MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 150
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 150
Ein neuer Anfang von Michael Schönenbröcher und Claudia Kern Kratersee, 7:37 Ortszeit Über dem östlichen Russland und China ging eine neue Sonne auf. Sie strahlte lichter als das Mittagsgestirn und schien mit jeder Sekunde noch an Helligkeit zu gewinnen. Als sie endlich erlosch, hatte sich das Gesicht der Erde verändert. Ein glutroter Wolkenpilz hing über einem zweitausend Kilometer durchmessenden Krater, der sich mit kochender Lava aus dem Erdinneren füllte. Die hundertfache Atomexplosion ließ eine vernichtende Druckwelle über das Land fegen, gefolgt von einer Feuerlohe, die verbrannte, was diesseits des Ringgebirges noch übrig war. Der Krieg war zu Ende. Der Feind hatte gesiegt – und doch verloren. Denn sein Ziel war nicht erreicht. Es blieb nur das Chaos der Apokalypse, für Menschen und Daa'muren...
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch eine Art Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nachdem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn »Maddrax« nennen. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohen sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden... Eine Allianz hat sich gegen die Invasoren gebildet; selbst der verbrecherische Weltrat in Meeraka tritt ihr bei. Die Daa'muren greifen die Menschen immer wieder mit teils unlogischen Aktionen an und binden deren Kräfte; ein Konzept, das auf ihren unfreiwilligen Verbündeten, den irren Professor Dr. Jacob Smythe zurückgeht, der wie Matt Drax aus der Vergangenheit stammt. In der Zwischenzeit suchen sie nach Bomben auf der Basis Nuklearer Isomere, um den Antrieb ihrer Raumarche zu reaktivieren. Die Allianz dagegen vermutet einen zeitgleichen Großangriff auf ihre Bunker – ein fataler Irrtum! Als die Menschen erste Erfolge erzielen, erpressen die Daa'muren den Weltrat-Präsidenten Arthur Crow mit seiner gefangenen Tochter Lynne und bieten ihm die spätere Herrschaft über Meeraka an. Und sie pumpen den Kratersee
leer, den sie mit der Hilfe von Lavadrachen vom Pazifik abgetrennt haben. Die Allianz stellt einen Zirkel aus Telepathen zusammen, der die Weitstrecken-Kommunikation der Daa'muren stören soll. Um die Lufthoheit der daa'murischen Todesrochen zu brechen, infiziert sie der Cyborg Aiko von einem künstlichen Rochen aus, stürzt dabei aber ab. Bei einem erfolglosen Rettungsversuch trifft Matt auf die sterbende Lynne Crow und erfährt, dass der Angriff der Daa'muren in Kürze erfolgen wird. Die Allianz rückt vor. Doch statt mit den Weltrat-Soldaten, marschiert Crow mit 4000 Kampfmaschinen, die er im Geheimen bauen ließ, von Norden zum Kratersee vor. Will er der Allianz in den Rücken fallen? Auf der ISS, von der aus durch Wetter-Manipulation die Allianztruppen getarnt werden sollen, bemerkt Matt den Verrat und schaltet durch einen Impuls Crows Armee aus – nicht ahnend, dass dieser der Allianz in Wahrheit helfen wollte! Auch Aiko gelingt es nicht, zur Bombenkette vorzustoßen – wohl aber Jacob Smythe, der in den letzten Stunden einen Teil entschärfen kann und somit das Schlimmste verhindert...
Vor der Katastrophe 18. Oktober 2521, 284 km westlich des Kratersees, 7:12 Uhr Ortszeit Das Deer stand allein auf der Lichtung. Es war noch früh. Tau bedeckte das Gras und bildete dunkle Flecken auf Aruulas Stiefeln. Direkt über dem Boden lag Nebel – mehr Nebel, als für gewöhnlich der Fall war –, und der Atem des Tieres stand als weiße Wolke vor seinen Nüstern. Nichts an diesem Morgen wies darauf hin, dass nur wenige Hundert Kilometer weiter östlich das Ende der Welt heraufzog. Dass der Frieden und die Ruhe trügerisch waren. Das Deer gähnte. Seine braunen, noch halb geschlossenen Augen blinzelten träge in die ersten Strahlen der Morgensonne, hießen einen neuen Tag willkommen. Aruula bat die Götter des Waldes um Vergebung und hob den Speer. Bis jetzt hatte sie sich nicht bewegt; nun kamen ihre Bewegungen in schneller Reihenfolge. Der Speer bohrte sich seitlich in den Hals des Rotwilds, noch ehe das Tier auf die plötzliche Unrast reagieren und die Flucht ergreifen konnte. Wie von einem Blitz gefällt, brach es zusammen. Es gab Dinge, die Maddrax nicht verstand, das hatte Aruula bereits vor langer Zeit erkannt. So wie sie selbst niemals wirklich begreifen würde, wieso Dinge, die schwerer waren als Häuser, sich in die Luft erheben konnten, ohne herab zu fallen, fehlte ihm das Verständnis für die Kräfte, die ihm in der Welt begegneten und für den Respekt, den man ihnen entgegenbringen musste. Ebenso wie Aruula hätte er das Deer getötet, aber im Gegensatz zu ihr hätte er sich bei niemandem für dieses Geschenk bedankt und auch nicht mit dem frischen, aus der Wunde quellenden Blut die Zunge benetzt, um dem Deer seinen Respekt zu erweisen. Maddrax wusste einfach nicht, wie man sich benahm. In Aruulas Welt war er der Barbar.
Das Deer lag warm und schwer auf ihrer Schulter, als sie den Rückweg antrat. Zweige knackten unter Aruulas Sohlen. Sie hatte Glück gehabt, so nahe des Unterstands auf Beute zu stoßen. Einige der anderen Lauscher hatten Stunden jagen müssen, bevor ihnen das gleiche Jagdglück zuteil wurde. Aruula umging vorsichtig einen Fuuxbau. So früh am Morgen wirkten die gähnenden kopfgroßen Löcher im Boden verlassen, aber das täuschte. Fuuxe jagten in der Nacht und schliefen am Tag. Aruula wusste, dass keine Armeslänge von den Eingängen entfernt die Rüden zusammengerollt und mit spitz aufgestellten Ohren auf den Ersten warteten, der so dumm war, in diesem Bau Schutz zu suchen – oder so leichtsinnig, mit einer bluttriefenden Beute daran vorbei zu gehen. Aruula erneuerte die Warnzeichen, die andere Jäger rund um den Bau angebracht hatten, und ging weiter. Dabei dachte sie daran, auch die dunkelroten und grünen Streifen auf ihrer Haut, die ihr eine Schamanin einst gezeigt hatte und die sie unter Wudans Schutz stellten, bald wieder erneuern zu müssen. Die Henna-artige Farbe verlor allmählich ihre Kraft. Aruulas Stiefel durchteilten die Nebelschwaden. Es schien, als wolle sich der Dunst heute gar nicht auflösen, sondern im Gegenteil noch dichter werden. Konnte das bereits der Wetterzauber sein, den Maddrax wirken wollte? Das unterirdische Lager, das ein Voraustrupp der Allianz vor fast zwei Monden hier angelegt hatte, war nicht mehr weit entfernt. Der Telepathenzirkel arbeitete dort fast ununterbrochen in zwei Schichten. Die Lauscherinnen von den dreizehn Inseln, die Nosfera und die Mutantin Faathme wechselten sich mit der Arbeit und ihren menschlichen Bedürfnissen ab. Aruula war froh, dass die Aufgabe der Jagd an diesem Morgen ihr zugefallen war. Ihr Geist benötigte eine Pause, und ihr Körper sehnte sich nach Bewegung.
Sie dachte an das erste Zusammentreffen der Gruppe und an das Misstrauen, das zwischen den Lauscherinnen und den Nosfera geherrscht hatte. Jeder kannte Geschichten über die Gräueltaten der Blutsäufer, und nicht alle diese Erzählungen von Blutritualen und Menschenopfern konnten erlogen sein. Doch die gemeinsame Aufgabe war wichtiger als alle Bedenken. Das hatte Aruula ihnen schließlich klar machen können. Die Lauscherinnen hatten ihre Ratschläge als Erste akzeptiert, denn es gab niemanden unter ihnen, der mehr gesehen und weiter gereist war als ihre so lange verschollene Schwester. Sogar die Grenze zu Wudans Reich hatte sie gesehen. Unwillkürlich glitt Aruulas Blick himmelwärts. Maddrax war irgendwo dort oben, in einem Ding, das viel schwerer war als ein Vogel; er war erneut hinauf geflogen zu einem Haus, das so leicht war, dass es im Nichts schwebte. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, aber sie hatte die Sorge in seinen Augen gesehen. Und sie hatte eine Zukunftsschau erfahren – oder war es nur ein böser Traum gewesen? Sie hatte sich und Maddrax in diesem Haus an der Himmelgrenze gesehen: sich selbst verletzt und Maddrax tot, während vor den Fenstern ein lautloses Gewitter tobte. Aruula hatte geschrien, als sie erwacht war. Und sofort gewusst, dass sie alles tun musste, damit die Vision nicht Wirklichkeit werden konnte. Erst hatte sie versucht, Maddrax zu überzeugen, doch er hatte das Schicksal der ganzen Menschheit über sein eigenes gestellt. Nun, im Grunde hatte Aruula nichts anderes erwartet. Also hatte sie das einzig Mögliche getan, um diese schreckliche Zukunft zu verhindern: Sie hatte sich geweigert, mit ihm zu fliegen. Denn – so ihre Schlussfolgerung – wenn sie selbst nicht bei ihm war, musste alles anders kommen als in ihrem Traum.
Seitdem fragte sie sich, ob es nicht vermessen war, Wudans Willen mit menschlicher List zu umgehen. Und ob er sich überhaupt umgehen ließ... Etwas strich sanft wie eine Feder über ihre Gedanken. Aruula blieb stehen und legte den Kopf schräg. Für einen Moment glaubte sie, es sei eine Nachwehe des Traums, doch dann wurde das Gefühl stärker. Ihre Haut begann zu prickeln, in ihren Schläfen stach es. Die Luft um sie herum schien zu knistern, war erfüllt von flüsternden Gedanken. Der Zirkel, dachte Aruula. Aufregung und eine plötzliche Angst trockneten ihren Mund aus. Das erbeutete Deer rutschte von ihrer Schulter. Sie haben sich alle zusammengeschlossen! Es ist so weit! Ihre Beute schlug dumpf auf dem Waldboden auf. Aruula rannte los. Weit hinter ihr, im Dunkel des Fuuxbaus, richteten sich spitze Ohren auf, während eine schwarze Raubtiernase Witterung aufnahm. Beute! *** Im Orbit, 0:54 UTC, 7:54 Uhr Kratersee-Zeit (UTC: Koordinierte Weltzeit, basierend auf der Mitteleuropäischen Zeit MEZ) Eine Explosion blühte lautlos auf. Ihr Lichtblitz blendete Commander Matthew Drax für Sekunden. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, wirbelten Trümmer nach allen Seiten davon. Er erkannte einen Andockring, Teile einer Schleuse, Bruchstücke von Sonnenkollektoren in ihren metallenen Fassungen. Die ISS starb. Und Matt Drax sah ihrem Sterben zu. Mit jeder kleinen Explosion, gespenstisch still im luftleeren Raum, trieb sie ein wenig schneller hinab in eine tiefere Kreisbahn. Schon sprühten die ersten Funken der Reibungshitze von ihren
Modulen und tanzten über das Metall, schon bogen sich die großen Sonnensegel unter dem wachsenden Widerstand. Auf einer irrationalen Ebene seines Verstandes glaubte Matt sie tatsächlich schreien zu hören, während Hunderte winziger Teilchen gegen die Außenhaut des Shuttles prasselten. Es hörte sich fast wie ein Platzregen an. Ein reales Stöhnen riss ihn aus der Betäubung, in die sein Geist sich für Minuten geflüchtet hatte. Es war noch nicht vorbei! Doch, sagte ihm sein Verstand. Im Grunde ist es vorbei. Denn was konnte er jetzt noch tun? Der schützende Panzer der fast vierzigtausend Hitzekacheln an der Unterseite des ShuttlePrototyps war beschädigt – wenn er den Analyseinstrumenten glauben durfte, hatte der riesige Todesrochen bei seinem Angriff ganze Löcher hinein gerissen. Dazu kamen mögliche Beschädigungen durch die umher schwirrenden Trümmerteile der ISS. Unter diesen Umständen würde er den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre genausowenig überstehen wie die Internationale Raumstation, deren Funken sprühende Reste allmählich aus seinem Sichtfeld drifteten. Und auch das Shuttle selbst, die Queen Victoria, war ein halber Kadaver. Die Ausläufer des EMP, des elektromagnetischen Impulses, den die Atombombenexplosionen im Kometenkrater abgestrahlt hatten, waren selbst hier oben im Orbit angekommen und hatten gut die Hälfte aller Instrumente ausfallen lassen. Und nicht nur sie... Matt gab sich einen Ruck und drehte sich zu Naoki Tsuyoshi um. Die Cyborg – optisch eine Endzwanzigerin, in Wahrheit über fünfhundert Jahre alt – war kaum besser dran war als das Shuttle. Auch ihre Elektronik hatte irreparable Schäden davongetragen. Seit er sie von der ISS herüber in die Raumfähre gebracht hatte, schien sie bewusstlos zu sein.
Aber nicht einmal das konnte Matt mit Sicherheit sagen. Wie stark waren ihre Hirnimplantate in Mitleidenschaft gezogen worden? Genügten die organischen Bereiche, um den Körper zu kontrollieren? Vielleicht war sie in diesem Moment bei vollem Bewusstsein, konnte nur die Augenlider nicht heben oder sich sonst wie verständlich machen. Matt ballte die Hände zu Fäusten. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt. Er konnte nichts tun, außer Naoki in eine bequeme Lage zu bringen – wofür die Schwerelosigkeit an sich schon sorgte – und ihre Atmung und den Puls zu kontrollieren. Und zu hoffen, dass irgendwo in ihren künstlichen Komponenten irgendein Reparaturprogramm dabei war, die Fehlerquellen zu analysieren und selbsttätig zu reparieren oder zu umgehen. Wieder stöhnte Naoki leise, und Matt brachte sein Ohr dicht an ihren Mund heran, in der Hoffnung, ein gehauchtes Wort zu verstehen – etwas, das ihm die Hoffnung gab, dass sie sich erholen könne. Aber das Stöhnen war nur ein Stöhnen. Naokis Augen blieben geschlossen. Nach einer Weile löste sich Matt von ihr und schwebte hinüber zum Pilotensitz. Mit einer unbeholfenen Bewegung glitt er hinein und legte den Gurt an. Sein Blick wanderte über die Konsolen. Einige der Lämpchen glühten noch, ein Teil flackerte, die meisten waren erloschen. Zumindest funktionierte das Lebenserhaltungssystem; das Luftgemisch an Bord der Fähre war atembar, die Temperatur angenehm. Auch was die Vorräte anging, sah es nicht einmal schlecht aus. Die Tanks mit Metallwasserstoff für den neuen Antrieb waren fast noch voll, und der Sauerstoff würde laut Anzeigen für gut sechs Tage reichen. Beste Voraussetzungen also – wenn noch irgendeine Hoffnung auf Rettung bestanden hätte. Doch von der Erde hatten sie keine zu erwarten. Der Shuttle-Prototyp war das
einzige funktionsfähige Raumschiff auf dem gesamten postapokalyptischen Planeten gewesen. Und nach dem EMP konnte Matt sich lebhaft ausmalen, wie es dort unten aussah. Sämtliche Technik musste ihren Geist aufgegeben haben, vom einfachen Funkgerät bis zum hoch technisierten EWAT. Einzig die abgeschirmten Bunkeranlagen hatten den Impuls vermutlich überstanden. Und was war mit den Unsterblichen in Amarillo und auf Nipoo? Sie musste der EMP ebenfalls getroffen haben... Und die Menschen...? Was war mit seinen Freunden, mit den Verbündeten, mit all jenen, die er für den Kampf gegen die Daa'muren gewonnen hatte? Wie viele von ihnen mochten die Explosion, die Feuer- und Druckwelle überlebt haben, nur um später der radioaktiven Strahlung und dem Fallout zum Opfer zu fallen? Jenny Jensen und ihre gemeinsame Tochter Ann, Rulfan, Mr. Black und Honeybutt, Naokis Sohn Aiko, Navok, die Technos in London und Salisbury, Miki Takeo... und vor allem: Aruula! Wer von ihnen war der Katastrophe entkommen? Welche Einheiten hatten das schützende Ringgebirge rund um den Kratersee bereits passiert, als die Bomben hochgingen? Matt war davon überzeugt, dass niemand innerhalb der Bergkette überlebt haben konnte. So wie die Insektenheere der Königin Ch'zzarak von Aarachne und die Vorhut der russischen Truppen. Matthew musste die Gurte lockern und sich auf seinem Sitz recken, um einen Blick auf die Erde werfen zu können. Was er sah, ließ ihn frösteln. Wo vor einer guten Viertelstunde noch der Kometenkrater und das ihn umgebende, trockengelegte Meeresbecken zu sehen gewesen waren, ließen nun dichte, rot glühende Wolken, in denen es fortwährend gewitterte, keinen Blick auf die Oberfläche mehr zu. Jenseits des Ringgebirges brannte großflächig die Steppe. Wie ein Schlierenmuster markierten
umgemähte Bäume die konzentrisch vom Explosionsherd wegführenden Spuren der Druckwelle. Dabei hatte das Gebirge viel von der vernichtenden Wucht kompensiert. Und auch die Verschmutzung der Atmosphäre sah weit weniger schlimm aus, als Matt vermutet hätte. Offenbar waren die Bomben so platziert gewesen, dass der größte Teil ihrer Energie nach unten geleitet worden war. Natürlich; den Daa'muren konnte an keiner neuerlichen Eiszeit liegen. Kälte war einer ihrer ärgsten Feinde. Projekt Daa'mur. Der Begriff stand plötzlich wie ein leuchtendes Fanal vor Matts Augen. Die Allianz hatte nie herausgefunden, was das Ziel dieses geheimen Daa'muren-Unternehmens war – der Schlusspunkt ihrer über fünfhundert Jahre währenden Manipulationen und Bemühungen, ihrer Schachzüge und dem Bestreben, sämtliche verbliebenen Atomwaffen des Planeten zu ihrer Kometenarche zu schaffen, mit der sie einst auf die Erde gekommen waren. Hatten sie jetzt ihr Ziel erreicht? Was geschah dort unter der undurchdringlichen Wolkendecke? Eine Frage, die sich hier und jetzt nicht würde klären lassen. Matthew Drax drückte sich in den Sitz zurück und zog in einer entschlossenen Bewegung die Gurte fest. Er musste handeln! Im Moment kann es darauf an, Abstand zur Erde zu gewinnen, außer Reichweite der EMP-Ausläufer zu kommen, bevor weitere Systeme ihren Geist aufgaben. Auch das war ein Phänomen: Der vernichtende EMP hatte nicht mit der letzten Explosion der Bombenkette geendet; auch jetzt noch schienen Impulse in regelmäßigen Schüben die Raumfähre zu erreichen. Die verbliebenen Instrumente zeigten alle 0,77 Sekunden einen Strahlungsanstieg, der jeweils nur Hundertstelsekunden anhielt... wie ein Pulsar – oder ein schlagendes Herz!
Matt umschloss den Steuerknüppel mit der Rechten. Ein Blick auf die Bereitschaftsanzeige der vorderen Steuerdüsen: grünes Licht. Er schaltete um und zog behutsam den Knüppel an sich heran. Ein leises Zischen zeigte an, dass die Düsen gezündet hatten, und nach einer Sekunde reagierte das Raumschiff und richtete seine Nase träge von der orbitalen Parallelstellung in den offenen Weltraum hinaus. Gegenschub! Das Schiff kam wieder zum Stillstand. Nun Umschalten auf die Haupttriebwerke... Deren Leuchtdiode flackerte – und erlosch. Verdammt! Ein heißer Schrecken durchfuhr Matt. Er griff hinauf und kippte den Schalter ein paar Mal hin und her. Das grüne Licht kehrte zurück! Der Commander stieß erleichtert die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte. Nur eine Spannungsschwankung oder ein Wackelkontakt... Trotzdem schwebte seine schwerelose Hand für Sekunden über dem Drehregler, mit dem er die Dauer des Schubs einstellen konnte. Was, wenn der Antrieb trotzdem nicht zündete...? Dann griff er entschlossen zu und stellte die Digitalanzeige auf fünf Sekunden ein. Das sollte genügen, um sich gegen das Schwerefeld der Erde zu behaupten und ins All zu driften. Ein kurzer Ruck ging durch das Schiff, als sein Daumen die drei großen Heckdüsen zündete, und für fünf Sekunden drückte ihn die Beschleunigung sanft in das Sitzpolster. Dann verstummte das dumpfe Grollen wieder. Und als Matt den Blick von den Instrumenten nahm und durch das Frontfenster richtete, hing vor ihm in der Schwärze des Alls ein kreisrundes, sanftes Licht, kaum größer als der Daumennagel seiner ausgestreckten Hand. Im gleichen Augenblick, da er es sah, beschleunigte sich sein Puls. Es war, als hätte ihm das Schicksal selbst einen Fingerzeig gegeben... »Der Mond«, flüsterte er.
*** Vor der Katastrophe Westrand des Kratersees, 7:29 Uhr Ortszeit Lieutenant William Francis Sanger jr. hatte sich noch nie für einen mutigen Mann gehalten. Ein Leben lang hatte er sich von anderen beeinflussen lassen, hatte eine Karriere als Pilot eingeschlagen, weil sein Vater es so wünschte, hatte begonnen (schlechte) Gedichte zu schreiben, weil seine Mutter in ihm einen Dichter sah, und hatte sich sogar die Haare blond gefärbt, weil seine letzte Freundin, die ihn längst hatte sitzen lassen, der Meinung gewesen war, er sähe so sexier aus. Ein Leben voller Angst und Kompromisse. Doch in den letzten Monaten hatte er sich verändert. Angefangen hatte alles mit einem E-Book, das er zufällig gefunden hatte. Scheiß drauf!, lautete der klangvolle Titel des Selbsthilfewerks, das ein ehemaliger Werbetexter namens John Jon – William war sich ziemlich sicher, das es sich um ein Pseudonym handelte – zu Beginn des 21. Jahrhunderts verfasst hatte. Darin berichtete John Jon von seinen fünf Ehen, den ebenso vielen Entziehungskuren und einem äußerst dramatischen Gefängnisaufenthalt in Kolumbien – alles Erfahrungen, die ihn schließlich zu der Erkenntnis brachten, dass sein Leben nicht von ihm selbst, sondern von denen, auf die er gehört hatte, ruiniert worden war. Höre auf niemanden, wiederholte er immer wieder in den einzelnen Kapiteln. Löse alle Probleme in deinem Leben, indem du einfach darauf scheißt. Seit mittlerweile zwölf Wochen hielt sich William an diese Philosophie und bemerkte erste Erfolge. Die Menschen gingen anders auf ihn zu, baten ihn nicht mehr so oft um einen Gefallen und nutzten ihn weniger aus. Um genau zu sein, redeten die meisten überhaupt nicht mehr mit ihm, doch auch
das betrachtete er als deutlichen Fortschritt. Wenn man sein Leben in die eigene Hand nahm, stieß man andere nun mal damit vor den Kopf, das hatte John Jon prophezeit. »Lieutenant?« Die Stimme des Chefpiloten Captain Wallace Grommit riss William aus seinen Gedanken. »Sir?« »Ändern Sie unseren Kurs auf Vier Fünf Strich Sieben Drei.« William nickte und programmierte die Kursangaben in sein Navigationsgerät. »Sir«, sagte er dann zweifelnd, »das bringt uns direkt an den Rand des Kraters.« Captain Grommit nickte. Er hatte ein langes, hundeähnliches Gesicht, das fast nie lachte. »Da will ich ja auch hin«, entgegnete er. »General Yoshiro gab soeben durch, dass der Nebel nun dicht genug ist, um weiter vorzustoßen.« »Ja, Sir.« William brachte den EWAT auf den neuen Kurs. Die Steilwände des Ringgebirges, zwischen denen sie eben noch gehangen hatten, blieben zurück und gaben den Blick auf einen dicht bewaldeten, an dieser Stelle etwa fünf Kilometer breiten Küstenstreifen frei. Der Earth-Water-Air-Tank glitt in dreißig Metern Höhe über die Wipfel der subtropischen Bäume hinweg. Bald kam das gewaltige Becken in Sicht, das vor Monaten noch mit dem Wasser des Pazifik gefüllt gewesen war und ein eigenes Meer gebildet hatte: den Kratersee. Der Komet »Christopher-Floyd« hatte es vor über fünfhundert Jahren in die Erdkruste gestanzt. Jetzt lag eine von getrocknetem Schlamm, verfaultem Seetang und totem Meeresgetier geprägte Landschaft vor ihnen und verbreitete einen mordsmäßigen Gestank. Glücklicherweise verhinderten die Nebelschwaden, dass man das ganze Elend allzu deutlich sah. William wusste, dass Commander Matthew Drax von der Internationalen Raumstation aus das Wetter beeinflussen sollte, um den
vorrückenden Truppen Deckung zu geben. Offensichtlich war es ihm gelungen. »Was für ein Gestank!«, sagte der Waffenoffizier, Lieutenant Simon Worthington von seiner Station. »Ich schalte auf Umluft, Sir.« Arschkriecher, dachte William. Aber sollten die Schleimer um ihn herum doch Karriere machen, ihn interessierte das nicht mehr. Er ruhte in sich selbst. »Sir«, meldete sich Sergeant Morrell, der Funktechniker. Er trug ein Headset, dessen Lautsprechermuschel er gegen sein Ohr presste. »Seit einigen Sekunden überschlägt sich der Funkverkehr. Irgendwas muss da passiert sein!« »Können Sie Einzelheiten verstehen?« Morrell lauschte angestrengt. William blickte zurück zu dem Kometenkrater. Er fragte sich, ob er an diesem Tag zum ersten Mal in seinem Leben einen Daa'muren sehen würde. Die unendlich grellen Blitze zuckten so plötzlich vor ihnen auf, dass William erschrocken aufschrie und die Hand vor die Augen hob. Die Scheibe des EWAT verdunkelte sich automatisch, tauchte das Innere des Cockpits in ein Dämmerlicht. Es wurde still. »Scheiße!«, schrie Grommit neben ihm. »Totalausfall der Systeme. Stelle auf manuell um. Kompensieren! Verdammt, was geht da vor?« Der EWAT neigte sich vor und stürzte dem ehemaligen Strand entgegen. Aus den Augenwinkeln sah William, dass der Boden vor ihnen absackte. Rot glühende Lava spritzte hoch in den Himmel. Die Atombombenexplosionen – es war William klar, dass es nichts anderes sein konnte, was er gerade beobachtet hatte – rissen die Erde auf. Ihr Wirkungsbereich war anscheinend nach unten gerichtet. Weit entfernt begann die Druckwelle alles niederzuwalzen. Eine gewaltige Wand aus brennenden Bäumen, Lava und Fels
rollte dem EWAT entgegen. William fragte sich, warum zum Teufel er so klar denken konnte, während der Flugpanzer, in dem er saß, abstürzte und die Druckwelle ihn hinwegzufegen drohte. »Weil ich drauf scheiße«, sagte er laut. »Ich scheiß einfach –« Die Schockwelle erfasste den EWAT im gleichen Moment. Eine Titanenfaust riss die Worte aus seiner Lunge und brachte ewige Dunkelheit. *** Vor der Katastrophe 285 km westlich des Kratersees, 7:34 Uhr Ortszeit Am Tag ihrer Ankunft hatten die Telepathen rund um das Plateau, auf dem sie ihren Zirkel bilden wollten, Pfosten in die Erde geschlagen und Seile zwischen ihnen gespannt. Die Äste und Zweige, die sie darauf legten, sollten sie nicht nur vor Regen schützen – und die Nosfera zusätzlich vor der Sonne –, sondern auch vor einer Entdeckung aus der Luft. Als Aruula sich jetzt dem Plateau näherte und die schwankenden Gestalten sah, die sich an den Händen hielten, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass kein Sonnenstrahl zu ihnen durchdrang. Es war ein Zirkel der Dunkelheit inmitten des Lichts. Aruulas Atem ging stoßweise. Sie lief den Weg hinauf, der am Eingang des Unterstands vorbei zum Plateau führte. Stimmen drangen zu ihr herab. Die Lauscher summten eine monotone Melodie, um ihre Gedanken in Gleichklang zu bringen. »Ich bin gleich bei euch!«, rief Aruula. Sie erreichte das Plateau und tauchte aus dem Licht hinein in die Dunkelheit. Am Rand des Zirkels blieb sie stehen. Zweiundzwanzig Frauen und Nosfera saßen im Kreis, die Augen geschlossen, die
Lippen zusammengepresst, die dreiundzwanzigste – Faathme, die Zwergin und mächtige Lauscherin aus dem Volk Abn el Gurks – in der Mitte auf einem erhöhten Podest, um die Gedanken der anderen zu bündeln und gleichsam abzustrahlen. Anstrengung verzerrte ihre Gesichter. Neben Matoona, der Ersten Kriegerin aus ihrem Volk, ging Aruula in die Knie. »Nehmt mich auf«, sagte sie. »Lasst mich helfen.« Ein greller Blitz erhellte plötzlich den Himmel im Osten. Im selben Augenblick traf ein Schlag ihren Kopf. Aruula wurde zurückgeschleudert und prallte gegen einen der Pfähle. Sie schrie auf und presste sich die Hände gegen den Kopf. Etwas drückte mit gewaltiger Kraft dagegen, so als wollten unsichtbare Hände ihren Schädel zerquetschen. Übelkeit stieg in ihre Kehle. Sie übergab sich keuchend. Tränen rannen ihr aus den Augen und verschleierten ihren Blick. Verschwommen sah sie die schwankenden, keuchenden Mitglieder des Zirkels. »Helft mir«, stieß sie hervor. Niemand reagierte. Aruula versuchte aufzustehen, aber Schmerz und Schwindel zwangen sie wieder zu Boden. Sie streckte die zitternde Rechte nach einer ihrer Schwestern aus, berührte deren Schulter. Funken sprühten über ihre Fingerspitzen. Ein weiterer Schlag schleuderte ihre Hand zurück. Aus weiter Ferne klang ein krachendes Donnern heran, gefolgt von einem dumpfen, anhaltenden Grollen – als hätte ein böser Gott sein Schwert in die Erde gerammt. Und tatsächlich begann der Boden leicht zu zittern! Faathme in der Mitte des Kreises schien das Zittern aufzunehmen. Ihr Kopf rollte von einer Seite zur anderen. Weißer Schaum tropfte aus ihrem Mund, Blut lief ihr aus Augen und Ohren. »Nein...« Aruula presste die schmerzende Hand gegen ihre Brust. Auch die anderen Lauscher zuckten und zitterten jetzt
wie von Orguudoo Besessene. Finger brachen, als die Muskeln ihrer Hände sich verkrampften und der Griff, mit dem sie einander festhielten, zur Klammer wurde. Ihre Augen hatten sich in die Höhlen gedreht, Krämpfe erschütterten ihre Körper, entstellten ihre Gesichter. Wind kam auf, erfasste die Wipfel der Bäume und bog sie nach Westen, mit jeder Sekunde stärker werdend, und in dem Sturm reiste ein heißer, stinkender Hauch wie der Odem jenes bösen Gottes, der bereits den Donnerschlag verursacht hatte. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis der Orkan nachließ – und mit ihm auch das Keuchen der Lauscher verstummte und sie alle zugleich in sich zusammensackten. Aruula blieb neben ihnen liegen, die Knie an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Der Schmerz hämmerte hinter ihrer Stirn, und ihr war kalt, so kalt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Um sie herum roch es nach Fäkalien und Erbrochenem. Außer ihrem eigenen Atem war nichts mehr zu hören. Alle tot. Der Gedanke legte sich wie ein Kissen auf ihre Gedanken und erstickte sie. Das Böse, das vom Kratersee ausging, war über den Zirkel gekommen und hatte ihn hinweg gefegt. Jetzt war niemand mehr da außer ihr. Alle tot. Sie kämpfte um Klarheit in ihrem Geist, aber der Gedanke wollte nicht weichen. Ihr eigenes Versagen starrte ihr aus gelben Augen entgegen und hielt ihren Blick schmerzhaft fest. Aruula blinzelte. Sie fühlte, dass sie nicht mehr allein war. Die gelben Augen musterten sie kalt; scharfer Raubtiergeruch strich über ihr Gesicht, als der Fuux sich über sie beugte. Etwas in Aruulas Geist bäumte sich gegen den Schmerz auf. Sie spürte den Willen zum Überleben, den Drang zur Flucht, aber auch die Kälte, die sie zu betäuben drohte. Der Fuux knurrte. Er war ein großes Tier, dessen Kopf fast bis zur Schulter eines Menschen reichte. Sein buschiger roter Schwanz ragte hoch auf und bewegte sich nicht, ein Zeichen
seiner Selbstsicherheit und Überlegenheit. Ein Schlag seiner Pranken hätte gereicht, um Aruula zu töten, doch obwohl sie das begriff, fehlte ihr die Angst. Sie wusste nicht, wie lange der Fuux sie angestarrt hatte, bevor er sich schließlich abwandte und die kleinwüchsige Faathme beschnüffelte. Nach einem Moment nahm er ihre Hand ins Maul und zog sie hinter sich her aus dem Zirkel. Aruula sah ihm nach. Er wird zu dir kommen, wenn sie alle weg sind, flüsterte eine Stimme in ihr. Der Tod der Lauscher hatte einen Teil aus ihr herausgerissen, und sie wusste nicht, ob sie diesen Teil jemals wieder finden würde. Sie zuckte zusammen, als ein Bild in ihrem Geist aufblitzte. Nur einen kurzen Augenblick lang sah sie es, dann verschwand es wieder und brachte die Wirklichkeit voller Leichen und Schatten zurück. Aruula senkte die Lider. Das Bild stand immer noch vor ihrem inneren Auge – eine neuerliche Vision? Sie sah einen brennenden Felsen vor sich. Die Hitze, die von ihm ausging, berührte ihre Seele und wärmte ihren Körper. Seine Helligkeit durchbrach die Schatten. Licht strömte ins Dunkel des Zirkels. Aruula atmete tief durch, sog es in ihre Lungen, bis es sie vollkommen durchströmte. Ruhe kam über sie. Der Schmerz verschwand. Aruula erhob sich. Einen letzten Blick warf sie auf die Toten, ein letztes Mal erlaubte sie sich, Trauer zu spüren, dann verließ sie den Zirkel und ging zum Rand des Plateaus. Die Andronen, die dort angebunden waren, rieben die Hinterbeine aneinander. Die aufgewühlte Natur und der Raubtiergeruch hatten sie nervös gemacht. Aruula ließ alle frei bis auf eine. Ihr legte sie die Hand zwischen die Augen. Sie konnte die Vision, die sie gehabt hatte, nicht mit dem Tier teilen, doch ihre Ruhe konnte sie auf es übertragen.
Die Androne presste den Kopf gegen ihre Hand und ließ sie gewähren. Nach einem Moment löste Aruula den Knoten der Zügel und stieg in den Sattel. Ihr Weg stand so klar vor ihr, als habe man ihn in eine Karte eingezeichnet. Am Ziel wartete der brennende Felsen. Dort würde sie finden, was sie verloren hatte – und noch mehr, viel mehr. Die Androne hob ab. Das Fuuxrudel, das dem Plateau entgegen zog, blickte voller Hunger und Sehnsucht empor. Aruula wandte sich ab, der Sonne entgegen. *** Im Augenblick der Katastrophe Community London, 0:37 Uhr UTC »Was geht hier vor?« Queen Victoria II. versuchte ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen, konnte das Zittern darin jedoch nicht unterdrücken. Zusammen mit anderen Octavianen und einem Vertreter des Militärs stand sie um den kleinen Monitor herum, auf den die Bilder vom Kratersee übertragen wurden. Commander Drax hatte eine der Kameras auf der ISS entsprechend ausgerichtet. Alle dreißig Sekunden aktualisierten sich die Aufnahmen mit quälender Langsamkeit. Das letzte Bild hatte den Kratersee gezeigt und etwas, das wie eine gewaltige weiße Wand wirkte. Jetzt sah man auf dem Monitor nur noch schwarze und weiße Pixel. »Wir haben den Kontakt zur ISS verloren«, sagte Sir Ibrahim Fahka. Er drückte auf einige Tasten. »Eine letzte aktuelle Aufnahme ist im Zwischenspeicher und wird gerade hochgerechnet. Das dauert einen Moment.« Die anderen Octaviane schwiegen. Lady Josephines weißes Seidenkleid knisterte im Luftstrom der Klimaanlage. Auf dem Monitor formte sich aus Pixeln eine Landschaft. Queen Victoria sah die Berge, die den Kratersee einrahmten, doch der See selbst war hinter einer grauweißen Wolke verborgen.
Kreisrund und bauchig erhob sie sich in die Luft, durchsetzt von roten und schwarzen Farbtupfern. Hätte Queen Victoria nicht gewusst, auf was sie dort blickte, hätte sie das Bild als schön bezeichnet. Neben ihr atmete Jefferson Winter tief durch. »Gibt es einen Zweifel daran, dass das, was wir sehen, der Realität entspricht?« Fahka schüttelte den Kopf. »Die Instrumente, die wir am Rand des Sees angebracht haben, zeigten vor ihrem Ausfall starke seismische Aktivitäten, die auf zahlreiche schwere Explosionen schließen lassen.« Er sah auf. Die Monitore spiegelten sich in seinen dunklen Augen. »Es gibt keinen Zweifel, Sir Jefferson. Die Daa'muren haben die Bomben gezündet. Wir haben versagt.« Er sprach ruhig und emotionslos, so als sei das, was eine halbe Welt entfernt geschehen war, ohne Bedeutung. »Wir müssen abwarten, bis sich die Wolke verflüchtigt hat«, fuhr er fort. »Erst dann können wir das ganze Ausmaß der –« Schlagartig wurde es dunkel. Knisternd und summend fielen Monitore und Instrumente aus, Kontrollanzeigen erloschen. Lady Josephines Kleid hing schlaff herab, als der Luftstrom der Klimaanlage erstarb. Queen Victoria II. spürte einen plötzlichen Schwindel. Desorientiert stützte sie sich an einer Wand ab, die sie in der Schwärze noch nicht einmal sehen konnte. »Werden wir angegriffen?«, fragte Jefferson Winter. Es klickte mehrfach, dann sagte Fahka: »Indirekt. Der elektromagnetische Impuls der Explosionen hat uns erreicht. Alle Systeme sind ausgefallen.« »Das ist völlig ausgeschlossen!«, rief General Rod Kennan, der Charles Draken Yoshiro vor Ort vertrat. »Auf eine solche Entfernung und in dieser Bodentiefe kann uns kein EMP erreichen. Es muss eine andere Erklärung geben.«
»Welche denn?« Fahkas Ruhe war beinahe unmenschlich. »Erklären Sie mir, wie dreifach redundante Systeme wie Stromversorgung, Licht und Klimakontrolle gleichzeitig ausfallen sollten. Fünfzehn separate Systeme, inklusive der Notstromaggregate, können nicht gleichzeitig sabotiert werden.« Victoria nickte, auch wenn das niemand sehen konnte. Nach dem ersten Spionageversuch der Daa'muren hatte sie sämtliche Systeme überprüfen und sichern lassen. Fahka hatte Recht. Niemand war in der Lage, sie mit einer solchen Präzision zu sabotieren. Trotzdem zog sie auch Kennans Meinung in Betracht, der sich in militärischen Dingen sicher besser als jeder Octavian auskannte. »Könnte es sich um etwas handeln«, fragte sie, »das wie ein EMP wirkt, aber eine andere Ursache hat?« »Möglich«, sagten Fahka und Kennan fast gleichzeitig. Anthony Hawkins räusperte sich. »Die Frage nach der Ursache für den Systemausfall halte ich für sekundär. Primär sollten wir uns mit der Frage unserer unmittelbaren Zukunft beschäftigen. Wir sind achtzig Fuß unter der Erde, ohne Sauerstoffversorgung und ohne Kommunikationsmöglichkeiten. Ich schlage daher eine Evakuierung des Bunkers vor.« »Mein lieber Anthony«, meldete sich Lady Josephine zu Wort. »Wie sollen wir den Bunkerverlassen, wenn die Fahrstühle nicht mehr funktionieren?« »Laufen?«, fragte Hawkins zurück. Die Prime der Stadt schnaufte. »Im Dunkeln durch die Notschächte kriechen? Lächerlich. Ich schlage vor, wir warten in Ruhe ab, bis unsere Techniker das Problem gelöst haben. Ein paar Stunden bleibt uns doch sicherlich noch genügend Luft.« »Ich befürchte, Sie verstehen den Ernst der Lage nicht.« Victoria hörte ein Rascheln, als er von seinem Stuhl aufstand.
»Das war kein Kurzschluss, nach dem man die Systeme einfach neu starten kann. Das war ein EMP!« Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Alles, was über einen Funken Elektronik verfügte, ist zerstört worden. Alle Fahrzeuge, alle Systeme, die Luftzufuhr, die Heizung, die Lebenserhaltungssysteme auf der Intensivstation, die Kühlung für die Serumsproduktion, jedes Funkgerät, jede Taschenlampe, jeder Computer. Es ist alles tot. Wir werden Jahre brauchen, um uns von diesem Schlag zu erholen, nicht nur ein paar Stunden. Verstehen Sie das?« Lady Josephine schwieg, aber Victoria war sich sicher, dass sie den General verstanden hatte. Sie alle hatten ihn verstanden. Victoria nahm die Hand von der Wand. Reiß dich zusammen, dachte sie. Du bist ihre Königin. »General Kennan«, sagte sie mit all der Ruhe, die sie aufbringen konnte. »Ich übertrage Ihnen die militärische Leitung der Evakuierung. Koordinieren Sie sich mit Lady Josephine, die die zivile Leitung übernehmen wird. Sir Ibrahim, Sie und Mister Hawkins werden Möglichkeiten finden, uns mit Licht, Vorräten und allem anderen, was Sie für brauchbar halten, zu versorgen. Die anderen ordnen sich diesen beiden Teams unter und unterstützen sie in jeder Hinsicht. Gemeinsam werden wir auch diese Krise meistern.« »Ja, meine Königin.« Die Antwort kam teils gemurmelt, teils enthusiastisch. Jetzt, wo sich der erste Schock zu legen begann, brauchten die Octaviane eine Aufgabe, um nicht über ihr Leben nach der Katastrophe nachdenken zu müssen – und darüber, wie kurz dieses Leben sein würde, nachdem das letzte Serum verbraucht war. Auch dessen Produktion war mit elektronischem Equipment verbunden. Ich verfluche dich, Arthur Crow, dachte Victoria mitzusammengepressten Lippen. Wieso konntest du uns nicht vertrauen?
Und warum haben wir ihm nicht vertraut?, wisperte eine böse Stimme in ihrem Kopf. *** Vernon, Unterwasserstadt der Hydriten vor der britischen Küste, 0:40 Uhr UTC Als die Schockwellen Vernon erreichten und den Meeresboden beben ließen, verfielen nur wenige Hydriten in helle Aufregung. Viele jedoch suchten das freie Wasser auf, um sich gegenseitig mit sorgenvoller Miene zu bestätigen, was sie doch schon lange gewusst hatten: Die Menschen brachten Krieg und Vernichtung. Das war immer schon so gewesen und würde sich niemals ändern. Die neuerliche Zerstörung der Oberfläche war dafür der beste Beweis. Damit folgten sie der Propaganda jener Fraktion, die den Kontakt mit den Menschen ablehnte. Wer indes über die Hintergründe informiert war, blickte sorgenvoll nach oben zur Wassergrenze, wo offensichtlich der Krieg gegen die Daa'muren, der letztlich doch alle anging, sein dramatisches Ende gefunden hatte. »Es ist geschehen«, sagte Quart'ol in der aus Klacklauten bestehenden Sprache der Hydriten zu seinem Assistenten. »Sie haben es nicht verhindern können.« Große Sorge schwang in seinen Worten mit. Mer'ol, durchaus ein Kritiker der Menschen und ihrer kriegerischen Neigungen, aber keineswegs verblendet, nickte düster. »Wir hätten es nicht verhindern können«, sagte er und legte Quart'ol eine Schuppenhand auf die Schulter. Die beiden verband die Freundschaft zu einem Oberflächenbewohner, dessen Schicksal nun Ungewisser war als je zuvor: Maddrax. Sie schwammen in der Nähe der großen Ratskuppel, des Hydrosseums. Unter ihnen, auf dem mit einem riesigen Mosaik
verzierten Platz, hatten sich Hunderte versammelt. Ihr erregtes Klacken und Schnarren pflanzte sich durch das Wasser fort. Quart'ol hörte es mit Sorge. »Die Menschen brauchen jetzt unsere Hilfe, nicht unsere Verachtung«, sagte er. Noch immer war er enttäuscht, dass der HydRat die Anfrage der Allianz, sie im Kampf gegen die Daa'muren zu unterstützen, abgelehnt hatte. »Wir sollten hören, ob es neue Nachrichten gibt«, meinte Mer'ol und wies auf den Eingang zur Ratskuppel. Quart'ol, seines Zeichens hydritischer Wissenschaftler, wies auf den Kasten an seinem Gürtel – ein wasserdicht eingeschweißtes ISS-Funkgerät, das er von Maddrax erhalten hatte. Natürlich drangen die Funkwellen nicht durch das Wasser; um Verbindung aufzunehmen, musste er hinauf zur Oberfläche tauchen. »Wenn es neue Nachrichten gibt, dann kommen sie hier an«, sagte er. Mit Maddrax verband ihn eine ganz besondere Erfahrung, die nun schon fast sechs Jahre zurücklag. Quart'ol war Mitglied der Quan'rill-Kaste, deren Mitglieder die Fähigkeit erlangt hatten, ihren Geist in speziell dafür gezüchtete Klone zu übertragen und so die Zeiten zu überdauern. Auch Quart'ol lebte bereits in seinem zweiten Körper; das aber nur, weil er zum Zeitpunkt des unerwarteten organischen Todes seinen Geist in einem Menschen hatte »Zwischenlagern« können: in Commander Matthew Drax. Monatelang hatte der Oberflächenbewohner Quart'ols Seele in sich getragen. In dieser Zeit hatte der Hydrit mehr über die Menschen erfahren als Generationen von Gelehrten vor ihm – unter anderen das Rätsel um den Mann, den die Barbaren »Maddrax« nannten und der durch einen Zeitsprung aus dem 21. Jahrhundert in diese Epoche gelangt war. Im Gegenzug hatte auch Matthew Drax alles (nun ja, fast alles) über die uralte Rasse erfahren, die unentdeckt schon seit Menschengedenken am Grunde der Ozeane lebte.
Ein Hydrit, den sein gestreifter Schulterpanzer als Bote des Rats auswies, tauchte aus dem Eingang der Kuppel auf, sah sich um und kam dann zielstrebig auf Quart'ol und Mer'ol zu. »Der HydRat bittet dich, mit deinem Funkgerät Kontakt zur Allianz aufzunehmen, Quart'ol«, klackte er. Die beiden Wissenschaftler sahen sich an. »Gibt es besondere Informationen, die der HydRat benötigt?«, fragte Quart'ol dann. »Dazu wurde mir nichts aufgetragen.« Der Bote hob die Schultern. »Nun gut – richte dem Rat aus, dass ich mich zur Oberfläche aufmache und nach meiner Rückkehr Bericht erstatte.« »Ich komme mit dir«, bot Mer'ol sich an. »In der jetzigen Situation solltest du nicht allein schwimmen.« Gemeinsam ließen sie Vernon hinter sich. Die Lichter der Stadt blieben in der Tiefe zurück. An aufgeschreckten Fischschwärmen vorbei, die zu spüren schienen, dass Land und Meer in Aufruhr geraten waren, näherten sie sich zügig der Oberfläche. Ihr einzigartiger Metabolismus ermöglichte es ihnen, dabei keine Pausen einlegen zu müssen, um für allmählichen Druckausgleich zu sorgen. Hydriten waren sowohl Lungen- als auch Kiemenatmer. Solange sie nicht zu sehr austrockneten, konnten sie sich problemlos an Land bewegen. Endlich durchbrachen Quart'ol und Mer'ol die Wassergrenze und blickten auf ein nächtliches Firmament, in dem der volle Mond nur trübe und schemenhaft leuchtete. Die Atmosphäre schien bereits vom aufgewirbelten Staub der Explosion durchsetzt zu sein. Quart'ol nahm das Funkgerät von seinem Gürtel und drückte die Ruftaste. »Quart'ol von den Hydriten ruft die Allianz«, sagte er in der Sprache der Menschen, die er dank der Seelenverschmelzung mit Maddrax perfekt beherrschte – so
wie der Mann aus der Vergangenheit im Gegenzug Idiom und Schrift der Hydriten gelernt hatte. »Ich rufe alle, die mich hören könn...« Quart'ol verstummte, als er bemerkte, dass die Bereitschaftsanzeige des Funkgeräts nicht mehr glühte. Dabei wurde es doch von einem Trilithiumkristall gespeist, einer schier unerschöpflichen Energiequelle! Er versuchte es mit verschiedenen Einstellungen, doch das Ergebnis blieb gleich: Keine der Stationen meldete sich. Schließlich gab er es auf. Noch beunruhigter als zuvor kehrten er und Mer'ol nach Vernon zurück. Der HydRat war vollzählig versammelt, als sie in das Hydrosseum eintauchten. »Was wir erlebt haben, ist das Ergebnis der menschlichen Strategie«, empfing sie Sly'tar, die OBERSTE der Stadt. »Die Daa'muren haben ihre Vernichtungswaffe gezündet!« Quart'ol bemühte sich erst gar nicht zu erklären, dass den Menschen keine andere Wahl geblieben war, als gegen den übermächtigen Feind vorzugehen; das hatte er bereits in zahllosen Sitzungen und Anträgen versucht. »Ist bereits bekannt, wie stark die Oberflächenbewohner betroffen sind?«, fragte er stattdessen. »Um das zu klären, haben wir dich zur Oberfläche gesandt«, entgegnete Sly'tar. »Hast du mit diesem... Ding«, sie wies auf das Funkgerät, »Kontakt zu den Menschen aufnehmen können?« Quart'ol schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das Gerät scheint nicht mehr zu funktionieren.« »Das haben wir bereits vermutet«, sagte Sly'tar. »Wir haben die Ausläufer einer unbekannten Strahlung aufgefangen, die offenbar eine vernichtende Wirkung auf die Technik der Menschen hat.« Sie wies auf ein Messgerät aus bionetischem Material – dem allgegenwärtigen, formbaren Baustoff der Hydriten –, das den Impuls mit Tausenden
phosphoreszierender Äderchen visualisierte. »Unsere Späher meldeten uns inzwischen, dass sämtliche Fluggeräte der Allianz abgestürzt sind und zumindest ihre Küstenstädte weltweit im Dunkeln liegen.« »So hat uns der Krieg doch etwas Gutes gebracht«, ließ sich Dar'tan vernehmen, ein greiser Ratsherr, dessen Misstrauen gegenüber den Menschen stadtbekannt war. »Sie werden uns nie mehr mit ihren Waffen bedrohen können.« Quart'ol ballte die Flossenhände zu Fäusten ob dieser Engstirnigkeit. Was dachte Dar'tan denn, was die Daa'muren tun würden? Aber er hielt sich wiederum zurück. Es hatte keinen Wert, den Rat gegen sich aufzubringen. »Diese Strahlung«, fuhr Sly'tar fort, »geht vom Kometen aus und wird in regelmäßigen Intervallen wiederholt.« »Auf unsere Technik hat sie keinen Einfluss?«, erkundigte sich Mer'ol. »Alle bionetischen Komponenten arbeiten einwandfrei, auch die Transportquallen«, sagte der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, der Quan'rill Hof'lar; ein integerer Hydrit, mit dem Quart'ol schon zusammengearbeitet hatte. »Wir befürchten aber, dass die Tunnelröhren in den Krisengebieten und an den Kontinentalschelfen schwer beschädigt wurden. Wir müssen Teams zusammenstellen, um sie zu überprüfen und zu reparieren.« »Und wir müssen unserer Zusage nachkommen«, hakte Quart'ol ein, »den Menschen zu helfen, jetzt da sie unsere Hilfe am dringendsten benötigen!« Dar'tan schnaubte widerwillig. Ein Strom kleinster Luftbläschen stieg zur Decke empor. Sly'tar, die OBERSTE, nickte. »Gut. Hof'lar, dich betraue ich mit der Koordination der Reparaturen; stimme dich mit den anderen Städten ab. Und du, Quart'ol, wähle dir fünfzig Mann aus und bring Medikamente zu den Küsten.«
»Aber –«, wollte Quart'ol aufbegehren. Fünfzig Hydriten bei wahrscheinlich Zehntausenden von Verletzten – das war wenig mehr als ein Plankton für einen Heringsschwarm! »Du wirst das Land nicht betreten«, unterbrach ihn Sly'tar mit erhobener Stimme, »und keinen Kontakt mit den Menschen aufnehmen! Der Rat von Vernon hat beschlossen, alle Kontakte zur Oberfläche einzustellen, wenn dort nun die Daa'muren herrschen. Solange diese Entscheidung nicht vom Sieben-Städte-Bund bestätigt oder abgelehnt wurde, wirst du ihr folgen. Hast du verstanden?« »Ich habe verstanden.« Quart'ol neigte den Kopf. Er konnte nicht riskieren, dass die Aufgabe einem anderen übertragen wurde. Wenn er etwas von Maddrax gelernt hatte, so war es das Nutzen von Chancen, wo niemand sonst Chancen sah. Und vielleicht würde sich bei den Küstenbesuchen doch noch ein Weg finden, mehr in Erfahrung zu bringen. Über die Verbündeten in London. Über Aruula und Aiko. Und über Maddrax. Sofern sie noch lebten... *** Am Rande des Kometenkraters, 7:54 Uhr Ortszeit Der Sol schlug die Augen auf. Sein Echsenschädel – das gezüchtete Gefäß für seinen körperlosen Verstand – hob sich. Lange hatte er in Trance verbracht, hatte dem Pulsieren gelauscht, das sie alle in der weitläufigen Höhle mit jeder Faser ihres Selbst spürten. Kein Zweifel, dass die Impulse vom Wandler kamen. Kein Zweifel... oder? (Ist es gelungen?) Ora'sol'guudo blickte zu Liob'lan'dreea, der neben ihm kauerte und die Frage gestellt hatte. Die anderen seines Volkes sahen ihn stumm an, doch in all ihren Gesichtern, in all ihren
Gedanken sah und spürte er dieselbe Frage. Er würde sie enttäuschen müssen. (Nein.) Das eine Wort fuhr wie ein mentaler Schlag in sie und ließ ihre ontologisch-mentale Substanz für Sekunden erstarren. Entsetzen machte sich breit bei denen, die menschliche Gefühle bereits erfahren und entwickelt hatten, Ratlosigkeit bei den anderen. (Jeecob'smeis hat uns betrogen), fuhr der Sol fort. (Er hat die Bombenkette sabotiert, sodass der Impuls nicht in ausreichender Stärke abgestrahlt wurde.) (Sabotiert...?), echote Liob'lan'dreea. (Aber wie ist das möglich?) (Wir haben die Konzepte des Betrugs und der Täuschung von ihm gelernt und gegen die Primärrassenvertreter eingesetzt), erklärte der Sol, (aber offensichtlich konnten wir nie seine Effizienz erreichen. Diesen einen, entscheidenden Gedanken vor uns zu verbergen war sein Meisterstück – und letztlich sein Tod.) (Was ist mit dem Wandler geschehen?), fragte Grao'sil'uuna. (Wir alle können ihn doch spüren!) (Der Antrieb wurde nicht reaktiviert), erklärte der Sol. (Aber der zu schwache Impuls hat etwas in Gang gesetzt... etwas, das ich selbst nicht deuten kann.) Sie alle spürten den Anflug von Unsicherheit in der mentalen Übermittlung ihres Obersten. Eine Schwäche, die einem Sol nicht angemessen war – und doch schien er sie nicht ausschließen zu können. (Es ist, als stünde der Antrieb dicht davor, seine Kraft zu entfalten. Als fehlte nur noch ein letzter Energieschub, um ihn vollends zu aktivieren.) (Dann zünden wir mehr Bomben!), ließ sich ein anderer Daa'mure vernehmen; offensichtlich einer, dem das Wissen fehlte, um einen solchen Vorschlag zu unterbreiten.
Trotzdem wandte sich der Sol nicht mit Geringschätzung an ihn. (Das ist nicht möglich. Wir haben all unsere Vorräte diesem einen Versuch geopfert. Eine neue Bombenkette zu installieren wird nicht möglich sein. Durch den Impuls – Jeecob'smeis nannte ihn EMP – wurde alle Technik der Primärrassenvertreter zerstört.) (Wir alle haben diesen EMP gespürt), warf Liob'lan'dreea ein. (Er hatte dieselbe Signatur wie die Impulse, die der Wandler seither abstrahlt. Was hat das zu bedeuten?) (Denke logisch, Lan!) Nun klang tatsächlich Ungeduld in der Stimme des Sol mit. (Nur weil die Impulse identisch sind, konnten wir diese spezielle Art der Nuklearbomben zur Reaktivierung einsetzen.) (Dann bedeutet dies für die Primärrassenvertreter, dass ihre Technik auch weiterhin unter dem Einfluss der Wandlerstrahlung liegt!) Liob'lan'dreea war sichtlich bemüht, die Scharte auszuwetzen und seinen Status als »Erfahrener« wiederherzustellen. (Sie werden uns nie wieder gefährlich werden.) (Auf der Grundlage der aktuellen Kräfteverhältnisse ist dies korrekt.) Der Sol nickte – eine seltsam menschliche Geste. (Wir können ungehindert nach anderen Möglichkeiten suchen, den Wandler doch noch zu reaktivieren und das Projekt Daa'mur zum Abschluss zu bringen.) (Die Primärrassenvertreter sind unberechenbar in dieser Hinsicht), warf Grao'sil'uuna ein. (Wir sollten uns nicht auf ihr bloßes Unvermögen verlassen, sondern das Konzept des – wie nannte es Jeecob'smeis? – des Waffenstillstands mit ihnen eingehen.) (Ich werde dies in Betracht ziehen.) Am Ende der Höhle, die nur von einigen Fackeln erleuchtet wurde, kam Unruhe auf. Ein Daa'mure bahnte sich seinen Weg durch die dicht an dicht sitzenden Echsenwesen. Sein Ziel war der Sol.
(Wir konnten den Ausgang jetzt freilegen), meldete er. (Die Verhältnisse draußen sind ideal. Fast scheint es, als wären wir in der alten Heimat!) Seine Aufregung war deutlich spürbar und übertrug sich in Sekundenschnelle auf alle Anwesenden. Die alte Heimat – Daa'mur! Die Sehnsucht war noch immer stark in ihnen, auch wenn der Planet schon vor Äonen in einem schwarzen Nichts versunken war, das zuvor seine beiden Sonnen gefressen hatte. Trotzdem warteten sie alle, bis Ora'sol'guudo sich erhoben hatte, und folgten ihm ohne Hast zum Ausgang der Höhle. Vor der Explosion war der Verbindungstunnel nach draußen zum Einsturz gebracht worden. Die von einem Hilfsvolk, den Narod'kratow angelegten Bergwerksstollen und tiefen Höhlen hatten ihnen Schutz vor den vernichtenden Gewalten geboten, denen jedes andere Lebewesen innerhalb des Ringgebirges zum Opfer gefallen sein musste. Um die zu erwartende Strahlung sorgte sich Ora'sol'guudo nicht: Wenn Jeecob'smeis' Laserblitz-Vorrichtung funktioniert hatte, war die erste Halbwertszeit des in Jod 128 umgewandelten radioaktiven Materials bereits vorüber, und es würde nicht einmal eine Rotation dauern, bis die Belastung sich völlig abgebaut hatte. Was blieb, waren Cäsium 137 und Strontium 90, allerdings in so geringen Mengen, dass sie nicht gefährlich werden konnten. Falls die Vorrichtung versagt hatte – nun, dann würden er und alle Betroffenen eben in neu gezüchtete Körper schlüpfen, sobald die alten zu versagen drohten. Genügend Eier waren lange zuvor jenseits des Gebirges in Sicherheit gebracht worden. Wichtiger war, dass nicht zu viel aufgewirbelter Dreck in die Atmosphäre des Zielplaneten gelangte. Eine neue Eiszeit – die erste hatten sie unbeschadet in ihren Kristallen überstanden – würde ihre Aktivitäten zum Stillstand bringen. Für extreme Kälte waren weder ihre Wirtskörper geschaffen, noch das, was sich darunter verbarg. Die Nähe der Bomben zum Wandler
hatte dazu führen sollen, dass dieser sich durch die Explosionen elektrostatisch auflud, um einen Großteil der aufgewirbelten Materie an sich zu ziehen. Sie erreichten den Ausgang, und wenn sie die wabernde Hitze auch schon vorher gespürt und die Witterung geschmolzenen Steins aufgenommen hatten, so war es doch eine einzigartige Erfahrung, ins Freie zu treten. Der erste Blick in den Himmel bestätigte, dass sich die Verschmutzung der Atmosphäre in Grenzen hielt; zwar war die Sonne nur ein ferner Schemen, aber das Tageslicht drang immer noch durch. Die Temperatur dagegen war noch weiter angestiegen. Denn vor ihnen kochte, so weit das Auge reichte, ein Ozean brodelnder Lava. Rauch stieg auf, orange schillernde Blasen zerplatzten, feurige Fontänen schossen in die Höhe und fielen kaskadenförmig zurück. »Daa'mur«, flüsterte der Sol – und wurde sich dann erst bewusst, dass er seine Stimmbänder für dieses Wort benutzt hatte. »Als wäre Projekt Daa'mur bereits vollendet«, sagte Grao'sil'uuna an seiner Seite. »Was würde ich dafür geben, mich in die Fluten zu stürzen!« »Dafür ist es zu früh«, warnte der Sol. »Du würdest die äußere Hülle deines Wirtskörpers aufgeben – aber dieses Meer ist nicht von Dauer. Es wird erkalten, in wenigen Rotationen schon.« Er wies zum Ufer, wo sich bizarre Gebilde aus halb erstarrter Lava rankten. »Wir müssen warten, bis der Wandler einsatzbereit ist. Dann erst können wir ein zweites, dauerhaftes Daa'mur schaffen! Aber dafür brauchen wir Zeit...« Er riss sich gewaltsam von dem Anblick los und wandte sich an einen Lun, einen Reifen, Mächtigen. »Dir übertrage ich die Aufgabe, einen Anführer der Primärrassenvertreter aufzusuchen, Est'lun'degaa. Versuche festzustellen, was die
Menschen planen, und übermittle ihnen diese Botschaft Ora'sol'guudos...« *** Außerhalb des Erdorbits, 0:58 Uhr UTC Der Mond...! Der Gedanke war faszinierend. Und brachte Matt den ersten Hoffnungsschimmer seit der Katastrophe. Das Shuttle hier im All zu reparieren war ihm aus zwei Gründen nicht möglich: Erstens hätte er die passende Ausrüstung benötigt und zweitens genug Hitzekacheln, um die klaffenden Löcher in der Unterseite zu schließen. Auf der Mondstation gab es beides; schließlich hatte in den Jahren 2009 bis Ende 2011 ein reger Pendelverkehr dorthin bestanden. Zudem konnte er für Naoki an Bord der Raumfähre nichts tun. Auf dem Mond aber existierte eine voll ausgestattete Krankenstation, und die Schwerkraft dort würde auch hilfreich sein bei allen Eingriffen, die er würde vornehmen müssen. Und nicht zuletzt: Hier an Bord konnte er bloß noch die Stunden bis zu seinem Ableben zählen. In sechs Tagen war der Sauerstoffvorrat zu Ende. Auf dem Mond konnte er versuchen, den von der ISS geretteten Oxygenium-Synthesizer zu installieren, um damit neue Lebenszeit herauszuschinden. Wofür? Nun, um zum Beispiel einen Weg zu finden, mit dem reparierten Shuttle trotz des EMP so tief in die Erdatmosphäre vorzudringen, dass Naoki und er abspringen und per Fallschirm landen konnten. Natürlich gab es genügend Unwägbarkeiten in dieser allzu einfachen Rechnung. Er wusste beispielsweise nicht, wie es auf der Mondstation aussah. Wenn er sich recht erinnerte, hatten die beiden letzten Besatzungsmitglieder damals, vor dem Einschlag »Christopher-Floyds«, dort bleiben müssen, ohne eine Chance,
nach der misslungenen Abwehr des Kometen auf die Erde zurückzukehren. Wie hatten sie ihre letzten Monate verbracht? Waren alle Wasser- und Nahrungsreserven aufgebraucht? Hatten sie in ihrer Verzweiflung die Station verwüstet? Oder hatte in den fünfhundert Jahren, die seitdem vergangen waren, ein Meteoritenschauer die Basis getroffen, vielleicht auch nur die Landebahn zerstört? Würde es ihm überhaupt gelingen, eine Schleuse zu öffnen, um die Station zu betreten? Fragen, auf die es keine Antwort gab. Aber das war für Matthew Drax zweitrangig. Wichtig war allein, dass er ein Ziel verfolgen konnte, ein Licht am Horizont sah. Und dafür war es wert zu kämpfen. Die Entfernung war kein Problem. Naoki hatte sogar – wenn auch scherzhaft – betont, dass der Treibstoff locker für eine Reise zum Mond und zurück reichen würde. Auch um die Flugdauer machte er sich keine Sorgen. Mit dem neuartigen Metall Wasserstoff-Antrieb würde er laut seiner Berechnungen gerade mal neunundvierzig Stunden für die rund 384.000 Kilometer benötigen. Warum also nicht? »Wir fliegen zum Mond, Naoki!«, sagte er, waagerecht neben der noch immer reglosen Cyborg schwebend. »Ich weiß nicht, ob du mich hörst, aber es gibt wieder Hoffnung!« Er strich ihr über die bleiche gelbliche Stirn und beobachtete die Augäpfel unter ihren Lidern. Keine Reaktion. Nur das Pulsieren einer Ader an ihrer Schläfe bewies ihm, dass ihr Herz regelmäßig schlug. Ihm fiel auf, dass er sich nie erkundigt hatte, in welchen Abständen welche Art von Nahrung Naoki zu sich nahm. Aiko hatte sich seines Wissens normal ernährt, aber wie sah das bei der Cyborg aus? Nun, auf dem Mond würde es Möglichkeiten geben, sie notfalls intravenös zu ernähren – hoffte er. »Ich werde dich jetzt im Copilotensitz angurten«, sagte er und zog sie behutsam mit sich. »Damit du die Beschleunigung
gut überstehst, verstehst du?« Er bugsierte sie in die richtige Position und drückte sie in das Polster hinab. Alles wäre einfacher gewesen, wenn er ihr den klobigen Raumanzug hätte ausziehen können. Aber das war nicht ratsam; auch er selbst würde den seinen wieder anlegen müssen. Der Van-Allan-Gürtel, den sie auf dem Weg zum Mond durchfliegen mussten, war der doppelte Strahlenschutzschild der Erde und erstreckte sich in einer Zone von tausend bis sechstausend und von fünfzehn- bis fünfundzwanzigtausend Kilometer über dem Planeten. Ohne den Strahlenschutz, den ihnen die Anzüge boten, würden sie sich eine zu hohe Strahlenbelastung einfangen. Nachdem er der Cyborg den Helm aufgesetzt und die Sauerstoffzufuhr kontrolliert hatte, nahm Matt die letzten Kursberechnungen vor, gab sie in den zweiten Navigationsrechner ein – das primäre System hatte den Geist aufgegeben – und checkte noch einmal die Antriebsaggregate. Ein nur geringer Leistungsverlust an einer der Schubdüsen, und der Kurs würde ihn Zehntausende von Kilometer am Mond vorbei führen... Dann legte er seinen Raumanzug an und schnallte sich fest. »Alles okay, Naoki?« Keine Antwort; natürlich nicht. Er konzentrierte sich auf die Anzeigen – sofern sie funktionierten. Der Countdown für das errechnete Startfenster lief. Zwölf Minuten musste er noch ausharren, den Blick immer wieder auf die helle Scheibe des Mondes gerichtet. Was würde ihn dort erwarten? Trotz aller Umstände, trotz der Sorge um seine Freunde und der mehr als ungewissen Zukunft regte sich in diesen Minuten der alte Entdeckergeist in ihm. Es galt Neuland zu betreten. Ein Flug zum Mond oder gar zum Mars – hatte er davon in seiner Zeit als Jetpilot nicht immer geträumt?
Fast hätte er über seinen Grübeleien den Zeitpunkt für die Triebwerkszündung verpasst. Der Countdown lief ab. 3... 2... 1... Start! Sein Daumen senkte sich auf den Auslöser. Ein Ruck ging durch das Raumschiff, und augenblicklich begann die Schwerkraft an Matthew zu zerren. Sechs Minuten vierzig Sekunden Brenndauer! Eine Zeit bangen Wartens: auf einen plötzlichen Instrumentenausfall, auf eine Explosion in einem beschädigten Element, auf einen Druckabfall oder sonstige Katastrophen. Nichts davon trat ein. Die Beschleunigungsphase ging ohne Komplikationen vorüber. Doch erst als die Triebwerke verstummten und alle relevanten LEDs auf Grün blieben, erlaubte sich Matt ein Aufatmen. Nun waren er und Naoki auf dem Weg... *** 20 km westlich des Ringgebirges, 8:02 Uhr Ortszeit Rulfan spuckte Erde aus. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stieß er sich aus der Kuhle empor, in die er sich eingegraben hatte, und schüttelte den Dreck von seinem Körper. Um ihn herum bewegte sich die Erde, als immer mehr Barbaren aus ihren Verstecken krochen. Er senkte den Kopf, als er die verkrümmten, schwarz verbrannten Leichen sah, die zwischen ihnen lagen. Nicht allen war es gelungen, sich rechtzeitig einzugraben, bevor die Feuerwand der Explosionen über sie hinweg gerast war. Wenn nicht die Erhebungen des Ringgebirges zwischen ihnen und dem Explosionsort gelegen und sie geschützt hätten, wäre nichts von ihnen übrig geblieben, dessen war er sich sicher.
Er schämte sich beinahe dafür, dass sein zweiter Blick Chira galt. Die Lupa-Welpe hatte durch einen Mantel geschützt neben ihm in der Kuhle gelegen. Jetzt schüttelte sie sich und begann ihre Pfoten abzulecken. Ihr schien nichts passiert zu sein. Rulfan streichelte sie kurz, dann stand er auf und griff nach dem Funkgerät. »Rulfan an Allianz-Kommandos«, begann er, brach aber ab, als er die fehlenden Kontrolllichter bemerkte. Natürlich, dachte er dann. Der EMP hat die gesamte Elektronik vernichtet. Das bedeutete auch, dass er keine Möglichkeit hatte, die Strahlung zu messen, der sie hier ausgesetzt waren. Er befürchtete, dass er und seine Männer die tödliche Dosis längst erreicht hatten, aber die Gewissheit einer Messung wäre ihm lieber gewesen. »Rulfan?« Einer der russischen Häuptlinge trat neben ihn. In seinen geflochtenen Zöpfen hingen kleine Dreckklumpen. »Müssen wir noch kämpfen?« Rulfan blickte zu dem verbrannten Gebirge und den gewaltigen weißen Wasserdampfwolken, die sich darüber schoben. »Nein«, sagte er dann leise. »Das müssen wir nicht mehr.« Der Häuptling runzelte die Stirn. Die Bewegung krümmte die Tätowierungen auf seiner Haut zusammen. »Haben wir gewonnen oder verloren?« Rulfan dachte an Matt Drax und Naoki, die in der ISS ihren Tod erwarteten. Er dachte an die Soldaten am Kratersee, an Arthur Crow und seinen wahnwitzigen, gescheiterten Plan, an die EWATs, die der EMP vom Himmel geholt hatte, an die verkrümmten Leichen rund um sich herum und an den schleichenden Tod in der Luft. »Wir haben verloren, Iigor, wir haben alles verloren, was wir je hatten.« Trauer und Wut wallten in ihm auf. Am liebsten hätte er sie hinausgebrüllt und sich anschließend unter
irgendeinem Stein verkrochen, aber er riss sich zusammen. Die Strahlung hatte aus den Kriegern vielleicht wandelnde Tote gemacht, doch er würde wenigstens noch dafür sorgen, dass sie zu Hause sterben konnten. »Iigor, wir ziehen ab. Die Männer sind aus ihrem Treueschwur entlassen. Sie sollen zu ihren Stämmen zurückkehren.« Erleichterung zeigte sich auf dem Gesicht des Häuptlings. »Das ist gut«, sagte er mit einem Blick auf die weiße Wolkenwand über den Bergen. »Das hier ist ein böses Land.« Und es wird noch viel böser. Für einen kurzen Augenblick dachte Rulfan an Selbstmord, doch er verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Auch wenn die Strahlung seinen Körper bereits zerfraß, gab es immer noch Dinge, die er erledigen musste. Fast vier Stunden vergingen, bis das gewaltige Heer abmarschbereit war. Fast ein Viertel der Männer und sämtliche Reittiere waren den Flammen zum Opfer gefallen, und die Überlebenden mussten sich die Last der Vorräte teilen. »Wir sind fertig«, sagte Iigor schließlich. »Willst du das Kommando zum Aufbruch geben?« »Nein, du wirst die Krieger nach Hause bringen. Mein Weg führt mich zu einem anderen Ziel.« Der Häuptling nickte, als verwundere ihn das nicht. Er streckte die Hand aus. Rulfan ergriff sie. »Mögen Sonne und Mond stets deinen Weg erleuchten.« Rulfan nickte. »Und den deinen.« Er wandte sich ab, als das Heer durch die aschgraue Landschaft nach Westen zog. Sein Weg würde ihn nach Nordwesten führen, zu Aruula, die rund dreihundert Kilometer entfernt war und nichts davon ahnte, dass Matthew Drax nie wieder zurückkehren würde. Sie wollte er finden und beschützen, solange es ihm möglich sein würde. Rulfan wusste, dass er aus dem Schock der Niederlage heraus handelte, aber das Bedürfnis, ein Ziel zu haben und die
Trauer und Wut hinter sich zu lassen, war so groß, dass er alles andere zurückstellte. Ohne einen weiteren Blick auf das Gebirge zu werfen, hinter dem die Welt ihr Ende gefunden hatte, schulterte er seinen Rucksack, rief Chira zu sich und machte sich auf den Weg. *** Community London, 1:16 Uhr UTC Der große Festsaal, der sonst nur an Feiertagen und zu anderen ganz besonderen Anlässen benutzt wurde, war voller Menschen. Hunderte saßen auf dem Boden oder standen an die Wände gelehnt zwischen Kerzen, Öllampen und Fackeln. General Rod Kennan hatte einen Bereich absperren lassen und der Kommandoebene zugeteilt. Es war heiß und stickig, aber niemand beschwerte sich darüber. »Nach einer ersten Schätzung«, sagte Hawkins und warf einen Blick auf den Zettel in seiner Hand, »sind bei Fehlfunktionen und Unfällen sieben Menschen ums Leben gekommen. Vierundzwanzig wurden verletzt, sechs davon schwer.« »Warum so viele?«, fragte Lady Josephine. Sie saß auf dem Boden, ihre Perücke hatte sie wie die anderen Bunkerbewohner aus Sicherheitsgründen abgelegt. Mit ihrem weißen, wallenden Kleid und der spiegelnden Glatze sah sie aus wie ein Buddha. Hawkins hob die Schultern. »Wegen der fehlenden elektronischen Steuerung der Ventile kam es zu mehreren Gasexplosionen. Dabei gab es die meisten Toten und Verletzten. Der Rest ist in der Dunkelheit gestürzt oder gegen etwas geprallt. Neben Verbrennungen sind Frakturen die häufigsten Verletzungen.« Queen Victoria II. dachte an die Erschütterungen, die sie im Boden gespürt hatte. Vier Explosionen hatten die Bunker erbeben lassen. Einige Sektionen hatten komplett abgesperrt
werden müssen, weil die Feuer nicht unter Kontrolle zu bringen waren. »Wie sieht es sonst aus?«, fragte Victoria. »Chaotisch«, sagte Hawkins spontan. »Es geht das Gerücht um, die Daa'muren seien auf dem Weg, um London zu erobern. Wir versuchen die Leute zu beruhigen, aber sie glauben uns nicht.« »Wie sollten sie auch.« General Kennans Schatten fiel über Victoria. Sie sah von ihrem Stuhl auf zu ihm. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie damit so falsch liegen.« »Glauben Sie wirklich, dass die Daa'muren uns überfallen werden?« Der Kerzenschein ließ die Sorgenfalten auf der Stirn des Generals zu tiefen Narben werden. »Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich es in Erwägung ziehen. Man sollte den Gegner vernichten, solange er am Boden liegt, nicht darauf warten, dass er wieder aufsteht.« Er sah sich um, als befürchte er, die Außerirdischen stünden bereits hinter ihm. »Da ist noch etwas«, sagte er dann leiser. Lady Josephine beugte sich vor, um ihn besser zu verstehen. »Fahkas Ingenieure haben versucht, eine Batterie zu bauen, aber das hat nicht funktioniert. Das bedeutet, dass der EMP immer noch wirkt, also nicht durch die Explosionen, sondern durch etwas anderes ausgelöst wurde, wahrscheinlich absichtlich.« »Um uns lahm zu legen?«, fragte Lady Josephine ebenso leise. »Um die Welt lahm zu legen«, antwortete Kennan düster. Victoria sah ihn an. »Was schlagen Sie vor?« »Wir schicken einen Stoßtrupp zur Oberfläche. Er soll die Soldaten in den Kommandozentralen evakuieren und ein paar Gebäude sichern. Wir sollten uns in keinem Bereich aufhalten, der dem Feind vertraut sein könnte. Parallel dazu sollten wir einen zweiten Trupp zu einer Erkundungsmission nach
Salisbury schicken. Wir müssen uns unbedingt mit dem zweiten Bunker koordinieren.« Victoria nickte. »Leiten Sie alles Notwendige in die Wege.« »Ja, meine Königin.« Der General wollte sich abwenden, aber sie berührte ihn am Arm. »Was ist mit der Serumsproduktion?«, flüsterte sie. Kennan schüttelte den Kopf. »Ohne Strom können wir nichts produzieren, und die Vorräte, die wir angelegt haben, werden uns noch nicht einmal über den Winter bringen.« Seine Augen wurden dunkel. »Vorausgesetzt, wir versorgen die gesamte Bevölkerung...« Er hielt Victorias Blick einen Moment, dann wandte er sich erneut ab. »Was hat er gesagt?«, fragte Lady Josephine. »Nichts Wichtiges.« Victoria tat so, als konzentriere sie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Pläne, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Sie schluckte, um den Druck, der sich in ihrer Kehle bildete, loszuwerden, aber die Tränen kamen trotzdem, liefen lautlos über ihre Wangen und tropften auf den Stoff ihres Kleides. Sie weinte um all die Soldaten, die gefallen waren, und um die Freunde, die sie verloren hatte. Und sie weinte um all die Menschen, die durch ihre Entscheidungen noch sterben würden, damit London überlebte. *** 120 km nördlich des Kratersees, 8:20 Uhr Ortszeit Er stand in einem Meer von reglosen Körpern. Präsident und General Arthur Crow spürte die kalte Mündung der Desert Eagle an seiner Schläfe und die feine Rundung des Abzugs an seinem Zeigefinger. Er hatte seine Uniform notdürftig gesäubert und Haltung angenommen. Seine Hand war ruhig,
sein Herz schlug langsam und regelmäßig. Er schwitzte nicht. Sein Kinn war vorgestreckt, der Rücken durchgedrückt. Um ihn herum schwieg die Welt, so als erwarte sie mit angehaltenem Atem die winzige Bewegung seines Zeigefingers. Ein Muskelzucken reichte aus, um sein Leben zu beenden. Es war nicht schwer, keine Anstrengung gehörte dazu, und doch stand Crow bereits seit Minuten inmitten seiner Albtraum gewordenen Vision und rang mit dem Ende. Alles war verloren. Den Sieg über die Daa'muren hatten sie verspielt, er und die Briten zu gleichen Teilen. Der EMP hatte sie zurück in die Barbarei gebombt und sicherte den Außerirdischen die Herrschaft über die Erde. Und Lynne war tot. Er blinzelte Tränen aus seinen Augen und zwang sich zur Ruhe. Die Pistole lag schwer in seiner linken Hand. Er fragte sich, ob Lynne ihn sehen konnte, ob es das Jenseits, dessen Existenz er stets verneint hatte, vielleicht doch gab und ob sie stolz sein würde, wenn er aufrecht und entschlossen vor ihren Augen starb. Bist du da, Lynne?, fragte er lautlos in die Stille der Welt. Kannst du mich sehen? Es kam keine Antwort; natürlich nicht, er hatte auch keine erwartet. Dass er trotzdem keineswegs allein war, wurde ihm erst wieder bewusst, als er das metallische Klopfen hörte. Es drang aus dem Großraumgleiter, mit dem er und eine Mannschaft aus Soldaten und Wissenschaftlern die Armee der U-Men begleitet hatten. Sie – und »Colonel Mountbatton«, wie der Daa'mure sich genannt hatte, sein Verbindungsmann zum Führer der Außerirdischen. Nachdem dieser verdammte Narr Matthew Drax den großen Plan vereitelt hatte und sein Verrat an den Daa'muren offenbar wurde, hatte Crow den falschen Colonel erschießen lassen. Von denselben Männern, die jetzt im Gleiter festsaßen, wohin er sie kurz vor der Explosion geschickt hatte.
Der EMP hatte auch die Elektronik des Fluggerätes lahm gelegt; die Luken ließen sich nicht mehr öffnen. Er würde versuchen müssen, sie mit irgendetwas aufzustemmen. Selbst die modernen Gewehre der U-Men konnte er vergessen – auch sie waren unbrauchbar. Nur seine Desert Eagle, eine alte mechanische Waffe, war noch funktionsfähig. Er sah sich um. Der Schrei eines Raubvogels zerriss die Stille. Der General hob den Kopf und blinzelte in die Sonne. Über ihm kreiste etwas, das wie ein gewaltiger Adler aussah. Er schätzte, dass die Flügelspannweite fast drei Meter betrug. Das Tier musste die Körper am Boden für Leichen halten, ahnte nicht, dass es nur organische Maschinen waren. Mit jedem Kreis, den er zog, sank der Vogel tiefer, bis er schließlich ein Stück entfernt von Crow zwischen den Körpern landete. Am Boden wirkte er weitaus größer als in der Luft. Sein Schnabel und seine Krallen waren lang wie der Unterarm eines Menschen. Jeder Schlag seiner Flügel wühlte den Boden auf. Beinahe lässig riss er den U-Men das nachgemachte Fleisch vom Körper. Crow ließ die Waffe sinken. Sein Arm war steif und knirschte, als er ihn bewegte. Sein Blick ruhte auf dem Raubvogel auf Nahrungssuche. Es war ein altes, hässliches Tier. Ein Stück von seinem Schnabel war abgebrochen, eine Kralle fehlte. Ein Flügel hing leicht herunter, als wäre er schon einmal gebrochen gewesen und nicht richtig zusammengewachsen. Seine Augen waren kalt, aber der Blick, der darin lag, war klug und entschlossen. Man wird nicht so alt, wenn man dumm ist, dachte Crow. Der Adler schien erkannt zu haben, dass die vermeidliche Beute ungenießbar war, und hob den Kopf. Abschätzend musterte er den Menschen, der vor ihm stand. »Tu es nicht«, flüsterte Crow. »Sei klug.« Der Raubvogel zögerte. Seine Krallen gruben sich in den Boden, sein Kopf war schräg gelegt. Es sah so aus, als wolle er
abheben, doch dann machte er einen gewaltigen Satz nach vorne. Sein Schnabel zuckte Crow entgegen, zielte auf dessen Gesicht. Crow ließ sich fallen. In einer tausendfach geübten Bewegung hob er die Waffe mit links, stützte sein Handgelenk mit rechts und schoss. Die großkalibrige Waffe tanzte in seiner Hand. Fünf Kugeln rissen die Brust des Adlers auf, doch das Tier schlug immer noch nach ihm. Blut spritzte über Crows Gesicht und Schultern. Er rollte sich herum und spürte, wie spitze Krallen den Stoff seiner Uniform zerrissen. Drei weitere Schüsse zerfetzten die Flügel und ein Bein des Vogels, doch erst, als die letzte Kugel des Magazins in sein Auge einschlug, sank er mit einem Seufzer zu Boden. Crows Herz raste. Er schwitzte, und seine Hände zitterten. Seine dreck- und blutverschmierte Uniform klebte an seinem Körper, doch er spürte das kaum. Sein Blick richtete sich auf das eine kalte, tote Auge des Adlers. »Ich lebe«, flüsterte er leise. »Danke.« Schwankend kam er auf die Beine. Das Klopfen aus dem Gleiter war lauter geworden, und nun konnte er auch die Rufe seiner Männer hören. Es wurde Zeit, dass er sie befreite. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis die Bemühungen auf beiden Seiten endlich Erfolg zeigten und sich die Luke so weit aufstemmen ließ, dass Crow den Lauf einer Tak03 dazwischen schieben konnte. Von da an ging es zügiger, wenn auch immer noch zentimeterweise voran. Als es endlich geschafft war, konnte sich dennoch keiner der Soldaten und Wissenschaftler über den Erfolg freuen. Sie alle wussten, was die Stunde geschlagen hatte. »Wir müssen so schnell wie möglich fort von hier«, sagte einer der Eierköpfe düster. »Es ist anzunehmen, dass die Strahlungsbelastung auch in dieser Entfernung noch den Grenzwert übersteigt. Vom Fallout ganz zu schweigen.«
Ein anderer – Dr. Wingrove, wenn Crow sich recht erinnerte – beschattete seine Augen und sah zum Himmel. Nicht dass es nötig gewesen wäre; die Sonne war nur ein trüber Fleck am Firmament. »Wie es aussieht, war die Sprengkraft bei weitem nicht so stark wie erwartet«, sagte er. »Ansonsten würde hier durch den in die Atmosphäre gewirbelten Dreck inzwischen tiefe Nacht herrschen.« Sie holten so viel Proviant und Ausrüstung, wie sie tragen und auf selbst gezimmerte Schlitten packen konnten. Dann wandten sie sich nach Westen, stiegen mit ersten stolpernden Schritten über die toten U-Men hinweg. Ein verlorener Haufen machte sich auf den Weg zurück in die Heimat – nicht mehr über das Nordmeer, nicht durch die eisige, tödliche Kalte Alaskas und Kanadas, sondern Richtung Moskau; die erste bewohnte Enklave, in der sie vielleicht Hilfe finden konnten. Ohne den Gleiter würden sie für die Strecke ein Vielfaches an Zeit als für den Herweg brauchen. Monate, vielleicht ein halbes Jahr. Aber Zeit spielte keine Rolle mehr... *** Community London, 1:37 Uhr UTC »Es tut mir Leid, Madam, ich darf keine Zivilisten mit nach oben nehmen.« Commander Curd Merylbone hob abwehrend die Hand. Er war klein und auffallend dünn. In seinem Gürtel steckte ein altertümlicher Revolver und etwas, das wie ein Bajonett aussah. Jennifer Jensen verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir gehen nicht mit Ihnen, sondern hinter Ihnen her. Das können Sie uns wohl kaum verbieten.« Merylbone seufzte. Die acht Soldaten, die Fackeln und mechanische Pistolen aus der Zeit vor dem Kometen trugen, standen abwartend hinter ihm.
»Madam«, sagte er in einem Tonfall, der um Vernunft bat, »Sie haben ein kleines Kind bei sich, und wir haben kaum Munition für unsere Waffen. Dort oben kann ich Ihre Sicherheit und die Ihrer Tochter nicht gewährleisten.« »Das is auch nich nötich«, sagte eine Stimme aus den Schatten. »Ich mach das schon.« Neben dem schmächtigen Commander wirkte Pieroo wie ein Riese. Zwei Schwerter, von denen jedes Merylbone bis zur Schulter gereicht hätte, hingen gekreuzt auf seinem Rücken. Eine kleine Axt steckte in seinem Gürtel. Der Barbar, der erst seit kurzem in der Community London weilte, trug einen Seesack in der Hand, in den Merylbone komplett hineingepasst hätte. Jenny lächelte, als sie die ungläubigen Blicke der Soldaten bemerkte. »Sehen Sie, wir kommen schon zurecht.« Merylbone kratzte sich am Kopf, dann hob er die Schultern. »Also gut, aber auf Ihre Verantwortung.« Jenny hatte den Eindruck, dass er hoffte, im Notfall von Pieroo beschützt zu werden. Sie nahm Ann bei der Hand und folgte den Soldaten zu einem Schott, das von Hand geöffnet werden musste. Dahinter lag ein steiler enger Schacht, an dessen Wand eine Metallleiter hing. Es roch nach Rauch. »Diese Schächte ziehen sich durch das gesamte Bunkersystem. Jedes Segment ist durch Schotts von den anderen getrennt«, sagte Merylbone. »Einen direkten Weg nach oben gibt es aus Sicherheitsgründen nicht.« »Okee.« Pieroo schwang sich den Seesack über die Schulter und streckte den Arm aus. Die Schwerter klirrten. Jenny ging neben Ann in die Hocke. »Pieroo trägt dich nach oben, ist das in Ordnung?« Das Mädchen nickte verschlafen und ließ sich ohne Murren hochnehmen. Die Soldaten kletterten als Erste die Leiter empor, dann folgte Pieroo mit Ann und schließlich Jenny.
Der Rauch biss in ihren Augen. Sie wusste, dass sich die Maschinenräume in den untersten Etagen des Bunkers befanden. Dort musste ein Feuer ausgebrochen sein. Pieroo hat Recht. Es ist gut, dass wir von hier verschwinden, dachte sie. In den letzten Wochen hatte sie sich in der strengen, hierarchischen Gesellschaft der Londoner Bunkerbewohner mehr und mehr unwohl gefühlt. Vielleicht lag es daran, dass sie selbst so lange über eine Stadt regiert hatte, vielleicht aber auch daran, dass die Technos die Eigenheit hatten, auf die Welt, in der sie lebten, hinabzusehen. Jenny hatte beobachtet, wie sie mit Pieroo umgingen. Ihm war es auch nicht entgangen. Und so hatten sie begonnen, Pläne zu schmieden. Zuerst ganz vage, schließlich, als der Krieg gegen die Daa'muren aussichtsloser und die Sorge größer wurde, immer konkreter. »Ich will hier nich sterben«, hatte Pieroo an einem Abend gesagt. »Nich wie 'ne Taratze im Bau.« »Ich auch nicht.« Der EMP hatte ihre Entscheidung noch vereinfacht. Der Krieg war verloren, die Bunkerzivilisation ein sterbendes Volk. Jenny wollte nicht mehr hier sein, wenn die Verzweiflung über die Menschen kam. Das wollte sie auch Ann nicht zumuten. Über ihr öffneten die Soldaten das nächste Schott und schlossen es wieder, als Jenny hindurch geklettert war. Hier war die Luft wesentlich besser. Der Rauch war noch nicht durch die Ritzen gedrungen. »Es ist nicht mehr weit«, sagte ein junger Corporal, in dessen Augen die Angst leuchtete. »Wir sind bald oben.« »Danke.« Jenny betrat die nächste Leiter. Ein Teil von ihr fragte sich, wieso sie bereit war, alles hinter sich zu lassen und einem Barbaren in die Wildnis zu folgen. Liebe war es nicht, nicht von ihrer und auch nicht von seiner Seite. Und doch verband sie etwas. Wenn sie mit Pieroo zusammen war, spürte sie eine Vertrautheit, die ihr selbst bei Matt gefehlt hatte. Sie
verstanden sich beinahe wortlos, und Jenny wusste, dass sie sich keinen besseren Vater für Ann hätte wünschen können. Geschlafen hatten sie nicht miteinander, hatten sich noch nicht einmal geküsst. Ob es jemals dazu kommen würde, war fraglich. In gewisser Weise führten sie eine Beziehung, aber nicht diese Art von Beziehung. »Sir!«, rief der Soldat, der an der Spitze kletterte. »Wir haben den Ausgang erreicht! Ihre Befehle?« »Zwei Mann aussteigen und Gelände sichern!«, rief Merylbone zurück. »Sagen Sie mir, was Sie sehen!« »Ja, Sir!« Die Stimmen hallten durch den Schacht. Jenny hörte, wie das Schott quietschend geöffnet wurde. Rost rieselte auf ihre Schultern und ihr Gesicht. Sie schüttelte sich. »Und?«, fragte Merylbone über ihr nach einem Moment. Die Antwort ließ auf sich warten. »Sir«, sagte der Soldat dann. »Das sollten Sie sich selbst ansehen, Sir.« *** Die Kommandozentralen brannten. Jenny trat aus dem Schacht und blickte auf die drei in Flammen stehenden Gebäude. Ein EWAT hatte sich in einiger Entfernung in die Straße gebohrt und war explodiert, aber sie glaubte nicht, dass die Flammen in der feuchten Nachtluft zu den Gebäuden übergesprungen waren. »Jemand hat sie angezündet«, sagte Merylbone neben ihr. Pieroo setzte Ann sanft auf dem Boden ab. »Jemand, der euch nich mag«, fügte er hinzu. Der junge Corporal lachte knapp. »Davon gibt's leider 'ne ganze Menge hier.« Er sah sich nervös um. Der Revolver in seiner Hand zeigte in die Dunkelheit.
»Niemand schießt ohne Befehl«, sagte Merylbone rasch. »Jeder hat drei Patronen. Verschwendet sie nicht.« »Ja, Sir.« Der Corporal ließ den Revolver nicht sinken. Sein Blick war weiterhin auf die Straßen und Gassen zwischen den Ruinen gerichtet. »Da ist irgendwas«, sagte er nach einem Moment. Jenny konnte nichts erkennen, aber Pieroo nickte. »Sind hintee den Trümmern.« Er zeigte auf ein Gebäude, dessen Dach zusammengebrochen und auf die Straße gestürzt war. Dunkle Gestalten lösten sich aus dem Schutt und traten ins Licht des Feuers. Jenny zählte zwanzig, war sich aber sicher, dass noch andere versteckt warteten. »Lords«, sagte der Corporal. Seine Stimme klang angewidert. »Verdammtes Pack.« »Ruhig bleiben, Corporal.« Merylbone nickte seinen Leuten zu. »Wir bleiben stehen und lassen sie näher kommen. Warten wir ab, was sie wollen.« Die zwanzig Männer bildeten eine Reihe. Sie bewegten sich, als gehöre ihnen die Stadt, nicht den Bunkermenschen, die vor ihnen standen. Die meisten waren mit Äxten und Knüppeln bewaffnet. Jennys Mund wurde trocken, als sie sah, dass einige von ihnen britische Uniformjacken und polierte Lederstiefel trugen. »Diese Schweine.« Der Corporal hob seine Waffe, aber Pieroo drückte seine Hand nach unten. »Sindn ganzer Stamm. Bringen uns um, wennwer schießen.« Der Soldat presste die Lippen aufeinander. Merylbone trat einen Schritt vor. »Wir alle würden sie am liebsten abknallen, aber wir werden uns beherrschen, verstanden?« Die Soldaten nickten, auch wenn sie sich lebhaft vorstellen konnten, was mit den ursprünglichen Trägern der Uniformen geschehen war.
Ein Mann löste sich aus der Gruppe. Er trug eine blutige Uniformhose, eine unbeschädigt aussehende Jacke mit den Rangabzeichen eines Sergeants und eine verrostete Axt, die er hin und her schwang wie eine Sense. »Is ihr Anführer«, sagte Pieroo. »Will unsern Anführer sehen.« »Das bin dann wohl ich«, sagte Merylbone. Er zögerte einen Moment, dann trat er ebenfalls vor. Die zerlumpten Gestalten zwischen den Trümmern begannen laut zu lachen und zu johlen. Jenny verstand nur Bruchstücke, aber die meisten Kommentare bezogen sich auf seine Körpergröße. »Scheiße«, murmelte einer der Soldaten und sah Pieroo an. »Wir hätten wohl besser dich nach vorne geschickt.« Der Anführer der Lords brachte sein Gefolge mit einer Handbewegung zum Schweigen. Breitbeinig stellte er sich vor Merylbone und begann sich mit der flachen Seite seiner Axt auf die Brust zu schlagen. Die anderen Lords klatschten im Rhythmus. Nach einem Moment hob der Anführer seine Axt hoch über den Kopf. Das Klatschen verstummte. »Was soll das?«, fragte Merylbone nervös, ohne sich umzudrehen. Pieroo hob die Schultern. »Er sacht, dasser 'ne Schlacht gewonne hat. Jetzz willer, dass de ihn als Herrn anerkennst.« »Als Herrn?« Der Corporal spuckte aus. »Abknallen werden wir ihn und seine Brut.« »Sie wissen es, Mann«, sagte ein anderer Soldat. »Peilst du's nicht? Irgendwie haben die kapiert, dass wir am Ende sind. Sonst hätten sie's doch nie gewagt, unsere Leute umzulegen und die Posten anzuzünden.« Jenny stimmte ihm in Gedanken zu. Es war die einzige Erklärung, die Sinn ergab. »Was soll ich tun?«, fragte Merylbone resignierend. »Niederknien«, antwortete Pieroo ohne zu zögern.
Die Schultern des Commanders sanken herab. Er schien noch kleiner zu werden, so als drücke die Schande ihn nieder. Dann ging er langsam, fast schon feierlich auf die Knie. Die Lords begannen erneut zu johlen. Jenny wandte sich ab, als ihr Anführer in seine Hose griff und auf Merylbone zu urinieren begann. »Lass uns gehen«, sagte sie leise zu Pieroo. »Ich will das nicht sehen.« Er nickte. Weder die Soldaten, noch die Lords beachteten sie, als sie sich in die Schatten zurückzogen und in eine Gasse einbogen. Sie bewegten sich schnell und leise. Pieroo trug Ann, Jenny einen Teil der Vorräte. Sie hatte sich den Weg auf den alten Karten eingeprägt, trotzdem verliefen sie sich zweimal, bis sie im Morgengrauen London hinter sich ließen. Auf einem Hügel blieben sie schließlich stehen und blickten zur Stadt zurück. Die Feuer hatten sich nicht ausgebreitet. Alles wirkte ruhig. Jenny ergriff Pieroos Hand. »Meinst du, sie werden es schaffen?«, fragte sie, als er sich bereits nach Norden wandte. »Nein«, antwortete er ernst, »das werden se nich.« *** Auf dem Weg zum Mond, 19. Oktober 2521, 23:30 Uhr UTC, 47 Stunden nach dem Start Noch zwei Stunden. Matts Augen brannten. Er hatte kaum geschlafen in den letzten beiden Tagen. Keine guten Voraussetzungen für eine komplizierte Landung auf einer unbekannten Runway mit ungewohnten Schwerkraftverhältnissen. Er konnte nur hoffen, dass das automatische Landesystem fehlerfrei funktionierte und mit den richtigen Daten gefüttert war. Das Shuttle war ein Prototyp der NASA gewesen, erbaut in einer unterirdischen Montagehalle in Florida. Es war nie im All
gewesen, bevor Matt, Aruula, Dave – Daves Doppelgänger, rief er sich ins Gedächtnis – und einige WeltratWissenschaftler damit zur ISS geflogen waren, damals vor knapp vier Jahren. Die Programme hatten sie aus den NASA-Datenbanken überspielt; das ganze Paket, für alle Fälle. Dass darunter auch die Routinen für eine Mondlandung enthalten waren, hatte Matt erst auf dem Flug hierher entdeckt. Er starrte durch das Cockpitfenster. Der Mond war eine unscharfe helle Scheibe, die... Matt blinzelte und rieb sich die Augen... eine scharfe helle Scheibe, deren Ränder nun fast den oberen und unteren Fensterrahmen berührten. Unnatürlich deutlich hoben sich die von keiner Atmosphäre getrübten Konturen der Felsen und Krater von den lichtüberfluteten Ebenen ab. Ein erhebender, majestätischer Anblick. Matt wünschte sich, er hätte ihn genießen können. Die Mondstation konnte er noch nicht erkennen; es war eine nur kleine Basis, die die Menschen dem Erdtrabanten abgetrotzt hatten. Ein Team von maximal zwanzig Wissenschaftlern hatte hier seinen Dienst verrichten sollen – hauptsächlich Weltraumbeobachtungen mittels eines Radioteleskops, Experimente in geringer Schwerkraft, um neue Werkstoffe zu entwickeln – und Vorbereitungen für den Bau eines Endlagers für Atom- und Giftmüll, das für 2015 geplant gewesen war. Nun, daraus war genauso wenig geworden wie aus vielen hoch gesteckten Zielen der Menschheit. Stattdessen war diese von einem acht Kilometer durchmessenden Brocken aus dem All in die Steinzeit zurückgebombt worden... Zum Zeitpunkt der Katastrophe hatten sich nach Matts Erinnerung noch zwei Forscher auf dem Mond aufgehalten. Die Basis musste zu ihrem Grab geworden sein, denn der angesetzte Shuttleflug, der sie nach Hause holen sollte, war gestrichen worden. Man brauchte die gesamte Raumflotte –
was für ein hochtrabendes Wort bei gerade einmal vier Raumfähren –, um die Zerstörung des Kometen vorzubereiten. Auch eins der Ziele, die in die Hose gegangen waren; Matt hatte es in vorderster Front miterlebt... Er schnallte sich los, stieß sich ab und schwebte, inzwischen routiniert, hinüber zur Luke und kopfüber hinunter in den Mannschaftsraum. Hier lag seit zwei Tagen Naoki Tsuyoshi in einer der sechs Kojen. Matt hatte den Sensor eines Pulsmessgerätes, das er bei der Ausrüstung gefunden hatte, mit einer Manschette an ihrem linken Handgelenk befestigt. Die leisen Piepstöne waren bis hinauf ins Cockpit zu hören. In all der Zeit hatten sie nicht einmal den Rhythmus geändert oder ausgesetzt. Und wenn dies auch bedeutete, dass die zierliche Asiatin mit dem künstlichen Plysterox-Arm am Leben war, so schauderte es Matt, als er sich ausmalte, warum das vielleicht so war. Was, wenn nur noch ihre bionischen Körperteile funktionierten – und weiter funktionieren würden, bis irgendwann ihre Energieversorgung aussetzte? Was, wenn sie das Einzige waren, was in Naoki noch funktionierte? Wenn ihre Organe längst tot waren und langsam verfaulten? Nein! Matt schlug die Faust gegen den Spind neben der Koje. Die Bewegung trieb ihn zurück, und er musste sich am Rand der Liege festhalten, um nicht rückwärts durch die Kabine zu schweben. Wenn doch wenigstens die neu eingebauten Gravitationsdämpfer noch intakt gewesen wären. Aber die zählten zu den zwei Dritteln der elektronischen Bauteile, die durch den EMP ihren Geist aufgegeben hatten. So wie Naokis Implantate... Sie ist nicht tot!, dachte Matt trotzig. In der Mondbasis würde er Geräte und Medikamente finden, um sie aufzuwecken; ganz sicher. Die Bauteile haben sie in ein künstliches Koma versetzt, damit sie sich erholt. Ganz sicher...
Er strich ihr über die Wange. Das Fleisch fühlte sich kühl an, aber nicht kalt. Und es war auch nicht fest, wie es hätte sein müssen, wenn die Totenstarre einsetzte. Nein, Naoki lebte. Sorgen machte ihm nur ihr Wasserhaushalt. Er konnte es nicht einmal riskieren, ihr Flüssigkeit mit einem Plastikschlauch zu verabreichen – wenn sie nicht automatisch schluckte, würde das Wasser wegen der Schwerelosigkeit in ihrer Kehle verbleiben und sie müsste ersticken. Zwei Tage sind kein Problem, dachte er. Auf dem Mond würde er auch dafür eine Lösung finden... »Ich mache dich jetzt wieder fest, Naoki«, sagte Matt. Er hatte sich seit dem Start oft und lange mit ihr unterhalten. Zugegebenermaßen eine einseitige Unterhaltung. Aber die Hoffnung, dass sie ihn vielleicht hören konnte, hatte ihn nicht ruhen lassen. Außerdem war es hilfreich gewesen, in der betäubenden Stille eine Stimme zu hören, selbst wenn es nur seine eigene war. Das half dabei, nicht durchzudrehen. »Wir sind bald da, hörst du? Zwei Stunden noch, dann landen wir auf dem Mond. Es wird alles gut, du wirst sehen.« Er verzog über seine eigenen Worte das Gesicht. Dummes Geschwätz! Aber nach zwei Tagen Monolog war er längst darüber hinaus, etwas Intelligentes von sich zu geben. Nachdem er die Gurte festgezurrt hatte, hangelte er sich zum Cockpit zurück. Unterwegs versorgte er sich mit einem Beutel Wasser und fünf Koffeintabletten aus der Bordküche. Während er durch den Verbindungstunnel nach oben schwebte, warf er die bitter schmeckenden Tabletten ein und spülte nach. Das Zeug würde ihn hoffentlich wach halten und seine Sinne schärfen, bis alles vorbei war. Fehler durfte er sich nicht leisten. Er warf einen Blick auf die Uhr: noch eine Stunde vierzig Minuten. Der Mond vor dem Cockpitfenster war noch weiter angewachsen. In zehn Minuten würde Matt das Shuttle drehen
und das Bremsmanöver einleiten müssen, wenn er nicht wie eine Kanonenkugel auf dem Erdtrabanten einschlagen wollte. Die Bremsdüsen waren die nächste Unwägbarkeit in der langen Liste von Dingen, die schief gehen konnten. In den ersten Stunden hatte Matt diese Liste noch geführt, sie dann aber in eine Schublade im hintersten Winkel seines Bewusstseins gestopft und den Schlüssel unter einem imaginären Gebirge begraben. Dass er überhaupt noch lebte und so weit gekommen war, erschien ihm als so unwahrscheinlich, dass es geradezu absurd war, sich weitere Sorgen zu machen. Entweder hatte das Schicksal einen Narren an ihm gefressen und würde ihm auch weiterhin seine Gunst schenken – oder... C'est la vie, wie die Franzosen sagten. Gesagt hatten, vor über fünfhundert Jahren. Wieder versuchte er, die Station in den Weiten des Mondes auszumachen. Irgendwo nahe des Nordpols musste sie liegen, auf der erdzugewandten Seite. Aber so sehr er auch suchte, er wurde nicht fündig. Die Entfernung war noch zu groß. Wenigstens wirkte das Koffein; er fühlte sich wieder fit, alle Müdigkeit war wie weggeblasen. Matt ging die Berechnungen für das Bremsmanöver, die er gestern schon angestellt hatte, noch einmal durch. Keine Fehler. Er gab sie in den sekundären Navigationsrechner ein. Dann starrte er auf die Instrumententafel. Kam es ihm nur so vor, oder waren weitere LEDs erloschen? C'est la vie... »Ich hätte eine geweihte Christophorus-Plakette mitnehmen sollen«, knurrte er in einem Anflug schwarzen Humors. *** 80 km westlich des Kratersees, 20. Oktober 2521, 8:19 Uhr Ortszeit
Zwei Tage waren seit dem Ereignis vergangen, das Rulfan in seinen Gedanken nur noch als den großen Knall bezeichnete. Mit beinahe akribischer Genauigkeit dokumentierte er seitdem seinen eigenen Zustand und den der Welt um sich herum. Die Explosion so vieler Nuklearwaffen, auf einen Punkt konzentriert, musste drastische Auswirkungen auf die Erde gehabt haben – doch die einzigen Veränderungen, die Rulfan auch am zweiten Tag nach dem Knall bemerkte, waren das trübe Licht und die Asche. Er richtete sich im Sattel des Yakkbullen auf, den er gestern Abend ruhig grasend in einem Tal gefunden hatte. Vermutlich war er durchgegangen, als der Lichtblitz der Explosion den Himmel erleuchtet hatte, und seinem Besitzer davongelaufen. Zum Glück, denn er war das erste Reittier, das Rulfan gesehen hatte, seit er aufgebrochen war. Am ersten Tag hatte er kaum vierzig Kilometer hinter sich gebracht. Nun würde er zügiger vorankommen; Yakks waren für ihre Ausdauer und ihr Lauftempo bekannt. Er blickte über die weite Ebene, die er vor einigen Stunden erreicht hatte, und versuchte die Richtung zu schätzen. Hatte er überhaupt eine Chance, Aruula zu finden? Zwar wusste er, wo der Telepathenzirkel stationiert gewesen war, aber ohne moderne Navigationsgeräte war die Suche danach wie die der Nadel im berühmten Heuhaufen. Es war bereits früher Nachmittag, aber das Licht wirkte verwaschen und blass. Ein Schleier schien über der Sonne zu liegen und ihr alle Kraft zu rauben. Aschepartikel wurden vom Wind über das Gras getragen. Rulfan hatte einen Schal vor sein Gesicht gebunden, um sich davor zu schützen. Der Gedanke an den ersten Regen und die Strahlung, die er mit sich bringen würde, machte ihm Sorgen. Die Verstrahlung, die er wohl längst in sich trug, würde sich durch den Regen und die radioaktiven Partikel darin weit über
die Grenzen des Kratersees ausbreiten. Hunderttausende würden sterben. Das war zumindest, was sein Wissen über Atombomben ihm sagte, doch sein eigener guter Zustand widersprach diesen Erkenntnissen. Obwohl er sich nicht weit vom Epizentrum entfernt befunden hatte, spürte er keine Symptome. Da war keine Übelkeit, kein Schmerz, keine Brandwunden, die wie aus dem Nichts auf seiner Haut erschienen, kein Hinweis darauf, dass sein Körper mit dem Tod rang. Fast noch rätselhafter war Chiras guter Zustand. Die junge Lupa fraß Beute, die verstrahlt sein musste, und trank Wasser aus vergifteten Flüssen. Trotzdem zeigte auch sie keine Anzeichen einer Krankheit. Die Vögel zwitschern in den Bäumen und die Kamauler ziehen durch das Land, als wäre nichts geschehen, dachte Rulfan. Ist uns der Albtraum wirklich erspart geblieben? Der Gedanke war beinahe zu verführerisch, um wahr zu sein, und doch sprachen alle Anzeichen dafür, dass weder er, Chira, noch die Landschaft rund um den Kratersee gravierend verstrahlt worden war. Wie das möglich sein sollte, wusste Rulfan nicht. Aber er traute den Daa'muren vieles zu; ihnen und dem Verräter Smythe. Eine Bewegung am Himmel ließ ihn aufblicken. Fünfzig oder sechzig Meter voraus flog eine Androne über die Landschaft. Rulfan erkannte die Gestalt auf dem Fluginsekt sofort. »Aruula!«, rief er. In seiner Stimme schwang eine Freude und Erleichterung mit, die ihn selbst überraschte. Bis jetzt hatte er versucht, nicht über das Schicksal seiner Freunde und Mitkämpfer nachzudenken, doch Aruulas Anblick brachte all die Hoffnung zurück, die er sich nicht eingestanden hatte. »Aruula!«, rief er erneut. Die Androne flog weiter. Der Wind, der über die Ebene blies, wehte seine Rufe einfach davon. Dreißig Meter noch, wann war sie vorbei!
Rulfan beugte sich zur Seite und begann in seinen Satteltaschen zu kramen. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Finger endlich um das runde Metallgehäuse schlossen, in dem sich der Signalspiegel befand. Es war Sir Leonards Idee gewesen, die Streitkräfte damit auszurüsten, um die Kommunikation auch während einer Funkstörung aufrechtzuerhalten. Am Kratersee hatte niemand die Spiegel gebraucht, jetzt stellten sie die wahrscheinlich einzige Möglichkeit dar, zwei entfernte Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Rulfan klappte den Spiegel auf und richtete ihn auf die trübe Sonne. Hoffentlich reichte deren Kraft aus! Die Androne war jetzt fast auf gleicher Höhe mit ihm. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Vorsichtig drehte er den Spiegel, bis ein Lichtkreis auf der Flanke der Flugameise auftauchte. Zitternd glitt er nach oben, verschwand kurz, als Rulfan sich im Sattel bewegte, und tauchte dann wieder auf Aruulas Schulter auf. Rulfans Hand zuckte leicht. Der Lichtkreis erhellte Aruulas Gesicht. Die Barbarin hob die Hand schützend vor die Augen. Der Lichtkreis tanzte darüber. »Sieh in meine Richtung«, murmelte Rulfan. »Nun mach schon!« Aruula schaute nach unten. Rulfan begann mit beiden Armen zu winken. Sie musste ihn einfach sehen. Und sie sah ihn! Die Androne flog eine Kurve und steuerte ihm entgegen. Erleichtert senkte Rulfan die Arme und gab seinem Yakk die Sporen. Sie trafen sich an einem kleinen Strauch mitten auf der Ebene. Die Androne wirbelte Staub und Asche auf, als sie landete, aber Rulfan nahm trotzdem den Schal von seinem Gesicht. Er wollte Aruula offen gegenübertreten als der Freund, der er stets für sie gewesen war. Sie sprang aus dem Sattel und drehte sich zu ihm um. Ihr Körper war rußbedeckt, ihr Gesicht fast schwarz.
»Rulfan!« Sie umarmte ihn herzlich. Rulfan drückte sie an sich, genoss ihre Wärme und Nähe, bis er spürte, dass sie sich von ihm lösen wollte. Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich wieder zu sehen«, sagte er lächelnd. »Ich wusste nicht, ob du überhaupt noch lebst.« Seine Worte brachten einen Schatten auf Aruulas Gesicht. »Alle anderen Lauscher sind tot.« Ihre Stimme zitterte. »Etwas hat sich in sie gefressen und sie umgebracht. Ich war dabei. Es war furchtbar. Sie alle...« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Wenn die Vision nicht gewesen wäre, hätte ich es ebenfalls nicht geschafft.« »Eine Vision?« Aruula nickte. Rulfan sah, wie ihre Augen zu leuchten begannen, als sie sich an das erinnerte, was sie gesehen hatte. »Ein brennender Fels im Süden«, sagte sie. »Dort wird sich alles finden, was verloren war. Dorthin muss ich gehen.« Sie lächelte. »Du hast wohl keine Vision gehabt, oder?« »Nein.« »Schade. Ich glaube, nur jemand, der den Felsen gesehen hat, kann verstehen, was er bedeutet.« Aruula fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Weißt du, was mit den anderen ist?« Sie machte eine Pause, bevor sie leiser fragte: »Was mit Maddrax ist?« Das war sie, die Frage, vor der Rulfan sich gefürchtet hatte. »Wir haben verloren«, begann er langsam. »Die Bomben sind explodiert und haben dafür gesorgt, dass unsere Technik nicht mehr funktioniert. Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, ob sie noch leben oder ob sie Genaueres wissen. Ich... wir werden wohl für eine Weile auf uns gestellt sein.« »Dann weißt du nichts Neues von Maddrax?« Einen Augenblick lang war die Verlockung groß, einfach »Nein« zu sagen. Doch der Grausamkeit, nach Wochen,
vielleicht nach Monaten des Hoffens und Bangens enttäuscht zu werden, konnte er Aruula nicht aussetzen. »Doch. Ich weiß, was mit ihm ist.« Rulfan schluckte, als er sich an den Funkruf seines Vaters erinnerte. »Aruula, Maddrax wird nicht zurückkehren. Das Schiff, mit dem er zur ISS geflogen ist... hat etwas Wichtiges verloren, ohne das er nicht mehr zur Erde zurück kann.« Aruulas Blick glitt durch Rulfan hindurch. »Etwas verloren«, wiederholte sie tonlos. Tränen liefen über ihre Wangen und hinterließen helle Spuren im Ruß. Rulfan streckte seinen Arm nach ihr aus, um sie zu trösten, doch sie tauchte plötzlich unter ihm hindurch und sprang mit einem Satz auf die Androne. Erschrocken bäumte sich das Tier auf. »Aruula!« Rulfan lief auf sie zu, aber die Androne hob bereits ab und schwebte über ihm. »Ich werde finden, was er verloren hat!«, rief Aruula von oben herab. »Dort, wo sich alles finden wird. Am brennenden Felsen!« Ihre Stimme war tränenerstickt, aber auch entschlossen. Die Androne stieg hoch in den Himmel und wandte sich nach Süden. »Aruula!« Rulfan blieb stehen und sah ihr nach, bis die Riesenameise nur noch ein schwarzer Fleck in der grauen Luft war. Dann beugte er sich hinab und begann Chira hinter dem Ohr zu kraulen. »Ein brennender Felsen«, sagte er nach einer Weile. »Das ist ihr Ziel. Also ist es auch unser Ziel.« Rulfan drehte sich um, stieg auf seinen Yakkbullen und blickte nach Süden. Er würde versuchen, Aruula einzuholen und sie auf ihrem Weg zu beschützen, so gut es ging. Das schuldete er Maddrax – und auch sich selbst... ***
Ankunft beim Mond, 20. Oktober 2521, 1:27 Uhr UTC, 49 Stunden nach dem Start Wie erstarrt und hoch aufgerichtet saß Commander Matthew Drax in seinem Pilotensessel. Kaum brachte er es fertig, die Schubautomatik offline zu schalten. Sein Blick war auf den Bildschirm vor sich fixiert, der einen Punkt nahe des lunaren Nordpols heranzoomte. Einen Punkt, auf den er alle Hoffnungen gesetzt hatte und der jetzt endlich in Sicht gekommen war. Seine Lippen bebten. Die Erkenntnis fraß sich nur träge in seinen Verstand. Weil sie nicht wirklich zu begreifen war. Das Bremsmanöver war perfekt verlaufen. Er hatte die Raumfähre gedreht, bis sie mit dem Heck voran auf den Mond zuflog, und die Haupttriebwerke hatten die Geschwindigkeit mit einer Brenndauer von 3,25 Minuten auf wenige hundert Stundenkilometer reduziert. Für das weitere Abbremsen waren die großen Triebwerke nicht geeignet; diese Feinarbeit übernahmen kleinere Schubdüsen am Heck. Die Sicht nach achtern ermöglichte eine Kamera, deren Bild auf den Monitor vor Matt übertragen wurde. Die in weißer Farbe gehaltene Mondbasis bestand aus sechs Modulen, einem Ringsystem und einer vierzig Meter durchmessenden und acht Meter hohen Kuppel in der Mitte. Die Module waren zylinderförmig, zehn Meter lang und an der breitesten Stelle sechs Meter dick. Sie umkränzten ein sechseckiges Ringsystem, in dessen Zentrum die Kuppel aufragte. Hundert Meter von der Station entfernt konnte man deutlich die Schüssel des sechzig Meter durchmessenden Radioteleskops sehen. Die beiden kreisrunden Landeflächen lagen dagegen etwa fünf Kilometer von der Basis entfernt, und sie waren es auch, worauf Matt Drax' Blick fixiert war. Sie besaßen einen Durchmesser von je fünfzig Metern – mehr Fläche war
aufgrund des vertikalen Anflugs nicht notwendig. Beide schienen unbeschädigt, sogar bestens in Schuss zu sein. Und auf einer von ihnen stand ein Raumschiff. Kein Space Shuttle. Nichts, was Matthew Drax in irgendwelchen Datenbanken je gesehen hätte. Nichts Irdisches! Es überragte den Landekreis auf beiden Seiten um gute zehn Meter. Nur ganz allmählich kehrte Aktivität in Matts Gehirn zurück, kamen seine grauen Zellen in Fahrt und drängten ihn, irgendetwas zutun. Irgendetwas... Aber was, zum Teufel? Fakt war: Jemand hielt sich auf dem Erdtrabanten auf. Fakt auch: Es konnten keine Menschen sein. Die schlugen sich seit mehr als fünfhundert Jahren mit Keulen die Schädel ein oder verkrochen sich in unterirdischen Bunkeranlagen. Also Außerirdische? Daa'muren? Unsinn! Es gab auch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die Echsenköpfe Raumschiffe gebaut hatten. Wie auch – sie waren ja gerade erst vor zwei Jahren aus ihren Kristallen in die gezüchteten Wirtskörper gewechselt. Eine andere außerirdische Rasse? Nun war Matthew Drax nie ein Verfechter der These gewesen, die Menschheit wäre allein im Universum. Allein die schier unendliche Anzahl von Galaxien musste bedeuten, dass sich auch anderswo intelligentes Leben entwickelt hatte. Die Daa'muren waren ja der schlagende Beweis dafür. Aber dass sich nun gleich zwei dieser Rassen im selben Jahrhundert zur Erde verirrt haben sollten – der Zufall war selbst Matt zu groß. Fazit? Es gab keines. Aber er würde es herausfinden. Jetzt! Mit zitternder Hand griff Matt nach dem Headset des Funkgeräts und zog es aus seiner Halterung. Bislang hatte er nicht einmal in Erwägung gezogen, es zu benutzen. Auf der Erde gab es keinen Funk
mehr. Nun schaltete er den Sendersuchlauf ein. Ein statisches Rauschen drang durch die Kopfhörer. Eine Minute lang geschah nichts. Sechzig Sekunden, in denen Matt mit verhaltenem Atem auf das Monitorbild der Basis, die Landekreise und des fremden Raumschiffs starrte, das er so weit wie möglich herangezoomt hatte. Es musste humanoide Erbauer haben, denn es ähnelte durchaus einem Shuttle: ein Cockpit, ein Rumpf mit kurzen Stummelflügeln und seitlich angeflanschten Elementen. Landestützen, eine am Bug, zwei am Heck, unter den großen Antriebsaggregaten. Keine Aufschriften oder Hoheitszeichen; zumindest keine, die er mit dieser Kameraauflösung erkennen konnte. Kein Licht. Stand das Schiff vielleicht schon seit Jahrhunderten hier? War die Besatzung längst tot oder verschollen? Ein Knacken im Kopfhörer widerlegte Matts letzte These. Der Suchlauf war an einem Signal hängen geblieben, nun lief die Feinabstimmung. »... rufen... schiff... en Sie...« Der nächste Schock: Die Stimme sprach eindeutig Englisch, wenngleich auch in einem verwaschenen Dialekt! Die nächsten Mutmaßungen schossen durch Matts Gehirn. Hatte etwa die Besatzung der Mondstation überlebt? Hatten sie aus eigener Kraft ein Schiff gebaut in dem Bestreben, zur Erde zurück zu fliegen? Oder hatte die NASA ein geheimes Unternehmen zu ihrer Rettung gestartet, von dem die Welt nicht erfahren durfte? Beides war höchst unwahrscheinlich... Matt holte tief Luft, bevor er auf »COM« schaltete. »Hier spricht Matthew Drax, Commander der U.S. Air Force, im Space Shuttle Queen Victoria«, sagte er betont deutlich ins Mikrofon. Dass sein Rang und sein Truppenteil längst nicht mehr existent waren, spielte für ihn keine Rolle. »Ich rufe die Mondbasis. Bitte identifizieren Sie sich!«
Leises Rauschen folgte. Keine Antwort. Matt wiederholte seine Durchsage noch zwei Mal, bis es wieder in den Lautsprechern knackte. Jetzt war die Verbindung um Einiges klarer. »Mondbasis an Commander Matthew Drax. Wir haben Sie verstanden. Bleiben Sie in Warteposition! Wir melden uns wieder.« Nun, da er zusammenhängende Sätze hörte, fiel ihm der Dialekt noch stärker auf. Die Betonung einzelner Wörter stimmte nicht, die Satzmelodie war seltsam... falsch. Dieses Englisch war nicht auf der Erde gelehrt worden, so viel stand für ihn fest. Er hatte Russen und Chinesen seine Sprache verständlicher sprechen hören. Redete er vielleicht mit einem Computer, einem automatischen Übersetzungsprogramm? »Hören Sie«, antwortete er. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und woher Sie kommen, aber dies ist eine Station der Vereinigten Staaten...« Vorsicht!, ermahnte er sich selbst. Nicht übertreiben, sonst schießen sie dich womöglich ab! Er räusperte sich und fuhr fort: »Ich habe leider keine Möglichkeit, wie gewünscht in Warteposition zu bleiben. Ich befinde mich im automatischen Landeanflug und kann nicht abbrechen. Bitte bestätigen!« Diesmal dauerte es nur eine knappe Minute, bis Antwort kam: »Mondstation an Commander Drax. Sie haben Freigabe für Landefeld B. Sollten Sie auf Kollisionskurs mit unserem Schiff gehen, werden wir das Feuer auf Sie eröffnen. Nach der Landung bleiben Sie im Shuttle, bis wir uns melden. Haben Sie das verstanden?« Es mussten Menschen sein, dessen war sich Matt nun sicher. Kein Außerirdischer hätte zum Beispiel seine Formulierung »Space Shuttle Queen Victoria« auf die Kurzform »Shuttle« reduziert. Was das Rätsel nur noch größer machte. Wer zum Teufel waren diese Kerle?!
»Verstanden«, gab er zurück. Shit! Jetzt musste er nicht nur eine nie simulierte Landung hinlegen, sondern durfte dazu kein Grad vom Kurs abweichen, wenn er nicht das Risiko eingehen wollte, abgeschossen zu werden. Nun, für den Computer sollte es kein Problem sein, die Mitte des Kreises perfekt zu treffen. Matt holte die Daten noch einmal auf den Bildschirm und vergewisserte sich, dass Landefeld B als Zielpunkt eingegeben war. Er tätschelte die Abdeckung des Navigationscomputers mit der flachen Hand. »Jetzt mach mir bloß keinen Ärger, old boy.« Ein Blick auf den Entfernungsmesser: noch 5250 Meter über Grund. Matt schaltete auf die Bugdüsen um und bremste weiter ab – kurze, gut dosierte Schübe. Das Tachometer wanderte der 200-km/h-Marke entgegen; ab da konnte er auf automatische Landekontrolle gehen. Die Instrumente zeigten eine Abweichung von 1,4 Grad zur eingeblendeten Landebahn; Matt korrigierte mit einem knappen Stoß aus der mittleren linken Bugdüse. Perfekt! Höhe: 2600 m. Tempo: 220 km/h. Die Anziehungskraft des Mondes wirkte sich auf das Shuttle aus, zog es nach unten. Matt gab erneut Gegenschub. Nun war er wieder ganz Pilot; der smarte Bursche, der erst in einem Flugzeug richtig zum Leben erwachte. Seine Reaktionen kamen instinktiv; er verschmolz geradezu mit dem Shuttle und spürte jedes Rütteln, jede Lageänderung, jeden Schubstoß, als wäre er über ein Interface mit der Maschine verbunden. O Gott, wie lange hatte er dieses Gefühl missen müssen...! Ein Signal vom Tachometer her: Die Geschwindigkeit lag nun bei 199 km/h. Für einen kurzen Moment war Matt tatsächlich versucht, eine manuelle Landung zu versuchen, doch dann siegte die Vernunft: Zu viel stand auf den Spiel. Nicht nur sein Leben, sondern auch das von Naoki.
Er griff hinüber und legte den Schalter für den Autopiloten um. Ein grünes Lämpchen glühte auf, als der Computer übernahm. Er würde das Schiff bis auf hundert Meter an die Mondoberfläche heranbringen, dann in die Horizontale drehen, die Fahrwerke ausfahren und mittels der nach unten ausgerichteten Düsen an den Seiten des Shuttles sanft landen. Matt atmete auf und lehnte sich für einen Moment zurück. Seine verspannten Glieder entkrampften sich. Noch vierzig Sekunden bis zur Landung. Das Lämpchen wechselte von Grün auf Rot. Gleichzeitig fiel das Monitorbild aus. Für einen Moment konnte Matt es nicht glauben. Dann ruckte er nach vorn. Adrenalin schoss ihm ins Blut. »O Scheiße!« *** 110 km westlich des Kratersees, 20. Oktober 2521, 8:42 Uhr Ortszeit In diesen Tagen der Hoffnungslosigkeit war Mr. Black für sie alle der Fels in der Brandung. Er führte den kleinen Trupp Überlebender nach Westen, zurück nach Moskau. Unerschütterlich stapfte er voran, den Kopf erhoben, keine Schwäche zeigend. Wie es dagegen in ihm aussah, ahnten nur wenige. In der letzten Nacht hatten Albträume den Hünen geplagt. Träume, in denen er noch einmal die Falle durchlebte, in die seine, General Yoshiros und General Pridens Truppen getappt waren. Die Ankunft bei dem verschneiten nördlichen Ringgebirge. Der Vorstoß in den Gebirgspass, der sich bis zu einem letzten Bergrücken wie ein Keil durch das Massiv zog. Und das Entsetzen, als plötzlich der vermeintliche Schnee auf den Felshängen lebendig wurden, sich als gigantische MimikriQualle entpuppte.
Die meisten Fußsoldaten hatte es sofort erwischt; gegen dieses Wesen blieb ihnen nicht der Hauch einer Chance. Die EWATs und AMOTs hatten es unter Feuer genommen, mit mäßigem Erfolg. Und dann waren die Daa'muren über den Bergrücken gekommen, um ihnen den Rest zu geben. Und Black hatte weitere Männer und Frauen in den sicheren Tod schicken müssen. Im Traum hatte er noch einmal ihr Sterben erlebt, deutlicher und schonungsloser noch als in der Schlacht selbst. Eine Woge von Toten wollte ihn überrollen, von der Säure des MimikriWesens zerfressen, von den Waffen und Klauen der Daa'muren durchbohrt, mit anklagenden Mienen, die ihm galten. Er würde diesen Horror sein Leben lang nicht vergessen. Wenn es denn noch lange währte... So paradox es klang: Die Explosion der Bombenkette hatte den kläglichen Resten der Allianz-Armee den Arsch gerettet. Auch für die Daa'muren unerwartet, war plötzlich der Himmel in grellem Licht erstrahlt, und eine Druck- und Hitzewelle hatte die angreifenden Außerirdischen hinweg gewischt, zerschmettert und verbrannt. So wie alle Soldaten, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht in den schützenden Tanks befunden hatten. Spielzeugen gleich waren die schweren Gefährte durch den Einschnitt getrieben worden. Als sie endlich zum Stillstand gekommen waren, als Sturm und Feuer über sie hinweg rasten, als die Überlebenden, viele mit gebrochenen oder verrenkten Gliedern, aus den Wracks krochen, da erst hatte Mr. Black richtig realisiert, was geschehen war. Er hatte als Truppenführer versagt. Von seiner Armee – dreizehn Regimenter! – lebte nur noch eine Handvoll Männer und Frauen. Auch Charles Draken Yoshiro und Emily Priden waren unter den Opfern. Und viel schlimmer noch: Die Daa'muren hatten gesiegt! Es war der Allianz nicht gelungen, rechtzeitig zur Bombenkette vorzustoßen und sie zu entschärfen.
Glück im Unglück: Seine beiden Vertrauten, Mr. Collyn Hacker und Miss Kareen »Honeybutt« Hardy, hatten überlebt. Allerdings gab Miss Hardys Zustand Grund zur Besorgnis. Sie hatte einen schweren Schock erlitten, zitterte am ganzen Leib und war unfähig, sich zu artikulieren. Mr. Hacker kümmerte sich um sie, während Black den Rückzug organisierte. Die Verletzten wurden versorgt – fünf starben noch vor Ort –, Tragen gebaut und die verwertbare Ausrüstung eingesammelt. Schnell stellte sich heraus, dass der EMP sämtliche Technik unbrauchbar gemacht hatte. Sie mussten zu Fuß und ohne Waffen den langen Weg nach Moskau antreten. Denn dort lag Mr. Blacks Ziel: Moskau. Dies war die Aufgabe, die er sich gestellt hatte: Die verbliebenen Soldaten und alle, die sich ihnen anschließen mochten, heil dorthin in Sicherheit zu bringen. Und das war auch der einzige Grund, warum er nicht längst zusammengeklappt war, sondern wie ein Fels in der Brandung inmitten dieses Haufens Verlorener stand und ihnen allen Hoffnung gab. »Wir müssen eine Pause einlegen!« Mr. Hacker war neben ihm aufgetaucht. Sein Atem ging keuchend. Auf seiner dunkelbraunen Glatze perlten trotz der kühlen Temperaturen Schweißtropfen. »Sie werden sich erkälten«, mahnte Black. »Sie sollten eine Mütze tragen.« »Scheiß drauf«, erwiderte Hacker. Black zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts, als er die Sorge in Hackers Blick sah. »Es geht ihr schlechter.« Der drahtige Computerexperte, der nie wieder einen Computer bedienen würde, wies mit dem Daumen zurück auf die Trage, die er an zwei Streben hinter sich her zog. »Ich muss sie versorgen.« »Okay.« Mr. Black blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis und rief mit befehlsgewohnter Stimme: »Eine halbe Stunde Rast! Kümmert euch um die Verletzten und ruht euch aus!«
Dann legte er seinen Rucksack ab – das Ding musste gut hundert Kilo wiegen, denn es befanden sich sämtliche Nahrungsvorräte darin – und beugte sich über Honeybutt. Sie warf sich hin und her, war kaum bei Bewusstsein. Mit der Linken hielt er ihren Kopf am Kinn fest, mit dem Daumen der Rechten drückte er ihr Augenlid in die Höhe. Das Weiß darunter war von geplatzten Äderchen durchzogen, die Pupille ungewöhnlich klein. »Ob es...« Hacker räusperte sich. »Ob es mit der Strahlung zusammenhangt?«, fragte er unsicher. Mr. Black schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Wäre das der Fall, müssten viele andere hier ebenfalls Symptome zeigen.« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht warum – aber die Radioaktivität scheint uns bei weitem nicht so stark getroffen zu haben, wie man annehmen müsste. Seit zwei Tagen sind wir unterwegs und haben noch keinen Fall von plötzlichem Haarverlust oder Hautveränderungen. Nein, es ist der Schock. Verabreichen Sie ihr noch eine Dosis Imipramin und geben Sie ihr zutrinken.« Er wollte sich schon erheben, blieb dann aber doch hocken und hielt weiter Honeybutts Kinn fest, während er mit ihrem Schal den Schweiß von ihrer schokoladenbraunen Haut tupfte. »Hören Sie mir zu, Miss Hardy... Honeybutt«, sagte er leise, aber eindringlich. »Der Krieg ist vorbei. Die Schlacht ist überstanden. Wir sind auf dem Weg nach Hause. Und ich schwöre bei Gott, dass wir dort auch ankommen werden.« Für einen Moment klärte sich ihr Blick, und sie schaute zu ihm auf. Black lächelte – obwohl er wissen musste, dass ein Lächeln in seinem Quadratschädel eher Furcht einflößend wirkte. »Aiko...?«, hauchte sie. Das Lächeln gefror auf seiner Miene. Erinnerte sie sich nicht an Commander Drax' letzten Funkspruch vor der Katastrophe?
»Es gibt zuverlässige Meldungen, dass Aiko Tsuyoshi tief ins feindliche Gebiet vorgedrungen ist und eine Sabotage der Bombenkette plant. Mit etwas Glück kann er im Schutz des Nebels bis an den Kometen gelangen und die Bomben unschädlich machen...« Was so viel hieß wie: Er hat es nicht verhindern können. Und: Er ist tot. Niemand innerhalb des Ringgebirges konnte die Apokalypse überlebt haben, selbst ein Androide nicht. »Ich bin mir sicher, er hat es auch geschafft«, log Black, und er hasste sich dafür. Aber in Miss Hardys Zustand hätte jede weitere schlechte Nachricht ihr Leben gefährdet. »Mr. Hacker wird sich um Sie kümmern«, sagte er und erhob sich. Mit zu Fäusten geballten Händen wandte er sich ab und ging zu einigen Soldaten hinüber, die offenbar einen Barbaren aufgegriffen hatten. Der bärtige Mann im Wakudapelz gestikulierte wild. »Ah, Zaritsch Black!« Einer der Männer sah ihn kommen und winkte ihm. Zaritsch... Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er sich wirklich an diesen Titel gewöhnt hatte. Es war schon reinste Ironie: Der Klon des letzten regulären USPräsidenten Arnold Schwarzenegger auf dem russischen Zarenthron... »Was ist hier los, Corporal?«, fragte er nach einem Blick auf die Abzeichen des Soldaten; ein Angehöriger von General Pridens Verbänden. Eine Pistolentasche hing an seinem Gürtel – offenbar eine antike mechanische Waffe. »Dieser Kerl hier«, der Corporal deutete auf den Barbaren, »verlangt unseren Anführer zu sprechen. Er sagt, er hätte eine wichtige Botschaft.« Was konnte das für eine Botschaft sein – und vor allem von wem? Black baute sich vor dem Bärtigen auf. »Ich bin Mr. Black, der Kommandant dieses Trupps.« ... dieses verlorenen Haufens hätte wohl besser gepasst. »Wer bist du und woher kommst du?«
»Mein Name ist Degaa.« Der Barbar schaute auf die Soldaten zu seinen Seiten. »Ich möchte mit Ihnen allein reden, Mr. Black. Unter... vier Augen, so sagt man doch?« Black runzelte die Stirn. Der Mann sprach nicht etwa das Idiom der Wandernden Völker, wie er erwartet hatte, sondern Englisch, wenn auch mit irgendeinem Dialekt, den er nicht zuordnen konnte. Er nickte den Soldaten zu. »In Ordnung. Kümmert euch um die Verwundeten. Ich komme hier klar.« Die Männer salutierten und zogen ab. »Nun...?«, wandte sich der Hüne an Degaa – doch statt zu sprechen, zog dieser seinen rechten Ärmel zurück. Darunter wurde ein bleicher, unbehaarter Arm sichtbar. Black runzelte die Stirn. »Ich möchte Sie vorwarnen, Mr. Black«, sagte Degaa. »Was Sie nun sehen, wird Sie erschrecken, aber bedenken Sie: Ich bin als Vermittler hier. Handeln Sie also nicht unbedacht.« Und noch bevor Black antworten oder anderswie reagieren konnte... begann sich der Arm zu verfärben! Wurde schuppig und nahm einen silbrig-grünen Glanz an, während die Hand zu einer Pranke mutierte, mit hornigen Gliedern und spitz zulaufenden Nägeln. Mr. Black prallte zurück. Ein Daa'mure! *** Im ersten Moment beherrschte ihn der Reflex, sich nach vorne zu werfen und zuzuschlagen, einen Alarmruf ausstoßend. Aber Black tat nichts von beidem. Der Daa'mure gab sich nicht leichtfertig mitten unter Feinden zu erkennen, um ihn anzugreifen. Ihm musste klar sein, dass er damit sein Todesurteil unterzeichnen würde, aller Überlegenheit zum Trotz. »Ich... verstehe«, knurrte Black mühsam beherrscht. »Was wollen Sie?«
Doch Degaa kam nicht zu einer Antwort. Ein Schuss zerriss die Stille. Die Kugel ließ den Boden vor den Schuhspitzen des Bärtigen explodieren. Menschen schrien auf, Köpfe ruckten herum. »Keine Bewegung... Freak!« Der Corporal kam heran, die Pistole im beidhändigen Anschlag, die Mündung jetzt auf die Stirn des falschen Barbaren gerichtet. Zwei Meter vor dem Daa'muren bleib er stehen. »Auf die Knie, oder ich puste dir den Schädel weg!« Black verstand: Der Corporal musste die Metamorphose beobachtet und den nahe liegenden Schluss gezogen haben. Ein guter Soldat, ohne Zweifel – aber wenn er jetzt abdrückte, würde Black die Botschaft des Feindes nie erfahren. Er hob die Hände. »Das wird nicht nötig sein, Corporal...« »Newkirk, Sir. Dieser Echsenbastard wollte Sie angreifen, Sir! Sehen Sie seinen Arm!« »Ich weiß, Newkirk!«, sagte Black eindringlich. »Ja, er ist ein Daa'mure.« Von allen Seiten kamen Laute des Entsetzens; etliche Männer und Frauen sprangen auf und suchten mit Blicken nach irgendwelchen Schlag- oder Stichwaffen. »Aber er kommt als Parlamentär!«, fuhr Black mit erhobener Stimme fort. »Wir werden uns anhören, was er zu sagen hat!« Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Newkirk leckte sich über die spröden Lippen. »Sind Sie sich ganz sicher, Sir?«, fragte er. »Ich habe gehört, diese Bastarde können Menschen ihren Willen aufzwingen!« »Ich bin mir sicher, Soldat! Denken Sie nach! Nur mit ihrem Virus können sie uns beeinflussen, und selbst dann dauert es Tage. Also nehmen Sie die Pistole runter! – Bleiben Sie aber wachsam«, fügte er hinzu. Erstens, um ihn zu bestätigen, zweitens, weil es tatsächlich besser war. Als Newkirks Arme nach unten sanken, wandte sich Mr. Black wieder an den Daa'muren. »Also?«
Degaa sah sich nach allen Seiten um. Und dann bot er den Menschen ein so erschreckendes wie faszinierendes Schauspiel: Mit einem Male bildete sich seine Kleidung zurück, verschmolz mit seinem Körper, dessen Oberfläche in winzige glänzende Schuppen zerfiel, sein Bart wurde Teil des Halses, Ohren und Nase verschwanden und der Kopf wölbte sich nach oben und hinten aus. Gleichzeitig wuchs der Gestaltwandler auf eine Größe von über zwei Metern an. Die Verwandlung zum echsenhaften Wirtskörper der Daa'muren dauerte nur Sekunden, und jeder, der sie sah, erschauderte und wich unwillkürlich zurück. Alle außer Mr. Black – und Corporal Newkirk, der das Wesen vor sich aus schmalen Augen fixierte. Dann erst begann der Daa'mure zu sprechen: »Mein Name ist Est'lun'degaa. Mein Oberster hat mich gesandt, Ora'sol'guudo, unser Sol. Ich habe Nachricht für die Vereinigung der Primärrassenvertreter, die sich ›Allianz‹ nennt.« Er legte eine dramaturgische Pause ein und fixierte Mr. Black, der seinem kalten Echsenblick standhielt. »Unsere beiden Völker haben im Krieg schwere Verluste erlitten. Auf beiden Seiten wurden die gesteckten Ziele nicht erreicht – und auf beiden Seiten fehlen die Mittel, den Kampf fortzusetzen. Die Logik gebietet es also, einen Status zu erreichen, der unseren Völkern die Möglichkeit bietet, sich zu erholen, anstatt sich in weiteren Scharmützeln gänzlich gegenseitig auszurotten. Die Primärrassenvertreter haben von uns nichts mehr zu befürchten. Wir verlangen lediglich, in unserem Terrain, das ihr den ›Kratersee‹ nennt, in Ruhe gelassen zu werden. So wie wir euch in Ruhe lassen werden.« Der Daa'mure verstummte, Stille legte sich über die Menge. Auch Black musste erst einmal verdauen, was er gehört hatte. Die Aliens hatten ihr Ziel also nicht erreicht. Das Projekt Daa'mur war gescheitert! Und sie gaben das ganz offen zu. Ein
Trick – oder tatsächlich die logische Schlussfolgerung dieses »Sol«? »Ich werde die Botschaft den Führern der Allianz übermitteln«, brach Mr. Black das Schweigen. Der Daa'mure schien seine Aufgabe als erfüllt zu betrachten. Er wandte sich halb ab, drehte sich dann aber noch einmal zu Mr. Black. »Ich erhalte freien Abzug?« Für einen kurzen Moment sah Black all die Toten vor sich, die Zerstörungen, die Ränkespiele und Angriffe der Daa'muren, das Leid, das sie mit ihren Viren über weite Teile der Bevölkerung gebracht hatten – und er wünschte sich fast, er wäre nicht der Mann, der er nun einmal war, sondern ein Typ wie Arthur Crow, der bedenkenlos über Leichen ging. »Verschwinden Sie!«, sagte er nur. *** »O Scheiße!« Eine Sekunde nach Ausfall des Lämpchen und des Monitors kam die akustische Bestätigung dessen, was geschehen war: Kurzschluss in der Navigation. Die Computersteuerung hatte sich abgeschaltet. Der Alarmton hallte in Matts Ohren wider. Es roch nach verschmortem Plastik. Hastig griff er nach dem Steuerknüppel, wechselte auf manuelle Steuerung. Der Alarm verstummte. Matthew Drax war kein »Sofortumschalter« wie jener Weltraumheld, dessen Abenteuer er während seiner Dienstzeit in Berlin hin und wieder gelesen hatte; er brauchte einige Sekunden, um alle Daten zu erfassen und die »To-do-Liste« in seinem Kopf in die richtige Reihenfolge zu bringen. Zuerst musste er langsamer werden. Ein Blick auf die Messgeräte: noch 1200 Meter bis zum Grund bei 120 km/h; bei dieser Geschwindigkeit blieben ihm noch 36 Sekunden.
Er flog jetzt praktisch blind, konnte sich nur auf die Instrumente verlassen und darauf, dass keine weitere seitliche Korrektur mehr nötig war, um auf dem Landekreis aufzusetzen. Wenn sich seine Flugbahn in die falsche Richtung verschob, würde er es spätestens daran merken, dass er abgeschossen wurde... Er gab Gegenschub über die sechs Heckdüsen, die sich gegen die Anziehungskraft des Mondes stemmten. Die Anzeige des Tachometers fiel: 100... 80... 70 km/h. Bei 500 Metern über Grund aktivierte Matt die oberen beiden Bugdüsen; die Fähre schwang in eine horizontale Lage. Nun Schub auf alle sechs nach unten gerichteten Landedüsen gleichzeitig! Bei 200 Metern hatte er die Raumfähre stabilisiert und sank mit nur noch 40 Stundenkilometern. Nun war Feinarbeit gefordert, um das Fluggerät im Gleichgewicht zu halten; Matt kompensierte leichte Schwankungen mit minimalen Stößen aus den Steuerdüsen. Noch 140 Meter... 100... 80... Vor dem Cockpitfenster tauchte der Mondhorizont auf und half Matt, die Lage des Schiffs besser einzuschätzen. Noch immer gab er in schneller Folge kurze Schubstöße ab. 40 Meter... 30... 20... Die Sinkgeschwindigkeit lag jetzt bei 10 Stundenkilometern. Noch zu hoch, als dass die Fahrwerke... Die Fahrwerke! Matthew traf es wie ein Schlag. Hastig griff er nach dem Hebel, um das Bug- und die beiden Heckräder auszufahren. Über den Stress, das Shuttle in der Balance zu halten, hätte er dieses wichtige Detail beinahe vergessen. Verdammt! Dem anderen wäre das nicht passiert! Er stieß die angehaltene Luft aus, als eine grüne LED anzeigte, dass die Fahrwerke eingerastet waren. Dann huschte sein Blick zum Höhenmesser hinüber. 5 Meter... 3... 2... 1...
Noch einmal gab er einen längeren Schubstoß ab, der das Shuttle fast zum Stillstand brachte. Trotzdem stauchte ihn der Ruck, mit dem es auf dem Mond aufsetzte, in seinem Sitz zusammen. Für eine halbe Minute blieb Matt mit geschlossenen Augen einfach sitzen, beruhigte seine Nerven und atmete tief ein und aus. Er hatte es geschafft! Und nebenbei war er der erste Mensch auf dem Mond seit fünfhundert Jahren... Wirklich? Er schnallte sich ab – ein seltsames Gefühl, nach zwei Tagen Schwerelosigkeit wieder sein Gewicht zu spüren – und beugte sich zur Cockpitscheibe. Er musste sich dabei abstützen; noch fühlten sich seine Knie wie mit Pudding gefüllt an. Durch das äußerste rechte Fenster konnte er zur Basis hinüber sehen, die fünf Kilometer entfernt lag – aus Sicherheitsgründen, falls einmal ein Start oder eine Landung schief gegangen wären. Aus dieser Entfernung konnte er nicht einmal sehen, ob dort Lichter brannten. Das fremde Raumschiff musste hinter dem Shuttle stehen, doch solange die Kamera nicht funktionierte, konnte er es nicht näher in Augenschein nehmen. Also würde er sich erst einmal um Naoki kümmern. Mit noch unsicheren Schritten bei einem sechstel Schwerkraft machte er sich auf den Weg ins untere Deck. Von der neuen Stationsbesatzung war nichts zu hören; offenbar beratschlagte sie noch, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Auch Matt hatte darüber nachgegrübelt, seit er von ihrer Existenz wusste. Was sollte er tun? Er befand sich in der eindeutig schlechteren Position, mit einem beschädigten Schiff, Sauerstoffreserven für nur noch vier Tage und ohne Waffen. Nicht dass er der Meinung war, Gewalt wäre hier angebracht, aber ein Driller oder eine Beretta hätten ihm irgendwie ein sichereres Gefühl gegeben.
Er langte auf dem Mannschaftsdeck an. Die Cyborg lag unverändert in einer der Kojen. Die Gurte hatten sie auch während des Vertikalflugs sicher gehalten. Matt fühlte ihre Stirn. Sie war kühl und feucht. Der Pulsmesser gab noch immer regelmäßige Töne von sich. Ein anderes Geräusch mischte sich unter das stetige Piepsen – das Quäken des Funkgeräts im Cockpit! So schnell es ihm möglich war, eilte Matt nach oben und zog sich das Headset über den Kopf. »... rufen das Space Shuttle Queen Victoria!«, klang es aus den Hörern. Eine eindeutig weibliche Stimme! »Commander Matt Drax hier«, meldete er sich. »Bitte sprechen Sie.« Eine kurze Pause. Dann: »Commander Drax, Ihr Besuch auf dem Mond kommt... nun, unerwartet. Wir hatten die Erde als barbarischen Planeten ohne Raumfahrt eingestuft.« Matt hatte einige Mühe, die Sprecherin zu verstehen. Wie schon zuvor stimmten Satzmelodie und die Betonung einzelner Worte nicht. Als hätte man die Sprache lediglich aus Büchern gelernt, ohne sie je wirklich gehört zu haben. »Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind«, verlangte er. »Wir sind begierig, weitere Informationen zu erhalten«, fuhr die Stimme fort, ohne auf die Forderung einzugehen. »Allerdings können wir Sie vor einer gründlichen Dekontaminierung nicht in die Station lassen. Die Krankheitserreger der verseuchten Erde würden uns infizieren.« Das leuchtete Matt ein. »Und wie lange wird das dauern?«, fragte er. »Etwa zwei Ihrer irdischen Wochen, vielleicht auch drei, je nach Grad der Verseuchung –« »Das ist... das geht nicht!«, unterbrach er die Sprecherin. »Ich habe eine Verletzte an Bord, eine Frau, deren Körper zum Teil aus bionischen... aus künstlichen Bauteilen besteht. Ihr
Zustand ist kritisch. Ich muss Naoki Tsuyoshi schnellstmöglich an die medizinischen –« Nun wurde er unterbrochen. Nach einem Laut des Erschreckens fragte die weibliche Stimme atemlos: »Wer, sagen Sie, ist an Bord? Wie lautet der Name?« Matt runzelte die Stirn. »Naoki. Naoki Tsuyoshi. Aber warum...« »Mein Name ist Maya Joy Tsuyoshi«, sagte die Stimme mühsam beherrscht. »Aus dem Hause, das auf die Gründerin Akina Tsuyoshi zurückgeht. Wir... müssen prüfen, was das zu bedeuten hat.« Damit unterbrach sie die Verbindung und ließ Matthew Drax noch konfuser als vorher zurück... *** Diesmal dauerte es deutlich länger, bis erneut ein Kontakt zustande kam. Matt verbrachte fast eine Stunde mit Grübeln, rastlosem Herumtigern in der engen Kabine und Aus-demFenster-Starren. Akina Tsuyoshi... Der Name ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er war sich fast sicher, ihn schon einmal gehört zu haben; früher, vor seinem Zeitsprung in diese Gegenwart. Ein paar Mal schon schien die Erinnerung zum Greifen nahe – um ihm dann doch wieder zu entgleiten, bevor er sie fassen konnte. Als er zum mindestens fünfzigsten Mal aus dem Cockpitfenster blickte, sah er drüben bei der Station eine Staubfahne in die Höhe steigen. Minuten später hatte er Gewissheit: Ein Rover näherte sich! Und schließlich meldete sich die ominöse Maya Joy erneut über Funk. »Wir kommen und holen Sie beide ab«, sagte sie knapp. »Halten Sie sich und Naoki Tsuyoshi bereit.« Matt war es leid, hier den reinen Befehlsempfänger zu geben. »Moment mal«, begehrte er auf. »Vorher möchte ich
wissen, wer Sie sind und was Sie auf unserer Mondstation zu suchen haben.« »Auf Ihrer Mondstation?«, fragte die Stimme. Sie klang beinahe belustigt. »Auf der lunaren Basis der Vereinigten Staaten von Amerika«, präzisierte Matthew. »Sie haben fremdes Hoheitsgebiet einer Macht betreten, als deren Repräsentant ich mich sehe.« »Das können Sie gerne tun«, erwiderte Maya Joy. »Es bestätigt unsere Meinung über die Menschen der Erde: aggressiv, Besitz ergreifend, egoistisch, wenig diplomatisch.« Matt ballte die Hände zu Fäusten. Verdammt; im Grunde hatte sie Recht. Was war mit ihm los? Statt beim Erstkontakt mit einer vielleicht fremden Rasse bedächtig vorzugehen, rasselte er mit dem Säbel. Die Ereignisse der letzten Wochen, der lange Flug und die Sorge um seine Freunde auf der Erde und um Naoki hatten ihn dünnhäutig gemacht. Aber einen Rückzieher würde man ihm jetzt als Schwäche auslegen. »Verdammt, Sie wissen genau, wie ich es meine!«, polterte er. »Sie können nicht über mich verfügen wie... wie...« »... wie einen Gefangenen«, vollendete die Fremde den Satz. »Doch, genau das können und werden wir, Commander Drax. Sie sind bis auf weiteres unser Gefangener. Aber machen Sie sich keine Sorgen: Wir werden Sie lediglich vernehmen, bis alle unsere Fragen beantwortet sind. Und um Ihre Begleiterin werden wir uns selbstverständlich kümmern. Schon in unserem eigenen Interesse...« Schon wieder eine kryptische Bemerkung! »Wer – sind – Sie?«, fragte Matt nachdrücklich. »Woher kommen Sie?« Maya Joy seufzte. Doch sie schien einzusehen, dass ihr »Gefangener in spe« erst nach dieser Information kooperativ sein würde. »Wir sind Menschen wie Sie und Dame Tsuyoshi«,
sagte sie. »Unsere Vorfahren stammten von der Erde. Wir selbst kommen vom Mars.« *** Der Mars! Die plötzliche Erkenntnis traf Matthew Drax wie ein Blitz. Akina Tsuyoshi – eine der zehn Raumfahrer der im Jahr 2009 gestarteten Mars-Mission, die nach Abbruch des Kontakts kurz vor dem Ziel als gescheitert galt. Ein Poster der Crew hatte in der Kantine seines Stützpunkts in Berlin Köpenick gehangen. Die Fremden waren Nachfahren dieser Crew! Was dies in allen Konsequenzen bedeutete, flutete wie in aufeinander folgenden Schüben Matts Hirn: Die Mission war also kein Fehlschlag gewesen, die Männer und Frauen hatten überlebt! Und wenn jetzt, nach über fünfhundert Jahren, ihre Nachfahren hier auftauchten, bedeutete dies, dass gewaltige Veränderungen auf dem Mars stattgefunden hatten. Sie mussten es geschafft haben, den Planeten zu terraformen, ansonsten hätte es keine Nachkommen gegeben. Jetzt waren sie selbst ins All aufgebrochen – aber warum waren sie nicht auf der Erde gelandet, sondern auf dem Mond? Die Antwort gab sich Matt eine Sekunde später. Erstens waren für sie die Schwerkraft auf der Erde zu hoch und die Luft zu dicht. Zweitens waren sie – ähnlich den Bunkermenschen – für sämtliche irdischen Viren hoch anfällig geworden. Und drittens war die Erde bevölkert von mutierten Raubtieren, brutalen Barbaren und gefährlichen Pflanzen. Wenn sie je versucht hatten, persönlich auf dem Planeten zu landen, hatten sie sich mit Sicherheit blutige Nasen geholt. Kein Wunder also, dass sie auf dem Mond Quartier bezogen hatten und von hier aus das Chaos beobachteten, das da unten herrschte. Vielleicht hatten sie nicht einmal den Krieg gegen
die Daa'muren mitbekommen. Aber mit Sicherheit die Explosion der Bombenkette... »... die Luke nach Aufforderung«, drang Maya Joy Tsuyoshis Stimme in Matts Gedanken. Für ein paar Sekunden musste er regelrecht weggetreten gewesen sein. »Äh – bitte wiederholen«, sagte er, noch immer benommen. Marsmenschen auf dem Mond – kaum zu fassen! Das klang wie der Titel einer Science-Fiction-Schmonzette aus den Fünfzigern. »Wir werden Sie in sechs Minuten Erdzeit erreicht haben«, wiederholte Maya Joy. »Legen Sie beide Ihre Raumanzüge an und öffnen Sie die Luke nach Aufforderung. Haben Sie verstanden?« »Ja, alles klar.« »In Ihrem eigenen Interesse sollten Sie keine Gegenstände bei sich führen, die wir als Waffen betrachten könnten«, fügte die Marsfrau noch hinzu. »Selbstverständlich...« »Sie werden Dame Tsuyoshi allein herüberbringen müssen. Vor Ihrer äußerlichen Dekontaminierung werden wir jeden Kontakt vermeiden. Ist das ein Problem für Sie?« »Äh, nein.« Matt war viel zu verblüfft über die Effizienz, mit der die Fremde alle Möglichkeiten bedachte, als dass er widersprochen hätte. »Gut«, sagte Maya Joy. »Ein abgetrennter Bereich des Rovers wird Sie aufnehmen. Öffnen Sie keinesfalls Ihre Helme; dort herrscht Vakuum! Sie haben noch drei Minuten Zeit.« *** Als das Zischen des Druckausgleichs verstummte, blickte Matthew Drax voller Spannung zur Innenschleuse, aber die Fremden ließen sich Zeit.
Nachdem man ihn und Naoki vom Shuttle hierher zur Station gebracht hatte, war er über Helmfunk angewiesen worden, auszusteigen und die mit einer großen »1« gekennzeichnete Schleuse zu betreten. Wie Matt aus den Lageplänen wusste, dienten die Zugänge Eins und Zwei des sechsteiligen Ringsystems als Dekontaminationsschleusen. Er hatte Naoki ungern im Rover zurück gelassen, aber Maya Joy Tsuyoshi hatte ihm versichert, dass bereits ein Ärzteteam bereitstand, das sich um die Cyborg kümmern würde. Also hatte er der Anweisung Folge geleistet und die Schleuse betreten. Die Marsianer hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen, und so sollte es in den nächsten Minuten auch bleiben. Aus einer Sprinkleranlage an der Decke rauschte milchige Flüssigkeit auf ihn herab und verschmierte den Helm seines Raumanzugs. Die Tropfen fielen dank der geringen Schwerkraft viel langsamer als auf der Erde; es sah aus, als wäre er in eine Zeitlupenaufnahme geraten. Matt hob die Arme und drehte sich, damit auch jeder Quadratzentimeter benetzt wurde. Anschließend spülte eine klare Flüssigkeit die weißen Schlieren weg. Dampf wölkte auf. Matt meinte einen ätzenden Geruch sogar durch den Anzug hindurch wahrzunehmen, aber das musste eine Sinnestäuschung sein. »Ihr Raumanzug wurde dekontaminiert«, sagte eine männliche Stimme aus verborgenen Lautsprechern. Bitte gehen Sie in den nächsten Raum und warten Sie dort. Öffnen Sie keinesfalls Ihren Anzug!« Matt tat, wie ihm geheißen. Die Kammer, in die er trat, war spartanisch eingerichtet: Ein mit der Wand verbundener Tisch, zwei Hocker ohne Lehne, eine Apparatur zum Befüllen von Sauerstoff-Flaschen und zehn Spinde, in denen wohl Raumanzüge lagerten. An der Decke verliefen Leuchtstoffröhren, die alles in gnadenlos helles Licht tauchten.
An der gegenüberliegenden Stirnseite gab es eine normale Tür ohne Schleusenrad und -dichtung. Nachdem sich Matt umgesehen hatte, trat er zu dem Tisch. Eine Kladde lag darauf: Daten in Spalten unterteilt und mit Namen darüber. Die Schrift war eindeutig lateinischen Ursprungs, die Zahlen arabisch. Klare Belege dafür, dass die Marsianer menschliche Vorfahren hatten. Bevor er die Eintragungen näher in Augenschein nehmen konnte – kein leichtes Unterfangen im Raumanzug mit den klobigen Handschuhen – wurde Matt von einem schleifenden Geräusch abgelenkt. Er ließ die Kladde auf den Tisch zurück fallen, drehte sich um – – und erstarrte. Die Tür hatte sich geöffnet. Zwei hoch gewachsene Gestalten in Raumanzügen betraten den Raum. Wobei »hoch gewachsen« untertrieben war: Der eine maß gute zwei Meter und der andere überragte ihn noch um zwanzig Zentimeter. Dabei waren sie so schlank, dass Matt unwillkürlich an Magersucht denken musste. Aber ihre Gesichter waren eindeutig menschlich. Die größere der Gestalten hob die Hand zum Gruß. Ihr Blick war dabei nicht eben freundlich; sie fixierte Matt wie ein seltenes Tier. »Ich bin Leto Jolar Angelis, Kommandant der Basis. Ich... heiße Sie auf dem Mond willkommen, Commander Drax.« Er rang sich die Begrüßung geradezu ab. Matthew hatte während der Fahrt hierher überlegt, ob er bei der Erstbegegnung mit den Marsianern irgendwelche historischen Worte von sich geben sollte. Aber an den »kleinen Schritt für einen Menschen« kam er ohnehin nicht heran. Also hob er ebenfalls die Hand und sagte: »Matthew Drax. Möge die Macht mit euch sein.« Angelis schien irritiert, sagte aber nichts. Er hatte, wie Matt unter dem Helm erkennen konnte, dunkelbraunes Haar, bernsteinfarbene Augen und eine seltsame Pigmentierung im
Gesicht: lang gezogene Flecken, beinahe symmetrisch angeordnet, die ihm etwas Katzenhaftes verliehen. Es sah beinahe aus wie Aruulas »heilige Streifen«, schien aber natürlichen Ursprungs zu sein und nicht aufgemalt. Der zweite Marsianer stellte sich vor: »Lorres Rauld Gonzales. Ich vertrete Maya Joy Tsuyoshi, die sich erst um die Verletzte kümmern will.« Er hatte kurzes weißes Haar, hellbraune Augen und wies eine ähnliche Pigmentierung auf; ein typisches Merkmal der Marsianer? Matt stellte diese Frage hintan. »Ein gutes Stichwort«, sagte er. »Die Namensgleichheit mit Naoki kann kein Zufall sein. Ich vermute, dass Sie... dass ihr Volk auf die Raumfahrer zurückgeht, die im Jahr 2009 zum Mars aufbrachen. Offensichtlich hat die Expedition überlebt und den Mars urbar gemacht. Richtig?« Die beiden Gestalten sahen sich verblüfft an. Dann wandte sich Gonzales an Matt: »Wir sind erstaunt über Ihre Kombinationsgabe. Bislang gingen wir davon aus, dass die Entwicklungsstufe der Erdbevölkerung in der späten Eisenzeit anzusiedeln ist.« »Für weite Teile trifft das auch zu«, entgegnete Matt. »Aber offenbar sind Sie nie auf Bunkermenschen oder Unsterbliche getroffen. Überhaupt haben Sie sich nie eingemischt, was? Beobachten statt Handeln. Dabei hätten wir Ihre Hilfe im Krieg gegen die Invasoren gut brauchen können.« »Unsterbliche? Invasoren? Moment...!« Angelis zog die Notbremse. »Das alles sind Informationen, die wir nicht hier und jetzt besprechen sollten. Wir sind begierig, alles zu erfahren, Commander. Sobald Sie in Quarantäne und fürs Erste versorgt sind.« Es klang in Matts Ohren wie »weggesperrt und ruhig gestellt«. »Aber es stimmt: Sie kommen vom Mars?«, drängte er. »Das ist korrekt«, gab Angelis zu. »Wir kamen vor vierzehn Ihrer Jahre hier an und richteten uns auf dieser verlassenen
Station ein. – Mehr müssen Sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht wissen. Folgen Sie mir.« Damit wandte er sich ab und trat durch die Tür. Gonzales wartete, bis Matt sich anschloss, und bildete dann das Schlusslicht. Es ging durch einen gekrümmten Gang an der äußeren Peripherie der Station entlang. Die Fenster wiesen zur Mondoberfläche hinaus, und Matt konnte in der Ferne die beiden Raumschiffe sehen. Vor einer Schleuse, die weiter in die Station führte, blieb Leto Angelis stehen, öffnete sie und wies hinein. »Hier können Sie Ihren Raumanzug ablegen. Lassen Sie ihn in der Schleusenkammer liegen und gehen Sie weiter durch. Dort erhalten Sie neue Anweisungen.« Wieder fiel Matt der verhalten aggressive Unterton in Letos Stimme auf. Er war froh, mit diesem Mann nicht schon beim Anflug gesprochen zu haben; gewiss hätte er das Shuttle beim ersten Widerwort abgeschossen. Matt trat wortlos in die Kammer. Hinter ihm schloss sich die Schleuse. Er schnappte die Verschlüsse des Helmes auf und nahm ihn vorsichtig schnuppernd ab. Im ersten Moment glaubte er, nicht atmen zu können. Krampfhaft sog er die Luft ein, hustete – und stülpte sich den Helm rasch wieder über. Was zum Teufel hatten die Kerle vor? Wollten sie ihn röchelnd am Boden sehen? Die Luft war so dünn wie auf den höchsten Bergen der Erde! »Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit«, ertönte Angelis' Stimme in seinem Helmfunk. »Wir wollten zuerst austesten, ob unser Sauerstoffniveau für Sie ausreicht. Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Wir werden den Anteil erhöhen.« Ein Zischen erklang. Matt zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen und versuchte es noch einmal. Diesmal konnte er besser Luft holen, wenngleich noch immer mit Sauerstoff gegeizt wurde. Er atmete schnell und flach, während er sich in
der bedrückenden Enge der Schleusenkammer aus seinem Anzug schälte. »Die Bordkleidung auch«, sagte die Stimme, diesmal aus einem Lautsprecher. »Sie finden neue Sachen im Raum hinter der Schleuse.« Matt beschloss, mit dem Fluchen noch nicht aufzuhören. Bis auf die nackte Haut legte er alles ab und stapelte es in einer Ecke der Kammer. Kaum war er damit fertig, erfolgte die nächste unangekündigte Schikane; zumindest empfand er den heißen Regen milchiger Flüssigkeit so, der von allen Seiten kam und ihn mit einem stinkenden Schmierfilm überzog. Würgend spuckte er aus, was ihm in den Mund gedrungen war, und rieb sich die Augen frei. Die schon bekannte klare Flüssigkeit folgte. Die Schlieren verschwanden gluckernd in einem Ausfluss. Matt hielt den Atem an, in Erinnerung an die Dampfschwaden, die der Dekontamination des Anzugs gefolgt waren, aber damit wollte man seinen Körper wohl doch nicht martern. Die Entgiftung konnte eh nur oberflächlich erfolgen; in seinem Innenleben tummelten sich weiterhin die Viren und Bakterien. Die zweite Schleuse öffnete sich automatisch. »Gehen Sie weiter!« forderte die Stimme des Kommandanten. Als Matt mit brennenden Augen und juckender Haut in den verglasten Raum trat, schloss sich die Tür hinter ihm wieder – und ein Fauchen wie von einem Feuerstoß drang durch das Metall. Sie verbrennen alles, fuhr es Matt durch den Kopf. Und vermutlich musste er noch dankbar sein, dass sie das Feuer nicht schon gezündet hatten, als er noch drinnen gewesen war. Er trat zu dem Stuhl, über dem ein leichter weißer LeinenOverall hing – zumindest sah es aus wie Leinen, fühlte sich aber anders an –, und schlüpfte hinein. Länger als nötig wollte er den Kameras, die ihn zweifellos beobachteten, den Anblick seines durchtrainierten, braun gebrannten Körpers nicht
gönnen. Vor dem Stuhl standen zwei flache, senkellose Schuhe, in die er hinein schlüpfte. Sie schienen über eine flexible Magnetsohle zu verfügen, denn sie klebten förmlich am Boden und regulierten so die geringe Schwerkraft. Anschließend sah Matt sich um. Der vier mal drei Schritte messende Raum bot die Minimalausstattung einer Gefängniszelle: ein Bettgestänge mit dünner Matratze, Kopfkissen und Decke, einen Tisch samt Stuhl (sogar mit Lehne!), ein Waschbecken mit auffällig breitem Wasserhahn, eine Vorrichtung an der Wand, die wohl der Notdurft diente, dazu eine Art spanische Wand für die Intimsphäre. Alles war in der Farbe Weiß gehalten und wirkte äußerst steril. Nicht unbedingt ein Ort zum Wohlfühlen. Drei der Wände waren ebenfalls weiß und bestanden aus Metall; an einer hing ein Spiegel. Die Stirnseite war aus Glas, wurde aber auf der anderen Seite von einer Jalousie bedeckt. Matt setzte sich auf den Rand des Bettes. Das also sollte für die nächste Zeit seine Bleibe sein. Frühestens bis die Fremden ihn entgiftet hatten, Maya Joy Tsuyoshis Worten zufolge in zwei bis drei Wochen. Und dann? Was würden sie mit einem Menschen tun, der von einem unzivilisierten Planeten kam, auf dem gerade eine gewaltige Detonation einen halben Kontinent verwüstet hatte? Was würden sie mit ihm anstellen, wenn er ihnen alle Informationen geliefert hatte? Ausstopfen und mit einem Schild »Böser Terraner« in ein Kuriositätenkabinett auf dem Mars verfrachten? Nicht so negativ denken, Commander!, rief er sich selbst zur Ordnung. Wilde Spekulationen halfen nicht weiter; er musste einfach abwarten. Und darauf hoffen, dass sie Naoki wirklich helfen konnten... ***
Mondstation, 2. Tag Eine unruhige Nacht lag hinter Matthew Drax. Immer wieder war er aus seinem leichten Schlaf hoch geschreckt. Doch die Erschöpfung der letzten Tage forderte ihren Tribut, und so war er jedes Mal schon nach Minuten wieder eingenickt. Dass es »Abend« geworden war, hatte er in dem fensterlosen Raum allein daran festmachen können, dass irgendwann die Beleuchtung herunter gedimmt wurde, so wie sie am »Morgen« wieder hoch geregelt wurde. Wie viel Zeit während der Dunkelperiode vergangen war, konnte er nicht ermessen. Matt erhob sich von seinem Lager, erfrischte sich am Waschbecken – wobei er Mühe hatte, die in Zeitlupe aus dem breiten Hahn strömenden Tropfen auf seiner Haut zu verteilen – und erledigte sein Bedürfnis. In jeder Sekunde fühlte er sich beobachtet, ja belauert. Das Atmen fiel ihm inzwischen leichter, trotzdem war er etwas benommen. Es würde wohl Tage dauern, bis er sich an die dünne Luft gewöhnt hatte. Ein Schaben an einer der Metallwände ließ Matt herumfahren. Ein Schott, etwa dreißig Zentimeter im Quadrat, hatte sich geöffnet. In einem Hohlraum dahinter standen ein Teller mit undefinierbarem Brei und ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit. Offensichtlich sein Frühstück. Matt nahm beides heraus und setzte sich an den Tisch. Der Brei schmeckte nicht einmal schlecht, wobei ein Gewürz mit herber Note den wahren Geschmack vermutlich kaschierte. Das Getränk war eine isotonische Flüssigkeit und schmeckte entfernt nach Gummibärchen. Matt verzehrte beides bis auf den letzten Rest. Er musste bei Kräften bleiben. Dann stellte er Teller und Glas wieder in die Öffnung, die sich zischend schloss.
»Guten Morgen, Commander Matthew Drax«, sagte eine Stimme. Es war die von Maya Joy Tsuyoshi, wie er sofort erkannte. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht.« »Einen guten Morgen auch Ihnen«, antwortete er. »Nein, die Nacht war ganz und gar nicht angenehm. Etwas mehr Sauerstoff und eine dickere Matratze könnten fürs Erste helfen.« »Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagte Maya Joy. »Sind Sie bereit für die erste Befragung?« »Habe ich eine Wahl?«, konterte er. »Aber natürlich. Sie können die nächsten Wochen auch schweigen. Wir haben Zeit.« Matt sah ein, dass sich die Frage erübrigte. Eine andere brannte ihm aber auf der Zunge: »Wie geht es Naoki?« Maya Joy zögerte einen Moment. Dann sagte sie: »Wir haben sie stabilisieren können. Ihre natürlichen Organe wurden an lebenserhaltende Systeme angeschlossen. Für die künstlichen Komponenten fehlt uns die kompatible Technik. Sie liegt im Koma, aber sie lebt. Mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.« Matt atmete auf. Wenigstens bestand Hoffnung. »Wenn wir aber schon über Naoki Tsuyoshi reden«, fuhr Maya Joy fort, »können Sie mir vielleicht eine Auskunft geben...« Während sie sprach, begann die Jalousie hinter der Glaswand nach oben zu gleiten – und gab den Blick in den Nachbarraum frei. Matt sah einen langen Stahltisch mit drei Stühlen dahinter. Auf ihnen saßen zwei Frauen und ein Mann. Letzteren kannte er schon: Es war Leto Angelis. Die Frau in der Mitte faszinierte Matt auf den ersten Blick. Sie war eine schöne, ätherische Erscheinung, fast so groß wie Angelis, hatte dunkle Augen und trug ihr langes blauschwarzes Haar im Nacken zusammengebunden, sodass er ihre überlangen Ohren sehen konnte. Sie strahlte eine natürliche
Würde aus, obwohl sie nicht alt schien; auf der Erde hätte man sie wohl auf Anfang dreißig geschätzt. Die Frau links von ihr war jünger, vielleicht Mitte zwanzig. Sie hatte kurze braune Haare, Grübchen links und rechts des breiten Mundes und eine ausgeprägte Pigmentzeichnung um die Augen, die ihr einen katzenartigen Ausdruck verlieh. Ihr roter Overall zeigte viel nackte Haut. Jene Pigmentierung schien tatsächlich ein Merkmal der Marsianer zu sein, denn sie zeigte sich bei allen dreien. Die Schwarzhaarige wies auf den Mann zu ihrer Rechten. »Den Kommandanten der Basis haben Sie bereits kennen gelernt: Leto Jolar Angelis. Dies hier«, sie zeigte nach links, »ist Jawie Tsuyoshi, unsere Historikerin und Linguistin. Ich selbst bin Maya Joy Tsuyoshi, die Missionsleiterin.« Matt nickte allen dreien zu. »Sie wollten mir eine Frage zu Naoki stellen?«, erinnerte er. »Richtig.« Maya Joy griff in ein Metallkästchen, das vor ihr stand, und nahm einen Plastikbeutel heraus, in dem sich etwas Glasklares, Längliches an einem silbernen Kettchen befand. Auf den zweiten Blick erkannte Matt Naokis Anhänger, den sie stets um den Hals getragen hatte. »Was können Sie uns zu diesem Kristall sagen?«, fuhr die Schwarzhaarige fort. Matt zuckte die Achseln. »Ein Schmuckstück. Was soll damit sein?« Maya Joy zog die hohen Brauen zusammen. »Sie wussten nicht, dass es sich um einen Datenspeicher handelt?« Matt war ehrlich überrascht. »Mit welchem Inhalt?« Maya Joy seufzte. »Das hofften wir von Ihnen zu erfahren, Commander. Wir konnten ihn bislang noch nicht auslesen. – Nun ja, das hat Zeit.« Sie legte den eingeschweißten Kristall zurück. »Kommen wir zu Ihnen. Wer sind Sie, Matthew Drax, woher kommen Sie? Und wie erklären Sie uns, dass Sie die Prinzipien der Raumfahrt beherrschen, wo Ihr Planet doch von Primitiven beherrscht wird?«
Matt war nicht wohl bei dem Gedanken, seine Historie vor diesem Triumvirat auszubreiten. Aber er musste mit genau dem Teil beginnen, der am schwersten zu begreifen war. Nur wenn sie aufgeschlossen genug waren, ihm seine ganz persönliche Geschichte abzunehmen, bestand die Hoffnung, dass sie auch den Rest glaubten. »Ich bin, wie schon gesagt, Pilot der U.S. Air Force, eines Truppenteils der Vereinigten Staaten von Amerika«, begann er. »Geboren wurde ich am 26. Januar des Jahres 1980 in Riverside bei Los Angeles...« Er hatte darauf gewartet: Die drei sahen sich verwirrt an, und Jawie Tsuyoshi sagte: »Entschuldigen Sie, Commander – Sie sagten 1980. Das kann aber nicht sein. Auf der Erde schreibt man –« »– das Jahr 2521, ich weiß«, entgegnete Matt. »Ich bin, wenn Sie es am Datum allein festmachen wollen, fünfhunderteinundvierzig Jahre alt. Aber das entspricht nicht ganz den Tatsachen. Ich habe quasi fünfhundertvier Jahre übersprungen, durch ein Phänomen, für das ich bis heute keine Erklärung finden konnte...« Und er erzählte ihnen vom Auftrag seiner Fliegerstaffel, den Raketenbeschuss des Kometen »Christopher-Floyd« zu beobachten, der sich auf Kollisionskurs mit der Erde befand, damals, an jenem 8. Februar 2012. Davon, dass der Versuch, den Kometen zu zerstören, fehlschlug. Von der Druckwelle, die die Stratosphärenjets traf und auf ein irrsinniges Tempo beschleunigte. Vom Erwachen in der postapokalyptischen Zukunft auf einer vom Kometeneinschlag verwüsteten Erde, in der Riesenratten gegen Barbaren kämpften und Bunkerleute tief unter der Erde ihr keimfreies Dasein fristeten. Von der Kriegerin Aruula, die ihm den Namen »Maddrax« gab und sich seiner annahm, die mit ihm loszog, als er diese für ihn fremde Welt auf der Suche nach Antworten durchwanderte. Und er berichtete von den Folgen des Zeitsprungs: dass er nur noch
extrem langsam zu altern schien, dass seine Haare und Fingernägel kaum mehr wuchsen und ein Tachyonenfeld um seinen Körper lag, das die Technos zwar entdeckt hatten, aber nicht erklären konnten. Als er endete, sah er Skepsis auf den Gesichtern der Frauen und offene Ablehnung auf dem des Mannes. Er konnte ihnen beides nicht verdenken. »Diese Geschichte klingt... ungewöhnlich«, ergriff schließlich Maya Joy das Wort, womit sie die Untertreibung des Tages aussprach. »Ich würde es eine glatte Lüge nennen«, grollte Leto Jolar Angelis, »wenngleich ich mich frage, was er damit bezwecken will.« »Gehen wir die Aufzeichnungen durch, bevor wir weiter machen«, schlug Jawie Tsuyoshi vor. Maya Joy nickte, bevor sie sich an Matt wandte. »Wir melden uns wieder, Commander Drax.« Damit drückte sie auf einen Knopf, und die Jalousie glitt herab. Wider Willen musste Matt grinsen, als er sich auf die Matratze legte. Die Nuss, die er den dreien zu knacken gegeben hatte, besaß galaktische Dimensionen und hatte dabei den Vorteil, schlicht die Wahrheit zu sein. Er war auf das Wiedersehen mit den Marsianern gespannt... *** Es mochten fünf, sechs Stunden vergangen sein, als der Sichtschutz erneut hochgefahren wurde. Matt, der die letzte Stunde im Raum auf und ab getigert war, setzte sich auf die Kante des Tisches direkt vor die Scheibe. Die Gesichter der Drei waren auch jetzt nicht von Heiterkeit geprägt; vor allem Angelis zog eine Miene, als hätte er eine Kröte verschluckt. Maya Joy Tsuyoshi eröffnete das Gespräch.
»Wir haben Sie in den letzten Stunden intensiv gescannt«, Commander Drax«, sagte sie, »und dabei... beunruhigende Biodaten erhalten.« Es schien sie Überwindung zu kosten, weiter zu sprechen. »Ihr Zellverfall ist tatsächlich auf ein Minimum reduziert. In Ihrer Lunge und den Knochen gibt es Ablagerungen, die auf eine hohe industrielle Luftverschmutzung schließen lassen – im Gegensatz zu den aktuellen Werten auf der Erde. Und nicht zuletzt... scheint Ihr gesamter Körper von einer Art Feld umgeben, das wir mit unseren begrenzten Mitteln nicht näher analysieren können.« Matt hob die Hände und zog die Schultern hoch. »Und daraus folgern Sie...?« »Dass etwas mit Ihnen geschehen sein muss, das einer Klärung bedarf«, schaltete sich Leto Angelis ein. »Einen Zeitsprung bestätigt die Untersuchung noch lange nicht. Sie könnten die Jahrhunderte auch in einer Kälteschlafkammer überdauert haben. Oder Sie sind ein verdammter Mutant!« »Zumindest sind wir gewillt«, schwächte Maya Joy den Vorstoß des Basiskommandanten ab, »Ihre Geschichte als mögliche Erklärung in Betracht zu ziehen.« »Ich muss gestehen, es wäre faszinierend, einen Menschen aus der Epoche der Gründer zu treffen«, warf Jawie Tsuyoshi ein und erntete einen bösen Blick von Angelis. Trotzdem fuhr sie unbeirrt fort: »Unsere Geschichtsbücher könnten korrigiert und erweitert werden, ein ganz neues Verständnis der alten Zeit wäre –« »Die alte Zeit«, fiel Angelis ihr ins Wort, »ist eine Anhäufung von Kriegen, Zerstörungen, Korruption, Hass und dem egoistischen Streben nach Macht und Geld zu Lasten des Großteils der Weltbevölkerung! Ich glaube kaum, dass so ein Verhalten unserer Jugend als Vorbild dienen sollte! Die Menschen der Erde waren und sind Barbaren. Heute mehr denn je, das haben wir doch am eigenen Leib erfahren!«
»Bitte...«, versuchte Maya Joy ihn zu stoppen. Aber Angelis hatte sich in Rage geredet. »Was ist denn vor wenigen Tagen auf der Erde geschehen? Haben wir nicht alle die gewaltige Explosion gesehen? Der Mensch hat sich wieder einmal selbst vernichtet – und ein einziger«, er wies auf Matt, »ist dem Inferno entkommen! Wie sollen wir das einschätzen? Ist er vor der Vernichtung geflohen... oder hat er sie gar ausgelöst?« Matthew blieb die Spucke weg, und auch die Mienen der beiden Frauen zeigten gelindes Entsetzen. Maya Joy suchte nach Worten; Matt, der von der Tischkante zu Boden sprang, fand sie schneller. »Was Vorurteile und schnelle Diskriminierung angeht, scheint sich der Mars nicht von der alten Erde zu unterscheiden!«, sagte er scharf. »Anstatt sich in haltlosen Verdächtigungen zu ergehen, sollten Sie sich lieber anhören, was seit dem Kometeneinschlag wirklich auf der Erde geschehen ist. Oder sind Sie so verblendet, dass Sie darauf keinen Wert legen?« Leto Jolar Angelis wollte auffahren und zu einer heftigen Entgegnung ansetzen, aber Maya Joy legte ihm rasch eine Hand auf den Arm. »Lass uns hören, was er zu erzählen hat, Leto«, bat sie. »Seine Existenz ist ein Rätsel, das musst du zugeben. Ein Rätsel, das wir lösen sollten!« Der Kommandant knurrte etwas Unverständliches und ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. »Von mir aus...« Maya Joy Tsuyoshi wandte sich wieder an Matthew. »Fahren Sie fort, Commander. Was geschah nach dem Einschlag des Kometen?« Matt nahm auf dem Stuhl Platz. »Was ich Ihnen berichten werde, ist nicht weniger fantastisch als mein Zeitsprung«, warnte er die drei vor. »Aber welchen Grund sollte ich haben, hier Lügenmärchen aufzutischen? Sie sind meine einzige Hoffnung, auf die Erde zurückzukehren, um meinen Freunden beizustehen.«
»Halten Sie sich nicht mit langen Vorreden auf«, forderte Angelis. »Ob und wie wir Ihnen helfen, werden wir entscheiden, nachdem wir alles erfahren haben.« »Der Komet war kein Komet, sondern eine Raumarche, mit der Außerirdische auf die Erde kamen«, sagte Matt unvermittelt und sah mit Freude, wie dem Kommandanten die Kinnlade herab fiel. »Sie nennen sich selbst Daa'muren. Sie kamen in grünen Kristallen und schufen sich in fünfhundert Jahren aus dem Genpool der irdischen Fauna echsenhafte Wirtskörper, in die ihre Geister überwechselten. Was ihre genauen Pläne sind, wissen wir bis heute nicht. Fakt ist, dass sie eine Bombenkette rund um ihre Arche – den so genannten Wandler – gezündet haben. Der daraus resultierende Elektromagnetische Impuls, der auch nach der Explosion nicht nachgelassen hat, legte weltweit sämtliche Technik lahm. Was er und die Druckwelle sonst bewirkt haben, konnte ich wegen der Explosionswolke nicht beobachten.« »Warum waren Sie zu dieser Zeit im Orbit?«, fragte Maya Joy Tsuyoshi. »Naoki und ich hatten den Auftrag, mit den Wetterprogrammen der Internationalen Raumstation unsere Armeen am Boden zu decken. Wir ließen Nebel rund um den Kratersee entstehen und koordinierten die Truppenbewegungen. Das Ziel der Allianz war, zu der Bombenkette vorzustoßen und sie zu entschärfen. Aber wir hatten einen Verräter in den eigenen Reihen...« Matt dachte an Arthur Crow. War der General tatsächlich ein Verräter gewesen? Nachdem seine Armee aus hoch technisierten Kunstwesen durch einen einfachen Impuls ausgeschaltet worden war, hatte er seine angeblich wahren Gründe präsentiert: den Daa'muren im entscheidenden Augenblick in den Rücken zu fallen. Dass er diesen Plan bis zuletzt mit niemandem geteilt hatte, war sein größter Fehler
gewesen, der letztlich zum Missverständnis und zu der Katastrophe geführt hatte... »Die Außerirdischen zündeten die Bomben, noch bevor wir weit genug vorstoßen konnten«, fuhr Matt fort. »Die Verluste müssen entsetzlich sein...« Wieder musste er an Aruula denken, und der Schmerz schnürte ihm die Kehle zu. Sie hatte sich beim Telepathenzirkel aufgehalten, nicht weit vom Kratersee entfernt, zwar durch das Ringgebirge vor den unmittelbaren Auswirkungen der Explosion geschützt, nicht aber gegen die Strahlung und den Fallout. Wenn sie nicht schnellstes dekontaminiert wurde, würde sie sterben – wie auch alle anderen Verbündeten rund um das Zielgebiet. Rulfan, Mr. Black, Mr. Hacker, Honeybutt... Aber wie sollte man sie so schnell erreichen und behandeln ohne jegliche Technik? Es war aussichtslos! »Was ist mit Ihnen?« Maya Joys Stimme klang mitfühlend. »Nichts... nichts«, sagte Matt. »Ich musste an meine Gefährtin denken, die jetzt auf der Erde umherirrt und sterben wird, wenn niemand ihr rechtzeitig hilft.« »Das... tut mir Leid«, meinte die Expeditionsleiterin. »Erzählen Sie von ihr.« »Sie ist das, was Sie eine Barbarin nennen.« Matt sprach mit leiser Stimme. »Sie stammt aus dem Volk der Dreizehn Inseln. Eine Telepathin; wild, stark, erfahren bei der Jagd. Eine stolze Frau, die im Einklang mit der Natur gelebt hat, bis sie auf den Kerl aus der Vergangenheit traf, der ihr Leben veränderte... ich fürchte, nicht nur zum Guten. Gemeinsam bereisten wir die Länder, erst auf der Suche nach überlebenden Zivilisationen aus meiner Zeit, dann nach meiner Heimatstadt, und schließlich, mit Unterstützung der englischen Communities, nach Verbündeten gegen die Daa'muren.« Maya Joy unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Sie sagten Telepathin?«, fragte sie.
»Die Frauen vom Volk der Dreizehn Inseln können die Gedanken anderer Menschen erlauschen«, erklärte er. »Deren Stimmungen wahrnehmen, feststellen, ob jemand lügt.« »Eine Mutantin also«, sagte Angelis und fing sich nun seinerseits einen bösen Blick der beiden Frauen ein. »Diese ganzen Mutationen«, erklärte Matt, ohne auf die Spitze einzugehen, »sind das Werk der Daa'muren. Für Jahrhunderte beeinflussten sie die Menschen mit einer Strahlung, die den Verstand der Oberflächenbewohner auf eine frühere Entwicklungsstufe zurückfallen ließ. So weit, dass sie mit den Gehirnen experimentieren konnten. Sie suchten nach einem Körper, der kompatibel zu ihrem Geist war, in den sie schlüpfen konnten. Die meisten Versuche gingen wohl schief. Erst vor zwei Jahren entstanden die ersten Echsenwesen, die sie seitdem als Wirtskörper benutzen. Es sind Gestaltwandler, die fast jede Form annehmen können, die ihrer Körpermasse entspricht. Und deren Inneres zu kochen scheint; jedenfalls versprühen sie heißen Dampf, wenn man sie verletzt.« »Das alles ist... unglaublich«, sagte Maya Joy, als Matt eine Pause einlegte. Sein Mund war vom langen Reden ausgetrocknet. »Welch Rolle spielte dabei Naoki Tsuyoshi?« »Naoki gehört zu einer Gruppe Wissenschaftler aus Amarillo, USA, die sich die ›Unsterblichen‹ nannten. Der EMP dürfte sie alle getötet haben... denn sie erkauften sich ihre Unsterblichkeit damit, dass sie nach und nach ihre Körperteile gegen Implantate austauschten, sogar Teile des Gehirns.« »Dann wollen Sie behaupten, Naoki Tsuyoshi wäre tatsächlich fünfhundert Jahre alt?«, rief Jawie aus. Die Erregung rötete ihr Gesicht und ließ die Pigmentstreifen beinahe unsichtbar werden. Matthew nickte. »Sie hat den Kometencrash leibhaftig miterlebt, eine über vierhundert Jahre währende Eiszeit und den Rückfall der Menschen in die Barbarei. Dass die Unsterblichen durch die Daa'murenstrahlung nicht verdummt
sind, verdanken sie ihren Hirnimplantaten. Wenn jemand ein lückenloses Bild vom Start der Marsmission bis heute vermitteln kann, dann ist sie es.« Jawie Tsuyoshi hielt es kaum auf ihrem Stuhl, und auch Maya Joy wirkte zunehmend aufgekratzt. Das war die Gelegenheit für Matt, selbst einige Fragen zu stellen. »Wie kommt es, dass Sie beide denselben Namen tragen wie Naoki? Sie sind direkte Nachfahren von Akina Tsuyoshi aus der Crew der Marsfahrer, richtig?« »Das Haus Tsuyoshi ist das größte der fünf Häuser auf dem Mars«, erklärte Jawie. »Außerdem gibt es noch die Angelis', die Saintdemars, die Gonzales' und die Braxtons. Sie alle gehen auf die fünf Gründermütter zurück, die die Notlandung der BRADBURY überlebten.« Matt verstand. Die strikte Trennung der Häuser war vermutlich die Methode der Siedler gewesen, Inzucht zu vermeiden. »Wie groß ist die Marsbevölkerung heute?«, fragte er – doch er hatte Pech. »Wir stellen hier die Fragen«, fuhr Leto Angelis dazwischen. Er wandte sich an Maya Joy. Matt spitzte die Ohren, konnte aber nur Bruchstücke von dem verstehen, was er ihr zuflüsterte: »... unbedingt erfahren... nicht die Möglichkeiten... Mars bringen.« Die letzten Worte ließen Alarmglocken in seinem Kopf schrillen. Wollte man ihn und Naoki zum Mars schaffen? Gewiss, für die Cyborg konnte das die Rettung sein, denn dort war die medizinische Versorgung mit Sicherheit besser als auf dieser kleinen Station. Aber für ihn selbst kam eine solche Reise nicht in Frage. »Ich muss zurück auf die Erde!«, forderte er. »Ich muss versuchen, meinen Freunden dort zu helfen!« »Das ist unmöglich!«, stellte Angelis klar. »Erstens sind Sie viel zu wertvoll, als dass wir Sie gehen ließen. Und zweitens haben Sie selbst gesagt, dass ein stetiger EMP von der Erde
ausgeht. Wir könnten also gar nicht landen, um Sie abzusetzen –« »Ich muss nur bis in die Stratosphäre kommen; von dort kann ich mit einem Fallschirm abspringen!« »Sie sind ja wahnsinnig!« »Es ist möglich!«, beharrte Matt. »Im Jahr 2006 sprang der Franzose Fournier aus 40.000 Metern Höhe und –« »Schluss jetzt!«, fuhr Maya Joy Tsuyoshi dazwischen. »Commander Drax, Sie werden nicht zur Erde zurückkehren! Aber ich verspreche Ihnen, dass wir auf dem Mars beraten werden, wie wir den Menschen der Erde helfen können.« »Ha!«, schnaubte Matt. »Wie lange dauert ein Flug? Ein halbes Jahr? Bis dahin ist es längst zu spät!« »Neunzig Tage«, stellte Leto Angelis richtig. »Aber das ist für Sie ohne Bedeutung. Sie werden die Zeit in der Stasis nicht einmal bewusst erleben.« »Sie wollen mich einfrieren?« Kalter Schweiß trat auf Matts Stirn. Zu gut erinnerte er sich an das Schicksal des Millionärs Claude De Broglie, der die Zeit nach dem Kometen in einer Kryokammer überstehen wollte. Die mangelhafte Technik hatte sein Gehirn irreparabel geschädigt. Oder an die Wissenschaftlerin Amber Floyd, die zwar ihre Kältekammer unbeschadet verlassen hatte, dann aber innerhalb weniger Tage zur Greisin gealtert war. »Keine Sorge, die Technik ist hundertfach getestet«, schien Jawie Tsuyoshi seine Gedanken zu erraten. »Wir werden die Zeit nutzen, um Ihren Körper zu entgiften. Seien Sie froh, dass sie diese unerfreuliche Prozedur verschlafen.« In hilfloser Wut ballte Matt die Hände. Er musste einsehen, dass er keine Chance hatte, von hier wegzukommen. Also zum Mars... Ein faszinierender Gedanke, aber vor dem Hintergrund der sterbenden Gefährten auf einer Erde, die nun von Daa'muren beherrscht wurde, mutierte er zu einem Albtraum.
Er musste mit seinem bisherigen Leben abschließen; je früher, desto besser. Wenn er jemals zurückkehrte, würde die Erde nicht mehr dieselbe sein, so viel war klar. Und Aruula? Sein Herz weigerte sich, das Unabwendbare zu akzeptieren, aber die Logik diktierte nur eine Antwort... *** Mondstation, 3. Tag Der Aufbruch kam schneller, als Matt gedacht hatte. Bereits am nächsten Morgen, nachdem er sein Frühstück eingenommen hatte, meldete sich Maya Joy Tsuyoshi über den Lautsprecher. »In der Schleuse liegt ein neuer Raumanzug für Sie bereit, Commander Drax. Wir haben ihn auf Ihre Körpermaße gekürzt; er sollte passen. Bitte ziehen Sie ihn an und warten Sie, bis die Schleuse desinfiziert wurde.« »Es hat keinen Sinn, Sie umstimmen zu wollen?«, vermutete Matt. »Geben Sie es auf, Drax. Wir haben die Erde in den letzten Tagen gründlich observiert. Über dem Krater steht noch immer eine Wolke aus Dreck und Rauch, und die Wälder ringsum brennen lichterloh. Die Verwüstungen erstrecken sich im Westen bis an den Ural und im Süden bis zum Himalaja. Etliche Vulkane sind ausgebrochen. Von Japan ist nichts als nackter Fels geblieben. Ich weiß nicht, welche Hilfe Sie da leisten wollen, Commander. Sie würden Ihre Freunde nicht einmal finden.« Matthew hätte ihr gerne widersprochen. Stattdessen fragte er: »Wie geht es Naoki?« »Unverändert. Wir haben Sie bereits an Bord der PHOBOS gebracht und in der Quarantänekammer an die lebenserhaltenden Systeme angeschlossen. Der Start ist in einer
Erdstunde angesetzt. Daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie kooperieren und den Anzug anlegen würden.« Matt wusste, dass es keinen Sinn machte, sich zu sträuben. Sie mussten nur den Sauerstoffgehalt senken, um ihn gefügig zu machen. Also nickte er. »Ist der Mars denn vorbereitet auf den Besuch eines Erd-Barbaren?«, fragte er sarkastisch – und war überrascht, als die Antwort Maya Joys nachdenklicher ausfiel als erwartet. »Darüber mache ich mir ernste Gedanken, Commander Drax. Ihre Anwesenheit wird unsere Gesellschaft auf eine harte Probe stellen. Die Erde und ihre Menschen aus der Ferne zu betrachten und zu verdammen, war eine Sache... eine ganz andere wird es sein, Ihnen zu begegnen und sich Ihrer Existenz zu stellen.« *** Ein paar Minuten später trat Matthew Drax aus der Schleuse in den gekrümmten Gang an der Peripherie der Station. Dort erwarteten ihn zwei weitere Marsianer in Raumanzügen. »Folgen Sie uns!« Sie brachten ihn nach draußen. Matt hatte Mühe, sich in dem klobigen Anzug zu bewegen; immer wieder drohte er, in der geringen Schwerkraft das Gleichgewicht zu verlieren, und musste von seiner Eskorte gestützt werden. Das Schiff der Fremden, die PHOBOS, stand zum Start bereit – aber nicht nur sie! Auch der Shuttle-Prototyp wurde, wenn er sich nicht täuschte, startklar gemacht! Was hatten die Fremden vor? »Wir nehmen Ihr Schiff mit zum Mars«, erklang die Stimme von Leto Jolar Angelis in seinem Helmfunk; offenbar beobachtete er ihn von irgendwo aus. »Das Antriebssystem und die Datenbanken sind sicher interessant für unsere Gelehrten.«
»Sie glauben die Queen Victoria fliegen zu können?«, fragte Matt. »In der Tat«, kam die Antwort. »Ich bin ausgebildeter Pilot, Commander Drax, und habe mich mit der veralteten Funktionsweise Ihres Shuttles vertraut gemacht. Wir werden beide Schiffe starten und im offenen Weltraum aneinander koppeln.« »Ein riskantes Manöver. Wenn ich Ihnen helfen kann...«, bot Matt an, aber Angelis lehnte ab. »Nicht, dass ich Ihnen nicht traue, Drax«, sagte er, doch die Worte klangen wie das genaue Gegenteil, »aber ich will Sie nicht in Versuchung führen, etwas Unüberlegtes zu tun. Kurs auf die Erde zu setzen, zum Beispiel. Zumal wir nahe daran vorbeifliegen, um ihr Schwerefeld für die Beschleunigung zu nutzen.« Matt schwieg. Der abwegige Gedanke an Flucht war ihm in der Tat gekommen. Abwegig deshalb, weil es noch immer unmöglich war, auf der Erde zu landen. Die Idee mit dem Fallschirmabsprung in allen Ehren – aber ohne Fallschirm und speziellem Schutzanzug war es eben nur eine Idee. »Weiter!«, befahl einer der Männer, die ihn begleiteten. »Zur PHOBOS!« Aus der Nähe betrachtet, wirkte das Raumschiff der Marsianer sehr viel grobschlächtiger als das elegante Space Shuttle. Es besaß nur kurze Stummelflügel und war im Atmosphärenflug sicherlich schwer unter Kontrolle zu halten. Dafür sorgten auch die zahlreichen Anbauten, Ecken und Kanten, die für Luftverwirbelungen sorgen mussten. Auf dem Mond kein Problem, und auch in der dünnen Atmosphäre des Mars war diese Bauweise vielleicht zu akzeptieren, aber wenn Leto Angelis dieses Monstrum jemals auf der Erde gelandet hatte, war er tatsächlich ein erstklassiger Pilot. Die PHOBOS war gute siebzig Meter lang und an der dicksten Stelle an die fünfzehn Meter hoch. Ihre Unterseite
bestand aus einem kristallinen Material, wohl ein ähnlicher Schutz wie die Hitzekacheln der Raumfähre. Das Schiff ruhte auf fünf Stützen, die sich tief in den Mondboden eingedrückt hatten. Am Heck ragten zwei gewaltige Triebwerkskegel auf. In der Mitte des Rumpfes hatte sich bei der Annäherung der Dreiergruppe eine Luke geöffnet, in der nun eine eindeutig weibliche Gestalt erschien. Sie drückte auf eine Tastatur im Schleuseninneren, worauf eine kurze Leiter aus Metall zum Boden ausgefahren wurde. Na, zumindest verfügen sie noch nicht über Antigrav-Lifte oder Teleporter, dachte Matt in einem Anflug von Galgenhumor. Und ihre Designer kochen auch nur mit Wasser. Dieser unförmige Kasten würde also für die nächsten neun Wochen sein Zuhause... nein nicht ganz: sein Gefängnis sein. Auf einen Wink seiner Bewacher hin bestieg er die Sprossen der Leiter. Er hatte einige Mühe hinaufzugelangen, weil die Abstände für Personen ausgelegt waren, die ihn um gut dreißig Zentimeter überragten. Oben wartete die Frau auf ihn; es war Jawie Tsuyoshi. »Willkommen an Bord, Commander«, begrüßte sie ihn so fröhlich, als wolle sie ihn zu einem Wochenendausflug abholen. Die junge Marsianerin schien eine Frohnatur zu sein. »Was läuft denn im Bordprogramm?«, knurrte Matt. »›Mars Attacks‹? Oder gar ›Invasion vom Mars‹?« Jawie sah ihn geradezu erschrocken an. »Wir haben nicht vor, jemanden zu attackieren, und wir sind auch keine Invasoren. Unsere Absichten –« »Schon gut«, stoppte Matthew ihre Entrüstung. »Das war ein Scherz; zugegebenermaßen kein gelungener. Sagt Ihnen der Begriff ›Kino‹ etwas?« »Ah!« Jawies Gesicht erhellte sich. Als Historikerin schien sie mit dem Prinzip vertraut zu sein. »Sie meinen die gemeinschaftlichen Vorführungen alternativer Realitäten!«
»Hm«, machte Matt. »Ich glaube, ich kann Ihren Wissensstand um die Erde tatsächlich erweitern. Aber lassen Sie uns reingehen, hier draußen zieht es. – Das war noch ein Scherz«, erklärte er vorsorglich. Jawie lächelte. »Den habe ich durchaus verstanden. Auch wir besitzen so etwas wie Humor, Commander. Unsere Vorfahren haben ihn in versiegelten Containern mitgebracht.« Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hier besserte sich Matts Laune um ein paar Grade. Diese Jawie Tsuyoshi schien in Ordnung zu sein. Sie betraten die Schleuse, und die Frau mit den katzenhaften Linien im Gesicht schloss das Außenluk. Es zischte, als der Luftdruck stieg. »Nehmen Sie den Helm auf keinen Fall ab, bis wir in der Quarantänekammer sind!«, erinnerte Jawie. »Ihre Bakterien würden das ganze Schiff verseuchen!« Sie folgten schmalen, aber hohen Gängen hinauf in das nächste Deck. »Die PHOBOS bietet Platz für fünfundzwanzig Mann Besatzung«, erklärte Jawie. »Normalerweise wechseln wir uns mit dem Schwesterschiff DEIMOS ab, aber Ihr Auftauchen und der Zustand der Dame Tsuyoshi zwingt uns zu einer verfrühten Rückkehr. Wir fliegen mit der Minimalbesatzung; die anderen bleiben hier und halten den Stationsbetrieb aufrecht.« »Verraten Sie mir nicht zu viel«, warnte Matt, »sonst zieht Ihnen Ihr Kommandant noch die Ohren lang!« »Ach, Leto ist normalerweise nicht so übellaunig, wie Sie ihn kennen gelernt haben«, antwortete sie. »Es gab Verluste bei unserer ersten – und letzten – Expedition zur Erde, das hat er den Menschen nie verziehen. Er braucht Zeit, um zu erkennen, dass Sie anders sind als die Barbaren da unten.« »Sie sind dieser Meinung?«, fragte Matt. Als Teil des Triumvirats hatte Jawie Tsuyoshi sich zurückgehalten; nun aber erwies sie sich als locker und
zugänglich. Es wäre gewiss interessant, sich mit ihr über Erde und Mars zu unterhalten. Jetzt überzog wieder Röte ihr schmales Gesicht und überdeckte beinahe die Pigmentierung. »Wir sind da!«, sagte sie statt einer Antwort und wies auf eine weitere Schleusentür. »Der Raum dahinter wird normalerweise als Druckausgleichskammer genutzt«, erklärte sie. »Wir haben ihn notdürftig umgerüstet und einen Kälteschlaftank eingebaut. Da Sie ohnehin die meiste Zeit darin schlafend verbringen werden, wird Sie der fehlende Komfort kaum stören.« Dies war eine Aussicht, die Matt wenig begeisterte. Obwohl sie natürlich angenehmer war, als neun Wochen lang die Wände anzustarren. Sie betraten den kargen, nur schlecht beleuchteten Raum, in dessen Mitte das Ungetüm von Menschengefriermaschine stand. »Wollen Sie mich denn gleich auf Eis legen?«, fragte er. »Das wird der Kommandant entscheiden.« »Vielleicht können Sie ihm eine Bitte übermitteln« , sagte Matt. »Er sagte, dass wir dicht an der Erde vorbeifliegen, um Fahrt aufzunehmen. Ich... würde gern einen Blick auf meine Heimat werfen, den letzten vielleicht. Ließe sich das machen?« »Ich werde mich für Sie einsetzen, Matthew Drax.« Die hoch gewachsene Marsianerin sagte es mit einem Lächeln. »Es ist wichtig, dass wir Vertrauen gewinnen – auf beiden Seiten.« »Danke, Jawie.« Damit ließ sie ihn in der Kammer allein. Matt lehnte sich mit dem Raumanzug gegen eine der Wände und schloss die Augen. Wenn man seine Bitte erfüllte, würde er noch einmal die Erde sehen, die Zerstörungen und Wunden, die die Daa'muren ihr zugefügt hatten. Seine Freunde würde er für lange Zeit nicht mehr sehen. Vielleicht nie wieder. »Aruula«, flüsterte er. »Wo du auch sein magst – halte durch!«
Er wusste nicht, ob er bereits zu einer Toten sprach... ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie: Für Commander Matthew Drax beginnt ein Trip ins Ungewisse, fort von der Erde und seinen Freunden – so weit sie noch leben – und hin zu den fernen Gestaden des terraformten Mars. Nicht als Freund der Marsianer, sondern als ihr Gefangener und Forschungsobjekt! Eigentlich soll er die neunwöchige Flugzeit im Kälteschlaf verbringen und dabei entseucht werden – doch dann geschieht etwas, mit dem niemand rechnen konnte. Und plötzlich ist der Erdmensch Matthew Drax der Einzige, der eine Katastrophe an Bord der PHOBOS und den Tod der Besatzung verhindern kann...
Zu fernen Ufern von Susan Schwartz