren uns tapfer.“ Wolthoff ebenfalls lachend: „und verlieren tapfer“ Zagermann: „Naaa… das ist nicht gesagt!“ Wolthoff: „wir merken es vielleicht nur nicht“ (Währenddessen allgemeine Heiterkeit).“ (Woche 1; Donnerstag) Zagermann markiert durch die scherzhafte Bemerkung, er müsse mit seinen chauvinistischen Sprüchen aufpassen, eine Norm, von der er nun sagt, dass er sich daran sonst nicht halte. Der Scherz zielt auf die gleiche Ebene ab, wie die witzelnde Bemerkung Shaboas am zweiten Tag: Über den Begriff des Chauvinismus wird wieder ein Antagonismus zwischen Männern und Frauen hergestellt, bzw. ein Geschlechterkampf thematisiert (vgl. „aber wir wehren uns tapfer“), indem Frauen diejenigen sind, die diesen Kampf anheizen (vgl. „die ganzen chauvinistischen Sprüche kommen hier von den Frauen“). Der Geschlechterkampf ist durch die Scherze und die allgemeine Heiterkeit gerahmt als gemeinsames, einvernehmliches Spiel, in dem verlieren nicht dramatisch, sondern sogar unmerkbar (vgl. „wir merken es vielleicht nur nicht“) und belustigend ist. Die folgende Situation spielte sich an einem Arbeitstag im Projekt ‚Organisationsentwicklung‘ ab. Frau Mende hatte an diesem Tag Herrn Betzler ihren Schreibtisch überlassen. Frau Braun, Herr Betzler, Herr Kienzle, Frau Maier und ich saßen arbeitend am jeweiligen Computer: Maier hatte sich die Zeitschrift Brigitte gekauft und erzählte vom Psychotest, „bei dem weiß man in fünf Minuten was für ein Beziehungstyp man ist. Falls es jemand lesen will, ich hab’s dabei.“ Betzler erzählte daraufhin: „meine Frau und ich stecken gerade im Kommunikationstief“ (...) Dann kam die Geschichte: „unsere ältere Tochter hat Röteln, die jüngere Durchfall, d.h. die Töchter sind auf der Stress-Skala auf Stufe 8 und die dazugehörige Mutter auf 10. Wir haben da so ein Gitter an der Treppe und statt wie früher zu sagen, ‚Schatz, ich lass jetzt die Kleine runter, machst Du bitte das Gitter zu’, kommt jetzt (harscher Tonfall) ‚Gitter ist auf!’“ Allgemeines Schmunzeln. „Da hab ich mich mal emanzipiert und deutlich erklärt: ‚Das
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stinkt mir!’“ Alle lachen kurz. Kienzle: „Und? Wie war die Reaktion? Hat’s gewirkt?“ alle blicken gespannt auf Herrn Betzler. Betzler: „öhm…“ Schallendes Gelächter! (Woche 2; Dienstag) Mit ihrem Einwurf über den Beziehungstest in der Zeitschrift wird von Maier unterstellt, dass es die anderen (auch) interessieren könnte, womit auf dieser Ebene und zu diesem Thema von ihr Männer und Frauen zu ‚Ihresgleichen‘ gemacht werden. Auf dieser Grundlage baut Betzler nun seine Erzählung über seine private Beziehung auf. Das Thema (gemeinsamer) Beziehungsarbeit, die implizite Bedeutungszuweisung an Kommunikation und das Sprechen über Beziehungsvollzüge werden alltagsweltlich nicht als männlich gewertet, sondern eher Frauen zugeschrieben. Mit der von Maier geschaffenen Ausgangssituation erscheint Betzlers Verhalten jedoch passend und daher wird die Aussage „Da hab ich mich mal emanzipiert“ nicht ironisch oder inadäquat gewertet, sondern harmoniert mit der Vorstellung einer gleichberechtigten Partnerschaft (vgl. Burkart/Koppetsch 1999). Diese Vorstellung trägt die Konzeption, dass ein gleichberechtigtes und faires Miteinander situativ brüchig sein und wieder hergestellt werden kann, wodurch auch Kienzles Rückfrage sinnvoll wird. Die Rahmung Maiers über den ‚Psychotest‘ der Frauenzeitschrift ergänzt dieses gleichberechtigte Miteinander um die grundsätzliche Annahme eines ‚Kommunikationshochs‘: Männer und Frauen verstehen sich in aller Regel und können sich daher auch über ihre Beziehungen austauschen. Diese Vorstellung bildet die soziale Wirklichkeit, die als Folie den Scherzen über einen Geschlechterkampf unterliegt, der auch hier angedeutet ist und zur Belustigung führt: Betzlers Ehefrau hat in dieser Situation ‚die Hosen an‘. Dieses Scherzen und die Witze sind so eine symbolische Darstellung eines gleichberechtigten (Gegen- und) Miteinanders von Männern und Frauen: Der Geschlechterkampf findet auf Augenhöhe statt, Chancengleichheit erscheint hierzu als gegebene Voraussetzung. Die Verknüpfung der privaten Erfahrung zwischen Männern und Frauen (in heterosexuellen Paarbeziehungen und Freundschaften) mit dem Arbeitsalltag trägt noch weiter: (Maiers Geburtstag) Zagermann erschien recht spät, was Frau Maier immer wieder bemerkte, und ging auch nach kurzer Zeit wieder. Stellte sich beim Abschied direkt vor Frau Maier und sagte (bedächtig): „Frau Maier, Sie wissen, Sie sind eine sehr wichtige Frau in meinen Leben.“ Maier (heiter): „Jaa und Sie sind ein sehr wichtiger Mann in meinem Leben.“ Zagermann: „aaaber es gibt ein Frau, die ist noch wichtiger als Sie“ und meint damit seine Ehefrau. Maier: „das kann ich akzeptieren!“ (Woche 1; Freitag)
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Hier wird die heterosexuelle Paarmatrix herangezogen zur Definition des Verhältnisses zwischen Maier und Zagermann: Frau Maier ist nicht einfach eine Mitarbeiterin, sondern wird zu einer ‚Lebensbereichsgefährtin‘ im Lebensbereich ‚Arbeitsumfeld‘. Damit wird ebenfalls auf Partnerschaftlichkeit rekurriert, aber auch auf weitere Implikationen von heterosexuellen Beziehungen, die hier auf asexuelle kollegiale Beziehungen übertragen werden: Frauen und Männer sind ‚füreinander‘ geschaffen, sie benötigen einander, sind ergänzend zueinander.154 Diese Ergänzung von Männern und Frauen fügt sich in ein komplexeres Gefüge ein: Jour Fix: [Frau Krüger erklärte], dass Tofu sehr gesund sei, insbesondere für Frauen im Klimakterium. Frau Maier starrte sie mit offenem Mund an und meinte leicht entsetzt: „also Frau Krüger!“ Herr Zagermann amüsiert sich über Frau Maiers Entsetzen. Im weiteren Verlauf brachte Herr Zagermann, so wie er sonst immer auf sich als alten Mann referiert, das Klimakterium aufs Tablett. Zum Beispiel fragte er Frau Maier, ob sie mitbekommen habe, dass im Diversity Team jetzt auch das Generationenproblem aufgegriffen worden sei. Und ergänzte, „jetzt werden auch wir, die jenseits des Klimakterium sind, unter Diversity gehandelt!“ und legte dabei (rechts von Frau Krüger stehend) seine linke Hand auf ihren linken Arm und drehte sich mit dem Oberkörper zu ihr. (Woche 6; Donnerstag) Die Aussage über das Klimakterium wird von Maier als unpassend in diesem Kontext gewertet. Zagermann greift dies auf und bezieht sich nun in die Gruppe derjenigen mit ein, die ein Klimakterium haben/hatten. Damit wird das Klimakterium entgeschlechtlicht und zu einer Altersfrage. Alter wird auf diese Weise durch eine biologische Grenze markiert, die in Bezug auf Geschlecht im gleichen Zug aufgehoben wird. Die Intimität dieses ‚Frauenthemas‘ ist so aufgelöst zum Einen, indem es wiederum ein Thema wird, in dem sich Männer und Frauen verstehen und hier Gemeinsamkeiten haben. Zum zweiten wird das ‚Frauenthema‘ aufgelöst in eine Altersklassendifferenz, die mit dem Verweis auf das Diversity Team zu einem organisationsrelevanten Thema wird: (Mittagessen) Herr Zagermann erzählte, auch er habe in Bamberg studiert und das Essen sei damals schon gut gewesen. Frau Pirker versetzte: in den 40 Jahren seitdem hätte sich viel ändern können. Herr Zagermann tat entrüs154 Vgl. auch: Frau Braun sagt immer, wenn jemand sich einen Keks vom Stehtisch nimmt: „ja tun Sie das, sie tun meiner Figur damit einen Gefallen“ und die Männer antworten (mehr oder weniger geschickt) mit dem Kompliment, dass sie sich keine Sorgen um ihre Figur machen müsse. (Woche 1; Mittwoch) Männer sind hier auch ‚dazu da‘ Frauen Komplimente zu machen bzw. ihr Äußeres wohlwollend zu beurteilen (vgl. Goffman 1994).
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tet, dass Frau Pirker ihn auf diese Weise zum über 60jährigen machte. Während des Essens und danach griff er das Thema immer wieder auf und erklärte, er habe schon immer gesagt, dass die Gruppe der Mitarbeiter über 50 diskriminiert werde. Er habe schon länger gesagt, heterogene Gruppen arbeiten fruchtbarer und erst jetzt würde das vereinzelt versucht werden. (Woche 2; Freitag) Entsprechend der Konzeption fruchtbarer Heterogenität basiert also die Ergänzung von Männern und Frauen auf einer kontingenten Kopplung von Gleichheit und Differenz (Wilz 2002). Darin eingelassen sind im Arbeitsalltag Umgangskonventionen in Form „ritualisierter Gesten“ (Goffman 1994: 118),155 die Männer und Frauen differenzieren z.B. beim Betreten von Räumen oder Fahrstühlen, beim Tragen schwerer Sachen oder wenn nicht genügend Stühle vorhanden sind. Diese ritualisierten Gesten wurden im Organisationsalltag auch dann praktiziert, wenn sie sinnlos oder gar widersinnig waren. Dabei zeigten sie sich so wirkmächtig, dass sie problem- und wortlos eingefordert werden konnten. Die Umgangskonventionen wurden nicht als konträr zu Chancengleichheit gesehen, wie sich im Interview mit Wartl zeigt, als er erklärt, was er mit „Chancengleichheit muss man leben“ meine (Interview Wartl):156 Wartl: „allen, allen, die das Profil dazu haben, zu helfen, dass… na, Profil ist ein schlechter Begriff, alle die die Möglichkeit haben einen bestimmten Job zu tun, gleichermaßen auch die gleiche Chance zu geben, diesen Job zu erfüllen, (...) Hat nichts mit Galanterie zu tun! Das ist ne andere Story, jemanden etwas nicht tun zu lassen, oder lassen zu wollen, weil man sagt, das gehört sich nicht, andere Story, aber ihm die Möglichkeit zu geben, wenn er es will, es auch zu tun, das ist Chancengleichheit, ja?“ I: „Mhm, können Sie mir mal ein Beispiel nennen, wo sie Galanterie da abgrenzen?“ Wartl: „Na ja, also, aber das gehört eigentlich gar nicht, das nehmen Sie weg! Also ich würde niemals auf die Idee kommen, ne Frau jetzt unbedingt, wenn jetzt zwei Kerle da sind, ne Kiste tragen zu lassen, das ist nicht mein Thema, aber wenn sie sagt, ich will das zeigen, dass ich’s kann, dann soll sie’s tun.“ (Interview Wartl; Führungsebene 1b) 155 Nach Goffman bezeichnet Ritual: „eine mechanische, konventionalisierte Handlung, durch die ein Individuum seinen Respekt und seine Ehrerbietung für ein Objekt von höchstem Wert gegenüber diesem Objekt und seinem Stellvertreter bezeugt“ (1974: 97, zit. nach: Knoblauch 1994). 156 Chancengleichheit zu leben wurde scharf abgegrenzt gegen eine Programmatik ‚Chancengleichheit in der Profit-AG‘, letztere wurde als „Phrase“ abgetan. Sein ‚Fazit‘ war „Chancengleichheit muss man leben oder es lassen“ (Interview Wartl).
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
Diese hier angeführte Galanterie ist verbunden mit einem normativen Verständnis des richtigen Umgangs mit dem ‚anderen‘ Geschlecht (vgl. „das gehört sich nicht“). Diese institutionalisierten Praktiken bringen, nach Goffman (1994), Unterschiede zwischen Männern und Frauen hervor, die dann als natürliche dargestellt werden.157 Neben dem Rückgriff auf solche Konventionen werden Geschlechterdifferenzierungen auch situativ ausgehandelt, wobei die von Goffman (1994) angesprochene Gleichzeitigkeit von Benachteiligung und Idealisierung von Frauen auch aufgebrochen wird. So in der folgenden Besprechung des Projektteams ‚Wissensverknüpfung‘: Zur Frage, welche Preise die Leute gewinnen können sollen, meinte Frau Maier: „wir müssen auch an die Frauen denken, die lesen keine Sachbücher“ Mir fiel sichtbar die Kinnlade runter und Frau Maier riss die Augen auf, lachte und meinte „ok, ich hab Frau Hericks jetzt völlig geschockt, sie wird ganz blass!“ was die anderen mit einem einstimmenden Lachen quittierten. Später zurück im Büro hat Frau Maier dies dann Herrn Kienzle erzählt. Er meinte: „Ja klar, irgendwer muss die Brigitte und wie sie nicht alle heißen, ja kaufen“ Frau Maier antwortete ihm, dass gerade Männer solche Zeitschriften lesen würden. Herr Kienzle widersprach, sie führte ihm ein Beispiel aus dem eigenen Umfeld an, er konterte mit Gegenbeispielen und sie verliefen sich im Beispiele nennen für und wider Frauenzeitschrift und waren sich dann letztlich einig im Beispiele nennen, dass Frauen keine Sachbücher läsen, aber prinzipiell mehr lesen würden als Männer. (Woche 3; Dienstag) Maier zieht mit ihrer Annahme über unterschiedliches Leseverhalten eine Grenze zwischen Männern und Frauen, die von Kienzle mitgetragen wird. Er schließt daran an, dass Frauen statt Sachbüchern Frauenzeitschriften läsen. Diese Grenzziehung lässt Maier nicht gelten: Die mit Frauenzeitschriften festgemachte Differenz wird hier ebenso wie bei den oben angeführten ‚Frauenthemen‘ aufgelöst und es erfolgt eine Neudefinition. Zwischen Sachbüchern und Frauenzeitschriften verortet Maier die Grenze zur Abwertung weiblichen Leseverhaltens. Kienzle ‚verwehrt‘ sich gegen die Unterstellung, „gerade“ Männer läsen Frauenzeitschriften. Er teilt damit implizit die Abwertung und weist sie von Männern ebenso ab. An diesem Punkt verharren beide in ihren divergierenden Zuschreibungen trotz wechselseiti157 „Die Betrachtung interpersoneller Rituale vermittelt den Eindruck, dass Frauen (...) unvertraut und ungeeignet für alles sind, was Muskelkraft, handwerkliches oder elektrisches Wissen oder ein körperliches Wagnis erfordert. (...) Folglich hat der Mann die Pflicht einzuschreiten, wann immer eine Frau auf irgendeine Weise stark bedroht oder stark belastet zu sein scheint.“ (Goffman 1994: 119f.) Interessanterweise bedarf es bei Goffman nur eines Mannes bei Wartl zweier.
7.5 „Das hätte kein Mann verstanden“
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ger Überzeugungsversuche. Dennoch wird eine Einigung erzielt: Dabei wird der Knackpunkt übergangen und ein Nenner in einem ‚verwandten‘ Bereich gefunden, indem eine Differenz zwischen männlichem und weiblichem Leseverhalten einig konstatiert wird, die nicht hierarchisiert ist, bzw. individuell unterschiedliche Wertungen zulässt. Inwiefern dieses Thema unterschiedlichen Leseverhaltens überhaupt so weit relevant ist, es am Arbeitsplatz zu diskutieren, ist für Kienzle und Maier hier unbedeutend. Wichtiger ist die Diskussion als solche und letztlich der Konsens, d.h. die Bestätigung, dass man sich verstehe. 7.5 „Das hätte kein Mann verstanden“ Frau Maier hatte Geburtstag. Nachmittags gab es Prosecco, Chips, Brötchen und ähnliches. Als Herr Wartl da war, brachte Herr Shaboa das Thema aufs Tablett, dass wenn jemand vor einem auf der linken Spur mit 100 tuckere, es immer eine Frau sei. Wartl stimmte zu, Wolthoff zog es ins Lächerliche (wie jedes Thema) und Kienzle und Maier versuchten dagegen zu protestieren. Das Thema wurde dann, ohne jeglichen Erfolg von Seiten Kienzles und Maiers fallen gelassen. Allerdings inszenierte Wartl den Verweis von Kienzle an Shaboa, er pflege seine Vorurteile, als: „meine Vorurteile sind mir lieb und teuer…“. (Woche 1; Freitag) Auch dieses Thema ist nicht per se diskussionsrelevant, aber wird hier zum ‚Geschlechterkampf‘: Dieser zieht eine Grenze zwischen Maier und Kienzle auf der einen, Shaboa und Wartl auf der anderen Seite. Wolthoff entzieht sich der Positionierung. Auch für die AkteurInnen erscheint das Thema an sich hier nicht relevant: Es kann fallen gelassen werden und als gern gepflegtes Vorurteil bezeichnet werden. Wesentlich erscheinen hier vielmehr die Positionierung bzw. die Selbstverortung anhand dieses Themas und damit die Grenzziehung zwischen den Parteien.158 Diese wird in der folgenden Situation verschärft: 158 In dem Team wird Autofahren als Grenze zwischen den Geschlechtern nicht zugelassen. Diese Geschichte repariert Herr Shaboa entsprechend: Frau Mende erzählte, dass sie später noch 4 Stunden Autofahren müsse und Herr Shaboa war ganz überrascht dass sie nur 4 Stunden brauche bis zu dem Ort, an den sie wollte. Ich meinte zu Herrn Shaboa: „Herr Shaboa, wenn sie mal mit Frau Mende fahren, dann werden sie aber ganz schnell nicht mehr sagen Frauen würden mit 100 auf der linken Spur fahren.“ Herr Shaboa bestritt sofort, dass er 100 gesagt hätte, wiederholte, was er gesagt hatte und ersetzte dabei 100 durch langsam. Dann erzählte er eine Geschichte, bei der eine Frau einen recht zackigen Fahrstil gezeigt hatte. (Woche 4; Freitag) Fahrzeuge und ihre technischen Details (beides im Alltagsdenken männlich konnotiert) wurden sonst ‚entgeschlechtlicht‘ diskutiert. So z.B. als Mende, Krüger und Shaboa sich über Limousinen unterhielten, dabei Fahrverhalten, Technik und Werteverfall ihrer Dienstwägen beurteilten. Sha-
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
Braun erzählte beim Mittagessen, dass sie letztens eine lange Diskussion mit Herrn Shaboa über Emanzipation gehabt habe: Irgendwo habe Verkäufer/in gestanden und Herr Shaboa habe gemeint „na das kann ich ja schon mal gleich gar nicht leiden“ Frau Braun hat nachgefragt: „wie, Sie können Verkäuferinnen nicht leiden?“ und er habe gleich angefangen: „nein, früher hat es vollkommen gereicht, wenn da Verkäufer stand, und es war allen klar, aber so…“ Frau Braun erzählte weiter „na und da hatte ich ja mal gleich so gar keinen Bock drauf und habe gleich gesagt: ‚also Herr Shaboa, da fange ich gar nicht erst ne Diskussion mit Ihnen an’ aber er hat gleich losgelegt: überhaupt und mit dem Erziehungsurlaub, dass sei ja eine Schweinerei und Teilzeit, Frau Braun, da können Sie doch echt nicht erwarten, dass Sie da befördert werden“ Er habe dann von einer Kollegin (bei einem früheren Arbeitgeber) erzählt „die auch so ihre 10-12 Stunden am Tag gearbeitet hat, aber als es dann für zwei Tage nach Berlin gehen sollte, hat die gesagt, dass mache ich nicht, da gehe ich nicht mit, ich lasse mein Kind nicht alleine zuhause. Wenn die befördert worden wäre, das hätte kein Mann verstanden!“ Allgemein sei es ja so, referierte Frau Braun Herrn Shaboa, dass schon die 8 Wochen Mutterschutz eine kaum wieder aufzuarbeitende Wissenslücke darstellen, da könne keine Frau erwarten, dann befördert zu werden. Frau Braun erzählte, sie habe ihm daraufhin geantwortet, (...) in Deutschland läge das Problem bei der Kinderlosigkeit und wie er Frauen dazu bewegen wolle, Kinder zu bekommen, wenn das ihren Karrieretod bedeuten würde. Frau Maier, Herr Kienzle und Herr Betzler waren daraufhin entrüstet. Frau Maier meinte dazu: „ich bin noch viel zu nett zu Herrn Shaboa, das ist ja noch schlimmer als die dämliche Geschichte über Frauen mit 100 auf der linken Spur!“ Betzler erklärte, das Ende vom Lied könne man in der Schweiz sehen: da müssten die Frauen direkt nach dem Mutterschutz wieder arbeiten, damit sie nicht gekündigt würden und das Ergebnis sei, dass die Hälfte der Schweizer Bevölkerung über 60 sei. (Woche 2; Dienstag) Frau Braun wollte sich nicht auf eine Diskussion einlassen. Herr Shaboa dagegen setzte ihrer Erzählung zufolge zu einer Diskussion an und griff sie persönlich an. Frau Braun führt in das Gespräch mit dem Team Shaboas Perspektive jedoch nicht als persönlichen Affront ein, sondern als eine aggressiv vertretene Position (vgl. „gleich los gelegt“; „Schweinerei“), die er allgemein und grundsätzlich (vgl. boa erzählte Krüger, dass er keine Ahnung habe, wie er die Uhr bei seinem Wagen einstellen könne. Sie antwortete gespielt arrogant: „Herr Shaboa, das geht doch über das Navigationssystem. Das steht doch alles im Handbuch! Soll ich Ihnen da mal eine technische Hilfestellung geben?“ Alle lachten (Shaboa ist technischer Spezialist). (Woche 5; Freitag)
7.5 „Das hätte kein Mann verstanden“
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„überhaupt“) gegenüber „Emanzipation“ habe. Indem die geschlechtergerechte Schreibweise „Verkäufer/in“159 statt des generischen Maskulinums als Anlass Shaboas angeführt wird Teilzeittätigkeit, Mutterschutz und ähnliche Reduktionen einer auch über die regulären Anforderungen hinausgehenden Arbeitszeit zu diskutieren und ebenso abzulehnen, wird dies automatisch zu einer Geschlechterfrage, in der sich zwei monolithische Blöcke gegenüber stehen: Die ehemalige Kollegin und Frau Braun, stehen der Gesamtheit von Männern (vgl. „das hätte kein Mann verstanden“) gegenüber, die so wiederum auch von allen Frauen abgegrenzt sind. Diese Blöcke werden im Gespräch mit den Teammitgliedern zum Teil stehen gelassen, zum Teil aufgelöst. Stehen gelassen wird die Grenzziehung in der von Frau Braun angeführten und Herrn Betzler fortgeführten Argumentation. Die Differenzierung zwischen Männern und Frauen erfolgt über Schwangerschaft/Geburt und die Sorge für Kinder. Dabei wird der auf persönliche Erfahrungen beruhenden Meinung Shaboas eine sachliche Argumentation entgegengesetzt entsprechend eines in Medien und Politik durchaus gängig hergestellten Zusammenhangs der demographischen Entwicklung und einer auf Frauen fokussierenden Gleichstellungs- und Familienpolitik. Dieser Zusammenhang wird von Frau Braun drastisch formuliert: Das ‚Aussterben der Deutschen‘ steht in direktem Zusammenhang mit dem „Karrieretod“ von Frauen. Betzlers Formulierung „das Ende vom Lied“ folgt dieser Dramatisierung – auch darin besteht hier Einigkeit. Aufgelöst werden die monolithischen Blöcke dahingehend, dass die Position, die in der Erzählung allen Männern zugeschrieben wird, auch von den anwesenden Männern als Herrn Shaboas Sichtweise markiert und abgelehnt wird. Mit ihren TeamkollegInnen ist sich Frau Braun hier einig. Sie kann schon zu Beginn der Erzählung voraussetzen, dass alle wissen, welche Meinung sie vertritt zur Schreibweise ‚Verkäufer/in‘ und warum sie keine Lust auf eine Diskussion hatte. Dieser Konsens zwischen Frau Braun und den Teammitgliedern wird in Abgrenzung zu Shaboa fortgeführt. Auch von den KollegInnen wird nicht der persönliche Angriff gegenüber Braun in den Vordergrund gestellt, sondern eine geteilte Meinung zu ‚all diesen Themen‘ (vgl. „die dämliche Geschichte“) und eine geteilte Meinung über Herrn Shaboa (vgl. „ich bin noch viel zu nett zu Herrn Shaboa“). Genau dieser geteilten Position wegen konnte für Frau Braun die Meinungsdifferenz zwischen Shaboa und ihr zur geschlechtergerechten Schreibweise bestehen bleiben. Mehr noch beinhaltet ihre Verweigerung einer Diskussion für sie kein Risiko einer Diskriminierung durch Shaboa, sondern schließt Shaboa aus: Das 159 Im Projektteam wird für gewöhnlich keine geschlechtsdifferente Schreibweise verwendet. In einer Besprechung mit Führungskräften nutzte Zagermann ausschließlich die weibliche Form mit dem Hinweis vorab, Männer seien mitgemeint. Er erzählte anschließend, bei den Frauen habe dies nur Belustigung hervorgerufen, die Männer hätten teilweise aber auch irritiert oder gar verärgert reagiert (Woche 11; Dienstag).
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
Diskutieren an sich bietet, wie oben gezeigt, die Möglichkeit sich im Team zu verorten, bzw. als Teil des Teams verortet zu werden. 7.6 „Wir Männer gucken gar nicht auf die Beine!“ Geschlecht spielte im Arbeitsalltag häufig keine Rolle. Es wurde auch ‚sozial vergessen’ und zur Karteileiche (vgl. Hirschauer 2001). Aktualisierungen von Geschlecht erfolgten in Scherzen auch konträr zur empirischen Geschlechtskategorie, was Attributierungen qua Geschlecht aufhob und Essentialisierung entgegen wirkte. Eine Form der Aktualisierung analog zur empirischen Geschlechtskategorie, die Annahmen über Geschlecht implizierten, waren Umgangsformen, die (nicht nur von Wartl) als durchgängig vereinbar mit Chancengleichheit galten. In diesen Umgangsformen konnten Männer ‚den Mann machen‘ (vgl. Hirschauer 2001) und Frauen analog ‚die Frau‘, ohne dass Geschlecht einen Bereich berührte, der für die Tätigkeit im Konzern relevant war. Fortpflanzung, an der im Alltagsdenken die Geschlechterdifferenzierung sonst häufig festgemacht und über die sie oft legitimiert wird, wurde nur in der Diskussion zwischen Shaboa und Braun über die gesetzliche Regelung des Mutterschutzes indirekt relevant gemacht für eine Geschlechterdifferenzierung, indem nach der Erzählung Brauns, Shaboa daran die Aktualisierung seiner und Frau Brauns Geschlechtszugehörigkeit anschloss. In dem Gespräch über diesen Dissens zwischen Braun und Shaboa dagegen wurde die Geschlechtszugehörigkeit der Beteiligten nicht bedeutsam (gemacht). Außer in dieser Diskussion erhielt Elternschaft im Beobachtungshorizont keine Funktion für eine Reproduktion der Geschlechterdifferenzierung.160 Eine Aktualisierung der zwei und nur zwei Geschlechtskategorien fand im Arbeitsalltag allerdings häufig über Sexualität statt, die im öffentlichen Diskurs in und über Organisationen nach wie vor wesentlich weniger beachtet wird.161 Dort 160 Damit soll nicht gesagt werden, dass dort, wo Fortpflanzung biographisch virulent wird (bspw. als Schwangerschaft und Stillzeit), oder Elternschaft mit einem traditionellen Rollenverständnis einhergeht, Geschlechterdifferenzierungen keinen Einfluss auf Gleichstellung haben können. Es zeigt sich aber, dass dies keine Rolle für die Wahrnehmung im Alltag spielen muss. Dies unterstützt die These, dass die praktische Bedeutung dieser biographischen Phasen und familiären Pflichten geringer sei, als die statistische Diskriminierung durch Personalverantwortliche (vgl. Quack 1997), Kollegen oder Vorgesetzte (vgl. Belinszki 2002; Krais 2000; Nentwich 2004; Riegraf 1993). Dies erfolgt hier nicht – auch nicht gegenüber jungen Frauen. In Interviews wurde es als Zuschreibung jedoch thematisiert, so z.B. bei Braun, Johanna Busch (Führungsebene 2), Kienzle, Oswald. 161 Sexualität wird mit Burrell/Hearn (1989) verstanden: „Sexuality is a diverse and diffuse process: it’s not a ‘thing’ brought into organizations, there to be organized. (...) We therefore see it as necessary to broaden definitions of sexuality in at least two ways: (1) to see sexuality as an ordinary and frequent public process rather than an extraordinary feature of private life; and (2) to see sex-
7.6 „Wir Männer gucken gar nicht auf die Beine!“
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wurde die eigene Geschlechtszugehörigkeit regelmäßig interaktiv und diskursiv validiert und mit oder entgegen der vorab unterstellten heterosexuellen Orientierung auch eine Ausweisung des Geschlechts der (erwünschten) PartnerInnen vollzogen. Alltäglich spielte die (wohlwollende) Begutachtung sexueller Attraktivität eine Rolle, bei der die eigene Geschlechtskategorie und die Geschlechtskategorie der begutachteten Person über die heterosexuelle Matrix aktualisiert wurden: Während des Gesprächs kam Herr Zagermann ins Büro (...) Zagermann meinte [zu mir]: „Und Sie haben neue Schuhe?“ Es dauerte etwas, bis ich begriff, dass er auf die bunten Pflaster an meinen Fersen anspielte (...). Frau Maier erzählte, auch Herr Brenig habe sie darauf angesprochen und auch Herr Kienzle hatte es sich nicht nehmen lassen, nach meinen bunten „Hansaplast“ zu fragen. Ich erklärte, dass ich nicht dachte, dass es so auffiele. Frau Maier antwortete, dass es den Männern doch immer auffalle, da sie bei Frauen immer auf die Beine schauen. Ich erwiderte, dass ich ja dann beruhigt sein könne, dass sie am unteren Ende schauten. Frau Maier klärte mich auf, dass Männer von unten nach oben und wieder zurück schauen würden, und sich sicher nicht nur an meinen Füßen aufhalten würden. Herr Zagermann rief dazwischen: „Wir Männer gucken gar nicht auf die Beine! Wir gucken nur auf die Hände und in die Augen!“ (Woche 6; Donnerstag) Durch das Gespräch über das Pflaster wird die in der Interaktion immer gegebene Körperlichkeit anwesender Personen (vgl. Goffman 1994) relevant gemacht.162 Die Körperlichkeit kann genutzt werden, um die Geschlechtszugehörigkeit am Körper zu verhaften und wird dies hier auch: Die Forscherin wird zur Frau gemacht, indem ihre Beine zum Blickobjekt von Männern erklärt werden. Durch physische Anwesenheit gegebene Verletzlichkeit ist, wie Goffman (1994) erklärt, in das Geschlechterverhältnis in der Form eingelassen, dass eine Verletzbarkeit von Frauen durch Männer sozial betont und daher durch Verhaltensnormen reglementiert wird. Da die Körperlichkeit der Forscherin nun relevant gemacht wird, streicht sie ihre sexuierte und potentiell sexualisierte Verletzlichkeit heraus (vgl. „dass ich ja dann beruhigt sein könne“). Maier lässt den Rückzug der Forscherin nicht zu, sondern forciert eine sexuelle Aufladung wiederum über die Generalisierung männlicher (und ‚automatisch’ heterosexueller) Verhaltensweisen. Zagermann uality as one aspect of an all-pervasive ‘politics of the body’ rather than a separable, discrete set of practices (Foucault, 1977). Thus, sexuality includes a range of practices from feelings to flirtation to sexual acts, accomplished willingly, unwillingly or forcibly by those involved” (ebd.: 13). 162 Vgl. „Wo auch immer ein Individuum sich befindet (...), es muss seinen Körper dabei haben. Das bedeutet, dass auch die Verletzungen, die Körper anderen zufügen oder selber erleiden können, als immer aktuelle Möglichkeit Teil jeder Situation sind“ (Goffman 1994: 152).
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
bekräftigt dies in einer scherzhaften Abwehr der Unterstellung und erlangt, wie Goffman für solche Situationen konstatiert, „zumindest die Bestätigung seiner Geschlechtsidentität“ (Goffman 1994: 156; vgl. Zagermann: „Wir Männer“).163 7.7 „Lieber einen guten Freund verlieren, als einen guten Witz!“ In der Wahrnehmung der Forschung und im Umgang mit der Forscherin wird deutlich, dass Gleichstellung auch im Arbeitsalltag als Norm aufgefasst wird. Entsprechend wurde der Forscherin gegenüber expliziert, dass man sich an dieser Norm orientiere, durch kritische Sicht auf die Wirklichkeit (Krüger, Mende), Betonung des hier („UBZ“/„Profit-AG“) fortgeschrittenen Stadiums (Braun, Kienzle, Shaboa, Zagermann) und/oder in Hinsicht auf das eigene emanzipative Verhalten.164 Darüber hinaus trug die Vorstellung, Chancengleichheit existiere bereits – man sei (schon) gleichberechtigt – die Wahrnehmung organisationaler Wirklichkeit. Dies erfolgte über die Setzung, Männer und Frauen verstehen sich: Entgegen dem Verständnis des Projekts „Konsens“ (vgl. Kap. 6.4) muss ein Konsens zwischen den Geschlechtern hier nicht erst angestrebt werden, sondern besteht. Ergeben sich mal in einzelnen Punkten noch Uneinigkeiten, so können diese einfach durch eine Diskussion geklärt werden und es bedarf keiner gleichstellungspolitischen Programmatik. Solche – auch sachlich unnötigen – Diskussionen vergegenwärtigen den grundsätzlichen Konsens und veranschaulichen die herrschende Gleichberechtigung. Mehr noch definieren Teilnahme an und Ausschluss von diesen Diskussionen zu Männer- und Frauen-Themen bzw. Gleichstellungsfragen die Zugehörigkeit zu informellen Gruppen bzw. die Grenzen dieser: In Fragen der Chancengleichheit und Gleichstellungspolitik muss man miteinander Konsens haben. Teilweise auch unkonventioneller Konsens zu Geschlechterverhältnissen und Gleichstellung wie zum Leseverhalten fungiert hier somit als institutionalisierte Verständigungsbasis und definiert legitimes und illegitimes Verhalten. Aufgrund der geteilten Betonung der Zusammenarbeit als Selbstzweck gegenüber (anderen) Organisationszwecken schafft Common Sense über Gleichstellung auch über die einzelne (informelle) Gruppe hinaus Identifikation mit dem UBZ und dem Konzern, wirkt über dieses Verständnis integrierend und gilt hier vorausgesetzt für eine (gute) Zusammenarbeit. Das in Kapitel 7.1 beschriebene 163 In Hinsicht auf Sexualität wurde aber nicht nur die (‚natürliche‘) Zweigeschlechtlichkeit aktualisiert, sondern auch alltäglich normative Grenzen zwischen organisationaler und außerorganisationaler Wirklichkeit hergestellt, verhandelt, neu gezogen, festgelegt und verschoben (vgl. Kap. 8). 164 Herr Kienzle erzählte, dass er immer in Teams mit überwiegend Frauen gearbeitet hätte und auch meistens weibliche Vorgesetzte gehabt hätte und dass er das Arbeitsklima zu schätzen gewusst habe. (Woche 2; Dienstag)
7.7 „Lieber einen guten Freund verlieren, als einen guten Witz!“
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Plakat der Personalabteilung, das im gemeinsamen Büro hängt, erscheint vor diesem Hintergrund umso mehr als Symbol für die Sicht auf die Organisation: Aus dem Blickwinkel des Teams erscheinen Informalität, Freiraum, Kreativität, Gleichberechtigung – wobei Frauen auch in den Vordergrund treten können – und Orientierung auf das Miteinander das, was ‚den Konzern’ ausmacht. Die Wertung von Gleichstellung als Fortschritt wurde der Forscherin gegenüber in einem Bewusstsein über Gleichstellungsbedarf verdeutlicht und gezeigt, dass man daran arbeite ‚Chancengleichheit‘ herzustellen. Der paradoxe Anspruch, Chancengleichheit muss bestehen und Gleichstellung muss notwendig sein, wird mittels der Förderung der Forschung ein Stück weit entschärft. Diese wurde zu einem Medium um Bemühen zu signalisieren, stets besser werden zu wollen, und dabei gleichzeitig zu zeigen, dass man bereits auf einem hohen Niveau angelangt sei: Es bedarf einer Expertin um Lücken zu finden und weiteres Wissen um Gleichstellung ist ExpertInnenwissen, das den Organisationsmitgliedern nicht eigen sein muss/kann. Eine weitere Umgangsweise mit den zunächst widersprüchlichen Normen ist eine Entkopplung dieser beiden durch Scherze. Berger (1998) sieht die Komik in Anlehnung an Schütz als einen „geschlossenen Sinnbereich“ (ebd.: S. 8) wie Träume, Kinderspiele, religiöse, ästhetische oder musische Erlebnisse. All diese bilden eine „Nebenwelt“ (James zit. nach Berger 1998: 8) neben der dominanten Realität der Alltagswelt. Das Komische „erscheint im Alltag, verwandelt diesen momentan und verschwindet rasch wieder“ (Berger 1998: 12). Das Lachen leistet im Falle des Komischen diesen Sprung zwischen den Welten. In der folgenden Situation ist der Sprung wesentlich komplexer und wird gezielt hergestellt: Zagermann und Kienzle sagten gleichzeitig dasselbe, was Zagermann kommentierte mit „zwei Männer ein Gedanke!“ Nach einer kurzen Pause ergänzte er „Ein Mann zwei Gedanken…“, was ich vollendete mit „…schon seltener“ und hielt mir gleich erschreckt, weil mir das so ‚rausgerutscht‘ war, die Hand vor den Mund. Zagermann lachte und meinte: „das musste raus!“. Er hätte ja gewusst, dass ich mir die Steilvorlage nicht entgehen lassen könne und manchmal sei es einfach so: „lieber einen guten Freund verlieren, als einen guten Witz!“ (Woche 3; Freitag) Mit der Umformulierung des Spruchs ‚zwei Dumme ein Gedanke‘ in „zwei Männer ein Gedanke“ macht Zagermann Kienzles und seine Geschlechtskategorie bedeutsam und kreiert daraus eine Gemeinsamkeit, dernach man sogar das Gleiche denkt. Der Konsens zwischen ihnen übersteigt damit qua Geschlechtshomogenität die oben angeführte Verständigungsbasis zwischen den Geschlechtern. Auf der Grundlage der so aktualisierten Geschlechterdichotomie gibt er über die Ergänzung
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
„Ein Mann zwei Gedanken“, die er offen lässt, ‚den Ring frei‘ für den Geschlechterkampf. Im Konter der Forscherin, stellt sie ebenso ihr Geschlecht her und verortet sich auf der Gegenseite des Geschlechterkampfs. Die von Zagermann vollzogene (Selbst-)Aufwertung durch die Ersetzung der ‚Dummen‘ durch ‚Geschlechtsgenossen‘ wird schon in seiner Weiterführung ein Stück zurückgenommen: Das Zahlenspiel lässt eine Selbstverständlichkeit darüber, dass Männer viel denken, nicht zu. In der Reaktion der Forscherin wird dies noch reduziert – der Satz wird hier ‚männerfeindlich‘ beendet. Zagermann setzt in seiner Reaktion (die verlegene Forscherin zu beruhigen) Geschlechterkampf, Witz und Konsens im (Arbeits-)Alltag nun in ein Verhältnis. Zunächst signalisiert er, dass er verstanden habe, dass es nur so rausgerutscht sei und legitimiert dies (vgl. „das musste raus!“): Hier darf man also auch mal etwas ‚raus‘ lassen. Anschließend bezieht er sich in diesen ‚männerfeindlichen‘ Spruch mit ein, indem er sich eine „Steilvorlage“ zuschreibt und sich selbst mit verantwortlich macht für meine Reaktion (vgl. „er habe [das] ja gewusst“). Damit stellt er sich auf die Seite derjenigen, die im Geschlechterkampf gegen Männer antreten und dies bedeutet in einer Welt von zwei und nur zwei Geschlechtern, dass er sich nun wie zuvor bezüglich des Klimakteriums auf der Frauenseite verortet. Dies ergänzt er, indem er mich im nächsten Schritt auf seine Seite der (Männer-)Freundschaften setzt: Der Bund der Geschlechtsgenossen wird gelockert (ein Witz ist mehr wert als diese) und geöffnet, denn indem das Risiko ihn zu brüskieren in der Aussage „lieber einen guten Freund verlieren“ enthalten ist, wird unser Verhältnis als quasi ‚freundschaftlich‘ dargestellt. Durch die Setzung, dass ein guter Witz auch den Verlust eines guten Freundes überbietet, wird implizit ein geteilter Humor zu einer Garantie für den Erhalt eines freundschaftlichen Verhältnisses. Die Scherze im Arbeitsalltag erhalten über diese Verknüpfung somit ebenfalls die Funktion einer Verständigungsbasis: Welcher Witz gut und welcher schlecht ist, wie weit man gehen darf mit dem Geschlechterkampf und wer ihn ‚anzetteln‘, wer ihn weiterführen darf, wer mitmachen darf und sollte, muss ebenso Konsens – eben geteilter Humor – sein und wirkt integrierend. Durch ihren Spruch, den Zagermann provoziert hat, integriert sich die Forscherin in genau diesen Humor: Sie sollte sich diesen Spaß ‚nicht entgehen lassen‘, den der Geschlechterkampf hier bietet, auch wenn – oder vielleicht auch gerade weil – es ihrer wissenschaftlichen Qualifikation wegen ein ernsthaftes Thema für sie ist. Die Ernsthaftigkeit des Themas ist eine bedeutsame Voraussetzung: Das Komische taucht im Erleben auf als „die Wahrnehmung einer ansonsten verschlossenen Dimension der Wirklichkeit – nicht nur seiner eigenen Wirklichkeit“ (Berger 1998: 17). Dadurch erhält es eine Nähe zur Realität, die es ermöglicht, dass sich das Komische wie „eine Art Subtext innerhalb des Alltags“ verhält gegenüber den
7.8 „ein klares Commitment“ – Chancengleichheit und Gleichstellung
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„ernsthafteren Motiven, um die man sich im ‚wirklichen Leben‘ zu sorgen hat“ (Berger 1998: 12). Genau das geschieht in den scherzhaften Geschlechterkämpfen: „Humor provides a conduit (...) to negotiate complex aspects of gender identity (...) constructing, at times, a stereotypical gender identity, while challenging and undermining those norms on other occasions.“ (Holmes 2006: 137) Der Aushandlung und Bewältigung voraus geht dabei die Wahrnehmung: Das Lachen ist der Sprung, in dem die Wahrnehmung dieser ansonsten verschlossenen Dimension geschieht und verdeutlicht wird. ‚Unterschwellige‘ Themen, gerade auch Themen, die z.B. durch „Egalitätsmythen“ (Funder et al. 2006) verschleiert werden, werden über den Humor an die Oberfläche gespült, somit wahrnehmbar und im selben Schritt verhandelbar. Die Widersprüchlichkeit zwischen den o.g. normativen Anforderungen fungiert in diesem Fall als diejenige Ambivalenz, die den Scherz ermöglicht, d.h. Alltagswelt und Nebenwelt trennt. Auf diese Weisen trennen wiederum die Scherze die Normen: Eine der Normen wird in die Nebenwelt abgelegt und kann so unabhängig von der anderen verhandelt werden. Geschlechterkampf, Selbstcharakterisierungen als sexistisch165 oder chauvinistisch und Witzeln über Männerförderung verlagern Ungleichheit zwischen Geschlechtern in eine Nebenwelt und symbolisieren damit kontrastiv den Status erreichter Chancengleichheit im Arbeitsalltag. „Aber im Ernst“ (Zagermann) kann dank der Scherze der Gleichstellungsbedarf daneben unangefochten bestehen bleiben. Dies muss man zu trennen verstehen. Wartls Selbstironisierung seiner Vorurteile (vgl. Kap. 7.5) belegen das: Der schlechte Witz über das Fahrverhalten von Frauen mag ärgerlich sein, ist aber auf diese Weise noch diskutabel. „Aber im Ernst“ ist eine Diskussion ausgeschlossen, im Ernst muss Konsens vorausgesetzt sein. Die Grenze, die Shaboa mit seiner Position zu Mutterschutz und Teilzeit überschritten hat, ist genau die Grenze, an der der Spaß aufhört. 7.8 „ein klares Commitment“ – Chancengleichheit und Gleichstellung Zusammengefasst zeigt sich die oben explizierte Sicht auf Organisation relevant für die Bedeutung von Gleichstellung im Arbeitsalltag. Betonung und Herstellung des Miteinanders wird getragen durch informelle Interaktionsmodi. Zum einen spielen hier Aushandlungen eine Rolle, um Einigkeit zu erzielen und informelle 165 Vgl.: Maier fragte mich, wie ich die Besprechung fand, ihr sei nachher aufgegangen für was für Sexisten ich sie („uns“) halten müsse (und lachte). Kienzle meinte: „sind wir doch“, sie legte den Finger auf den Mund und machte „psst, das muß ja nicht jeder wissen!“ (Woche 3; Mitwoch).
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
Teamgrenzen sowie -zugehörigkeit zu schaffen. Zum anderen wird durch Kommunikation Einigkeit demonstriert, und dabei common sense reproduziert und bestätigt. Ein wesentlicher Interaktionsmodus ist zu scherzen und zu witzeln, wodurch ‚Grenzbereiche’ des Miteinanders gefahrlos betretbar werden. Humor gehört genauso zu den im common sense verankerten Werten, die das gute Miteinander tragen, wie Vertrauen, Fairness, Gleichberechtigung und damit verbunden Chancengleichheit und Emanzipation. Aus diesen „Werte[n], die uns im UBZ sehr wichtig sind“ (Zagermann; Produktiv 12/2004) wird Gleichstellung abgeleitet, in den Arbeitsalltag integriert und als Gleichstellungsnorm institutionalisiert. An die Institutionalisierung der Gleichstellungsnorm kann sich in dem untersuchten Team auch Gleichstellungspolitik anschließen. Dies ist nicht selbstverständlich. Vielmehr zeigte sich anhand der Interviews eine Achse hierzu zentral, die sich in der Kontrastierung Jansens und Zagermanns bereits andeutete und im Folgenden anhand der Interviews mit Johanna Busch (UBZ; Führungsebene 2) und Mareike Braun (Team Projektarbeit) verdeutlicht wird: I: „Was bedeutet für Sie Chancengleichheit in der Profit-AG?“ Johanna Busch: „mhm, tja, muss ich mal überlegen, also für mich bedeutet das, dass äh ich die gleichen Möglichkeiten hab wie en Mann in der Organisation, dass ich äh, genauso berücksichtigt werde für Beförderung und äh in meinen Augen auch so behandelt werde, also ich möchte auch keine Extrawurst haben in dem Sinne, weil ich ne Frau bin, sondern für mich bedeutet Chancengleichheit, dass ich auch in Erwägung gezogen werde für ne höhere Positionen einfach aufgrund meiner Fähigkeiten, (...)“ I: „mhm. Und ähm wie erleben Sie das im Arbeitsalltag“ Busch: „Mh! Muss ich ganz ehrlich sagen, (.) gar nicht so einfach für mich zu beantworten, wie ich das erlebe, (3) tschuldigung (lachend) da fällt mirmuss ich gleich noch mal darauf (...) zurückkommen wie ich das erlebe. Oder ähm. Ich muss sagen, also ich habe bisher also nicht die Erfahrung gemacht in der Profit-AG, dass es negativ wäre, dass ich weiblich wäre, und ich hab’s an sich auch nicht die Erfahrung gemacht, dass ähm - wie soll man sagen - dass ich deswegen auch für gewisse Dinge nicht in Erwägung gezogen worden wäre, ist jetzt nicht mein Eindruck. Ich muss dazu sagen, ich habe allerdings auch die Erfahrung gemacht – aber ich denke, das ist jetzt nicht Profit-AG-spezifisch – dass man als Frau trotzdem immer noch jemanden haben muss, der – wie sacht man – so nen bisschen – wie sacht man – der jetzt auch daran denkt, der einen auch so’n bisschen berücksichtigt, also ich denk bei Männern ist das n bisschen einfacher, durch n Network, das se haben, ham se einfach, bei ner Frau da muss man trotzdem jemand haben, der drüber ist, der vielleicht auch einfach einen berücksichtigt,
7.8 „ein klares Commitment“ – Chancengleichheit und Gleichstellung
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und der dran denkt, ah, da ist ja noch die Frau Busch z.B., die man für sowas in Erwägung ziehen könnte.“ (Interview Busch; Führungsebene 2)166 Chancengleichheit besteht hier, indem keine ungleiche Behandlung erfolgt (vgl. „genauso berücksichtigt werde“; „keine Extrawurst“). Wie bei Jansen, aber auch in den Studien Funders et al. (2006) und Nentwichs (2003) ist hier also die Absenz von (auch positiver) Diskriminierung die Konzeption von Chancengleichheit. Daran anschließend ist für die Interviewte die Frage, wie sie das im Arbeitsalltag erlebt, nicht so einfach zu beantworten. Zunächst erfolgt dies dann auch mit der Benennung von Dingen, die ihr nicht begegnet sind, woran dann vorsichtig Abwesenheit von Ungleichbehandlung festgemacht wird (vgl. „ist jetzt nicht mein Eindruck“). Anders als bei den angeführten Studien werden hier also Interaktion und Anspruch an die Organisation nicht dissoziiert, sondern der Maßstab auch geltend gemacht. Die Vorstellung, dass keine Unterschiede gemacht werden sollen, beinhaltet jedoch, dass das Gleichheitsdilemma (vgl. Knapp 2008) auf eine spezifische Weise virulent wird. Mit der Überleitung „allerdings“ eröffnet Busch im nächsten Schritt eine Abweichung, die über Geschlecht getragen wird (und so über die Profit-AG hinaus) und einen bestimmten Bedarf bei Frauen konstatiert (vgl. „dass man als Frau trotzdem immer noch jemanden haben muss“). Dieser Bedarf kann zunächst zügig formuliert werden, anschließend jedoch ergeben sich Formulierungsprobleme, denn der Anschluss im Gliedsatz (vgl. „noch jemanden haben muss, der -“) beinhaltet, dass dieser jemand nun etwas tun muss. Das bereitet die Schwierigkeit in der Formulierung, denn wenn man „als Frau“ jemanden haben muss, der für einen etwas Bestimmtes tut, dann kann das Ungleichbehandlung bedeuten, eben „Extrawurst“. Diese Ungleichbehandlung wird, noch bevor eine Handlung beschrieben wird, relativiert (vgl. „so nen bisschen“), dann erst einmal als Denken bezeichnet, das auch nicht auf sie, sondern auf etwas gerichtet ist (vgl. „der jetzt auch daran denkt“), bevor es – de facto als Gleichbehandlung beschrieben – zu einer Handlung überhaupt wird (vgl. „der einen auch so’n bisschen berücksichtigt“). Dem wird auch sofort eine Erklärung nachgeschoben, inwiefern diese, in ihren Augen besondere Behandlung „als Frau“ nur einen Ausgleich darstellt (vgl. „also ich denk bei Männern ist das n bisschen einfacher, durch n Network, das se haben“), und die ungleiche Ausgangslage dann noch einmal bekräftigt (vgl. „ham se einfach“). Die normative Setzung der Gleichbehandlung (vgl. Antwort 1. Frage: „dass ich äh, genauso berücksichtigt werde“) wird hier als Widerspruch empfunden zu jeglicher abweichender Behandlung (vgl. Antwort 2. Frage „auch so’n bisschen berücksich166 Johanna Busch ist eine von drei Frauen auf der Führungsebene 2 im UBZ. Damit stellen Frauen 13% der Führungskräfte auf dieser Ebene im UBZ, was gegenüber der Gesamtorganisation eine doppelt so hohe Quote bedeutet.
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
tigt“). Der Anspruch gleicher Behandlung schafft also trotz Wahrnehmung ungleicher Ausgangslagen ein Gleichheitsdilemma, indem Gleichstellung als Handlung schwierig wird. Anders sieht das im Team Projektarbeit aus: Mareike Braun: „Also Chancengleichheit, ja dass alle Mitarbeiter entsprechend ihrer Fähigkeiten, Kenntnisse und sag ich jetzt mal Bereitschaft sich (.) einbringen können unabhängig welches Geschlecht, welche Rasse, welche körperliche- Behinderung oder Nichtbehinderung, und aber auch bei der Weiterentwicklung, dito bei der Weiterentwicklung, nicht nur bei der normalen Arbeit, dass man sich so einbringt, sondern dass man sich auch weiterentwickeln kann. (...) dann eben sollte sollte das unabhängig sein sag ich mal von anderen Kriterien ob Alter, ob Rasse, ob Geschlecht, Nationalitäten und so weiter“ I: „Mhm. Wie erleben Sie das im Arbeitsalltag?“ Braun: „Unterschiedlich. Also ich für mich finde, dass das ganz gut gelebt wird in der Profit-AG, Chancengleichheit. Wobei ich selbst sagen muss jetzt als Frau, Mutter, ähm ich hatte bislang viele Förderer seit ich in die ProfitAG kam, also ich wurde gefördert und werde immer noch gefördert, empfinde also da keine Benachteiligung, (...) ähm z.B. ich hab sehr früh ne Projektleitung bekommen, die ich mir auch selber gar nicht zugetraut hätte, und da vielleicht als Frau manchmal eher denke, äh kannst du das schon? Wo vielleicht Männer auch mehr Selbstbewusstsein hätten, ähm da wurde ich von Herrn Zagermann in dem Fall angesprochen, hier ich möchte dass Sie da das und das Projekt, nen großes Projekt, ging auch über mehrere Jahre, großes Budget, Personalverantwortung und alles. War für mich ne große Herausforderung, aber hat mir sehr viel Spaß gemacht und das war für mich so nen Zeichen, ich werde hier gefördert, eben auch als Frau. (...) ja er fördert find ich eindeutig Frauen sehr stark, –jetzt nicht zum Nachteil der Männer.“ (Interview Braun) Der Grundsatz der Gleichheit wird wie bei Busch daran festgemacht, dass es auf Fähigkeiten und nicht auf soziale Kategorisierungen ankommen soll. Brauns Aussagen sind dabei allgemeiner gehalten, und der Anspruch, in einer Abgrenzung zu einer möglichen Realität wird betont (vgl. „sollte sollte das unabhängig sein“). Entscheidender Unterschied ist, dass bei Busch Chancengleichheit als eine Gleichbehandlung erscheint, bei Braun dagegen Chancengleichheit damit gefüllt wird, die gleichen Chancen zu haben, um sich einbringen und weiterentwickeln zu können. Bei der Herstellung von Chancengleichheit, d.h. bei Gleichstellung, drehen sich die Verben praktisch um, nun hat man bei Busch entweder ein Netzwerk oder nicht, und wenn nicht, dann muss man „jemanden haben, der drüber ist“ (Interview
7.8 „ein klares Commitment“ – Chancengleichheit und Gleichstellung
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Busch). Bei Braun dagegen wird nun Gleichstellung explizit mit einer Behandlung durch jemanden gefüllt. Nun muss man gleiche Chancen erhalten, indem jemand einen fördert, auch da, wo wie in ihrem Beispiel, sie die gleiche Chance prinzipiell hatte. Das Ausbleiben einer ihr entsprechenden Förderung stellt so eine Benachteiligung dar. Bei Braun verbietet also Gleichstellung zur Herstellung von Chancengleichheit unterschiedliche Behandlung nicht, sondern erfordert sie sogar. Chancengleichheit wird bei ihr entsprechend erst dann „ganz gut gelebt“, wenn Frauen „sehr stark“ gefördert werden, dass das nicht „zum Nachteil der Männer“ sein muss, liegt dann daran, dass sie weniger Förderung benötigen. Anders als bei Busch ist eine stichhaltige Begründung zur Legitimation aber weniger relevant (vgl. „vielleicht mehr Selbstbewusstsein hätten“; Interview Braun). Gleichstellung muss nicht über einen Ausgleich von Defiziten legitimiert werden, sondern schließt sich über den Begriff der Förderung an individuelle Unterschiede an (vgl. „ich werde hier gefördert, eben auch als Frau“).167 In diesen beiden Interviewstellen wird Chancengleichheit und Gleichstellung über das Verhältnis Vorgesetzten/MitarbeiterInnen dargestellt. Die von Zagermann transportierte Sicht, dass es nicht nur eine Aufgabe von Vorgesetzten sei, darauf hinzuwirken, Chancengleichheit zu erreichen, wurde auch im Arbeitsalltag reproduziert und ebenfalls in Interviews häufig abgerufen (vgl. z.B. Interview Wilke; Kap. 6.9). Auf eine alleinige Aufgabe von GleichstellungsexpertInnen wurde es in den Interviews nicht reduziert. Eine weitere Sichtweise zeigte sich bei Krüger, in der an die Gleichstellungsnorm organisationale Gleichstellungspolitik anschließt: Ulrike Krüger: „Dass Frauen ähm die Möglichkeit haben, in die Positionen, in die sie gerne möchten, sei das Vorstand, sei das erste Führungsebene tatsächlich auch zu kommen, dass ähm diiie, dass es dafür klare Unterstützungsmaßnahmen gibt, dass der Konzern auch ein klares Commitment auch dazu hat, dass sie das will, dass sie das auch für sich, aus betriebswirtschaftlichen Gründen, aus ähm nicht so sehr nur aus diesen rein sozialen Aspekten oder aus moralischen Aspekten, sondern wirklich auch aus betriebswirtschaftlichen Aspekten für sinnvoll und für richtig hält. Ähm, jo. (3) Ja! Denke, das ist es so.“ (Interview Krüger) Wie Braun sieht auch Krüger Gleichstellung als Leistung, die hier als Unterstützungsmaßnahmen benannt werden. Krüger macht die Gewährleistung von Gleichstellung an dieser Stelle nicht an einem konkreten MitarbeiterInnen/Vorgesetzten167
vgl. auch „dass die individuellen Befindlichkeiten ein Stück berücksichtigt werden, also auch die individuelle Ausstattung, Persönlichkeit, die Vorkenntnisse, die Kompetenzen, die Stärken, aber auch eben die Schwächen gesehen werden, und dass wenn man da nen Bild hat, Menschen (.) gefördert werden“ (Interview Maier).
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7. „Aber im Ernst, die Profit-AG ist hier schon ganz schön weit“
Verhältnis fest, sondern verortet dies als Aufgabe ‚der Organisation‘, d.h. sie trägt es auch als Erwartung an die Formulierung organisationaler Gleichstellungspolitik heran. Krüger erwartet aber nicht nur die Konkretisierung von Förderung in Form von „Unterstützungsmaßnehmen“, sondern auch „ein klares Commitment (...), dass sie das will“. Damit wird eine symbolische Bedeutung von Gleichstellungspolitik von Krüger stark gemacht, die in einem Zusammenhang mit der ‚Organisationslogik‘ stehen muss (vgl. „dass sie das auch für sich [will]“). Diese Organisationslogik wird präzisiert mit „betriebswirtschaftlichen Gründen“. Die „betriebswirtschaftlichen Gründe“ werden von Krüger nicht gefüllt. Im Gegensatz zu (bei ihr ebenfalls positiv aufgeladener) Vielfalt/Diversity wird eine Wirtschaftlichkeit auch nicht als Theorie dargestellt, die weder widerlegt noch belegt werden könne (vgl. Kap. 6.9). ‚Rationalität‘ von Gleichstellung wird hier per se gesetzt, wie auch bei Jansen oder Wagner. Anders als bei diesen werden die sozialen und moralischen Aspekte jedoch nicht als Widerspruch gesehen, sondern durchaus als Anspruch an die Organisation. Entscheidend ist für Krüger aber, dass die organisationale Begründung auf rationale Betriebsführung setzt: Zum Einen wird so eine Gewährleistung dessen geboten, dass Gleichstellungspolitik in die Organisation hineingehört. Zum Zweiten sind die Unterstützungsmaßnahmen, die von dem Konzern geboten werden, dadurch keine Frauenförderung zum Ausgleich von Defiziten bei Frauen, sondern finden aufgrund von Qualifikationen und Kompetenzen statt. Als zentrale Funktion dieses „Commitments“ erscheint hier, dass der Aspekt, dass Frauen entsprechende Positionen verdient haben,168 gerade weil er so in den „betriebswirtschaftlichen Gründen“ aufgeht und daher nicht mehr benannt werden muss, zu einer ‚objektiven Tatsache‘ wird, die außer Frage gestellt wird. Allein die Rationalisierung qua Ökonomisierung ist bei Krüger so bereits einer Durchsetzung von Gleichberechtigung dienlich. Die Konkretisierung organisationaler Gleichstellungspolitik in verschiedenen Maßnahmen wird in den folgenden Kapiteln im Zentrum der Untersuchung stehen.
168 Vgl. „die Aufgaben, die sie von uns kriegen, die haben sie verdient, weil sie qualifiziert sind“ (Interview Jansen).
8.1 „Existiert sexuelle Belästigung überhaupt?“
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8 „Mit einem durchaus heiklen Thema“ – Ein (legitimer) Umgang mit Sexualität
8.1 „Existiert sexuelle Belästigung überhaupt?“ Ende 1999 konstituiert sich der Betriebsratsausschuss „Chancengleichheit, Familie und Beruf“. Ihm gehören alle 10 weiblichen Mitglieder des Gesamtbetriebsrats an.169 In Heft 1/2000 der Hauszeitschrift der Profit-AG erklärt die Sprecherin dieses Ausschusses zunächst, dass die zentralen Themen des Ausschusses (wie Kinderbetreuung, Wiedereingliederung, Telearbeit) „meistens Frauen betreffen, aber nicht nur.“ Anschließend legt sie den Anlass des Artikels dar: „Mit einem durchaus heiklen Thema möchte der Ausschuss nun konkret an die Kolleginnen und Kollegen herantreten: ‚Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.’ Bestimmt haben Sie schon einmal über dieses Thema nachgedacht oder auch mit Kolleginnen und Kollegen diskutiert. Existiert sexuelle Belästigung überhaupt? Ist sie vielleicht nur Phantasie überempfindlicher Frauen?“ (Profitables 1/2000) Mit dieser Einleitung wird hier zum Einen das Thema des Artikels erläutert und zum Anderen eine Funktion des Ausschusses definiert: Er wird wie der Gesamtbetriebsrat als Interessenvertretung von ArbeitnehmerInnen verstanden (hier: von Opfern sexueller Belästigung). Die Interessenvertretung wird weit gespannt, indem der Ausschuss nicht nur KollegInnen an sich herantreten lässt, sondern sich auch an die MitarbeiterInnen wendet und ihre Aufmerksamkeit auf ein Thema lenkt. Da das Thema als „durchaus heikel“ eingeführt wird, scheint er ‚heiße Eisen‘ nicht zu scheuen, mehr noch suggeriert dieser erste Auftritt in der internen Öffentlichkeit, dass heikle Themen anzugehen explizit Aufgabe des Ausschusses sei. Die Frage, inwiefern das Thema sexueller Belästigung „durchaus heikel“ sei, wird im nächsten Satz beantwortet. Heikel ist es, weil das Vorhandensein sexueller Belästigung als fraglich benannt wird. Hiermit ist einerseits eine Tabuisierung von Sexualität im Arbeitsalltag implizit, insofern nach dem Palmström-Prinzip sexuelle 169 2003 heißt der Ausschuss „Beschäftigungssicherung und Frauenfrage“; 2005 besteht er als Ausschuss für „Familie, Beruf und Soziales“ aus sieben Männern und Frauen.
K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
Belästigung im Bereich der Phantasie verortet wird.170 Andererseits wird Sexualität hier in einem intern öffentlichen und offiziellen Organ des Konzerns angesprochen und so in dieser Hinsicht eine Tabuisierung ausgesetzt. Für die Autorin ist sexuelle Belästigung eine Tatsache. Sie ist ein problematisches, in der ‚Öffentlichkeit‘ bekanntes, nur aber durch besondere Aufmerksamkeit identifizierbares Verhalten (vgl. „Und dennoch, trotz Sensibilisierung der öffentlichen Meinung, wird im Arbeitsalltag weiter belästigt und die Würde von Frauen verletzt“ Profitables 1/2000). Im weiteren Text wird erläutert, dass sexuelle Belästigung nicht den Flirt, sondern die von einer Seite unerwünschte sexuelle Annäherung bezeichne und bereits bei anzüglichen Bemerkungen und Zeigen von pornographischen Bildern beginne. Es werden Daten und die „doppelte Gestraftheit“ von belästigten Frauen angeführt, wenn sie befürchten müssten, dass offizielle Beschwerden zu weitreichenden Nachteilen für sie führten. Bevor ein Appell an alle Betroffenen geht, sich an den Betriebsrat oder diesen Ausschuss zu wenden, erfolgt ein Hinweis, der die oben angesprochene Fraglichkeit noch einmal widerlegen soll: „Übrigens, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz grundsätzlich eine ernstzunehmende Begleiterscheinung in der Arbeitswelt ist, erkannte auch die Bundesregierung; das Mitte 1994 erlassene neue Beschäftigtenschutzgesetz unterstreicht dies eindrucksvoll.“ (ebd.) Die Formulierung einer „grundsätzlich ernstzunehmenden Begleiterscheinung“ stellt sexuelle Belästigung als symptomatisch für die Erwerbssphäre dar. Ebenso erfolgt der Rekurs auf das Gesetz zur Bekräftigung, dass sexuelle Belästigung eine mit positivem Recht – also mit gesetzlicher ‚Härte‘ – zu begegnende Realität sei. Die Problematik sexueller Belästigung resultiert für die Sprecherin des Ausschusses also nicht nur aus der Verletzung der Würde, sondern verdoppelt sich durch eine Diskrepanz zwischen außer- und innerorganisationaler Thematisierung: Während dem Artikel zufolge in „der öffentlichen Meinung“ und in der bundesdeutschen Gesetzgebung sexuelle Belästigung als ein gravierendes Fehlverhalten von Belästigenden gesehen wird, wird angenommen, dass in der Organisation selbst sexuelle Belästigung nicht immer ernst genommen werde, es kontroverse Positionen zu dem Thema gibt, die das oben antizipierte Diskussionspotential ausmachen. Insgesamt wird in diesem Artikel das Aufgreifen der Thematik durch den Ausschuss auf drei Weisen legitimiert: Zum einen wird eine Relevanz für die ArbeitnehmerInnenvertretung gesetzt, indem sexuelle Belästigung als Thema und als Handlung virulent erscheint im Arbeitsalltag, der Betriebsratsausschuss somit ein 170 Entsprechend wird auch nicht vermutet, dass über den ‚Tatbestand‘, sondern dass über das „Thema“ diskutiert wird, was eine Frage nach dem Tatbestand bereits offen lässt.
8.1 „Existiert sexuelle Belästigung überhaupt?“
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‚offenes Ohr’ für Belange der Angestellten aufweist. Zum zweiten erfolgt eine moralische Legitimierung, indem die Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Frauen angeklagt wird (vgl. „Würde von Frauen“). Das Abrufen politischer und rechtlicher Entscheidungen diesbezüglich stützt hier die moralische Legitimierung. Damit legitimiert sich nun nicht nur die Thematisierung durch den Betriebsratsausschuss, sondern auch ein aktives Vorgehen gegen sexuelle Belästigung. Diese Legitimierungen zeigen, dass noch keine Institutionalisierung vorliegt: Thematisierung und Vorgehen gegen sexuelle Belästigung durch organisationale Organe verstehen und begründen sich hier (noch) nicht selbst. Mit der Thematisierung und der Legitimierung werden allerdings Voraussetzungen hierzu geschaffen, indem Bedürfnis, Handlung und Handelnde gleichzeitig aufgerufen werden:171 Sexuelle Belästigung wird zu einem Problem erklärt und mit Handlungsnotwendigkeit verbunden. Dabei wird gleichermaßen auf bereits typisierte AkteurInnen zurückgegriffen (Betriebsrat), als auch nun Handelnde neu typisiert (Ausschuss). Der Ausschuss macht sich mit diesem Artikel einerseits zum Dienstleister für Arbeitnehmerinnen, die ein als so massiv gesetztes Fehlverhalten dulden müssen und verortet sich damit selbst als Bindeglied zwischen ‚dem‘ Konzern und den einzelnen Mitgliedern. Zugleich setzt er sich hier als Bindeglied zwischen Organisation und außerorganisationale Wirklichkeit: Er geht über die organisationale Ebene hinaus, indem er sexuelle Belästigung als organisationsübergreifendes Problem der Arbeitswelt und nicht als Profit-AG-spezifisches thematisiert und zieht die außerorganisationale Wirklichkeit in den Konzern hinein, indem er gegenüber innerorganisationalen AkteurInnen auf die arbeitsrechtliche Situation rekurriert. Dabei geht er aber aus seiner Funktion in der Profit-AG heraus dieses Problem intern an und löst es somit wiederum etwas von einem außerorganisationalen Zwang, der organisationale FunktionsträgerInnen zur Reaktion nötigen würde. Die Beschäftigung des Ausschuss mit sexueller Belästigung geht über die Thematisierung in der Hauszeitschrift hinaus: Er initiiert eine interne Umfrage, in der knapp 6500 Fragebögen zum Thema „Sexuelle Belästigung, Mobbing und Diskriminierung“ (Profitables 4/2000) ausgewertet werden, die zeigen, dass dieses Thema im Konzern virulent ist. Die Ergebnisse wurden zusammengefasst in der Hauszeitschrift den Beschäftigten vorgestellt: Ca. 30% der Befragten benannten demnach „Belästigungen aller Art“ (4/2000). Ein Viertel der Befragten gaben an, Mobbing erlebt zu haben bzw. zu erleben, in 8% der Fälle wurde Diskriminierung und von 6% sexuelle Belästigung genannt.172 Diese Ergebnisse wurden der Personalabteilung vorgestellt, um gemeinsame Schritte dagegen zu erarbeiten. 171 Oder mit Meyer/Rowan (1977) und Brunsson/Olsen (1993) formuliert: Der erste Schritt zur Entwicklung von ‚problems, programs and professions’ ist gemacht. 172 Die Zahlen werden von mir an dieser Stelle nicht als Kennzahlen sozialer Wirklichkeit, sondern als Teil der Konstruktion sozialer Wirklichkeit in der Organisation analysiert.
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
8.2 „Mobbing ist Terror“ Im Mai 2002 geben Betriebsrat und Personalabteilung eine erste gemeinsame Informationsschrift unter dem Titel „NoMobbing“ heraus, die von Betriebsratssprecher und Personalabteilungsleiter unterzeichnet ist. Wie der Titel des Vorworts unterstreicht „sagen Sie mit uns: NoMobbing!“ erscheint NoMobbing als allgemeiner Appell, der mitreißen soll, der bei jedem Menschen und jederzeit eine Haltung erwirken will, die entsprechendes Handeln speist. Der Untertitel des Informationshefts zeigt die Stoßrichtung: „Wir wollen eine Unternehmenskultur, in der Mobber keine Chance haben“. NoMobbing heißt nun auch ‚No Mobber’, die Handlung ‚Mobbing’ wird wechselseitig mit den TäterInnen typisiert: Mobbing ist auf diese Weise nicht nur etwas, das man mal ‚tut’, sondern Mobber sind wie Diebe, Raucher, Alkoholiker auch dann als solche gekennzeichnet, wenn sie gerade nicht die Handlung ausführen. Die Aufforderung zum ‚NoMobbing’ heißt nicht nur, dass Mobbing unterlassen oder den Mobbern ‚das Handwerk gelegt’ werden soll, vielmehr sollen ihre Aktivitäten von vorneherein unterbunden und die Mobber ausgeschlossen (vgl. „keine Chance haben“).173 Die Verankerung des „NoMobbing“ in der Unternehmenskultur wird im Vorwort aufgegriffen und begründet: „Mobbing gibt es, seit Menschen zusammenarbeiten. Zukunftssorgen, Konkurrenzangst und wachsender Leistungsdruck bereiten Mobbing heute allerdings einen Boden, der es zu einem wachsenden Problem werden lässt. Das gilt auch für die Profit-AG, wie eine Umfrage unseres Gesamtbetriebsrats klar belegt hat. Deshalb wollen wir eine Unternehmenskultur, in der Mobber keine Chance haben, eine Kultur, die von Offenheit, gegenseitigem Respekt und Vertrauen lebt. Hier ist jeder Einzelne von uns gefordert.“ (NoMobbing 2002) Das Thema ist nun unfraglich, aber es wird begründet, warum es aktuell aufgegriffen wird und im selben Zug, warum es eine Frage der ‚richtigen‘ Unternehmenskultur ist. NoMobbing erhält eine weitere Bedeutungsdimension des richtigen Miteinanders.174 In diesem Verständnis ist NoMobbing zum Einen eine aktiv zu leistenden Aufgabe für alle (vgl. „jeder Einzelne von uns“), zum Zweiten ein mit Einander und mit der Organisation verbindendes Element (vgl. „jeder Einzelne von uns“) und unterliegt zum Dritten dem einzelnen Handeln und, indem es geteilte Werte voraussetzt, dem Gemeinsamen, d.h. dem Geschäftsbetrieb (vgl. auch zu Beginn des Vorworts: „Menschen machen Unternehmen“). 173 Vgl. auch den letzten Satz der Darstellung, wie gegen Mobbing vorzugehen sei: „So werden die Mobber schnell selbst isoliert“. 174 Dies bestätigt sich noch einmal mit der Überschrift der letzten Seite: „für ein faires Miteinander“.
8.2 „Mobbing ist Terror“
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Das Bild auf dem Titelblatt dieses Heftchens erinnert an eine Voodoo-Puppe, der ein Gesicht mit weit aufgerissenem Mund aufgedruckt ist und eine Stecknadel im Oberkörper steckt. Über das Bild gelegt, ist in einem Stempeldruck ebenfalls „NoMobbing!“ zu lesen. Die Verwendung einer Voodoo-Puppe steht für eine niederträchtige, hinterhältige Form der Aggression gegen Personen. Damit werden noch nicht Konflikte und Aggressionen allgemein, sondern eine spezifische Form diese auszutragen als Mobbing gebrandmarkt. Dies wird im Vorwort ausgeführt: „Konflikte gehören zu unserer Arbeitswelt. (...) Hier immer nur Harmonie zu erwarten, wäre realitätsfremd. Wenn jedoch sachliche Auseinandersetzungen zu Dauerkonflikten eskalieren, in deren Zentrum gezielte Attacken auf die Persönlichkeit eines Mitarbeiters stehen, ist es oft nur ein kleiner Schritt zu systematischem Mobbing mit erschreckenden Folgen.“ (ebd.) Zunächst wird also festgehalten, dass Konflikte nicht nur Teil gewöhnlichen Arbeitsalltags sind, sondern insgesamt zur „Arbeitswelt“ gehören, also Bestandteil der Organisation von Arbeit – ebenfalls ‚Begleiterscheinungen’ (vgl. Kap. 8.1) – sind. Hinzu kommt nun die Differenzierung zwischen ‚sachlich’ und ‚persönlich’: Sachliche – d.h. auf den Arbeitsgegenstand bezogene – Meinungsverschiedenheiten gehören in den Arbeitsalltag, sie werden als legitim gesetzt. Auf die Person bezogene sind dagegen zwiespältig. Sie werden weder als per se legitim noch als grundsätzlich illegitim im organisationalen Kontext gesetzt, sondern als grenzwertig dargestellt. Mobbing (und somit das, was dezidiert nicht in das Unternehmen gehört) ist gekennzeichnet als „gezielte“ persönliche Attacken, die planvoll erfolgen (vgl. „systematisch“). Die Konzentration auf TäterInnen wird somit weiter geführt, indem die Mutwilligkeit zum Kern der Definition gemacht wird. Das Heftchen ist in zwei Abschnitte unterteilt: Die Konkretisierung von Mobbing, d.h. Definition und Darstellung, woran man Mobbing erkennt, erfolgt unter der Überschrift „Mobbing ist Terror – Gezielte Attacken“. Die hierunter aufgeführten Verhaltensweisen werden über den Begriff Terror untragbar:175 „Angriffe gegen die Arbeitsleistung: Der Mobber erschwert es einer Kollegin / einem Kollegen, Aufgaben angemessen zu erledigen (...). Angriffe gegen die Arbeitssituation: Der Mobber überträgt einer Mitarbeiterin / einem Mitarbeiter entwürdigende, sinnlose oder gar keine Arbeiten. (...) Angriffe gegen die soziale Integration: Der Mobber isoliert den Betroffenen räumlich, er missachtet ihn und schließt ihn von der alltäglichen Kommunikation 175 Vgl. auch auf der folgenden Seite: „Mobbing, sexuelle Belästigung und Diskriminierung müssen dazu [um es zu verhindern] ganz klar als das stigmatisiert werden, was sie sind: als menschenverachtender Terror, der in unserer Organisation keinen Platz hat“ (NoMobbing 2002).
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
aus. Angriffe gegen das Ansehen: Der Mobber verhöhnt, beleidigt und diskriminiert eine Kollegin/einen Kollegen bezüglich Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Aussehen oder Religion. Angriff auf das Schamgefühl: Der Mobber konfrontiert eine Kollegin / einen Kollegen mit Obszönitäten, sexuellen Annäherungen und pornographischem Material. Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit: Der Mobber wird handgreiflich – auch sexuell. Er bewirkt gezielt Angst, Schrecken oder Ekel.“ (NoMobbing 2002) Mobbing wird hier aufgeschlüsselt in verschiedene Dimensionen von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung. Indem jedoch nicht von mittelbarer Diskriminierung gesprochen wird und somit dann auch nicht Kategorien von Opfern hergestellt werden, wie dies bei der Formulierung von unmittelbarer Diskriminierung geschieht, werden gerade nicht ‚Merkmale’ der Opfer, sondern Merkmale der Verhaltensweisen in den Vordergrund gestellt. Entsprechend der o.g. Konzentration auf TäterInnen wird ein Täterprofil geschaffen. Hierbei werden Verhaltensweisen benannt, die von Segregationsstudien als Faktoren für Ausgrenzungen von Frauen identifiziert werden (vgl. zum Überblick Heintz et al. 1997; Lorber 1999; Ridgeway 2001; Wilson 1996). Indem sie im Rahmen von Mobbing aufgeführt werden, werden zum Einen die Ungleichheitspraktiken selber in den Blick genommen, statt ‚Merkmalsträger‘ wie z.B. bei Gender Mainstreaming. Hier werden sie zum Zweiten unter einen ‚Fachbegriff‘ der Erwerbssphäre gestellt und so nicht nur dort verortet, sondern auch die Akteure (Mobber wie Gemobbte) im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit typisiert. Gemobbte sind dann nicht einfach ungeeignet für ‚die Härten‘ des Erwerbslebens, was in ‚Patronizing‘ (Wilson 1996) und damit wiederum in einer ausgrenzenden Praxis münden könnte. Vielmehr werden die Mobber als ‚ungeeignet‘ für den richtigen Umgang mit KollegInnen, und den härteren Zeiten gekennzeichnet: Entsprechend wird erklärt, „Angst um den Arbeitsplatz, Konkurrenzdenken, Neid und mangelndes Selbstbewusstsein spielen dabei meist eine wichtige Rolle“ (NoMobbing 2002). Im zweiten Abschnitt dieses Heftchens wird unter dem Titel „Jeder Einzelne ist gefordert! – den Kreis durchbrechen“ der Umgang mit Mobbing thematisiert. Dort werden unter „wir sind auf Ihrer Seite“ „Anlaufstellen“ benannt („Vorgesetzte, Personalberater/innen, Betriebsräte und die Vertrauenspersonen der Schwerbehinderten“), wobei den Vorgesetzten unter der Zwischenüberschrift „Verantwortung ernst nehmen“ eine besonders wichtige Funktion zugeschrieben wird: In einem längeren Abschnitt wird an diese Verantwortung appelliert und Anforderungen an Führungsfunktionen formuliert (vgl. „Fehlverhalten müssen Sie dann sachlich und deutlich zur Sprache bringen“). Die „Betroffenen“ werden angehalten, selber aktiv zu werden, wobei hier die Formulierungen auf Verständnis und Mitgefühl setzen (vgl. „Betroffene können und müssen versuchen, sich zu wehren – auch
8.2 „Mobbing ist Terror“
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wenn es schwer fällt“) und betont: „Sie haben ein Recht darauf, dass man Ihnen hilft“. Im letzten Abschnitt werden diejenigen, die sich nicht „einmischen“ zu Beteiligten am Mobbing erklärt (vgl. „Mobbing kann nur zum schrecklichen Erfolg führen, wenn der Mobber Mittäter und Mitwisser hat, die ihn aus Gleichgültigkeit, Feigheit oder Angst unterstützen oder gewähren lassen“). 2003 wird zu diesem Thema eine Broschüre nun im bunten Hochglanzdruck aufgelegt unter dem Titel „prima Klima?“, die in der Hauszeitschrift später als „Richtlinie“ (Profitables 1/2005) angeführt wird. Die Broschüre ist umfangreicher, die grafische Gestaltung, die nach wie vor dem Corporate Design entspricht, ist nun von einem externen Dienstleister professionell gemacht und der Inhalt setzt stärker auf kurze und prägnante Aussagen. Das Titelbild zeigt zwei rote Boxhandschuhe, die an ihrer schwarzen Schnürung vor mittelblauem Hintergrund hängen. Das Bild provoziert in diesem Sinne: Es zeigt, dass im Konzern ‚mit harten Bandagen’ gekämpft wird und nicht nur sachlich verbal Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden. Der Titel der Broschüre „prima Klima?“ würde ohne das Fragezeichen durch den Reim und die kurzen und prägnanten Worte freundlich und fröhlich wirken. Durch das Fragezeichen wird die ‚super Stimmung‘ angekratzt und in Verbindung mit den Boxhandschuhen zur provokanten Ironie. So zeigt sich die Aufmachung der Broschüre selbst durch Ironie und Signalsetzung ‚angriffslustig‘. Der Untertitel der Broschüre „Ratschläge gegen Mobbing – erkennen, handeln, helfen“ ist weniger schlagkräftig, aber durchaus prägnant. Das Trikolon reduziert die Komplexität des Themas und suggeriert Vollständigkeit und somit hier eine handhabbare Umgangsweise mit Mobbing. In der Zusammenschau der vorherigen Schritte und der Kontrastierung des Inhalts der Broschüre mit diesen zeigen sich von der ersten Thematisierung in der Hauszeitschrift bis zur Broschüre bereits Institutionalisierungsprozesse: Im Artikel wurde gegen eine fragliche Existenz von sexueller Belästigung argumentiert, die Thematisierung legitimiert und ein Bedarf an Handlung hergeleitet. Mit der Umfrage wird der Handlungsbedarf versachlicht und in der Informationsschrift aufgrund dessen als „klar belegt“ (NoMobbing 2002) dargestellt. Dort werden Definition und Vorgehensweise ausgeführt, wobei der Schwerpunkt auf eine ‚NoMobbing’-Unternehmenskultur gelegt wird. Im Zuge dessen wird ‚NoMobbing’ auch a) an alle Organisationsmitglieder herangetragen, b) mittels der Setzung des Unternehmens als Ergebnis menschlichen Handelns mit der Organisation verknüpft und c) mittels des besonderen Verweises auf Funktionen von Führungskräften und über die Anlaufstellen (Betriebsrat, PersonalberaterInnen etc.) mit der formalen Struktur der Organisation verbunden. In der Broschüre wird Handlungsbedarf nun selbstverständlich vorausgesetzt, Rückgriffe auf die Umfrage sind nicht mehr notwendig. Auch die Definition wird vorausgesetzt, Mobbingattacken werden anhand dieser Kriterien jetzt „erkannt“ (Prima Klima? 2003). Damit ist die zuvor 2002
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
hergestellte Definition von Mobbing festgeschrieben als ‚so ist das’. Vorgehensweisen gegen Mobbing werden aufgeschlüsselt in „Handeln“, worunter konkrete Tipps für Gemobbte benannt werden (wie z.B. ein Tagebuch zu führen) und „Helfen“: Hier wird das Vorgehen mit einem offiziellen Beschwerdeweg über den Betriebsrat versehen, der beim ersten Schritt (der Wendung an den Betriebsrat) mit dem Hinweis auf einen Paragraphen des Betriebsverfassungsgesetzes begründet wird. Eine Vorgehensweise wird so formalisiert festgeschrieben als ‚so macht man das’. Thematisierung, Definition und Vorgehen werden so objektiviert. Dabei dehnt sich diese Thematisierung zunächst vom Ausschuss für ‚Chancengleichheit, Familie und Beruf’ (Profitables 1/2000) auf Gesamtbetriebsrat und Personalabteilung aus (NoMobbing 2002). Dies wird nun wieder ‚zurückgeholt’: Auf dem Titelblatt wird 2003 der „Betriebsrat der Profit-AG Zentrale“ als Herausgeber benannt, wobei die Sprecherin des nun so genannten Betriebsratsausschusses „Beschäftigungssicherung und Frauenfragen“ im Vorwort unterzeichnet. Der Ausschuss zieht damit die Verantwortung wieder an sich zurück und bindet sich dabei an den Gesamtbetriebsrat an. So wird die Thematisierung gegenüber der gemeinsamen Schrift von Personalabteilung und Betriebsrat 2002 wie im Artikel 2000 in einem internen Antagonismus zum Arbeitgeber Konzern verortet und damit eine andere Stoßrichtung verfolgt (vgl. „Gegen Mobbing kann man etwas tun – der Abschluss einer entsprechenden Betriebsvereinbarung ist in der Profit-AG Zentrale längst überfällig“ Prima Klima? 2003). Der letzte der Abschnitte, in den diese Broschüre unterteilt ist, lautet entsprechend: „Warum eine Betriebsvereinbarung gegen Mobbing?“ und endet mit den Worten: „Der Betriebsrat der Zentrale fordert den Abschluss einer Betriebsvereinbarung gegen Mobbing“. Auf diese Stoßrichtung ist der argumentative Aufbau ausgerichtet. Dazu wird ein Aspekt ausgebaut, der in dem Artikel 2000 nicht angeführt, in „NoMobbing“ (2002) nur in einem kurzen Satz am Rande erwähnt wurde und dem in der Broschüre „Prima Klima?“ (2003) nun ein eigener Abschnitt gewidmet ist unter der Überschrift: „Mobbing schadet dem gesamten Unternehmen“. Auf diesen Seiten wird deutlich aus der Position des Betriebsrats heraus formuliert und auf ‚Belege’ hingewiesen (vgl. „Der Konzern hat bereits erkannt, dass er es sich nicht länger leisten kann, wegzuschauen. Es ist inzwischen wissenschaftlich bewiesen, dass Mobbing auch den Unternehmen selbst schadet“). Leistungsabfall und Ausfallzeiten der Gemobbten werden angeführt, Imageschäden, erhöhte Fluktuation und „sinkendes Know-How“ für den Konzern benannt. Zum zweiten kommt nun ein Aspekt in dieser Stoßrichtung hinein, der in der Informationsschrift von 2002 nicht thematisiert wurde: Nun wird wieder auf das Arbeitsschutzgesetz hingewiesen und erklärt, über dieses „soll der Druck auf Arbeitgeber erhöht werden, geeignete präventive Maßnahmen gegen Mobbing zu ergreifen“ (Prima Klima? 2003).
8.3 „Unvereinbar mit unserer Unternehmenskultur“
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8.3 „Unvereinbar mit unserer Unternehmenskultur“ Im November 2004 wird ein Vorgehen gegen Mobbing dann mittels einer Betriebsvereinbarung in der Organisation implementiert, damit wird ein reglementiertes Vorgehen ‚des Konzerns’ gesetzt. Die Betriebsvereinbarung ist in Paragraphen untergliedert und orientiert sich an juristischer Sprache, ohne dabei unverständlich zu werden. Ihr ist ein offener Brief des nun so genannten Ausschusses „Familie, Beruf und Soziales“ an alle MitarbeiterInnen vorgeschaltet, der die Orientierung an der Prävention hervorhebt (vgl. „’Vorbeugen ist besser als Heilen’“) und die MitarbeiterInnen direkt dazu aufruft, gegen Mobbing aktiv zu werden (vgl. „Schauen Sie nicht weg!“). Die Betriebsvereinbarung beginnt nun mit folgender Präambel: „Die Unternehmensleitung und der Gesamtbetriebsrat sind sich darüber einig, dass eine Unternehmenskultur, die sich durch ein partnerschaftliches und faires Verhalten am Arbeitsplatz auszeichnet, die Basis für ein positives innerbetriebliches Arbeitsklima und damit eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg des Konzerns ist. Aufgrund seiner Fürsorgepflicht hat der Arbeitgeber die Aufgabe, seine Beschäftigten vor Beeinträchtigungen seelischer oder körperlicher Art zu schützen. Mobbing, sexuelle Belästigung sowie Diskriminierung am Arbeitsplatz stellen eine schwerwiegende Störung des Arbeitsfriedens dar. Sie sind ein Verstoß gegen die Menschenwürde und eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Sie schaffen im Unternehmen ein stressbelastetes und negatives Arbeits- und Lernumfeld und führen nicht zuletzt zu gesundheitlichen Störungen. Solche Verhaltensweisen sind unvereinbar mit unserer Unternehmenskultur. Die Profit-AG und der Gesamtbetriebsrat erklären gemeinsam, dass Mobbing, sexuelle Belästigung sowie Diskriminierung nicht geduldet und unterbunden werden.“ (Betriebsvereinbarung 2004) Bereits in der Präambel findet sich das Vokabular der Thematisierungslinie vom ersten Artikel (profitables 1/2000) bis zur Broschüre von 2003 wieder. Die Unternehmenskultur eines „NoMobbing“ (2002) wird nun mit einer sekundären Zweckmäßigkeit für das Betriebsklima verbunden und an den „wirtschaftlichen Erfolg“ der Organisation entsprechend der Broschüre „Prima Klima?“ (2003) angebunden. Dies wird als geteiltes Verständnis zwischen Betriebsrat und Organisationsleitung explizit gemacht: Es ist damit diffundiert, objektiviert, aber noch nicht sedimentiert, sodass es vorausgesetzt wäre. Die Legitimation dieser Betriebsvereinbarung erfolgt zum Einen durch die Anbindung an die formal-rechtliche Situation. Hierzu werden Mobbing, sexuelle Belästigung und Diskriminierung als Handlungen ge-
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
kennzeichnet, die eine „Beeinträchtigung seelischer oder körperlicher Art“ darstellen (Betriebsvereinbarung 2004). Neben der Kennzeichnung der Profit-AG a) als Wirtschaftsunternehmen b) als juristische Person wird sie c) über die Unternehmenskultur als eine soziale Einheit angeführt. Über das Betriebsklima und den Arbeitsfrieden erscheinen diese drei Aspekte miteinander verknüpft. Entsprechend des NoMobbing-Informationsheftchens sollen mit der Betriebsvereinbarung (2004) gleichzeitig Ursachen behoben und Mobbing, sexuelle Belästigung und Diskriminierung verfolgt werden, wozu das Vorgehen als „Maßnahmen zur Vorbeugung“ und über Beschwerdestellen und -wege sowie Sanktionen konkretisiert wird. Die „Definition des verbotenen bzw. unerwünschten Verhaltens“ differenziert nun zwischen Mobbing, sexueller Belästigung und Diskriminierung: „Mobbing ist der Versuch, Beschäftigte gezielt zu schädigen und ihnen das Arbeiten in der Profit-AG unerträglich zu gestalten. Beispiele hierfür sind: Angriffe gegen: die Arbeitsleistung und das Leistungsvermögen, den Bestand des Beschäftigungsverhältnisses, das soziale Ansehen im Beruf, das Selbstwertgefühl, die Privatsphäre sowie die Gesundheit und körperliche Unversehrtheit Versagen von Hilfe, destruktive Kritik, Angst, Schrecken und Ekel zu erzeugen Sexuelle Belästigung ist jedes sexuell gefärbte Verhalten und entsprechende Äußerungen, die als unerwünscht eingestuft oder unterstellt werden können, wie z.B. körperliche Übergriffe und Berührungen, Aufforderung zu sexuellem Verhalten, entwürdigende und beleidigende Witze und Bemerkungen, auf Einzelpersonen bezogene oder beziehbare Bemerkungen über sexuelle Aktivitäten und Intimleben, sexuell gefärbte Verhaltensweisen und Gesten, Zeigen und Versand, auch auf elektronischem Wege, von pornografischen Heften und Anbringen entsprechender Bilder und Aufkleber. Diskriminierung ist jede Form von benachteiligender und willkürlicher Behandlung von Personen aufgrund ihrer Abstammung, Religion, Nationalität, Herkunft, körperlichen Fähigkeiten, Behinderungen, politischen Betätigungen, sexuellen Identität oder wegen ihres Geschlechts.“ (ebd.) Sexuelle Belästigung wird so im Vergleich zu den vorherigen Schriften noch detaillierter erläutert und auch inhaltlich ausgeweitet, indem Bemerkungen über sexuelle Aktivitäten und Intimleben und sexuell gefärbte Verhaltensweisen ebenfalls
8.3 „Unvereinbar mit unserer Unternehmenskultur“
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integriert werden. Die einzelnen unter Mobbing benannten Aspekte werden nun nicht mehr weiter ausgeführt, folgen aber in ihren Bezeichnungen den vorherigen Schriften, so dass davon ausgegangen werden kann, dass ihre Füllung gemäß dieser Publikationen verstanden wird. Die von den vorherigen Veröffentlichungen hergestellte Konzentration auf TäterInnen ist hier in die Definitionen eingelassen (vgl. „Mobbing ist der Versuch…“; „Angriffe gegen…“). Vor diesem vorausgesetzten Hintergrund wird im nächsten Schritt die Definition von Seiten der ‚Betroffenen‘ gefüllt: „Selbstwertgefühl“, „Angst, Schrecken und Ekel“ sind letztlich nur subjektiv durch die Angegriffenen bestimmbar. Ebenso wird sexuelle Belästigung an der Unerwünschtheit festgemacht und damit ebenfalls an dem Empfinden der Betroffenen. Dieses wird im dritten Schritt der Definition an einen Common Sense gekoppelt (vgl. „die als unerwünscht eingestuft oder unterstellt werden können“), dessen Reproduktion von Betriebsmitgliedern so erwartet wird. Die mit dem Bezug auf „Allerweltswissen“ (Berger/Luckmann 1969) fortgeschrittene Institutionalisierung wird besonders deutlich im Kontrast zur ersten Thematisierung im Jahr 2000: ‚Unerwünschtheit‘ des Verhaltens und daraus resultierende Bezeichnung als sexuelle Belästigung wurde dort gerade nicht als geteiltes Wissen verstanden, sondern gegen eine Setzung als „Phantasie überempfindlicher Frauen“ verteidigt (vgl. Kap. 8.1). Die Maßnahmen zur Vorbeugung werden dreiteilig dargestellt: 1. umfassende Information aller Mitglieder der Organisation, 2. „die Unterstützung der Führungskräfte zu gewinnen“ und 3. Anlaufstellen zu installieren. Hierzu sollen Informationsangebote geschaffen, „erfahrene“ PersonalberaterInnen und Mitglieder des Betriebsrats geschult werden sowie alle Führungskräfte „gezielt sensibilisiert [werden] und ein ausgewählter Kreis der Führungskräfte wird (z.B. im Rahmen der Führungslehrgänge) zu den wichtigsten Sachverhalten geschult“. Führungskräften wird dementsprechend auch hier eine besondere Funktion zugesprochen. Sie erscheinen als Überwachungsinstanz, um frühzeitig (entsprechend der erlangten Sensibilität) Mobbing zu entlarven und zu unterbinden. Personalverantwortung, die Führungsfunktionen allgemein zugeschrieben ist, bedeutet nicht notwendig, dass sie alle Belange ihrer Geführten berücksichtigen müssten. Sie ist nicht nur im Arbeitsalltag, sondern bereits in der Konzeption von Führung eher diffus: Die Grenze, welche Belange der Geführten in den Horizont organisationaler Berücksichtigung gehören und welche in die Privatsphäre, besteht in einer zumeist individuell gehandhabten Grauzone. Zum zweiten ist eine Aufgabenteilung zwischen verschiedenen Entscheidungsfunktionen selten in Gänze geklärt – gerade in solchen Grauzonen, die nicht formal strukturiert sind, wie dies bei Mobbing bis zu dieser Betriebsvereinbarung galt: Welche ‚persönlichen‘ Belange sind Thema der PersonalberaterInnen, des Betriebsrat, der Vorgesetzten oder der Personen selbst? In der Betriebsvereinbarung wird diese Grauzone zum Einen
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
durch die Formulierung eines Beschwerdeweges etwas gelichtet, zum Anderen wird die Grauzone personell gefüllt und ist so kein ‚Niemandsland‘ (mehr). Durch die Sensibilisierung und Schulung von Führungskräften ist ihre Verantwortung einerseits implizit unterlegt und selbstverständlich. Andererseits obliegt jedoch den einzelnen Führungskräften eine Entscheidung, inwiefern sie sich hier engagieren (vgl. „Unterstützung der Führungskräfte zu gewinnen“). Dies weist aber nicht notwendig auf eine Laissez-faire-Haltung hin, sondern suggeriert Selbstständigkeit der Führungsbereiche, streicht implizit die Entscheidungsbefugnis für Personalfragen und damit wiederum die Verantwortung der Führungskräfte heraus.176 Das weitere Verfahren wird in der Betriebsvereinbarung zunächst wie in den vorherigen Schriften durch die Benennung aller möglichen AnsprechpartnerInnen gefüllt, d.h. Vorgesetzte, Geschäftsleitung, Betriebsrat, PersonalberaterInnen, Schwerbehindertenvertretung, Jugend- und Auszubildendenvertretungen und BetriebsärztInnen. Es wird ebenfalls festgehalten, dass alle Beschwerden vertraulich zu behandeln sind und der Person, die die Beschwerde einreicht, daraus keine Nachteile erwachsen dürfen. Der Beschwerdeweg umfasst verschiedene Vermittlungsinstanzen, deren höchste die speziell geschulten PersonalberaterInnen und Betriebsratsmitglieder sind, sie verfügen über die letztendliche Entscheidungsbefugnis für weiteres Vorgehen. Als Sanktionen werden arbeitsrechtliche Maßnahmen benannt, denn „Mobbing, sexuelle Belästigung und Diskriminierung stellen eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten dar“. Mit den gegebenen Definitionen von Mobbing sowie der formalen Festschreibung von Beschwerdemöglichkeiten, Sanktionswürdigkeit des Verhaltens, der entsprechenden Schulung und Ausstattung der PersonalberaterInnen mit Entscheidungsbefugnis und der Ergreifung von Maßnahmen zur Vorbeugung wird hier organisationsintern ein ‚Antidiskriminierungsgesetz’ auf den Weg gebracht, das über die gesetzliche Version hinausgeht – selbstredend nicht in Hinsicht auf die rechtlichen Sanktionsmöglichkeiten (vgl. zum ADGE Liebscher 2005).177 Nach den oben angeführten Schritten zeigt sich also die Betriebsvereinbarung auf dieser organisationalen Ebene als letzter Schritt in der Institutionalisierung von Definition, Beurteilung und Vorgehen bezüglich Mobbing, sexueller Belästigung 176 Vgl. das Verhalten der Führungskräfte in Kap. 8.4f. 177 2006 wird statt des ADG das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz erlassen. Dieses Gesetz wird vom Personalbereich intern publiziert mit dem Vermerk: „Wir sehen die Profit-AG im Hinblick auf das AGG und seine Anforderungen gut gerüstet. Nicht zuletzt auf Grund unseres seit Jahren etablierten Diversity-Programmes und unserer Betriebsvereinbarung ‚Partnerschaftliches und faires Verhalten am Arbeitsplatz’ aus dem Jahr 2004 ist ein Bewusstsein für die Ziele des AGG bereits bei Mitarbeitern und Führungskräften entwickelt.“ Die BV kann im Sinne der im Gesetz festgelegten Informationspflicht verstanden werden: „Der Arbeitgeber soll in geeigneter Art und Weise, insbesondere im Rahmen der beruflichen Aus- und Fortbildung, auf die Unzulässigkeit solcher Benachteiligungen hinweisen und darauf hinwirken, dass diese unterbleiben“ (AGG).
8.4 „Du, belästige mal meine Mitarbeiterin nicht…“
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und Diskriminierung. Die Thematisierung wird inhaltlich fortgeführt und objektiviert, da sowohl eine sozial geteilte Ablehnung als auch ein sozial geteiltes Wissen bzw. Verständnis und Erkennen von Mobbing, sexueller Belästigung und Diskriminierung vorausgesetzt wird und auf dieser Grundlage die Ausführungen aufgebaut werden.178 Geregeltes Vorgehen gegen Mobbing wird in formaler Struktur verankert und damit weitergegeben als Handlungsregulative für Arbeitskräfte, sowie als dauerhaft virulent gewertetes Thema in der Organisation und für das Organisationsgelingen gekennzeichnet. Allein diese Formalisierung impliziert also bereits ein auf-Dauer-stellen, eine Objektivierung und eine Legitimierung qua institutionalisierter Kopplung (Betriebsvereinbarung) an die Organisation. Inwiefern die hier fixierte Wahrnehmung und der Umgang mit Mobbing, sexueller Belästigung und Diskriminierung in der organisationalen Wirklichkeit nun reproduziert werden, d.h. die Inhalte der Betriebsvereinbarung auch im Arbeitsalltag als geteiltes Wissen bestehen und als Handlungsregulative abgerufen werden, wird im Folgenden analysiert. 8.4 „Du, belästige mal meine Mitarbeiterin nicht…“ Während der teilnehmenden Beobachtung wurden die Themen sexuelle Belästigung und Diskriminierung im Arbeitsalltag in unterschiedlicher Weise aktualisiert. Ein wichtiger Aspekt war hierbei die Kleiderordnung. Bereits am ersten Tag des Praktikums wurde dies deutlich: Als Herr Kienzle Frau Maier von der Frau [Stelle für Betriebsausweise] erzählt, erzählt er, dass sie eine Karte im Büro hängen hat, auf der ein halbnackter Mann zu sehen ist. Maier antwortet, dass sie das grenzwertig findet und er antwortet, dass sie die Frau insgesamt grenzwertig finden würde (sie hatte einen recht kurzen engen Rock, trug sehr lange künstliche Fingernägel und wirkte insgesamt eher für eine Party als für Büroarbeit aufgemacht). (Woche 1; Montag) Für Maier gibt es eine Grenze bei der eine Karte mit einem halbnackten Mann kritisch ist. Problematisch ist das ‚halbnackt’: Ein angezogener Mann wäre demnach diesseits, ein ganz nackter Mann jenseits der Grenze. Nur „grenzwertig“ ist sie vielleicht auch, weil eine Karte noch recht klein und unauffällig ist – wobei sie Kienzle ja eindeutig auffiel – und nicht in der Größe eines Pin-Up-Kalenders sofort 178 So heißt es nicht mehr „Wir wollen eine Unternehmenskultur, in der Mobber keine Chance haben“, sondern „Solche Verhaltensweisen sind unvereinbar mit unserer Unternehmenskultur“.
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
ins Auge sticht. Kienzle unterstellt, dass Frau Maier auch die Bekleidung der Frau gleichermaßen kritisch gewertet hätte. Die Grenze, von der Maier und Kienzle hier sprechen, ist nicht eine Grenze des Geschmacks: Über eine solche Grenze muss nicht und kann nicht diskutiert werden. Hier könnten sie beide problemlos sagen „furchtbar“ und der Frau durchaus zugestehen, dass sie die Grenze anders setzt. Durch den Begriff „grenzwertig“ geht Frau Maier viel mehr von einer festgelegten Grenze aus, die jedoch abstrakt ist und somit auf konkrete Situationen nicht eindeutig übersetzbar. Ob etwas jenseits oder diesseits dieser Grenze ist, ist aber entscheidend und nicht nur persönliche Meinung: Es ist eine Frage von richtig oder falsch, in den Konzern gehörig oder nicht.179 Diese Grenzziehung in Hinsicht auf die durch Kleidung vermittelte sexuelle Attraktivität ist auch in der folgend beschriebenen Situation wichtig und ermöglicht in Verbindung mit anderen Grenzziehungen Komik: Eine Mitarbeiterin hatte Herrn Kienzle ein Foto geschickt für die Mitarbeiterzeitung des UBZ. Sie hatte dazu geschrieben, dass es leider weder besonders schön noch besonders scharf sei. Er rief sie an um ein anderes Foto zu bekommen und wollte ihr ein Kompliment machen, indem er sagen wollte, dass sie natürlich schön sei. Er sagte: „Frau Schmidt, Sie sind immer schön, aber leider nicht scharf.“ Frau Maier, Frau Mende und ich konnten uns vor Lachen kaum halten. Herr Kienzle erklärte seiner Gesprächspartnerin, dass seine Kolleginnen hier lachen würden, und sie wisse doch genau, dass er das nicht so gemeint habe. Nach dem Telefonat meinte er zu uns, dass weder sie noch er das so aufgefasst hätten wie wir. (Woche 2; Donnerstag) Im Protokoll wird die Situation so beschrieben, dass sich die Komik entwickelt, indem das Setting als regulärer Arbeitsvollzug vorgestellt wird, in den etwas ‚einbricht’, das dort nicht hingehört. In Plessners (1970) Worten ist hier der Erwartungshorizont von Ambivalenz betroffen. Für die Komik ist zu unterscheiden, worin sie besteht („Ambivalenz“) und worauf sie basiert („Realitätsferne“; Berger 1998): Durch die sprachliche Ungeschicktheit wird die Ambivalenz hergestellt. Die Komik besteht darin, dass die für das Foto durchaus adäquate Formulierung ‚nicht scharf’ als Umschreibung für ‚verwackelt’ oder ‚verschwommen’ auf die abgebildete Person übertragen wird und dort die Entgegensetzung zu ‚verschwommen’ nicht funktioniert, sondern ‚scharf’ als Metapher für ‚sexuell attraktiv’ verstanden werden muss. Kienzles Aussage bedeutet entsprechend: Frau Schmidt, Sie sind zwar immer schön, aber leider nicht sexuell attraktiv. 179 Vgl. auch den Wortlaut in der Betriebsvereinbarung: „Zeigen und Versand (...) von pornografischen Heften und Anbringen entsprechender Bilder und Aufkleber“ (vgl. Kap. 8.3).
8.4 „Du, belästige mal meine Mitarbeiterin nicht…“
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Komisch wird es nun aber nur, indem Frau Maier, Frau Mende und ich lachen. Durch das Lachen schaffen die Anwesenden den Witz, indem die Zweideutigkeit als nicht intendiert gewertet wird. D.h. diejenigen, die als Außenstehende an dieser Situation teilhaben, empfinden sie als komisch (und nicht peinlich) aufgrund der Realitätsferne. Diese besteht in zwei Hinsichten: Zum einen besteht Realitätsferne auf Seiten der Gesprächspartnerin. Ihre Attraktivität ist den Lachenden bekannt: Sie ist jung und gutaussehend, so dass sie nicht beleidigt sein muss, weil sie glauben müsste, als unattraktiv zu gelten. Sie bringt dabei aber auch nicht die ‚falsche’ Realität in die organisationale Wirklichkeit, sondern ist organisationsadäquat gekleidet und nicht provokant oder ‚sexy’. Ihre sexuelle Attraktivität, die in ihren privaten Beziehungen wichtig sein mag, ist im Organisationsalltag ‚kein Thema’ – in keine von beiden möglichen Richtungen. Zum zweiten besteht Realitätsferne auf Seiten Herrn Kienzles. Das in die Organisation gehörige kollegiale und respektvolle Verhalten Herrn Kienzles gegenüber der Gesprächspartnerin wurde mit seiner ungeschickten Formulierung infrage gestellt, aber durch das Lachen der Kolleginnen wieder hergestellt. Würden die drei anwesenden Frauen ihm zutrauen, die Zweideutigkeit absichtsvoll hineingelegt zu haben, wären sie entsetzt über Herrn Kienzles Unverfrorenheit. Auch Herr Kienzle selbst produziert, reproduziert und bestätigt die Realitätsferne. Seine Rückversicherung bei der Gesprächspartnerin dient zum Einen der Selbstversicherung, dass die Gesprächspartnerin es nicht falsch aufgefasst hat und stellt so Realitätsferne her. Zum zweiten reproduziert er die von seinen Kolleginnen vorausgesetzte Realitätsferne, indem er ihnen durch die Rückversicherung zeigt, dass es unbeabsichtigt geschah. Zum dritten ist seine Rückversicherung ein kollegiales und respektvolles Verhalten: Die Realität, d.h. das richtige Verhältnis zur Gesprächspartnerin, wird so gegenüber der Nebenwelt im Witz gestärkt. Von der Gesprächspartnerin wird mit der Bestätigung Kienzles die Realitätsferne ebenfalls bekräftigt. Sie vollzieht dies aber auch indirekt, indem sie die Situation in ihrem eigenen Team erzählt: Kurze Zeit später kam der Vorgesetzte von der besagten Kollegin hoch ins Büro und drohte Herrn Kienzle scherzhaft: „Du, belästige hier mal nicht meine Mitarbeiterin!“ Er ließ sich die Situation von uns dann noch mal erzählen. Anscheinend hatte es nicht nur in unserem Büro die Runde gemacht, sondern war von der Gesprächspartnerin von Herrn Kienzle ebenfalls in ihrem Büro zum Besten gegeben worden. (Woche 2; Donnerstag) Da die Aussage ‚Sie sind sexuell unattraktiv‘ keinen Übergriff auf die Person durch ‚Annäherungsversuche’ bedeutet, wird von dem Vorgesetzten hier jegliche sexuelle Andeutung zum Thema sexueller Belästigung gemacht. Eine Begründung
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
hierfür liefert er nicht, sondern geht von einem geteilten Verständnis aus. Es erscheint als common sense unterlegt, dass bereits eine zweideutige Aussage als potentielle Belästigung zu werten sei. Dies entspricht der Formulierung in der Betriebsvereinbarung „auf Einzelpersonen bezogene oder beziehbare Bemerkungen über sexuelle Aktivitäten und Intimleben“ (vgl. Kap. 8.3). Im Kontext sexueller Belästigung betrachtet, zeigt sich, dass Kienzles Verhalten dem Verständnis in der Betriebsvereinbarung durchaus folgt: Indem Kienzle der Gesprächspartnerin gegenüber betont, dass eine solche Andeutung unwillentlich geschah und sich rückversichert, dass seine Gesprächspartnerin dies für glaubwürdig erachtet, wird sexuelle Belästigung ebenfalls definiert über Intention, Handlung und Rezeption, wobei Kienzle durch die zweifache Rückversicherung den Impetus auf die Rezeption legt. So wird von ihm eine letztendliche Definition sexueller Belästigung der Rezipientin zuerkannt: Sie ist diejenige, die das Verhalten als unerwünscht definieren kann, wodurch es zur Belästigung wird. In beobachtbaren Interaktionen mit der Gesprächspartnerin wurde die lustige Situation ebenfalls abgerufen und gemeinsam über Herrn Kienzles Lapsus gelacht.180 Allerdings wurde Frau Schmidt damit nicht aufgezogen: In keiner Interaktion wurden Witze über sie gemacht.181 Die (sehr ausführliche) Ausweitung des Witzes ging allein zu Lasten Herrn Kienzles. Damit wurde in diesen Situationen des Scherzens und Weitererzählens eine Haltung reproduziert, die eindeutig Schuld Belästigenden zuweist und keine Provokation o.ä. Belästigten zuschreibt. Beim gemeinsamen Mittagessen mit Kienzle, Mende, Zagermann, Shaboa und Pirker wird die Anekdote ebenfalls thematisiert: Frau Mende erzählte von dem Lapsus von Herrn Kienzle und alle amüsierten sich. Herr Kienzle erklärte, dass er doch halt ein Chauvinist sei (gleiches hatte Zagermann am Jour Fix von sich gesagt). (...) Zu mir gewandt meinte Herr Zagermann witzelnd bezüglich des Lapsus von Herrn Kienzle, was ich für ein Bild bekommen müsse, wenn Herr Kienzle so die Mitarbeiterinnen belästige. (Woche 2; Freitag ) 180 Der Witz ist eine „gesellige Erfahrung“ (Berger 1998: 11) und stellte gerade bei der Hausmesse auch den Rahmen von Geselligkeit nach abgeschlossenem Arbeitstag her (sie fand in einer Tagungsstätte statt, in der auch übernachtet und entsprechend der Feierabend verbracht wurde). 181 Situationen und Kontexte für solche Witze wären durchaus gegeben gewesen. Insbesondere während der Hausmesse ergaben sich informelle Kontexte (s.o.), in denen dieses Thema gerne aufgegriffen und weitererzählt wurde. Frau Schmidt erzählte in einem solchen Kontext Herrn Zagermann, dass sie sich einen der Diplomanden aus ihrem Bereich „mit nach Hause genommen habe“ (Woche 10; Freitag). Dies wurde von allen Anwesenden freundlich interessiert thematisiert, z.B. indem man sie scherzhaft ermahnte, ihn nicht vom Schreiben der Diplomarbeit abzuhalten, ohne einen Bezug zu der Situation mit Herrn Kienzle herzustellen, beispielsweise indem Scherze darüber gemacht würden, was sie mit ‚den Männern’ in der Profit-AG anstelle.
8.4 „Du, belästige mal meine Mitarbeiterin nicht…“
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Weitere Personen in Kienzles Umfeld, darunter sein Vorgesetzter, finden diese ungeschickte Aussage hier ausschließlich komisch. In dieser Situation schließt sich auch Kienzle durch eine überzeichnete ‚Selbstbezichtigung’ in den Witz ein. Die Selbstbezeichnung als Chauvinist wird durch den Rückgriff auf Herrn Zagermanns Formulierung zu einem ‚ungefährlichen’ Witz. Damit knüpft er die Differenzierung zwischen legitimem Scherzen (vgl. Kap. 7.4) und dem „heiklen Thema“ (Profitables 01/2000; vgl. 8.1) illegitimer sexueller Belästigung hier an das Urteil seines Chefs. Dieser ist jedoch nicht die letzte ‚Instanz‘: (Im Büro mit Mende, Kienzle, Maier) Herr Kienzle hatte von Frau Schmidt nun als Ersatz für das verschwommene Foto drei Fotos zur Auswahl bekommen. Beim Öffnen der Mail teilte Herr Kienzle Frau Maier und mir mit, dass Frau Schmidt neue Fotos geschickt hätte, woraufhin Frau Maier und ich uns neben ihn stellten und die Fotos ansahen. Auf dem einen, befanden wir beide, sah sie sehr hübsch aus, wie für einen Abschlussball aufgemacht. Das Foto wirkte gestellt und professionell aufgenommen, war daher sowohl schön als auch scharf. Frau Schmidt war besonders schön ins Bild gesetzt und zurechtgemacht: Sie trug ein figurnahes, aber auch gänzlich bedeckendes Abendkleid, eine aufwendige Hochsteckfrisur und war elegant und dezent geschminkt. Nichts an ihrer Aufmachung war als ‚aufreizend‘ zu deuten. Frau Maier foppte Herrn Kienzle: „Da hast du ja ein scharfes Foto bekommen!“ Beim anschließenden Telefonat mit Frau Schmidt kommentierte Herr Kienzle dieses Foto nur kurz scherzhaft mit „Ein tolles Foto haben Sie mir da geschickt!“ um dann wieder ernst zu werden und auf die Auswahl für die Zeitschrift überzugehen. (Woche 3; Montag) Frau Schmidt ‚entschärft‘ die Situation bezüglich des unscharfen Fotos, indem sie Herrn Kienzle ein Foto aus ihrem Privatleben zusendet, auf dem sie besonders attraktiv aussieht und ihm somit signalisiert, dass sie seine ungeschickte Formulierung nicht als inakzeptablen Übergriff auf ihre Privatsphäre bewertet. Das gerade nicht sexuell aufgeladene Bild ‚entschärft‘ dabei auch die durch den Lapsus entstandene Grenzaufweichung zwischen Privatsphäre und Organisation, indem es hier auch Frau Schmidts ‚private‘ Attraktivität (sozusagen ihre ‚Schärfe‘) von Sexualität abkoppelt. Frau Maier bestätigt dies in ihrer scherzhaften Bemerkung (vgl. „Da hast du ja ein scharfes Foto bekommen!“) als gemeinsames Verständnis. Die ‚Entschärfung‘ durch Frau Schmidt bildet die Voraussetzung für Kienzles Kommentar: Nicht nur ist sein Kommentar so selber nicht ‚grenzwertig‘, sondern vielmehr löst er auch eine potentielle ‚Grenzwertigkeit‘ dessen auf, dass Frau Schmidt ihm dieses nicht in den Berufsalltag gehörige Foto (neben anderen) zugesandt hat. Überginge Kienzle das Foto bei der Rücksprache über die Bildauswahl
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
könnte diesbezüglich eine ‚Peinlichkeit‘ entstehen. Indem er es scherzhaft kommentiert, erkennt er das Bild als Fortsetzung des Witzes an. So wird der Scherz also zu einem gemeinsamen und ein Konsens zwischen beiden hergestellt, der die Grenze zu Frau Schmidts Intimsphäre markiert und festigt. Dass seine KollegInnen, sein Vorgesetzter und vor allem Frau Schmidt die Situation und ihn so selbstverständlich für unschuldig halten, dass sie die ungeschickte Aussage als komisch empfinden und fortführen, wird von Kienzle aber insgesamt noch nicht als hinreichend gewertet, um den unfreiwilligen Witz von dem ernsthaften Thema sexueller Belästigung zu lösen: Frau Maier und ich amüsierten uns noch etwas über das Verhältnis von Herrn Kienzle und Frau Schmidt. Sie zog ihn auf, wofür er denn dieses Foto [mit Abendkleid] angefordert habe. Er erklärte ernsthaft, dass er es nicht angefordert habe, sondern nur um ein anderes gebeten habe und er habe eben drei zur Auswahl bekommen. (Woche 3; Montag) Obwohl Maier die Situation ja bestens erinnert, in der Kienzle um ein anderes Foto bat und ihm der Lapsus unterlief, reagiert Kienzle auf ihr Spötteln, indem er ihr seine Aussage wiederholt und dabei erneut ernsthaft die Korrektheit seines Verhaltens versichert. Damit verleiht er der angesprochenen Situation eine Bedeutsamkeit, die zeigt: Bei sexueller Belästigung hört der Spaß auf. 8.5 „Das hat mir meine Frau schon lange nicht mehr gesagt“ Eine sexualisierte Aussage wie der Lapsus Herrn Kienzles wird von allen Beteiligten im Kontext sexueller Belästigung verortet. Die geteilte Komik reproduziert in den obigen Situationen ein geteiltes Verständnis von sexueller Belästigung in Hinsicht auf Definition, Verantwortung und Bewertung belästigenden Verhaltens. Die Umgangsweisen im Team bzw. im Umfeld entsprechen dabei der Betriebsvereinbarung in allen Punkten: Die Kommentare der Vorgesetzten, die beide (hier entsprechend scherzhaft) den Begriff der sexuellen Belästigung einbringen, aktualisieren eine Positionierung ihrer selbst als Vorgesetzte: Der Vorgesetzte der Mitarbeiterin ermahnt scherzhaft (vgl. „belästige mal meine Mitarbeiterin nicht!“), während der Vorgesetzte Kienzles sich für ihn witzelnd entschuldigt (vgl. „was ich für ein Bild bekommen müsse, wenn Herr Kienzle so die Mitarbeiterinnen belästige“). In beiden Verhaltensweisen demonstrieren sie nicht nur, dass sie sexuelle Belästigung als Fehlverhalten ablehnen, sondern dass sie sich als Vorgesetzte von ‚Tätern’ ebenso wie von ‚Opfern’ in der Verantwortung sehen, gegen dieses Fehlverhalten vorzugehen. D.h. in den gemeinsam typisierten Handlungen sind auch ‚Vorgesetz-
8.5 „Das hat mir meine Frau schon lange nicht mehr gesagt“
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te‘ als Typisierungen von Akteuren eingelassen: Um ein ‚richtiger‘ Vorgesetzter zu sein, hat entsprechend auch die ‚richtige‘ Handlung in Bezug auf sexuelle Belästigung zu erfolgen. Die Betriebsvereinbarung scheint also hier vollkommen aufzugehen. Allerdings wird sie ebenso wenig wie die anderen Schriften zu Mobbing, sexueller Belästigung oder Diskriminierung abgerufen: Frau Mende erzählte von dem Lapsus von Herrn Kienzle und alle amüsierten sich (...). Herr Shaboa meinte, das sei ungerecht, wenn Männer so etwas sagen, sei das Belästigung, bei Frauen nicht und er erzählte, wie er von einer Kollegin angerufen wurde, die ihn mit den Worten begrüßte: „Herr Shaboa, ich habe gerade heraus gefunden, dass Sie der richtige Mann für mich sind!“ Andersherum würde das als Belästigung empfunden so nicht. Die anderen amüsierten sich über die Geschichte und erfanden Antworten, die Herr Shaboa hätte geben können, wie z.B. „das hat mir meine Frau schon lange nicht mehr gesagt“. (Woche 2; Donnerstag) Shaboa weist ein anderes Verständnis von sexueller Belästigung auf: In dem, was er als geteilte Definition vermutet, ist die Grenze zwischen legitimem und illegitimem Verhalten nicht an der Unerwünschtheit festgemacht, sondern verläuft an der Geschlechtergrenze und an der Grenze zwischen Erwerbs- und Privatsphäre.182 Shaboas Wahrnehmung wird von den anderen Anwesenden nicht geteilt. Würde nun aber in dem Team die Betriebsvereinbarung als Grundlage eines geteilten Verständnisses zum Thema sexueller Belästigung gesehen, wäre zu erwarten, dass auch Herr Shaboa – als ‚gutes‘ Mitglied dieser Organisation – der Definition der Betriebsvereinbarung folgt bzw. zu folgen hat. Entsprechend stünde zu erwarten, dass die Teammitglieder Herrn Shaboa auf die Betriebsvereinbarung hinweisen. Das geschieht jedoch nicht. Vielmehr amüsieren sie sich über das, was er ernsthaft empörend findet und geben ihm somit zu verstehen, dass sie diese Sichtweise nicht hinreichend ernst nehmen, um sie für diskussionswürdig zu erachten. Da sie ihm aber Vorschläge unterbreiten, wie er auf die Situation so hätte reagieren können, dass er ‚mitspielt’ und dabei ‚Oberwasser’ erhält, zeigen sie ihm, dass er inadäquat auf die Aussage der Frau reagiert hat, belehren ihn so zum Einen und nehmen zum Anderen aber auch durchaus wahr und ernst, dass diese Situation ihm unangenehm war und reagieren in dieser Hinsicht empathisch. Der ‚richtige’ Umgang mit dem Thema sexueller Belästigung wird hier im Team und durch das Team also nicht an einer innerorganisationalen formalen Vorgabe festgemacht oder orientiert, sondern in einer Abhängigkeit von einer außeror182 Die flapsige Formulierung „dass Sie der richtige Mann für mich sind“ impliziert eine Setzung romantischer Liebe, auf deren Basis Paarbildung über die Auswahl ‚der/des Richtigen’ erfolgt (vgl. Goode 1959), ist aber nicht sexuell aufgeladen.
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
ganisationalen Wirklichkeit verstanden: Die Fremdheit Shaboas gegenüber europäischer/westlicher Kultur bietet viel eher eine Erklärung für sein anderes Verständnis und damit eine Antipode, der gegenüber der Rahmen des geteilten Verständnisses gesteckt werden kann. Das in der Betriebsvereinbarung und im Team geteilte Verständnis von sexueller Belästigung wird somit vom Team als kulturell gesetzter und begrenzter Common Sense erlebt. Da jedoch nicht jederzeit alle Situationen eindeutig sind und Grenzwertigkeiten wie bezüglich der Karte mit dem halbnackten Mann entstehen können, erhält dieses Erleben des geteilten Verständnisses in seiner Reproduktion eine wichtige Bedeutung für das Team: Die gemeinsame ‚Belehrung‘ Shaboas macht die Gemeinsamkeit der Sichtweise erfahrbar, stärkt diese und damit wiederum die erlebte Gemeinschaft (vgl. Gehlen 1950). Die Komik des Gesprächs, die von den anderen Teammitgliedern geschaffen wird (vgl. „alle amüsierten sich“), bietet dabei nun auch eine Möglichkeit ‚abzuarbeiten‘, was in Situationen, in denen ‚der Spaß aufhört‘ indiskutabel ist (vgl. Kap. 7.5): Die kultureller Differenz zugeschriebene Position Shaboas wird im Horizont westlich/europäischer Kultur zu beeinflussen versucht. Der Kulturfremde wird dabei – sofern er bereit ist, sich belehren zu lassen – integriert und nicht ausgegrenzt, wobei hier wiederum das Scherzen den Modus Operandi bietet:183 „Humor can assist in mending fractured or fragile relationships, help things run more smoothly, and nurture good workplace relationships, i.e. serve as a strategy for accomplishing aspects of relational practice.” (Holmes 2006: 136f.) Zusammengefasst schließt hier also die Institutionalisierung dieses Umgangs mit sexueller Belästigung durch die unterstellte Kopplung außerorganisationaler Wirklichkeit (hier: europäischer Kultur) und Organisation ab, die sich im Arbeitsalltag treffen (analog zur Einbettung in der Betriebsvereinbarung; vgl. Kap. 8.3). Die unterstellte Kopplung stützt an dieser Stelle die Einführung ‚der zweiten Generation’ – in diesem Fall einen Ausländer – in die institutionale Ordnung und fungiert somit als symbolische Sinnwelt (vgl. Berger/Luckmann 1969). Der so als kulturell verankert erlebte und sedimentierte Common Sense entspricht der Betriebsvereinbarung in allen Punkten, erscheint dabei aber unabhängig von ihr. Wie der übergeordnete Common Sense zu Chancengleichheit/Gleichstellung wirkt das geteilte Verständnis zu sexueller Belästigung auch hier als Hintergrunderfüllung für den organisationalen Alltag über die Formierung informeller Zugehörigkeit und die 183 Vgl. dagegen die Situation in Kap. 7.5, die als ernsthaft empfunden wurde. Dort diente Shaboas ethnische Herkunft der Abgrenzung (vgl. Beobachtungsprotokoll: Frau Braun erzählte, sie habe ihm daraufhin geantwortet, dass es in seinem Herkunftsland ja ein Überbevölkerungsproblem gäbe, in Deutschland läge das Problem aber bei der Kinderlosigkeit. Woche 2; Dienstag).
8.6 „Missbräuchliche Nutzung von Internet“ und „Schweinkram“
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Stärkung informeller Strukturen gegenüber formalen: Gerade weil dieser Common Sense durchaus im Arbeitsalltag legitimiert Raum erhält, aber sozusagen nicht zum ‚Job’ gehört, kann er quasi quer zu einem Verständnis in der ‚organisationalen Öffentlichkeit‘, wie der Berichterstattung in der Hauszeitschrift, liegen, aber auch legitimierend zurückwirken auf formale Vorgaben wie hinsichtlich der Funktion der Vorgesetzten. Wie sich dies nun zu anderen formalen Vorgaben, vor allem eben dieser Betriebsvereinbarung verhält, wird im Folgenden dargestellt. 8.6 „Missbräuchliche Nutzung von Internet“ und „Schweinkram“ Anfang 2005 erhielten alle Beschäftigten im UBZ folgende E-Mail vom Unternehmensbereichsleiter Zagermann: „Sehr geehrte Mitarbeiterinnen, sehr geehrte Mitarbeiter, aufgrund wiederholter Fälle der missbräuchlichen Nutzung von Internet-, EMail und Telefon zu Zwecken ohne Bezug zu den geschäftlichen Tätigkeiten des Konzerns, möchte ich nochmals über die Regelungen zur Nutzung von E-Mail, Internet und Telefonsystemen in unserem Haus informieren. Als Grundlage hierfür dienen u.a. folgende Vorgaben, Richtlinien und Anweisungen, um deren stringente Einhaltung ich Sie hiermit bitte! [Auflistung der Richtlinien mit Quellenangabe im Intranet.] Im Besonderen sind auszugsweise folgende Passagen dieser Dokumente hervorzuheben: Elektronische Informations- und Kommunikationssysteme des Konzerns werden autorisierten internen Nutzern im Hinblick auf Informationsbeschaffung, /-bereitstellung und Übermittlung im Rahmen der geschäftlichen Tätigkeiten des Konzerns zur Verfügung gestellt. Die Verwendung zu Zwecken ohne Bezug zu den geschäftlichen Tätigkeiten des Konzerns ist grundsätzlich nicht erlaubt (...). Bitte halten Sie diese Regeln ein und seien Sie sich bewusst, dass Verstöße mit entsprechenden Konsequenzen verbunden sind.“ (Email Zagermann; Herv. i.O.) Der von Zagermann verfasste Text klingt sehr formell und steht damit im Gegensatz zu den Anschreiben, die seine MitarbeiterInnen sonst von ihm erhalten (vgl. Kap. 7.2). Die namentliche Auflistung der „Vorgaben, Richtlinien und Anweisungen“ bestärkt den Eindruck einer formalen Durchregulierung, auf die Zagermann hier pocht, indem er mit der Einleitung der Mail, der anschließenden Auflistung und den Auszügen dreimal den gleichen Inhalt wiederholt. Der einzige benannte Anlass der Rundmail ist der Verstoß gegen diese Regelungen, womit die Einhaltung der Regelungen um der Regeln selbst willen gesetzt wird.
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
Etwa zwei Monate später wurde die Mail Zagermanns bei der Betriebsratsversammlung als Tagesordnungspunkt aufgeführt, da sie für Unsicherheit und Unmut gesorgt habe. Ein Betriebsratsmitglied erklärte, dass diese Mail sich auf das „Herunterladen von Schweinkram“ bezöge. In dieser Hinsicht wiederholte er das Verbot, grenzte aber eine solche missbräuchliche Nutzung gegen die legitime Mail „von der Tante“ ab, in der sie ihre Ankunftszeit am Bahnhof mitteile. Die von Zagermann herangezogenen Richtlinien stecken also einen sehr weiten Rahmen, in dem schon etwas ganz harmloses (symbolisiert durch eine freundliche alte Verwandte, die zu Besuch kommt) formal geregelt wird. Die auf der Betriebsversammlung öffentliche Kundgabe, dass diese Form privater Mails legitim sei, schränkt das grundsätzliche Verbot, das durch die formalen Vorgaben ausgesprochen wird, informell ein: Es wird damit zu einer Frage persönlichen Ermessens, wo zwischen der „Mail der Tante“ und dem „Herunterladen von Schweinkram“ die eigene Internetnutzung „ohne Bezug zu den geschäftlichen Tätigkeiten des Konzerns“ liegt – wo ein Abweichen von der Regelung informell ‚noch durchgeht‘, und ab wann die Regeln tatsächlich einzuhalten sind. Im Gespräch mit Sandra Maier habe ich ihr von der Betriebsversammlung erzählt: Ich fragte nach, was es mit diesen Pornos auf sich habe, um die es bei der Betriebsversammlung u.a. gegangen war. Sie antwortete, dass es ein paar Leute gegeben habe, die sich während der Arbeitszeit Pornos herunter geladen hätten und die seien auch gekündigt worden. Auch im UBZ hätte es das gegeben, aber Herr Zagermann würde manchmal dazu neigen, alles etwas zu rabiat anzugehen: Er hätte eine Mail geschickt an alle Mitarbeiter, in der er eine restringierte Nutzung des Internetgebrauchs eingefordert hätte. Da vielen Mitarbeitern aber der Anlass nicht klar war, sei er damit ein wenig übers Ziel hinaus geschossen. Aber er greife da immer hart durch. Er hätte wegen sexueller Belästigung schon einen Mitarbeiter so prompt hinausgeworfen, dass er neben ihm stehen blieb, während der seinen Schreibtisch räumte und habe ihn bis zur Tür gebracht. (Woche 6; Montag)184 Zagermann reagierte also mit obiger Mail auf ein illegitimes Eindringen von Sexualität in die Organisation, was Maier in ihrer Erzählung im Horizont sexueller Belästigung ansiedelt und so das rigorose Vorgehen Zagermanns ‚erklärt‘ (vgl. „er greife da immer hart durch“). Dies ging aus der Email jedoch nicht hervor (vgl. „der Anlass nicht klar war“) und war so wenig plausibel, dass es in der Betriebsversammlung explizit erklärt werden musste. Dabei geht Maier ebenso wie der 184 Auf Nachfrage bei Herrn Zagermann erläuterte dieser die Situation, bestätigte den direkten Rauswurf in dieser Form und erklärte, dass es ihn sehr geärgert habe, dass der Betreffende vor dem Arbeitsgericht wegen der Unrechtmäßigkeit dieser fristlosen Kündigung gewonnen habe.
8.6 „Missbräuchliche Nutzung von Internet“ und „Schweinkram“
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Betriebsrat von einem weit gehend geteilten Verständnis aus, dass ‚so was‘ in die Organisation nicht hineingehört, und daher die Benennung des Anlasses genügt hätte, um die Email verständlich und angemessen erscheinen zu lassen (vgl. „übers Ziel hinaus geschossen“). Die drastische und allein mit formalen Vorgaben gefüllte Mail scheint Zagermanns ‚harte Bandagen‘ darzustellen: Die Anweisungen gegen die missbräuchliche Nutzung beziehen sich nicht primär auf Werte des Zusammenarbeitens (vgl. Kap. 7.2), sondern auf das Bild einer ‚rationalen‘, d.h. dem Kosten-Nutzen-Kalkül folgenden Organisation. Diesem gemäß werden mit vertragsrechtlichen Mitteln unnötige Kostenfaktoren ausgemerzt. Neben der arbeitsrechtlich nicht abgesicherten Variante harten Durchgreifens (vgl. Fn. 184) erscheint dies in Zagermanns Perspektive die strengste (und wie im folgenden Zitat gezeigt: ‚unmenschlichste‘) Form der Führung – zumal sie seiner eigenen Auffassung von Führungsverantwortung widerspricht: „Herr Zagermann erzählte, dass er einen sehr unangenehmen Tag hatte: Bei einer Person, die Gelder [der Organisation] kurzfristig über ihr Konto laufen lassen hatte, weil sie einen Haufen Schulden und weitere Probleme hatte, habe er eine Kündigung verhindern müssen, weil damit ihre Existenz gefährdet sei. Bei einer anderen Person, die sich erdreistet habe, Pornos runterzuladen [kurz nach genannter E-Mail], habe er dafür die fristlose Kündigung beschlossen. Er ärgerte sich massiv über diese Person, indem er mit heftigen Worten und sehr eindringlich die Unverschämtheit dieses Verhaltens beschwor.“ (Woche 3; Freitag) Die Erstgenannte verstößt gegen Grundregeln des Geschäftsbetriebes des Konzerns, indem sie Gelder – wenn auch nur vorübergehend – veruntreute. Dieses Vergehen wird von Zagermann jedoch entschuldbar, da sie aus Existenznot gehandelte hatte. Dieselbe Existenznot ist nun für ihn ein Grund gegen die Handlungsabsichten anderer (vermutlich der Personalabteilung) eine Kündigung zu verhindern. Der Mensch und seine Bedürfnisse werden hier über den sicheren und rechtmäßigen Ablauf des Konzerns gestellt. Ein Kosten-Nutzen-Kalkül wird damit untergraben und informelle Regelungen über formale Vorgaben gestellt. Die zweite Person verstieß dagegen wie im von Maier angeführten Fall gegen Zagermanns Vorstellung guter Zusammenarbeit. Die formalen Vorgaben, die Zagermann in der Mail aufführte, werden hier jedoch nicht geltend gemacht: Zagermann führt nicht sie als Begründung für die Kündigung an, sondern macht die „Unverschämtheit“ einer Zuwiderhandlung seiner Anweisung geltend.185 Die Nachrangigkeit formaler Re185 Die Eindringlichkeit, die Zagermann in seiner Mail sieht, macht das Verhalten so „unverschämt“. Der Inhalt bietet für die Bewertung „Unverschämtheit“ keinen Maßstab, weder in Zagermanns Erzählung, noch realiter, denn jemand, der sich in seiner Arbeitszeit mit Pornos beschäftigt, wird
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
gelungen wird hier nicht außer Kraft gesetzt, vielmehr erscheint vor diesem Hintergrund nun Zagermanns Email als seine Vorstellung formaler Struktur und ihres Regulierungsrahmens. In Verbindung damit, dass Thematisierungen von Sexualität bzw. sexueller Belästigung im direkten Umfeld Zagermanns informell kanalisiert werden und so unabhängig von formalen Vorgaben erscheinen, stellt der Rückgriff auf eine formale Regelung ohne Bezug zu Sexualität/sexueller Belästigung nun eine Trennung von formaler Strukturierung und Sexualität her. 8.7 „Es ist für sie kein Mobbing, es war ein witziger Spruch“ Formale Vorgaben, die materiell eingelassen sind, haben eine recht enge Kopplung: Indem der Betriebsausweis dazu dient Türen zu öffnen, wird die formale Vorgabe des Arbeitsvertrags tagtäglich praktisch bedeutsam: Ohne formale Zugehörigkeit kann man Gebäude nicht betreten. Das gilt für die Nutzung des Internets nur begrenzt, z.T. sind hier Sperren eingebaut, z.T. jedoch nicht: Ist E-Mails zu verschicken möglich, so kann ein privater Inhalt von E-Mails nicht durch eine materielle Einlassung verhindert werden. Für solche Regeln gilt, dass sie entweder im Arbeitsalltag ‚enacted’ sein müssen (vgl. Jepperson 1991), also intrinsisch, wie dies bei Berger Luckmann (1969) für sedimentierte, institutionalisierte Handlungen geltend gemacht wird und in Anlehnung an diese von Zucker (1977) hervorgehoben wird. Dies zeigt sich bspw. in der Umgangsweise mit sexueller Belästigung im Team. Oder solche Regeln müssen aktiviert werden, hierzu ‚mobilisiert’ und dies dann auch in Handlung umgesetzt (i.S. von ‚acted’; vgl. Jepperson 1991). Regeln, deren Einhaltung weder strukturell eingefordert wird, noch intrinsisch ist, haben unterschiedliche Chancen umgesetzt zu werden.186 Die von Zagermann gezogene Scheidelinie zwischen Sexualität und formalen Vorgaben blieb nicht folgenlos. Indem ein Mitglied des Topmanagements nun in einer mindestens 3000 Leute erreichenden Rundmail vorgemacht hatte, dass gegen ‚solche‘ Vergehen mit den Richtlinien gegen die private Nutzung elektronischer Medien vorgegangen werden kann, konnte diese Vorgehensweise zu einem Weg werden, der wiederholbar und wiederholungswürdig, sprich erfolgversprechend schien. Dies zeigte sich in einer in einem Interview geschilderten Situation. sich bewusst sein, dass dies ein massiver Verstoß gegen den Arbeitsvertrag ist. Die private Nutzung von Medien muss demgegenüber als Lappalie erscheinen. 186 Vgl. „Die Formulierung von Regeln ist der – in Organisationen übliche – Versuch, praktizierte Regeln zu etablieren. Ob dieser Versuch erfolgreich ist, das hängt dann vom konkludenten Handeln der Adressaten ab, die entweder rule following oder auch Verweigerung und gar Regelverletzung betreiben können. Die Erfolgsbedingungen der immer wieder neuen Versuche (...) sind weniger gut erforscht als man annehmen sollte“ (Ortmann 2004: 55).
8.7 „Es ist für sie kein Mobbing, es war ein witziger Spruch“
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I: „weil du diese Sprüche genannt hast, das sind ja eindeutig diskriminierende Aussprüche und es gibt ja diese neue Betriebsvereinbarung über Mobbing, aber du siehst da keinen Handlungsspielraum dafür?“187 Tanja: „Nö, nö! Ich sehe da gar kein Verständnis. Dazu müssten die Herren ja erst einmal begreifen, dass die Herren, die Sprüche, die sie da reißen erstmal diskriminierend sind. Und das ist nicht der Fall. Mein Kollege hat sich schon eine Abmahnung eingefangen, weil er einen Achtzeiler nicht durch den Konzern, aber durch unser Team geschickt hat, über eine [weibliche Comicfigur, im Folgenden: Eva], die den [männliche Comicfigur] poppen will, der aber schwul ist, und deswegen Eva jetzt eine Lesbe wird. Und er hat es an mich geschickt, an einen schwulen Kollegen und an eine Kollegin, die Eva mit Vornamen heißt, ja. Und hat dafür eine Abmahnung bekommen. Allerdings nicht wegen sexueller Belästigung, sondern wegen privater Nutzung elektronischer Medien, weil das der einzige Punkt war, wo man ihn irgendwie greifen konnte. Das andere war keine sexuelle Belästigung für den Konzern.“ I: „Hm. Wer hat die Abmahnung ausgesprochen, oder wer hat das veranlasst, dass diese Abmahnung ausgesprochen wird?“ Tanja: „Also die Kollegin, die Eva heißt, hat sich beschwert beim Betriebsrat. Und die Abmahnung wurde dann von der Personalabteilung ausgesprochen. Aber die Punkte für eine sexuelle Belästigung waren gemäß Personalabteilung nicht ausreichend. Und das Schlimme ist, dass diese Eva, hier den absoluten Terror erlebt hat, weil ähm, irgendwann ist es gekippt, es war nicht okay was der Kollege gemacht hat, sondern es war nicht okay von der Kollegin sich offiziell beim Betriebsrat über ihn zu beschweren, sie hätte mit dem Teamleiter sprechen müssen, mit dem Gruppenleiter, mit dem Betroffenen selbst und erst dann hätte sie vielleicht, wenn das alles erfolglos gewesen wäre, eine offizielle Beschwerde machen dürfen. Und am Ende wurde sie dann geschnitten und nicht der Kollege. Ich denke, dass bei Leuten, die so denken es schwierig sein wird, irgendwas zum Thema Chancengleichheit zu erzählen. Und Thema Mobbing? Es ist für sie kein Mobbing, es war ein witziger Spruch. Das ist das Statement des Kollegen. Ich bin dann ja auch noch angemacht worden, weil ich habe mich ja nicht über ihn beschwert. Ich habe ihm auf die Email geantwortet, ich war ja im Verteiler und habe gemeint: Ich will so ein Scheiß von dir nicht hören. Für mich war das dann erledigt. Ich habe danach, dann auch nie mehr was von ihm bekommen und gut war. Und das wurde dann sozusagen noch als Argument 187 Dieser Frage gingen Erzählungen über den Umgang mit Behinderung und sexueller Orientierung durch ein paar Mitglieder ihres Teams voraus.
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
gegen die Kollegin, die die Beschwerde eingereicht hat, verwendet. Dass ja jemand wie ich sich z.B. nicht offiziell beschwert hätte.“ (Interview Tanja; qualifizierte Sachbearbeitung) Der entscheidende Unterschied zur in Kapitel 8.4 beleuchteten Situation ist, dass hier der Witz ‚schief’ gegangen ist: Während diejenigen, die diese „Sprüche“ machen und den Achtzeiler geschrieben haben, sie witzig finden, empfinden sie andere als sexuelle Belästigung oder „so ein Scheiß“. Der Mangel an Komik liegt darin, dass dieser Achtzeiler Identität berührt hat, die die sexuelle Orientierung und sexuelle Aktivität betreffen, denn „der Witz mit dem man zu weit gegangen ist, hat eine sehr empfindliche Realität berührt“ (Berger 1998: 8). Dieser direkte Bezug auf sexuelle Aktivität und sexuelle Orientierung in Verbindung mit dem in einer kleinen Einheit zur Identifikation zumeist ausreichenden Vornamen wird nicht nur durch den Text des Achtzeilers, sondern insbesondere durch das Verschicken an Stellvertretungen der in dem Gedicht angeführte Personengruppen (Lesben und Schwule), sowie eine namentlich benannte Person hergestellt. Die in doppelter Hinsicht namentlich Adressierte empfindet dies als sexuelle Belästigung und reagiert durch die Wendung an die ArbeitnehmerInnenvertretung. Warum die Personalabteilung hier keine Handhabe mittels der Betriebsvereinbarung sah, kann nicht rekonstruiert werden.188 Sie tat es nicht, aber belässt es nun nicht (einfach) dabei oder überlässt es (gemäß der Betriebsvereinbarung) der zuständigen Führungskraft dies z.B. durch einen informellen Verweis zu ahnden, sondern nutzt stattdessen die Richtlinien zur privaten Nutzung elektronischer Medien. Sie spricht eine Abmahnung aus und setzt an Stelle der sexuellen Belästigung, als welches die Interviewte und der Interviewten zufolge die Frau namens Eva das Verhalten werten, mit der Abmahnungsbegründung etwas, das nicht nur von der Interviewten als ‚Kavaliersdelikt’ gewertet wird, sondern auch sonst nicht geahndet wird: dass der Absender eine kurze private Email geschrieben hat. Diese Entscheidung der Personalabteilung wird nun auf zweierlei Arten gedeutet: Dem Absender zeigt sie, dass die Einschätzung der Adressatin, dies als sexuelle Belästigung zu empfinden, falsch und ihre Beschwerde entsprechend eine Fehlreaktion war. Durch den Ersatz mit diesen Regelungen wird der Versand des Achtzeilers aus sexueller Belästigung heraus definiert. Die Abmahnungsbegründung spielt so der ‚Ungerechtigkeit’ der Abmahnung zu und nicht der Ablehnung sexueller Belästigung durch eine entsprechende Ahndung. Das Kippen, das von der 188 Gemäß der Betriebsvereinbarung wäre der auf sexuelle Aktivitäten spezifischer Personen bezogene Achtzeiler als sexuelle Belästigung zu verstehen gewesen: „entwürdigende und beleidigende Witze und Bemerkungen“, „auf Einzelpersonen bezogene oder beziehbare Bemerkungen über sexuelle Aktivitäten und Intimleben“ und „Zeigen und Versand, auch auf elektronischem Wege, von pornografischen Heften und Anbringen entsprechender Bilder und Aufkleber“ (vgl. Kap. 8.3).
8.8 „Soll ich rausgehen?“ – Sexualität und Organisation
227
Interviewpartnerin beschrieben wird, wird dadurch hervorgebracht: Die Adressatin wird nun zur ‚Täterin’, die durch ein übertrieben an Formalia orientiertes Verhalten einem Teammitglied eine Abmahnung statt eines informellen Verweises eingebracht hat und sich somit ‚unkollegial’ verhielt. Dagegen signalisiert die Entscheidung der Personalabteilung der Interviewten, dass ihre Einschätzung, dass es sich um sexuelle Belästigung und Diskriminierung handele, zwar richtig war, das Verhalten des Abgemahnten entsprechend auch von der Personalabteilung als gravierendes Fehlverhalten gewertet wurde, aber die Betriebsvereinbarung nutzlos sei, um dies auch zu ahnden und es des Ersatzes durch andere Richtlinien bedarf. Auf diese Weise nimmt der Ersatz durch andere Richtlinien der Betriebsvereinbarung Wirkmacht im Arbeitsalltag. 8.8 „Soll ich rausgehen?“ – Sexualität und Organisation In dem Diskurs zur sexuellen Belästigung wird das Tabu von Sexualität in Organisationen stabilisiert, indem es geöffnet wird (vgl. zur stabilisierenden Funktion von Flexibilisierungen Nedelmann 1995; Kap. 0.) Einerseits bestätigt das Verbot sexueller Belästigung und die sehr weitreichende Definition dieser (z.B. Bemerkungen über das Intimleben; vgl. Kap. 8.3) die Norm, Sexualität sei extra-organisationale Privatsache. Entsprechend wird von Zagermann Sexualität aus dem Wirkungsbereich formaler Vorgaben hinaus verlagert verstanden und eine Tabuisierung von Sexualität in Organisationen formalen Strukturierungen (aber auch nur diesen) zugeschrieben (vgl. Kap. 8.6). Gleichzeitig zu dieser Festigung des Tabus auf der formalen Ebene verschiebt sich im Diskurs die Grenze dessen, was in der Organisation legitim ist, in den Bereich der Sexualität hinein: Körperlichkeit, Liebesbeziehungen, sexuelle Attraktivität etc. werden legitimiert, indem das Tabu in zwei Hinsichten geöffnet wird. Zum einen wird Sexualität legitim thematisierbar über den öffentlich geführten Diskurs zur sexuellen Belästigung. Zum zweiten wird ein Eindringen von Sexualität in die Organisation (z.B. Flirten) legitim mittels der Abgrenzung gegen Belästigungen (vgl. Kap. 8.1). Neu hieran ist nun nicht, dass Sexualität in der Organisation de facto eine Rolle spielt (vgl. die hierzu grundlegenden Beiträge von Hearn et al. 1989; Hearn/Parkin 1995; Raststetter 1994). Neu ist vielmehr, dass dies nicht als Bruch des Tabus, sondern legitim und als Stabilisierung des (reduzierten) Tabus erfolgt: Herr Zagermann kam hinein um eine bei uns im Büro wartende Führungskraft abzuholen, die aber gerade telefonierte. Herr Kienzle nutzte die Gelegenheit, Herrn Zagermann wegen einiger Entscheidungen zu fragen. Ich habe anschließend Herrn Zagermann gefragt: „Darf ich Sie kurz belästigen?“
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8. „Mit einem durchaus heiklen Thema“
Er meinte: „Mich belästigen? Aha!“ und grinste frivol. Herr Kienzle fragte scherzhaft: „Soll ich rausgehen?“ (Woche 3; Mittwoch) Wiederum im Rahmen eines Scherzes wird das Hineinziehen der heterosexuellen Paarmatrix legitimiert. Der Konsens über den beidseitigen Wunsch einer Annäherung, den Zagermann im Scherz herstellt, wird entsprechend von Kienzle gestützt mit Bezug auf die Norm der Zweisamkeit sexueller Aktivitäten, indem er scherzhaft Rücksichtnahme anbietet. Die für einen sachlichen Kontext nicht ungewöhnliche Frageformulierung der Forscherin wird von Zagermann erst in den Konnex von Sexualität gezogen. Dies zeigt, wie präsent – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des ‚running gag‘ aus Kienzles Lapsus – das Thema sexueller Belästigung hier ist. Der nun von Zagermann durchaus beabsichtigte Scherz kann wiederum auf der Basis des Common Sense der Ablehnung sexueller Belästigung realitätsfremd sein und somit harmlos verlaufen, also komisch werden. Eine weitere Dimension ist im Diskurs zu Mobbing und der Betriebsvereinbarung noch enthalten, die eine legitime, kanalisierte Thematisierungslinie von Sexualität in der Organisation bietet: Sexuelle Orientierung wird als Achse potentieller Diskriminierung wahrgenommen. Mit der Sanktionierbarkeit der Diskriminierung wird Homosexualität zu einem geschützten Bereich in die Organisation hineinziehbaren Privatlebens.189 Gerade die Offenlegung einer homosexuellen Orientierung ermächtigt diese MitarbeiterInnen auf den ‚Schutz’ der Organisation zu setzen. Ein Outing in der Organisation wird somit erstens legitimiert (es ist nicht mehr Privatleben, das man ‚an der Tür abgeben’ soll), und erfährt zweitens durch das ‚kollektive Outing’ des organisationsinternen Homosexuellennetzwerks eine Einbettung in ein organisationales Commitment – d.h. ein wechselseitiges Bekenntnis von Organisation und homosexuellen Angestellten zueinander. So wird durch die Präsenz des Netzwerks die organisationale Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht, dass Homosexualität ein Teil organisationaler Wirklichkeit ist. Und die Interviewpartnerin Tanja, die sich im Homosexuellennetzwerk engagiert und deren eingetragene Lebenspartnerschaft in ihrem Arbeitsumfeld bekannt ist, kann entsprechend selbstbewusst auf den Achtzeiler reagieren (vgl. „Ich habe ihm auf die Email geantwortet, (...) Ich will so ein Scheiß von dir nicht hören. Für mich war das dann erledigt“ Interview Tanja; vgl. 8.7).
189 Vgl. zu einer neo-institutionalistisch orientierten Studie über Chancengleichheit homosexueller Arbeitskräfte Monro (2007).
9.1 „Zeit ist unser Leben“ – Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort
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9 „Da sind wir auch ein bisschen Gutmensch“ – Gleichstellung für wen und wohin?
Die nachfolgend kurz aufgeführten Programme zeitigten nur geringe oder gar keine Relevanz im Beobachtungshorizont. In Bezug auf Wiedereingliederung, Kinderbetreuung und vor allem bei Mentoring hängt das auch damit zusammen, dass die Programme auf einen vergleichsweise kurzen Zeitraum in einer spezifischen Phase einer eingeschränkten Anzahl von Beschäftigten bezogen sind. 9.1 „Zeit ist unser Leben“ – Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort Zu Telearbeit wurde 1995 in der Hauszeitschrift Profitables eine Diskussion angestoßen. Als Zielgruppen wurden primär „Alleinerziehende, Beschäftigte, die einen Pflegefall betreuen, Schwerbehinderte und Mitarbeiter, die lange, unangenehme Anfahrtswege haben“ anvisiert (ebd.). Die meisten Mitarbeiterinnen begründen in dieser Diskussion ein Plädoyer für Telearbeit über ihre Mutterschaft und Betreuungsaufgaben.190 1996 beginnt ein Pilotprojekt, bei dem Männer und Frauen, die in unterschiedlichen Bereichen des Konzerns arbeiten, mehrere Tage pro Woche von einem Heimarbeitsplatz aus arbeiten. Im Mai 1998 wird die alternierende Telearbeit eingeführt. Die im Forschungszeitraum aktuelle formale Regelung zu Teilzeit und Telearbeit fand sich in einem „Handout“ mit dem Titel „Flexibel Arbeiten“ von 2002 schriftlich fixiert. Dieses 14-seitige Heft informiert über Telearbeit, Arbeitszeitworkshops in den Betriebsstätten zur Ausdehnung der Öffnungs- und Ansprechzeiten, verschiedene Arbeitszeitmodelle wie Teilzeit, Altersteilzeit, Gleitzeit oder „Ampelkonten“ und über einen „Arbeitszeitwettbewerb“.191 Telearbeit wird im 190 Dabei wird die Familienarbeit auch als Antwort auf die Frage nach der Fähigkeit zur Eigenverantwortung und Selbstorganisation herangezogen: „Wer die Familienphase erfolgreich gemeistert hat, weiß, was es heißt, Verantwortung zu tragen und sich selbst zu organisieren“ (Profitables 3/1995). Interessanterweise ist hier von einer abgeschlossenen Familienphase die Rede, was auf eine Selbstverständlichkeit hinweist, Erziehungsurlaub genommen zu haben. 191 „Ampelkonten“ sollen einen Ausgleich tagesunterschiedlich geleisteter Arbeitsstunden über einen längeren Zeitraum hinweg ermöglichen. Der Wettbewerb erhob verschiedene Arbeitszeitregelungen in Teams der Profit-AG, davon wurden 81 ‚best practice‘-Modelle ausgezeichnet.
K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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9. „Da sind wir auch ein bisschen Gutmensch“
Handout nur in einem kurzen und allgemein gehaltenen Abschnitt thematisiert. In diesem wird darauf hingewiesen, dass die jeweilige Führungskraft darüber entscheidet, ob die Voraussetzungen „z.B. in fachlicher, persönlicher, technischer bzw. räumlicher Hinsicht“ erfüllt seien. Teilzeit wird als erstes Thema des Handouts auf fünf Seiten vorgestellt und ist zudem Thema der „FAQ‘s“ auf den letzten beiden Seiten. Teilzeit wurde, wie in Kap. 6.2f. gezeigt, zu Beginn der organisationalen Gleichstellungspolitik als ein wesentlicher Baustein dieser gesehen. Wenn Teilzeit unter dem Stichwort Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen gefasst wird, wird oft implizit eine Problematisierung einer durch Frauen zu leistenden Vereinbarung von Familienund Erwerbsarbeit stabilisiert und dabei einer Annahme nach Geschlecht differierender Karriereorientierung zugespielt (vgl. Krais 2000). Teilzeitangebote in Anspruch zu nehmen wird über die Vergeschlechtlichung für Frauen legitimer als für Männer, was dann wiederum dazu beiträgt, dass mehr Frauen als Männer in Teilzeit gehen und letztendlich eine statistische Diskriminierung zementiert wird (vgl. Nentwich 2004).192 In dem Handout der Profit-AG erscheint Teilzeit, da das Thema gerahmt wird durch die o.g. anderen, geschlechtsneutral wirkenden Formen flexiblen Arbeitens, nicht – bzw. im Vergleich zu der Thematisierung in den Anfängen: nicht mehr (vgl. Kap. 6.2) – als Aspekt von Chancengleichheit oder als ‚Frauen-‘ bzw. ‚Mütterthema‘ verhandelt zu werden.193 Auf dem Titelblatt des Handouts sind fünf aufeinander gestapelte Herrenhemden zu sehen: vier hellblaue ‚bürotaugliche’ Hemden mit einem in Profit-AGFarben karierten Freizeithemd dazwischen.194 Dieses Hemd scheint nicht gängigen Büroangestellten zu entsprechen, aber harmoniert mit der Profit-AG. Die Darstellung mittels der Herrenhemden wirkt hier wie ein generisches Maskulinum, d.h. flexible Arbeitszeiten werden zu einem ‚allgemein menschlichen‘ Thema. Über die Farbgebung wird signalisiert, dass Teilzeitbeschäftigte und Telearbeitende in der Profit-AG ‚richtig’ aufgehoben sind.195 Beides erscheint als Ansatz die Kopplung von Teilzeit, Familien- statt Karriereorientierung und Frauen aufzubrechen. Das wird weitergeführt, indem der Erfahrungsbericht, der in diesem Handout Teilzeit plastisch machen soll, von einem in Teilzeit arbeitenden Mann stammt: 192 Daneben sind Faktoren wie die vertikale Segregation – die hierzu in einem Wechselverhältnis steht (s.u.) – und die nach wie vor in Alltagsannahmen und -handeln verankerten Zuschreibung von Familienarbeit an Frauen von Bedeutung für die höhere Teilzeitquote bei Frauen. 193 Dies harmoniert mit der Einbettung auf der Webseite 2005 (vgl. Kap. 5.4) und im CR-Bericht. 194 Liest man nun die fünf Hemden als die fünf Arbeitstage einer Woche, so werden vier davon im Konzern und einer zuhause verbracht und/oder mit Freizeitaktivitäten verbunden. In einer anderen Interpretation ließen sich die Hemden stellvertretend für Arbeitskräfte lesen, dann wären ein Fünftel (20%) der Mitarbeiter freizeitorientiert, hervorstechend oder ungewöhnlich – das entspricht der Teilzeitquote im Konzern, die sich seit 1995 verdoppelt hatte. 195 Vgl. auch den Slogan zur Personalrekrutierung: „Profit-AGler – in der Regel die Ausnahme“.
9.1 „Zeit ist unser Leben“ – Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort
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„Ich habe festgestellt, dass durch die Verschiebung des Verhältnisses Arbeitszeit/Freizeit meine Lebensqualität gestiegen ist, und mit ihr auch meine Motivation zu arbeiten.“ (Flexibel Arbeiten 2002) Wie in diesem Erfahrungsbericht fallen auch in der weiteren Darstellung flexibler Arbeitszeitlösungen die Vorteile für Arbeitskraft und Arbeitgeber weitgehend in eins.196 Allerdings wird in der Gegenüberstellung von Freizeit und Arbeit, aus der hervorgeht, dass hier nicht per se eine hohe Arbeitsmotivation vorliegt, der Wert dieser Arbeitskraft für die Organisation ein Stück weit geschmälert, eine Freizeitorientierung kann somit einer Karriereorientierung durchaus entgegengestellt werden.197 Dieses Verständnis zeigt sich in einem Zitat des damaligen Leiters der Personalabteilung, das der Thematisierung von Teilzeit vorausgeschickt wird: „Zeit ist unser Leben. Wie wir sie einteilen, wie wir unsere Zeit verbringen, das wird von uns selbst bestimmt, hängt aber auch von äußeren Faktoren ab. Arbeitszeit und freie Zeit stehen im Wettstreit. Es gibt oft gute Gründe sich für Teilzeit zu entscheiden. Sie brauchen mehr Zeit für sich selbst, für die Familie, möchten sich politisch oder sozial stärker engagieren oder wollen sich weiterbilden. So vielfältig wie die Gründe für Teilzeit sind auch die individuellen Teilzeitvarianten, die unsere Mitarbeiter in der Praxis leben.“ (ebd.) Zum einen werden Gründe als „vielfältig“ bezeichnet und als unvergeschlechtlichte Motive aufgeführt. Die Formulierung einer ‚bewussten Entscheidung‘ und die Aufzählung von verschiedenen Gründen wirken hier einer statistischen Diskriminierung von Frauen entgegen, der nach Frauen in einem bestimmten Alter Kinder bekämen und automatisch damit verbunden in Teilzeit gehen wollen, so dass eine Investition in sie nicht lohne. Stattdessen wird Familie(narbeit) ebenso wie Weiterbildung unter „freie Zeit“ subsumiert und von Arbeit unterschieden und nicht von einer Berufstätigkeit. Zum anderen gibt es aber nicht nur vielfältige, sondern „oft“ gute Gründe. Das bedeutet, dass in einer Gesamtmenge von Begrün196 Vgl. auch: „Flexible und ökonomisch sinnvolle Arbeitszeitregelungen sind für die Profit-AG ein wichtiges personalpolitisches Ziel. Denn unsere Mitarbeiter haben vermehrt den Wunsch nach Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Arbeitszeitgestaltung. Und die Ansprüche unserer Kunden an Qualität und Service steigen. Die Profit-AG nutzt deshalb die Chancen und Möglichkeiten flexibler Arbeit und bietet sie ihren Mitarbeitern an“ (Flexibel Arbeiten 2002). In allen Interviews teilzeitarbeitender Vätern in der Hauszeitschrift wird betont, dass die Lebensqualität gestiegen sei. 197 Die hier konstatierte Doppelbödigkeit zeigte sich auch in einem Artikel der Hauszeitschrift 3/2004 über einen in Teilzeit arbeitenden Vater im Rahmen des auf sechs Seiten behandelten Titelthemas „Diversity“ und in einem Artikel eines bundesdeutschen Nachrichtenmagazins, der ‚aktive Vaterschaft’ auch anhand der Profit-AG darstellte unter dem Titel „Lieber bei Linda“.
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9. „Da sind wir auch ein bisschen Gutmensch“
dungen differenziert wird zwischen verschiedenen Qualitäten: „oft gute“, in den übrigen Fällen nur mäßige oder gar schlechte. Durch die Bewertung kommt das Thema Teilzeit in den Horizont eines Legitimierungsbedarfs des Verhaltens: So kann sich hieran anschließen, dass als schlecht bewertete Motive illegitim im organisationalen Kontext erscheinen.198 Einer Vorstellung, dass Teilzeit auf mangelnde Karriereorientierung hinweise, wird also eher zugespielt, als entgegen gewirkt, indem nur diejenigen angesprochen werden, die vorrangig der Freizeit die Qualität von Lebenszeit zuschreiben und sich nicht primär in der Berufsarbeit erfüllt sehen. Durch die Differenzierung zwischen ‚guten‘ und ‚anderen‘ Gründen wird dies noch verstärkt. Mit der Marginalisierung von Familienarbeit über die Gleichsetzung mit Freizeit wird Vereinbarkeit entproblematisiert. Das wirkt einerseits einem Selbstläufer entgegen, dass Personen mit Kindern ein Vereinbarkeitsproblem zugeschrieben wird, andererseits verstärkt es den Legitimationsbedarf. Ende 2004 sind 20,1% aller Arbeitskräfte des Konzerns in Teilzeit beschäftigt (3% der männlichen). Teilzeit ist somit ‚gelebter‘ Bestandteil organisationaler Arbeitszeitregelungen, allerdings zeigte sich im Alltag, dass sie als begründungsbedürftig gilt. So wurde beispielsweise in einer ‚Stammtischrunde‘ des Homosexuellennetzwerks eine Frau von jemanden auf ihre Erzählung, dass sie Teilzeit arbeite, ganz selbstverständlich nach dem ‚Warum‘ gefragt – bei denjenigen, die in Vollzeit arbeiteten, wurde diese Frage nicht gestellt.199 Diese Begründungspflicht weist darauf hin, dass noch keine Selbstverständlichkeit implizit ist, entsprechend noch keine Institutionalisierung vorliegt, sondern Teilzeit als ein „significant cultural pattern“ (Jepperson 1991: 150) zu verstehen ist, das neben der institutionalisierten Vollzeit besteht. Schon durch die Bezeichnung „Teilzeit“ oder „Arbeitszeitreduktion“ wird Teilzeit als unvollständige Arbeitszeit gekennzeichnet. Dies spiegelte sich auch im Arbeitsalltag wieder: Frau Braun hatte den Urlaubsplan gemacht und an Frau Maier gemailt. Die hatte ihn dann an Herrn Kienzle weitergeleitet. Herr Kienzle meinte: „Echt?! Frau Braun hat schon den Urlaubsplan für dieses Jahr gemacht?! Also ich muss sagen, ich find das schon sehr beeindruckend, was die da alles so schafft in diesen drei Tagen, die sie da ist!“ (Woche 3; Dienstag) 198 Daraus können sich formale oder informelle Folgen ergeben, z.B. dass eine formale Bewilligung oder Ermöglichung einer Teilzeittätigkeit durch Anpassung der Stelle nicht erfolgt, es informell sanktioniert wird und/oder als Mangel an Einsatzbereitschaft gewertet wird und dies Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Leistung, die Teamintegration, bei Beförderungen etc. hat. 199 Sie lieferte auch prompt eine legitime Erklärung: eine privat bezahlte, aber durchaus berufsrelevante Weiterbildung.
9.1 „Zeit ist unser Leben“ – Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort
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Die Besonderung der Arbeitsleistung Brauns durch Kienzle verweist auf seine Erwartung: Seine Erwartung orientiert sich aber nicht an dem Arbeitspensum Brauns, z.B. dass er bemerke, dass sie neben all ihren Tätigkeiten auch noch den Urlaubsplan gemacht hat, sondern an ihrer reduzierten Arbeitszeit. Statt diese als ihre vollständige Arbeitszeit zu verstehen, entsprechend dessen, dass ja auch das vertraglich festgelegte Arbeitspensum angepasst ist an die Arbeitszeit, knüpft Kienzles Erwartungshaltung an Teilzeittätigkeit eine geringere Leistungsfähigkeit. In der vermeintlichen Anerkennung ist auf diese Weise eine Marginalisierung von Brauns Leistungen enthalten. Entsprechend eines solch gleichzeitig integrierenden und marginalisierenden Verständnisses wurde Teilzeit auch in Bezug auf Führung verstanden:200 I: „Sie haben auch das Beispiel genannt von Personen, die in den Erziehungsurlaub gehen. Inwiefern würden Sie sagen, ist das Engagement, das Commitment von Personen, die aus dem Erziehungsurlaub kommen oder in ihn hineingegangen sind, die Teilzeit machen, die Telearbeit in Anspruch nehmen, sehen Sie da Differenzen zu den Vollzeitkräften, die permanent vor Ort sind?“ Thieme: „(5, Räuspern, 3) Nein, sehe ich eigentlich keine Unterschiede, auch nicht unter…- also das ist nicht unterschiedlicher als bei den Vollzeitkräften, die man hat, das liegt einfach für meine Meinung an der persönlichen Einstellung, die man hat, da sehe ich- da da kann ich aus gutem Gewissens sagen, da sehe ich keine Unterschiede. Das ist letztlich in der Teilung gleich und dort gibt es Menschen, die haben eine etwas progressivere Einstellung zu der Arbeitsleistung, und zum- damit Commitment zu der Aufgabe, die sich ihnen stellt und es gibt andere, die sind da nicht so proaktiv, aber das unterteilt sich jetzt nicht klassisch stärker in den Teilzeitbereichen und weniger in den Vollzeitbereichen, nein das kann ich an der Stelle absolut nicht sagen. [I: mhm] (2) Es ist natürlich, das muss man glaub ich auch sehen, es wird schwierig sein ne Topmanagementposition als Teilzeit zu erreichen. Dafür stehen für meine Begriffe unser, unser Führungsverständnis steht dafür nicht. Aber das ist jetzt nichts Profit-AGspezifisches, sondern unternehmensspezifisches weltweit. Also ich kann mich jetzt an kein Beispiel erinnern, in dem jemand in Topführungsposition tatsächlich Teilzeit arbeitet, also das wäre eher so ein Faktor, der karrierehindernd würde um Topposition zu erreichen. Also das hat jetzt nichts da200 So formuliert auch ein in Teilzeit arbeitender Vater in der Hauszeitschrift Profitables: „Teilzeit klappt dort recht gut, wo die Leute nicht in Führungspositionen arbeiten. Sobald man jedoch in höhere Führungsebenen kommt, so mein Eindruck, ist eine Teilzeittätigkeit schon schwieriger. Der Karriereknick ist vorprogrammiert“ (5/2001).
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9. „Da sind wir auch ein bisschen Gutmensch“
ran, also dass das ein Makel an der Person wäre, sondern das hat ja irgendetwas daran zu tun auch wie ich meine persönlichen Schwerpunkte setze. Wenn ich sage, ich möchte in den Vorstand, da habe ich von vorneherein andere Schwerpunkte gesetzt, ich glaube, da wird sich das Thema Teilzeit gar nicht mehr stellen.“ I: „Mhm. Wie ist es (...) auf den unteren Führungsebenen?“ Thieme: „Auf den unteren Führungsebenen kann ich mir das durchaus vorstellen. Wird heute noch nicht gelebt, (1) wird heute noch nicht gelebt. Also, hab jetzt auch nicht – muss da auch mal nachdenken, ne ich hab da jetzt nicht ein Beispiel, das wir jetzt- dass ich hier anführen könnte, dass wir da jetzt jemanden hätten, der wirklich hier auf Teilzeitebene tätig ist. (1) Also bin ich (2), bin ich versucht zu sagen, das ist etwas, dass ich mir das vorstellen kann, dass das auch funktionieren kann. Also das kommt aber natürlich auch darauf an, welche Aufgabenstellungen es jetzt letztendlich sind. Funktionieren kann’s, bin ich felsenfest von überzeugt; wird nicht funktionieren mit ner 25% Stelle, aber durchaus kann ich mir vorstellen, dass jemand, der nur 80% arbeitet, damit ne vier-Tage- statt ne fünf-Tage-Woche erlebt, durchaus auch in Teamleiterfunktion, keine Frage, kann ich mir durchaus vorstellen.“ (Interview Thieme; Führungsebene 2) Thieme reproduziert in seiner Antwort zunächst das Bild von Teilzeitkräften, wie es in der Hauszeitschrift seit Ende der 1980er Jahre produziert wurde, als gleichermaßen engagiert im Beruf (vgl. Kap. 6.2: „Niemals halbherzig bei einer Sache zu sein“). Mit dem ‚Extrembeispiel‘ der Vorstandstätigkeit reduziert er dieses Engagement dann, da an dieser Stelle auch in seinem Verständnis Karrieremotivation und Teilzeit auseinanderdriften (vgl. „da habe ich von vorneherein andere Schwerpunkte gesetzt, ich glaube, da wird sich das Thema Teilzeit gar nicht mehr stellen.“). Im dritten Schritt wird – gleichzeitig sowohl verhalten und vorsichtig formuliert (vgl. „bin ich versucht zu sagen“) als auch unerschütterlich und proklamatorisch (vgl. „bin ich felsenfest von überzeugt“) – ein Mittelweg in einer geringen Arbeitszeitreduktion und einer geringen Verantwortungsübernahme gefunden. Dass Teilzeittätigkeit nicht im Topmanagement möglich sei, wird von Thieme dabei explizit von der Profit-AG abstrahiert, Teilzeittätigkeit im unteren Management (zumindest im Versuch) an die Profit-AG gebunden. Die obigen Versuche einer Normalisierung und einer regelrechten ‚ProfitAGisierung’ von Teilzeit erscheinen also sowohl in der schriftlichen Fixierung von Regelungen als auch im Alltagsverständnis vorhanden aber brüchig.
9.2 „da sind wir auch ganz gut unterwegs“ – Angebote für Eltern
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9.2 „da sind wir auch ganz gut unterwegs“ – Angebote für Eltern Ende 1989 wird als „Teilbereich zum Thema Frauenförderung“ (Profitables 2/1990) eine Betriebsvereinbarung auf den Weg gebracht, die die zum 1.6.1990 in Kraft tretende gesetzliche Verlängerung des Erziehungsurlaubs von 15 auf 18 Monate noch mit weiteren 24 Monaten aufstockt.201 Wichtigster Aspekt dieser Betriebsvereinbarung ist die Anbindung derjenigen, die Erziehungszeit in Anspruch nehmen, an den Konzern und vor allem an den Arbeitsplatz über die Finanzierung von Weiterbildungen sowie durch das Angebot Krankheits- und Urlaubsvertretungen zu übernehmen.202 Zur Kontaktpflege wird ein „Infopaket“ zusammengestellt, hierzu wird eine zweimonatig erscheinende Infoschrift über Veränderungen im Konzern namens „Comeback“ herausgegeben, die Namensgeberin für die 1992 erfolgende Reform der Betriebsvereinbarung ist.203 Der Name vermittelt nicht nur den Wunsch des Konzerns die Angestellten in Elternzeit wiederzugewinnen (‚Come back!‘), sondern auch dass nach der Rückkehr in den Beruf an alte ‚Hits‘ angeknüpft werden kann, also eine (mindestens) ebenso erfolgreiche berufliche Laufbahn wie zuvor möglich ist: Eine Unterbrechung bedeutet demnach gerade nicht „den Karrieretod“ (Mareike Braun, Beobachtungsprotokoll; vgl. 7.5). Die heute noch gültige Fassung des Wiedereingliederungsprogramms ist von 1998, die zwei Veränderungen gegenüber der vorigen enthält: Zum einen sind die Zusatzleistungen, die während des Erziehungsurlaubs weiter gewährt werden, nun von einem Wiedereinstieg unabhängig. Zum zweiten wird der möglichst schnelle Wiedereinstieg bei denjenigen, die ihn wünschen, durch spezielle Angebote unterstützt. Im Zentrum steht, dass ab dem zweiten Jahr der Elternzeit Arbeitseinsätze in begrenztem Umfang stattfinden in Form von Urlaubs- und Krankheitsvertretungen.204 Ende 2004 befinden sich 13,7% der Mitarbeiterinnen in Mutterschutz205 201 Bei der Bestandsaufnahme nach einem Jahr nehmen 111 Frauen und 1 Mann daran teil. Während die Zahl der Frauen kontinuierlich steigt, nimmt auch fünf Jahre später nur ein Mann an diesem Programm teil. Weitere 10 Jahre später (2005) ist die Anzahl der Männer zweistellig. 202 Zur Anbindung gehören auch die Förderung von Kontakten, z.B. durch Einladungen zu Betriebsveranstaltungen, und finanzielle Vorteile, z.B. der Verbleib in der Betriebsversicherung. 203 Diese Reform ist eine Reaktion auf die Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes 1992, nach der die Elternzeit noch einmal verlängert wurde auf drei Jahre (die von der Profit-AG bereits überschritten wurde) und der Bezug des Erziehungsgeldes von sechs auf 24 Monate. Vom Konzern wird nun ein viertes Jahr Elternschaftsurlaub angeboten. 204 Für eine Kinderbetreuung während der Arbeitseinsätze übernimmt die Organisation 50% der Kosten. Notwendige Weiterbildungsmaßnahmen werden während der Elternzeit angeboten und als Arbeitszeit vergütet. Bei Nachweis des Führungspotentials können auch während der Elternzeit formale Qualifikationen für Führungsaufgaben erworben werden. 205 Daten, aus denen der gesetzlich vorgeschriebene Mutterschutz heraus gerechnet wurde, liegen leider nicht vor. Insofern können diese Zahlen nur begrenzt interpretiert werden hinsichtlich der Teilnahme am Wiedereingliederungsprogramm.
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oder Elternzeit, davon übernehmen 14,3% Arbeitseinsätze. Unter den männlichen Arbeitskräften sind 0,16% in Elternzeit, drei Viertel von ihnen mit einem solchen begrenzten Arbeitspensum. Das Wiedereinstiegsprogramm kann sich so durchaus ‚rechnen‘, da bei den Arbeitseinsätzen z.B. gegenüber ZeitarbeiterInnen Einarbeitungszeit entfällt. Die Rückkehrquote erscheint relativ hoch: Im Zeitraum 20022004 wurden Abgänge von Beschäftigten in Elternzeit verzeichnet, die im Vergleich zu den Ende 2004 in Mutterschutz und Elternzeit befindlichen 43% dieser ausmachen würden, was, wenn dieser Zeitraum von zwei Jahren die durchschnittliche Ausstiegsdauer wäre, eine Rückkehrquote von 70% bedeuten würde.206 In der Praxis kann die Wiedereingliederung sehr unterschiedlich verlaufen, so wurde in einem Interview erzählt, dass der Vorgesetzte, um eine ‚saubere‘ Statistik bei der Stellenstreichung vorweisen zu können, mit ‚unsauberen‘ Mitteln die Interviewte vom Wiedereinstieg abzuhalten versuchte.207 In einem anderen Interview dagegen erzählte eine Frau, dass sie nach selbstgewählter 15jähriger Unterbrechung problemlos in die Sachbearbeitung zurückkehren konnte und mittlerweile in eine Teamleitung aufgestiegen ist. Im Dezember 1991 fand eine Podiumsdiskussion zu einem Betriebsbeitrag zur Kinderbetreuung statt, zu der der Betriebsrat einlud. An der Diskussion nahmen u.a. der Leiter der Personalabteilung, VertreterInnen von Betriebsrat, der zuständigen Gewerkschaften und des Deutschen Jugendinstituts teil, sowie Eltern, vorwiegend Mütter, die im Konzern arbeiten. Als Ergebnis dieser Diskussion wurde festgehalten, dass ein betriebseigener Kindergarten aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse der Eltern nicht realisierbar erschien. Stattdessen wurde 1995 eine Betriebsvereinbarung zur Kinderbetreuung verabschiedet, bei der die Betriebsstätten ein Budget erhalten, mit dem sie Kindergartenplätze oder Tagesmütter für die Kinder ihrer MitarbeiterInnen bezuschussen, Belegrechte in Kindergärten und Kindertagesstätten erwerben, Elterninitiativen fördern, oder mit anderen Firmen vor Ort gemeinsame Kindertagesstätten finanzieren können.208 1999 wurde am Standort der Zentrale eine Einrichtung zur Kinderbetreuung in Ausnahmefällen 206 Konkrete Wiedereinstiegsquoten liegen nicht vor. Es kann jedoch vermutet werden, dass die Quote höher liegt als die sich aus den vorliegenden Zahlen ergebenden 70%, da vermutlich der Anteil der Personen, die weniger als zwei Jahre in Elternzeit und Mutterschutz sind, höher liegen dürfte als derjenigen, die auch das dritte Jahr nutzen. 207 Der Chef wurde als insgesamt frauenfeindlich und dabei als Ausnahme unter den Führungskräften dargestellt. Dass sie letztlich trotz Mobbingandrohung doch zurückkehrte, lag an der Intervention Zagermanns: „dem war das mittlerweile über Kollegen zu Ohren gekommen und der hat mich angerufen, sachte, ich würde Ihnen ne Stelle bei mir anbieten, wollen Sie das?“ (Interview Braun). 208 Auf welche Weise die jeweilige Betriebsstätte das Budget einsetzt, ist ihr überlassen. Grundsätzlich gilt, dass die Entscheidung für bestimmte EmpfängerInnen „unter der Berücksichtigung der sozialen Situation der Mitarbeiterin bzw. des Mitarbeiters [erfolgt]. Alleinerziehende werden dabei bevorzugt berücksichtigt“ (Betriebsvereinbarung Kinderbetreuung; Stand 2000). Zudem wird ein Angebot eines externen Dienstleisters unterstützt, der u.a. Kinderbetreuung vermittelt.
9.2 „da sind wir auch ganz gut unterwegs“ – Angebote für Eltern
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geschaffen („ProKids“; später „ProKids Backup“). Kinder im Alter zwischen einem und 12 Jahren konnten dort bei Ausfall der üblichen Betreuung, oder wenn von den MitarbeiterInnen Termine außerhalb der geregelten Betreuungszeiten wahrgenommen werden müssen, in Obhut gegeben werden. Bis 2006 wurde die Notfallkinderbetreuung ausgedehnt auf weitere elf Standorte sowie auf Öffnungszeiten von 6 bis 22 Uhr und das Betreuungsalter wurde auf sechs Wochen heruntergestuft. 2005 wurde am Standort der Zentrale eine reguläre betriebseigene Kindertagesstätte eröffnet. Im beobachteten Arbeitsalltag spielten diese Einrichtungen keine Rolle. Wie aber in Kap. 5.8 gezeigt, hat unternehmenseigene Kinderbetreuung neben der praktischen Bedeutung für Eltern, die sie nutzen, vor allem auch eine wichtige symbolische für die Organisation: „Und dann gibt es natürlich ein Thema, wo wir in Deutschland doch sehr darunter leiden, dass wir wenig, wenig günstige Lösungen anbieten für Frauen, Berufe, anspruchsvolle Berufe und anspruchsvolle Karriere mit Familien zu vereinbaren. (...) Nun können Sie natürlich auch einwenden, es gibt ja auch Männer, die zuhause bleiben können, ja natürlich gibt’s die, die haben wir auch in der Profit-AG, wir haben auch Männer, die sich auch dazu bekennen, und in unserer Betriebszeitung sich mit, mit, mit Foto und Interview dazu stellen, was ich durchaus gut finde, aber das Angebot ist immer noch zu gering und das ist einer der Gründe, warum sich der Vorstand der Profit-AG entschlossen hat, jetzt zu beginnen mit Kinderkrippe und Kindergarten ä von sieben Uhr morgens bis 19 Uhr abends um den berufstätigen Müttern, die bei uns tätig sind, diese ja oft sehr sehr schwierige familiäre Situation zu erleichtern, sie managebar zu machen. [I: mhm, mhm] und da sind wir auch ganz gut unterwegs. Da sind wir auch ein bisschen Gutmensch! Das tun wir tatsächlich auch, weil wir sehen, dass unsere Frauen in einem Dilemma stecken, ä aus dem … da können wir nicht warten bis der Staat hilft.“ (Interview Vorstandssprecher Jansen) Die Notfallbetreuungseinrichtung erbrachte nach einer Evaluationsstudie des Konzerns im Jahr 2003 einen Nettovorteil von mindestens 140.000 Euro. Obwohl die Studie also belegt, dass es sich für den Konzern finanziell lohnen kann, in Kinderbetreuung zu investieren, bezeichnet Jansen den Vorstand hier als „ein bisschen Gutmensch“, während er Gleichstellungspolitik zuvor als ‚rational’ darstellt (ohne dass hierfür Belege existierten; vgl. 5.7). Die Einrichtung der Kinderbetreuung wird auch nicht als ein kleiner (zusätzlicher) Service des Konzerns für einige wenige Angestellte dargestellt, sondern als Vorstandsbeschluss. Die Einrichtung wird so ein Stück weit zu einer grundsätzlichen Frage der Profit-AG und ihrer strategi-
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schen Ausrichtung erklärt (vgl. „und da sind wir auch ganz gut unterwegs“). Dies hängt zum Einen damit zusammen, dass es auch hier um karriereorientierte Frauen geht (vgl. „anspruchsvolle Karriere“). Vor allem aber wird hier darüber entschieden, ob die Organisation Aufgaben übernimmt, die Jansen dem Staat zuschreibt. Der Vorstandsbeschluss zu einem (bisschen) ‚Gutmenschentum‘ bezieht sich somit auf die Einbindung als ‚corporate citizen’ (vgl. Kap. 5.8) in das gesellschaftliche Umfeld des Konzerns, wo man aktiv wird und ‚mit anpackt’.209 Die de facto nach wie vor Frauen zugeschriebene Zuständigkeit für Familienarbeit wird von Jansen mit vollzogen. Sie erscheint jedoch nicht unfraglich, sondern wird mit seiner rhetorischen Frage zugleich aufgebrochen. Hierbei wird die Norm jedoch reproduziert: Männer, die Familienarbeit leisten, sind hochgradig visible Tokens „mit Foto“. Die Artikel in der Hauszeitschrift, auf die sich Jansen hiermit bezieht, weisen in die gleiche Richtung wie die obigen Maßnahmen zu Teilzeit, Elternzeit, Wiedereinstieg, Väternetzwerk etc. in denen emanzipatorische Bestrebungen deutlich werden hinsichtlich der Übernahme von Familienpflichten durch Väter sowie (brüchige) Bestrebungen Teilzeit, Elternzeit etc. zu normalisieren und ‚Profit-AGisieren’. In Verbindung mit der Außendarstellung (in Interviews, Image-Film, CR-Bericht etc.) einer corporate citizenship, die gleichstellungspolitische Maßnahmen umfasst bzw. auch ins Zentrum stellt, zeigt sich, dass die Gleichstellungspolitik der Profit-AG auch ein Stück weit darauf ausgerichtet ist ‚nach außen‘ zu wirken im Sinne eines Motors gesellschaftlichen Wandels. 9.3 „Begleitung für den Weg aufwärts“ – Mentoring Formal geregeltes Mentoring als Teil organisationaler Gleichstellungspolitik wird in der Profit-AG in Form bundesweiter und regionaler Cross-MentoringProgramme betrieben. 1998 wurde am Standort der Zentrale ein Zusammenschluss des Konzerns mit drei weiteren großen deutschen Unternehmen ins Leben gerufen, in dem 2005 insgesamt acht Organisationen als bundesweites Cross-MentoringProgramm verbunden sind. Zum Cross-Mentoring bewerben sich junge Frauen, die eine erste Führungsaufgabe oder eine entsprechende Spezialistinnenfunktion übernommen haben, oder werden (z.B. vom Vorgesetzten) hierfür vorgeschlagen.210 Als MentorInnen stellen sich Führungskräfte der höheren Ebenen zur Verfügung. In der Profit-AG nehmen jährlich ca. 10-15 Mitglieder des Vorstands, der ersten 209 Dies bestätigt noch einmal den deutlichen Kontrast, wie er in Kap. 5.9 vorgestellt wurde, zwischen denjenigen Organisationen, die entsprechend der BDA-Broschüre und der Vereinbarung (2001) nur reagieren, und denjenigen, die best practice zeigen, d.h. aktiv werden (vgl. Kap. 5). 210 Die beteiligten Unternehmen dürfen bis zwei Jahre nach Abschluss des Mentorings die Mentees nicht abwerben. Eine besondere Wertschätzung der Fähigkeiten der Mentee wird also antizipiert.
9.3 „Begleitung für den Weg aufwärts“ – Mentoring
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oder der zweiten Führungsebene als MentorInnen und gleich viele Mentees am Cross-Mentoring-Programm teil. Das einjährige Mentoring wird durch verschiedene Veranstaltungen gerahmt. Mentee und MentorIn treffen sich erstmalig bei der Auftaktveranstaltung und erhalten dort bereits Gelegenheit sich kennen zu lernen und Termine zu vereinbaren. Die Treffen von MentorIn und Mentee sollen alle vier bis sechs Wochen stattfinden. Nach sechs Monaten gibt es wiederum eine Veranstaltung mit allen Mentees und MentorInnen, dort soll „Zwischenbilanz“ gezogen werden (Cross-Mentoring Handout März 2004). Der Zyklus endet mit einer Abschlussveranstaltung. Zusätzlich werden den Mentees während dieses Jahres zwei Seminare zu Themen „rund um die persönliche und berufliche Entwicklung“ (ebd.) angeboten. In Heft 1/1999 der Hauszeitschrift Profitables wird das Cross-Mentoring Programm der internen Öffentlichkeit unter dem Titel „Mentoring für Frauen: Begleitung für den Weg aufwärts“ (ebd.) vorgestellt. Die Tätigkeit im Konzern wird hier über die berufliche Entwicklung und nicht über Arbeitsplatz/Stelle beschrieben. Dieser Werdegang kennt nur eine Richtung (vgl. „aufwärts“), ist somit vorgezeichnet und muss nur noch beschritten werden. Hierfür bedarf es keiner Hilfe oder eines ‚Transportmittels’ wie einer Seilschaft, sondern nur einer Begleitung. Das Bild, das durch den Titel also gezeichnet wird, vermittelt so Selbständigkeit und Selbstverständlichkeit darin, den Karriereweg zu beschreiten. Förderungsbedürftigkeit von Frauen wird hier nicht hergestellt. Der Vortext des Artikels stellt zunächst dar, dass Mentoring bedeute, dass eine Begleitung einer Nachwuchsführungskraft durch eine erfahrene Führungskraft erfolgt. Anschließend zeigen sich Legitimierungen des Programms, indem erklärt wird die Idee des Mentorings greife „das Personalressort der Profit-AG auf, um ambitionierte Mitarbeiterinnen zu unterstützen“ (ebd.). Der Konzern wird so diachron (und im Folgenden mit Verweis auf „weitere namhafte Firmen“, die dieses Projekt gemeinsam mit der Profit-AG initiierten, synchron) in eine Reihe mit anderen gestellt und so Güte und Sinnhaftigkeit des Programms belegt. Das Aufgreifen einer per se existierenden Idee suggeriert hier, dass es sich um ein probates Mittel handele und nicht herumexperimentiert wird, was auf eine Legitimation mittels mimetischer Isomorphie hinweist.211 Die anschließende Frage „Warum testen wir ein spezielles Mentoring-Programm für Frauen?“ zeigt, dass die Geschlechtsexklusivität den Legitimationsbedarf herstellt. Sie wird zum Einen durch den Hinweis auf den nach wie vor geringen Frauenanteil in Führungsebenen bei gleichem Qualifikationsniveau beantwortet und zum Anderen wird erklärt, dass Männer sehr häufig Mentoren hatten/haben und Frauen Zugang zu Netzwerken selten fänden, 211 Vgl. hierzu die ebenfalls diskursive Herstellung von Konformität bei Wagner (vgl. Kap. 5.6). Für mimetische Isomorphie zur Einführung von Diversity vgl. Lederle (2008).
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aus denen solche Mentoring-Beziehungen „wachsen“.212 Defizite, die das Mentoring-Programm ausgleichen solle, werden hier nicht bei Führungsfähigkeiten von Frauen ausgemacht (auch nicht implizit), sondern in geschlechtsdifferierendem Netzwerken bzw. Zugängen zu Netzwerken.213 Eine Hochglanzbroschüre (Mai 2004), die auch im Intranet zum Download zur Verfügung steht und ein ausführlicheres Handout (März 2004) bieten Interessierten Informationen zu Mentoring unter dem Titel „Cross Mentoring – im Tandem voneinander lernen“. Im Vordergrund stehen hier die Beziehung und Bedürfnisse zweier Menschen: Mentee und MentorIn bilden nicht nur ein Gespann, sie sind auch auf einander angewiesen für ihr Vorwärtskommen, profitieren von einander als ein Team, das eine Abstimmungsleistung erfordert und eine gemeinsame Richtung verfolgt. Mentoring kennt also nicht nur eine Richtung („aufwärts“; Profitables 1/1999), sondern individuell von den Beteiligten des Gespanns vereinbarte Wege und Ziele. Mentoring ist in dieser Konzeption nicht primär als ein Instrument der Gleichstellungspolitik dargestellt, sondern als Angebot zur Weiterentwicklung für beide Seiten. Die Auswahl der Mentees erfolgt anhand ihres Lebenslaufs und eines persönlichen Gesprächs. Kriterium ist in erster Linie das ausgewiesene Führungspotential. Die MentorInnen müssen eine langjährige Führungserfahrung aufweisen, darüber hinaus sollen sie über „interessante Kontakte“ und vor allem Offenheit verfügen (Interview Leibnitz; Zuständige im Diversity Team). Entscheidender Faktor für die Auswahl ist letztlich das „Matching“ (Interview Leibnitz). MentorInnen und Mentees werden nicht nur nach räumlicher Nähe einander zugeordnet, sondern auch nach der „Chemie“ (ebd.). Das Handout nennt als Nutzen für MentorInnen vor allem neue Impulse und Möglichkeiten zur Selbstreflexion durch die Perspektive der Mentee zu erhalten. Laut Leibnitz ziehen die MentorInnen die Erkenntnis, dass sie von den jungen Frauen lernen können, erst aus dem Mentoringprozess. Der Motivation für die Teilnahme dienten eher die Aussichten, Einblicke in ein anderes Unternehmen zu erhalten, und vor allem, die eigenen Erfahrungen und Erfolge mit jemandem teilen zu können.214 Die MentorInnen signalisieren i.d.R. anschließend auch Interesse an 212 Eine dritte Legitimationsstrategie ist wieder der Verweis auf den Nutzen für die Organisation: „Wer profitiert von diesem Programm? Wir sind der Meinung: alle Beteiligten! (...) Und der Profit-AG werden mehr Frauen in Fach- und Führungspositionen zu mehr Erfolg verhelfen – denn dieser hängt vom engagierten Mitwirken aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ab“ (1/1999). 213 Vgl. kontrastiv Kaiser-Belz‘ Studie (2008): „Das in allen Feldern zum Ausdruck gebrachte Unbehagen gegenüber der geschlechtsspezifischen Förderung kann als Ausdruck dafür gelten, dass (…) Maßnahmen mit dem Label ‚für Frauen‘ (…) als Qualifikationsbedürftigkeit von Frauen ausgelegt wird“ (ebd.: 254) und nicht z.B. als ‚Gegenmittel‘ zu ungleichheitsfördernden Strukturen. 214 „dass ich mich wertgeschätzt fühle, wenn jemand anderes von meinen Erfahrungen und von meinen Erfolgen auch profitieren kann, indem ich darüber erzähle“ (Interview Leibnitz).
9.3 „Begleitung für den Weg aufwärts“ – Mentoring
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einer zweiten Runde teilzunehmen. Leibnitz rekrutiert jedoch in jeder Runde neue Führungskräfte, um möglichst viele in dieses Programm einzubeziehen, „weil ich glaube, dass das die Unternehmenskultur in der Profit-AG schon beeinflussen kann“ (Interview Leibnitz). Die Aufgaben der MentorInnen wirken alle auf eine konkrete Karriereplanung hin.215 Aufgaben der Mentees und der Nutzen für sie werden komplementär zum Profil der MentorInnen beschrieben, so z.B. wird Kritikfähigkeit erwartet und sie sollen „konkrete Maßnahmen der Weiterentwicklung mit ihrem Mentor bzw. ihrer Mentorin erarbeiten und eigeninitiativ umsetzen“ (Handout März 2004). Die Ausrichtung des Mentorings ist damit recht konkret vorgegeben, zum Einen in Hinsicht auf Zielsetzung, zum Anderen wie diese zu erreichen sei. Nur vage Formulierungen, die weiten Interpretationsspielraum ließen und in dieser Form keine handlungspraktische Anleitung böten, was auf eine rein symbolisch angelegte Funktion des Cross-Mentoring-Programs hinwiese, finden sich hier nicht.216 Am Ende der Broschüre wird noch einmal, wie bereits im Profitables-Artikel 1999, Stellung genommen zu diesem Programm, unter dem Titel „Warum Mentoring uns wichtig ist!“: „Die jahrelangen Erfahrungen mit Cross-Mentoring haben uns gezeigt, dass es den Dialog zwischen Generationen und Hierarchien fördert und andere Unternehmenskulturen transparent macht. Diese Vergleichsmöglichkeiten helfen jungen Führungskräften dabei, eigene Wege zu finden und neue Impulse zu entwickeln. (...) Nicht zuletzt ermöglicht uns die enge Zusammenarbeit mit den anderen teilnehmenden Unternehmen einen regelmäßigen Austausch zum Thema ‚Frauen in Führungspositionen‘. Und wir sehen, wo wir im eigenen Unternehmen leistungsfähige und kompetente Frauen haben, die Karriere machen wollen.“ (Broschüre Mai 2004) Die MentorInnen und Mentees sind hier AkteurInnen des Konzerns, die den Dialog zwischen Generationen und Hierarchien führen und Einblicke in Unternehmenskulturen erhalten. Vorteile für den Konzern werden mit den Vorteilen für Mentees und MentorInnen in einem benannt und verwischen sogar zum Teil. Eine dritte Akteursgruppe, die ebenfalls zu AkteurInnen der Organisation(en) zu zählen
215 Z.B. „- die Mentee zu ermutigen, an vielversprechenden Projekten teilzunehmen bzw. Aufgaben wahrzunehmen, die ihre Sichtbarkeit im Unternehmen, insbesondere für wichtige Entscheidungsträger, erhöhen, (...) - die Mentee darin zu unterstützen, realistische kurzfristige und langfristige Karriereziele zu entwickeln und mit ihr gemeinsam Teilschritte zur Erreichung der Ziele zu erarbeiten.“ (Handout März 2004) 216 In den Interviews mit MentorInnen zeigte sich ein großes Spektrum von einer Reduktion des Mentorings auf die Lösung zukünftig möglicherweise sich ergebender Vereinbarkeitsprobleme bis hin zur gemeinsamen Herausarbeitung frauenbenachteiligender Faktoren.
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ist, ist die ‚Wir’-Gruppe in diesem Artikel, dies sind die Verantwortlichen für Gleichstellungspolitik. Ihre Vorteile sind recht konkret Vorteile für die Organisation: Ihnen bietet das Cross-Mentoring die Möglichkeit gleichstellungspolitisches Engagement mit anderen Unternehmen abzugleichen. In der Organisation kann so auch abgesichert werden, dass sie nicht weniger, aber auch nicht unnötig mehr, nicht erfolgloser, aber auch nicht ‚übers Ziel hinaus‘ Maßnahmen anbieten. CrossMentoring bietet so die Möglichkeit in einer Abstimmung mit anderen Organisationen auch das Leitbild ‚richtiger‘ Gleichstellungspolitik zu konturieren. Die Mentees werden in diesem Abschnitt der Broschüre zum Einen als „Führungskräfte“ bezeichnet, von denen sich damit durch dieses Programm, aber unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit, mehr als nur ‚gute Führung‘, nämlich Innovationspotential erhofft werden kann (vgl. „neue Impulse zu entwickeln“). Dies wird etwas eingeschränkt, indem die Mentees als Zielgruppe von Gleichstellungspolitik (vgl. „‘Frauen in Führungspositionen‘“) und damit als Frauen eingeführt werden, wobei Sichtbarkeit weiblichen Führungsnachwuchses hergestellt wird (vgl. „wir sehen“). Durch den Zusatz „die Karriere machen wollen“ wird eine Karriereorientierung bei diesen ‚leistungsfähigen und kompetenten‘ Frauen nicht selbstverständlich vorausgesetzt. Karriereorientierte und karriereträchtige Frauen werden in diesen Formulierungen auch zu einer Minderheit erklärt. Im Gegensatz bspw. zu einer Quote verbleibt Frauenförderung qua Mentoring auf der Ebene nur Voraussetzungen für Gleichstellung zu schaffen. Diese Voraussetzungen sind wiederum nicht primär in der Organisation bzw. in organisationalen Strukturen, sondern bei Frauen verortet, indem über das Mentoring-Programm die Voraussetzungen für die gleichen Aufstiegsmöglichkeiten an die Befähigungen von Frauen gekoppelt werden. Nicht primär, aber daneben zielt das MentoringProgramm auf die Veränderung organisationaler und nicht nur personaler Voraussetzungen für Aufstiegsmöglichkeiten bzw. -begrenzungen von Frauen, denn Publikation über und Anlage des Mentoringprogramms zeigen, dass a) informelle Zugangsbegrenzungen wahrgenommen werden und b) Führungskräfte über die Übernahme einer MentorInnenschaft zu einer Gleichstellungsorientierung und zu einer Sensibilisierung für Ungleichbehandlungen hin entwickelt werden sollen und damit eine Veränderung der Organisation angestrebt wird. 9.4 Gleichstellungspolitik, Frauenförderung und Familienfreundlichkeit Die Maßnahmen lassen sich danach untergliedern, worauf Gleichstellungspolitik hier abzielen soll. So lässt sich Mentoring (ebenso die 2005 nicht mehr stattfindenden Seminare für Frauen) als Frauenförderungs-Maßnahmen verstehen. Wie anhand Mentoring gezeigt, unterliegt diesem aber nicht ein Bild von Frauen als defi-
9.4 Gleichstellungspolitik, Frauenförderung und Familienfreundlichkeit
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zitären Arbeitskräften,217 sondern das Verständnis einer grundsätzlich gleichen Eignung für und auch einer grundsätzlich gleichen Ausfüllung von Führungsfunktionen. Sie sind keine anderen Führungskräfte und werden deshalb auch als „Führungskräfte“ und nicht als „Führungskraft Frau“ (vgl. BDA-Broschüre; Kap. 5.2) thematisiert. Frauenförderung ist es aufgrund der Vorstellung, dass primär an Frauen angesetzt werden müsse, um Gleichstellung zu erreichen. Frauenfördernde Maßnahmen zielen darauf ab, den Frauenanteil in Führungsebenen zu erhöhen, wobei dem potentiellen Ziel, eine Besetzung von Führungspositionen entsprechend der demographischen Verteilung zu erreichen, durch den rhetorisch hergestellten Minderheitenstatus weiblichen Führungsnachwuchses – je nach Perspektive – ein Stück weit der Druck genommen oder das Wasser abgegraben wird. Die zweite Maßnahmengruppe besteht darin, ‚Vereinbarkeit‘ von Familie und Berufe zu unterstützen. Diese werden allerdings im Zuge der Entwicklung immer weniger zu den Maßnahmen der Frauenförderung gezählt (vgl. Kap. 6). Stattdessen zeigt sich, dass Teilzeit und Elternzeit als Elternthemen eingeführt wurden und im Laufe der Zeit der Schwerpunkt von Müttern auf Väter verlagert wurde (so auch im Väternetzwerk).218 Familienfreundlichkeit und Frauenförderung fallen also in der Profit-AG nicht in eins. Dies ist entscheidend, wie sich im Kontrast zur Studie Nentwichs (2004) zeigt. Sie konstatierte, dass durch die „Assoziation zwischen Kindern und Frauen“ Maßnahmen zur Familienfreundlichkeit mit „Frauenfreundlichkeit“ gleichgesetzt (ebd.: 296) und so Gleichstellung reduziert wird, da es die „‚weibliche‘ Teilzeitarbeit“, Familien- und Hausarbeit sei, die abgewertet werde „und das Gegenteil einer Karriere darstellt“ (ebd.: 297). Dadurch färbt das „hierarchische Verhältnis in einer heterosexuellen Paarbeziehung“ auf die Priorisierung männlicher (Berufs-)Arbeit über weiblicher (Familien-)Arbeit ab (ebd.: 297). Das Ungleichheitsverhältnis wird damit eher zementiert, als aufgeweicht. In der Profit-AG wird zum Einen dieser Übertragung eines hierarchischen Verhältnisses entgegengesteuert: Die Frauenförderung zielt darauf ab, die enge Kopplung von Frauenarbeit und Familienarbeit, sowie von Männerarbeit und Berufsarbeit infrage zu stellen und aufzubrechen. Damit verbunden wird (wie gezeigt: brüchig) versucht einer Hierarchisierung der Sphären entgegenzuwirken. Zudem werden Renaturalisierungen und Essentialisierungen, die in den Studien Belinszkis (2002), Nentwichs (2004) und Riegrafs (1993) an die selbstverständliche und un217 „Der Begriff der ‚Frauenförderung’ selbst gibt immer wieder Anlass zu Fehlinterpretationen, weil er Defizite der Frauen suggeriert, wo es um unausgewogene Verhältnisse und institutionelle Gewohnheiten geht, die Diskriminierung produzieren.“ (Knapp 2008: 165; vgl. auch Wetterer 2005). 218 Der Tenor der Maßnahmen entspricht den einführenden Worten Belz‘ zu einem Aktionstag, der 2001 zusammen mit dem BMFSFJ abgehalten wurde: „Genauso wie es uns gelungen ist, Vorurteile gegenüber beruflich erfolgreichen Frauen abzubauen, müssen wir nun mit Vorbehalten gegenüber familiär engagierten Vätern aufräumen“ (Belz; zit. nach Profitables 5/2001).
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hinterfragte Zuschreibung von Familienarbeit an Frauen geknüpft wurden, gerade nicht vollzogen. Die Betriebsvereinbarung gegen Mobbing, Diskriminierung und sexuelle Belästigung zielt auf eine Gleichbehandlung von Frauen und Männern ab, indem sie mittelbare und unmittelbare Diskriminierungen thematisiert und verurteilt, zu diesen auch sexuelle Belästigung zählt und damit eine weitere – neben der Arbeitsteilung – in das Geschlechterverhältnis eingelagerte Ungleichheitsdimension angeht. Direkt und indirekt wird dabei ein hierarchisches Verhältnis zwischen Männern und Frauen, das zu Marginalisierungen und Abwertungen von Frauen und letztlich zu einer Ausgrenzung aus bestimmten Bereichen und Positionen führen kann, antizipiert und in Angriff genommen. Indem weitere Achsen der Diskriminierung benannt werden und Mobbing (auch) ohne Bezug auf Geschlecht dargestellt wird, wird aber weder eine Omnirelevanz einer hierarchischen Geschlechterdifferenzierung suggeriert, noch werden stereotype Vorstellungen von Männern als Täter und Frauen als Opfer produziert oder abgerufen. Zusammengefasst erscheinen die konkreten Maßnahmen in mehrfachen Hinsichten zweigleisig zu fahren. Zum Einen zielt Gleichstellungspolitik nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer ab. Zum Zweiten wird nicht nur Frauen- bzw. Männerförderung betrieben, sondern auch an der Organisation angesetzt, indem vor allem eine Veränderung der ‚Unternehmenskultur‘ angestrebt wird. Bei der Betriebsvereinbarung gegen sexuelle Belästigung, Mobbing und Diskriminierung wird dies ins Zentrum gerückt,219 bei Maßnahmen zu Kinderbetreuung, Elternzeit und flexiblem Arbeiten wird dies über eine mehr oder weniger ausgeprägte ‚ProfitAGisierung‘ verfolgt, bei Cross-Mentoring wird dies als erwünschter Nebeneffekt verstanden, den es zu verstärken gilt. Zum Dritten wird Gleichberechtigung nicht nur im Bereich der Erwerbsarbeit, sondern auch im Bereich der Familienarbeit angestrebt, und damit in einem Bereich, der nicht zum Geschäftsbetrieb der ProfitAG zählt. Damit ist eine weitere ‚Zweigleisigkeit‘ verbunden: Zwischen Frauen und Männern in Berufs- und Familienarbeit Gleichberechtigung herzustellen, wird in den Maßnahmen als ‚selbstredend‘ vereinbar mit ökonomischen Zielen dargestellt. Dies bleibt jedoch darauf beschränkt, dass Gleichstellung ökonomischen Zielen nicht widerspricht, denn nicht ökonomische Zielsetzungen, sondern ein emanzipativer Ansatz tritt in den Vordergrund.
219 Die Betriebsvereinbarung deckt zudem den Bedarf einer (teilweisen) Legitimierung von Sexualität im Konzern ab und hat so einen symbolischen Wert für die organisationale Wirklichkeit.
10.1 „Unsere Frauenaktivitäten“
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10 „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“ – Bedeutung(en) des Frauennetzwerks
10.1 „Unsere Frauenaktivitäten“ Das derzeitige Frauennetzwerk der Profit-AG „Progress“ entstand Ende der 1990er Jahre aus einer kleinen Gruppe von Frauen im UBZ auf Anregung Zagermanns. Seine Mitarbeiterinnen gründeten zunächst ein abteilungsinternes Netzwerk, indem sie weitere Frauen in führenden Positionen dieser Abteilung anwarben. 1998 öffnete die nun 15 Personen umfassende Gruppe in Kooperation mit der damaligen Leiterin des Projekts „Konsens“ das Netzwerk für Frauen aller Abteilungen und hierarchischen Ebenen zunächst der Zentrale und letztlich bundesweit. Es umfasst verschiedene regionale Gruppierungen, die in Ortsverbänden und Gremien organisiert sind, denen gewählte Sprecherinnen vorstehen, die wiederum das Präsidium wählen. Dem Plenum ist es vorbehalten, die Satzung zu ändern oder das Netzwerk aufzulösen. Die Mitgliedschaft zum Netzwerk ist formal geregelt und auf Frauen, die in der Profit-AG angestellt sind, beschränkt. Hierbei wird zwischen aktiven und assoziierten Mitgliedern unterschieden. Beide Mitgliedschaften implizieren eine schriftliche Erklärung, die Satzung und Spielregeln des Netzwerks anzuerkennen. Aktive Mitglieder müssen eine Aufgabe entweder im Rahmen einer Funktion (Sprecherin, Präsidium etc.) oder in einer Arbeitsgruppe übernehmen, dürfen im Gegensatz zu assoziierten Mitgliedern jedoch an allen und nicht nur an „ausgewählten“ Veranstaltungen des Netzwerks teilnehmen (vgl. Progress Satzung). Im Jahr 2005 gehörten zu Progress 220 aktive Mitglieder. Netzwerken von Frauen wird also nicht einfach in bestehende (Männer)Netzwerke integriert, sondern in ein von diesen unabhängiges bzw. parallel zu diesen verlaufendes geschlechtsexklusives Netzwerk gefasst. Im Vergleich zum Schwulen/Lesben-Netzwerk verfügt das Frauennetzwerk mit seinen Regeln, den Vorgaben für Satzungen regionaler Gruppen und seinen ebenso formal geregelten Treffen über ein erheblich höheres Maß formaler Strukturiertheit. Es entspricht damit der formalen Strukturierung einer Organisation, statt der (Selbst)Strukturierung informeller Netzwerke zu folgen. 220 Die Bezeichnung „Frauennetzwerk“ 220 Ein Netzwerk lässt sich fassen als „structure composed of a set of actors, some of whose members are connected by a set of one or more relations” (Knoke/Yang 2008: 8). Sie sind grob von Organi-
K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
erscheint dementsprechend weniger als funktionelle Bezeichnung denn als Eigenname einer Organisation, in der Netzwerken weder der einzige noch der vorrangige Zweck sein muss: Die Gestaltung des Netzwerk(en)s ist so ein Stück weit geöffnet für Deutungen und Zuschreibungen hinsichtlich seiner Funktion(en), seines Nutzens für Mitglieder, Konzernöffentlichkeit bzw. Profit-AG und damit verbunden seines Stellenwerts für diese. Eine „Betreuung“ der Netzwerke obliegt dem Diversity Team (Interview Leibniz). Betreuung ist hier so zu verstehen, dass eine formale Anbindung ohne Weisungsbefugnis besteht. Die formale Anbindung an einen Organisationsbereich (hier: an die Personalabteilung) entspricht einer in Organisationen institutionalisierten Vorgehensweise Tätigkeiten in der Organisation zu verankern. Darüber hinaus hat Progress einen Schirmherrn aus dem Vorstand, der vom Präsidium des Netzwerks ausgewählt und angefragt wird. Diese Schirmherrschaft beinhaltet i.d.R. Auftritte und Grußworte bei Großveranstaltungen des Netzwerks. Weitere Ausgestaltung der Schirmherrschaft obliegt dem Schirmherrn selbst.221 Für Progress ist die Schirmherrschaft durch ein Vorstandsmitglied ein Symbol besonderer Bedeutung im Konzern: Damit wird gegenüber anderen Organisationsmitgliedern signalisiert, dass das oberste Führungsorgan des Konzerns das Netzwerk wünscht und unterstützt, ihm Zeit widmet und es als förderlich für den Konzern wertet. Auch in weiteren Hinsichten wird Progress (und ebenso das Homosexuellennetzwerk) unterstützt: Aktivitäten für das Netzwerk bzw. des Netzwerks dürfen auch in der Arbeitszeit stattfinden, Kost und Logis bei den Jahreshauptversammlungen u.ä. werden vom Konzern rückerstattet und den Netzwerken steht ein Budget zur Verfügung, um z.B. Veranstaltungen wie das Symposium 2001 zu finanzieren. Damit wird das Netzwerk an die Organisation gekoppelt und formal verankert. Diese Rahmenbedingungen des Netzwerks im Konzern zu schaffen, fallen in die Zeit des Personalvorstands Belz. In seiner Rekonstruktion der Aufbauprozesse organisationaler Gleichstellungspolitik wird die Verbindung von Organisation und Frauennetzwerk folgendermaßen dargestellt: sationen zu unterscheiden hinsichtlich ihrer Koordinationsmedien, -formen, Akteursbeziehungen, den Zugängen, Zeithorizont und Umgangsweisen mit Konflikten: Organisationen verfügen in jeder dieser Hinsicht über formale, hierarchische Regelungen. Netzwerke werden dagegen diskursiv und durch Vertrauen koordiniert und Konflikte ausgehandelt. Zugänge zu Netzwerken sind informell, exklusiv und begrenzt, Akteure interdependent (vgl. Weyer 2000). Im Alltagsdenken sind Netzwerke im Gegensatz zur Vetternwirtschaft legitim und erwünscht. In Abgrenzung zu traditionellen Männerbünden liegen Netzwerke dabei offen und sind theoretisch für jede/n zugänglich – ‚theoretisch’, da z.B. Professionsnetzwerke die Zugehörigkeit zu dieser Profession voraussetzen. Diese gilt aber im Alltagsdenken als legitime Zugangsbeschränkung. 221 Frühere Schirmherren waren Zagermann und der ehemalige Personalvorstand Belz. Der Schirmherr 2005, Vorstandsmitglied Matern, lud zu Beginn seiner Schirmherrschaft einige Netzwerkmitglieder zu einem Arbeitstreffen mit anschließendem ‚gemütlichen Beisammensein’ (vgl. 10.4f.).
10.2 „Für die Profit-AG das Bestmögliche erreichen“
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„wie Progress, was wir dann in die Welt gesetzt haben, hier unsere Frauenaktivitäten, die sie auf Eigeninitiative hin ja entfalten. Das alles war ein bisschen schwierig, aber nach und nach gewann man denn auch ein paar in den, nicht zwingend Vorstand, aber in den Ebenen da drunter, die das dann stützten, trugen, die sich bereit erklärten für irgendwelche Sponsoring oder irgendwelche Patenschaften, oder wie immer Sie das nennen wollen.“ (Interview Belz) Die paradox anmutende Formulierung des ersten Satzes beschreibt den Kopplungsprozess des Netzwerks an den Konzern. Die „Eigeninitiative“ der Frauen ist sowohl als Gründungs- als auch als Durchführungsmodus zu verstehen. „In die Welt“ setzen dagegen entspricht der Kopplung an die Organisation über die genannten Leistungen des Konzerns. Das ‚in die Welt setzen’, in das sich der damalige Personalvorstand einschließt, wird aufgrund seiner Funktion als Personalvorstand ein Stück weit Organisationsleistung. Dagegen ist Zagermanns Impuls zur Netzwerkgründung nicht Teil dessen Aufgabenbereichs als Abteilungsleiter und kann somit nicht als Initiative ‚des Konzerns’ verstanden werden. Allerdings zeigt auch Belz‘ Formulierung, andere Funktionsträger dafür gewinnen zu müssen, die „das dann stützten, trugen“,222 dass das Koppeln des Netzwerks an die Organisation von ihm zunächst in einer Zwischenstellung zwischen seiner Weisungsbefugnis und individuellem Führungsverständnis einzelner Führungskräfte verortet wurde. Aus dieser Zwischenstellung heraus entwickelte sich die mittlerweile formal festgelegte Unterstützung des Netzwerks durch ‚den Konzern’. 10.2 „Für die Profit-AG das Bestmögliche erreichen“ Das Frauennetzwerk stellt sich selbst über ein Faltblatt dar, das auch als Download auf der Webseite zur Verfügung steht, und somit sowohl der internen als auch der externen Vorstellung dient. Am oberen Rand des Titelblatts steht „das Frauennetzwerk der Profit-AG“, direkt darunter befinden sich Name und Logo der ProfitAG, dies sowie das Corporate Design bindet das Frauennetzwerk in die Organisation ein. Mit der Definition als Frauennetzwerk werden wie beim Begriff Computernetzwerk die ‚Knotenpunkte’ zur Bestimmung des Netzwerkes verwendet. Frauen bilden hier eine ‚kompatible’ Gruppe: ‚Frau-Sein’ ist die Gemeinsamkeit,223 über die der Austausch von Informationen funktionieren kann oder soll. 222 Das Netzwerk ist in seiner Erzählung nur ein Beispiel für die Entwicklung der Gleichstellungspolitik. Da er von Sponsoring und Patenschaften spricht, bleibt er dicht am Beispiel des Netzwerks. 223 Die so unterstellten Gemeinsamkeiten im ‚Frau-Sein’ sind eine Grundbedingung für jegliche Aktivität einer ‚Frauenbewegung’ (vgl. Gerhard 2000), die eines ‚Inklusionsmerkmals’ bedarf.
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
Damit ist ‚Frau-Sein’ nicht nur eine Klassifikation, sondern bildet eine Basis zur Verständigung, die wie bei Netzwerken von Berufsgruppen gemeinsame Themen suggeriert und damit nach innen ein Gemeinschaft herstellt und nach außen eine Besonderung gegenüber ‚Nicht-Frauen’ erwarten lässt. Auf der unteren Hälfte des Titelblatts des Faltblatts ist ein Bild zu sehen, das drei versetzt angeordnete Murmeln zeigt. Auf der vorne und mittig liegenden Murmel steht in Blockbuchstaben „PROGRESS“ und „Frauen beziehen Stellung“. Progress beginnt wie Profit-AG mit „Pro“ und entspricht damit einer gängigen Bezeichnungspraxis des Konzerns Produkte, Programme, Projekte etc. mit „Pro“ oder „Profit“ beginnen zu lassen. Da jedoch das G und nicht das „Pro“ betont wird, wird bei aller Verbundenheit und Eingebundenheit mit der und in die Organisation ein Stück weit aus der Corporate Identity ausgebrochen. Durch Schrägstellung und andere Farbgebung des Buchstaben G ‚tanzt’ dieser ‚aus der Reihe’, statt sich brav einzuordnen. Durch die Hervorhebung wird zudem die zweite Silbe ‚gress’ betont und dynamisiert, so dass es angriffslustig, bzw. aggressiv anmutet. Dies harmoniert unter dem Aspekt, dass hier jemand (das G) nicht gewillt ist, sich etwas gefallen zu lassen, sich in eine Struktur pressen zu lassen. In Verbindung mit dem Begriff „Progress“, lässt sich weiter führen, dass das, was sich nicht einpassen lässt, etwas vorantreiben will. Mit dem Untertitel „Frauen beziehen Stellung“ wird ebenfalls eine offensive Vorgehensweise betont. Im Vergleich zur Meinungsäußerung handelt es sich nicht um ein konfliktfreies Statement, sondern um eine Position, die zu Angriff und Verteidigung bereit ist. Stellung bezieht man nicht unter Gleichgesinnten, sondern immer gegenüber einem Umfeld, welches eine andere Position vertritt, oder von dem dies zumindest erwartet wird. Das Netzwerk befasst sich demnach mit Dingen, die (den Netzwerk-)Frauen nicht ‚passen’ und die sich deswegen mutig aber auch unbequem und unangepasst dafür einsetzen, dass sich etwas ändere. Die Murmeln verweisen auf das Murmelspiel, das darin besteht, dass eine Murmel der anderen einen Impuls gibt, so dass die, die sich vorher in einer Ruheposition befunden hat, nun auch bewegt wird. Sie sind unterschiedlich gefärbt und werden in unterschiedlichem Ausmaß angestoßen, wobei keine ungewollte Kettenreaktion entsteht (im Gegensatz zu Domino), sondern gezielte Anstöße gegeben werden. Das Netzwerk stellt sich somit als bewegt und bewegend dar. Es findet nicht nur ein Austausch statt, auch Impulse werden gegeben, die einzelne Elemente voran bringen. Diese Elemente können entweder Frauen im Netzwerk sein, deren ‚Zusammenspiel’ unterschiedlicher Funktionen und ‚Färbungen’ sie gegenseitig befördern,224 oder andere Elemente im Konzern, die im Zusammenspiel mit Pro224 Dies entspricht der besonders für die 1990er Jahre konstatierten Sichtweise und Bewusstwerdung über die Pluralität von Frauen (vgl. Holland-Cunz 2003; Gerhard 2000).
10.2 „Für die Profit-AG das Bestmögliche erreichen“
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gress Impulse bieten und erhalten. Auf der Innenseite des Faltblatts wird das Netzwerk näher beschrieben: „wer wir sind und was wir wollen“ „wie wir unsere Ziele erreichen wollen“ „unsere Spielregeln“ (Faltblatt Progress) Die Überschriften der einzelnen Faltseiten sind direkt und klar verständlich. Sie vermitteln, dass auch der Inhalt eindeutig und unumstößlich sei. Weder an den Zielen, noch an den Regeln, am Willen oder an der Identität lässt sich rütteln: Die Stellung ist bezogen. Zugleich zeigen die Überschriften, dass in diesem allen Interessierten zugänglichen Faltblatt alles offen gelegt wird. Das Netzwerk grenzt sich so deutlich von geheimbündischen Machenschaften ab. In Verbindung mit der Demonstration von Fortschritt und Dynamik positioniert sich das Netzwerk so als Antipode zu traditionellen ‚Old Boys Networks’.225 Die Selbstdarstellung „wer wir sind und was wir wollen“ beginnt folgendermaßen: „Das Netzwerk Progress wurde 1998 durch [Standort Zentrale] Profit-AGlerinnen gegründet. Heute engagieren sich in [Standort Zentrale] und zahlreichen regionalen Netzwerken Mitarbeiterinnen aus der Zentrale, den Betriebsstätten und den Konzerntöchtern, die - eine eigene Meinung haben und diese offen vertreten, - sich engagiert den Aufgaben des Berufslebens in der Profit-AG stellen und dabei oft Familie und Beruf vereinbaren, - dafür eine faire Anerkennung ihrer Leistung und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung erwarten und - gemeinsam mit den männlichen Kollegen für die Profit-AG das Bestmögliche erreichen wollen.“ (ebd.) Das Netzwerk als Teil des Konzerns fordert von den Mitgliedern Identifikation mit dem Konzern: Sie sind „Profit-AGlerinnen“ und nicht nur ‚Mitarbeiterinnen’. Damit sind sie nicht nur Teil des Konzerns, sondern der Konzern ist auch Teil ihrer Identität. Diese Verbundenheit mit dem Konzern wird noch durch Loyalität ergänzt: Auch sie wollen das Beste für den Konzern erreichen. Auf diese Weise wird das Netzwerk von Seiten der Netzwerkerinnen an die Organisation gekoppelt. Dieser Einschwur auf die Organisation geht zugleich mit einer Forderung an die Organisation einher, indem sie für ihr Engagement in der Profit-AG (und privat!) 225 ‚Old boys networks’ finden sich auch als „Männerkoalitionen“, als Männer, die unter sich sein wollen (vgl. Kap. 10.3) oder als Begründung für Mentoring (vgl. Kap. 9.3) wieder.
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
„faire Anerkennung ihrer Leistungen und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung“ erwarten. Loyalität mit dem Konzern und ‚ihr Bestes’ zu wollen, geht Hand in Hand mit ‚Stellung beziehen’ zu spezifischen Gegebenheiten im Konzern: „Das Netzwerk Progress will - Mitarbeiterinnen der Profit-AG stärken und ermutigen, Positionen zu übernehmen, in denen Verantwortung, Entscheidungskompetenz und Vertretungsmacht vorhanden sind. (...) - Frauen in der Profit-AG dabei unterstützen, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse weiterzuentwickeln. - daran mitarbeiten, ein angemessenes Verhältnis von Frauen und Männern an den entscheidungsrelevanten Positionen und Gremien des Konzerns erreichen. (…) Das Netzwerk Progress hat das Ziel, - den Erfahrungsaustausch unter Frauen zu fördern, - ein Informationsforum darzustellen, - zu der Entwicklung der Unternehmenskultur aktiv beizutragen und - durch Coaching, Mentoring und Weiterbildung Frauen zu unterstützen.“ (ebd.) Die hier beschriebene Zielsetzung besteht in drei Stoßrichtungen: Zum einen wird Netzwerken als Ziel gesetzt (Erfahrungs- und Informationsaustausch); zum Zweiten beziehen sich die Ziele auf die Netzwerkerinnen, genauer deren Karrieren; zum Dritten zielt Progress auf eine Veränderung der Organisation ab: Implizit wird vorausgesetzt, dass der Konzern derzeit noch kein „angemessenes Verhältnis von Frauen und Männern“ in Positionen mit Entscheidungsbefugnissen hat (nach wessen Bewertungsmaßstäben auch immer ‚Angemessenheit’ zu verstehen sei). 10.3 „Vertretung in Anführungszeichen“ In der Präsentation einer von Progress durchgeführten Befragung aller weiblichen Führungskräfte der zweiten Ebene in der Zentrale zu ihren Karriereverläufen als Frauen wird das kämpferische Potential, bzw. das Selbstverständnis als kritisches Korrektiv besonders deutlich. Die Ergebnisse wurden Mitgliedern des Netzwerks, den interviewten Frauen, sowie Mitgliedern des Vorstands und der Personalabteilung mit einer Powerpoint-Folie vorgestellt. Auf dieser sieht man in der Mitte ein farbiges gezacktes Element, das wie eine Explosion bzw. die bildliche Darstellung eines Knalls in einem Comic aussieht. Von dieser ‚Explosion‘ scheint alles auszugehen, sie unterliegt der gesamten Folie. Die einzelnen „Aufstiegsbarrieren für
10.3 „Vertretung in Anführungszeichen“
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Frauen“ (fettgedruckt mittig), die als „Männerkoalitionen“, „weibliche Biografie“, „Nachfolgeplanung“, „Karrieremotivation Frauen“, „Rollenbilder“ um diesen Titel gruppiert werden, scheinen nach dieser Deutung gesprengt werden zu müssen. Die Funktionszuschreibung als kritisches Korrektiv wird hier sowohl durch die Befragung als solche, die Präsentation vor Topmanagement und Personalverantwortlichen als auch durch die graphische Gestaltung deutlich. Die verschiedenen angeführten Aspekte zeigen, dass die Kritik nicht auf spezifische Ebenen oder Teile der Organisation beschränkt wird, sondern sich auf die Profit-AG als ‚Lebensraum’ bezieht. Dabei werden Karrieremotivation und „weibliche Biographie“ ebenso als (irgendwie) gesetzte Aufstiegsbarrieren gewertet und nicht als freie individuelle Entscheidungen und Lebensentwürfe verstanden, sondern als sozial geschaffene (‚frauenspezifische’) Wirklichkeiten. Daran anschließend ist zu erwarten, dass in die angestrebten Veränderungen der Organisation auch die Berücksichtigung ‚weiblicher Lebenswirklichkeit’ eingebunden wird. Dieses Verständnis zeigt sich im Interview mit dem Präsidiumsmitglied Sandra Maier: I: „Was ist Ihnen denn besonders wichtig an Progress?“ Maier: „(12) Also einmal ist mir besonders wichtig, dass es ne Vertretung für Frauen gibt, Vertretung in Anführungszeichen, wir vertreten ja nicht wirklich alle Frauen, aber dass es so ne Stimme gibt, die Frauen- für Frauen spricht und die immer wieder Themen, die der Konzern manchmal gerne umgehen würde oder wo er nicht so gerne hinguckt, die darauf hinweist, ähm, (3) ich war früher in der Gewerkschaft sehr aktiv und das ist so wahrscheinlich auch noch was, was da so übrig geblieben ist, dass man sich Gehör verschaffen muss und dass es da so ein Gremium geben muss, indem man sich zusammenschließt und wenn viele sich zusammengeschlossen haben, dann haben sie auch so diese Macht. Und für mich ist schon wichtig auch, dass auch wenn Progress so keine materielle Macht hat, wir können nicht wirklich Dinge beeinflussen, direkt, aber ich glaube, dass wir mittlerweile ähm zu so ner Stimme geworden sind, die schon wahrgenommen wird (...) So. Also ich glaube, dass wir das mittlerweile schon können, also diese Macht, die wir da haben, ist mir schon wichtig.“ (Interview Maier) Progress wird hier ähnlich einem Betriebsrat vorgestellt. Anders als bei der Gewerkschaft besteht bei einem Betriebsrat eine Verbindung von Opposition gegenüber der Organisation und Integration in dieselbe. Im Gegensatz zu diesem verfügt Progress nicht über „materielle“ i.e. formal gegebene Macht, trotzdem ist diese oppositionelle Macht eine wichtige Funktion von Progress laut Maier. Ein Betriebsrat vertritt eine Gruppe von Personen, die über ihren spezifischen und formal festgeschriebenen Status in der Organisation als Gruppe definiert sind: die Arbeit-
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nehmerInnen. Progress hingegen wird von Maier als Vertretung einer Gruppe benannt, deren Gemeinsamkeit in einem ‚Merkmal’ begründet liegt, das sie organisationsrelevant macht: Im Gegensatz zu einem Anspruch oder einer Zuschreibung von Geschlechtsneutralität an Organisationen, wie sie z.B. im Leitbild des Konzerns produziert wird, schreibt Maier der Kategorie Geschlecht hier organisationale Bedeutung zu. Dies geschieht auf eine spezifische Weise: Indem Maier Vertretung von Frauen als Machtinstrument begreift, setzt sie voraus, dass Frauen in Organisationen ein Machtdefizit haben, dass sie (zumindest) in dieser Organisation unterprivilegiert sind, weniger gehört werden. Damit greift Maier auf eine Sichtweise der Geschlechterdifferenz zurück, wie sie insbesondere in den 1980er Jahren in Frauenbewegung und -forschung vertreten wurde. Demnach besteht die Notwendigkeit der ‚anderen’ Sicht von Frauen in einer männlich dominierten öffentlichen Sphäre Raum zu geben und Stimme zu verleihen.226 Maier vertritt diese Position nicht undifferenziert, sondern verweist darauf, dass Progress nicht alle Frauen vertritt, zieht aber klare Interessensgrenzen zwischen den männlichen und den weiblichen Mitgliedern einer nicht auf Frauen ausgerichteten Organisation. Anklänge einer solchen ‚reformierten’ differenztheoretischen Perspektive der zweiten Frauenbewegung zeigen sich auch in der Zielsetzung von Progress, wie sie im Faltblatt formuliert wurde. Die Erreichung eines „angemessenen Verhältnisses“ von Männern und Frauen unter Positions- und Entscheidungsträgern geht mit den Zielen einher, „den Erfahrungsaustausch unter Frauen zu fördern“ und „aktiv zur Entwicklung der Unternehmenskultur beizutragen“ (Faltblatt Progress). Die bundesdeutsche Frauenbewegung insbesondere der 1960er, 70er und 80er Jahre entwickelte Utopien nicht nur für eine ‚frauenfreundlichere’ Welt, sondern auch für eine insgesamt veränderte Welt in Hinsicht auf Demokratie, individuelle Freiheit, Friedenspolitik, Ökologie aber auch eine soziale Ökonomie (vgl. Holland-Cunz 2003) in „radikaler Gesellschaftskritik“ (Gerhard 2000: 23). Zugleich entstanden Räume, Projekte und Gruppen, in denen sich Frauen im Erfahrungsaustausch mit sich selbst auseinandersetzten (vgl. ebd.). In diesem Sinne zeigt sich Progress sowohl als pragmatisch gleichstellungsorientiert als auch zugleich in der Tradition feministischer Denkweise und Utopieentwürfe, denen zufolge eine ‚frauenfreundliche‘ Umwelt einer ‚menschenfreundlichen‘ Umwelt und damit einer gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Veränderung bedarf. In dieser Perspektive wird also vor dem Hintergrund der Vorstellung des Konzerns als einer „gendered organization“ (Acker 1990) Progress als interne mit informeller Macht ausgestattete kritische Instanz konzipiert, die diese Organisation 226 Der Anspruch, das ‚Andere’ (Weibliche) zu Wort kommen zu lassen, trug die Frauenbewegung seit Simone de Beauvoir (1961) und mündete in einer Positivierung des Weiblichen, verbunden mit Prozessen der feministischen Selbsterfahrung und Selbstfindung in den 70er Jahren und Vorstellungen von weiblichem Arbeitsvermögen, weiblicher Ethik etc. (vgl. Holland-Cunz 2003).
10.3 „Vertretung in Anführungszeichen“
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‚frauengerecht’ gestalten und dementsprechend durchaus ‚Sprengkraft’ für bestehende (Macht-)Verhältnisse haben will. Eine weitere Perspektive wird in anderen Interviews deutlich und findet ebenfalls ihr Korrespondum im Faltblatt. Hier steht das Netzwerken im Zentrum: „- Wir identifizieren uns mit den Zielen unseres Netzwerks und engagieren uns für deren Erreichung. - Wir sind ein Netzwerk berufstätiger Frauen und achten stets auf professionelles Verhalten. - Wir gehen fair und konstruktiv miteinander um. Wir kommunizieren intern offen, ehrlich sowie wertschätzend und behandeln persönliche Informationen vertraulich. - Jede Netzwerkerin tritt für sich selber ein und übernimmt Verantwortung für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse – selbstverständlich unter Wahrung der Gruppeninteressen. - Wir teilen die Aufgaben flexibel auf, damit das Netzwerk von den Beiträgen aller Frauen profitiert und unsere Strukturen lebendig bleiben. - Wir haben Spaß in und an unserem Netzwerk – auch im Umgang miteinander.“ (Faltblatt Progress) Diese „Spielregeln“ (ebd.) regeln nun nicht die Erreichung gemeinsamer Ziele, sondern den Modus des Netzwerkens, dabei wird auf Verhaltensweisen Bezug genommen, die aus der Privatsphäre bekannt sind oder auf Kollegialität setzen, aber auch über beides hinausgehen, da sie die Schnittmenge berühren: Dort wo persönliche Informationen angesprochen werden, wird ‚Privates’ in ein ‚professionelles’ Verständnis von Vertraulichkeit übersetzt. (Nicht) zuletzt wird der Spaß am Netzwerken angesprochen. Damit wird dieses Ziel, der Selbstzweck des Netzwerkens, erweitert um die Dimension der Geselligkeit. In Gesprächen mit Netzwerkerinnen auf niedrigeren Positionen wurde diese Funktion des Netzwerkens betont, unter anderem weil die formal geregelten Zugänge zu Progress und dem Schwulen-Lesben-Netzwerk den (Berufs-)Einstieg in den Konzern erleichterten, das Netzwerk als interne Jobbörse fungierte und/oder es den Mitgliedern ‚den Rücken stärke’:227 Laetitia: „Und ich bin auch bei Courage Mitglied, [I: „genau“] weil ich eine Frau bin. (kurzes Lachen) (...) Ich finde es mittlerweile unheimlich schön mit den Frauen zu diskutieren über die Arbeitsverhältnisse hier in diesem 227 Dies gilt nicht nur für das Frauennetzwerk. Vgl. z.B. zum entstehenden Väternetzwerk: „ ja, man einfach Leute hat, zum Austauschen und sich gegenseitig den Rücken stärken.“ (Oswald, Gespräch beim Mittagessen, Woche 5, Dienstag)
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Konzern und auch interessante Informationen zu bekommen, die Infoveranstaltungen besuche ich auch sehr gern und unser Frühstück gehört auch dazu. Ja mir macht’s einfach Spaß irgendwie mit den Frauen, was zu unternehmen und wenn das nicht wäre, ich weiß nicht, ob ich weiterhin in diesem Konzern wäre. Wenn diese Netzwerke nicht wären, ich glaub, ich wär nicht mehr hier. Das hat mir unglaublich viel Ausdauer und Kraft gegeben, dabei zu bleiben und meinen Konflikten halt, ja die anzugehen und interessante Informationen zu bekommen, von anderen auch, wie sie vielleicht mit Konflikten umgegangen sind.“ (Interview Laetitia) Die Gespräche, Informationen und Diskussionen, die für sie den Nutzen des Netzwerks darstellen, finden innerhalb des Netzwerks ‚von Frau zu Frau’ statt. Dies wirkt ermächtigend für die einzelne Netzwerkerin, ein kollektives Handeln des Netzwerks jedoch ist hierin nicht angelegt. Das Netzwerken von Frauen als Frauen (vgl. „weil ich eine Frau bin“) in einer ‚gendered organization‘ ist stattdessen als Gegenentwurf zu von männlichen Netzwerken geprägten Strukturen angelegt:228 Laetitia: „Männer können viel besser untereinander, als wenn eine Frau dabei ist, dann verändert sich das Klima in diesen Gremien, und ich denke dass sie deswegen da unter sich sein wollen, trotz Frauenbewegung. Und ähm ich denke, dass sich die Männer in den letzten vierzig Jahren sich da nicht weiterbewegt haben, so aus diesen bequemen Strukturen.“ (ebd.) Das Netzwerken als Austausch fügt sich in ihr Bild, dass eine Veränderung der Organisation notwendig sei, jedoch wird letzteres nicht als Funktion des Netzwerks gewertet. Vielmehr scheint vor dem Hintergrund der pessimistischen Einschätzung, dass auch die Frauenbewegung in den letzten vierzig Jahren keinen Einfluss auf Denkweisen von Männern gehabt habe, eine Gestaltungsmacht des Netzwerks ausgeschlossen. ‚Die’ Männer müssten sich nach diesem Verständnis ändern und Veränderungen der Organisation herbeiführen (wollen). Das Frauennetzwerk wird so (nur) zu einem notwendigen und hilfreichen Rückzugsort für Frauen neben der von Männern bzw. von ihren Hierarchien geprägten Organisation.
228 Vgl. auch ihre Antwort auf das Erleben von Chancengleichheit im Arbeitsalltag: „Im Arbeitsalltag ä hab ich manchmal das Gefühl, dass wir Frauen irgendwie ganz schön zurückstecken müssen, äh es kommt natürlich immer darauf an, was für ne Position man als Frau hat, äh wenn man irgendwie ne Spezialistin ist, ist man vielleicht nicht so angreifbar wie wenn man jetzt – mehr oder weniger – eine Sachbearbeiterin ist. Ähm (.) Ja und es werden Unterschiede gemacht zwischen Männern und Frauen, also wie man behandelt wird. Also man- als Frau muss man viel stärker um ähm ja so Respekt kämpfen, hab ich das Gefühl“ (Interview Laetitita).
10.4 „An den harten Zielen arbeiten“
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10.4 „An den harten Zielen arbeiten“ Die dritte Zielsetzung, Frauen-Karrieren mittels des Netzwerks zu forcieren, spiegelt sich im Faltblatt Progress darin, wie die Ziele erreicht werden sollen: „Zur Erreichung dieser Ziele gibt es eine Struktur mit einem Präsidium (...) Richtlinien und Satzung regeln die Zusammenarbeit. Arbeitsgruppen (...) arbeiten an verschiedenen Themen. Die Netzwerkerinnen - arbeiten in Treffen der regionalen Sprecherinnen bzw. in einem bundesweiten Gesamttreffen aller Netzwerkerinnen am Erfolg des Netzwerks - kommen im regionalen Plenum mehrmals jährlich zu Arbeits- und Informationstreffen zusammen, - treffen sich in den einzelnen Projektteams zur Erarbeitung anstehender Themen und - konzipieren und organisieren öffentliche Veranstaltungen.“ (ebd.) Die Beantwortung der Frage „wie wir unsere Ziele erreichen wollen“ wird nicht (auch nicht an anderer Stelle im Faltblatt) mit den „verschiedenen Themen“ gefüllt, sondern mit der Organisations- und Arbeitsform. Diese erinnert zum Einen mit Präsidien, Satzung, Jahrestreffen und regionalen Gruppen an die Organisationsform von Vereinen, zum Anderen werden mit Begriffen wie „konzipieren“, „organisieren“, „arbeiten“ bzw. „Erarbeitung“, sowie „Projekten“ und „Richtlinien“ Organisationsmodi der (For-)Profit-AG aufgegriffen. Auf diese Weise wird hier auch auf den „Erfolg des Netzwerks“ hingearbeitet und nicht z.B. das gemütliche Beisammensein als Ziel(erfüllung) gesehen. Die Netzwerkmitglieder zeigen sich damit als professionelle Fachkräfte, die auch neben ihrer beruflichen Tätigkeit nicht untätig sind, die gerne und (selbst)organisiert arbeiten. In der Selbstdarstellung geht dieses Ziel mit den beiden anderen zusammen und wirkt auch zusammen mit diesen. Im Interview mit Ulrike Krüger einem weiteren Präsidiums- und Gründungsmitglied von Progress wird dagegen zu den ‚ganzheitlichen’ Zielen Progress’ kritisch Distanz bezogen: I: „Was würden Sie sich für Progress für die Zukunft wünschen?“ Krüger: „(4) Eine klare- klarere Ausrichtung, Progress is- hat sich damals Ziele gesetzt, die wir aus meiner Sicht nicht wirklich sinnvoll erfüllen können. Wir haben einmal gesagt, wir wollen ähm, wir wollen Frauen in Führungspositionen bringen, wir wollen Frauen sichtbar machen, wir wollen die Kultur im Hause ändern, mh! Und dann haben wir gesagt, na ja, wir wollen auch uns austauschen, und nen bisschen Spaß miteinander haben, es soll
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nicht nur Arbeit sein, sondern es soll ja, soll ja auch mal lustig sein, also wir haben alle genuch auf dem Schreibtisch, wir wollen uns nicht überfrachten und das sind Dinge, die- also Ziele, die aus meiner Sicht stark auseinander driften, weil dieses- also wir haben Frauen bei uns, die sich nicht wirklich stark engagieren, mit denen kann man in dem Thema Frauen in Führungspositionen bringen, und den Vorstand ein bisschen impfen und richtig Lobbyarbeit machen, mit denen kann man an der Ecke nichts tun, sondern die wollen wirklich- denen reicht das, mal gemeinsam Stammtisch zu haben, mal gemeinsam Frühstücken zu gehen und so weiter. Auf der anderen Seite haben wir dann aber einen Schirmherr wie Herrn Matern, der auch ganz klar sagt, wann haben Sie ihre Ziele erreicht? Das heißt ähm- Und wir sind für Frauen, die wirklich Karriere machen wollen, nicht interessant, wir sind zu breit aufgestellt, zu uns kann jeder kommen und das macht es ganz schwierig an diesen harten Zielen zu arbeiten und ich würde mir ne klarere Ausrichtung wünschen, im Sinne von, da gibt es eine ähm- ein Projekt? – Nee, ein Projekt ist falsch – eine Gruppe von Frauen, die sich in diesem Netzwerk stark engagieren, weil sie sagen, uns bringt es viel, wir wollen nach vorne, wir wollen Karriere machen, wir wollen Kontakte zum Vorstand, wir wollen Kontakte zur ersten Führungsebene, wir gehen da ins Gespräch, wir machen da viel, wir machen Projekte, wir engagieren uns, und dann- also für sich den Nutzen sehen, und dann eben auch Frauen, die das gleiche empfinden, die schon etwas erreicht haben, nachziehen und dann bringt das etwas und dann kann man auch was bewegen. Und dass man auf der anderen Seite eine- eine Gruppe von Frauen hat, die sagen, ich hab noch nie Lust gehabt, da oben in der ersten Führungsebene zu sein, ich will das gar nicht, das ist ja völlig legitim.“ (Interview Krüger) Die als Einheit gedachte Zielsetzung wird hier als zwei widersprüchliche Ziele wahrgenommen. Krüger benennt einen Erkenntnisprozess, nach dem diese Zielsetzung von Anfang an nicht funktionieren konnte. Die beiden möglichen Richtungen, die sie benennt, werden noch deutlicher als im Faltblatt mit verschiedenen Logiken und Sprachen versehen. Das Austauschen untereinander wird allein mit Geselligkeiten und Freizeitaktivitäten wie Frühstücken gehen, Sommerfeste feiern etc. verbunden. Dabei wird es der Arbeit gegenüber gestellt (vgl. „wir haben alle genuch auf dem Schreibtisch“) und daraus folgend mit denjenigen verbunden, die „noch nie Lust“ gehabt haben, „da oben in der ersten Führungsebene zu sein“. Die andere Richtung dient dazu „Frauen in Führungspositionen [zu] bringen“. Hierfür rekurriert sie auf den Schirmherrn und verwendet die Sprache ihrer Arbeitswelt (vgl. „wir sind zu breit aufgestellt“). Frauen in Führungspositionen zu bringen ist dabei aber nicht ein gleichstellungspolitisches Ziel. Im Mittelpunkt
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steht vielmehr die Verfolgung der eigenen Karriere mittels des Netzwerks (vgl. „uns bringt es viel, wir wollen nach vorne, wir wollen Karriere machen“). Die Zuschreibung eines Karrierenutzens an das Netzwerk ist für sie Voraussetzung für ein (zielorientiertes) Engagement. Diese Funktion des Netzwerks besteht bei Krüger zum Einen darin, Projekte zu machen und den Vorstand zu „impfen“. Damit geht sie ein Stück weit mit dem Verständnis Maiers in Einklang, allerdings hier nicht im Sinne einer grundlegenden Veränderung einer ‚gendered organization‘, sondern als „Lobbyarbeit“ für Frauen, die Karriere machen wollen. Zum anderen besteht die Funktion des Netzwerks darin, Präsenz und Status in der Organisation zu nutzen für den Kontakt zu Mitgliedern des Topmanagements (die nicht Teil des Netzwerks sind). Der gegenseitige Impuls zwischen den Elementen (vgl. die Murmeln auf dem Titelblatt), wird hier nicht innerhalb des Netzwerks verortet, sondern zwischen den Mitgliedern des Netzwerks und dem Topmanagement. Der Nutzen letzterer ist bei Krüger implizit, da es für den Konzern „aus betriebswirtschaftlichen Gründen“ sinnvoll ist, „Unterstützungsmaßnahmen“ für Frauen zu bieten, die in die obersten Führungsebenen wollen (ebd.; vgl. Kap. 7.8). Im Interview mit Christoph Matern, Vorstandsmitglied und Schirmherr von Progress, zeigt sich der Anspruch an ‚harten Zielen’ zu arbeiten noch einmal verstärkt und mit einer anderen Implikation. Auf die Frage, was es bedeute, Schirmherr von Progress zu sein, antwortet er: Matern: „Das is ne gute Frage, das habe ich die Damen auch gefragt. [I: „Ach ja! und?“] ist ist ist a bisserl unklar für mich jedenfalls geblieben (lacht). Ich habe das so verstanden, dass ich ähm zwei mal zwei-dreimal im Jahr a) Diskussionsrunden mache, äh b) dass sie Themen haben, die sie gesamthaft vorangetrieben haben wollen, dass ich ihnen dort helfe, dort ist mir allerdings – aber vielleicht hilft ja sehr Ihre Arbeit hier dabei – mir ist und das habe ich den Kolleginnen auch gesagt, mir ist n bissl unklar an welcher Ecke sie zur Veränderung ansetzen wollen und deswegen meine Frage, meine Kernfrage is, wenn es dort ein Thema gibt, dass wir (.) für Frauen die Karriereleiter nicht so transparens haben, wie das, wie das sein sollte, dann ist eine meine erste Frage, warum nehmen weniger Leute am Führungskreis C teil, das war eine Debatte, die hab ich mit den Kolleginnen von Progress vor nem Jahr geführt, hab gesagt, dann sa- überlegt euch doch mal, wie können wir diese Sache erhöhen, da ist aber sozusagen, da hab ich bisher wenig Rückmeldung bis jetzt so bekommen, woran das liegen könnte, das würd mich schon interessieren, ja? das heißt also mir ist auch unklar, ist Progress nur eine Vereinigung von Damen, die ab und zu ähm, weil sie etwas Gewisses verbindet, nämlich das Thema Frau-Sein in einer eher Männer dominierten Führungsorganisationen, ja gar nicht in einer Männer do-
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
minierten Organisation, ist das nur sozusagen ein ein Networking, oder is es ein Thema- ei-eine Gruppe, die inhaltlich ein Thema voranbringen will und wenn sie das macht, dann ist mir sozusagen deren Handlungsagenda und wie sie das Thema vorantreiben will, in dieser Zeit unklar geblieben. (9) (...) Eigentlich fehlt mir an dem Netzwerk sozusagen so n bissl die inhaltliche Dimension, (...) ja ich glaub der Inhalt muss es sein, wenn wir jetzt mal ein bisschen weg gehen, wir haben ja auf der auf der – keine Ahnung – ersten oder zweiten Führungsebene einen Anteil X an Frauen, wie können wir es denn sicherstellen, dass der sich in – keine Ahnung, ja? – wenn der Anteil 10% ist, wie können wir es sicherstellen, dass der in 10 Jahren bei 25 liegt, ja? Wenn man das sagt, das wäre das Ziel, ne? ein messbares Ziel, man muss ja irgendwie, Veränderung muss man ja messen, wenn ich sie nicht messen kann, dann wird sie nich passieren, ja? bin ich felsenfest davon überzeugt, wenn Sie Veränderungen nicht irgendwie messen können, dann können Sie sie auch gar nicht darstellen, nicht beschreiben, dann wird sie auch nicht passieren. Wenn man sagt, das ist mein Ziel, dann muss ich doch von da aus zurückarbeiten, dann muss ich sagen, was muss ich eigentlich tun, damit ich das erreiche, ja? was ist – was muss ich eigentlich tun, damit ich das erreiche, ja? oder sag ich, ich warte einfach mal ab, und guck ob’s passiert ist, so. Und das ist mir zu unklar, was wir da genau tun müssen, um das zu erreichen.“ (Interview Matern) Die holprigen Formulierungen, das Lachen und die Einschübe verweisen auf eine Unsicherheit in seinen Aussagen, die man als Skepsis, genauer als legitimierungsbedürftige Skepsis, deuten kann. Er legitimiert seine Skepsis zum Einen, indem er erklärt, dass die „Kolleginnen“ von Progress darüber Bescheid wissen, dass es ihm unklar sei, was seine Rolle als Schirmherr bedeute, zum Anderen legitimiert er sie, indem er die Möglichkeit einräumt, dass es sich um eine beantwortbare Frage handelt z.B. durch eine wissenschaftliche Studie. Die Anfrage an ihn Schirmherr zu werden, scheint dagegen trotz der Vagheit dieser Funktion nicht legitimierungsbedürftig. Und dies obwohl diese Unklarheit einher geht mit der ebenso noch als offen dargestellten Frage nach der Funktion des Netzwerks: Die „Vereinigung von Damen“ rückt das Frauennetzwerk in die Nähe von dem Klischee der Damen des gehobenen Bürgertums, die sich als ‚weibliches’ Substitut einer Erwerbsarbeit in Stiftungen und Vereinigungen philanthropisch engagieren oder der Förderung der Künste widmen. Die abgebrochene Formulierung „die ab und zu“ verweist ebenso auf diese Sicht: nicht konsequent und zielstrebig, sondern unregelmäßig, in loser Folge wird hier etwas getan, vermutlich ein Austausch, ein Zusammentreffen oder ein gemeinsames ‚Projekt’, was Veranstaltungen jeglicher Art vom Vortrag bis zur Spendentombola beinhalten kann.
10.4 „An den harten Zielen arbeiten“
259
Diese Vereinigung macht nun etwas, weil sie „etwas Gewisses“ verbindet. Dieses ‚etwas Gewisse’ (das „Frau-Sein“) wird eingeführt als ein „Thema“ und nicht wie bei Meier, Krüger, Laetitia und in der Selbstdarstellung von Progress als eine Identität. Indem er die ‚Dominanz’ von Männern nicht auf eine Vergeschlechtlichung der Organisation im Sinne Maiers, sondern als rein numerische Dominanz in der Führungsebene wertet, die keine Vergeschlechtlichung der Organisation impliziert oder mit sich bringt, folgt Matern in seinen Formulierungen dem Bild geschlechtsneutraler Organisationen. Geschlecht (und das heißt auch hier vor allem das Geschlecht von Frauen) ist hier allein ein an Personen haftendes ‚Merkmal’, das in der Organisation numerisch unterschiedlich repräsentiert ist. Seine Sicht kann im Sinne Maiers differenztheoretischer Perspektive als durchaus ‚gendered’ und somit gegenüber ‚weiblichen’ Entwürfen geschlossen bezeichnet werden. Dementsprechend hat das ‚Thema’, genauer eine Thematisierung von ‚Frau-Sein’ in der Organisation für ihn keine eigenständige Bedeutung. Und daraus folgend hat die Ursprungsidee des Frauennetzwerks, wie sie im Faltblatt und von Maier skizziert wird, als Entwurf einer durch eine ‚weibliche’ Perspektive hervorzubringenden Neugestaltung von Organisation vor dem Hintergrund seines Verständnisses von Geschlecht und Organisation keine Funktion. Dass ihm vor diesem Hintergrund dennoch seine Skepsis legitimierungsbedürftig erscheint, nicht aber das Netzwerk, zeigt, dass er ihm grundsätzlich eine Legitimation zuschreibt. Dies geschieht, indem er Frauenförderung als legitimierendes Ziel und Aufgabe des Netzwerks voraussetzt. Daran schließen seine Fragen an die Netzwerkerinnen und seine Irritationen bzw. Unklarheiten an, sowie seine Füllung der Schirmherrschaft und des Netzwerks mit in diese Legitimation eingepassten Funktionen. Seine Funktion als Schirmherr deutet er ganz in Entsprechung zu seiner Tätigkeit als Vorstand, indem er ‚Management by objectives’ betreibt und von Progress, analog zu Geschäftsbereichen des Konzerns gedacht, erwartet, dass sie sich konkrete – genauer: „messbare“ – und verbindliche Ziele setzen. Dazu gehört es in seinem Verständnis, eine Strategie zur Umsetzung zu entwickeln und diese auch zu leisten (vgl. „von dort aus zurückarbeiten“). Seine Funktion wäre dann entsprechend seiner Möglichkeiten als Vorstandsmitglied beispielsweise aus der Rückmeldung, die er bekommt, die notwendigen Veränderungen zu veranlassen (vgl. „gesamthaft vorangetrieben“). Das Netzwerk selbst wird so unter einem ‚organisationslogischen’ Blickwinkel betrachtet und von ihm auf einen ‚produktiven’ und ‚erfolgversprechenden’ Weg gebracht. Ähnlich wie Krüger setzt auch Matern zwei Möglichkeiten (allerdings nicht zwei Gruppen) das Netzwerk zu nutzen als divergent gegenüber: Die Vereinigung von Damen entspricht hier Krügers ‚Frühstückerinnen’. Die andere Gruppe/Möglichkeit ist aber nur auf den ersten Blick vergleichbar: Beide sprechen zwar über Karrieren von Frauen, aber der Blickwinkel aus der Perspektive, was in der Orga-
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
nisation messbar erreicht werden könne, trennt sein Verständnis deutlich von Krügers. Ihr konkretes Ziel ist, dass jede Frau, die Karriere machen will, dies auch kann und tut, was für diese dann auch eine durchaus wahrnehmbare (und z.B. im Gehalt messbare) Veränderung bedeutet. Eine deutliche prozentuale Steigerung des Frauenanteils ergäbe sich möglicherweise von selbst, nicht aber zwingend, abhängig davon, wie viele der einzelnen Mitglieder von Progress „nach oben“ (Interview Krüger) wollen. Materns Ansprüche an Progress sind dagegen auf der Ebene der Organisation angesiedelt. Karrieren von Frauen wären aus der Perspektive organisationalen Nutzens dann nur ein Mittel zur Erhöhung des Frauenanteils. Die von ihm eingeforderte Verbindlichkeit organisierten Handelns des Netzwerks zum Zwecke der Frauenförderung macht das Netzwerk zu einem organisationalen und an die Organisationslogik gebundenen Instrument der Gleichstellungspolitik. Damit ist der Nutzen der Gleichstellungspolitik für die Organisation, der grundsätzlich auch von Matern unterstellt ist, die Legitimation des Netzwerks und seiner Tätigkeit als Schirmherr. In diesem Verständnis ist die von ihm zugeschriebene Zielerfüllung der Maßstab für die Tauglichkeit des Instruments. Werden dagegen keine auf organisationaler Ebene messbaren Ziele angestrebt, ist das Netzwerk ‚unnütz’: eben nur eine „Vereinigung von Damen“, die „etwas Gewisses verbindet“ (Interview Matern). Darin ist dann auch Krügers Funktionalisierung des Netzwerks nach Materns Verständnis einzuordnen. Vier (Be)Deutungen des Frauennetzwerks lassen sich zusammenfassen: Die erste Bedeutung wird insbesondere von Maier expliziert: Progress ist ähnlich einem Betriebsrat eine „Vertretung in Anführungsstrichen“ (Interview Maier), die kritisch und aktiv Rahmenbedingungen für Frauen in einer vergeschlechtlichten Organisation verändern will. Die zweite Bedeutung ist Netzwerken als fruchtbarer und notwendiger Austausch vor dem gleichen Verständnis einer gendered organization, die insbesondere von jüngeren Netzwerkerinnen auf niedrigeren Karrierepositionen betont wurde. Die dritte Funktion ist die Verfolgung individueller Karrieren durch Sichtbarkeit und Gespräche mit dem Topmanagement, wie sie von Krüger als wünschenswerte Ausrichtung dargestellt wird. Diese ersten drei Funktionszuweisungen haben eine Gemeinsamkeit: Sie dienen den Netzwerkerinnen, wobei sie sowohl mit der Identifikation als Profit-AGlerinnen als auch mit einer kritischen Haltung gegenüber dem Konzern einher gehen. Die vierte Bedeutung dagegen, wie sie von Matern zugewiesen wird, ist nicht der Nutzen der Netzwerkerinnen, sondern organisationale Gleichstellungspolitik. Als solche erhält sie in der Außendarstellung von Organisationen eine spezifische Funktion zur Darstellung von Gleichstellungspolitik, was im Folgenden nun über die Profit-AG hinausgehend hergeleitet wird.
10.5 „Aktiv fördern und fordern“
261
10.5 „Aktiv fördern und fordern“ Im Genderdax springt der Stellenwert, den Frauennetzwerke für organisationale Gleichstellungspolitik erhalten, in den Profilen der Unternehmen dieser aber auch anderer Branchen besonders ins Auge. Im Fragebogen wird das Vorhandensein interner Frauennetzwerke unter Punkt 5 „Promotoren“ abgefragt, vom überwiegenden Teil aller Unternehmen bejaht und mit recht ausführlichen Erläuterungen versehen. Da Netzwerken durch eine eigene Frage der entsprechende Raum in den Selbstdarstellungen gegeben wird, ist es umso auffälliger, dass Frauennetzwerke auch an anderen Stellen an- und ausgeführt werden. Ein Konzern setzt die Netzwerke an eine besonders prominente Stelle, in dem bereits beim ersten Punkt „Wie plant das Unternehmen die Förderung hochqualifizierter Frauen?“ erläutert wird: „Eine ausgeglichene Besetzung von Führungspositionen mit Männern und Frauen ist für jedes Unternehmen ein Erfolgsfaktor. Der [xy] Konzern erkennt dieses Potential bei der Besetzung und will es aktiv fördern und fordern. Dabei bilden Netzwerke eine wichtige Plattform für Sichtbarkeit und persönliche Weiterentwicklung. Es gibt in Deutschland [x] regionale Frauennetzwerke, deren Fokus auf der Förderung potenzialstarker Frauen, dem Einbringen von Ideen und Verbesserungsvorschlägen sowie dem Austausch untereinander liegt (…). Ebenso existieren ähnliche Frauennetzwerke in London (…) sowie New York (…). Inzwischen hat sich die Netzwerkarbeit über den innerbetrieblichen Rahmen hinausentwickelt und umfasst die Unterstützung von externen Frauennetzwerken wie das EWMD (…) oder BPW (…). Ziele der Netzwerkarbeit sind: die Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen, Förderung des Erfahrungsaustauschs über alle Alters-, Hierarchie-, Erfahrungs-, Interessen- und Bereichsebenen des Konzerns hinweg, Steigerung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie die Förderung einer integrativen Arbeitsumgebung. Dabei ist es essentiell, die Vielfalt im Unternehmen zu stärken, indem die persönliche und berufliche Entwicklung gefördert wird z.B. durch spezifische Weiterbildungsangebote für Frauen.“ (genderdax: Konzern 1) Im ersten Absatz wird, entsprechend der in Kap. 5.3 hergeleiteten Gleichstellungsnorm, ein Bekenntnis der Organisation zur Gleichstellung vorgewiesen über die der Chancengleichheit eingelagerte ‚Rationalität’ bzw. ihr „Potential“ als „Erfolgsfaktor“. Dem folgt eine Selbstverpflichtung zur Gleichstellungspolitik: Der Konzern „will es aktiv fördern und fordern.“ Dieses wird im nächsten Schritt mit Netzwerken beschrieben und ihnen zugeschrieben. Konkretisiert wird die Zielsetzung zum Einen über den „Austausch untereinander“ bzw. die „Förderung des
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
Erfahrungsaustauschs“. Zum anderen ist dieser Austausch eingepasst in eine Delegation von Gleichstellungsleistung von der Organisation weg zu Netzwerk(mitgliedern) über die Konzeption der eigenen Verantwortung von MitarbeiterInnen für ihre Karriere (vgl. „Dabei bilden Netzwerke eine wichtige Plattform für Sichtbarkeit und persönliche Weiterentwicklung“). Die Netzwerke dienen als Foren und Pfeiler individueller Karriereambitionen, die auf diesem Wege zu einer ausgeglichenen Besetzung führen (sollen). Gleichstellung ist in diesem Text also vorrangig gesetzt als Obliegenheit individuellen Engagements der Angestellten, die entsprechenden Positionen zu erreichen und nicht die von der Organisationsleitung oder Stabsstellen zu leistende Beseitigung struktureller oder unternehmenskultureller Hindernisse. Für die Eigenverantwortlichkeit der Angestellten stellen Netzwerke als ‚kollektive’ Eigenverantwortliche ‚Hilfe zur Selbsthilfe’ dar. Diese Konzeption von Gleichstellung als primär individuelle Leistung der ‚Sich-Gleichstellenden’ zeigt sich auch in den Zielformulierungen, die für die Netzwerke benannt werden: Die „Steigerung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben“ verweist auf die individuelle Berufskonzeption und ebenso: „indem die persönliche und berufliche Entwicklung gefördert wird z.B. durch spezifische Weiterbildungsangebote für Frauen.“ Das Netzwerk wird dann in einer Rückkopplung eingebunden in die organisationale Gleichstellungsarbeit durch das „Einbringen von Ideen und Verbesserungsvorschlägen“,229 die vom Netzwerk ausgehende „Förderung einer integrativen Arbeitsumgebung“ und einer ‚essentiellen’ Zielsetzung: „die Vielfalt im Unternehmen zu stärken“. Strukturelle Hindernisse für den Aufstieg von Frauen sind so rhetorisch aufgeweicht: Die Organisation – so wird vermittelt – wird vom Netzwerk mitgestaltet, starre Strukturen, ob informelle oder formale, gibt es damit per se nicht. Dies macht die Frage, inwiefern Strukturen ‚gendered’ sind, nachgerade überflüssig. Vielmehr hebeln die Flexibilität der Strukturen und die Bereitschaft ‚des Konzerns’, Ideen und Verbesserungsvorschläge aus den Netzwerken anzunehmen, ein grundsätzliches Hinterfragen organisationaler Strukturen aus. Kritik ist hier dem Modus Operandi der modernen Organisation unterworfen: Sie muss konstruktiv und umsetzbar sein. Eine oppositionelle (feministische) Haltung ist so nicht opportun und (utopische) Entwürfe einer ganz anderen Organisation haben ebenso wie bei Matern keinen Raum. Zusammengefasst werden also als Antwort auf die Frage „Wie plant das Unternehmen die Förderung hochqualifizierter Frauen?“ Karriereambitionen und Engagement von Frauen im Netzwerk als Gleichstellungsplanung und -arbeit der Organisation dargestellt.
229 wie Matern, der vom Netzwerk „Rückmeldung“ und Strategien erwartet (Interview Matern).
10.6 „Eine intelligente Verzahnung“
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Frauennetzwerken wird auch in den Genderdaxtexten der anderen Unternehmen dieser Branche eine solche (besondere) Bedeutung beigemessen. Der Stellenwert zeigt sich vor allem dann auch darin, dass unter dem letzten Punkt „Ausblick“ der Aufbau oder Ausbau von Netzwerken als eine von wenigen Maßnahmen vorgestellt wird, die die zukünftige Gleichstellungspolitik der Konzerne prägen soll: „Geplante Maßnahmen zur Förderung hochqualifizierter Frauen: - Schaffung eines internationalen [Mutterkonzern-]Netzwerkes (…) - Unterstützung der Netzwerkbildung - Wiederholende Thematisierung“ (genderdax: Konzern 2) „Als besonders wichtig sieht das Unternehmen folgende Maßnahmen: - Mentoring-Programme - Aktivitäten im Frauennetzwerk“ (ebd.: Konzern 3) Frauennetzwerke werden in der Branche also als sinnvolle, erfolgversprechende und vor allem zukunftsträchtige gleichstellungspolitische Instrumente gewertet.230
10.6 „Eine intelligente Verzahnung“ Zusammengefasst sind Frauennetzwerke als Parallelorganisationen angelegt und dienen nicht dazu Frauen in bestehende informelle Netzwerke (zwischen Männern) einzubinden. Wie anhand „Progress“ gezeigt, wird ein Netzwerken von Frauen durch Frauennetzwerk bzw. Netzwerkfrauen und Organisationsführung an die Organisation gekoppelt, indem aus oder auch statt informellen Netzwerkens eine betriebsinterne, formal strukturierte Organisation namens ‚Frauennetzwerk‘ entsteht. Die Frauen koppeln dieses an den Konzern über den Namen „Progress“ und die Darstellung von Loyalität und Zugehörigkeit des Netzwerks und der Netzwerkerinnen zum Konzern. Von Seiten ‚des Konzerns’ wird das Netzwerk an die Profit-AG gekoppelt durch finanzielle Unterstützung, zeitliche und örtliche Freiräume, Einbezug des Netzwerks in die Darstellung der Organisation, Anbindung an das Diversity-Team und die Schirmherrschaft durch ein Vorstandsmitglied. Die wechselseitige Kopplung von Frauennetzwerk und Konzern wird in zwei weiteren Schritten zu einer Entkopplung innerhalb der Gleichstellungspolitik der Organisation. D.h. das Netzwerk wird an die Organisation gekoppelt und so 230 Diese Bedeutungszuweisung an Netzwerke zeigt sich bei der Profit-AG auch daran, dass einer von drei Artikeln zu „Diversity“ in Profitables 4/2004 den Netzwerken gewidmet war. Dort wurde auch deutlich, dass das ‚neue’ Thema Vereinbarung von Familie und Beruf bei Vätern auch durch eine Netzwerkgründung angegangen wird.
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
Gleichstellungspolitik mittels des Netzwerks von der Organisation ein Stück weit gelöst. Im ersten Schritt ist das Netzwerk nicht (mehr) Selbstzweck, sondern wird zu einem Bestandteil organisationaler Gleichstellungsarbeit, indem zentrale Ziele der organisationalen Gleichstellungspolitik – insbesondere die Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen – zur Aufgabe des Netzwerks und als Erwartungen vom Management an das Netzwerk verbindlich gemacht werden. Im zweiten Schritt werden die dem Netzwerk nun angetragenen Aufgaben, auch als deren Funktion in der Gleichstellungsarbeit gesetzt. Das bedeutet nicht (unbedingt), dass Gleichstellungsarbeit nur oder überwiegend vom Netzwerk erwartet würde, weitere Programme nicht existierten, sondern dass das Netzwerk zwei wichtige Funktionen erfüllt, um Erwartungen an Organisationen abzufedern: die Darstellung zum Einen einer zeitgemäßen, zum Anderen einer erfolgreichen Gleichstellungspolitik. Die Organisation ist von der Erfüllung dieser Erwartungen auf diese Weise entlastet, ohne die Erwartungen zu brüskieren und damit Glaubwürdigkeit einzubüßen, wie im Folgenden konkretisiert wird. Die Funktion des Netzwerks bei der Darstellung einer zeitgemäßen Gleichstellungspolitik beruht darauf, dass sich die Vermarktung ‚innovativen‘ und ‚effizienten‘ ‚Diversitydenkens‘ mit dem altmodisch wirkenden Bild von Frauenförderung ‚beißt’. Nicht nur aufgrund einer ‚Modernisierungshierarchie‘ der Begriffe (vgl. Lederle 2008; Kap. 3.7), auch hinsichtlich einer effizienten Nutzung von Human Ressourcen erscheint ‚Frauenförderung‘ als solche nicht mehr legitim (vgl. Meuser 2009; Kap. 3.6). Durch die Übertragung der Frauenförderung auf Frauennetzwerke wird dies jedoch vereinbar: Denn bei Frauenförderung via Networking werden Frauen nicht zu defizitären Wesen und passiven Empfängerinnen von Unterstützung und Hilfe, sondern zu aktiven Leistungsträgerinnen, die ihre Karrieren eigenständig verfolgen und befördern, die schon auf diese Weise demonstrieren, dass sie wertvolle Potentialträgerinnen sind und damit ihre Förderung rentabel machen. Das Netzwerk als Arbeit neben der Arbeit (vgl. Selbstdarstellung Progress und Interview Krüger) harmoniert mit Zuschreibungen an Karriereträchtigkeit wie Tatkraft, Engagement, Zielstrebigkeit, Motivation über ‚9 to 5’ hinaus, zusätzlich zu den Boni kompetenter sozialer und beruflicher Vernetzung (z.B. ‚soft skills’, Wissenstransfer etc.). Rhetorisch kann Frauenförderung qua Netzwerk so an Diversity Management angepasst werden (Vgl. „Dabei ist es essentiell, die Vielfalt im Unternehmen zu stärken“ Konzern 1 im genderdax; Kap. 10.5). Frauennetzwerke bilden auf diese Weise einen ‚Adapter’ zwischen der ‚modernen’ Konzeption von Idealarbeitskräften und dem darin eingebetteten – insbesondere für internationale Konzerne wichtigen (vgl. Lederle 2008) – Leitbild ‚Diversity‘ auf der einen Seite und einer aktiven Orientierung an der Gleichstellungsnorm im Sinne der Vereinbarung zur Chancengleichheit (2001) auf der anderen Seite:
10.6 „Eine intelligente Verzahnung“
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„Der [xy] Konzern erkennt dieses Potential bei der Besetzung und will es aktiv fördern und fordern.“ (Konzern 1 im genderdax) „Die Unternehmen brauchen das Potenzial der gut ausgebildeten und motivierten Frauen, um im nationalen ebenso wie im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.“ (Vereinbarung 2001; vgl. 5.1). Neben der Legitimation als zeitgemäße Gleichstellungspolitik besteht die entlastende Funktion der Entkopplung mittels des Netzwerks hinsichtlich der Vermarktung einer erfolgreichen Gleichstellungspolitik – erfolgreich eben auch in dem Sinne, „wenn Sie Veränderungen nicht irgendwie messen können, (...) dann wird sie auch nicht passieren“ (Interview Matern). Um Veränderungen durch Gleichstellungspolitik zu messen, erscheint es (nicht nur Matern) naheliegend, dies an der Entwicklung des Frauenanteils in Führungsebenen festzumachen. Wie in Kap. 5.3 angeführt, wird die Entwicklung im Genderdax gar nicht abgefragt und für den aktuellen Geschlechterproporz besteht keine Antwortpflicht. Während alle anderen Felder in den Organisationsprofilen recht ausführlich gefüllt werden, wird diese Frage häufig gar nicht oder nur teilweise beantwortet.231 Im Laufe der Jahre (2005 bis 2010) werden diese Daten nicht verstärkt gefüttert, im Gegenteil: Immer mehr Organisationen nehmen die Zahlen zum Geschlechterproporz in den Führungsebenen aus den Darstellungen wieder heraus. An diesen Daten gemessen zu werden, ist offensichtlich wenig erwünscht, geschweige, dass der Erfolg der Gleichstellungspolitik (gezielt) darüber demonstriert würde. Die zweite Funktion der Frauennetzwerke, eine erfolgreiche Gleichstellungspolitik zu demonstrieren, besteht nun darin, dass organisationale Gleichstellungspolitik mit einem neuen Maß gemessen werden kann. Wie gezeigt, wird die Anzahl von Frauennetzwerken, ihre Überregionalität oder gar Internationalität, ihre Etabliertheit und Größe, sowie die Einbettung in weitere unternehmens- und konzernübergreifende Netzwerke in Zahlen und Worten abgebildet und vermarktet. Hier erscheint ein Erfolg messbar und demonstrierbar. Darüber hinaus liefert die interne Bedeutungszuweisung – also die Unterstützung durch die Führungsebene und die Bereitstellung von Ressourcen – ein sichtbares Zeichen für „aktiv fördern und fordern“ und trägt dazu bei, die Gleichstellungsleistung der Organisation auch ohne ‚Ergebnisse’ abbildbar zu machen. Der ‚Sinn’ organisationalen Gleichstellungsbestrebens, der Stellenwert von Gleichstellung und das Engagement der Organisationen erscheinen so unmittelbar verdeutlicht durch die Existenz von Netzwerken. Mittelbar kann dann auch die Leistung der Netzwerke ein sichtbares Zeichen bieten: Die Organisation des dritten Symposions in der Profit-AG durch das 231 Bei einer Organisation wird vermerkt: „Die quantitativen Angaben zu Punkt 9 [Frauenanteile in Führungsebenen] liegen der genderdax-Jury vor. Das Unternehmen wünscht jedoch nicht die Veröffentlichung im Internet.“ (Organisation xy im genderdax)
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
Frauennetzwerk vermittelt das Bild einer erfolgreichen Zusammenarbeit im Netzwerk und des wertvollen Beitrags des Netzwerks zur Gleichstellungspolitik. Entscheidend und grundlegend, damit die obigen Punkte als neues Maß der Güte organisationaler Gleichstellungspolitik glaubhaft wirken, ist, dass durch die Verlagerung der Verantwortung für die Erhöhung des Frauenanteils in die Eigenverantwortung von Frauen nun signalisiert wird, dass zwischen gleichstellungspolitischem Engagement ‚der Organisation’ und Ergebnissen im Sinne eines entsprechenden Geschlechterproporz in Führungsebenen nichtorganisationale Einflussgrößen bestehen. Individuelle Lebensplanungen von Frauen, ihre Vorstellungen und Wünsche bezüglich ihrer Karriere und ‚Vereinbarkeit’ mit Privatleben, ihre eigenen Leistungen, Leistungsbereitschaft, Fähigkeiten und Neigungen werden als wesentliche Faktoren herausgestrichen für ihre Anteile in Führungspositionen, was zugleich, wie oben gezeigt, ein modernes Verständnis von Gleichstellungspolitik suggeriert. Diese Faktoren gehören dabei nicht einfach allein in die Verantwortung der (netzwerkenden) Frauen statt der Organisation, vielmehr kann daran noch eine weitere Demonstration von Gleichstellungsengagement ‚der Organisation‘ angeschlossen werden, da so in der Organisation Raum geschaffen wird für extraorganisationale Belange ihrer (weiblichen) Belegschaft. Die Übertragung der Frauenförderung auf Frauen(netzwerke) macht eine Erhöhung des Frauenanteils so zu einem indirekten Ziel der Organisation, für dessen Realisierung sie Mittel zur Verfügung stellt, die aber der Verantwortung und individuellen Lebensplanung von Frauen obliegt. Dieses Verständnis von Gleichstellungspolitik kann dabei dann legitimiert werden als modern und als den Bedürfnissen, Wünschen und Leistungsvermögen der Frauen entsprechend (ebenso Mentoring; vgl. Kap. 9.3). Die in dieser Verlagerung eingelassene Grenzziehung zwischen persönlicher und organisationaler Verantwortung zeigt sich auch bei einer Konferenz, zu der die Profit-AG in Kooperation mit einer Stiftung im Herbst 2008 VertreterInnen aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft einlud: „Familie, Beruf, lebenslanges Lernen, Freizeit – brauchen wir einen neuen Balance-Begriff?“: „demographischer Wandel und Globalisierung verlangen nicht nur nach politischen Lösungen. Sie zwingen auch Unternehmen – unabhängig von Größe und Branche – zu neuen Strategien in der Personalentwicklung und Mitarbeiterbindung. (...) Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzen heute unterschiedliche Akzente im Zusammenspiel von Beruf und Privatleben und erwarten von ihrem Arbeitgeber, dass er sie darin unterstützt. Eine gute Umsetzung des Themas ‚Work-Life-Balance’ erfordert daher innovative Konzepte und eine intelligente Verzahnung zwischen den persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anliegen. (...) Wie können Unternehmen erfolgreich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf begleiten? (...)
10.7 „Was auch so die Stellung der Frau (...) fördern soll“
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Wie verändern sich die Rollenbilder zwischen Frauen und Männern? Wie wirken sich diese Entwicklungen auf die Zusammenarbeit im Unternehmen aus? “ (Einladung zur Konferenz 2008; Herv. KKH) Die zunächst zwischen persönlicher, politischer und organisationaler Verantwortung gezogene Grenze wird genauso wie mit der Kopplung des Netzwerks an den Konzern auch hier von Seiten der Organisation überschritten: Die durch die Grenzziehung entkoppelte Gleichstellungspolitik wird nun rückgekoppelt an die Organisation, indem sie Verantwortung für persönliche und gesellschaftliche Aufgaben übernimmt (vgl. auch Kap. 5.8; 9.2) – bereits durch die Organisation einer Konferenz mit genanntem Titel. Im Zuge des Legitimationserhalts in der Gleichstellungspolitik durch Verlagerung und Rückbindung erfolgt hier wie bei der Unterstützung der Netzwerke ein Legitimationsgewinn in der ‚modernen’ Personalführung, indem Bewusstsein darüber belegt wird, dass Frauen (und Männer) für ihre individuelle Lebensplanung, ihre veränderten „Rollenbilder“ und ihre ‚unterschiedlichen Akzentsetzungen’ Unterstützung und Begleitung von Unternehmen erwarten. Allerdings können die Angestellten dies selbstverständlich nur, wenn sie zu dem wertvollen Teil des Personals gehören, für den Strategien zur „Mitarbeiterbindung“ entwickelt werden, entsprechend also ihre Karriereträchtigkeit auch belegt ist– z.B. durch Netzwerkarbeit. 10.7 „Was auch so die Stellung der Frau (...) fördern soll“ Ebenso wie auf organisationaler Ebene kann auch in der Arbeitswirklichkeit einzelner Organisationsmitglieder die Übertragung der ‚Förderung von Chancengleichheit’ auf die ‚Zielgruppen‘ und ihre Netzwerke der Entkopplung dienen, wie im Beispiel der Schumachers. Schumacher ist Führungskraft der zweiten Ebene im UBZ. Sowohl im Team „Projektarbeit“ als auch bei eigenen MitarbeiterInnen, insbesondere weiblichen, ist er recht unbeliebt und wurde von verschiedenen Seiten in Interviews als Beispiel herangezogen für schlechtes Führungsverhalten und Ignoranz bzw. Abwehr gegenüber Gleichstellungsbemühungen.232 Zagermanns Haltung gegenüber Chancengleichheit und seine Sicht, dass er von allen MitarbeiterInnen erwartet, „dass sie sich diesem Grundsatz [alle nach dem Gleichheitsprinzip zu behandeln] auch unterwerfen und den auch aktiv leben“ (Interview Zagermann) ist in seinem Umfeld bekannt. Schumacher als Führungskraft der zweiten Ebene muss diese Erwartung daher entweder bedienen oder sich 232 „der Schumacher, der Schumacher (2) ist eigentlich jemand der mental nicht in den UBZ passt, ja? das ist einer, der durchaus egoman und egozentrisch ein- eigentlich eine typische Karrierefigur ist, wie ich sie nicht mag.“ Interview mit einem Mitglied der übergeordneten Ebenen.
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ihr gezielt auf eine legitimierte Weise entziehen. Im Interview zeigt sich ein ‚Sowohl als auch’ der Darstellung von Engagement für ‚Gleichstellung’ und sich dieser zu entziehen.233 Auf die erste Frage, was Chancengleichheit in der ProfitAG für ihn bedeute, antwortet er zunächst mit einer Gegenfrage: Schumacher: „Vielleicht meine Frage noch mal an Sie: auf welchen auf welche Zielgruppe bezogen? [I: „Egal“] generell?!! Ok, also abstrakte Frage, abstrakte Antwort (kurzes Lachen). Äähm, Also wenn ich an Chancengleichheit denke, denke ich zuerst immer mal an das Thema Chancengleichheit zwischen Mann und Frau, ja? Frauen und Männer im Beruf. Ne? äähm (2) gibt’s ja so verschiedene, ähm (1), Organisationen oder Gruppen, ja? in der Profit-AG, das Frauennetzwerk Progress zum Beispiel, was auch so die Stellung der Frau innerhalb der Profit-AG fördern soll, ja? ich habe mal mitbekommen, es gibt ein ähm Schwulen und leb-Lesbennetzwerk in der Profit-AG, der Name entfällt mir jetzt gerad, was in ähnlicher Weise operieren soll, ich denke das sind solche Ansätze, die eher innerbetrieblich von den Leuten heraus entsprechend entstehen. Ich finde das eigentlich ne ganz gute Sache, wenn dann ähm versucht wird über die Art und Weise ähm das Thema Chancengleichheit auf ne andere Ebene zu heben. Find ich gut. Ähm. (2) Wird auch teilweise vom Top Management propagiert und unterstützt, wobei ich mir ähm (1) ähm, oft auch die Frage stell, ob Chancengleichheit nicht oft auch etwas wie, etwas mit Gleichmacherei zu tun hat, also versuchen Gleichheit mit Gleichmachen zu verwechseln.“ (Interview Schumacher) Mit seiner Rückfrage ordnet Schumacher Chancengleichheit Zielgruppen zu. Die Offenheit in Hinsicht auf die Gruppen macht für ihn die Frage „abstrakt“. Seine „abstrakte Antwort“ nach einem üblichen Muster freier Assoziationen (vgl. „wenn ich an (...) denke, denke ich zuerst immer mal an (...)“) verstärkt den Abstraktionsgrad der Frage noch einmal und verortet sie so, dass er Chancengleichheit gerade nicht praxisnah „in der Profit-AG“ schildern muss. Dies eröffnet ihm die legitime Möglichkeit eine Antwort auch jenseits sozialer Erwünschtheit in der Organisation bzw. jenseits der unterstellten normativen und konkreten Vorstellungen der Interviewerin zu geben.234 233 Auch in Bezug auf meine Forschung tat er beides. Indem er sich zum Interview recht prompt bereit erklärte, entsprach er den Vorstellungen im Feld (vgl. Kap. 7.1f.) . Allerdings verschob er den Termin wochenlang, sagte kurzfristig ab etc.. Das Interview – auch wenn zu Beginn der Forschungsphase vereinbart – fand daher erst am vorletzten Tag des Aufenthaltes im Konzern statt. 234 Die vorsichtige Formulierung „vielleicht noch mal meine Frage an Sie“ und die zwischengeschobenen Rückmeldungserwartungen „ja?“ und „ne?“, sowie das kurze Lachen zeigen, dass Schuma-
10.7 „Was auch so die Stellung der Frau (...) fördern soll“
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Worauf sich die Chancen bezögen, was unter Gleichheit, was überhaupt unter Chancen zu verstehen sei, fragt er hingegen nicht. Damit klingt an, dass für Schuhmacher Chancengleichheit nur nach Personengruppen inhaltlich variiert, ansonsten ein festgeschriebenes Konzept sei (wie leer oder gefüllt auch immer). Die Frage nach Zielgruppen, statt zu fragen „zwischen wem?“, verortet Chancengleichheit nicht nur als Gruppenfrage statt als individuelles Thema, sondern setzt mittels des Begriffs „Zielgruppen“ Chancengleichheit mit einem ‚Produkt’ bzw. einer besonderen Dienstleistung gleich, die auf ein bestimmtes gruppenspezifisches Konsumverhalten abgestimmt ist. Im ‚freien Assoziieren’ stößt Schumacher auf die Achse Mann/Frau, bei der bereits durch die Betonung das Gewicht auf die Gruppe von Frauen gelegt wird. Dieser (auf diese Weise schiefen) Achse ordnet er nun das Thema Chancengleichheit zu. Die Thematisierung von Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen erfährt im folgenden Satz eine Konkretisierung in der organisationalen Wirklichkeit über die Benennung von „Organisationen oder Gruppen“. Die bereits durch die Betonung in eine Richtung der Achse weisende Thematisierung wird bei der Konkretisierung nun gänzlich in Richtung Frauen aufgelöst: Dem Frauennetzwerk wird die Aufgabe zugeschrieben, Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen herzustellen, indem die „Stellung der Frau [zu] fördern“ sei. Die Zielgruppe „Frau“ des ‚Produkts’ Chancengleichheit wird so auch gleichzeitig zur Produzentin gemacht über ihren Organisationsgrad als Netzwerk. Seine Stellungnahme „ich finde das ist eigentlich ne ganz gute Sache“ bezieht sich auf die „Art und Weise“ wie das Thema Chancengleichheit auf eine „andere“ nämlich eine Umsetzungsebene gehoben wird. Die Netzwerke werden von ihm angeführt als Instrumentarien zur Schaffung von Chancengleichheit und als gleichstellungspolitische Ansätze, die „innerbetrieblich“ und „von den Leuten heraus“ entstehen. „Innerbetrieblich“ grenzt diese Ansätze gegen externe z.B. gesetzgeberische Ansätze ab; „von den Leuten heraus“ verortet die Ansätze als organisierte ‚Selbsthilfe’, und grenzt sie somit gegen formal festgeschriebene, ‚von oben’, d.h. aus Führungsriegen konzernverbindlich gemachte Programme und Betriebsvereinbarungen ab. Dies entbindet Schumacher auch von einer potentiellen Verpflichtung das Schwulen-Lesbennetzwerk namentlich zu kennen bzw. mehr als ‚Hörensagen’ darüber zu wissen. Es ist nicht Teil seines subjektiv erlebten Arbeitsumfeldes und muss es so auch nicht sein. Die positive Bewertung spiegelt zum Einen die normative Konzeption von Chancengleichheit wieder und zum Anderen eine ‚Lösung’ diese Norm im Konzern umzusetzen, ohne sie in allgemeine Verpflichtungen, formale Rahmungen oder z.B. Zielvorgaben für Führungskräfte einzuschreiben. Entsprechend kritisch betrachtet Schumacher das Engagement einiger Mitglieder cher von ‚richtigen’ und ‚falschen’ Antwortmöglichkeiten ausgeht und sich der Einschätzung seiner Antworten unsicher ist.
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
des Top Managements und wertet es als „propagieren“ ab: als Versuch „Gleichmacherei“ unter dem Label „Chancengleichheit“ zu verkaufen. Chancengleichheit selber gerinnt bei ihm zu einem „Wortspiel“ und läuft inhaltlich leer: I: „Mhm. Wie erleben Sie das so in dem Arbeitsalltag hier?“ Schumacher: „(1) Chancengleichheit? (4) Also ich find, wenn man das auf den Begriff der Chancengleichheit konzentriert, hat jeder grundsätzlich, jeder hat die gleichen Chancen, ist bloß die Frage, wie sie ihm gegeben werden, also jeder hat die Chance auf gleiche Chancen. [I: Mhm] Ja? Das ist vielleicht so der- das Wortspiel, was dahinter liegt, ja? Äähm, es ist nur so die Frage, inwieweit er (2) in die Lage versetzt wird, die Chancen auch wahrzunehmen. Deswegen will ich das auch gar nicht abstrahieren, dass da die unterschiedlichen Gruppen, die das da innerhalb der Profit-AG machen, na gut, da könnten sich jede Gruppierung jeder Art bilden, die Gruppe- das Netzwerk der Azubis, das Netzwerk der über 50jährigen. Es ist immer die Frage, was das Individuum, ja? was die- was der- was der Einzelne unter Chancengleichheit versteht, wenn er darunter versteht, das ist ne Chancengleichmacherei, dann (1) seh' ich das eher als kritisch an. Ich weiß nicht wie’s Ihn-º“ (Interview Schumacher) Der Frage danach, wie er das im Arbeitsalltag erlebt, begegnet er mit der Konzentration auf den „Begriff der Chancengleichheit“ und bleibt mit seinem „Wortspiel“ und der Formulierung, er wolle das „auch gar nicht abstrahieren“ auf dieser ‚theoretischen’ Ebene. Chancengleichheit ist dabei beliebig interpretierbar und wird entsprechend geltend gemacht von für ihn willkürlich anmutenden Identitätsgruppen (vgl. „na gut, da könnten sich jede Gruppierung jeder Art bilden“). Die zuvor angesprochenen Achsen sind demnach nicht die Richtschnur, an der sich Chancengleichheit zu messen hätte, sondern durch die bestehenden Netzwerke hervorgebrachte Wertungsdimensionen, die keinen Objektivitätsanspruch haben (vgl. „was der Einzelne unter Chancengleichheit versteht“). Das individuelle Ziel wird von solchen Identitätsgruppen in ein Gruppenziel überführt: Chancengleichheit ist hier ein durch kollektivierte Interessenlagen definierter Bestand an Privilegien. Diese Wertung als potentielle ‚Chancengleichmacherei’ wird im Folgenden verstärkt, indem er die Arbeit solcher Netzwerk als Versuche „das lobbyistisch durchzusetzen“ bezeichnet: I: „Sie sprachen gerade von bestimmten Voraussetzungen, die gegeben sein müssen für Chancengleichheit, welche Voraussetzungen sind das? Schumacher: „Für Chancengleichheit?!? Ja, hab ich schon vorher gesagt, im Grunde genommen allen die gleichen Chancen bieten, wobei, das ist auch
10.7 „Was auch so die Stellung der Frau (...) fördern soll“
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ein utopischer Ansatz, ist das, [I: mhm] das ergibt sich aus, gerade im im im Betrieb, gibt’s ja, muss man um klar zu sein, da geht’s ja gar nicht um um um eine soziale, sozial oder s-s-soziale Gleichmacherei, da das ist gar nicht Prinzip einer Unternehmung. Da gibt’s Hierarchien, da gibt’s Kompetenzträger, ich meine im wirklichen Sinne von Kompetenz, nicht im Sinne von Leaderkompetenz, sondern in Form von erworbener Kompetenz und‘s gibt unterschiedliche Individuen, die unterschiedliche Chancen einfach haben und Chancengleichheit in dem Kontext zu betrachten, sag ich für mich, ja, das ist ein hehrer Ansatz, ne? manche Gruppen versuchen das lobbyistisch, innerbetrieblich lobbyistisch durchzusetzen, ja, oder vielmehr ihre jeweilige Gruppe zu unterstützen, aber im Grunde ist Chancengleichheit äh eher ne abstrakte Vorstellung von der heilen Welt, wo alle gleich sind, ja? Gleichheit, und es ist nun mal ne hierar- eee und die Wahrheit liegt hoffentlich anders, in der Regel in der Mitte, man könnt genauso auch von Chancenungleichheit, weil die Menschen sind alle so individuell und verschiedenen und das zieht sich auch wie nen roter Faden durch.“ (ebd.) Zentral für seine Argumentation ist sein Organisationsverständnis, in dem (Chancen-)Gleichheit diametral entgegengesetzt ist zu einem (fairen) freien Wettbewerb.235 Chancengleichheit herstellen wird als Gleichmacherei entwertet und mit ‚Utopie’, einer „abstrakten Vorstellung von der heilen Welt“ verbunden. Die Haltung wird damit nicht nur als unrealistisch, realitätsfremd oder – über den Angriff auf die Individualität – gar realitätsfeindlich, sondern auch als Phantasterei und damit als irrational abgetan. Gleichstellungspolitik wirkt für Schumacher nicht wie z.B. bei den Vorstandsmitgliedern auf die Priorisierung legitimer Diskriminierungskriterien gegenüber illegitimen hin. Vielmehr negiert sie als ‚Gleichmacherei’ Notwendigkeit, Wert und Sinn ökonomisch erforderlicher Unterscheidungen. Chancengleichheit kollidiert für ihn also mit dem „Prinzip einer Unternehmung“. Diese grundsätzliche Ablehnung gleichstellungspolitischen Strebens aufgrund seines Organisationsverständnisses wird bei Schumacher in der Antwort auf die Eingangsfrage aufgrund der normativen Aufladung von Chancengleichheit gebrochen. Diese lässt sich zum Einen auf die Interviewsituation beziehen, konkret: dass er einer Frau gegenüber sitzt, die zur Gleichstellung forscht und (damit unterstellt) Gleichstellungspolitik wichtig und notwendig findet. Zum zweiten ist er mit solchen Dispositionen bei Vorgesetzten, KollegInnen und MitarbeiterInnen im direk235 Das zeigt auch der Begriff „lobbyistisch“: Lobbygruppen bilden sich nicht aufgrund der Dringlichkeit oder Berechtigung ihrer Bedürfnisse, sondern auf Basis von im weitesten Sinne gesellschaftlicher Macht. Sie stehen einer ‚objektiv sachlichen’ Verteilung von Rechten und Pflichten, einem Anspruch an Politik ‚zweckmäßig’ auf das Wohl der Gesamtheit gerichtet zu agieren, entgegen. Sie sind im Modell bürokratischer Organisation keine legitimierten Machthaber.
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10. „Ist das nur sozusagen ein, ein Networking“
ten Arbeitsumfeld konfrontiert. Zum dritten werden solche Normen ‚außerbetrieblich’ und ‚aus der Organisation heraus’ generiert. Vor diesem Hintergrund eignen sich Netzwerke als „innerbetriebliche“ und „aus den Leuten heraus“ bestehende Umsetzungswege zur legitimierbaren Entkopplung normativer Vorstellungen und Ansprüche von seinem Arbeitsalltag. Die Abstraktion von recht konkreter Gleichstellungspolitik, so dass es nur noch um ein „Wortspiel“ geht, verlagert eine Auseinandersetzung mit dem Thema Chancengleichheit für ihn auf eine rein symbolische Reproduktion und so bedeutet für Schumacher Entkopplung von Gleichstellungspolitik in anderen Worten, „das Thema Chancengleichheit auf ne andere Ebene zu heben.“ (Interview Schumacher) 10.8 Organisation, Geschlecht, Gleichstellungspolitik Netzwerken von Frauen wird über den Organisationsgrad des Netzwerks in ein grundsätzliches Passungsverhältnis zum Konzern gebracht. Das spezifische Verhältnis, in das Geschlecht und Organisation im jeweiligen Verständnis gesetzt wird, ist daran anschließend die Achse, nach der sich Funktion(alisierung)en des Netzwerks unterscheiden. Wird Organisation als vergeschlechtlicht wahrgenommen, so bedarf es des Netzwerks, um diese Vergeschlechtlichung aufzubrechen oder zumindest als Gegenentwurf zu fungieren (vgl. Faltblatt Progress, Interview Maier, Interview Laetitia) – die Organisation muss zur Chancengleichheit hin ‚gefördert’ werden. In einem Verständnis von geschlechtsneutral (und rational) funktionierenden Organisationen dagegen dient das Netzwerk zur Frauenförderung. Hier trennen sich zwei Blickwinkel, die zwei verschiedene Funktionalisierungen hervorbringen: Krüger blickt auf verschiedene Frauen und deren unterschiedliche Karrierewünsche: Das Netzwerk ist hier Instrument der eigenen Karriere. Matern, Schumacher und ebenso die Selbstdarstellungen der Konzerne nehmen die Perspektive ‚der‘ Organisation ein. In dieser Sicht ist das Frauennetzwerk dann ein Instrument der organisationalen Gleichstellungspolitik. Im zweiten Schritt wird zwischen dieses Instrument und Ergebnisse von Gleichstellungspolitik, die sich in Frauenanteilen an Positionen ablesen lassen müssten, die nicht in der Hand von Organisationen liegenden Wünsche und Bedürfnisse von Frauen geschoben. Im dritten Schritt wird die Implementierung dieses Instruments dann zum Beleg für ‚gut und richtig‘ funktionierende Gleichstellungspolitik und damit selber zum Ergebnis organisationaler Gleichstellungspolitik. Auf diese Weise werden Erwartungen, die an organisationale Gleichstellungspolitik gerichtet werden – eine sichtbare Erhöhung des Frauenanteils in Führungsebenen – und damit die Verantwortung für die Erreichung dieses Ziels von Organisationen abgelenkt auf die Zielgruppe dieser Politik: Frauen.
10.8 Organisation, Geschlecht, Gleichstellungspolitik
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11 Schluss: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige
Gleichstellungsnorm, Gleichstellungspolitik und Gleichstellungsmaßnahmen wurden in Hinsicht auf das Verhältnis zwischen den Erwartungen an Organisationen in der Umwelt, der organisationalen Ebene und dem Alltag in der Organisation untersucht. Das Leitbild Geschlechteregalität wirkte sowohl auf organisationaler Ebene als auch im Arbeitsalltag auf eine Institutionalisierung der Gleichstellungsnorm hin, Gleichstellungspolitik schloss daran an und Gleichstellungsmaßnahmen folgten daraus. Es fand jedoch kein linearer Institutionalisierungsprozess ‚von oben nach unten’ statt. Vielmehr ist das Verhältnis von Leitbild, Formalisierung und Arbeitsalltag als Dreiecksverhältnis zu verstehen: Das Leitbild Gleichstellung dringt aus der Umwelt sowohl in den Arbeitsalltag als auch in die formale Struktur ein. Eine lose Kopplung zwischen Arbeitsalltag und formaler Struktur trägt zum Einen dazu bei, dass Gleichstellung im Arbeitsalltag nicht auf organisationale Maßnahmen reduziert wird und nicht nur als Aufgabe entsprechender FunktionsträgerInnen in Personalabteilung oder Betriebsrat verstanden wird. Zum Anderen zeigt sich, dass das Leitbild unterschiedlich gefüllt wurde. Aufgrund der losen Kopplung kann die Gleichstellungsnorm dann auch voneinander unabhängige Prozesse hervorbringen, wie z.B. Diversity Management auf der einen Seite und die Initiative für ein Frauennetzwerk auf der anderen Seite. Diese – und das macht die lose Kopplung aus – können dann aber wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen, z.B. indem das Frauennetzwerk formal angebunden wird oder ‚Diversity‘ als Ausdehnung von Chancengleichheit über diese „Frauensache“ (Interview Wilke) hinaus verstanden wird. Auch das Verhältnis von Leitbild zu Arbeitsalltag und von Leitbild zu formaler Struktur kann als wechselseitiges verstanden werden, da Organisationsmitglieder ihre Erfahrungen im Arbeitsalltag auch aus der Organisation hinaus tragen und die organisationale Gleichstellungspolitik auch auf Außendarstellung und Außenwirkung abzielt (vgl. Kap. 5.8; 9.2; 9.4). Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse zur Implementierung der Gleichstellungspolitik in der Profit-AG systematisiert. Daran schließt die Zusammenführung der Ergebnisse an, in welchem Verhältnis Gleichstellung zu Organisation und Geschlecht steht. Dies führt zum Kern der Fragestellung, wobei die in der Arbeit herausgearbeiteten Brüche und Entkopplungen in den Blick genommen
K. Hericks, Entkoppelt und institutionalisiert, DOI 10.1007/978-3-531-93345-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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11. Schluss: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige
werden. Es wird gezeigt, inwiefern Entkopplungen und symbolische Reproduktionen Umgangsweisen mit Dilemmata darstellen, die aufgrund divergierender Deutungsmuster bezüglich Geschlecht und Organisation für die Gleichstellungspolitik entstehen. Das zentrale Argument ist, dass (nur) auf diese Weise Institutionalisierung von Gleichstellung eine Lösung für das Problem, sich im Zweifelsfalle für das Richtige entscheiden zu müssen, darstellen kann. 11.1 Institutionalisierung und Legitimierung der Gleichstellungspolitik Die Implementierung von Gleichstellungspolitik zeigte sowohl die von Riegraf (1993) als auch die von Nentwich (2004) für Gleichstellung angeschlossenen Desiderata: Gleichstellungspolitik wurde in der Profit-AG implementiert, indem Bedürfnisse von MitarbeiterInnen eruiert wurden, und über die Hauszeitschrift und GebietskoordinatorInnen ein Kommunikationsprozess in die Breite angestoßen wurde. Gleichstellungspolitik wurde nicht nur dahingehend praktiziert, dass mehr Flexibilität von MitarbeiterInnen gefordert, sondern auch indem sukzessiv (wenn auch z.T. brüchig) die Vorstellung der idealen Arbeitskraft geöffnet wurde. Die Implementierung erfolgte a) durch das Anreichern mit Personal, b) Kommunikation und Information und c) durch Programme und Maßnahmen. Ad a) Anreichern mit Personal: Primär geschah das Anreichern mit Personal, indem zunächst ein Koordinierungsteam mit GebietskoordinatorInnen zuständig gemacht wurde, das später vom ‚Diversity Team‘ abgelöst wurde, was mit einer Anpassung der Gleichstellungspolitik an die formale Strukturierung der Organisation einherging. Neben der Verankerung in der Personalabteilung entstanden mit dem Betriebsratsausschuss „Chancengleichheit, Familie und Beruf“ und dem Frauennetzwerk weitere AkteurInnen der Gleichstellungspolitik. Über die formale Anbindung des Netzwerks an die Organisation bzw. die ebenfalls organisationalen Regeln entsprechende Ausschussbildung wurde diesen AkteurInnen eine Funktion in Hinsicht auf Gleichstellungspolitik in der Organisation zugewiesen, so dass auch dies als eine formaler Strukturierung entsprechende Anreicherung der Gleichstellungspolitik mit Personal gelten kann. Ad b) Information und Kommunikation: In der organisationsinternen Kommunikation wurde auf eine Veränderung der ‚Unternehmenskultur‘, den Abbau von stereotypen Zuschreibungen und letztlich auf eine Normalisierung und ‚ProfitAGisierung‘ von Gleichstellung und Chancengleichheit abgezielt. Hier zeigte sich für die Gleichstellungspolitik und ihre einzelnen Elemente ein Muster, mittels dessen gleichstellungspolitische Themen in der Organisation Raum erhielten und zugleich mit Legitimierungen versehen wurden. Gleichstellung und einzelne Aspekte wurden im offiziellen internen Kommunikationsmedium der Organisation
11.1 Institutionalisierung und Legitimierung der Gleichstellungspolitik
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‚Profitables’ als sozial, moralisch und/oder politisch legitimierte Themen aufgegriffen. Diese Legitimationen wurden in der Thematisierung vor allem über Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Persönlichkeitsrechte etc. expliziert. Die Themen stellten sich also zunächst als institutionalisierte Vorstellungen im Horizont der symbolischen Sinnwelt (vgl. Berger/Luckmann 1969) von Gesellschaft, Politik und Kultur dar. Darauf folgte eine Übertragung der Themen auf die organisationale Wirklichkeit, wobei über vier Wege das Thema an die Organisation angebunden und zugleich diese Anbindung legitimiert wurde.236 Es ist anzunehmen, dass gesellschaftliche Leitbilder stets über diese vier Wege in organisationale Leitbildern übersetzt werden. 1. Enttabuisierung: Der erste Weg kann als Enttabuisierung im Organisationskontext verstanden werden: Wesentlich war hier, dass das Aufwerfen eines Problems die Organisation nicht als Organisation infrage stellte. Beispielsweise erfolgte dies, indem die Ursachen außerhalb der (formalen) Organisation verortet wurden, z.B. indem die Ursache für Vereinbarkeitsprobleme von Beruf und Familie mit Familienpflichten erklärt wurde (vgl. u.a. Kap. 6.2ff.; 9.2),237 oder indem von mangelndem Netzwerken von Frauen gesprochen wurde, statt die bestehenden (Männer-)Netzwerke in der Organisation, ihre Schließung gegenüber Frauen oder ihre Legitimität zu kritisieren (vgl. u.a. Kap. 9.3; 10.1). Vor allem erfolgte die Enttabuisierung aber durch den Rekurs darauf, dass es sich um ein Thema handle, das generell für Organisationen gelte, also indem diskursiv eine mimetische Isomorphie (vgl. DiMaggio/Powell 1983) zwischen dieser und anderen Organisationen hergestellt wurde (vgl. u.a. Kap. 5.6; 6.1; 8.1; 9.3). Der Konzern war damit nicht nur keine schlechtere, sondern auch keine weniger ‚echte‘ Organisation. 2. Kopplung an typisierte AkteurInnen: Der zweite Weg bestand darin, den Zusammenhang zwischen dem Aufgreifen des Themas und der Funktion in der Organisation derjenigen, die dies thematisierten, herzustellen bzw. hervorzuheben, also Handelnde und Handlung wechselseitig zu typisieren (vgl. Berger/Luckmann 1969). Dies wurde immer dann augenfällig, wenn es sich nicht bereits um entsprechende FunktionsträgerInnen handelte. Es galt aber nicht weniger, dass nach Etablierung des Koordinierungsteams oder des in der Personalabteilung zentralisierten Diversity-Teams das Aufgreifen gleichstellungspolitischer Themen auch als The236 Die Legitimierungen bestanden insofern als vier Wege und nicht als vier aufeinander aufbauende Schritte, da sie verschiedene Dimensionen darstellen. Zusammen ergeben sie eine Rationalisierungskomplex im Horizont organisationaler Deutungsmuster. 237 Zunächst galt dies für einzelne Frauen, die Berufstätigkeit und Muttersein jeweils mit ‚ganzem Herzen‘ und Teilzeittätigkeit ausfüllen wollten, dann zunehmend generalisierend für Frauen und letztlich auch zunehmend, aber (noch) expliziert für Väter. Die Erklärung über Familienpflichten statt die Organisationsform infrage zu stellen, ist institutionell abgesichert über die auch materiell eingelassene (genauer: räumlich fixierte) Sphärentrennung. Diese wird jedoch durch die Einrichtung von Telearbeit auch etwas aufgeweicht.
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matisierungen durch legitimierte AkteurInnen in der Hauszeitschrift entsprechend markiert wurden z.B. über das Logo des aktuellen Projekts oder die Rubrik ‚personell‘. Beim Betriebsratsausschuss „Chancengleichheit, Familie und Beruf“ konnte bereits die Funktion als ArbeitnehmerInnenvertretung des Betriebsrats vorausgesetzt und zur Legitimation des Ausschusses genutzt werden. Darauf aufbauend wurde der Ausschuss mit der Thematisierung zusammen als neuer Akteur ‚typisiert‘. Beim offenen Brief 1987 wurden die vier Autorinnen im Vortext der Redaktion legitimiert, da ihnen als karriereorientierte weibliche Organisationsmitglieder, die auf einem „Management-Seminar mit der Lücke zwischen Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frauen im Beruf konfrontiert“ waren, zugesprochen wurde, dies ebenfalls aus ihrer Funktion in der Organisation heraus zu thematisieren (Profitables 3/1987). 3. Relevantsetzung: Der dritte Weg bestand darin, das jeweilige Thema als gegebene soziale Wirklichkeit in der Organisation darzustellen und damit organisationale Wirklichkeit sozial herzustellen. Hierbei wurden auch konkrete Zahlen genutzt, die als Beleg für die Existenz des Thematisierten dienten: Z.B. wurde im offenen Brief 1987 der niedrige Frauenanteil in Führungspositionen angeführt, per Umfrage eine interne ‚Mobbingquote‘ erhoben, oder eine Podiumsdiskussion abgehalten, um zu eruieren, welcher Bedarf bei Kinderbetreuung bestehe. Auf diese Weise wurde eine spezielle Situation (z.B.: es gibt wenig Frauen in Führungspositionen, oder: hier arbeiten Menschen, die Eltern sind) als virulent und damit als organisationsrelevantes Problem sozial konstruiert. 4. Rationalisierung: Der vierte Weg bestand darin, es in den Horizont derjenigen symbolischen Sinnwelt zu stellen, die nach Meyer und Rowan (1977) für Organisationen geltend gemacht wird. D.h. das Thema wurde an eine organisationale ‚Rationalität‘ angeschlossen, indem ihm im Rahmen organisationaler ‚Bedürfnisse’ eine sekundäre Zweckmäßigkeit (vgl. Gehlen 1950) zugeschrieben wurde. Dies erfolgte, indem es z.B. dem Personalmanagement oder einem arbeitsförderlichen Betriebsklima zugeordnet wurde, aber auch indem die Werbeanzeige der Profit-AG herangezogen wurde, die den Anspruch der Organisation signalisierte, Kompetenz unabhängig von Geschlecht zu verstehen. Diesem Muster, um das Thema in die organisationale Wirklichkeit einzuführen und dort zu legitimieren, folgte nicht nur die interne Kommunikation in der Hauszeitschrift, sondern auch die Rekonstruktion derjenigen Interviewten, die damals an der Einführung der Gleichstellungspolitik beteiligt waren wie der ehemalige Personalvorstand, die bereits Ende der 1980er freigestellte Betriebsrätin und die Gewerkschaftsfunktionärin (vgl. Kap. 5.5; 6.1). Die Rekonstruktionen derjenigen Interviewten, die nicht beteiligt waren, aber jetzt Gleichstellungspolitik verantworten wie der Vorstandssprecher, der Leiter der Personalabteilung, der Personalvorstand von 2005 und das Team ‚Diversity’ folgten diesem Muster dage-
11.1 Institutionalisierung und Legitimierung der Gleichstellungspolitik
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gen nicht mehr. Bei diesen zeigte sich der Anspruch organisationaler Gleichstellungspolitik bereits sedimentiert und der ‚Erkenntnisprozess’ verlief in die dem Institutionalisierungsprozess entgegen gesetzte Richtung (vgl. Berger/Luckmann 1969): In der mittels des Legitimationsprozesses hineingelegten Logik gebietet die organisationale ‚Rationalität’ Gleichstellungspolitik, was nun als Ursache dafür erscheint, dass typisierte Akteure (Personalbereich und Vorstand) dies frühzeitig ‚erkannt‘ und aufgegriffen haben, und ebenso versteht sich jetzt ‚von selbst’, dass es ein organisationsrelevantes Thema ist (vgl. Kap. 5.6f.). Die organisationale Gleichstellungspolitik ist nun die institutionalisierte Lösung zu einem als per se gegeben angenommenen Problem. Von den einzelnen Elementen der Gleichstellungspolitik zeigte im Verlauf der internen Kommunikation das Thema Wiedereinstieg den geringsten Legitimationsbedarf, es lief quasi nebenher, wurde frühzeitig in eine Betriebsvereinbarung eingelassen, in der Hauszeitschrift nur kurz thematisiert und bei den Reformen noch durch die Vorstellung der Inhalte unterfüttert. Den höchsten Legitimationsbedarf zeigt nach wie vor die Teilzeittätigkeit: Fast zwei Jahrzehnte nach der ersten Thematisierung werden immer wieder ‚Positivbeispiele‘ vorgestellt und wird immer wieder eine Anbindung an organisationale ‚Rationalität‘ durch die explizite Betonung der Arbeitsmotivation von Teilzeitkräften unternommen. Die Themen Wiedereinstieg und Teilzeittätigkeit sind beide seit Beginn der gleichstellungspolitischen Bestrebungen im Konzern dauerhaft formal verankert, gesetzlich gestützt und auf Familienfreundlichkeit ausgerichtet. Die anderen Themen erscheinen gegenüber Teilzeit wesentlich weniger legitimierungsbedürftig. Dies zeigt, dass eine Gleichstellungspolitik in der Profit-AG, die auch Benachteiligungen von Frauen, Diskriminierungen qua Geschlecht oder wie beim ersten Symposium vergeschlechtlichte Strukturen organisationsöffentlich zur Sprache bringt, anders als in Nentwichs (2004) Untersuchung, nicht problematischer oder illegitimer sein muss als eine Orientierung auf Familienfreundlichkeit. Es lässt sich die Vermutung anschließen, dass das Geschlecht der Idealarbeitskraft, aber auch die ununterbrochene Erwerbsbiographie an Bedeutung einbüßen, die Vollzeittätigkeit und ein Engagement über ‚nine to five‘ hinaus hingegen einen unverändert hohen Stellenwert haben. Ad c) Programme: Gleichstellungspolitik wurde in Form konkreter Projekte, Maßnahmen und Betriebsvereinbarungen implementiert. Diese waren sowohl auf Familienfreundlichkeit (für Mütter und Väter) ausgerichtet, als auch als Frauenförderpolitik und als Strukturpolitik angelegt, die insbesondere mit der Betriebsvereinbarung gegen Mobbing, sexuelle Belästigung und Diskriminierung auf Veränderung informeller Strukturen abzielten. Bei den einzelnen Maßnahmen sticht zunächst ins Auge, dass der Großteil auf Bedarfsfälle gerichtet ist, d.h. nur als Ressourcen zur Verfügung gestellt werden:
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So können Personen den Netzwerken beitreten, Wiedereinstiegsprogramme oder Leistungen zur Kinderbetreuung in Anspruch nehmen, sich an Symposien beteiligen oder für das Cross-Mentoring bewerben. Nur die Betriebsvereinbarung gegen sexuelle Belästigung, Mobbing und Diskriminierung stellt eine allgemein verpflichtende Regelung dar. Der auf den ersten Blick entscheidende Unterschied relativiert sich jedoch aufgrund der losen Kopplung zwischen Vorgaben und Arbeitsalltag: Die Frage, ob Regelungen im Arbeitsalltag angenommen werden, ob ‚rule following‘ erfolgt, ist mit der Formalisierung einer Regel noch nicht gesagt (vgl. Ortmann 2004). Nicht nur im Team Projektarbeit und bei Zagermann werden Regeln nicht stringent befolgt. Eine Regelauslegung, die Ausnahmefälle informell etabliert, muss wie im Falle der von Zagermann explizit aktivierten Regeln zur Nutzung elektronischer Medien nicht einmal „unter der Hand“ (Ortmann 1995) geschehen, sondern kann in der Öffentlichkeit einer Betriebsratsversammlung erfolgen (vgl. Kap. 8.6). Zu den Bedingungen, unter denen eine Regelbefolgung erfolgt, gehören nicht nur ihre Sanktionsmöglichkeiten bzw. die Anwendung dieser, sondern vor allem die informelle Akzeptanz, bzw. ihr Institutionalisierungsgrad im Handeln (vgl. Zucker 1977; ausführlicher in Kap. 11.4). Die Implementierung von Gleichstellungspolitik auf der Basis von ‚Common Sense‘, Kommunikation und der Bereitstellung von Ressourcen erscheint daher nicht weniger – wenn auch andererseits vielleicht nicht mehr – geeignet eine Kopplung herzustellen: So zeigten sich beispielsweise das Verständnis von sexueller Belästigung, die Wahrnehmung mangelnden Netzwerkens statt von Kompetenzdefiziten bei Frauen (Cross-Mentoring) und die Annahme einer grundsätzlichen Leistungsbereitschaft von Teilzeitkräften deckungsgleich in Maßnahmen und Alltagsverständnis, was wiederum darauf hinwirken kann, dass die Ressourcen auch genutzt werden und daran anschließende weitere Maßnahmen auf breitere Akzeptanz stoßen. In der Formulierung von Gleichstellungspolitik in der internen Kommunikation, in den Maßnahmen und nicht weniger im Arbeitsalltag wurde Chancengleichheit herzustellen als Aufgabe vieler gewertet: Dies reichte von ‚dem’ Konzern, also der Erwartung, dass Gleichstellungspolitik formal implementiert werde, über die Zuschreibung dieser Aufgabe an Führungskräfte bis hin zur Erwartung, dass alle Organisationsmitglieder dazu beizutragen haben. Die in der Geschlechterforschung seit der Entwicklung der Gleichstellungspolitik von Frauenförderung bis Gender Mainstreaming und Diversity Management konstatierte Übertragung der Gleichstellungsarbeit von der Organisation auf Frauen (vgl. Hausen/Krell 1993; Meuser 2004; 2009; Nentwich 2004) zeigt sich in der Gesamtschau der Maßnahmen der Profit-AG nicht und wurde auch im Beobachtungshorizont und in Interviews für Gleichstellung allgemein nicht geltend gemacht. Sie findet sich aber zum Einen darin, dass mit der Errichtung von Funktionsstellen eine Feminisierung organisationaler Gleichstellungsarbeit forciert wurde, wobei durch die Funktionsstellen
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eine Abwanderung von Macht stattfand, der die Feminisierung folgte. Wie für die Stellen der Frauenbeauftragten moniert (vgl. Bednarz-Braun 2000; Müller 2005; Riegraf 1997), trägt eine solche Feminisierung dazu bei, dass eine Beschäftigung mit dem Thema aus dem (männlichen) ‚Mainstream’ abwandern kann und an Stellenwert (weiter) einbüßt. Die Übertragung von Gleichstellung auf Frauen in der Form, die Belinszki (2002) und Nentwich (2004) für die von ihnen untersuchten Organisationen durchgängig konstatieren, dass die Gleichzustellenden (i.e. Frauen) selber für ihre Gleichstellung Sorge tragen (sollen) und Männer nur als Beobachter oder Unterstützer, nicht aber aktiv an Gleichstellung beteiligt sind, wurde in der Profit-AG nur beim Frauennetzwerk abgerufen. Weder im Beobachtungshorizont, in dem sich zwei Mitglieder des Frauennetzwerks befanden, noch in den Interviews wurde – außer bei Schumacher – daran angeschlossen, dass Gleichstellung in der Profit-AG daher nur eine Angelegenheit von Frauen oder weiteren benachteiligten Gruppen sei. Auch Vorstandsmitglied Matern, der das Netzwerk zur Frauenförderung instrumentalisiert, nutzt das Netzwerk nicht zur Entkopplung von seiner Vorstandstätigkeit, sondern in Entsprechung zu seiner Vorstandsfunktion als ‚Management by objectives‘. Für die Frage, inwiefern Gleichstellungspolitik an Zweigeschlechtlichkeit angeschlossene oder anschließbare kategoriale Differenzierungen von Männern und Frauen im Arbeitsalltag reproduziert, ist neben der Frage, mit welcher Vorstellung von Geschlecht in die Entwicklung der Gleichstellungspolitik hineingegangen wird, auch die Frage wichtig, mit welcher Vorstellung von ‚Chancengleichheit‘ dies erfolgt. Hier trennte sich die Auffassung von Chancengleichheit als Gleichbehandlung einerseits und gleichem Status andererseits. Ersteres bedeutet, dass eine Herstellung von Chancengleichheit, also Gleichstellung als ungleiche Behandlung problematisch ist und darüber legitimiert werden muss, dass sie Defizite ausgleicht. Diese Defizite müssen dann auch irgendwo gefunden werden, was bedeuten kann, dass sie bei der Geschlechtskategorie ‚Frau‘ verortet werden, muss aber nicht. In der frühen Phase der Gleichstellungspolitik und in Vorstellungen über die Funktion des Netzwerk(en)s werden/wurden Defizite an formalen und/oder informellen Strukturen festgemacht, indem sie als vergeschlechtlicht oder geschlechtsexklusiv verstanden werden (vgl. Kap.6.1ff.; 7.8; 10.3). In der Betriebsvereinbarung gegen Mobbing, sexuelle Belästigung und Diskriminierung werden Defizite in der Gleichbehandlung fokussiert, d.h. im diskriminierenden Verhalten, bzw. bei den ‚Mobbern‘ verortet. Dabei wird von Geschlecht(ern) abstrahiert auf Verhaltensweisen, so dass das Abrufen dichotomer Geschlechterbilder nicht notwendig wird und im Arbeitsalltag auch nicht angenommen: Hier ist die erotisierende Darstellung eines Männerkörpers nicht weniger verpönt als von Frauenkörpern und die Praktikantin kann den Chef nicht weniger ‚belästigen’ als ein Mitarbeiter eine Kollegin.
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Die Sichtweise, dass Chancengleichheit die aktive Herstellung gleicher „Startbedingungen“ (Interview Maier) voraussetzt, wirft das Problem, dass es einer Rechtfertigung ungleicher Behandlung bedarf, nicht auf, aber ein anderes: die Frage, an wem man wie zur Förderung ansetzt. Hier erfolgt eine Fokussierung auf Personen und personenbezogene „Ausstattung“ (Interview Maier). Dies kann im Arbeitsalltag individualisiert erfolgen, wobei es dort nicht legitim erschien, Re-Naturalisierungen und statistische Diskriminierungen an die Geschlechtszugehörigkeit zu haften. In formalen Vorgaben funktioniert das nicht. Maßnahmen die Personen fördern sollen, müssen auf Personengruppen abzielen, d.h. hier bedarf es des Rückgriffs auf soziale Kategorisierungen. Bei Maßnahmen zur Förderung von Eltern oder karriereorientierten Frauen wurden die Kategorisierungen jedoch weitgehend ohne Essentialisierungen relevant gemacht (vgl. Kap. 9). Mit essentialisierendem Gehalt findet sich die Vorstellung, dass unterschiedliche Personengruppen auch unterschiedlich behandelt werden sollten, in der Konzeption von Diversity Management (vgl. Kap. 6.5f.). Diese Implikationen drangen jedoch nicht in die Konkretisierung der Gleichstellungspolitik mittels Maßnahmen ein (vgl. Kap. 9). 11.2 Organisation, Geschlecht und Gleichstellung Auf allen Ebenen zeigte sich, dass Institutionalisierungen von Gleichstellungsnorm, Gleichstellungspolitik und einzelnen Maßnahmen eine sekundäre Zweckmäßigkeit (Gehlen 1950) für die Organisation entfalten: Zum Einen dient die Reproduktion der Gleichstellungsnorm zur Darstellung rationaler Organisation und damit verbunden des meritokratischen Prinzips, indem sie auch karriereträchtige Frauen fördert. Zum Zweiten dient sie der Lösung von Organisationsproblemen, indem die organisationale Gleichstellungspolitik Dissensen zwischen Arbeitskräften thematisierbar und regulierbar macht (vgl. u.a. Kap. 6.4), und durch die Reproduktion der Gleichstellungsnorm im Arbeitsalltag Dissensen als ‚Geschlechterkämpfe’ zu einem harmlosen Spaß werden. Auf diese Weise kann die Kooperation von Unstimmigkeiten entlastet werden. Zum Dritten dient sie der Enttabuisierung und Kanalisierung virulenter Themen in der Organisation wie Unzufriedenheit von Arbeitskräften, Sexualität und Familie. Damit verbunden sind die Funktionen, die die Institutionalisierung von Gleichstellung für die Geschlechterverhältnisse erfüllt. Das Eindringen des ‚anderen Geschlechts’ führt zu eben diesen Problematisierungen von Sexualität und Familie (vgl. auch Nentwich 2003), zu Dissensen, „Boundary Hightning“ (Kanter 1967) oder ‚Geschlechterkämpfen’. Die Enttabuisierung der Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Organisationskontext durch Gleichstellungspolitik ermöglicht einen Umgang mit den Problematisierungen der
11.2 Organisation, Geschlecht und Gleichstellung
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Geschlechterverhältnisse, dabei gleichzeitig eine Restabilisierung von Geschlechterdifferenzierungen und eine Neuordnung der Geschlechterverhältnisse. Wie im Forschungsstand gezeigt, wird in den neueren Forschungen und aktuellen Diskussionen zum Verhältnis von Geschlecht und Organisation sowie zur Gleichstellungspolitik die soziale Konstruktion von Geschlecht in Organisationen herausgearbeitet. Dabei wird gefragt, wie Geschlecht in Organisationen hergestellt wird und welche Bedeutung der Kategorie Geschlecht zugewiesen wird, statt Alltagswissen über Geschlecht(er) hineinzutragen, wie dies bspw. bei den Konzepten Gender Mainstreaming und Diversity Management kritisiert wird (vgl. Gildemeister/Robert 2003; Meuser 2009; Wetterer 2003). Aus dieser Perspektive wird es möglich zu untersuchen, wie im Feld Geschlecht mit Bedeutung versehen wird, so dass die Achse Differenz/Gleichheit in der Empirie systematisch in den Blick genommen, das Verhältnis zwischen diesen Deutungsmustern herausgearbeitet und ihre Bedeutungen für Gleichstellung untersucht werden kann. Für das Verständnis von Organisation gilt dies in der Forschung zu Organisation und Geschlecht nicht: Ein Organisationsbegriff wird kaum konturiert, vielmehr wird zumeist ein funktionalistisches Organisationsverständnis implizit vorausgesetzt. Aber auch für die Perspektive auf Organisation gilt, dass ein Anschluss an ein Alltagsverständnis von Organisation und eine Vorabsetzung eines „rationalistischen und instrumentalistischen“ Organisationsbegriffs (Ortmann et al. 1997: 15) den Blick verstellt auf die Konstruktionsprozesse, in denen Organisation hergestellt wird In der vorliegenden Arbeit wurde mit dem organisationssoziologischen Neo-Institutionalismus daher ein Organisationsverständnis vorgestellt, dass diese Sicht hinterfragt und den Blick öffnet für eine empirische Rekonstruktion der Konstruktion von Organisation im Feld. Dabei zeigte sich für Organisation nicht weniger als für die Kategorie Geschlecht, dass, wenn Forschung nicht vorab ein Deutungsmuster in die Empirie hineinträgt, sie dafür sensibilisiert sein kann, wann das Deutungsmuster tatsächlich aktualisiert wird, welche anderen Sichtweisen auch eine Rolle spielen können und wie unterschiedliche Deutungsmuster situativ und kontextabhängig relevant werden können. An die unterschiedlichen Deutungsmuster zu Organisation wird ebenfalls Gleichstellungspolitik unterschiedlich angeschlossen und sie bergen nicht weniger verschiedene Dilemmata für Gleichstellungspolitik als unterschiedliche Vorstellungen von Geschlecht. Dabei sind die Verbindungen zwischen den verschiedenen Organisationsverständnisse und den unterschiedlichen Vorstellungen von Geschlecht nicht beliebig. Die verschiedenen Sichtweisen auf Organisation werden im Folgenden ebenfalls anhand einer analytischen Achse differenziert: Auf der einen Seite der Achse wird Organisation über Organisationszweck und die Mittel zu seiner Erreichung definiert. Dies wird in Anlehnung an das funktionalistische Paradigma im Folgenden als ‚funktionalistisches’ Deutungsmuster gefasst. Auf der anderen Seite wird
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Organisation über Interaktionen definiert und damit einhergehend als „Gemeinschaft, die ein Unternehmen nun mal darstellt“ (Interview Belz; vgl. Kap. 5.5). Dies wird im Folgenden als ‚soziales’ Deutungsmuster gefasst, da die Betonung der sozialen Beziehungen und das Verständnis als eine soziale Einheit die Gemeinsamkeit dieser Sichtweisen auf Organisation darstellt. Die verschiedenen Deutungsmuster produzieren unterschiedliche Erwartungen und Ansprüche an die konkrete Organisation und die Gleichstellungspolitik. Im ‚funktionalistischen‘ Deutungsmuster sollen Menschen die zum Organisationszweck geschaffenen Strukturen ‚verlebendigen‘ (vgl. Gukenbiehl 1995). Im ‚sozialen‘ Deutungsmuster dienen Strukturen dagegen dazu, das Miteinander zu regeln. Entsprechend lassen sich zunächst grundlegend verschiedene Imperative beschreiben,238 die jeweils für die Organisation geltend gemacht werden. Im ‚funktionalistischen‘ Deutungsmuster gelten die Imperative Rationalität und Effizienz. Nach diesen werden sowohl die Organisation als auch alle sie betreffenden Prozesse bewertet. Im ‚sozialen‘ Deutungsmuster gelten Imperative des guten und richtigen Miteinanders. Dementsprechend sind hier soziale und moralische Imperative zu finden, die in Analogie zu, in Übertragung von oder dem Hineintragen aus der Lebenswelt der Mitglieder (insbesondere der Privatsphäre) gebildet werden, so dass direkter (Hineintragen) oder indirekter (Analogiebildung) auch Imperative der Privatsphäre in der Organisation geltend gemacht werden.239 In diesem Deutungsmuster können Grenzen zwischen Organisation und Umwelt sowie zwischen Erwerbs- und Privatsphäre verwischen:240 ‚Privatleben‘ (und dazu zählen auch Gefühle) wie romantische Liebe, Familie, Sexualität oder besondere Sympathien wie Freundschaften dürfen in die Organisation eindringen: virtuell, z.B. per Mail (wie bei der Tante; vgl. Kap. 8.6) oder als Gesprächsthema, ebenso wie real, z.B. Kinder in „ProKids“ oder Sexualität in einem ‚regulierten‘ Maß. Andersherum darf (stellenweise soll) ‚die Organisation‘ in das Privatleben eindringen, z.B. indem die ‚Gemeinschaft‘ auf private Belange Rücksicht nimmt (so z.B. bei Teilzeit und Telearbeit) und private Probleme und Nöte mitzutragen bereit ist z.B. Fürsorge für 238 Der Begriff der Imperative wird genutzt, um die Handlungsverbindlichkeit zu verdeutlichen, ohne wie im Begriff der Maßgabe zu suggerieren, es gäbe eine Messlatte, an der sich festmachen ließe, wann das Soll erfüllt sei. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass dies nebulös und/oder in unerreichbare Ferne gerückt ist und das ‚richtige Maß‘ von den AkteurInnen situativ erkundet, ausgehandelt, bestimmt und so immer wieder neu angelegt wird (vgl. Kap. 2.6). 239 In Analogie zur Privatsphäre bildet bspw. Belz den Imperativ eines emanzipativen Führungsstils (vgl. Kap. 5.5). „Verständnis [als] die Grundlage für Wertschätzung und Vertrauen“ (vgl. Kap. 7.2) wird bei Zagermann auf Zusammenarbeit (Kollegialität) übertragen. Hineingetragen aus der Lebenswelt werden bspw. Partnerschaftlichkeit, Ebenbürtigkeit und Freundschaft. 240 Vgl. exemplarisch: „Ich würd da auch wieder nicht den Arbeitsalltag so differenzieren, zu dem was man normal, also was man im Leben vorher, also an der Schule, an der Uni oder sonst im Privaten erlebt“ (Interview Wilke; vgl. Kap. 7.2).
11.2 Organisation, Geschlecht und Gleichstellung
283
Kinder (vgl. u.a. Kap. 5.5), aber auch die Existenznot der Person, die Gelder veruntreute (vgl. Kap. 8.6). Im ‚funktionalistischen‘ Deutungsmuster dagegen ist die Privatsphäre von der Organisation scharf getrennt: Gefühle, Verwandtschaft und Sexualität sollen dem Imperativ der Rationalität gemäß keine Rolle in der Organisation spielen, sondern gelten als Störfaktoren für ihr Funktionieren.241 Die Deutungsmuster unterliegen Situationen, sie sind kontextabhängig und können je nach (Argumentations-)Bedarf von AkteurInnen aufgegriffen werden. Welches Deutungsmuster wann unterliegt, ließ sich weder an Positionen oder Funktionen festmachen, noch zeigte es sich deckungsgleich mit der Differenzierung zwischen formaler und informeller Struktur. Geschweige, dass nur das eine oder das andere die Entwicklung von Gleichstellungspolitik gelenkt hätte, sich in der Außendarstellung oder internen Dokumenten spiegelte, wurde auch von einzelnen AkteurInnen nicht (notwendigerweise) ausschließlich eines der beiden Deutungsmuster genutzt, sondern situativ konnte das eine oder das andere zum Tragen kommen. Beispielsweise liegt den Aussagen des Vorstandschefs Jansen weitgehend das ‚funktionalistische‘ Deutungsmuster zugrunde (vgl. Kap. 5.7), doch bei dem Kindergarten, bei dem der Konzern „ein bisschen Gutmensch“ (Interview Jansen) ist, werden die Imperative des ‚sozialen‘ Deutungsmusters geltend gemacht. Das „Dilemma“, in dem „unsere Frauen (...) stecken“ (ebd.), wird außerhalb der Organisation angesiedelt, aber nun organisational aufgefangen und somit auch hier die Grenze zwischen Organisationsbelangen und Privatsphäre aufgeweicht (vgl. Kap. 9.2). Dies wird dann eingepasst in die Gesellschaft, an der wiederum Organisationen als ‚corporate citizens‘ teilhaben. Das ‚soziale‘ Deutungsmuster wird so auch über die Organisation hinausgetragen (vgl. Kap. 5.8 und 9.2). Im Team Projektarbeit (und ihren Projektteams) unterliegt dem Arbeitsalltag weitgehend das ‚soziale‘ Deutungsmuster, wobei der Arbeitsinhalt im Beobachtungszeitraum an den Imperativen des ‚funktionalistischen‘ Deutungsmusters orientiert war. Insbesondere der Imperativ Effizienz wird dort bedeutsam gemacht. Darauf soll kurz eingegangen werden, da dieser in der Grundlegung des Konzepts der Entkopplung als entscheidend gewertet wird (vgl. Kap. 2.7). Effizienz wurde in diesem Team entgegen des Konzepts Meyers und Rowans (1977) nicht als Bedingung im Arbeitsalltag aktualisiert und daher auch nicht für Entkopplungen rationalisierter Mythen vom Arbeitsalltag relevant. Vielmehr fungierte eine Vorstellung von Effizienz (nur) als Vermittler zwischen dem Organisationszweck und dem Imperativ der Zusammenarbeit. Das Projekt zur Organisationsentwicklung trug 241 Vgl. exemplarisch Ricci: „Ähm ich bekomme oft zu hören (...), allein, wenn ich Besucher habe, Besucher, heißt es, ich soll keine männlichen Besucher bei mir haben, weil es könnte, die anderen könnten denken, ich würde flirten. (...)“ I: „Von wem bekommen Sie das gesagt mit dem Flirten?“ Ricci: „Von meinem Vorgesetzten.“ (Interview Ricci). Ihr Vorgesetzter ist Schumacher, dessen Sicht auf Organisation dem ‚funktionalistischen’ Deutungsmuster folgt (vgl. Kap. 10.7).
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11. Schluss: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige
den Begriff Effizienz bereits im Namen. Dort wurden MitarbeiterInnen und Führungskräfte danach befragt, was sie als Effizienzhindernisse sehen und wie sie sich einen effizienteren Arbeitsablauf vorstellen könnten.242 In den beiden anderen Projekten ging es inhaltlich darum, funktionale Differenzierung optimal zu nutzen. Die Hausmesse sollte die Nutzungsmöglichkeiten der internen Dienstleistungen verdeutlichen. Das Projekt der Wissensvernetzung sollte Fachwissen und Kompetenzen zugänglich machen und die Suche nach ExpertInnen beschleunigen. Was die drei Projekte über den Imperativ der Effizienz an eine funktionalistische Logik anschlossen, war in jedem der Projekte der im Arbeitsalltag gültige Imperativ der guten Zusammenarbeit: Inhalt, Vorgehensweise und Ergebnisse der Projekte waren die gegenseitige Wertschätzung, die Verbesserung der Kommunikation über den Informationsaustausch hinaus, letztlich die Betonung des Zusammenarbeitens in der Verknüpfung mit dem Projektziel des Zusammenarbeitens. Die Füllung der Gleichstellungsnorm und die Legitimation von Gleichstellungspolitik folgen in den jeweiligen Deutungsmustern den Imperativen entsprechend. Im ‚sozialen‘ Deutungsmuster ist Gleichstellung gekoppelt an Gleichberechtigung, Partnerschaftlichkeit, Ebenbürtigkeit. Die Güte von Gleichstellungspolitik ist dementsprechend daran gebunden, dass bspw. Frauen und Männer gleich behandelt werden oder gleiche Chancen erhalten, in ihren Karrieren nicht behindert werden und ihre Arbeit mit ihrer Familie vereinbaren können. Dies ging u.a. für den ehemaligen Personalvorstand, die Mitarbeiterinnen, die den offenen Brief verfassten und den Betriebsratsausschuss mit dem Anspruch einher, die Gleichstellungsnorm in formale Strukturierung einzulassen. D.h. die Implementierung in formale Vorgaben wurde erwartet und – je nach Funktion und Position – auch geschaffen. Im Arbeitsalltag des Teams Projektarbeit (und seinem Umfeld) hingegen wurde diese Kopplung nicht hergestellt oder vorausgesetzt. Der moralische Imperativ der Gleichberechtigung wurde ebenso wie bei den oben genannten Personen in die Organisation hinein, jedoch nicht primär an formale Strukturen herangetragen. Vielmehr wurde die Gleichstellungsnorm im Horizont guter Zusammenarbeit informell bedeutsam gemacht und institutionalisiert. Das ‚funktionalistische‘ Deutungsmuster wirkte sich auf eine Institutionalisierung der Gleichstellungsnorm als ökonomisch sinnvoll bis hin zu einem Rationalitätsmythos aus. Das Leitbild zeigte sich zumindest insofern wirkmächtig, als dass Organisationen in entsprechenden Foren (also mindestens zeremoniell) vorwiesen, Gleichstellungspolitik zu betreiben. Für die Profit-AG wurde gezeigt, dass der Glaube an die ökonomische Rationalität von Gleichstellung durchaus Bestand hatte – nicht nur auf Ebene der Repräsentanz der Organisation (vgl. Interview Krüger; Kap. 7.2). Insofern der Glaube fehlte, wurde ihm soweit ein Zwangscha242 Das Projekt trug insofern den Imperativ Effizienz auch an den Arbeitsalltag der Befragten heran.
11.2 Organisation, Geschlecht und Gleichstellung
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rakter zugeschrieben, dass ein Ignorieren nicht möglich erschien, sondern zumindest ein Stück weit eine symbolische Reproduktion erfolgen musste, bevor eine kritische Reflexion erfolgen konnte – und eine Entkopplung von der eigenen Handlungsorientierung (vgl. Interview Schumacher; Kap. 10.7). Die Güte von Gleichstellungspolitik liegt in diesem Deutungsmuster darin, Kosten zu vermeiden und ‚brachliegende Potentiale‘ zu nutzen. Jedoch wird weder bei den (recht dünnen) Rationalisierungsversuchen in der BDA-Broschüre oder in der Vereinbarung (2001), in der (bereits entstandene) Kosten der Bundesrepublik dem Nutzen von Gleichstellungspolitik gegenüber gestellt sind, noch bei den weit ausgereifteren Rationalisierungen von Gleichstellungspolitik in der Profit-AG das „rein nüchterne“ (Interview Jansen) Kosten-Nutzen-Kalkül auch belegt.243 Die einzige Evaluation, die auf Kosteneffizienz eingeht, wird für die Notfallkinderbetreuungseinrichtung vorgebracht, die allerdings changiert in derselben Darstellung zwischen Rationalisierung und sozialer Verantwortung (vgl. Kap. 5.8 und 9.3). Dagegen erscheint ein Beweis – durch bspw. eine entsprechende Evaluation – dafür, dass Frauen und Männer gleichzustellen (betriebs)wirtschaftlich sei, weder nach innen noch nach außen (gegenüber MitarbeiterInnen, der Forscherin, AktionärInnen etc.) überhaupt notwendig. Auch an die Deutungsmuster zu Geschlecht – Gleichheit und Differenz – schlossen wie erwartet Gleichstellungsnorm und Gleichstellungspolitik unterschiedlich an, allerdings mit anderen Ergebnissen als im bisherigen Forschungsstand. Im Deutungsmuster der Gleichheit von Männern und Frauen wird Ungleichheit als Ergebnis von Prozessen gesetzt, denen entgegenzusteuern ist. Dies kann laut Funder et al. (2006) zu einem „Egalitätsmythos“ innerhalb der Organisation führen, wobei Prozesse, die Ungleichheit produzieren, außerhalb des Konzerns verortet werden und daraus gefolgert wird, dass kein Bedarf zur Gleichstellung in der Organisation bestehe (vgl. auch Belinszki 2002; Nentwich 2004; Wilz 2004). In der Profit-AG war dies nicht der Fall. Die Egalitätsnorm ließ organisationale Gleichstellungspolitik notwendig erscheinen, was auch frühzeitig betrieben wurde unabhängig von der Verortung von Ursachen. Dort zeigte sich zwar bei der Werbeanzeige, nach der Geschlecht im Konzern nur den Unterschied zwischen Anzug oder Kostüm ausmache, auch früh ein Ansatz Egalität als per se gegeben darzustellen (vgl. Kap. 6.1). Daraus entwickelte sich jedoch kein wirkmächtiger Egalitätsmythos in der Organisation: Die Setzung wurde zur Zielsetzung erklärt, Gleichstellung darüber eingefordert und legitimiert (vgl. Kap. 6.1f.).
243 In der Studie Riegrafs (1993) galt dies noch für die andere Richtung: Die Manager fanden es nicht notwendig zu beweisen, dass ‚Frauenförderung‘ unwirtschaftlich sei. Sie konnten in dieser Hinsicht (noch) auf institutionell abgesicherte Glaubenssätze im Gewand von Rationalität zurückgreifen (vgl. Kap. 3.5). In der Profit-AG ist das so nicht (mehr) möglich (vgl. Kap. 10.7).
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11. Schluss: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige
Im Deutungsmuster Differenz können die von Belinszki (2002), Nentwich (2004) und Riegraf (1993) beschriebenen Prozesse greifen, indem argumentiert wird, dass den ‚natürlichen‘ Unterschieden, bspw. der ‚unveränderbaren Tatsache’, dass Frauen Kinder gebären, mit organisationaler Gleichstellungspolitik nicht beizukommen sei, tut es im Falle der Profit-AG jedoch nicht. Die ‚natürliche Tatsache’ wird (ebenfalls frühzeitig) als durch die Gemeinschaft auszugleichender Nachteil gewertet und damit zur Begründung organisationaler Gleichstellungspolitik herangezogen und führt nicht zuletzt zu einem emanzipativen Ansatz in der Gleichstellungspolitik (vgl. Kap. 5.4f.; 6.2ff.; 9.4). Eine über die ‚natürliche Tatsache‘ geschlechtsdifferenter Fortpflanzungsfunktionen hinausgehende Essentialisierung oder (Re)Naturalisierung von Geschlecht, wie im Forschungsstand dargestellt und im Zuge der Entwicklung der Gleichstellungspolitik der Profit-AG anhand der Darstellung in der Hauszeitschrift aufgezeigt (vgl. Kap. 6.3ff.), könnte umso mehr Gleichstellungspolitik hinfällig erscheinen lassen. Sie kann aber auch wie in der Profit-AG in der Rhetorik des Diversity Managements münden, denn Diversity Management begründet die eigene Notwendigkeit auf einer essentialisierenden Unterscheidung und proklamiert eine größere Produktivität durch die Ergänzung der männlichen und der weiblichen ‚Natur‘ (vgl. Kap. 6.5ff.). Das Verhältnis zwischen den Deutungsmustern zu Organisation und denen zu Geschlecht ist nicht beliebig, da die Deutungsmuster von Organisation Unterschiede in der Legitimität von Differenzierungen nach Geschlecht aufweisen: Im ‚sozialen‘ Deutungsmuster ist Geschlecht ein legitimes Differenzierungskriterium. Daraus wäre nun zu erwarten, dass hier die legitimen Geschlechterdifferenzierungen auch weiter ausgebeutet werden bspw. auch für die Konstruktion und Legitimation von Ungleichheit. Dies folgt so einfach aber nicht, da dort als Imperative des Miteinanders auch Partnerschaftlichkeit, Ebenbürtigkeit, Gleichberechtigung und die positive Besetzung von Individualität wirken (können). Ungleichheit ist – trotz Legitimität von Differenzierung – insofern nicht (per se) legitim. Zum anderen werden durch die Aufweichung der Sphärentrennung nicht nur geschlechtlich aufgeladene Umgangsweisen hineingetragen (z.B. Männerfreundschaft oder erotische Beziehungen), sondern auch nicht geschlechtlich aufgeladene Freundschaften. Im ‚funktionalistischen‘ Verständnis sind nur Leistung und Qualifikation legitime Differenzierungskriterien, nach Geschlecht zu differenzieren ist dagegen illegitim. Hier stellt sich nun aber die Frage: Wie kann damit das Deutungsmuster essentieller Verschiedenheit von Männern und Frauen, wie es der Konzeption von Diversity Management unterliegt, harmonieren? Die Antwort, die hier auf der Hand liegt, ist: Es kann nicht! Und die Antwort, die bei der Analyse der Maßnahmen zur Gleichstellungspolitik herausgearbeitet wurde, ist: Es tut’s auch nicht. Die Annahme einer essentiellen und nutzbar zu machenden Verschiedenheit in genau denjenigen ‚Merkmalen’ von MitarbeiterInnen, die als Differenzierungskriterien
11.3 Entkopplungen
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im Imperativ der Rationalität illegitim sind, wird in den konkreten Maßnahmen zur Gleichstellungspolitik nicht aktualisiert. Sie fußen auf der Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit von Männern und Frauen (vgl. Kap. 8.1ff.; 9; 10.1). Hier deutet sich an, was im Folgenden ausgeführt wird: Differenz und Gleichheit, ‚soziales’ und ‚funktionalistisches’ Deutungsmuster lassen sich nicht konsistent mit einer Gleichstellungspolitik abdecken. In Anlehnung an den Forschungsansatz des Neo-Institutionalismus wurden mit den Begriffen Entkopplung und symbolische Reproduktion mögliche Umgangsweisen mit Inkonsistenzen in den Blick genommen. 11.3 Entkopplungen Als Arbeitsbegriff der Entkopplung wurden in dieser Arbeit Prozesse gefasst, in denen zwei Elemente aufgrund einer Divergenz voneinander getrennt werden, das eine Element in der Praxis aktualisiert, das andere symbolisch reproduziert wird und die Diskrepanz zwischen diesen verschleiert ist. In der Vorstellung der empirischen Ergebnisse wurden folgende Entkopplungen und Diskrepanzen dargestellt: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Herauslösung des Leitbildes „Durchsetzung der Gleichberechtigung“ (Art. 3, Abs. 2 GG) aus dem ökonomisierten Konzept von „Förderung der Chancengleichheit“ (Vereinbarung 2001) (Makro-Ebene) Das Puffern (vgl. Oliver 1991) zwischen Gleichstellungspolitik und Ergebnissen (zwischen Makro- und Meso-Ebene) Ein Auseinanderklaffen der Konzeption von Diversity Management und der Wahrnehmung in der Organisationsöffentlichkeit (Meso-Ebene) Die Beschneidung der Wirkmacht der Betriebsvereinbarung gegen Mobbing, Diskriminierung und sexuelle Belästigung im Arbeitsalltag (zwischen Meso- und Mikro-Ebene) Die Trennung widersprüchlicher normativer Ansprüche: ‚Chancengleichheit muss bestehen‘ (Egalitätsnorm) und ‚Chancengleichheit muss hergestellt werden‘ (Gleichstellungsnorm) (Mikro-Ebene; Interaktion) Die Trennung normativer Ansprüche von der Handlungsorientierung (Schumacher) (Mikro-Ebene; Individuum)
Die Prozesse fanden in unterschiedlichen Modi statt,244 und betrafen unterschiedliche Aspekte. 244 Für keine der Entkopplungen lässt sich eine strategische Planung oder eine gezielte Taktik konstatieren, wie von Oliver (1991) angenommen und von Türk (1997) kritisiert. Dass es sich nicht um Strategien handelt, zeigt sich auch darin, dass dieser Forschung, die explizit die Umsetzung von
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11. Schluss: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige
Die Entkopplung der Gleichstellungsnorm von einer Gleichstellungspolitik im Zuge der freiwilligen Vereinbarung von 2001 zwischen Bundesregierung und Wirtschaftsverbänden ist zum Einen ein Paradigmenwechsel auf diskursiver Ebene: In der Vereinbarung (2001) wird eine ‚Vereinbarkeit‘ von Gleichberechtigung mit Ökonomie angestrebt, wobei eine Ökonomisierung erfolgt: Gleichstellung wird aus dem Horizont politischer und sozialer Ansprüche herausgelöst und in den Horizont des ‚funktionalistischen‘ Deutungsmusters verlagert. Damit wurde die Ökonomisierung, die sich letztlich als Rationalitätsmythos im Konzern etabliert zeigte, ‚auf Kosten‘ des Anspruchs von BürgerInnen auf Gleichberechtigung vollzogen und Gleichstellungspolitik so ihres Sinns entleert. Zugleich wurde in den Bilanzen die Gleichstellungsnorm symbolisch als Ziel der Vereinbarung reproduziert. Die Diskrepanz zwischen den vom Anspruch der Gleichstellung entkoppelten Inhalten der Vereinbarung und der diesen Anspruch suggerierenden Fassade wurde auf verschiedene Weisen verschleiert: In der Vereinbarung selbst geschah dies durch den Ersatz mit ‚Zwischenzielen’, den Hinweis auf ‚betriebsspezifische‘ Situationen und das Herausstreichen von ‚best practice‘, in den Bilanzen durch selektive Rezeption von Studien und im Umfeld der Vereinbarung durch ‚Prädikate‘, Zertifikate, ‚best practice‘-Publikationen etc. Diese Entkopplung hat zur Folge, dass organisationale Praxis von dem Anspruch Männer und Frauen gleichzustellen, unabhängig erfolgen kann und darüber hinaus, dass Organisationen als gleichstellungsorientiert auftreten können, ohne dass eine wirksame Gleichstellungspolitik nachgewiesen sein muss. Exemplarisch wurde am ‚Prädikat Genderdax‘ gezeigt, dass auch dort, wo die symbolische Reproduktion des Anspruchs mitgetragen wird, keine (verbindlichen) Maßstäbe gesetzt werden, die das Erreichen von Gleichstellung überprüfen oder überprüfbar machen (vgl. Kap. 5.1ff.). Damit verbunden ist die Möglichkeit der Entkopplung organisationaler Gleichstellungspolitik von dem Maßstab einer paritätischen Besetzung in Führungsebenen. Diese Entkopplung wurde besonders in der Außendarstellung von Organisationen (re)produziert, indem Mittel zu ‚Zwischenzielen‘ wurden und als Ergebnisse und Gleichstellungsleistung vermarktet wurden und gleichzeitig ‚Commitments‘ zum Ziel einer „ausgeglichenen“ (Konzern 1 im genderdax) Besetzung der Führungsebenen erfolgten. Im Zuge dessen wurde die Verantwortung für Gleichstellung auf die ‚Zielgruppe’ Frauen verlagert, wodurch sich die Entkopplung gleichermaßen stabilisieren wie auch begründen lässt, sowie Zahlen zum Geschlechterproporz in Führungsebenen aus der Selbstdarstellung herausgelassen oder wieder herausgenommen, so dass dieser Maßstab für Interessierte entfiel (vgl. Kap. 5.3.; 10.5f.). Die zweite Entkopplung kann somit als Entkopplung von ErwarGleichstellungspolitik im Arbeitsalltag untersuchte, Tor und Tür geöffnet wurde, was einer taktischen Verschleierung widerspricht.
11.3 Entkopplungen
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tungen an Organisationen hinsichtlich Gleichstellung gelten, besagt aber weder, dass eine Entkopplung zwischen formaler Struktur und Arbeitsalltag stattfinde, da die ‚Zwischenziele‘ in die formale Struktur eingelagert sind, noch besagt es, dass die Gleichstellungsnorm von der organisationalen Praxis entkoppelt ist. Eine Entkopplung der Norm von der Praxis erfolgt darüber jedoch bei Schumacher und zwar ‚dank‘ der formalen Implementierung: Die Entkopplung der eigenen Handlungsorientierung und des kritisch gesehenen, aber dennoch als normativ verstandenen Anspruchs, Chancengleichheit habe als erstrebenswert zu gelten und daher auch angestrebt zu werden, wurde von Schumacher vollzogen, indem das Erreichen von Chancengleichheit allein den formal verankerten innerbetrieblichen Frauen- und Homosexuellennetzwerken als Funktion zugeschrieben wurde. Darüber wurde den so organisierten ‚Zielgruppen‘ die Verantwortung für Gleichstellung übertragen. Dies wurde legitimiert, indem es als guter Ansatz dargestellt wurde, dass Gleichstellung „aus den Leuten heraus“ (Interview Schumacher) erfolge. Daneben konnte Chancengleichheit als abstrakter Begriff außerhalb eigener Handlungsmaßstäbe angesiedelt werden. Die symbolische Reproduktion wurde im Arbeitsalltag allerdings nicht für hinreichend glaubwürdig erachtet, die Entkopplung muss daher als unvollständig und unwirksam gelten. Die Entkopplung des Arbeitsalltags von der Betriebsvereinbarung dagegen ist nicht die Entkopplung von Worthülsen oder vagen Formulierungen vom Arbeitsalltag, sondern die Entkopplung handlungspraktisch formulierter Regeln von ihrer Anwendung. Der Unterschied zwischen einer Entkopplung und mangelnder Umsetzung liegt hier darin, dass die Vorgabe der Betriebsvereinbarung, sexuelle Belästigung zu ahnden, ebenso wie ihre Definition reproduziert werden, aber durch den Ersatz mit einer andern Regel. Kognitiv ist sie also wirkmächtig, auf regulativer Ebene wird ihr jedoch Wirkmacht abgesprochen. So werden „ideas“ und „action“ durch „decisions“ getrennt (vgl. Brunsson 1993; Kap. 8.7.). Die Entkopplung der widersprüchlichen Ansprüche, Chancengleichheit müsse bereits bestehen und Chancengleichheit müsse noch hergestellt werden, fand in der Interaktion zum Einen und vorrangig über Scherze statt. Indem Komik durch Ambivalenzen entsteht, werden Ambivalenzen und Paradoxien durch Humor aushaltbar, wodurch ein Verschleiern der Diskrepanz ersetzt wird. Die ambivalenten Elemente werden im Scherzen von einander entkoppelt, indem sie auf zwei ‚Wirklichkeiten‘ verteilt werden: die Realität und eine ‚Nebenwelt‘ (vgl. Berger 1998). Letztere stellt eine symbolische Reproduktion dar. Zum Anderen konnten die widersprüchlichen Normen durch das Eindringen der Forschung entkoppelt werden: Mittels der Zuschreibung von ‚Expertise’ an die Forscherin wurde das Vorgehen eines regulären Organisationsmitglieds nach bestem Wissen und Gewissen von Ansprüchen an ‚das richtige‘ Vorgehen gelöst, denn wie Gleichstellung ‚richtig‘ gemacht werde, würde die Forschung ja erst herausfinden. Dabei wurde gleichzei-
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11. Schluss: Im Zweifelsfalle entscheide man sich für das Richtige
tig gezeigt, dass Interesse an einer ‚Optimierung‘ durch Forschung besteht und man sich beforschen lassen kann, man also vorzeigbar Chancengleichheit auch schon „lebt“ (Interviews Wartl und Zagermann). Eine Entkopplung des Diversity Managements entspricht der These Lederles (2008), dass es sich bei Diversity Management um eine rein symbolische Reproduktion handelt, die wesentliche Legitimitätsmythen (Effizienz und Innovation) bedient.245 Wie angeführt, werden die Implikationen von Diversity Management jedoch nicht auf die gleichstellungspolitischen Maßnahmen übertragen. Entkoppelt werden also nicht formale Vorgaben vom Arbeitsalltag der Organisationsmitglieder, sondern entkoppelt sind ‚talk‘ und ‚action‘ (Vgl. Brunsson 1993) innerhalb der formal fixierten Gleichstellungspolitik, d.h. entkoppelt ist bereits die Rhetorik der Gleichstellungspolitik von der Gleichstellungsarbeit in Form der konkreten Maßnahmen.246 Diese Trennung von ‚ talk‘ und ‚action‘ zeigte sich nicht nur für die Rhetorik im Rahmen von Diversity Management. Auch schon vor der Einführung dieser Mode fielen die dem Deutungsmuster einer Gleichheit von Männern und Frauen folgenden konkreten Maßnahmen und die zunehmend (nicht aber durchgängig) dem Deutungsmuster einer essentiellen Geschlechterdifferenz folgende Rhetorik in der Hauszeitschrift auseinander (vgl. Kap. 6.3f. und 9). Die Rhetorik des Diversity Managements und die gleichstellungspolitischen Maßnahmen stammen von den gleichen Personen aus dem gleichen Team und können nicht als Nebeneffekt einer mangelhaften Kommunikation zwischen Abteilungen auseinanderfallen. Es handelt sich also nicht um „Isolation“, sondern um „Hypocrisy“ (Brunsson 1989), wodurch sich die Frage stellt, wie diese funktionieren kann. Als Ursache kann gesehen werden, dass Diversity Management sich vor allem als eine neue Ideologie darstellt (vgl. Lederle 2008) und im Konzern auch nicht mehr als die Ideologie aufgegriffen wird. Das vage Formulieren der neuen strukturellen Vorgabe bei gleichzeitiger Orientierung des Arbeitsprozesses an handlungspraktischen Sichtweisen (vgl. Meyer/Rowan 1977) muss dann gar nicht erst geleistet werden. Das neue Label in all seiner unverständlichen Form wird mittels der rein verbalen und symbolischen Reproduktion genau in diesen vagen und abstrakten Formen reproduziert (vgl. Kap. 5.6 und 6.5ff.). Dass es auf diese Weise weit entfernt von Umsetzbarkeit ist, fällt nicht auf, denn zum Einen ist die symbolische Reproduktion fest verankert: Es gibt Funktionsstellen, die ‚Diversity‘Team heißen (was dann auch entsprechend in Szene gesetzt wird), die Bedeutung für den Organisationsvollzug, die Diversity Management zugeschrieben wird, 245 Dies bestätigt den erstmals von Westphal und Zajac (1994) dargestellten Befund, dass eine späte Übernahme eher zur Entkopplung führe, denn bezogen auf die Einführung von Diversity gehört die Profit-AG erst zur zweiten Welle in Deutschland (vgl. zu den Wellen: Lederle 2008). 246 2005 folgt die Darstellung von Chancengleichheit auf der Homepage noch dem Deutungsmuster ‚Gleichheit‘. Seit 2006 ist die Außendarstellung an die Rhetorik angeglichen.
11.4 Funktionen der Entkopplungen
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wirkt logisch, und Diversity Management scheint doch ganz einfach umsetzbar, wenn über kleine metaphorische Denkanstöße Tipps zum ‚diversen‘ Miteinander gegeben werden können (vgl. Kap. 6.5ff.).247 Zum Zweiten – und das ist ebenso notwendige Voraussetzung, damit die mangelnde Umsetzbarkeit nicht auffällt – funktionieren die bisherigen Maßnahmen zur Gleichstellung weiterhin auch unter dem neuen Label, insofern scheint doch alles richtig zu sein und zu passen und lässt sich nachträglich auch so deuten: „Wir arbeiten seit 15 Jahren kontinuierlich an Diversity, wenngleich auch unter anderem Namen“ (Diversity-Team-Mitglied in Profitables 3/2004; vgl. Kap. 6.7). Unter diesem Vorzeichen muss keine weitere Entkopplung des Diversity Managements von der Wahrnehmung im Arbeitsalltag erfolgen, wie in den Interviews deutlich wurde: oft nicht bekannt und wenn, dann vorrangig als Text (eben als ‚talk’) verstanden, den man überfliegt, oder als „Chancengleichheit für alle“ (Interview Rosenplänter) eben nur ‚unter anderem Namen‘. Bei Mitgliedern der höheren Führungsebenen bestand allerdings die Wahrnehmung, man müsse Diversity Management kennen und für gut befinden, was zu Entschuldigungen und Erklärungen führte. Insofern wurde es ein wenig symbolisch bedeutsam gemacht und die Diskrepanz z.T. auch geringfügig verschleiert, indem z.B. im Interview Hilvert dem Projekt die ‚Verinnerlichung’ der Norm (allerdings mit der Füllung ‚Chancengleichheit für alle‘) gegenübergestellt wurde (vgl. Kap. 6.9). 11.4 Funktionen der Entkopplungen Für Entkopplungen kann zunächst konstatiert werden, wie Meyer und Rowan (1977) antizipieren, dass sie institutionalisierte Erwartungen bedienen – wenn auch eben nur symbolisch – und zugleich Praktiken vor diesen Erwartungen auch schützen können. Ihre Funktion geht aber weit darüber hinaus. Die Entkopplung von Gleichstellung und Gleichberechtigung qua ‚Rationalisierung‘ ermöglicht, dass Gleichstellungspolitik im ‚funktionalistischen’ Deutungsmuster eingepasst werden kann. Gleichstellung kann so Organisationen ‚zugemutet‘ werden, denn der Glaube an die Rationalität von Organisationen kann aufrecht erhalten werden, auch wenn sie Gleichstellungspolitik betreiben.248 Auch wenn muss betont werden, denn in der untersuchten Organisation wird die Ent247 In den kleinen Denkanstöße wurde der Blinde mit Durchblick, dem Menschen mit Adleraugen, der von ‚Blindheit geschlagen‘ ist, gegenüber gestellt und Hell- und Dunkelhäutige konnten im Dünnhäutig-Sein eine Gemeinsamkeit finden. So abstrahiert ist es rein symbolisch, oder wie soll im Personalmanagement zwischen Dünn- und Dickhäutigen differenziert werden können? 248 Diese Aussage wird nur bezogen auf die derzeitige Situation einer freiwilligen Vereinbarung getroffen. Die Umsetzung eines Gesetzes wäre dagegen rational, um Sanktionen zu vermeiden.
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kopplung umgekehrt: Die Gleichberechtigung wird nur auf der diskursiven Ebene aus der Gleichstellung herausgelöst und kommt in der Handlungsorientierung wieder hinein – auch in die formalen Vorgaben. Die ‚Ökonomisierung‘ kreiert so den Rationalitätsmythos ‚Gleichstellung‘ und legitimiert damit organisationale Gleichstellungspolitik in For-Profit-Organisationen. Abgrenzungen gegen „esoterische“ Anklänge (Interview Wagner) und „professioneller Gutmensch“ zu sein (Interview Jansen) dienen vor diesem Hintergrund der symbolischen Reproduktion des Rationalitätsmythos. Ergänzt wird diese Entkopplung durch die Entkopplung von ‚talk’ und ‚action’ hinsichtlich Diversity Management. Die Ideologie der international verbreiteten, ‚modernen‘ und ‚effizienten‘ Personalmanagementmode Diversity Management bietet eine weitere Stütze für den Rationalitätsmythos, solange sie entkoppelt ist, da Diversity Management nicht damit harmoniert, dass Geschlechterdifferenzierungen dem ‚funktionalistischen‘ Deutungsmuster gemäß in Organisationen keine Rolle spielen dürfen. Damit harmonieren jedoch die konkreten Maßnahmen, da sie weitgehend der Vorstellung grundsätzlicher Gleichheit folgen. Unter der Legitimationsfassade von Rationalität können diese Maßnahmen dann – von der Ideologie des Diversity Management weitreichend verschont – auch emanzipative, auf Gleichberechtigung gerichtete Ansätze verfolgen. Dies beinhaltet aber auch, dass Prozesse angestoßen werden, die nicht nur darauf abzielen, Frauen in Führungspositionen zu verhelfen, sondern z.B. auch Männer in Eltern- und Teilzeit bringen sollen, und die durch einen Einfluss auf die Unternehmenskultur auch auf langfristige Effekte setzen. Und damit steht nun die Entkopplung von Gleichstellungspolitik von der Erhöhung des Frauenanteils als messbarem Ergebnis in Verbindung. Diese Entkopplung puffert die Erwartungen im Sinne Olivers (1991), d.h. sie wendet eine Evaluation ab und erlaubt es auch Maßnahmen zu etablieren und fortzuführen, die nicht effizient sind für eine Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen, was vorab als eine optimale Nutzung der HumanRessource ‚qualifizierte Frauen’ festgeschrieben wurde. Auch für die Orientierung an der Gleichstellungsnorm im Arbeitsalltag erfüllen Entkopplungsprozesse eine Funktion: Durch die Entkopplung von ‚ talk‘ und ‚action‘ kann die konkrete Gleichstellungspolitik unabhängig von Diversity Management im Arbeitsalltag bedeutsam werden: Sie kann unter die dort gültigen Imperative gestellt werden und wirken, unbeeinträchtigt von den davon abweichenden Deutungsmustern, denen Diversity Management entspricht. Die interaktive Entkopplung der Normen ‚Chancengleichheit muss bestehen‘ und ‚Chancengleichheit muss hergestellt werden‘ löst den Widerspruch und ermöglicht, dass situativ die Anforderungen mal symbolisch, mal praktisch bedient werden können. Die Entkopplung besteht darin, einen Egalitätsmythos ein Stück weit zu bedienen, indem Chancengleichheit als bestehend gewertet werden kann, und sich zugleich davon zu lösen, dass Chancengleichheit zu schaffen daher nicht
11.4 Funktionen der Entkopplungen
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mehr notwendig sei. Im Gegensatz zum Egalitätsmythos bei Funder et al. (2006), zu den Dissoziationen, die Nentwich (2004) beschreibt, und der kontingenten Kopplung von Gleichheit und Differenz, die sich in den von Wilz (2004) untersuchten Organisationen fand (vgl. Kap. 3.4), forciert dieser Entkopplungsprozess eine Orientierung an der Gleichstellungsnorm im Arbeitsalltag. Für diese Entkopplungen kann also konstatiert werden, dass sie wichtige Funktionen für eine Institutionalisierung der Gleichstellungsnorm, sowie die Implementierung und Umsetzung von Gleichstellungspolitik haben. Gleichstellung wurde umso handhabbarer, denn nur so können die widersprüchlichen Ansprüche aus den divergierenden Deutungsmustern gleichermaßen bedient werden, das Potential beider Legitimationsmythen (Gleichberechtigung und Rationalität) ausgeschöpft werden, die Gleichstellungsnorm also gleichzeitig gemäß dem einen und dem anderen der jeweils divergierenden Deutungsmuster zu Organisation und zu Geschlecht in die Organisation eindringen und aufrecht gehalten werden. Auf diese Weise können zwischen den divergierenden Deutungsmustern oszillierende Maßnahmen eingeführt und wirksam gemacht und daher Gleichstellungspolitik bei geringen Widerständen umgesetzt werden. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass Entkopplung eine Praxis schützt, da durch Entkopplungen die Imperative in ihrem jeweiligen Gültigkeitsbereich gleichermaßen bedient werden. Wie sähe es aus, wenn hier keine Entkopplungen vollzogen worden wären, sondern die Gleichstellungspolitik nur jeweils dem einen oder dem anderen Deutungsmuster entsprechend implementiert würde? Wie sähe eine Gleichstellungspolitik aus, die ausschließlich nach ‚nüchternem Kalkül‘ funktionierte? Rein auf effiziente Nutzung von Humanressourcen zu setzen, ist keine Gleichstellungspolitik. Die Frage müsste anders gestellt werden: Wie sähe ein Personalmanagement aus, das nicht soziale Maßgaben berücksichtigt? Inhuman und damit illegitim. Im Inneren der Organisation kann die Gleichstellung von der Durchsetzung der Gleichberechtigung nicht entkoppelt sein, denn in der Organisation befinden sich die entscheidenden Anspruchsgruppen, die die Erwartung, egalitär behandelt zu werden, an die Organisation herantragen. Andersherum: Was würde passieren, wenn die Organisation nicht Effizienz und Rationalität von Gleichstellungspolitik demonstrieren würde, sondern allein den sozialen Impetus nach außen zu rechtfertigen versuchte, im Sinne Brunssons (1993) „Justification“? Die Antwort ist einfach: Eine For-Profit-Organisation ist kein Wohlfahrtsverband. Eine Gleichstellungspolitik, die nur Kosten und keine Gewinne hervorbringt, wäre nicht zur Legitimation hilfreich, da es Erwartungen an eine Aktiengesellschaft widerspricht. Der emanzipative Ansatz muss daher auch in einen monetären Gewinn eingebettet erscheinen. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern eine konsistente Kopplung die eine oder die andere Anspruchsgruppe gänzlich befriedigen würde, statt so jede nur teilwei-
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se. Wie für die Deutungsmuster zu Organisation oben angeführt, lassen sich die Deutungsmuster nicht nach Anspruchsgruppen aufteilen, nicht einmal bei Personen ließ sich durchgängig ein Deutungsmuster festmachen. Plastischer noch wird dies bei den Deutungsmustern zu Geschlecht: Eine durchgängige Annahme von Gleichheit ohne ein ‚Quäntchen‘ als natürlich angesehene Differenz liegt den Alltagsannahmen quer, es ist tabuisiert, wie in der Geschlechterforschung seit Garfinkel (1967) und Goffman (1994, zuerst 1977) bekannt ist. Gleichheit konsequent zu Ende zu denken, hat kein Legitimationspotential, sondern reichlich Konfliktpotential (vgl. Hirschauer/Knapp 2006) Andersherum widerspricht die Annahme einer essentiellen Verschiedenheit von Geschlecht, wird sie nicht durch Gleichheit relativiert, den alltäglichen (Selbst-)Erfahrungen: Sich selbst nicht als durch die Geschlechtszugehörigkeit determiniert zu fühlen, erscheint genauso notwendig, wie sich manchmal in die eigene Geschlechtszugehörigkeit zurück zu ziehen, z.B. „weil ich eine Frau bin“ (Interview Laetitia) oder „wir Männer“ (Zagermann; Beobachtungsprotokoll). Die konsequente Durchsetzung einer durchgängig konsistenten Gleichstellungspolitik würde zwar jeweils eines der zwei Deutungsmuster voll zur Geltung bringen, aber in dieser vollen Geltung wird es nur bei sehr wenigen Anspruchsgruppen durchgängig getragen, so dass weder die eine noch die andere Stoßrichtung auch nur die Hälfte der Anspruchsgruppen befriedigen könnte.249 Dies ist mit einer weiteren Funktion verbunden, die sich bei der Entkopplung durch Schumacher andeutet und die bei einer wirksamen symbolischen Reproduktion deutlicher wirken könnte: Nicht nur, dass der Arbeitsalltag von Gleichstellungshandlungen entlastet wäre und zugleich Schumacher den ‚common sense‘ bedienen würde und damit auch als Führungskraft legitimiert wäre,250 es würde ihm auch die Möglichkeit eröffnen, legitim kritisch zu sein. Eine vollständig verschleierte Entkopplung ermöglicht nicht nur den Schein zu wahren und die Imperative in ihren jeweiligen Gültigkeitsbereichen zu bedienen, sondern eröffnet innerhalb der Reproduktion auch Spielräume. Bisher wurde eine mögliche Funktion der Entkopplung der Betriebsvereinbarung gegen Mobbing, Diskriminierung und sexuelle Belästigung nicht thematisiert. Diese Entkopplung konterkariert die Gleichstellungspolitik, da hier eine gleichstellungspolitische Maßnahme von ihrer Anwendung entkoppelt wurde. Was hier passiert ist, ist den obigen Prozessen aber nicht nur im Ergebnis für die Gleichstellungspolitik entgegen gesetzt: Die Entkopplung erfüllte nicht die Funktion, diver249 Vgl. auch: „Satisfying one opinion by way of talk, decision and action may bring support from a few extremists only, from the true believers of a single idea“ (Brunsson 1993: 501). 250 Vgl. Kap. 8.4f., wo aufgrund des Kontextes (der Komik, ohne eine reale sexuelle Belästigung) die Reproduktion der Führungsfunktion durch die beiden Vorgesetzten auch nur rituell erfolgte, quasi als ‚virtuelle‘ Reproduktion wie bei einer ‚Feuerübung‘.
11.5 Funktionen der entkoppelten Elemente
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gierende Deutungsmuster in ihren Gültigkeitsbereichen zu bedienen. Die Betriebsvereinbarung oszilliert in ihrer Legitimation ebenso wie die anderen Maßnahmen der Gleichstellungspolitik zwischen den Deutungsmustern und bedient in ihrem Inhalt das ‚soziale‘ Deutungsmuster, das auch in dem beschriebenen Team Gültigkeit hatte.251 Ihre Entkopplung ist nicht Ergebnis dessen, dass die Betriebsvereinbarung dort nicht mit den Deutungsmustern harmonierte, sondern ist ein Nebenprodukt dessen, dass die konsequente Durchsetzung einer anderen Vorgabe erfolgte, genauer die Anwendung einer auf ‚(Kosten)Effizienz‘ setzenden Vorgabe, die zwar gemäß dem ‚funktionalistischen‘ Deutungsmuster für diese Situation legitimiert ist, nicht aber gemäß dem ‚sozialen‘, das die Sicht der Beteiligten trug. Dadurch wird dann auch die Anzeige beim Betriebsrat illegitim: Die vom schlechten Scherz Betroffene handelte in der Wahrnehmung der Kollegen auf diese Weise nicht gemäß dem gültigen Imperativ der Kollegialität. Dies zeigt noch einmal, wie oben im Gedankenspiel vorgeführt, dass die konsequente Umsetzung von Vorgaben, seien es Leitbilder oder wie hier formale Regeln, durchaus problematisch sein kann: Die Umsetzung kann die Legitimität infrage stellen und letztlich der Vorgabe auch Geltung nehmen. Die lose Kopplung zwischen verschiedenen Elementen (hier: formalen Vorgaben und Arbeitsalltag) zu überbrücken, muss im Horizont der Situation ebenfalls legitimiert werden. D.h. die an die Situation herangetragenen Ansprüche müssen von den Beteiligten an der Situation im Rahmen ihrer Deutungsmuster, die ihrer Wahrnehmung der Situation unterliegen, mit Sinn versehen werden. Vorgaben müssen also, um Kontrolle und Konsistenz (im Sinne Brunssons 1993) auf Handlungsebene zu entfalten, auch geeignet sein, zwischen Deutungsmustern zu oszillieren. Dies führt zum nächsten Aspekt dieser Entkopplungen: der Funktion der entkoppelten Elemente. 11.5 Funktionen der entkoppelten Elemente In den bisherigen Ausführungen zu den Entkopplungen schwang dieser Aspekt schon mit: Das Ergebnis der Entkopplungen bedeutet in keinem der Fälle, dass die voneinander entkoppelten Elemente voneinander isoliert werden. Entkopplung bedeutet hier nicht einen Bruch zwischen zwei Elementen, den es zu verschleiern gilt, wie bei Meyer und Rowan (1977) konzipiert, weswegen z.B. Tolbert und Zucker (1996) sowie Scott (2008a) Entkopplungen für wenig wahrscheinlich oder 251 Dass die Anzeige beim Betriebsrat im Team als ‚Nestbeschmutzung‘ und unkollegial galt, zeigt, dass auch hier das Miteinander im Zentrum steht. Die Beispiele der Interviewten, wie in dem Team Diskriminierungen stattfanden, heißt nicht, dass der Imperativ nicht zu diskriminieren, keine Gültigkeit hatte, denn wo sie anfängt, ist durch den Imperativ noch nicht geregelt (vgl. Fn. 238). Für den Autor des Achtzeilers war es, wie die Interviewte sagt, nur ein witziger Spruch.
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nur kurzfristig möglich erachten (vgl. Kap. 2.7). Entkopplungen bedeuten hier auch nicht, wie in der Konzeption Olivers (1991), dass das entkoppelte Element vermieden oder unter einer symbolischen Fassade versteckt, letztlich gar nicht beachtet wird, noch besteht nur dann ein Bezug, wenn ein Kompromiss gefunden würde (vgl. Kap. 2.7). Vielmehr besteht in jedem der hier untersuchten Fälle eine spezifische Beziehung zwischen den voneinander entkoppelten Elementen. Wie mit Barthes (1964) angeführt, ist der Sinn der ursprünglichen Aussage dann die Form des Mythos, indem der Mythos die Aussage von ihrem Sinn entleert und in der Form nun seinen eigenen Sinn transportiert. Die ursprüngliche Aussage, derer sich der Rationalitätsmythos Gleichstellung bedient, ist: ‚Gleichstellung ist die Durchsetzung von Gleichberechtigung‘. Diese entleert er nun, indem ‚die Durchsetzung von Gleichberechtigung‘ aus Gleichstellung herausgelöst wird. Gleichstellung wird rationalisiert und ist dann als Rationalitätsmythos die Form in der die Aussage ‚diese Organisation ist rational‘ vermittelt wird. Nun ist aber, wie Barthes (1964) erklärt, der so verdrängte Sinn der ursprünglichen Aussage nach wie vor notwendig für die Form des Mythos: „Die Form muss unablässig wieder Wurzeln im Sinn fassen und aus ihm sich mit Natur nähren können, und insbesondere muss sie sich in ihm verbergen können. Es ist dieses unablässige Versteckspiel von Sinn und Form, durch das der Mythos definiert wird.“ (Barthes 1964: 98) Der Rationalitätsmythos ‚Gleichstellung‘ nährt sich aus dieser ursprünglichen Aussage, z.B. indem die Begründung der Rationalität von Gleichstellung nur plausibel erscheinen kann vor dem Hintergrund, dass Frauen gleiche Rechte zugesprochen werden und diese durchzusetzen seien (vgl. Interviews Jansen und Wagner; 5.6f.). Der Rationalitätsmythos verbirgt sich in dem ‚ausgeborgten Sinn’, denn es ist die normative Geltung von Gleichberechtigung, die Gegenbeweise tabuisiert und dabei verschleiert, dass es sich um einen Mythos handelt. Ein wirklich ‚nüchternes Kosten-Nutzen-Kalkül’ (vgl. Interview Jansen) kann nicht an Gleichstellung angelegt werden: Ist es nicht vielleicht viel rentabler nur in männliche Fachkräfte zu investieren und diese stärker an die Organisation zu binden, ihnen ein geschlechtshomogenes, von Sexualität, Kavalierspflichten und Konkurrenz mit Frauen entlastetes Umfeld zu bieten und Frauen (auch räumlich) separiert als Ressource für schlechter bezahlte, automatisierte Tätigkeiten, die leicht anlernbar sind, zu verstehen – statt sich um „Konsens“ zu bemühen und Vielfalt zu „managen“ (vgl. Kap. 6.3ff.)? Ist es nicht vielleicht gerade eine optimale Nutzung von Human Ressourcen, dass Frauen häufig in Teilzeit und/oder als Nebenverdienst in niedrig bezahlten Bereichen eingesetzt werden, die von Outsourcing und Offshoring-Plänen am ehesten betroffen sind, so dass Sozialpläne,
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die Familienernährer favorisieren, den Betriebsrat milde stimmen und dennoch diese Arbeitsplätze recht flexibel abgebaut werden können? Ist es nicht vielleicht das beste Kosten-Nutzen-Kalkül alles so zu lassen, wie es ist? Solche Fragen dürfen in der Politik ebenso wenig wie in der Hauszeitschrift der Profit-AG gestellt oder diskutiert, geschweige im Interview von einem Vorstandssprecher erörtert werden. Die Tabuisierung durch die normative Geltung von Gleichberechtigung lässt diese Fragen regelrecht ketzerisch klingen, weil es letztlich um einen institutionalisierten moralischen Wert geht. Und dies macht auch den Unterschied aus, warum in Hinsicht auf die Kindertagesstätte eine Evaluation durchführbar war und man sich nun als ‚Gutmensch‘ bezeichnen kann. Beides verbietet sich nicht aus moralischen Gründen, da der Anspruch auf Kinderbetreuungseinrichtungen nicht so hochgradig institutionalisiert ist wie der Anspruch auf Gleichberechtigung der Geschlechter. Indem Gleichstellung als betriebswirtschaftlich nützlich deklariert wird, wird sie in den Horizont derjenigen symbolischen Ordnung gestellt, die für Organisationen im ‚funktionalistischen‘ Deutungsmuster geltend gemacht wird und so zu einem Mythos für Rationalität. Damit verdichtet sich die symbolische Ordnung und die Gleichstellungspolitik kann zurück wirken zur Versinnbildlichung der Rationalität der Organisation. Der entkoppelte Sinn bleibt dabei im Hintergrund und lässt sich – ohne den Rationalitätsmythos zu gefährden – bei Bedarf abrufen: So kann im CR-Bericht und dem Imagefilm die moralische Qualität mit zur Legitimation herangezogen werden (vgl. Kap. 5.8f.). So können in der Hauszeitschrift ‚Großzügigkeit’ und ‚Produktivitätssteigerung’ unvermittelt nebeneinander stehen (vgl. Kap. 6.7). So kann ebenso unvermittelt aus einem – entsprechend des Imperativs der Rationalität – viel beschworenen Fach- und Führungskräftemangel der moralischen Imperativen folgende Schluss gezogen werden, dass Frauen wertgeschätzt werden sollen und ihre Karrieren so vorantreiben dürfen sollen, wie sie es wünschen (vgl. Interview Wagner; Kap. 5.6). Und nicht zuletzt kann so in der Profit-AG in „Zeiten knapper Kassen“ (Profitables 3/2004) auch weiterhin Gleichstellungspolitik Platz eingeräumt und intern propagiert werden, weil es ‚rational‘ ist, aber entgegen dem, was alltagsweltlich unter Rationalisierung verstanden wird (Abbau von Arbeitsplätzen), eben auch moralisch legitimiert ist. Im letzten Beispiel zeigt sich schon, dass ebenso bei der umgedrehten Entkopplung in der konkreten Gleichstellungspolitik und im Arbeitsalltag, in der der Rationalitätsmythos nur symbolisch bedient wird (nicht zuletzt über Diversity Management), dieser entkoppelte Sinn am Leben erhalten wird und eine Funktion erfüllt. In der Legitimation der einzelnen Themen und Maßnahmen, bspw. in der Präambel zur Betriebsvereinbarung gegen Mobbing, sexuelle Belästigung und Diskriminierung gewinnen Gleichstellungspolitik und Gleichstellungsmaßnahmen durch die symbolische Anbindung an die organisationale ‚Rationalität‘ eine über
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den konkreten Gültigkeitsbereich hinausreichende Bedeutung. Sie dienen so nicht nur karriereorientierten Frauen, Vätern und Müttern oder von Mobbing Betroffenen, sondern der ganzen Organisation, letztlich dem Organisationsbestand und nur so, über das symbolische Ankoppeln an den ‚Rationalitätsmythos‘, gehört Gleichstellungspolitik überhaupt in die Organisation. Diese Funktion zeigt sich genauso im Interview Krüger, die vom Vorstand ein klares ‚Commitment‘ zu „betriebswirtschaftlichen Gründen“, um Gleichstellungspolitik zu betreiben, erwartet, während sie im Beobachtungshorizont betriebswirtschaftliche Gründe den Imperativen des Miteinanders unterordnete. Auch hier läuft die ‚Rationalität‘ von Gleichstellung als Hintergrunderwartung mit, muss situativ abrufbar sein, um den moralisch-politischen Anspruch, Gleichberechtigung zu schaffen, mit organisationalem Bedarf zu unterfüttern und diesen Anspruch so als ‚in den Konzern gehörig‘ zu definieren. Dabei werden, wie am Interview Krüger gezeigt, die in dem ‚funktionalistischen’ Deutungsmuster vorausgesetzte Rationalität der Betriebsführung und die Illegitimität von Geschlechterdifferenzierungen auch nutzbar, um Frauen von einer Wahrnehmung als ‚andere’ Arbeitskräfte zu lösen und Frauenförderung davon, Frauen Defizite zuzuschreiben. Auch für die Entkopplung der Gleichstellungspolitik von ihren Ergebnissen mittels des Ersatzes durch ihre Mittel hat das zeremoniell bediente Element wichtige Funktionen. Die Bedeutung des ‚Endziels’, demnach sich die Gleichstellungspolitik auch in entsprechenden Frauenanteilen letztlich zeigen werde, wird nicht einfach über Bord geworfen. Genauso wie Gleichberechtigung den Rationalitätsmythos (und umgekehrt) stattet dieses Ziel die ‚neuen’ Zielsetzungen, Mentoring und Frauennetzwerke auszubauen, mit Bedeutung aus, auch dort bleibt das Entkoppelte latent im Hintergrund erhalten und wirksam.252 Ohne Bezug zu dem ‚Endziel‘ aufzuzeigen, sind diese Ziele nichtig. Nicht nur missglückt dann die Entkopplung, wie dies bei Schumacher der Fall ist, vielmehr haben die Ziele gar keine Bedeutung, wenn das ‚Endziel‘ sie nicht mit Bedeutung ausstattet: Frauennetzwerke an sich mögen nett sein,253 aber wozu stellt die Organisation hier Ressourcen zur Verfügung? Wozu soll ein (männliches) Vorstandsmitglied Schirmherr sein, wenn die „Damen“ nur „Networking“ betreiben (Interview Vorstandsmitglied Matern)? Nur das ‚Endziel‘ macht aus der Zielsetzung, Frauennetzwerke auf- und auszubauen, Gleichstellungspolitik und so eine Vermarktung als ein ‚Ergebnis‘ von Gleichstellungspolitik sinnvoll und glaubhaft. Das Gleiche gilt für die Entkopplung von Diversity Management-Rhetorik und Gleichstellungspolitik: Die Gleichstellungspolitik wird genährt aus der zere252 Es kann, wie bei dem Vorstandsmitglied Matern auch expliziert werden: Die Frauen im Netzwerk sollen die Erhöhung des Frauenanteils als ihr Ziel verfolgen und erreichen (vgl. Kap.10.4). 253 Im ‚sozialen‘ Deutungsmuster mag das auch genügen (vgl. Interview Laetitia), dem ‚funktionalistischen’ jedoch nicht.
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moniellen Reproduktion der rationalisierten Mode ‚Diversity Management’. Die substanzielle „Bricolage“ (Campbell 2004) der Gleichstellungspolitik wird symbolisch gespeist aus dieser Fassade: Gleichstellungspolitik wird zum Einen über „Chancengleichheit von Frauen“ (profitables 3/2004) hinausgetragen auf weitere als sozial benachteiligt wahrgenommene Gruppen und dabei erhalten dann das Väter- und das Homosexuellennetzwerk einen über Gleichstellungspolitik hinausgehenden Anstrich. Diversity umzusetzen, würde zwar ein Dilemma bedeuten, Diversity symbolisch bedeutsam gemacht, löst jedoch auch ein Dilemma. Die Gleichstellungsmaßnahmen, die auf Frauen- oder Männerförderung setzen, können dies im Horizont der Illegitimität von Differenzierungen nach Geschlecht nur, wenn dies als Ausgleich deutlich dargestellt werden kann, da (wie am Interview Busch gezeigt) eine so verstandene Chancengleichheit nach Geschlecht unterschiedliche Behandlung – sprich Frauenförderung – problematisch macht. Anders gesagt: Auch die emanzipativen Ansätze stehen gegenüber dem ‚funktionalistischen‘ Deutungsmuster in einem Dilemma, das durch die symbolische Bricolage oder ‚rhetorische Modernisierung’ (vgl. Wetterer 2003) von Diversity gelöst wird – indem es diffus wird: Der Deckmantel ‚Diversity’ kann aufgrund der Vorabsetzung und Positivierung von Verschiedenheit ein Stück weit dazu dienen, die auszugleichenden Defizite nicht allzu präzise verorten zu müssen. Die entkoppelte Rhetorik stattet also auch hier die institutionalisierte Praxis mit über diese Praxis hinaus reichender Bedeutung aus und bindet dies ein in den Horizont dessen, was zu den Belangen der Organisation gehört – ‚modernes‘ Personalmanagement. Auch für die entkoppelte Betriebsvereinbarung gilt, dass sie – ungeachtet dessen, dass ihr Wirkmacht abgesprochen wird – dennoch die im Hintergrund stehende Bestätigung dessen ist, dass der Versand einer anzüglichen Email zu ahnden ist, auch dort, wo dieses Verständnis nicht wie im Team Projekte institutionalisiert ist. Und dies zeigt, dass es sich nicht nur um eine Nichtbeachtung einer formalen Vorgabe handelt, sondern um Entkopplung: Für die Interviewte und die vom schlechten Scherz Betroffene wird durch die Betriebsvereinbarung die eigene Einschätzung bedient (vgl. Kap. 8.7). Genau deswegen kann die Interviewte auf das Stichwort ‚Betriebsvereinbarung’ die Geschichte erzählen, da ihre Sicht, dass es sich um diskriminierendes Verhalten und sexuelle Belästigung gehandelt habe, durch die (wirkungslose) Betriebsvereinbarung gestützt wird. Und auch die Abmahnung durch die Personalabteilung (mittels einer anderen Richtlinie) lässt sich nur verstehen, weil hiermit die anzügliche und diskriminierende Mail geahndet werden sollte, da eine kurze private Mail sonst als legitim gilt (vgl. Kap. 8.6). Da diese Entkopplung allerdings nicht Imperative in ihrem jeweiligen Geltungsbereich bedient hat, kann das entkoppelte Element nur die Bedeutung der Handlung erweitern, nicht aber den Bezug zum divergierenden Deutungsmuster herstellen.
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Auch für die Entkopplung von Egalitäts- und Gleichstellungsnorm trifft es zu, dass das entkoppelte Element latent im Hintergrund bestehen bleibt. Die Ermöglichung von Gleichstellung im Arbeitsalltag durch den Entkopplungsprozess ist nur dadurch gegeben, dass die normative Annahme ‚Chancengleichheit besteht bereits‘ wahrnehmbar und abrufbar in der Nebenwelt des Scherzes existent bleibt. Nur so kann man Gleichstellungspolitik als notwendig erachten, ohne dass man sich ‚den Schuh anziehen‘ müsste, dass man Frauen und Männer nicht gleich behandle. Die gleiche ‚Augenhöhe’ im scherzhaft inszenierten Geschlechterkampf macht den Kampf von vorneherein fair und aktualisiert so die darin transportierte Gleichstellungsnorm zugleich mit dem Imperativ des guten Miteinanders. Ebenso wird es nur möglich, sich situativ als egalitär wahrzunehmen ohne das Risiko als ‚blind‘ für Ungleichheit zu gelten, weil die durch Scherze in der Nebenwelt abgelegte Norm ‚Chancengleichheit muss noch hergestellt werden‘ existent und allen ‚im Hinterkopf‘ ist. So darf im Horizont einer institutionalisierten Gleichstellungsnorm Gleichstellung auch mal unnötig werden und eine als unabhängig von Geschlecht gegeben verstandene Ebenbürtigkeit unter KollegInnen im Vordergrund stehen. Der Scherz spielte auch für weitere Dimensionen im Arbeitsalltag dank dieser Beziehung zwischen den dadurch entkoppelten Elementen eine zentrale Rolle wie z.B. für die informelle Aktualisierung formaler Weisungsbefugnis, da ohne dem gültigen Deutungsmuster zu widersprechen, die hierarchische Dimension ‚in Erinnerung‘ gebracht werden konnte, indem sie durch den Scherz in der Nebenwelt abgelegt wurde.254 Die ‚kontingente Kopplung‘ der Deutungsmuster Differenz und Gleichheit bezüglich Geschlecht wurde ebenso situativ durch scherzhafte Entkopplungen zu einer Lösung und ‚entradikalisierte‘ sowohl die eine wie auch die andere situativ bedeutsam gemachte Deutung. Dank des Subtextes konnten Männer und Frauen mal ‚ganz gleich‘ oder ‚grundlegend verschieden‘ sein. Auch undoing gender wurde so in der Aktualisierung von Geschlecht qua Scherz möglich, da bspw. Männer auf der Frauenseite im ‚Geschlechterkampf’ auftraten, Frauen in ‚Männerfreundschaften’ integriert wurden, Frauen und Männer ‚jenseits des Klimakteriums’ eine Gemeinsamkeit fanden (vgl. Kap. 7). Scherze boten so die Möglichkeit sich kritisch, aber risikoarm, mit bestehenden Verhältnissen auseinander zu setzen, wie Berger (1998) für politische Witze zeigt. Entgegen der Annahme, dass Entkopplung bedeute, man isoliere dadurch zwei Elemente voneinander, zeigt sich hier also, dass in dem Prozess der Entkopplung systematisch ein Zusammenhang zwischen diesen Elementen hergestellt wird. Nicht trotz Entkopplung können die entkoppelten Erwartungen, Ansprüche und Vorgaben vielleicht irgendwie doch wirken, in dem Sinne, dass „auch in Form von 254 Beispielsweise hob Zagermanns Assistentin Frau Pirker ein gemeinsames Mittagessen mit den Worten auf: „So. Jetzt aber wieder an die Arbeit.“ Alle lachten und Zagermann meinte scherzhaft: „na, Frau Pirker! Das ist ja mal ne ganz klare Ansage.“ (Woche 2; Freitag).
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‚window dressing’ eingeführte Aktivitäten über kurz oder lang ihre Spuren hinterlassen“ (Walgenbach/Meyer 2008: 82),255 sondern weil eine Ent-Koppelung stattgefunden hat, besteht ein ganz bestimmtes und bestimmbares Verhältnis zwischen entkoppelten Elementen: Das entkoppelte, nur symbolisch reproduzierte Element versieht die Praxis mit über sie hinausreichender Bedeutung, stellt zwischen der von divergierenden Ansprüchen entlasteten Praxis und diesen divergierenden Ansprüchen einen Bezug her und legitimiert so die Praxis auch im Horizont der abweichenden Ansprüche. Entkopplungen ermöglichen also, bei einer Entscheidung das ‚Entweder/Oder‘ zu umgehen und sich so im Zweifelsfalle für das Richtige zu entscheiden. Dabei lenkt die über die Praxis hinausgreifende Bedeutung auch die gültigen Formen in gewisse Bahnen, ohne sie zu determinieren. Dort, wo Entkopplungen in zwei Richtungen stattfinden, wie bei den Legitimationsmythen Rationalität und Gleichberechtigung, sowie in der interaktiven Entkopplung normativer Ansprüche, verquicken sich diese Prozesse und befördern sich wechselseitig. Der Rationalitätsmythos ‚Gleichstellung‘ wird, wie gezeigt, bekräftigt, da die normative Geltung von Gleichberechtigung Gegenbeweise tabuisiert, und bekräftigt nun seinerseits den Anspruch auf Gleichberechtigung, da Karriereorientierung von Frauen so nicht mehr marginalisiert wird als „Wunsch von Frauen berufstätig zu sein“, wie es bei BDA-Präsident Hundt der Fall war (Vorwort BDA-Broschüre). Die entkoppelten Elemente lenken sich gegenseitig, z.B. in dem emanzipativen Vorgehen organisationale Gleichstellungspolitik über die ‚Organisationsgrenzen‘ hinaus zu führen: Die latente Bedeutung von Gleichberechtigung im Rationalitätsmythos erweitert den Blickwinkel über die Funktionsausübung der Arbeitskräfte hinaus; dadurch ist es legitim, dass auch solche Maßnahmen entstehen, die nicht (primär) die Mitgliedschaft in der Organisation betreffen. Die symbolische Reproduktion von Rationalität, die bei der Formulierung der Maßnahmen geleistet wird, ‚füttert‘ den Rationalitätsmythos wieder, dieser deckt nun auch die geschaffenen Maßnahmen ab und so dehnt sich der Handlungsspielraum organisationaler Maßnahmen zugleich mit dem Geltungsbereich des Rationalitätsmythos aus, bis es ‚rational‘ wird, männliche Arbeitskräfte der Organisation auch finanziell darin zu unterstützen, mehr Zeit in der Familie zu verbringen. Rationalitätsmythos und emanzipative Maßnahmen driften so immer weiter auseinander. Immer mehr wird Gleichstellungspolitik als rein ‚rationales‘, nüchternes 255 Beispielsweise wird angeführt, dass zur Repräsentation eingesetzte FunktionsträgerInnen ein Engagement entwickeln könnten, das auf Umsetzung hinziele (vgl. Walgenbach/Meyer 2008), oder dass die Leitbilder über andere Wege dennoch in den Arbeitsalltag eindringen könnten (vgl. Brunsson 1993). Bei all diesen Thesen ist es jedoch Zufall, wenn entkoppelte Ansprüche Bedeutung entfalten und nicht weniger wahrscheinlich, dass sie es nicht tun, bspw. weil eine Mode ‚aus der Mode’ gerät, bevor sie ‚über kurz oder lang‘ Spuren hinterlassen konnte.
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Kalkül gewertet.256 Immer mehr werden in der Gleichstellungspolitik emanzipative Maßnahmen angegangen und Rationalität zur bloßen Fassade.257 Und immer stabiler wird die wechselseitige Legitimation. Die Entkopplungsprozesse institutionalisieren sich zugleich mit den Institutionalisierungen von Rationalitätsmythos einerseits und emanzipativen Ansätzen in der organisationalen Gleichstellungspolitik andererseits und umgekehrt institutionalisieren sich so Rationalitätsmythos und emanzipative Ansätze mit den Entkopplungsprozessen. Für die Entkopplung der widersprüchlichen Normen im Arbeitsalltag wurde bereits angeführt, dass die Entkopplung mal der einen, mal der anderen Norm eine Gleichstellungspraxis forciert. Auch sie ‚schaukeln‘ sich gegenseitig hoch. Durch die Entkopplungen kann umso mehr Chancengleichheit als gegeben angenommen, dadurch auch umso mehr Gleichstellung Gewicht verliehen und in sie auch investiert werden: Die Forschung durfte weitreichend Einblick nehmen, da man von einem hohen Stand der erreichten Chancengleichheit ausging und die Forschung sollte weitreichend Einblick erhalten, um hilfreich zu sein, in Zukunft Chancengleichheit weiter zu befördern. Für die Entkopplung durch Scherze kann (analog zu den o.g. Entkopplungen in gegenläufige Richtungen) angenommen werden, dass die Spirale die Entkopplungen noch festigt: Je höher der Stand erreichter Chancengleichheit ist und je höher das Engagement Chancengleichheit zu erreichen ist, umso mehr bieten sich Scherze an und umso einfacher können Scherze gemacht werden, umso weniger werden sie eine ‚empfindliche‘ Realität berühren und umso weniger wird die Realität ‚empfindlich‘ sein, umso mehr kann die Realität frei von sexueller Belästigung sein und umso mehr können Situationen komisch werden, wenn sie Anzüglichkeiten beinhalten, umso stabiler ist ‚die gleiche Augenhöhe‘ und umso mehr kann man sich ‚den Spaß gönnen‘, den ‚Geschlechterkampf‘ auszufechten (vgl. Kap. 7.4ff.; 8.4f.; 8.8; und kontrastiv: 8.7). Dies zusammengefasst zeigt, dass Entkopplungen und symbolische Reproduktionen wie quer verlaufende Webfäden wirken, die die ‚roten Fäden‘ der Deutungsmuster dort, wo diese keine Berührungspunkte aufweisen, miteinander verbinden: Die Entkopplungen und symbolischen Reproduktionen ermöglichen, dass trotz divergierender Deutungsmuster zu Organisation und Geschlecht Gleichstellungsnorm und Gleichstellungspolitik in der Organisation auf allen Ebenen anschlussfähig sind und sich im jeweiligen Horizont gültiger Imperative institutionalisieren können. Und mehr noch: Indem sie divergierende Deutungsmuster in ihren 256 Hier sei nicht nur auf die Interviews mit Jansen und Wagner verwiesen, sondern auch auf die zunehmend rationalisierte Rhetorik im Zuge der Entwicklung der Gleichstellungspolitik und die Einführung von Diversity Management (vgl. Kap. 5.6f. und 6). 257 Hier sei noch ergänzend auf ein Element der Gleichstellung zwischen Homo- und Heterosexuellen hingewiesen: Die Betriebsrentenregelung und andere finanzielle Vorteile für Ehepaare wurde auf homosexuelle Lebenspartnerschaften übertragen.
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jeweiligen Geltungsbereichen bedienen, können selbst widersprüchliche Erwartungen und Vorstellungen zusammen die Institutionalisierung der Gleichstellungsnorm, die Implementierung von Gleichstellungspolitik in formale Strukturen und ihre Anwendung stützen und vorantreiben. Gleichstellungspolitik erscheint nur mittels Entkopplungen institutionalisierbar als moralisch-politisches Leitbild in einer Organisation, die rational und ökonomisch funktionieren soll und mittels Entkopplungen durchführbar, da so in Bezug auf Geschlecht Gleichheits- und Differenzdilemmata umschifft werden (Knapp 2008). Dabei spannen Entkopplungen innerhalb der Gleichstellungspolitik und Institutionalisierungen der Gleichstellungsnorm, -politik und -maßnahmen nicht nur ein Netz über die organisationale Gleichstellungspolitik, sondern auch zugleich über die Institution Organisation und die institutionalisierte Zweigeschlechtlichkeit, in die sie eingebettet ist. Nicht nur die Institutionalisierung von Gleichstellung erfüllt Funktionen für die (Organisation von) Organisation, auch die Entkopplungen erweisen sich als sekundär zweckmäßig für die Organisation, denn sie bedienen die widersprüchlichen Anforderungen, legitimieren und stabilisieren Organisation gemäß den divergierenden Imperativen. Ebenso entkoppeln dieselben Prozesse die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Differenz und Gleichheit hinsichtlich Geschlecht, bedienen dabei beide Deutungsmuster, stabilisieren Zweigeschlechtlichkeit und legitimieren sie, indem sie den Widerspruch der Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Differenz, Ungleichheit und Egalität verschleiern. Entkopplungen ermöglichen in diesem Sinne, dass „performance scripts“ (Jepperson 1991), i.e. Institutionen, soweit flexibilisiert werden, dass sie auf unterschiedlichen Bühnen reproduzierbar sind. ‚Zweifelsfälle’ zwischen Deutungsmustern von Organisation und von Geschlecht werden in dieser über Entkopplungen flexibilisierten und für Deutungen geöffneten Institutionalisierung organisationaler Gleichstellungspolitik in ‚das Richtige’ überführt, ohne dass sie in die eine oder andere Richtung aufgelöst werden (müssen). Die Gleichstellungsnorm wird so interpretierbar, dass Gleichheit und Differenz, Rationalität und soziale Beziehungen eingebettet werden in ein „entsprechendes Dach aus Legitimationen (...), das sich in Form kognitiver und normativer Interpretationen schützend über sie breitet“ (Berger/Luckmann 1969: 66), hier: über die ‚richtige’ Organisation und die ‚richtigen’ Geschlechterverhältnisse. Die Orientierung an der Gleichstellungsnorm bedeutet durch das Zusammenspiel von Institutionalisierungen und Entkopplungen, dass im Zweifelsfalle alle Wege gleichzeitig eingeschlagen werden können, die für sich reklamieren, die Richtigen zu sein.
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