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Buch Sarah Dearly hat ja schon so manches verkorkste Blind Date gehabt, doch so einen verkorksten Abend hat sie noch nie erlebt. Und zum Abschluss beißt der blöde Kerl sie sogar noch in den Hals... Sarah hat gar keine Zeit zu glauben, dass sie jetzt ein Vampir sein soll, da wird sie auch schon von ein paar Männern mit Holzpflöcken gejagt und rennt um ihr »untotes« Leben mitten in die Arme von Thierry de Bennicoeur. Und damit wird der Abend auf einmal doch noch unerwartet toll: Denn der sexy Obervampir nimmt die quirlige junge Frau nur allzu gerne unter seine schwarzen Fittiche, um sie in ihr neues, aufregendes Nachtleben einzuführen. Doch da erkennt Sarah erst die wahren Tücken des Vampirdaseins: Wie soll man sich zum Beispiel den Lidstrich nachziehen, wenn man plötzlich kein Spiegelbild mehr hat? Autorin Michelle Rowen wurde in Toronto, Kanada, geboren. Als Kind nahm sie sich vor, Stewardess, Juwelendiebin und Schriftstellerin zu werden. Inzwischen konzentriert sie sich voll auf einen der drei Berufe. Michelle Rowen ist bekennende Suchtleserin, Frauchen einer launischen Katze namens Nikita und großer Fan von allem, das mit Buffy Im Bann der Dämonen zu tun hat. Ein Anfang mit Biss. Roman 37116 Ein bisschen verliebt. Roman 37117 - erscheint im März 2009 Ein Happy End mit Biss. Roman 37118 - erscheint im Mai 2009
Michelle Rowen Ein Anfang mit Biss
Für meine Eltern, für ihre Liebe, ihre Unterstützung und ihre unerschöpfliche Geduld mit einer Göre wie mir. 1 Für eine Tote fühlte ich mich verblüffend gut. Ich nahm jedenfalls an, dass ich tot war; denn das Erste, was ich wahrnahm, als ich die Augen aufschlug, war, dass mich jemand im kalten Boden begrub. Ich lag zwar nur ein paar Zentimeter tief im Boden, aber auf meiner Brust landete eine Schaufel Erde nach der anderen und bildete bereits einen schnell wachsenden Hügel. Es roch nach Moos und Würmern und... billigem Eau de Cologne. Billigem Eau de Cologne? Ich verrenkte mir fast den Hals, als ich mich umsah. Ein hübsch verzierter Grabstein befand sich etwa anderthalb Meter von meinem Kopf entfernt. Ich blinzelte. Es war zwar dunkel, aber ich war ziemlich sicher, dass nicht mein Name darauf eingemeißelt war.
Die nächste Schaufel Erde landete mitten auf meinem Gesicht. »He!« Mehr brachte ich nicht heraus, weil ich spucken und husten musste. Ich zog meine rechte Hand aus dem Erdhügel und wischte mir über das Gesicht. »Oh, du bist wach.« Die überraschte männliche Stimme kam aus der Dunkelheit irgendwo links neben mir. »Was zum Teufel ist denn hier los?« »Du bist wach und stellst Fragen.« Er klang wenig erfreut. »Das habe ich befürchtet.« 4 Etwas Metallisches landete mit einem scharfen Knall hinter meinem Kopf auf dem Boden. Es klang wie eine Schaufel. Dann hockte sich der Besitzer der Stimme neben mich und hielt sein blasses, hageres Gesicht dicht vor meines. »Hi«, sagte er. Es war Gordon Richards, mein Blind Date an diesem Abend; seine Stimme hatte ich bereits wiedererkannt, genauso wie sein Duftwasser. Ihre weinerliche und leicht näselnde Art machte den Eindruck, als würde sie einer sehr bedürftigen Person gehören, ich meine die Stimme, nicht das Duftwasser. Und je länger unser Rendezvous dauerte, desto klarer war mir geworden, dass die Stimme nicht log. »Hi?« Ich fing an, mich zu winden. »Holen Sie mich hier raus, Sie Knallkopf, bevor ich die Cops rufe.« Er runzelte die Stirn. »Aber die Erde ist ein wesentlicher Bestandteil des Heilungsprozesses.«
»Des Heilungspro... Ich werde Ihnen zeigen, was ein Heilungsprozess ist, sobald ich hier raus bin.« »Tut mir leid.« Gordon fing an, die Erde von mir wegzuwischen, und ich versuchte, mich aus der lockeren Erde hochzustemmen. Er hielt mir hilfsbereit eine Hand hin, die ich aber ignorierte. Ich schaffte es allein. Dann versuchte ich, den Dreck von meinem neuen, übrigens recht teuren Seidenkleid zu wischen und jeden Anflug von Panik zu vermeiden. Meinen dreiviertellangen, burgunderroten Ledermantel bekam ich mit Leichtigkeit sauber, aber mir war sofort klar, dass mein Kleid ruiniert war. Obwohl ich gewiss nicht falschlag, wenn ich annahm, dass dies im Moment nicht mein größtes Problem war. Dieser Kerl war ganz offensichtlich durchgeknallt. Ich sah mich um. Wie ich dank des unübersehbaren Winkes 5 mit dem Grabstein bereits vermutet hatte, standen wir mitten auf einem Friedhof. Mein Blind Date hatte gerade versucht, mich auf einem Friedhof zu verscharren. Auf dem es von toten Menschen nur so wimmelte. Ganz zu schweigen von Krabbeltieren. Ich schüttelte mich und sah dann zu Gordon hin, der geduldig dastand. »Vielen Dank für dieses Rendezvous.« Ich gab mir Mühe, gelassen zu klingen. Ruhig, cool, und weit von einem Nervenzusammenbruch entfernt. Noch, jedenfalls. »Aber ich denke, ich sollte jetzt lieber nach Hause gehen.«
»Woran genau erinnerst du dich noch?« Ich zwang mich zu einem etwas gequälten Lächeln. »Dass ich mich wunderbar amüsiert habe. Und dass ich mich unbedingt bei Amy bedanken muss, weil sie dieses Blind Date eingefädelt hat. Das verspreche ich Ihnen. Jedenfalls war es toll, Sie kennengelernt zu haben.« Ich machte Anstalten zu gehen, aber er packte meinen Arm und zog mich zu sich herum. »Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?« Gordons Stimme klang jetzt etwas barscher. »Es ist wichtig.« Ich schluckte. »Wir hatten ein entzückendes Dinner. Dann sind wir spazieren gegangen...«, ich sah mich um, »... aber nicht hier. Drüben, am Fluss und bei der Brücke, dem Bloor Viaduct. Wir haben über den Fluss geblickt und... Sie haben etwas gesagt...« »Wie hinreißend du bist«, murmelte er und strich mit der Hand über den Ärmel meines Mantels. Ich biss die Zähne zusammen und zuckte vor seiner Berührung zurück. Warum hatte ich mich nicht bei diesem Selbstverteidigungskurs angemeldet, mit dem Amy mir so oft in den Ohren gelegen hatte? Ich kniff bei diesem Gedanken die 6 Augen zusammen. Amy. Ich würde sie umbringen, weil sie mir das hier eingebrockt hatte. »Ja, richtig.« Ich versuchte, mein Zähneknirschen in ein liebenswürdiges Lächeln zu verwandeln. »Dass ich hinreißend bin, oder was auch immer. Und dann...«
Ich runzelte die Stirn, als ich mich zu erinnern versuchte, aber irgendwie war alles ein bisschen verschwommen. »... bot ich dir die Ewigkeit an.« Oh, oh! Jetzt fiel es mir wieder ein. Das war der Moment gewesen, an dem ich dieses Rendezvous für offiziell beendet erklärt hatte. Und dann... Ich riss die Augen auf, als ich ihn anstarrte. »Dann haben Sie mich gebissen, Sie Spinner!« Gordon wirkte zerknirscht. »Die Wunde heilt schnell, das verspreche ich dir.« Ich legte die Hand auf meinen Nacken und starrte entsetzt auf das Blut an meinen Fingern, als ich sie mir vors Gesicht hielt. »Sie haben mich in den Hals gebissen? Was für ein armseliger Möchtegern-Vampir sind Sie eigentlich?« Ich hob meine dreckverschmierte Handtasche auf, die vor meinen Füßen lag. Ich schleppe immer eine Sprühdose mit Pfefferspray zu meinem Schutz darin herum, jedenfalls normalerweise. Hatte ich sie vielleicht noch? Haben solche Dinge ein Verfallsdatum? Macht nichts. Wenn es sein musste, würde ich sie ihm einfach über den Schädel ziehen. »Ich bin kein Möchtegern-Vampir.« Er besaß doch tatsächlich die Frechheit, beleidigt auszusehen. »Ich bin ein echter Vampir.« Verrückt, dachte ich. Vollkommen durchgeknallt. »Hören Sie«, erwiderte ich gedehnt. »Sie haben Ihren Spaß 7
gehabt, okay? Ich kenne mich nicht so gut in dieser Rollenspielszene aus, oder was das hier sein soll. Aber der Biss ist wohl nicht sehr schlimm. Glaube ich jedenfalls. Also sagen wir einfach, nichts passiert und Schwamm drüber, einverstanden?« »Von dem Moment an, als ich dich letzten Monat an diesem Hotdog-Stand vor deinem Büro gesehen habe, wusste ich, dass du mir gehören musst, Sarah.« Er lächelte sehnsüchtigSeine Zähne sahen tatsächlich ein bisschen spitz aus, jetzt, da ich genauer hinsah. Doch vermutlich spielte mir lediglich das Mondlicht einen Streich. Trotzdem war es irgendwie unheimlich, gelinde gesagt. Ebenso beunruhigend war, dass jemand mich heimlich bei meiner täglichen Dosis italienischer Würstchen beobachtet hatte. Gruselig. »Sie wollten mich also haben, hm?« Ich starrte ihn einen Moment an. »Und Sie konnten es nicht so anstellen wie alle anderen und versuchen, mich betrunken zu machen?« Normalerweise fühlte ich mich besser, wenn ich einen Witz machte. Im Moment jedoch konnte ich kaum verhindern, dass meine Stimme zitterte. »Es hat eine Ewigkeit gedauert, mich bei deiner Freundin einzuschmeicheln, damit sie dieses Rendezvous arrangierte, aber es war das lange Warten wert. Jetzt gehörst du mir. Wir werden für ewig zusammen sein.«
Ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen, drehte ich mich um und ging weg. Ich war immer noch ruhig. Und hatte alles fest im Griff. Genauso wie mein Höschen. Gordon schrie mir mehrmals etwas nach, bevor er losrannte. Nach nur zwei oder drei Schritten hatte er mich eingeholt. Er packte meinen Ellbogen und wirbelte mich herum.
Ii
»Es ist sehr unhöflich, jemanden einfach so stehen zu lassen, der dir die Ewigkeit angeboten hat.« Es gefiel mir gar nicht, wie er mich jetzt ansah. Überhaupt nicht. Und seine Stimme klang auch nicht mehr bedürftig oder verzweifelt. Ich riss mich los. »Sie können sie behalten. Ich verzichte.« Er packte wieder zu. Trotz seines hageren Äußeren war sein Griff eisenhart. »Lassen Sie mich los...!« Weiter kam ich nicht, dann schlug er mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Vor meinen Augen explodierten bunte Wellen, und meine Zähne wackelten in meinem Kiefer, während die Wucht des Schlages mich bis in die Zehenspitzen erschütterte. »Es ist zu spät, um es zurückzunehmen, Miststück!«, knurrte er und zeigte mir dabei die ganze Pracht seiner langen, spitzen Reißzähne. »Mit dem Biss in den Hals habe ich dich zu der Meinen gemacht. So ein Geschenk kann man nicht zurückgeben.« Dann schien er zur Besinnung zu kommen. Seine Miene entspannte sich, und seine Brauen berührten sich fast, als
er die Stirn runzelte und seine Hand nach mir ausstreckte. Ich trat hastig zurück, die Augen aufgerissen und die Hand auf meine brennende Wange gepresst. »O Gott, das tut mir so leid«, stammelte er, während er erneut auf mich zukam. »Das wollte ich nicht. Wie zur Hölle konnte mir das passieren?« Ich packte mit meiner anderen Hand die kühle Sprühdose mit Pfefferspray ganz unten in meiner Handtasche. Mir verschwamm immer noch alles vor Augen, aber es gelang mir, die Dose herauszureißen und ihm das Zeug lange und genau in die Augen zu sprühen. Er heulte vor Schmerz auf und schlug die Hände vor sein Gesicht. 10 Ich fuhr herum und tat, was jedes Mädchen, das etwas auf sich hält, tun würde, wenn es sich mit einer Bisswunde am Hals nach Mitternacht in Begleitung eines Verrückten, der sich für einen Vampir hält, auf einem Friedhof wiederfindet. Ich rannte los, als wäre der Teufel hinter mir her. Verrückt. Genau. Er war eindeutig manisch und brauchte sehr wahrscheinlich dringend eine passende Therapie. Vermutlich hatte ihn irgendein Ereignis in seiner frühesten Kindheit in diesen Wahnsinnigen verwandelt. Ich hatte in meinem Jahr an der Universität von Toronto im Nebenfach Psychologie studiert, bevor ich das Studium geschmissen hatte. Er war ein Verrückter. So lautete das offizielle Urteil. Und er brauchte eindeutig kompetente Hilfe.
Genauso wie ich in diesem Moment. Ich rannte über den Friedhof. Es war ein verdammt großer Friedhof. Wo zum Geier war die Straße? Schließlich sah ich das Eingangstor direkt vor mir. Gordon, der nicht weit hinter mir war, brüllte mir zu, ich solle stehen bleiben. Klar, gute Idee. Vergiss es, Blödmann! Der Sieben-Zentimeter-Absatz einer meiner schwarzen Riemchensandaletten wählte exakt diesen Augenblick, um abzubrechen. Diese Schuhe hatten mich fast den ganzen Gehaltsscheck des letzten Monats gekostet, daher war es ein wenig enttäuschend, gelinde ausgedrückt, dass sie nicht mal die kleinste Belastung aushielten. Ich stürzte wie ein Sack zu Boden, sprang jedoch genauso schnell wieder auf, wie einer von diesen PseudoSandsäcken von Bozo, dem Clown. Das Adrenalin, das durch meine Adern raste, war gewiss sehr hilfreich, aber irgendwie war mir auch schwindlig. Der Blutverlust von dem Biss in den Nacken holte mich möglicherweise gerade ein. Vielleicht war die Wunde doch ernster, als ich angenommen hatte. 11 Ich zog den ruinierten linken Schuh vom Fuß, fuhr herum und schleuderte ihn meinem Verfolger entgegen. »Au!« Offenbar hatte die Sandalette ins Ziel getroffen. Da ich schlecht mit einem Schuh weiterhumpeln konnte, zog ich den anderen ebenfalls aus und schleuderte dieses kleine Wurfgeschoss aus teurem italienischen Leder dem
ersten hinterher. Allerdings verfehlte es sein Ziel, also ließ ich noch ein paar ausgewählte Beleidigungen folgen. »Warte doch!«, brüllte Gordon. »Sarah, Baby, wir können das klären.« Ich rannte durch den Eingang des Friedhofs und prallte gegen etwas Festes, Unnachgiebiges. Ich blickte hoch. Es war groß, muskulös und hatte blaue Augen. Die Straßenlaterne über ihm wirkte wie ein himmlischer Leuchtturm. »Wow, hallo Miss«, sagte der unnachgiebige Fremde. »Immer mit der Ruhe.« Nach meinem Sprint rang ich keuchend nach Luft. »Gott sei Dank! Sie müssen mir helfen!« Der Blick des Mannes glitt von meiner Bisswunde am Hals zu meinem höllischen Begleiter, der uns fast erreicht hatte. »Keine Angst, Darling«, sagte er und lächelte. Seine Zähne schimmerten weiß im Mondlicht. Zwei weitere Männer tauchten aus dem Schatten auf. Der eine war dünn wie eine Bohnenstange und hatte strähniges, blondes Haar, der andere war so groß wie ein Kleiderschrank, massig und von Kopf bis Fuß tätowiert. Die Tätowierungen an seinem Hals lugten sogar aus seinem Hemdkragen heraus. Ich hatte die beiden nicht bemerkt, bis sie sich bewegt hatten. He, je mehr, desto besser. Der Mann mit den glänzenden Zähnen schob mich sanft zur Seite. »Warten Sie hier, Darling. Wir kümmern uns gleich um Sie.«
Ich nickte und atmete tief auf. Was für ein Glück, dass diese feinen Gentlemen Lust gehabt hatten, auf dem Friedhof spazieren zu gehen. Nach Mitternacht. Ich runzelte die Stirn. Was zum Teufel wollten sie eigentlich hier? Meiner Meinung nach war das wirklich ein ziemlich glücklicher Zufall. Aber da er sich zu meinen Gunsten auswirkte, hütete ich mich zu fragen. Gordon kam unmittelbar vor uns zum Stehen, blinzelte heftig und rieb sich die Augen, die vom Pfefferspray brannten. Auf seiner Stirn prangte ein kleiner, roter Fleck... vermutlich vom dem Schuh. Ich hatte die Arme um meinen Körper geschlungen, um das Zittern zu unterdrücken. Schließlich war ich für eine Verabredung angezogen, nicht für einen Sprint auf einem Friedhof Ende November. Hätte ich vorher die Karten gelegt, hätte ich wenigstens einen hübschen Schal mitgenommen. Außerdem war mir schlecht: vor Angst, wegen des Blutverlustes... und sehr wahrscheinlich auch von der Fajita, die ich zum Dinner verdrückt hatte. »Warum bist du weggelaufen?« Gordon schien verwirrt. »Ich wollte dir nicht wehtun.« »Sie können mich mal!« Er würde sich wundern, wenn ich ihn wegen Körperverletzung anzeigte. Vielleicht würde ich diesem erbärmlichen Armleuchter sogar verbieten lassen, sich mir mehr als auf eine Meile zu nähern. »Oh, Sekunde, Sie haben mich ja bereits gebissen, richtig? Sie... Psychopath!« Er verdrehte die Augen. »Du musst wirklich langsam da
14 rüber hinwegsehen, wenn unsere Beziehung nur den Hauch einer Chance bekommen soll.« Endlich bemerkte Gordon, dass wir nicht allein waren. »Oh.« Mehr sagte er nicht, als die Männer sich ihm näherten. »Hört mal zu, Jungs, es ist nicht so, wie es aussieht.« Ich sah ihn finster an und versuchte, Mr. Strahlezahn anzulächeln. Er war wirklich süß. Vielleicht würde die Nacht doch noch ein besseres Ende nehmen, als ich dachte. »Hören Sie, wie war's, wenn Sie mir helfen würden, ein Taxi zu finden? Ich möchte wirklich gern nach Hause. Sorgen Sie einfach nur dafür, dass er mir nicht mehr folgt, dann haben Sie etwas gut bei mir.« Strahlezahn grinste breit. »Nun seht doch, was wir hier haben, Jungs. Freundin und Freund Vampir bei einem kleinen Zwist.« »Er ist nicht mein Freund«, versicherte ich ihm. »Ich bin kein Vampir«, erklärte Gordon ruhig. »Sehr komisch. Noch vor einer Minute hat er mir gesagt, dass er ein Vampir wäre. Deshalb hat er mich gebissen.« Ich rieb mir vorsichtig den Hals. »Er ist eindeutig meschugge.« »Ja, meschugge«, erklärte Strahlezahn, bevor er sich zu seinen Freunden umdrehte. »Die Wievielten sind das heute Nacht?« Der strähnige Blonde antwortete. »Es war eine echt gute Nacht. Fünf? Vielleicht sechs?«
»Hören Sie«, Gordon sah zu Tode verängstigt aus, »wir können uns vielleicht einigen. Ich habe Geld...« Strahlezahn schlug Gordon in den Bauch. Der presste seine Hände auf den Bauch und sank hustend und keuchend in die Knie. »He!« Ich sah ihn finster an. »Das ist wohl nicht notwen15 dig. Hören Sie: Ich will nur, dass Sie mir helfen, nach Hause zu kommen. Mehr nicht.« »Halt die Klappe!«, fuhr Strahlezahn mich an. Gordon versuchte sich aufzurichten, wurde jedoch erneut niedergeschlagen, diesmal mit einem Kinnhaken. So behandelt man keine Verrückten. Sie brauchen Aufsicht, nicht Gewalt. Ich marschierte zu Strahlezahn und packte seinen Arm. »Das reicht jetzt. Es gibt keinen Grund, hier den Macker...« Er sah mich kurz an und lächelte dann. »Darling, du musst lernen, wo du hingehörst.« Er stieß mich zurück, so fest, dass ich stürzte, und ich schrie auf, als ich mir den Knöchel verdrehte. Das Mondlicht funkelte auf etwas, das meine sogenannten Retter in den Händen hielten. Etwas aus Metall. Es waren Messer! Blondsträhne hielt ein Schnappmesser zwischen den Fingern und der Kleiderschrank eine kleine Axt. Außerdem fiel mir auf, dass sie in Schlaufen an ihren Gürteln angespitzte hölzerne Pflöcke trugen. Dann kreischte Gordon. Strahlezahn stand so dicht neben ihm, dass es den Eindruck machte, als würden sie tanzen,
als sie in einem engen Kreis umeinander schlurften. Dann trat Strahlezahn zurück und ich sah, dass aus Gordons Bauch ein Messergriff herausragte. »Ich sagte Ihnen doch, dass ich Geld habe!«, keuchte er. Strahlezahn streckte die Hand aus wie ein Chirurg, der wartet, dass eine Schwester ihm das nächste Operationsbesteck hineinlegt. Ein hölzerner Pflock landete klatschend darin. Ich wollte etwas sagen, Einhalt gebieten, bevor es zu weit ging, aber ich brachte nur ein winziges Kieksen zustande. »Aber Vampir, das hier ist so viel amüsanter als Geld«, erklärte Strahlezahn, hob den Arm und rammte den Pflock in Gordons Körper. Ich schlug entsetzt die Hand vor den Mund und krabbelte rückwärts weg. Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen Knöchel, als ich vergeblich versuchte mich aufzurichten. Mein Herz hämmerte wie wild. Die drei Männer stürzten sich alle gleichzeitig auf meine Verabredung. Sie waren so sehr mit Gordon beschäftigt, dass sie mich völlig vergessen zu haben schienen. Was ich allmählich für ganz gut hielt. Mühsam konnte ich mich aufrappeln und blieb unsicher stehen. Aber ich war wie erstarrt, während ich das Spektakel vor mir beobachtete, das aus einem Horrorfilm zu stammen schien. Ich hatte meine Meinung geändert. Ich wollte ihre Hilfe nicht mehr. Nein, danke. Und was hatte Strahlezahn noch gleich gesagt: dass sie sich um mich kümmern würden?
Gordon schrie nicht mehr und flehte auch nicht mehr um sein Leben. Er stöhnte nicht mal mehr. Und rührte sich nicht. Genau genommen schien er sich aufzulösen. Je mehr sie auf seinen am Boden liegenden Körper einstachen, desto weniger schien von ihm übrig zu bleiben, bis schließlich nur noch seine Kleidung in einem widerlichen, dunklen Fleck auf der Straße lag. Dann drehte sich Strahlezahn zu mir herum. Ich wich einen schmerzhaften Schritt nach dem anderen zurück. Mein Hirn brüllte mir zu, mich endlich in Bewegung zu setzen, bis ich schließlich akzeptierte, dass dies die beste Idee war, die ich bislang heute Nacht gehabt hatte. Ich drehte mich um. Blond-strähnchen hatte sich jedoch lautlos hinter mir aufgebaut. Er grinste, als er seinen blutigen Holzpflock in den Gürtel steckte, meine Handgelenke packte und mich zu sich zog. Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu winden. 17 »Wohin willst du denn, Vampir?« Sein Atem roch nach faulen Eiern. Ich wollte ihm widersprechen, ihm sagen, dass ich kein Vampir war, weil es keine Vampire gab. Außerdem hätte ich ihm gern eine gründliche Mundspülung empfohlen. Aber ich fand einfach meine Sprache nicht. Eine Träne lief mir heiß über die Wange, als ich die beiden anderen Männer ansah und zitternd Luft holte. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass diese Kerle noch mehr Flecken auf mein schon von Gras und Schmutz ruiniertes Kleid machen wollten.
Ich wünschte, ich hätte noch ein Paar Schuhe zum Werfen. »Seht sie euch an, sie ist wie versteinert«, erklärte Strahlezahn amüsiert. »Sie ist noch neu«, antwortete der Kleiderschrank. »Es ist fast grausam, sie so früh auszulöschen. Sie sieht aus, als könnte man Spaß mit ihr haben. Seht euch diese Beine an. Kann es nicht bis morgen früh warten?« Strahlezahns Lächeln wurde noch strahlender. »Ja. Vielleicht können wir noch ein bisschen warten. Was meinst du, Darling? Möchtest du dir eine kleine Galgenfrist erkaufen?« »Träum weiter«, zischte ich ihm zu. Er lachte. »Es gibt nur eine Antwort, Darling, und zwar das, was ich sage. Jetzt komm her, sonst...« Ich wählte ohne zu zögern das »sonst«. Der Mann, der mir noch attraktiv erschienen war, als ich gegen ihn gerannt war, mein potenzieller Held, kam mir jetzt schon fast grotesk hässlich vor. Sein Gesicht war von Gordons Blut gesprenkelt. Ich versuchte, Blondsträhnchen zu entkommen, aber er hielt meine Handgelenke fest und funkelte mich lüstern an. »Netter Versuch«, meinte er grinsend. Ich zuckte die Schultern und rammte ihm dann mein Knie 18 in die Lenden. Jetzt ließ er meine Handgelenke los. Ich warf einen Blick über die Schulter auf Strahlezahn,
ignorierte den stechenden Schmerz in meinem Knöchel und rannte los. Während Blondsträhnchen vor Schmerz stöhnte, brummte der Kleiderschrank nur genervt. »Dass es auch nie einfach sein kann, oder?« Dann klatschten Stiefelsohlen auf den Asphalt, als sie sich an meine Verfolgung machten. Spät in der Nacht sieht alles anders aus, und es war so dunkel, dass ich kaum wusste, wo ich war. Ich wusste, dass das Bloor Viaduct, eine große Brücke, die den Don überspannte, nicht allzu weit entfernt sein konnte. Wenn ich es auf die andere Seite schaffte, konnte ich vielleicht ein Telefon finden oder jemanden, der mir half. Die Frage war nur, wie lange ich noch so rennen konnte. Meine Lungen brannten und mit meinem verletzten Knöchel konnte ich nur eiligst humpeln, kaum jemandem davonlaufen. Außerdem flehten meine nackten Füße mich an, stehen zu bleiben. Allerdings wusste ich, dass ich erledigt war, wenn ich stehen blieb. Sie würden mich auf dieselbe Art und Weise umbringen, wie sie Gordon getötet hatten. Oder noch Schlimmeres mit mir anstellen. Es schüttelte mich, als ich daran dachte, wie dieser blonde Freak mich angegiert hatte. Ich musste weiterlaufen. Es gab keine andere Möglichkeit. Eigentlich war ich überrascht, dass sie mich nicht längst eingeholt hatten. Ich konnte sie sogar nicht mal mehr hinter mir hören. Ich wurde langsamer und riskierte einen Blick über die Schulter.
Ich befand mich jetzt mitten in einem Park und konnte Straßenverkehr hören, was bedeutete, ich war nicht weit von der Bloor Street entfernt. Aber ich sah nur Bäume um mich herum. Ich war mutterseelenallein. 20 Ich blieb stehen und atmete so schnell und flach, dass ich sicher war, gleich zu hyperventilieren. Sie mussten aufgegeben haben. Vielleicht war ich zu schnell für sie gewesen. Immerhin war ich in letzter Zeit häufiger als normal ins Gymnastikstudio gegangen, um mir für meine große teure Reise nach Puerto Vallarta eine ordentliche Bikinifigur anzutrainieren. Amy und ich planten diese Reise jetzt fast schon ein Jahr, und in einem Monat würde der große Moment kommen. Das musste der Grund sein. Ich war einfach erstaunlich fit. Genauso fit und gefährlich wie diese junge Frau in den Terminator-Filmen. Dann hörte ich einen Motor aufheulen und das Quietschen von durchdrehenden Reifen. Ein Jeep rumpelte etwas weiter von mir entfernt auf die Straße und ließ den Kies nur so spritzen. Lauf denen davon, Terminator, dachte ich, als die Panik mir wieder die Brust zusammenpresste. Verflucht. Ich konnte sie hören, diese Männer, und ich hatte albernerweise geglaubt, ich wäre ihnen entkommen. Sie johlten und brüllten, als sie sich mir näherten. Offenbar war das ihre Vorstellung von Spaß. Aber ich erreichte nun die Brücke. In der Ferne sah ich die Skyline von Toronto.
Ich rannte weiter, ignorierte den Schmerz. Der Betonfußweg, der über eine Seite der Brücke führte, fühlte sich durch meine zerfetzten Nylonstrümpfe an meinen aufgescheuerten Füßen kühl an. Ich spähte um mich, hoffte, dass vielleicht jemand anhalten und mir helfen würde, doch die Wagen fegten an mir vorbei, ohne dass die Fahrer mich überhaupt registrierten. Als ich auf die Fahrbahn trat, um jemanden zu stop 21 pen, hupte ein Fahrer wild und wich mir aus. Er verfehlte mich nur um Haaresbreite. Ich flüchtete mich hastig wieder auf den Fußweg. Es sah aus, als würde es eine Sache zwischen mir und Strahlezahn und den Jungs bleiben. Und der dunklen Gestalt, die auf einem der Metallstreben der Brücke balancierte. Er stand auf der anderen Seite des sogenannten »Schleiers«, dünne Metallstäbe, die in gleichmäßigem Abstand angebracht waren und verhindern sollten, dass jemand über die Barriere kletterte und in den Tod sprang. Aber ich bemerkte, dass einige Stäbe verbogen waren, weit genug, dass jemand hindurchpasste. Also kletterte ich eilends dorthin und zwängte mich hindurch, bis ich dicht neben dem Fremden stand und mich an die Barriere lehnte. Ich hörte, wie der Jeep hinter mir quietschend zum Stehen kam und die Türen schlugen, als die Männer ausstiegen, um mich zu Fuß zu verfolgen. »He!«, rief ich die Gestalt an. Er trug einen langen Mantel, dessen Schöße im Wind klatschten. Er wirkte wie
eine Galionsfigur von einem Piratenschiff. Oder wie Kate Winslet, wie sie mit ausgebreiteten Armen am Bug der Titanic steht - nur nicht ganz so keck. Und ganz sicher war er keine Frau. »Verschwinden Sie.« Er klang ziemlich mürrisch. »Heiliges Kanonenrohr, das ist ziemlich hoch, was?« Ich schob mich dichter an ihn heran. »Helfen Sie mir!« »Helfen Sie sich selbst. Sehen Sie nicht, dass ich vorhabe, mich umzubringen?« Der Mann blickte in das dunkle Wasser tief unter uns. »Helfen Sie mir erst, dann können Sie sich immer noch umbringen«, schlug ich vor. Ich stand jetzt so dicht bei ihm, dass ich sein Gesicht er 22 kennen konnte. Er war wohl etwa Mitte dreißig und von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Hätte ich in meiner derzeitigen Leben-oder-Tod-Situation einen Moment über sein Aussehen nachgedacht, hätte ich ihn als echt heiß beurteilt. Und gleichzeitig als total unglücklich. Ob er unglücklich aussah, weil er sich umbringen wollte, oder weil ich ihn dabei störte, wusste ich nicht. »Ein Freund von dir?«, fragte Strahlezahn hinter mir, auf der anderen Seite der Stabbarriere. Ich riss mich zusammen und wandte meinen Kopf. »Ein sehr guter Freund sogar. Er wird Ihnen mächtig in den Hintern treten, wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, verdammt.« Strahlezahn sah mich sehr unfreundlich an. »Das würde ich gern sehen.«
Der Fremde sah uns von seinem Platz auf der Haltestrebe aus uninteressiert zu. Es schien ihn nicht im Geringsten zu stören, dass wir uns mehr als hundert Meter über dem Fluss befanden. Ich merkte, wie sein Blick zu meinem Hals glitt, und ich strich sanft über die Bisswunde. »Vampirjäger«, sagte er. »Wer will das denn wissen, hm?« Strahlezahn zog eine Zigarre aus seiner Jackentasche und zündete sie an. Er schien das Gefühl zu haben, dass ihm alle Zeit der Welt zur Verfügung stand. Ich schob mich vorsichtig noch dichter an den Fremden heran. Obwohl er Selbstmordabsichten hegte und vermutlich genauso verrückt war wie alle anderen, denen an diesem Abend zu begegnen ich das Pech gehabt hatte, war er im Moment meine beste Chance, heil aus dieser Angelegenheit herauszukommen. »Es spielt keine Rolle, wer ich bin«, antwortete der Fremde 23 jetzt auf Strahlezahns Frage. »Sie stören meine Privatsphäre. Seien Sie bitte so liebenswürdig, Ihre Angelegenheiten woanders zu erledigen.« Strahlezahn musterte ihn finster. »Wir wollen nur diesen süßen, kleinen Vampirhintern einsammeln, dann verschwinden wir wieder, und Sie können mit dem weitermachen...«, er sah sich um, »... was Sie gerade tun wollten.«
Ich packte den Mantel des Fremden und hielt mich fest, als hinge mein Leben davon ab. »Lassen Sie nicht zu, dass sie mir etwas antun. Bitte.« Er riss mir den Mantel aus den Händen. »Ich will damit nichts zu tun haben.« »Zu spät.« Strahlezahn hatte sich auf Kniehöhe durch eine Lücke zwischen den Stäben und dem Beton des Fußwegs gezwängt, die Zigarre zwischen den Zähnen. »Ich wollte ein Gentleman sein und dich schnell umbringen. Na ja, jedenfalls mehr oder weniger schnell. Aber jetzt werde ich dich langsam und genüsslich in Stücke reißen. Du wirst jede Sekunde davon spüren.« Strahlezahn hatte sich halb durch die Lücke gezwängt und griff nach mir. Ich zuckte zurück, drehte mich um und trat ihm mit meinem nackten Fuß ins Gesicht. Es gab ein ekliges, feuchtes Schmatzen, als mein großer Zeh sein linkes Auge traf. Es war das Widerlichste, das ich jemals gefühlt hatte. Er brüllte vor Schmerz auf und presste die Hände vor sein Gesicht. Die Zigarre fiel ihm aus dem Mund und in den Fluss. Ich verlor meinen Halt, aber bevor ich stürzen konnte, streckte der Fremde seine Hand aus, packte mich um die Taille und zog mich an sich, in Sicherheit. »Danke.« Ich bekam die Worte kaum heraus, so klapperten mir die Zähne. »Ich dachte, Sie wollten mir nicht helfen.« 24 »Das war ein Reflex«, gab er zurück.
Die beiden Vampirjäger, die gerade nicht vor Schmerz brüllten, obwohl Blondsträhnchen sich recht vorsichtig bewegte nach dem Zwischenfall mit seinen Lenden, zogen ihren außer Gefecht gesetzten Freund zurück und machten Anstalten, selbst durch die Öffnung zu steigen. Der Fremde blickte in das schwarze Wasser hinab. »Ich nehme an, uns bleibt nichts anderes übrig, als zu springen.« Ich hob meine Brauen und klammerte mich an ihn, während die Vampirjäger nach meinen Beinen griffen. »War das nicht Ihr ursprünglicher Plan? Und hatten Sie nicht eigentlich vor, sich auf diese Weise umzubringen?« »Bei meinem Glück heute Abend wird der Sturz mich nicht umbringen«, antwortete er und schlang einen Arm um meine Taille. »Aber Sie vielleicht.« Er stieß sich von der Brücke ab, und wir fielen eine, wie es mir erschien, sehr lange Zeit durch die Luft, bevor wir in dem eisigen, schwarzen Wasser verschwanden. Ich musste mich anstrengen, mit dem Fremden Schritt zu halten, nachdem wir wie begossene Pudel aus dem eiskalten Don auf einen steilen, grasigen Hügel geklettert waren. Er ging so schnell, als wollte er nicht, dass ich ihm folgte. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Er hatte eben mein Leben gerettet. Er konnte sich wenigstens davon überzeugen, ob ich unversehrt und in einem Stück war. Ein verängstigtes, zitterndes, tropfnasses Stück. 2 25
Bis jetzt gab es keine Spur von diesen Verrückten, die versucht hatten, mich umzubringen. Eventuell hatten wir sie ja endgültig abgehängt. Vermutlich hatten sie keine Lust gehabt, hinter uns her ins Wasser zu springen. Was ich ihnen ehrlicherweise nicht verdenken konnte. Es war ein höllischer Sturz gewesen. Wie wir das hatten überleben können, ahnte ich nicht, aber es war mir letztlich egal. Es war okay. Jetzt brauchte ich ein Telefon, ein Taxi, eine Anzeige bei der Polizei und eine lange, heiße Dusche. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. »He, warten Sie!«, rief ich »Mr. Dunkel und Tropfnass« nach. Nach unserem improvisierten Badeausflug hatte ich von ihm nur seinen Hinterkopf gesehen, der sich stetig von mir entfernte; deshalb war ich eigentlich ein wenig überrascht, als er tatsächlich stehen blieb. Seine breiten Schultern hoben und senkten sich, als hätte er gerade lange geseufzt. Er drehte sich zu mir herum. »Was denn jetzt noch?« »Wohin gehen Sie?« »Nach Hause. Ich würde vorschlagen, dass Sie das Gleiche tun. Suchen Sie Ihren Schöpfer und verschwinden Sie.« »Meinen was?« »Ihren Schöpfer.« »Was ist denn das?« Er deutete mit einem Nicken auf meinen Hals. »Der, der Ihnen diesen Knutschfleck verpasst hat. Sie brauchen Ihren Schöpfer, damit er Sie einführt.« Ich berührte die Wunde an meinem Hals und zuckte zusammen. »Diese Kerle haben den umgebracht, der das ge-
macht hat.« Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich das sagte. Was sie Gordon angetan hatten, ging mir unablässig durch 27 den Kopf. Ein paar Tränen traten mir in die Augen, und ich wischte sie mit meinem nassen Ärmel weg. »Er war ein Trottel, völlig durchgeknallt, aber er hatte... so etwas nicht verdient. Sie haben ihn umgebracht und wollten mit mir dasselbe tun. Es war grauenhaft.« »Sie haben Ihren Schöpfer ermordet«, wiederholte der Fremde. Mehr sagte er nicht, sondern starrte mich nur an. Mir wurde mulmig unter seinem Blick. Das heißt, noch mulmiger, als ich mich sowieso schon fühlte. Die Idee, nach Hause zu gehen, kam mir plötzlich genial vor. Die Cops konnte ich auch von dort aus anrufen. »Haben Sie von ihm getrunken?«, erkundigte sich der Fremde. »Was?« Er seufzte. »Haben Sie von Ihrem Schöpfer getrunken, bevor er getötet wurde?« »Ich hatte ein paar Margaritas zum Dinner.« »Das habe ich nicht gemeint.« Ich blinzelte verständnislos. »Dann lautet die Antwort Nein. Nach dem Dinner gab es nichts mehr zu trinken. Hören Sie, vielen Dank für....«Ich stockte, weil ich nicht wusste, wie ich diesen Sprung in die rettende Tiefe nennen sollte. Ich blickte zur Brücke zurück. »Für diese Nummer da drüben.«
Er antwortete nicht. Ich schob meine Hände in die aufgeweichten Taschen meines Ledermantels. Dreck war eine Sache, Wasser dagegen war eine vollkommen andere. Vermutlich war der Mantel jetzt ebenfalls ruiniert. Ich hatte wirklich ein verdammtes Pech. Ich zwang mich zu einem gequälten Lächeln, bevor ich dem Fremden den Rücken zukehrte und Anstalten machte, wegzugehen. 28 »Warten Sie«, rief er, als ich fast einen halben Block weit gekommen war. »Sind Sie sicher, dass Ihr Schöpfer tot ist?« »Absolut«, erwiderte ich grimmig. Das Bild von den leeren Kleidern schoss mir durch den Kopf. Was war mit der Leiche passiert? Wahrscheinlich hatte mir die Dunkelheit einen Streich gespielt. Es war stockfinster gewesen, und ich hatte doppelte Margaritas zum Essen getrunken. »Wie heißen Sie?« Er kam auf mich zu. Ich zögerte etwas mit der Antwort. Ich hatte echt genug und wollte nur noch nach Hause. »Sarah«, antwortete ich schließlich. »Sarah Dearly.« Seine Miene wirkte irgendwie angespannt, als ringe er innerlich mit sich. Ich sollte mit dem Kerl nicht rumhängen, sagte ich mir. Auch wenn er mein Leben gerettet hatte. Er hatte schließlich versucht, sich umzubringen, jedenfalls seinen eigenen Worten zufolge. Das konnte man kaum als normales, vernünftiges Verhalten bewerten.
»Hat Ihr Schöpfer Ihnen etwas erklärt, bevor er ermordet wurde?« »Ich weiß nicht, wieso Sie ihn unaufhörlich meinen Schöpfer nennen. Er war eine Verabredung, ein Blind Date, wenn Sie es genau wissen wollen.« »Schön. Also, hat Ihr... Ihre Verabredung Ihnen etwas erklärt?« »Erklärt, was?« »Ihren Hals betreffend und was es bedeutet.« Ich legte unwillkürlich die Finger auf meine Wunde. »Er sagte, er wäre ein Vampir, und dass ich jetzt auch einer wäre.« Der Fremde nickte. »Gut, das ist immerhin ein Anfang. Und weiter?« 29 »Dann habe ich ihm Pfefferspray ins Gesicht gesprüht und bin weggelaufen. Er war verrückt.« Der Fremde sah mich finster an. »Er hat nicht gelogen.« »Nein, ich bin sicher, dass er glaubte, was er da erzählte. Das ist ja eines der Anzeichen von Wahnsinn, richtig?« Der Fremde kam noch näher, und jetzt konnte ich ihn zum ersten Mal richtig betrachten. Er sah gut aus, auch wenn sein Gesicht im Mondlicht sehr blass wirkte und seine Augen fast silbern zu sein schienen; sie spiegelten selbst das dämmrige Licht wie die Augen einer Katze. Als er weitersprach, sah ich seine langen Reißzähne. »Sie sind ein Vampir, Sarah. Er war nicht verrückt.« Wie ein Blitz zog ich die Dose Pfefferspray hervor und hielt sie ihm vor die Nase. »Gehen Sie sofort weg!«
»Ihr einziges Verbindungsglied zu Ihrer neuen Welt ist getötet worden. Sie müssen mir zuhören, wenn Sie überleben wollen.« »Es gibt keine Vampire.« Meine Stimme klang fest, aber meine Innereien fühlten sich an wie Wackelpeter. »Doch, wir existieren.« Ich drückte auf den Knopf der Dose, aber sie flog mir aus der Hand, als der Fremde sie mühelos mit einer schnellen Bewegung zur Seite schlug. Dann packte er meine Schultern, und ich kämpfte um mein Leben, kratzte und schlug wie eine Wildkatze nach ihm. »Hören Sie auf«, sagte er. »Ich will Ihnen nichts tun.« Es war einfach unmöglich, sich gegen ihn zu wehren. Er war so stark, dass ich mich kaum rühren konnte. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen; der Kampf, die Flucht und mein Widerstand gegen das, was ich hörte, hatten mich total erschöpft. 30 In meinem Hals pochte es schmerzhaft. Ich ließ die Arme heruntersinken. Mir verschwamm alles vor den Augen; ich sah Explosionen von Farben, genau wie vorhin, als Gordon mich geschlagen hatte. Ich versuchte mich auf den Fremden zu konzentrieren, dessen Arme allein verhinderten, dass ich rücklings auf den kalten, harten Zement fiel. »Schon gut.« Seine Stimme schien plötzlich weit weg zu sein, sie klang schwach und wurde immer leiser. »Ich kümmere mich um Sie.« Dann wurde alles schwarz.
Ich schlug die Augen auf. Ich lag ausgestreckt auf einem Ledersofa in einem dunklen, unbekannten Raum. Langsam richtete ich mich auf. Mein Kopf schmerzte, als hätte ich den schlimmsten Kater meines Lebens. Das war vielleicht ein verrückter Traum! Ich sah mich um. Wo zum Teufel bin ich? Links von mir ertönte ein Geräusch, und eine Tür schwang auf. Der Fremde tauchte auf, offensichtlich aus der Küche. Er hielt ein Glas Wasser in der Hand und lächelte nicht, als er sah, dass ich aufgewacht war. Aha, ich träume wohl noch. Fühlt sich aber ziemlich realistisch an. »Wer sind Sie?« Ich wich so weit vor ihm zurück, wie das Sofa es zuließ. Meine Stimme klang krächzend, als hätte ich eine Weile geschlafen. Das war merkwürdig, denn ich hatte noch nie zuvor geträumt, dass ich geschlafen hatte. »Mein Name ist Thierry de Bennicoeur«, erwiderte er. »Französisch.« »Ursprünglich, ja.« »Sie haben aber keinen Akzent.« 31 »Nicht mehr, nein.« »Und Sie sind ein Vampir.« »Richtig.« »Wo sind wir?« »In meinem Haus.« Er war nicht sonderlich gesprächig. Ich überlegte, was ich noch sagen könnte. Wenn ich zu lange schwieg, würde ich vielleicht wieder Panik bekommen. Es interessierte mich nicht, ob das ein Traum war; wenn ja, dann war es ein reichlich schräger.
»Warum haben Sie versucht, sich umzubringen?«, fragte ich zerstreut. Er starrte mich einen Moment an, ignorierte meine Frage jedoch. »Wie fühlen Sie sich jetzt?« »Als hätte ich ein paar Drinks genommen und wäre anschließend von einem Bus überfahren worden. Ich will nach Hause.« Ich versuchte aufzustehen, aber der stechende Schmerz in meinem Kopf vereitelte das. Konnte man im Traum Schmerz empfinden? Das kam mir irgendwie nicht richtig vor. »Vorher müssen wir etwas erledigen«, erklärte Thierry. »Was?« Ich sah ihn scharf an, und meine Augen weiteten sich, als ich das scharfe Messer in seiner Hand sah. »Was zum Teufel haben Sie damit vor?« Er hob eine Braue, als er den panischen Ton in meiner Stimme bemerkte. Meine Augen weiteten sich noch mehr, als ich sah, wie er mit der Klinge über sein Handgelenk fuhr. Heiliger Bimbam! Er wollte hier vor meinen Augen zu Ende bringen, was er auf der Brücke angefangen hatte! Sich umbringen! Das war einfach widerlich! Ich fühlte mich so schwach, dass ich nur wimmern konn 3i te, als ich das Blut sah, das aus der Wunde quoll. Er hielt sein Handgelenk über das Wasserglas und ließ das Blut hineintropfen. Dann nahm er einen Löffel vom Tisch und rührte um.
»Wenn Ihr erster Trunk nicht direkt von Ihrem Schöpfer kommt«, erklärte er, »ist es besser, wenn er ein bisschen verdünnt wird.« Ich starrte ungläubig auf das verdünnte Blut. Dann auf sein Handgelenk. Die Wunde verschwand, bis nur noch eine kleine rosafarbene Linie anzeigte, wo der klaffende Schnitt gewesen war. »Trinken Sie.« Er hielt mir das Glas hin. Ich winkte schwach mit der Hand. »Ich hätte lieber eine Diät-Cola, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er stellte das Glas auf den glänzenden, schwarzen Couchtisch und stand auf. »Ich möchte Ihnen ein paar Dinge erklären, Sarah Dearly. Erstens: Ihr Schöpfer hat aus Ihnen keinen richtigen Vampir machen können, bevor er getötet wurde. Die Wunde an Ihrem Hals beweist das. Hätte er die Sache richtig zu Ende gebracht, wäre sie mittlerweile schon fast verheilt. Zweitens: Um diese Sache zu beenden, müssen Sie das Blut eines ausgewachsenen Vampirs zu sich nehmen. Da sich niemand sonst freiwillig anbietet, fällt diese Aufgabe mir zu. Also stellen Sie sich nicht an.« »Ich trinke niemandes Blut«, erwiderte ich entschlossen. Er zuckte mit den Schultern. »Dann sterben Sie, bevor die Nacht zu Ende geht. In den Reißzähnen der Vampire befindet sich ein Gift, das seine Opfer infiziert, wenn ein Schöpfer ihr Blut trinkt. Dieses Gift macht einen zu einem Vampir. Wenn Ihre... Verabredung... sie nur hätte... kosten wollen, wäre all das überflüssig. Ihren Symptomen zufolge war es je
34 doch ganz offenkundig seine Absicht, Sie zu einer von uns zu machen. Das Gift, das jetzt durch Ihre Adern fließt, braucht als Gegenmittel dieses Blut.« Er deutete auf das Glas mit dem rosafarbenen Wasser. »So einfach ist das.« Ich runzelte die Stirn und legte meine Finger auf die Wunde an meinem Hals. »Aber warum hat er das gemacht? Mich gebissen, meine ich? Ich will kein böser, blutsaugender Vampir sein.« Ich sah ihn an. »Nichts für ungut.« »Was Ihnen zugestoßen ist, ist gewiss unerfreulich. Ihr Schöpfer hat sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze gehalten, die vorschreiben, dass niemand einen Anfänger gegen seinen Willen zu einem von uns macht. Und: Vampire sind nicht böse.« »Doch, sind sie wohl.« »Nein, sind sie nicht, jedenfalls nicht grundsätzlich. Einige sind böse, andere nicht. Wie bei den Menschen. Das Verhalten eines Vampirs wird dadurch bestimmt, wie er als Mensch gewesen ist.« Ich runzelte noch tiefer die Stirn. »Das verstehe ich nicht.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, Ihnen zu helfen. Es ist ganz offensichtlich, dass Sie nicht durchkommen werden.« »Was meinen Sie mit >nicht durchkommend« Ich fühlte mich schwach, hatte Angst und war nach wie vor noch
einigermaßen sicher, dass dies nur ein höchst bizarrer, lebhafter Traum war. Trotzdem fühlte ich mich beleidigt. Er zählte die Punkte an seinen Fingern ab. »Ihr Schöpfer ist tot. Sie scheinen die Jäger wie ein Magnet anzuziehen. Und Sie haben offensichtlich nicht die geringste Ahnung von Vampiren.« Ich blitzte ihn böse an und verschränkte die Arme. »Dann 35 darf ich Ihnen wohl sagen, dass ich einen ganzen Haufen über Vampire weiß. Anne Rice ist eine meiner Lieblingsautorinnen.« Thierry verzog spöttisch das Gesicht. »Das wird Ihnen sicher weiterhelfen.« Mein Ärger vertrieb meine Furcht. »Ich brauche niemandes Hilfe. Ich kommt sehr gut allein klar. Ich habe Sie nicht gebeten, mich in Ihr...«, ich sah mich in dem spärlich möblierten Raum um, »... unterirdisches Liebesnest zu schleppen, Mister. Und was das andere betrifft...« Der Schmerz war weißglühend und zuckte durch meinen ganzen Körper. Ich klammerte mich an der Couch fest und grub meine manikürten Fingernägel in das glatte Leder. »Mein Gott! O mein Gott!«, stöhnte ich gequält. »Was passiert mit mir?« »Sie sterben«, antwortete er ungerührt. »Aber es sollte vor Tagesanbruch vorbei sein, also machen Sie sich keine Sorgen.« »Ich sterbe?«, quietschte ich. Allmählich fing ich an, ihm zu glauben. Eine weitere Schmerzwelle traf mich, ich
krümmte mich und sank zu Boden. »Helfen Sie mir!«, stieß ich hervor. Die Furcht schnitt durch meinen Körper wie ein heißes Messer durch Butter. »Warum stehen Sie nur so rum? Tun Sie was!« »Ich kann nichts mehr für Sie tun.« Sein gut aussehendes Gesicht war vollkommen ausdruckslos. »Ich habe Ihnen mein Blut angeboten. Trinken kann ich es nicht für Sie.« Das Glas mit dem rosafarbenen Wasser stand unschuldig auf dem Couchtisch, neben dem ich mich in Qualen wand. Nach einer weiteren Schmerzattacke packte ich das Glas, hob es an meine zitternden Lippen und trank es in einem Zug aus. 36 Der Schmerz hörte schlagartig auf. Das Zeug wirkte wie ein isotonischer Energiedrink für Vampire. Ich lag rücklings auf Thierrys Tropenholz-Bodendielen und starrte ein paar Minuten an die Decke. Dann setzte ich mich auf und atmete tief durch, während ich versuchte, mich zu sammeln. »Mehr?«, bot Thierry an. »Nein, mir geht's gut.« »Sie sollten jetzt nach Hause gehen. Der Morgen dämmert bald.« Ich nickte wissend. »Ich kann nicht mehr in die Sonne gehen, stimmt's? Sonst werde ich zu Holzkohle gegrillt.« Er sah mich fast amüsiert an. »Stammt diese Erkenntnis aus der Schule von Anne Rice? Sonnenlicht ist nicht gut für Vampire, das stimmt. Sie werden sich nachts stärker fühlen. Am Tag wird die Sonne Sie schwächen, und
manchmal wird sie Ihnen auch übermäßig hell erscheinen, aber ich verspreche, dass Sie nicht zu Asche verbrennen werden.« »Wirklich? Gut zu wissen.« »Wenn es Sie zu sehr stört, solange Sie noch Zögling sind, schlage ich vor, dass Sie das unterirdische Tunnelsystem der Stadt benutzen; wie nennt man das hier in Toronto? Den PATH?« »Und wie lange werde ich als Zögling betrachtet?« »Etwa fünfzig Jahre.« »Oh.« Ich dachte darüber nach. Das hieße, bis zu meinem achtundsiebzigsten Geburtstag würde ich als Zögling gelten. Dann wäre ich so alt wie Onkel Jim, der neulich dem kanadischen Winter Lebewohl gesagt hatte und für immer nach Florida gezogen war. »Also stimmt es, dass Vampire ewig leben?« Er runzelte die Stirn. »Wir sterben nicht an den normalen 37 Krankheiten der Menschen; unser Alterungsprozess kommt von dem Moment an zum Stillstand, an dem unser Schöpfer uns erwählt, falls Sie das meinen.« Interessant. Völlig absurd, sicherlich, aber sehr faszinierend. »Wie alt sind Sie denn?«, erkundigte ich mich. Er nahm das leere Glas und ging in die Küche. Durch die offene Tür sah ich, wie er es in der Spüle abwusch und es dann in den Geschirrspüler aus rostfreiem Stahl stellte, bevor er mir antwortete. »Alt.«
»Wie alt?« »Weit über sechshundert Jahre.« Meine Kinnlade sackte nach unten. »Wow! Ich meine, he, für einen Sechshundertjährigen sehen Sie echt gut aus. Ich habe gedacht, in dem Alter wären sie knittrig und welk und würden auseinanderbröseln. Das ist erstaunlich.« Er wich meinem Blick aus, während ein merkwürdiger Ausdruck über sein attraktives, absolut nicht welkes Gesicht glitt. »Ja, erstaunlich.« Seine Stimme klang kein bisschen begeistert. »Ich brauche wohl ein bisschen Zeit, mich daran zu gewöhnen, dass ich untot bin.« »Un-was?« »Untot. Ein belebter Kadaver. Eben ein Vampir.« Ich zuckte mit den Schultern. »Untot. Puh.« Er sah mich gereizt an. »Atmen Sie noch?« Ich runzelte die Stirn und konzentrierte mich. Ja, ich atmete ein und aus. Yep. »Natürlich.« 38 »Und schlägt Ihr Herz noch?« Ich legte eine Hand auf meine Brust. Da war er, mein regelmäßiger Herzschlag. Ein bisschen schnell, aber mein Herz schlug noch. »Ja.« »Und mein Herz, schlägt es auch?« Ich sah ihn finster an, hob dann eine Hand und legte sie gegen seine sehr muskulöse, sehr warme und sehr männliche Brust. Es dauerte einen Moment, bis mir
wieder einfiel, warum ich ihn berührte. Ach ja, dieses Herzschlag-Ding. Ich nickte. »Ja.« Er trat zurück und meine Hand fiel wieder herunter. »Was sagt Ihnen das?« »Nicht untot?« »Richtig.« Ich stand auf. Angesichts all dessen, was ich heute Abend durchgemacht hatte, fühlte ich mich recht gut. »Ich denke, ich gehe jetzt. Können Sie mir ein Taxi rufen oder...«, ich versuchte ein Lächeln und hatte tatsächlich Erfolg, » ... kann ich mich in eine Fledermaus verwandeln und nach Hause flattern?« Er betrachtete mich einen Augenblick. »Ich rufe Ihnen lieber ein Taxi.« Er erledigte den Anruf, und wir warteten zehn Minuten in unbehaglichem Schweigen. Das mit der Fledermaus enttäuschte mich ein bisschen. Es wäre echt cool gewesen. Jetzt mal im Ernst, das war der abgefahrenste Traum, den ich je gehabt hatte. Er war noch sonderbarer als der, in dem ich einen Hobbit geheiratet hatte und auf den Mars gezogen war. Eigentlich schade, denn dieser Thierry war auf seine mürrisch-selbstmörderische Art echt süß. Vielleicht hatte 39 ich ihn neulich beim Friseur in einem Magazin gesehen und er hatte sich in mein Unterbewusstsein eingebrannt, zur späteren Nutzung. Natürlich war das hier eindeutig ein Traum. Vampire? Also wirklich. Jäger? Mein Blind Date wurde zu Shish-
Kebab verarbeitet und verschwand dann in einer kleinen Pfütze aus Glibber? Also bitte Voll ein Traum. Ich war nur überrascht, dass mir das nicht aufgefallen war, als das Drama in vollem Gange war. Ich hätte mir eine Menge überflüssigen Stress erspart, der ohnehin nur Falten machte. Als der Taxifahrer endlich auftauchte, stand ich vom Sofa auf. Ich hatte immer noch nackte Füße, aber mir fiel auf, dass mein Knöchel nicht mehr weh tat. Vermutlich war es doch keine Verstauchung gewesen. Ich hob meine Tasche auf und packte meinen Mantel, den Thierry sorgfältig zum Trocknen über einen Stuhl gehängt hatte. Er hatte ihn mir ausgezogen, während ich schlief. Mein Seidenkleid war auch in feuchtem Zustand nicht durchsichtig, also verzichtete ich darauf, ihm deswegen eine Szene zu machen. Stattdessen lächelte ich Thierry an. »Danke für Ihre Hilfe. Auch wenn ich morgen früh aufwache und weiß, dass dies nur ein Traum war, war es zumindest ein sehr interessanter.« Ich wollte an ihm vorbeigehen, aber er hielt mich am Arm fest. »Sie träumen nicht, Sarah. Sie müssen das hier ernst nehmen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, die Dinge sind jetzt anders für Sie.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich fühle mich aber nicht anders.« »Sind Sie aber. Und angesichts der Jäger, die durch die Stadt streifen, sollten ebenfalls auch über Ihre Sicherheit nachden
41 ken. Sie haben ja bereits miterlebt, was sie für Spaß und Spiel halten.« Er suchte in seinen Taschen und förderte schließlich eine Visitenkarte zutage. »Hier, nehmen Sie die.« Er drückte sie mir in die Hand. »Gehen Sie morgen Abend zu dieser Adresse. Dort wird man Ihnen bei Ihrem Start in Ihr neues Leben helfen.« Ich schob die Karte in meine Tasche, ohne sie anzusehen. »Danke, Thierry, wirklich. Passen Sie auf sich auf, okay?« Ich hätte gern gesagt: »Bringen Sie sich nicht um«, aber das fand ich dann doch ein bisschen zu grob. Seine eindringlichen, silbrigen Augen blitzten. »Sie auch.« Er hielt mir die Haustür auf. Ich ging hinaus und stieg hinten in das Taxi. »Hundertelf, Ashburn Avenue«, sagte ich zu dem Fahrer, der sich in den Verkehr einfädelte. Ich drehte mich um. Die Tür zu Thierrys elegantem Stadthaus war bereits wieder geschlossen, und dann erlosch auch das Licht hinter den Fenstern. Vermutlich würde ich ihn nie wiedersehen. Ich zog die Visitenkarte aus meiner klammen Handtasche. MIDNIGHT ECLIPSE SONNENSTUDIO. Das muss die falsche sein. Ich wühlte in meiner Tasche. Haarbürste, Brieftasche, Lippenstift, Tampons. Aber es gab nur eine Visitenkarte. Ich sollte ins MIDNIGHT ECLIPSE SONNENSTUDIO gehen, um mein neues Leben zu beginnen?
Ich zuckte mit den Schultern. Wohin ich gehen würde, und zwar schon nächsten Monat, war Mexiko. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdachte, erschien es mir gar nicht schlecht, mich dafür ein bisschen vorzubräunen. 42 3 Und, wie war deine Verabredung? Ich hob den Kopf und sah Amy Smith, seit vier Jahren meine beste Freundin und persönliche Amateur-Amorette. Ich versuchte eine Braue zu heben, was ihr, wie ich hoffte, sagte: »Verschwinde von meinem Schreibtisch.« Meine Kopfschmerzen würden mich vermutlich in wenigen Minuten umbringen. Aber ein kleiner, tödlicher Kopfschmerz war kein Grund, einen kostbaren Krankentag innerhalb meines Jobs bei SaundersMatheson zu nehmen, »Torontos erster Marketing-undPromotion-Agentur«. Das waren wir jedenfalls laut unserer Website. Normalerweise hob ich mir meine Krankentage für die Momente auf, in denen ich mich richtig gut fühlte. Ich war die Vorstandsassistentin für den »Saunders«-Teil des Firmennamens. Amy war die Assistentin für den »Matheson«-Teil und außerdem der Grund, warum ich den Job überhaupt bekommen hatte. Sie hatte ein gutes Wort für mich eingelegt, als die letzte Vorstandsassistentin vor drei Jahren einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. »Wow!«, meinte Amy. »Du siehst echt mies aus!« »Danke vielmals!«
»Dann war es wohl eine tolle Verabredung, ja? Offenbar hast du nicht viel Schlaf bekommen, du kleiner Drachen.« Sie kicherte. Hätte ich mich hundertprozentig auf dem Damm gefühlt, wäre ich vermutlich aufgestanden, hätte meine Finger um Amys cremeweißen Hals gewickelt und ihr das blöde blonde Leben aus dem Leib gewürgt. Stattdessen versuchte ich, wie 43 eine Frau am Rand eines Nervenzusammenbruchs auszusehen. Was nicht weiter schwer war. »Du hast mich veralbert. Der Kerl war ein völliger Versager.« »Niemals.« Sie schüttelte den Kopf. »Er fuhr einen Porsche. Einen roten!« »Ich sage es dir nicht gern, aber ich glaube, wir haben uns all die Jahre geirrt. Autos machen keine Männer. Er war ein Loser, der mich mit doppelten Margaritas betrunken gemacht hat und mich dann mitten im Nichts hat stehen lassen.« Amy runzelte die Stirn, eine Miene, die auf ihrem hyperpositiven Gesicht nur sehr selten auftauchte. »Er hat dich stehen lassen? Was für ein Arsch. Also gut, vergiss ihn. Ich kenne da noch einen Typ, der einfach perfekt für dich ist.« »Moment mal, du Kupplerin. Wo gräbst du diese Kerle eigentlich aus? Außerdem bist du doch selbst Single. Ich glaube, es hat etwas zu bedeuten, dass du all diese einmaligen Schnäppchen nicht für dich selbst behältst.«
Amy warf mir einen Blick zu, den man nur als »pah!« bezeichnen konnte. »Weil, Sarah, sie für dich perfekt sind. Nicht für mich.« »Arschlöcher sind perfekt für mich?« »Du weißt, was ich meine.« »Nein. Weiß ich wirklich nicht.« Amy war dasjenige Mädchen in ganz Toronto, das am aufrichtigsten an die wahre Liebe glaubte, und nichts von dem, was ich sagte, konnte sie von etwas anderem überzeugen. Sie ging auf der Suche nach »dem Einen« mit mindestens zehn verschiedenen Typen im Monat aus. Sie war sicher, dass irgendwo da draußen ihr perfekter Seelenverwandter herumlief, und, bei Gott, sie würde ihn finden. Ich dagegen... Ich 44 war auch mal so, aber jetzt stand ich Romanzen ein wenig nüchterner gegenüber. Seit einiger Zeit war mein perfekter Seelenverwandter meine Visa Card. Wir beide amüsierten uns prächtig im Eaton Centre, meinem Lieblingseinkaufszentrum. Ich hatte schon vor meiner Zeit bei Saunders-Matheson keinen festen Freund mehr gehabt. Damals war ich mit einem süßen arbeitslosen Schauspieler ausgegangen. Er war der perfekte Freund, auch wenn er ein bisschen schmarotzte, jedenfalls bis er eine Rolle in einer Soap Opera in Los Angeles ergatterte. Als ich nach Hause kam, hatte er mir über meinen Anrufbeantworter kurzerhand den Laufpass gegeben. Dass ich die Maschine aus meinem
Fenster im zehnten Stock warf, änderte an der Lage gar nichts. »Also«, fuhr Amy fort und hielt ihre Hand mit gespreizten Fingern vor sich, um ihre neuen, pinkfarbenen Acrylfingernägel zu begutachten, »wenn du so früh zu Hause warst, wieso siehst du dann so mitgenommen aus?« Trotz der Tatsache, dass ich meinen Schlaf vor allem mit diesem verrückten Traum zugebracht hatte, in dem ich ein Vampir war, fühlte ich mich gar nicht so schlecht. Genau genommen hatte ich den ganzen Morgen nicht mal einen Blick in den Spiegel geworfen. Ich war so spät aufgewacht, dass ich es nur knapp geschafft hatte, mich anzuziehen, bevor ich in diesen lächerlich grellen Sonnenschein hinausgetreten war. Das liegt daran, dass Vampire kein Spiegelbild haben! Ich runzelte die Stirn bei diesem Gedanken. Ich war kein Vampir. Es war ein Traum gewesen, verdammt! »Hast du einen Handspiegel dabei?«, fragte ich Amy. Sie schob ihre Hand in ihre pinkfarbene Jackentasche und zog ein Covergirl-Schminkdöschen heraus. »Hier.« 45 Ich klappte es auf und warf einen zögernden Blick in den winzigen Spiegel. Einen sehr langen Blick. Sie hatte recht. Ich sah schlimm aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen und was sonst noch so dazu gehörte. Aber dass es ein Spiegelbild gab, wie mies es auch aussehen mochte, beruhigte meinen paranoiden
Verstand. Es war also nur ein Traum gewesen. Ganz offiziell. »O nein! Die Teufelin persönlich ist gerade aufgetaucht.« Amy riss mir den Taschenspiegel aus der Hand, verschwand ohne ein weiteres Wort zu ihrem Schreibtisch auf der anderen Seite des mit Nischen vollgestopften Raumes und duckte sich hinter ihren Computer. Mein Boss war bei ihrem Freitagmorgenfrühstück gewesen, mit dem Klienten, der diese Woche der Wichtigste war. Anne Saunders. Man nannte sie Missus Saunders. Nicht Miss oder Mrs. Missus. Sie beäugte mich, als sie aus dem Aufzug stieg und an meinem Schreibtisch vorbeiging, sagte jedoch nichts, nicht mal »guten Morgen«. Ich sah, dass sie auf den »Sarah-sieht-heute-mies-aus«-Zug aufgesprungen war. Normalerweise machte mir ihre Unfähigkeit, mit Menschen umzugehen, nichts aus. Es musste genügen, Missus' Saunders merkwürdige Jobs zu erledigen, ihre E-Mails zu verschicken, ihre Wäsche aus der Reinigung zu holen, so lange jedenfalls, bis ich herausgefunden hatte, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen wollte. Oder in der Lotterie gewann. Was jeden Tag passieren konnte. Wenigstens konnte ich mich auf meine fabelhafte Mexiko-Reise freuen. Es würde das erste Mal in meinen achtundzwanzig Lebensjahren sein, dass ich Kanada verließ. Es sei denn,
47 man zählte die Einkaufstrips über die Grenze nach Buffalo mit. Auf meinem Passfoto sah ich zwar ein bisschen aus wie meine Tante Mildred, aber ich konnte mich nicht beschweren. Ich würde bald Pina Coladas und eine schöne, tiefe Sonnenbräune genießen. Dunkle Sonnenbräune. Aus irgendeinem Grund kam mir der Name »Midnight Eclipse« in den Sinn. Ach ja, richtig, die Visitenkarte des Sonnenstudios, die Thierry mir in dem Traum gegeben hatte. Vampire und Sonnenbänke? Ich schüttelte den Kopf bei dem Gedanken. Na sicher, das passte bestimmt wunderbar zusammen! Ich ging zu der kleinen Kochnische und warf die Kaffeemaschine an. Dann wurde mir klar, dass ich heute noch nicht einmal meine morgendliche Kaffeedosis bekommen hatte. Merkwürdig. Normalerweise war Kaffee das Erste, woran ich dachte, wenn ich zur Arbeit kam. Ich musste noch kaputter gewesen sein, als ich dachte. Anschließend ging ich wieder an meine Arbeit, das heißt, mein aktuelles Solitärspiel. Ein paar Minuten später summte mein Telefon. »Sarah, bitte, kommen Sie in mein Büro. Stante pede!« Stantepede? Was ist das hier - ein Emergency Rootri? Ich beendete meine Computerpatience, stieß mich vom Schreibtisch ab und suchte mir den Weg durch das Labyrinth von Nischen, in denen so ziemlich alles zu finden war, angefangen von Grafikdesignern über
Werbetexter bis zu Verwaltungstrotteln wie mir. Ich öffnete die Tür zu dem schicken, verglasten Büro meines Bosses und warf einen Blick hinein. Ich kniff die Augen zusammen, als mich das grelle Sonnenlicht traf, das durch die Fenster schien. 48 Sie blickte von ihrem Telefon hoch und winkte mich mit einem Finger herein. Ich betrat dieses unerträglich helle Büro und ging zu ihrem Schreibtisch, beklommen und verkatert. Nach einem Moment knallte sie mit einem geknurrten: »Erledigen Sie das, oder lassen Sie es lieber gleich!« den Hörer auf die Gabel. Oh, sie konnte wahrhaftig sehr charmant sein. Dann sah sie mich an. »Setzen Sie sich bitte, Sarah.« Ihre Stimme war sofort wieder ruhig und beherrscht. Ich hatte diese Verwandlung an ihr schon häufiger erlebt. Eben noch stauchte sie einen Angestellten zusammen, im nächsten begrüßte sie zuckersüß einen möglichen Klienten. Sie sah mich direkt an, ohne zu blinzeln, eine Gewohnheit, die ziemlich unangenehm wirkte, gelinde gesagt. Wer diese Blickkämpfe nicht aushielt, wurde in ihrer Gesellschaft nicht alt. Ich war normalerweise ein Champion darin, aber meine höllischen Kopfschmerzen verkomplizierten die Dinge im Augenblick ein wenig. Ich sah weg und massierte meine Schläfen. »Stimmt was nicht, Liebes?«, fragte sie und schenkte mir ein perfektes, fast zu perfektes Lächeln, das ihre teuren Porzellanfüllungen ins rechte Licht rückte.
»Nein.« Ich setzte mich in den Sessel ihr gegenüber. »War eine kurze Nacht.« »Sie sollten Ihren Schönheitsschlaf nicht versäumen. Das Aussehen einer Frau ist einer ihrer größten Pluspunkte im Geschäftsleben, das wissen Sie doch.« Mein Lächeln blieb dort, wo es war, auf meinen Lippen, aber ich konnte nicht umhin, einen Blick auf den Kalender auf ihrem Schreibtisch zu werfen. Waren wir womöglich fünfzig Jahre in der Zeit zurückgereist? 49 Sie blätterte einen Stapel Post und ein paar Unterlagen auf ihrem Schreibtisch durch. »Sarah, ich weiß, dass ich dieses Jahr mit Ihrer Beurteilung unverzeihlich spät dran bin.« Was für ein Mist! Darum ging es hier? Ich sollte eine improvisierte Beurteilung ohne Vorbereitungszeit bekommen? Na toll! Sie bemerkte meine missbilligende Miene. »Keine Sorge, ich mache es so schmerzlos wie möglich für Sie. Ich glaube, Sie machen Ihre Sache fantastisch. Normalerweise sehen Sie auch immer aus wie aus dem Ei gepellt. Also werde ich den heutigen Morgen ignorieren, denn ich kann mich nicht daran erinnern, Sie schon einmal anders als...«, sie warf einen Blick auf meine Kleidung, »tadellos gesehen zu haben.« Ich hatte meine Wäsche diese Woche etwas hinausgezögert, und weil ich so spät aufgewacht war, hatte ich zerstreut den dunkelblauen Rock geglättet, den
ich in einer Ecke meines Schlafzimmers gefunden hatte. He, er roch noch ganz sauber. »Ich empfehle Ihnen, Ihre gute Arbeit fortzusetzen. Ich werde Ihren Titel in Chef-Vorstandsassistentin ändern und Ihr Gehalt ab dem nächsten Zahltag um drei Prozent erhöhen. Gratuliere.« Wow, drei Prozent! Ich konnte also meine Rente schon mit fünfundsiebzig einreichen, statt wie bisher mit achtzig. Ich Glückspilz! »Danke«, erwiderte ich. »Das ist sehr großzügig.« »Es ist wirklich gern geschehen.« Missus Saunders nickte, schnappte sich den vergoldeten Brieföffner und machte sich über den Stapel Post her. Ich wandte mich zum Gehen. Schließlich wollte ich ihre Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. »Verflucht!«, schrie sie, und ich fuhr herum. Sie verzog 50 das Gesicht und deutete auf den Brieföffner, den sie auf den Schreibtisch hatte fallen lassen. »Das verdammte Ding ist abgerutscht. Wahrscheinlich muss die Wunde genäht werden. Sind Sie so lieb und holen mir den ErsteHilfe-Kasten?« Sie hielt ihren linken Zeigefinger hoch und betrachtete stirnrunzelnd das Blut, das aus der Wunde quoll. Ein paar Tropfen davon fielen auf die Briefe und verteilten sich auf dem Schreibtisch. Ich fühlte mich benommen. Mir schwindelte. Ich blinzelte.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand ich nicht länger an der Tür, sondern hockte neben Missus Saunders importiertem, schwarzem Drehstuhl, hielt ihr Handgelenk fest und... ... nuckelte geräuschvoll an ihrer Fingerspitze. Ich schrie auf, ließ sie los und stolperte zurück. Hilfesuchend wollte ich mich an ihrem Schreibtisch festhalten, aber ich fiel trotzdem auf meinen Hintern und riss dabei den größten Teil dessen, was sich auf ihrem Tisch befunden hatte, mit. Sie hielt ihren verletzten Finger von sich weg und starrte mich an, mit aufgerissenen Augen und einer Mischung aus Schock und Ekel. Ich rappelte mich auf und wischte mir mit dem Handrücken den Mund. Was zum Teufel ist da gerade passiert? »Ich... ich... ich... Es tut mir so leid!«, stammelte ich schließlich. »Ich weiß nicht, was... Normalerweise würde ich so etwas nie... Ich habe nur...« Missus Saunders drückte ihre Hand an ihre Brust, um sie vor weiterem Missbrauch zu schützen. »Raus«, sagte sie leise. 51 »Ja, ich gehe wieder an die Arbeit. Noch mal, es tut mir sehr leid. Soll ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen?« »Nein, Sie gehen nicht an Ihren Schreibtisch zurück«, erwiderte sie tonlos, aber die Lautstärke ihrer Stimme schwoll mit jedem Wort an. »Sie verschwinden hier, Sie Freak! Es ist mir völlig egal, was Sie über mich gehört
haben, aber ich stehe nicht auf Frauen. Sie sind gefeuert! Und jetzt verschwinden Sie, bevor ich den Sicherheitsdienst rufe.« »Aber... meine Beurteilung!« »Verschwinden Siel«, brüllte sie. Ich trat auf sie zu, wollte vernünftig über das reden, was gerade passiert war, aber sie rollte mit dem Stuhl zurück, als hätte sie Angst vor mir. Ich hob die Hände. »Ich tue Ihnen nichts, versprochen. Ich möchte Ihnen das nur erklären.« Sie schnappte sich den Hörer, ohne mich aus den Augen zu lassen, und tippte eine Nummer ein. »Sicherheitsdienst, hier ist der fünfte Stock...« Mehr brauchte ich nicht zu hören. Ich rannte aus ihrem Büro, fegte durch das Labyrinth von Nischen. Was war da gerade passiert? Was war nur in mich gefahren, dass ich so etwas Ekliges tun konnte? Und gab es wirklich Gerüchte, dass Missus Saunders auf Mädchen stand? Das würde nebenbei einiges erklären! Aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was da gerade passiert war. Ich verließ mich völlig auf meinen Instinkt, um aus dieser Klemme herauszukommen. Und mein Instinkt sagte mir, dass ich besser machte, dass ich hier wegkam, und zwar so schnell wie möglich, wenn ich nicht recht würdelos von zwei Sicherheitsleuten aus dem Bürogebäude eskortiert werden wollte. 52 An meinem Schreibtisch schnappte ich mir die pinkhaarige Trollpuppe, die ich mit doppelseitigem Klebeband
auf meinem Computer befestigt hatte, dann riss ich die Schublade auf, holte die Schachtel mit Godiva-Pralinen heraus, die ich für meine tägliche Drei-UhrSchokoladendosis dort verwahrte. Hatte ich noch was vergessen? O mein Gott! Ich war soeben gefeuert worden! Nein, darüber konnte ich jetzt nicht nachdenken. Später! Damit würde ich mich später befassen. Ich nickte und schnappte mir meine Umhängetasche. Sie war noch etwas klamm von letzter Nacht. Klamm von letzter Nacht? Wovon? Von dem Sprung von einer Brücke mit Thierry de Bennicoeur, dem selbstmörderischen, aber sexy Vampir. Konnte das tatsächlich passiert sein? Nein. Ich muss so betrunken gewesen sein, dass ich voll bekleidet geduscht habe. Samt allen Accessoires. Aber konnte man Margaritas wirklich dafür verantwortlich machen? Ich hörte ein metallisches Pling und die Aufzugtüren glitten auf. Die Sicherheitsbeamten traten heraus, und ich sah, wie Missus Saunders zu ihnen ging, ihre verletzte Hand hielt und wild in meine Richtung gestikulierte. Ich konnte nicht hören, was sie ihnen erzählte, und ich wollte es auch gar nicht wissen. Das hätte mir noch gefehlt, dass meine Kollegen herausfanden, dass ich mit körperlicher Gewalt aus der Firma entfernt wurde, weil ich am Finger meines Bosses genuckelt hatte. Das Wort »peinlich« würde diese Situation nicht einmal annähernd beschreiben.
Ich flüchtete zum Treppenhaus, wobei ich an Amys Schreibtisch vorbeikam. Sie tippte etwas in ihren Computer und sah erstaunt zu mir hoch, als ich an ihr vorbeifegte. Ich hielt Daumen und kleinen Finger an mein Ohr, die universelle Geste 54 für »Ruf mich an«, und verschwand durch die Tür zum Treppenhaus. Ich raste die Treppen zur Tiefgarage hinunter und dann hinaus durch eine Tür zu meiner Rechten, wonach ich mich in Torontos PATH-System befand, dem riesigen Tunnellabyrinth unter dem Geschäftsviertel. Ich hatte PATH schon immer geliebt, weil es mir half, dem ekligen Winter zu entfliehen, während ich teure Schuhe trug. Kombinierte man Schneematsch mit hochhackigen Pumps, erzielte man keine besonders guten Ergebnisse. Eigentlich war die Bezeichnung »Tunnel« nicht ganz zutreffend. Es waren eher schmale Gänge eines gewaltigen Einkaufszentrums. Gesäumt von Restaurants und Geschäften, bildeten sie einen großen, unterirdischen Gebäudekomplex. Geflieste Korridore führten in alle Richtungen. Zeichen an der Decke und den Wänden wiesen nach Adelaide oder zur King Street oder zur Bay. Die regelmäßigen Benutzer brauchten nie zu diesen Zeichen hochzusehen, sondern sahen entspannt geradeaus, die Lippen am Milchschaum ihrer Cappuccinos oder die Nasen in den Globe and Mail vergraben, während sie zu Fuß durch die Massen der Pendler marschierten. Die Touristen schlenderten umher, als hätten sie gerade
eine surreale, unterirdische Welt betreten. Sie waren es, die mir normalerweise in die Quere kamen. Ich bog rasch nach rechts ab, stieß die großen Glastüren auf und stieg in die U-Bahn. Die Augen starr geradeaus, ohne zu blinzeln, ließ ich mich jetzt auf einen BlickWettkampf mit den grauen Bahnhöfen ein, die vor dem Fenster an mir vorbeizischten. Ich stieg an meiner üblichen Haltestelle aus, ging konzentriert zu meinem Wohnblock und fuhr mit dem Aufzug in den 55 zehnten Stock. Ich schob den Schlüssel ins Schloss, betrat meine Wohnung und schloss automatisch die Tür hinter mir wieder ab. Ich konnte noch immer das Blut von Missus Saunders Wunde auf meiner Zunge schmecken. Es schmeckte verdammt gut. Meine Knie gaben unter mir nach, und ich fiel auf den Boden, direkt zwischen Eingangstür und Kühlschrank. Die Lähmung, in der ich mich befunden hatte, wich allmählich, und zurück blieb eine bizarre Wahrheit, die ich den ganzen Tag zu leugnen versucht hatte. Es war kein Traum gewesen. Ich war ein Vampir. Was zum Teufel sollte ich jetzt tun? 4 Zu schlafen schien fürs Erste die beste Wahl zu sein. Sicher würden etliche Leute behaupten, dass ich wegen der schockierenden Erkenntnis, ein blutsaugendes
Monster zu sein, ohnmächtig geworden wäre, aber ich nenne es lieber ein kurzes Power-Nickerchen. Als ich aufwachte, war es dunkel in meiner Wohnung, was ein bisschen merkwürdig war. Denn immerhin hatte ich das Büro lange vor Mittag verlassen. Ich rappelte mich vom Küchenboden hoch und schaltete das Licht an. Die Uhr am Backofen zeigte 19:30 Uhr. Ich hatte fast acht Stunden geschlafen. Das war nicht gut, gar nicht gut. 56 Mein Mund fühlte sich so trocken an wie die Wüste. Ich schenkte mir ein Glas Wein aus einer halb leeren Flasche ein, die ganz hinten im Kühlschrank versteckt gewesen war, und leerte es, während ich versuchte, meine rasenden Gedanken zu sortieren. Ich bin ein Vampir. Die Worte schwirrten mir durch den Kopf. Ein Blut saugender, wallende Umhänge tragender Vampir -mit einem großen VI Mir wurde wieder schwindlig. Ich schnappte mir das Telefon vom Küchentresen. Auf meiner Mailbox warteten fünf Nachrichten. Die erste war von meiner Mutter. »Sarah? Bist du da, Honey? Nimm bitte ab.« Ihre Botschaften fingen immer so an. »Ich wollte dich nur daran erinnern, dass die Proben für die Hochzeit und das Dinner am Montag um sechzehn Uhr beginnen, aber wir wollen mit dir ein bisschen früher hinfahren. Ruf uns an, damit wir wissen, wann wir dich erwarten können, ja?«
Ich seufzte. Ich sollte eine der Brautjungfern bei der Hochzeit meiner Cousine in Abottsville, Ontario, sein. Spontan beschloss ich, die Scarlett O'Hara zu geben und erst morgen darüber nachzudenken. Im Moment hatte ich Wichtigeres zu tun. Was noch milde ausgedrückt war. Die nächsten vier Nachrichten stammten allesamt von Amy. Sie wollte unbedingt wissen, warum ich gefeuert worden war. Offenbar zirkulierten im Büro mittlerweile verschiedene Versionen von den Geschehnissen. Einer zufolge hatte ich versucht, Missus Saunders anzubaggern. Ich schlug mit der Stirn gegen die kühle Oberfläche des Kühlschranks, vorsichtig allerdings. Großartig, einfach großartig. Bei meinem Pech würde ich vermutlich obendrein eine 57 Anzeige wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz kassieren. Was konnte ich Amy erzählen, das nicht zu übergeschnappt klang? Ich wollte sie erst zurückrufen, wenn ich mir das zurechtgelegt hatte. Also schenkte ich mir noch ein Glas Wein ein, kippte das ebenfalls herunter und überlegte, ob ich mir noch ein drittes genehmigen sollte. Aber selbst die gesamten Weinreserven dieses Planeten hätte mich nicht entspannen können. Ich duschte schnell und quetschte mich in eine hautenge, pinkfarbene Jogapants - ich machte zwar kein Joga, aber sie waren gerade höllisch angesagt - und zog ein eng anliegendes weißes T-Shirt mit dem pinkfarbenen Aufdruck DIVA und violetten Sternchen über. Meine
Trostkleidung. Das trug ich gewöhnlich in einer ekligen Nacht, in der ich zu Hause blieb und mir Sex and the City auf DVD reinzog. Doch das würde ich heute Nacht nicht machen. Ich brauchte Antworten und wusste, wo ich sie finden konnte. Ich griff mir meine Handtasche und durchwühlte sie. Einen Augenblick geriet ich in Panik, als ich fürchtete, ich hätte das Gesuchte tagsüber verloren, aber da war es, auf dem Grund meiner Handtasche, und klebte an einem Bonbon. Ich pflückte die Honig-ZitronenPastille von der Visitenkarte und starrte voll böser Vorahnungen darauf: MIDNIGHT ECLIPSE SONNENSTUDIO. Also gut, Monsieur Thierry de Bennicoeur, dachte ich. Sie sind mir ein ganzes Sonnensystem von Erklärungen schuldig. Eine knappe Stunde später betrachtete ich prüfend die Visitenkarte, um mich zu vergewissern, dass ich vor der richtigen Adresse stand. Ich musterte das Äußere des Sonnenstudios 58 und verzog das Gesicht. Es war ziemlich heruntergekommen, ebenso wie dieses ganze Viertel in Torontos Westend. Das nächste Starbucks war mehrere Blocks entfernt. Aber ich brauchte ja schließlich auch kein schickes VierSterne-Spa. Ich brauchte Antworten. Mein Gesicht brannte von dem Schnee, den mir der Wind ins Gesicht peitschte. Es war noch kälter als letzte Nacht,
und jetzt konnte ich mir nicht mal mehr selbst vormachen, dass ich nächste Woche nicht bis zur Hüfte im Schnee stecken würde. Das erklärte meine Freude auf die bevorstehende Reise nach Mexiko. Ich schob die Visitenkarte tief in die Tasche meines schwarzen Ledermantels - meine Ersatzjacke, da mein hübscherer, teurer burgunderfarbener Mantel von meinem überraschenden Bad letzte Nacht so gut wie ruiniert war. Dann stieß ich die Milchglastür zum Sonnenstudio auf. Hinter dem großen Empfangstresen war das Midnight Eclipse Logo - ein schwarzer Kreis, in dem die Worte »Midnight Eclipse« standen - an die ansonsten kahle Wand gemalt. Eine Plastikpalme fristete in ihrem Topf ein recht unwürdiges Dasein in der Ecke. Rechts von dem Tresen war eine schwarze, links davon zwei weiße Türen. Mehr als das und das schlabbrige, grüne Rasenimitat unter meinen Füßen hatte der Raum nicht zu bieten. Ich runzelte vor Anspannung die Stirn. War hier niemand? Wäre das Studio geschlossen gewesen, hätte man die Tür sicher zugesperrt, oder etwa nicht? Jedenfalls sah das hier nicht wie ein Ort aus, den »Mr. GroßDunkel-und-Einschüchternd« aufsuchen würde. Warum also sollte er mich hierherschicken? War das seine Art von Humor? Nach diesem Tag war ich absolut nicht in Laune für solche Scherze. Mir war 59
eher nach hysterischem Weinen und zusammenhanglosem Plappern zumute, nicht nach Lachen. »Sie müssen Sarah sein«, sagte jemand. »Hallo?« Ich sah mich um, konnte jedoch niemanden entdecken. »Wer hat das gesagt?« »Ich bin Barry.« Ein sehr kleiner Mann trat hinter dem Tresen hervor; er war kaum größer als ein Meter dreißig. Er trug einen Smoking, und auf seinem Kopf saß keck ein Zylinder. »Barry Jordan.« Er reichte mir seine kleine Hand. »Man sagte mir, dass Sie kommen.« »Hallo.« Ich schüttelte automatisch seine Hand. Schließlich hatte ich keinen Grund, unhöflich zu ihm zu sein. »Dann bin ich wohl Sarah.« »Ausgezeichnet. Ich nehme an, Sie wollen die große Besichtigungstour?« Mein Blick glitt von der Palme zum Tresen. »Es gibt eine große Tour?« »Aber ja doch.« Barrys Lächeln zeigte seine spitzen, winzigen Reißzähne. Er ließ meine Hand los. Ein Minivampir. Offenbar gab es sie in allen Größen und Arten. »Sie sind ein Vampir?« »Aber selbstverständlich.« Ich seufzte. »Gut. Ich habe so viele Fragen, dass ich...« Er winkte beschwichtigend mit der Hand. »Alles zu seiner Zeit. Sind Sie bereit für die Tour?« Ich starrte ihn einen Moment an. »Ich... Ja, ich schätze schon.«
Er grinste, trat zu einer der weißen Türen und öffnete sie. Dahinter befanden sich eine Toilette, ein Waschbecken, drei Spinde und eine Holzbank. 61 »Der Umkleideraum«, verkündete Barry. »Ah.« Er schloss die Tür und trat zu der anderen. Dahinter befanden sich zwei Sonnenbänke, die offenbar nicht benutzt wurden. Ein schmutziges Handtuch lag zusammengerollt in einer Ecke. Und neben der Tür stand eine weitere traurige Plastikpalme. »Der Raum mit den Sonnenbänken.« Er machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm, als würde er mir etwas besonders Beeindruckendes zeigen. »Angestellte können sich kostenlos bräunen.« »Vampire benutzen Sonnenbänke?«, fragte ich ungläubig. »Aber ich dachte...« Barry unterbrach mich mit einem Winken. »Bitte unterbrechen Sie mich nicht.« Barry Jordan strapazierte meine Begeisterung über seine Tourleitung relativ rasch. Er zog die Tür mit einem Klicken zu und trippelte an mir vorbei zur letzten Tür. Ich hob eine Hand, um ihn aufzuhalten. »Hören Sie, ich will Ihre Zeit nicht länger verschwenden. Ich bin absolut nicht an den Geheimnissen eines Sonnenstudios interessiert, nichts für ungut.« »Aber das hier wollen Sie sich bestimmt nicht entgehen lassen, davon bin ich überzeugt.« Er wirkte extrem
enttäuscht. Selbst seine Fliege schien ein bisschen herunterzuhängen. Ich seufzte ungeduldig. »Also gut. Bringen wir es hinter uns.« Er nickte, rückte seine Fliege gerade und öffnete die Tür. Eine Woge von Stimmen, lauter Musik, Rauch und Dunkelheit schien in den Empfangsbereich zu schwappen, und 62 mir klappte der Kiefer herunter bei dem Anblick, der mich erwartete. »Das ist das eigentliche Midnight Eclipse«, sagte Barry stolz. »Nur für Vampire.« Ich blinzelte fassungslos. Was auch immer ich hinter dieser Tür erwartet hatte, das jedenfalls nicht. Andererseits war es nur vollkommen logisch. Ein Nachtclub für Vampire. Ein Ort, an dem sie sich nach einem anstrengenden Tag erholen konnten, an dem sie hart geschuftet hatten, um der Sonne und spitzen hölzernen Gegenständen auszuweichen. Nach einem Moment hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Eine lange, schwarz lackierte Bar zog sich an der gesamten linken Wand entlang. Nischen und Tische mit sexy roten Tischtüchern und roten Lampen standen ihr gegenüber. Am anderen Ende des Raumes befand sich eine kleine Bühne, auf der zu den gemurmelten Unterhaltungen der Clubgäste eine wunderschöne, schwarzhaarige Bettie-Page-
Doppelgängerin gerade eine heisere Version von »Fever« zum Besten gab. »Haben Sie schon mal als Kellnerin gearbeitet?«, erkundigte sich Barry. »Auf dem College«, erwiderte ich kaum hörbar. »Aber ich bin sicher, dass ich es schnell wieder lerne.« »Gut.« Ich klappte meinen Mund zu. »Moment mal. Vergessen Sie's. Ich will hier nicht arbeiten.« »Ich dachte, Sie wollten sich hier um einen Job bewerben.« »Nein. Ich muss mit Thierry sprechen.« »Thierry?«, erwiderte Barry geschockt. »Sie meinen den Meister« 63 »Den Meister?« »Sagen Sie das nicht so.« »Wie, so?« »Ohne Respekt. Der Meister muss respektiert werden.« Ich betrachtete erneut den Club. Mittlerweile waren einige Gäste auf mich aufmerksam geworden, und ich erntete neugierige Blicke von den versammelten Vampiren. Es war schon merkwürdig, denn hätte man mir nicht erzählt, dass sie alle Geschöpfe der Nacht wären, hätte ich das niemals vermutet. Sie wirkten auf mich völlig normal. Oder jedenfalls nicht wie Gothics. Es gab kein einziges teigiges Gesicht oder schwarzes Marilyn-Manson-Outfit. Barry holte tief Luft und zauberte erneut ein strahlendes Lächeln auf sein Gesicht. »Sie sind ein Zögling. Er erwähnte, dass Sie keinen Schöpfer mehr haben, also sind solche Fehltritte natürlich nur zu erwarten.«
»Fehltritte?« Meine Geduld nahm rapide ab. »Hören Sie, Smoking-Ständer, ist Thierry hier oder nicht?« Das Lächeln verschwand erneut von seinem Gesicht, und seine Augen funkelten mich böse an. Mist. Ich wollte nicht, dass ihm noch eine Blutader platzte oder so was. »Barry.« Die tiefe, gelassene Stimme kam von links. »Es ist in Ordnung. Du kannst Miss Dearly jetzt mir überlassen.« Der Klang dieser Stimme löste einen Schauer auf meinem Rücken aus wie der erste Schluck Tequila auf der Erstsemesterfeier. Schockierend, unerwartet, aber keineswegs unangenehm. Ich drehte mich um, auch wenn ich wusste, wer es war. Der Meister. Er sah anders aus als gestern Nacht. Beherrschter. Weniger selbstmörderisch. Sein dunkles, fast schwarzes Haar war 64 zurückgekämmt. Er hatte kräftige Wangenkochen, eine gerade Nase und ein kräftiges, mit modischen Bartstoppeln bestücktes Kinn. Auf seinen vollen Lippen zeigte sich natürlich nicht das geringste Lächeln, und die grauen, fast silbernen Augen beobachteten mich, als wäre ich die einzige Person im Club. Er war, im Unterschied zu den Gästen, total in Schwarz gekleidet. Er trug ein Button-down-Seidenhemd, das am Hals offen stand, ein schwarzes Jackett und eine schwarze Anzughose. Das machte sein Gesicht noch blasser, aber es war trotzdem nicht unattraktiv und wirkte kein bisschen
teigig. Er strahlte aus jeder Pore Macht aus, eine innere Energie, bei der mich bis zu den Zehenspitzen ein Kribbeln überlief. Halleluja! »Sarah«, sagte er. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie kommen würden.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Und doch bin ich da.« Barry stieß einen erstickten Laut aus, und ich zog ein Gesicht. Vermutlich wollte er, dass ich mich vor dem Meister verbeugte oder so was. Darauf konnte er lange warten. Thierrys Blick glitt zu dem kleinen Mann. »Sei so nett und bring Miss Dearly und mir etwas zu trinken.« Barry verbeugte sich, dieser kleine Arschkriecher. Dann verschwand er in Richtung Bar. Thierry legte seine Hand unter meinen Ellbogen und steuerte mich zu einer Nische. »Bitte setzen Sie sich«, sagte er. Ich setzte mich. Er glitt mir gegenüber auf die Bank und sah mir in die Augen. »Ich kann mir vorstellen, dass dies alles ziemlich überwältigend für Sie sein muss.« »Das kann man wohl laut sagen.« Ich lehnte mich zurück 65 und bemühte mich, angesichts der Situation so locker wie möglich zu wirken. »Ich dachte, das hier wäre ein Sonnenstudio?«
Er hob seine dunklen Brauen. »Das ist es auch. Aber wie Sie ja selbst sehen, ist es noch viel mehr. Der frühere Besitzer hielt es für einen sehr ironischen Witz. Ein Vampirclub hinter der Fassade eines Sonnenstudios.« »Sehr witzig.« Thierry lächelte nicht. Ich schluckte und versuchte meine Nervosität loszuwerden. »Also gehört Ihnen dieser Laden, ja?« »Ja.« »Cool.« Er ließ sich nicht anmerken, ob er es cool fand. Ich lächelte gezwungen. »Hören Sie, ich habe einen Haufen Fragen an Sie wegen dieser Vampir-Sache.« »Ah. Dann glauben Sie also immerhin bereits, dass dies kein Traum ist?« Ich wich seinem Blick aus und konzentrierte mich darauf, eine Falte in der roten Tischdecke zu glätten. »Ehrlich gesagt habe ich tatsächlich geglaubt, es wäre ein Traum. Ich war sogar fest davon überzeugt. Jedenfalls bis heute etwas sehr Sonderbares passiert ist.« »Was ist passiert?« Ich war verlegen, aber gleichzeitig wollte ich unbedingt zu den Fragen kommen, die mir auf der Seele brannten, also schilderte ich ihm kurz die Episode mit dem Fingernuckeln. Ob er sich darüber amüsierte, ließ er sich nicht anmerken. »Das ist zu erwarten«, meinte er, als ich fertig war. »Ihr Körper verlangt jetzt nach Blut. Sie haben einfach instinktiv reagiert.« 66
»Aber ich will diesen Instinkt nicht. Wie kann ich ihn abstellen?« Diese Bemerkung hätte mir fast ein Lächeln eingebracht. Fast. »Man kann ihn nicht abstellen.« Barry trat mit zwei Drinks auf einem Tablett an unseren Tisch. Vor Thierry platzierte er ein Martiniglas mit einer dunkelroten Flüssigkeit. »Ihr üblicher Drink, Meister. Und einen Zögling-Spezial.« Er stellte einen weiteren Energiedrink für Vampire vor mich. Leicht rosafarbenes Wasser. Ich knirschte mit den Zähnen und sah Thierry an. »Muss ich?« »Nein.« Mein Blick glitt wieder zu dem verdünnten Blut. »Wenn ich es nicht trinke, bekomme ich wieder diese höllischen Kopfschmerzen, richtig?« Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Das ist richtig.« »Also gut, dann runter damit!« Ich trank einen Schluck. Verdammt, schmeckte das fantastisch! Ich bot gewiss ein Bild der Peinlichkeit, aber he, wenigstens war es besser, als an Fingern zu nuckeln. Nach einem Moment stellte ich das leere Glas auf den Tisch zurück, schmatzte und wischte mir den Mund mit dem Handrücken ab. »Gut?«, erkundigte sich Thierry. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wollte kein Blut trinken.« »Es sah eben aber nicht so aus, als hätten Sie damit Schwierigkeiten.«
Ich warf ihm einen giftigen Blick zu. »Man tut, was man tun muss.« 68 »Das stimmt.« Seine Lippen zuckten. Es war fast ein Lächeln. Schön zu wissen, dass er mich amüsant fand. »Also bin ich wirklich ein Vampir?«, erkundigte ich mich. »Ein echter?« »Ja.« »Aber ich habe noch ein Spiegelbild.« Ich fuhr mit der Zunge über meine Zähne. »Und ich habe noch keine langen Reißzähne.« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Sie sind noch jung, ein Zögling, fast noch ein Küken. Es dauert, bis sich diese Dinge entwickeln.« Ich runzelte die Stirn. »Also, wenn mir all das wirklich passiert, bedeutet das, alles, was letzte Nacht geschehen ist, war auch real. Gordon wurde wirklich umgebracht.« »Ich fürchte, ja. Mein Beileid zu Ihrem Verlust.« Meine Unterlippe zitterte bei der Erinnerung ein wenig. »Er war ein Vollidiot. Aber er hatte nicht verdient zu sterben.« Ich berührte meinen Hals. Die Bisswunde war fast vollkommen verheilt. »Warum hat er mich gebissen?« »Er hätte es nicht tun sollen. Jedenfalls nicht, wenn er es nicht vorher mit Ihnen besprochen hat.« »Wenn er es mit mir besprochen hätte, hätte ich Nein gesagt. Abgesehen davon hätte ich auch zu allem anderen Nein gesagt, was er vorhatte. Es war wirklich nicht gerade Liebe auf den ersten Blick.« Es überlief mich kalt, als ich
daran dachte, was passiert war. »Trotzdem hätte ihm so etwas nicht zustoßen dürfen. Der arme Gordon.« »Die Jäger sind sehr gefährlich.« Ich spannte mich an. »Wer sind diese Jäger eigentlich? Halten sie sich für eine Bande von Buffy, der Vampirjägerin? Wer 69 gibt ihnen das Recht, herumzulaufen und Leute umzubringen?« Er hob das Glas an die Lippen und trank einen Schluck, bevor er mir antwortete. »Die Jäger glauben, dass sie der Welt einen Gefallen erweisen, weil sie die Menschheit von einem Übel befreien.« Er lächelte. Das war ein echtes Lächeln, aber alles andere als liebenswürdig. »Sie werden sich niemals davon überzeugen lassen, dass wir ihre Aufmerksamkeit nicht verdienen. Dass wir nicht die Monster sind, für die sie uns halten.« »Wie können wir sie aufhalten?« Er sah mich an, und ich war sprachlos über die Intensität seines Blickes, vor allem jetzt, als wir über die Jäger redeten. »Das können wir nicht. Wir gehen ihnen während der Jagdsaison einfach nur so gut wie möglich aus dem Weg.« »Jagdsaison?« »Ja. Die Hauptgruppe der Jäger zieht durch die Welt, überall dorthin, wo Vampire Gemeinschaften gebildet haben. Wie hier in Toronto. Es gibt zwar immer einige, die bleiben, aber der größte Teil zieht alle paar Monate zu
einem anderen Ort weiter. Im Moment sind wir an der Reihe, also müssen wir noch vorsichtiger sein als üblich.« »Aber es muss doch möglich sein, mit ihnen zu reden, ihnen zu sagen, dass ihr Verhalten falsch ist...« »Nein«, unterbrach er mich. »Das ist nicht möglich. Wir können ihnen nur aus dem Weg gehen und dürfen nicht leichtsinnig sein.« »Oder sie rammen uns ihre Holzpflöcke ins Herz. Woraufhin wir uns in glibbrige Pfützen verwandeln, so wie Gordon.« Thierry sah mich verwirrt an. »Glibbrige Pfützen?« »Als die Jäger Gordon getötet haben, hat er sich in eine Pfütze aus Glibber aufgelöst. Ich habe früher gedacht, dass 70 Vampire zu Staub zerfallen, aber das muss wohl am Fernsehen liegen. Ziemlich krass jedenfalls.« »Wie wir sterben, wird dadurch bestimmt, wie lange wir gelebt haben. Sollten Sie so leichtsinnig sein, dass ein Jäger Sie töten kann, werden Sie sich nicht in Glibber auflösen.« Er verzog bei dem Wort das Gesicht. »Sie werden einfach sterben. Ihr Schöpfer muss sehr alt gewesen sein. Erst dann verfallen sie nach ihrem Vampirtod, etwa so, wie man auch als Mensch verwesen würde.« »Puh!« Ich schüttelte mich. »Die Jäger haben echt gründliche Arbeit bei Gordon geleistet. Es war schrecklich. Er muss sehr schwer zu töten gewesen sein.«
Thierry schüttelte den Kopf. »Es erfordert nur einen tödlichen Hieb ins Herz mit einem hölzernen oder silbernen Objekt. Alles andere, was die Jäger tun, machen sie zu ihrem eigenen, perversen Vergnügen.« Ich schwieg eine Weile, während ich über all das nachdachte, was ich gerade gehört hatte. Ein Vampir zu sein klang außerordentlich gefährlich. Und hatte nur wenig Pluspunkte. Andererseits musste ich das Positive sehen. Es war möglicherweise gar nicht so schlecht, ein Vampir zu sein, bis auf die Sache mit den Jägern natürlich. Immerhin gab es diese Geschichte mit dem Nichtaltern. Das hörte sich irgendwie gut an. Und die anderen Gäste in dem vollen, rauchgeschwängerten Club wirkten auf mich recht zufrieden. Sie benahmen sich wie normale Leute, nur dass sie für ewig jung und hübsch sein würden. Thierry beobachtete mich eine Weile schweigend. »Ich habe das Gefühl, es wäre das Beste, wenn Sie hier einen Job annehmen würden, im Midnight Eclipse.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich arbeite nicht als Kellnerin.« 71 »Das müssen Sie auch nicht, wenn Sie nicht wollen. Es gibt genug Beschäftigungen für Sie. Vielleicht als Hostess?« »Warum machen Sie das? Ich meine, warum bieten Sie mir einen Job an?« Er ließ mich warten, während er noch einen Schluck trank. »Sie sind zur Zeit arbeitslos, richtig?«
»Ja, aber wer sagt, dass im Moment nicht fünfzig Leute an meine Tür hämmern und mich händeringend anflehen, für sie zu arbeiten?« »Was haben Sie auf ihrer letzten Arbeitsstelle getan?« Diesmal ließ ich mir Zeit mit der Antwort. »Es klingt nicht sonderlich glamourös, aber immerhin war ich ChefVorstandsassistentin.« Thierry musterte mich ausdruckslos. »Sie haben recht. Es klingt nicht sonderlich glamourös.« Ich knabberte auf meiner Unterlippe herum. »Hören Sie, vielleicht war es doch ein Fehler, hierherzukommen.« Als ich aufstand und gehen wollte, streckte Thierry den Arm aus und hielt mich am Handgelenk fest. »Bleiben Sie. Und setzen Sie sich.« Etwas an der Art, wie er das sagte, ärgerte mich. Ich versuchte meinen Arm loszureißen, aber Thierry war zu stark. »Ich muss gar nichts. Lassen Sie mich los.« Er hielt mich noch eine Sekunde fest und ließ mich dann so schnell los, dass ich fast rücklings auf die Couch gefallen wäre. »Ich mache mir nur Sorgen um Ihre Sicherheit.« »Was interessiert Sie meine Sicherheit?« Ich war plötzlich sehr gereizt. »Sie kennen mich nicht einmal. Nur weil ich Ihren Selbstmordversuch gestern Nacht vereitelt habe...« Seine Augen blitzten, und allein schon seine Miene hielt mich davon ab, weiterzusprechen. 72 »Sie werden das nie wieder erwähnen.«
Es war verblüffend, wie schnell sich sein attraktives Gesicht in eine furchteinflößende Maske verwandeln konnte. Diesen Mann wollte ich nur äußerst ungern gegen mich aufbringen. Ich schluckte und setzte mich wieder an den Tisch. »Tut mir leid. Was Sie mit Ihrem Leben machen wollen, geht mich nichts an. Ich suche nur...«, ich hielt inne und beschloss, den Satz neu zu formulieren. »Alles, worum ich bitte, ist etwas Hilfe.« Er starrte mich einen Augenblick an, und ich spürte, wie sein Ärger verebbte. »Ich dachte, Sie wüssten bereits alles von Ihrer Freundin Anne Rice. Und dieser Buffy.« »Das war aber, bevor ich angefangen habe, den Finger meiner Chefin als Kauspielzeug zu benutzen.« Er trommelte mit den Fingern auf das Tischtuch. »Und was kann ich für meine Hilfe erwarten?« Ich lehnte mich zurück und präsentierte ihm mein strahlendstes Lächeln. »Meine Freundschaft.« Er überraschte mich wirklich, als er den Kopf in den Nacken warf und lange und laut lachte. »Ihre Freundschaft? Wie kommen Sie darauf, dass ich so etwas brauche oder überhaupt will?« Ich zuckte mit den Schultern. »Nur so eine Ahnung.« »Ihre Ahnung trügt Sie.« Ich wollte mich nicht entmutigen lassen. »Also gut, wie war's damit: Diese Jäger wollten mich gestern Nacht umbringen. Sie haben mir das Leben gerettet. Also sind Sie für mich verantwortlich, ob Sie es wollen oder nicht!«
Das ernüchterte ihn ein bisschen. Er musterte mich langsam, von meinem frisch gewaschenen, schulterlangen braunen Haar, das ich mir hinter die Ohren gesteckt hatte, über mein 74 Make-up-freies Gesicht und meinen Hals bis zu meinem Diva-T-Shirt. Die Sternchen schienen ihn aus seiner Benommenheit zu reißen. Sein Blick zuckte zu meinem Gesicht zurück. »Es gibt einen Grund, warum jemand, der so alt ist wie ich, keine Zöglinge erschafft.« Seine Stimme klang ernst; jede Spur von Belustigung war daraus verschwunden. »Sie haben mich ja gar nicht erschaffen«, erwiderte ich. »Aber Sie dürfen mich gern jederzeit adoptieren.« Ich versuchte niedlich auszusehen, gab jedoch rasch auf. Ich hätte mir wirklich zehn Minuten Zeit für ein bisschen Make-up nehmen sollen. Ich hatte das bedenkliche Gefühl, als würde meine Haut vor Schweiß glänzen. Als er nichts sagte, wurde mir unbehaglich, sehr unbehaglich zumute. Immerhin, ich saß in einem geheimen Vampirclub in einem ziemlich miesen Viertel der Stadt einem sechshundert Jahre alten Vampir gegenüber, den die anderen »Meister« nannten. Ich hatte wohl das Recht auf ein bisschen Beklommenheit. Ich stand auf. Es war besser, freiwillig zu gehen, als noch weitere Peinlichkeiten zu riskieren. »Ich gehe dann jetzt wohl.« Ich erwartete fast, dass er mich erneut festhielt und verlangte, dass ich blieb. Tat er aber nicht.
Ich schob eine besonders widerspenstige Strähne meines Haares hinter mein Ohr und nickte. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich mich immer von Ihnen verabschiede.« Thierry sagte etwas, aber ich verstand es nicht. »Was?« Ich beugte mich vor. Er blickte zu mir hoch. »Dann tun Sie es doch einfach nicht.« »Was soll ich nicht tun?« 75 »Sagen Sie nicht Auf Wiedersehen.« Er sah sich in dem Club um. Die Sängerin machte gerade Pause, und die Band spielte ein Instrumentalstück. Ich wartete, ohne mich zu setzen oder zur Tür zu gehen, bis er weitersprach. »Ich nehme Ihr Angebot an«, meinte er schließlich. »Unter einer Bedingung.« Ich bemühte mich, meine Überraschung zu verbergen. »Welche Bedingung?« Er sah mich an, bannte mich förmlich mit dem intensiven Blick seiner silbernen Augen. »Sie müssen Ihr altes Leben hinter sich lassen.« »Was genau bedeutet das?« »Sie haben erlebt, wie gefährlich es ist, ein Vampir zu sein. Sie sind nicht mehr dieselbe Person, die Sie gestern noch waren. Was Sie einst für die Realität hielten, existiert jetzt nicht mehr. Suchen Sie sich eine neue Wohnung. Sagen Sie sich von Ihren Freunden und Ihrer Familie los. Am besten wäre es, wenn Sie keinerlei
Kontakt mehr zu ihnen hätten. Tun Sie, was ich von Ihnen verlange, dann gelingt es Ihnen vielleicht, den Jägern zu entkommen.« Ich sah ihn finster an. »Das weiß ich nicht so genau. Warum kann ich nicht dort bleiben, wo ich bin, und nur besonders gut aufpassen, wenn ich rausgehe? Welchen Unterschied macht das schon?« »Den entscheidenden Unterschied.« Thierry stand auf. Er überragte mich um mehr als einen Kopf. Seine Stirn war ein Meer aus Falten, so sehr runzelte er sie. Mir schoss unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, ob er sich jemals entspannte und sich amüsierte. Vielleicht Urlaub in einem warmen, tropischen Land machte. Das war höchst unwahrscheinlich. 76 »Das Leben eines Vampirs ist mit dem Leben eines normalen Menschen absolut unvereinbar. Es ist viel zu gefährlich.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich fühle mich genauso wie immer. Nichts hat sich geändert.« »Alles hat sich geändert. Sie fühlen es nicht, weil es noch zu neu für Sie ist.« »Aber...« Er hob die Hand. »Kein aber, Sarah. Das ist meine Bedingung. Wenn Sie nicht tun wollen, was ich von Ihnen verlange, dann kann ich Ihnen nicht helfen.« Mir gefiel das überhaupt nicht. Mein Leben war alles andere als perfekt, zugegeben, aber ich war nicht bereit, auch nur ein Stück davon aufzugeben. Es war tröstlich
und vertraut. Und jetzt sollte ich dem allen den Rücken kehren, nur weil ich ein neues, kleines Suchtproblem hatte in Form von rosafarbenem Wasser? Andererseits war mir klar, dass ich Thierrys Hilfe benötigte. Wenn ich wirklich ein Vampir war, war er mit Sicherheit derjenige, der mir am besten helfen konnte. Außerdem war er ein heißer Typ. Vermutlich brauchte ich seine Hilfe nur zwei Wochen oder so. Bis ich die Grundlagen gelernt hatte. Dann würde ich mir einen neuen Job suchen und weiterleben wie zuvor. Kein Problem. Natürlich würde ich Thierry nichts davon erzählen. »Ich akzeptiere«, erwiderte ich entschlossen und strahlte ihn an. »Gut. Kommen Sie morgen Abend hierher zurück, dann werde ich für Sie tun, was ich kann, Sarah. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.« »Versuchen Sie bloß nicht, so schrecklich positiv zu klingen.« 77 Er nickte knapp und entschieden. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Damit wandte er sich um, ging durch den Club und verschwand durch eine Tür hinter der anderen Seite der Bar. Ich stemmte eine Hand in meine Taille. »Ja, bis später.« An dem herzlichen, lockeren Teil mussten wir noch arbeiten. Ich schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Lachen. Ich hatte mich gerade bereit erklärt, mir von einem mehrere Jahrhunderte alten Vampir beibringen zu
lassen, wie ich das Leben, das ich kannte, aufgeben konnte. Meine Mutter wäre bestimmt stolz auf mich. 5 Als ich das Midnight Eclipse verließ, fühlte ich mich ein bisschen angespannt. Vielleicht auch mehr als nur ein bisschen. Sicher, Thierry hatte zugestimmt, mir zu helfen, aber das löste meine anderen Probleme nicht. Ich wusste immer noch nicht, was ich Amy sagen sollte, warum ich gefeuert worden war. Sollte ich ihr verraten, dass ich mich in einen Vampir verwandelt hatte? Würde sie dann noch mit mir in Urlaub fahren wollen? Und sollte ich mir eine Ausrede ausdenken, damit ich nicht zu der Hochzeit musste? Wenn ja, würde meine Cousine Missy vermutlich einen Holzpflock suchen und ihn mir eigenhändig ins Herz rammen. In diesem Moment sah ich das Neonschild einer Bar auf der anderen Seite des Vampirclubs. Nach kurzem Nachdenken überquerte ich die Straße und ging in den Club. Ich musste 78 ohnehin ein Taxi rufen, also konnte ich mir auch in der Wartezeit einen Drink genehmigen, der nicht auf Blut basierte. Klang wie ein guter Plan. Die Bar hieß Clancy's. Ich hatte noch nie von ihr gehört. Und es war auch kein sonderlich angesagter Ort. Im Grunde bestand sie aus einem Tresen mit Barhockern, ein paar Stehtischen, Hockern und zwei Poolbillardtischen, die ins rückwärtige Ende verbannt waren. Die schicke
Einrichtung verschwand hinter einer dichten Wolke aus Zigarettenrauch und Qualm von weniger legalem Tabak. Ich marschierte zielstrebig zum Münztelefon und bestellte ein Taxi. Dann schnappte ich mir einen Hocker an der Bar. Der Barkeeper, ein Bulle von einem Mann, der über dreihundert Pfund wiegen musste, nahm meine Bestellung entgegen. Ich entschied mich für eine Bloody Mary. Was hätte ich nach einem Abend wie diesem auch sonst bestellen sollen? Zwei Stühle neben mir hockte ein Mann, der in sein Glas mit dunklem Bier starrte, als fände er dort die Antworten auf die Rätsel des Universums. Er war allein. Und eigentlich ziemlich süß. Er trug eine verblichene Jeans und ein grünes T-Shirt, sein Haar war dunkelblond und etwas zerzaust. Er hatte ein attraktives, aber etwas jungenhaftes Gesicht. Offenbar spürte er, dass jemand ihn beobachtete, denn er schaute mich nun an mit dunkelblauen Augen. »Sie sehen aus, als wäre gerade Ihr Hund gestorben«, erklärte ich. Normalerweise sprach ich in fremden Bars keine Männer an, es sei denn, ich hatte weibliche Verstärkung dabei. Aber ich wollte mich nur kurz hier aufhalten, und nach der gezwungenen Unterhaltung mit Thierry war ich irgendwie gesprächig. 79 »Tatsächlich?«, erwiderte er. »Vermutlich ist es einfach nur ein mieser Tag.« »Verstehe.« Sein Blick glitt zu meiner Brust hinunter. Normalerweise hätte mich das beleidigt, aber ich trug das Diva-Shirt mit
der Sternchen-Applikation. Es wirkte wie ein Hinweispfeil mit der Aufschrift: »Sieh her!« »Nettes T-Shirt.« »Danke.« Das brachte mir ein Lächeln ein. Es war ein tolles Lächeln, aber seine Augen waren immer noch traurig. »Und wie war sein Name?«, erkundigte ich mich. »Wessen Name?« »Der Ihres Hundes. Der gestorben ist.« Er grinste. »Nein, kein Hund. Nur familiäre Probleme, denke ich. Nichts wirklich Interessantes. Ich bin nur hier, um meine Sorgen zu ertränken.« Er blickte wieder auf sein Bier. »Sie fangen es falsch an. Wenn Sie Ihre Sorgen ertränken wollen, müssen Sie Tequila trinken. Bier vergrößert sie nur.« »Stimmt das wirklich?« »Ich hab's ausprobiert. Es stimmt.« Sein Grinsen verstärkte sich. Er rutschte einen Hocker näher zu mir. Je näher er mir kam, desto besser sah er aus. Nicht so gut wie Thierry, bei dessen Anblick man tot umfallen könnte - nichts für ungut, aber er rangierte in der »Heißer-Typ«-Kategorie trotzdem weit oben. Er reichte mir seine Hand. »Ich bin Michael Quinn. Meine Freunde nennen mich einfach nur Quinn.« Ich erwiderte sein Lächeln und schüttelte seine Hand. »Sarah Dearly.« Quinn winkte dem Barkeeper. »Zwei Tequila bitte. Mit Zi 80
trone.« Dann sah er mich wieder an. »Also, was macht ein so nettes Mädchen in einem Laden wie dem hier?« Ah, ja. Dieser Spruch kam nie aus der Mode. Ich beschloss, ihn durchgehen zu lassen. »Wie kommen Sie darauf, dass ich nett bin?« »Wollen Sie behaupten, dass Sie es nicht sind?« »Oh, ich bin nett. Sehr nett. Jedenfalls zu den richtigen Leuten.« »Und zu den anderen?« Ich versuchte ernst zu bleiben. »Gar nicht nett.« »Gut zu wissen.« Ein kalter Windstoß traf mich, als die Tür aufging. Ich sah hin. Drei Männer betraten die bereits gut gefüllte Bar. Sie winkten Quinn zu, und er erwiderte ihren Gruß. Die Tequilas wurden serviert, mit etlichen Zitronenscheiben auf einem extra Teller. Quinn zog einen Salzstreuer heran. »Also das hier funktioniert, ja?« »Bei einem kann ich nicht viel versprechen, aber wir könnten es versuchen.« »Worauf wollen wir trinken?« Ich dachte kurz nach. »Auf einen neuen Anfang.« »Das klingt gut. Auf einen neuen Anfang.« Wir kippten den Tequila hinunter, lutschten eine Zitronenscheibe aus und lächelten uns an. Nach zehn Minuten war das Taxi immer noch nicht da, und wir hatten gerade unseren dritten Tequila hinuntergekippt. Mittlerweile hatte ich entschieden, dass Michael Quinn mein neuer bester Freund war. Ein Teil meines neuen Lebens sein würde. Mit anderen Worten,
ich war nahezu völlig betrunken. Alkohol konnte ich noch nie gut vertragen. 82 »Worauf trinken wir diesmal?« Quinns Stimme klang etwas undeutlich, als die vierte Runde serviert wurde. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Bier er bereits getrunken hatte, bevor ich hereingekommen war. »Auf mein neues Leben«, erwiderte ich. »Neues Leben?« Er hielt das Glas etwas zittrig in seiner rechten Hand. »Können Sie das näher ausführen, Sarah Dearly?« Ich nickte. »Klar, kann ich. Auf mein neues Leben als Vampir, das vermutlich kein Ende haben wird.« Ich hob mein Glas. »Auf mein neues Leben als Unsterbliche. Mögen meine Rentenpläne sich für mich auszahlen.« Quinn nickte. »Auf Sarah, die ein Vampir ist.« Er stieß mit mir an und kippte den Tequila hinunter. »Ja!« Ich versuchte, das Glas ebenfalls in einem Zug zu leeren, aber das meiste davon landete auf meinem TShirt. »Und jetzt sag ich Ihnen was...«, Quinn stützte den Ellbogen auf den Tresen, damit er sich gegen seine Hand lehnen konnte, »... Sie sollten über so etwas wirklich keine Witze machen.« »Über was?« »Dass Sie ein Vampir sind. Darüber scherzt man nicht.« »Wer sagt, dass ich scherze? Ich bin ein Vampir.« »Nein, sind Sie nicht.«
»Bin... ich... wohl.« Ich grinste albern, während ich Quinn ansah. Er starrte mich mit einem glasigen Blick an. »Sie sind ein Vampir.« »Genau.« »Sie sehen aber nicht aus wie ein Vampir.« Ich runzelte die Stirn. »Und wie soll ein Vampir Ihrer Meinung nach aussehen, hm?« 83 »Weiß nicht.« Quinn lehnte sich auf seinem Hocker zurück und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Irgendwie ausgeglichener. Ganz in Schwarz gekleidet. Und die langen Reißzähne! Sollten Sie nicht lange Reißzähne haben?« Ich versuchte, auf dem Hocker meine Beine übereinanderzuschlagen. Es stimmte, ein funkelndes Diva-T-Shirt und rosafarbene, knallenge Yogapants schrien nicht gerade »Geschöpf der Nacht«. Ich musste so schnell wie möglich ins Einkaufszentrum und meine Garderobe erweitern. »Schwarz macht mich zu blass«, erklärte ich. »Und angeblich dauert es etwas, bis die Reißzähne wachsen.« »Verstehe.« Er schien darüber nachzudenken. »Also glauben Sie mir?« »Ja.« Er griff in die Tasche seiner Jacke, die über dem Stuhl hing, und zog einen Holzpflock heraus, den er vor sich auf den Tresen legte. »Ich denke schon.« Als ich den Pflock sah, wurde ich schlagartig nüchtern. Genau die gleichen hatten Strahlezahn und seine Jungs
letzte Nacht benutzt, um Gordon vor dem Friedhof in eine dunkle Pfütze aus Glibber zu verwandeln. Ich Ärmste. Mein erster Impuls war es, mir die Lunge aus dem Leib zu schreien, stattdessen jedoch zwang ich mich zu einem Lachen - das ein wenig zu hysterisch klang, als dass es wirklich aus einem unbeschwerten Herzen hätte perlen können. »Sagte ich, ich wäre ein Vampir? Zu komisch. Ich muss eigentlich meine Medikamente einwerfen. Wo hab ich sie doch gleich?« Ich klopfte auf meine leeren Taschen. »Wahnvorstellungen, wissen Sie. Gemeine, flüchtige Bilder in meinem verrückten Hirn. Gestern habe ich mich doch allen Ernstes für Marie Antoinette gehalten.« 84 »Schon klar.« Quinn starrte mich an. »Wahnvorstellungen. Sicher.« »Jedenfalls war es toll, Sie kennenzulernen und so weiter. Und danke für die Drinks.« Ich warf einen Blick auf die leeren Schnapsgläser und meine halb getrunkene Bloody Mary, die, wenn ich jetzt so darüber nachdachte, keine so gute Wahl gewesen war. »Ich sollte wohl besser in die Psychiatrie zurückschleichen, bevor sie mein Fehlen bemerken.« »Sie gehen nirgendwo hin.« »Nein?« Ich verzog das Gesicht, als mein Blick wie magnetisch angezogen zu dem sehr spitzen Pflock zuckte.
Das war nicht gut. Gar nicht gut. Mir drängte sich der Gedanke auf, dass Quinn möglicherweise doch nicht mein neuer bester Freund werden würde. Nennen Sie es eine Vorahnung. Er beugte sich so dicht zu mir, dass ich seinen alkoholgeschwängerten Atem sowohl fühlen als auch riechen konnte. »Ich töte Vampire, wissen Sie. Deshalb bin ich hier. Ich töte gern böse Kreaturen, und ich bin verdammt gut darin.« »Dann ist es ja ein richtiges Glück, dass ich vorhin nur einen Scherz gemacht habe, nicht wahr? Dass ich ein Vampir wäre, meine ich. Ich muss jetzt wirklich los.« Ich wollte an ihm vorbeigehen, aber sein Arm hielt mich auf. Er war so solide wie eine Eisenstange. »Gehen wir nach draußen und machen es richtig.« Quinn hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Sie waren richtig gemein. Von der charmanten Liebenswürdigkeit, die noch vorhin in seinem Blick gelegen hatte, und seinem flirtenden Verhalten war nichts mehr zu erkennen. Ich sah mich in der Bar um, ob mir jemand helfen könnte, aber von den anderen Gästen schien sich niemand für uns zu interessieren. 85 Als ich mich umdrehte, begegnete ich Quinns Blick. »Ich bin nicht böse. Bitte tun Sie mir nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Zu schade. Sie wirkten so normal. Wenn Sie es mir nicht erzählt hätten, wäre ich nie darauf gekommen.«
»Können wir das Ganze nicht einfach vergessen?«, schlug ich hoffnungsvoll vor. »Nein.« Jetzt hatte ich wirklich Schiss. Es war schon das zweite Mal in zwei Nächten, dass ich von einem Verrückten in die Enge getrieben wurde, der mich umbringen wollte. Ob das eine Art Rekord war? Ich war nicht mal vierundzwanzig Stunden lang Vampir, bevor man mich, wie nannten sie es?, ach ja, »exterminierte«. Irgendwie machten sie echt zu viel Aufhebens um dieses ganze Unsterblichkeitsding. »Gehen wir nach draußen«, sagte Quinn. Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Niemals. Mit Ihnen gehe ich nirgendwo hin.« »Dann wird das hier ziemlich eklig.« Ich schluckte und schämte mich, weil mir Tränen über die Wangen liefen. »Was ist mit den anderen Gästen? Sie haben sicherlich etwas dagegen, wenn Sie anfangen mich mit einem Holzpflock zu misshandeln.« Er sah sich kurz um und richtete seinen Blick wieder auf mich. Seine finstere Miene veränderte sich kein bisschen. Vielleicht hielt er meine Tränen ja für falsch. Oder er war einfach nur ein Arschloch. Ich wettete auf Letzteres. »In jeder anderen Bar lägen Sie mit Ihrer Vermutung richtig. Aber Sie waren so dumm, sich ausgerechnet den lokalen Treffpunkt für Vampirjäger auszusuchen. Ich kenne die meisten anderen Gäste hier.« 86
Ich riss die Augen auf. Der lokale Treffpunkt für Vampirjäger lag direkt gegenüber von Thierrys geheimem Vampirclub? Miese Planung, oder? Quinn packte meinen Oberarm so fest, dass ich fürchtete, er würde ihn mir ausreißen. Er ging kein Risiko ein. Schließlich könnte ich ja auch mit Super-Vampirkräften ausgestattet sein oder so was. He, vielleicht war ich das ja! Ich nahm alle Kraft zusammen und konzentrierte mich darauf, mich von ihm loszureißen und ihn durch den Laden zu schleudern. Nix da. Keine Superkraft. Mist! Er wandte sich zur Tür um, als sie gerade geöffnet wurde. Ein älterer Mann mit ergrauendem Haar kam herein und starrte Quinn an. »Hab ich dich endlich gefunden«, sagte der Mann. »Wurde auch langsam Zeit.« Quinns Griff wurde nicht lockerer, aber seine Miene veränderte sich schlagartig, als er den Mann sah. Der Ältere schüttelte den Kopf. »Ich will nichts von dir hören. Du machst mich krank, Junge. Die anderen sind da draußen und tun, was getan werden muss, und du vergräbst dich hier und besäufst dich mit irgendeiner Schlampe, bis du die Besinnung verlierst.« Ich wollte protestieren, schloss meinen Mund aber sofort wieder. Schlampen bohrt man keine Holzpflöcke ins Herz. Ich beschloss, dem Mann seinen ersten, wenn auch falschen Eindruck durchgehen zu lassen. »Aber Vater, ich...«, begann Quinn.
Der Mann hob die Hand. »Halt den Mund, Junge. Halt deinen armseligen Mund. Es kursieren bereits Gerüchte, dass du 88 dich in einen Feigling verwandelt hast. In meinem Plan haben ängstliche kleine Jungs keinen Platz. Wir sind hier, um die dunklen Mächte auszuradieren und das Böse zu vertreiben, ein für allemal.« »Ich weiß.« Quinn sah mich an, und ich bemerkte den Hass in seinem Blick. »Genau das will ich ja tun. Ich bin dabei...« Sein Vater trat mit einem Schritt zu uns, packte Quinns T-Shirt und schob ihn gegen die Wand. Quinn ließ meinen Arm los. »Mach mir nicht noch mehr Schande, als du es schon getan hast!«, zischte Vater Quinn. Dann warf er mir einen flüchtigen Seitenblick zu. »Du. Verschwinde, wenn du weißt, was gut für dich ist.« »Aber, Vater...!« »Sei still!«, knurrte der Ältere. Quinns Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Es konnte Scham sein, aber auf mich wirkte es eher wie Hoffnungslosigkeit. Allerdings kümmerte mich das nicht wirklich. Ich wich vor ihnen zurück, bis ich den Türgriff in meinem Rücken spürte. Quinn konnte jeden Moment verkünden, dass ich ein Vampir war, aber er sagte nichts mehr. Sein Vater hätte ihm ohnehin keine Gelegenheit dazu gegeben. Die beiden schienen eine wirklich innige
Beziehung zu haben. Jedenfalls dafür, dass sie in der Hölle lebten. Ich drehte mich um und trat so gelassen, wie ich konnte, auf die Straße hinaus. Das Taxi war endlich aufgetaucht und wartete auf mich. Ich stieg hinten ein und hätte mich fast vorgebeugt und dem Fahrer einen Kuss auf den Mund gegeben, weil ich so erleichtert war, ihn zu sehen. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten. Außerdem war er auch nicht mein Typ. 89 Nein, mein Typ schienen eher die Kerle zu sein, die mich umbringen wollten. Es war eine absolut höllische Woche gewesen. Zum Glück war Freitag. Sobald das Taxi mich vor meinem Block abgesetzt hatte, rannte ich zum Aufzug, fuhr in meine Wohnung hoch und schloss die Tür hinter mir ab. Ich war auch noch so blöd gewesen, Quinn meinen richtigen Namen zu nennen. Blöd, blöd, blöd! Das Einzige, was mich davon abhielt, wegen meines monströsen Mangels an Intelligenz zu hyperventilieren, war die Tatsache, dass sein Vater ihn offensichtlich total unter der Fuchtel hatte. Vermutlich würde er meinen neuen Verehrer nicht aus den Augen lassen, sodass dem keine Zeit blieb, nach mir zu suchen. Hoffte ich jedenfalls. Ich war vollkommen verspannt. Die Muskeln an meinen Schultern bestanden nur noch aus Knoten. Normalerweise hätte ich jetzt ein langes, heißes
Schaumbad genommen und dabei die neueste Ausgabe der Cosmopolitan durchgeblättert, um mich zu beruhigen, aber das war jetzt nicht der richtige Moment, um sich zu entspannen. Quinn könnte mir nach Hause gefolgt und jetzt bereits auf dem Weg nach oben sein, um meine Diät ein bisschen zu erweitern, mit Holz, versteht sich. Ich warf meine Handtasche in die Ecke meines winzigen Wohnzimmers, doch dann kam mir ein Gedanke, und ich 90 rannte hin und hob sie wieder auf. Dann durchsuchte ich sie wie verrückt nach der Visitenkarte, aber nach einer Minute gab ich auf. Ich hatte sie verloren. Irgendwo auf dem Weg vom Vampirclub hierher. Ich ging zum Telefon und rief die Auskunft an. Sie gaben mir die Nummer des Midnight Eclipse Sonnenstudio am Lakeside Drive. Ich schrieb sie auf einen gelben Post-it Zettel und klebte ihn an den Kühlschrank. Dann tippte ich die Nummer in mein schnurloses Telefon. Ich rief Thierry an. Er wusste bestimmt, was ich tun sollte. Nach dem ersten Klingeln legte ich wieder auf. Ich konnte ihn einfach nicht anrufen. Er würde mich für noch verrückter halten als vorher. Nein, das war mein Problem. Ich würde ihn auf keinen Fall schon wieder behelligen. Jedenfalls nicht vor morgen Abend. Ich setzte mich aufs Sofa und schaltete die Glotze ein. Die Elf-Uhr-Nachrichten waren gerade vorbei. Ich zappte ein bisschen herum, gab dann auf und schaltete das Gerät
aus. Ich verschränkte meine Beine, schnappte mir eines meiner großen, bestickten Sofakissen und drückte es fest an meine Brust wie einen Ersatzteddy. Wenn es mir nur helfen würde, all die Monster zu verjagen. Nur war ich jetzt das Monster. Ich nahm mir vor, übers Wochenende alle Vampirfilme auszuleihen, die ich kriegen konnte. Zur Recherche. Jedes Geräusch, jedes noch so leise Knarren in meiner Wohnung, sogar die Laute, die von der Straße heraufdrangen, ließen mich zusammenzucken. In dieser Nacht würde ich kein Auge zutun. Ich fühlte mich viel zu beklommen. Aber das war gut so. Ich war bereit zu reagieren. Instinktiv. Mich zu schützen. Um mein Leben zu kämpfen und dergleichen. 91 Niemand würde sich unbemerkt an mich heranschleichen, so viel war sicher. Sollten sie es nur versuchen. Nach etwa einer halben Stunde wurden mir die Lider schwer. Ich kämpfte eine Weile dagegen an, aber der Kampf endete damit, dass ich sie zuklappte. Ich drückte das Kissen fester an meine Brust und döste ein. Immerhin hatte ich vier Tequila und eine halbe Bloody Mary getrunken. Ich war ein Vampir, verdammt, keine Maschine. Als ich aufwachte, schien die Sonne durch die Glastür zu meinem Balkon. Meine Beine lagen immer noch auf dem Sofa, aber der Rest meines Körpers war heruntergerutscht, sodass meine Wange auf dem
beigefarbenen Teppich lag. Außerdem sabberte ich. Es war kein schöner Anblick. Ich richtete mich auf. Mein Hals schmerzte höllisch, weil er so lange in dieser unbequemen Position gelegen hatte. Ich beschattete meine Augen mit der Hand vor der grellen Sonne. Jemand klopfte laut und hartnäckig an meine Wohnungstür. Wer zum Teufel war das? Niemand klopfte so einfach an meine Tür, es sei denn, man hatte vorher von der Lobby aus angerufen. Außer... Ich stand so schnell auf, dass mir schwindlig wurde. Fast hätte ich die Ereignisse der vergangenen Nacht vergessen. Es war Quinn! Er hatte mich gefunden. Und wollte mich umbringen. Was sollte ich tun? Mich verteidigen natürlich, was sonst? Er mochte ein Macho-Vampirjäger sein, aber das hier war meine Wohnung. Ich sah mich um. Ja genau, meine sechzig Quadratmeter große, gemietete Wohnung. Hier konnte ich mich nirgendwo verstecken, also blieb mir nur, mich zu verteidigen. 92 Es klopfte wieder. Meine Angst lastete plötzlich so schwer auf meinen Schultern, als hätte jemand nochmal zwanzig Pfund draufgelegt. Ich schlurfte in die Küche und zog die Küchenschublade auf. Irgendwo musste da doch ein Messer sein. Ein richtig großes Messer.
Ich runzelte die Stirn. Da war nichts. Hatte ich denn kein Messer im Haus? Was für eine Köchin war ich bloß? Ach ja, richtig, die Art Köchin, die sich Essen bringen lässt. Also begnügte ich mich mit einem tödlich aussehenden Tortenheber, den ich mal geschenkt bekommen hatte. Er war irgendwie spitz. Das musste reichen. Ich hatte mal in einem Film gesehen, wie jemand mit einem Maiskolben erstochen wurde. Ein Tortenheber war sicher weitaus gefährlicher. Wieder klopfte es. Ich schlich zur Tür, um durch den Spion zu sehen, wer es war. Wenn ich durch den Spion blicke, dann wird er mir das Auge ausstechen. Er wird mir direkt bis ins Hirn stechen. Die Vorstellung war so gruselig, dass es mich schüttelte. Nur ein kurzer Blick. Einmal durchsehen und gleich zur Seite springen. Gucken und verstecken. Den Tortenheber fest umklammernd näherte ich mich der Tür. Als ich nur noch Zentimeter davon entfernt war, hämmerte es wieder, und ich wäre fast aus der Haut gefahren. Ich stieß einen lauten Schrei aus und presste mir anschließend sofort die Hände auf den Mund. Der Tortenheber fiel mit einem lauten Klappern auf die Keramikfliesen. Mist! Das Klopfen hörte auf. »Sarah?«, fragte Amy auf der anderen Seite der Tür. »Bist du da? Mach auf!« Ich riss die Augen auf und stieß ein so erleichtertes und lau
94 tes Seufzen aus, dass es alle Nachbarn geweckt hätte, falls sie nicht schon von Amys Hämmern an der Tür wach geworden wären. Ich schob den Sicherungsriegel beiseite und machte auf. Amy stand im Flur und rieb sich ihre geröteten Knöchel. »Ich habe mir schreckliche Sorgen um dich gemacht«, schimpfte sie und fegte an mir vorbei in die Wohnung. »Warum hast du nicht aufgemacht, du Loser?« »Ich habe geschlafen.« »Seit du gestern aus dem Büro verschwunden bist, habe ich versucht dich zu erreichen. Ich habe dich bestimmt eine Trillion Mal angerufen. Ich bin sogar gestern vor meiner Verabredung hier vorbeigekommen, aber du warst nicht da.« »Oh.« Meine Miene hellte sich auf. »Wie war deine Verabredung? Es war der Zahnarzt, richtig?« Sie schmollte. »Er meinte, ich brauchte eine Klammer. Er war ganz eindeutig nicht der Richtige.« »Wie schade.« »Was du nicht sagst.« Sie sah mich finster an, und die Winkel ihrer rosa angemalten Lippen senkten sich. »Moment mal, wir reden gerade von dir. Warum hast du nicht zurückgerufen?« »Tut mir wirklich leid. Ich hatte sehr viel um die Ohren.« Amy warf sich mit einer dramatischen Geste auf mein Sofa, und ich ging in die Küche, um Kaffee zu machen. Alkohol am Abend, Kaffee am Morgen, das Yin und Yang
meines Lebens. Meine Hände zitterten, als ich das Pulver in den Filter füllte. Ob sie schon gefrühstückt hat7. In dem Moment wurde mir klar, wie lange ich nichts mehr gegessen hatte. Das letzte Mal bei diesem Mexikaner mit Gordon. Aber ich war nicht hungrig. Vielleicht würde ich ja nie wieder hungrig sein. 95 Amy beobachtete mich, stumm, aber neugierig, während der Kaffee durchlief. Ich versuchte ihren Blick zu meiden. Von meiner kleinen Notlage würde ich ihr nichts verraten. Jedenfalls noch nicht. Ich wusste nicht, wie sie die Nachricht aufnehmen würde, dass ihre beste Freundin ein Vampir geworden war. So wie ich Amy kannte, fand sie es entweder cool -oder sie würde schreiend über alle Berge verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Als ich das letzte Mal laut und stolz verkündet hatte, dass ich ein Vampir war, wäre ich fast gepfählt worden. Ich glaubte zwar nicht, dass Amy so etwas tun würde, aber... Ich wusste es einfach nicht. Es war irgendwie nicht der richtige Moment. Ich schenkte uns beiden einen Becher ein und gab Milch und Zucker dazu. Wir tranken unseren Kaffee auf dieselbe Art. Sie ließ mich keinen Moment aus den Augen, als ich ihr einen der Becher reichte. Sie wartete auf die große Erklärung. Normalerweise erzählten wir uns immer, was in unseren Leben so passierte. Leider würde das hier keiner dieser intimen Momente werden. »Also?« Sie hob anklagend eine Braue.
»Also was?« Ich nippte an meinem Kaffee. Er schmeckte schwach und fühlte sich in meinem Magen unangenehm an. Ich stellte den Becher auf den Kaffeetisch. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« »Ja, das hast du schon gesagt. Mir geht's gut.« »Missus Saunders ist nicht gerade sonderlich gesprächig. Weshalb bist du gefeuert worden?« Ich wartete einen Moment auf eine Eingebung, etwas, das irgendwie logisch klang. »Sie mochte es nicht, wie ich meinen Job machte. Deshalb hat sie mich gefeuert. Das war's.« Amy atmete tief aus, und ihr übliches strahlendes Lächeln 96 machte sich wieder auf ihrem Gesicht breit. »Ich wusste, dass es so etwas sein musste. Ich konnte einfach nicht glauben, was die anderen über dich erzählt haben.« »Was reden sie denn so?« Sie schüttelte den Kopf. »Das willst du bestimmt nicht wissen. Wirklich nicht. Aber ich würde mich von Sally aus der Buchhaltung fernhalten, wenn du verstehst, was ich meine.« Das verstand ich nicht, aber ich hakte nicht weiter nach. Ich wollte keine Anspielung verstehen, die etwas mit der versauten Sally zu tun hatte. »Okay, du bist also gefeuert worden, weil die Saunders ein Miststück ist.« »Im Prinzip trifft es das.«
»Das erklärt aber noch nicht, wo du seit gestern gewesen bist und warum du keinen meiner Anrufe erwidert hast. Ist dir nicht klar, wie unhöflich es ist, einfach zu verschwinden, während Leute sich um dich sorgen?« »Tut mir leid, ich war... hier. Aber ich war einfach zu aufgeregt, um zu telefonieren. Ich habe mich halt in Selbstmitleid gewälzt.« Sie trank den Kaffee, gab aber keinerlei Kommentar ab, dass er zu schwach war. Vielleicht waren meine Geschmacksknospen heute morgen nur nicht auf der Höhe. Sie sah mich scharf an. »Du siehst anders aus.« »Wirklich?« Meine Hand zuckte zu meinem Haar. »Ja.« Sie beugte sich vor. »Genau genommen siehst du verblüffend gut aus.« Meine Brauen schössen in die Höhe. »Verblüffend gut? Und das ist anders als sonst? He, vielen Dank!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du weißt schon, was ich meine. Es ist so, als würdest du von innen glü 97 hen oder so was. Dieser Pickel, den du gestern auf der Wange hattest, ist bereits weg. Und...«, sie beugte sich noch weiter vor, »du trägst kein Make-up und siehst trotzdem nicht kaputt aus.« Ich wich vor ihr zurück. »Das liegt vermutlich daran, dass ich ausgeschlafen habe.«
Sie riss die Augen auf und stand so plötzlich auf, dass ein bisschen Kaffee aus ihrem Becher über mich spritzte. »Ich glaube, ich weiß genau, was es ist.« »Was was ist?« »Warum du so gut aussiehst. Ich kann es einfach nicht fassen, Sarah. Ich kann nicht glauben, dass du es mir nicht erzählt hast.« Ihre Unterlippe zitterte. »Wir sind doch die besten Freundinnen, oder?« Ich fühlte, dass das ohnehin recht wenige Blut, das sich noch in meinen Wangen befand, vollkommen verschwand. Wie hatte sie es so leicht herausfinden können? Sie war nett, sicher, aber nicht unbedingt eine Leuchte. Jedenfalls normalerweise nicht. »Es ist bestimmt nicht das, was du denkst«, erwiderte ich hastig. »Aber es gibt keine andere Erklärung. Du warst einen ganzen Tag lang verschwunden, hast meine Anrufe nicht erwidert. Und siehst so anders aus.« Sie schnappte sich ihre Handtasche und wühlte darin herum. Ich starrte sie ungläubig an. Herrgott, sie hat herausgefunden, dass ich ein Vampir bin und sucht jetzt in ihrer Tasche nach einer Waffe. Ich wollte nicht mit meiner besten Freundin um mein Leben kämpfen. Das würde unserer Reise nach Mexiko wirklich einen Dämpfer versetzen. Das war nicht gut, gar nicht gut. 98 Sie hörte auf zu suchen und sah mich an. Ihre Augen waren noch größer als vorhin. »Du bist es, stimmt's?«
Vielleicht sollte ich es einfach nur zugeben, mich outen und fertig. Vielleicht auch nicht. Abstreiten machte viel mehr Spaß. Ich stand auf. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« Ich machte mich bereit, sie anzugreifen, aber was sie aus der Tasche zog, war nur ihr Schminkspiegel. Sie hielt ihn locker in der Hand, während sie sich auf dem Sofa zurücklehnte. »Du bist verliebt«, klärte sie mich auf. »Und du willst es mir nicht mal erzählen. Ich bin schrecklich verletzt.« »Ich bin... verliebt?« »Wer ist es? Ach natürlich, diese Information geht mich nichts an, richtig?« Ich wäre fast ohnmächtig geworden vor Erleichterung. Sie glaubte, ich wäre einen Tag verschwunden und sähe großartig aus, weil ein Kerl mich umgehauen hätte. Was, als ich an den Sturz von der Brücke mit Thierry dachte, auch gar nicht so weit hergeholt war. Ich setzte mich wieder neben sie, während sie sich in dem kleinen Spiegel betrachtete und dabei die Nase puderte. »Es gibt keinen Kerl. Ehrlich. Wenn es einen gäbe, wärst du der erste Mensch, dem ich es erzählen würde. Ich schwöre dir, dass ich immer noch ein erbärmlicher Single bin.« Sie betrachtete mich ein paar Sekunden. »Echt jetzt?« »Ganz echt.«
Sie klappte den Schminkspiegel zu und schob ihn in ihre Tasche zurück. »Wenn du das sagst, dann werde ich dir wohl glauben.« »Ich sage es.« Sie lächelte mich an. »Dann müssen wir unbedingt ins Ein 100 kaufszentrum gehen, um deine Befreiung von diesem perspektivlosen Job zu feiern. Was hältst du davon?« Es klang nach einem ausgezeichneten Plan. Ich wollte einfach nur ausgehen, ganz gleich wohin. Nach der vergangenen Nacht fühlte ich mich in meiner Wohnung geradezu klaustrophobisch. Ich zog mir rasch eine Jeans und ein bequemes, dunkelblaues Sweatshirt an, auf dessen Brust ein kleines Bild von Tweety war. Dann warf ich meine Lederjacke über und schnappte meine Handtasche - und das alles in weniger als zehn Minuten, ein höchstpersönlicher Rekord. Das Eaton Centre lag vier U-Bahn-Stationen entfernt und war vom PATH aus leicht zu erreichen. Die Oberlichter im Einkaufszentrum waren unerträglich hell, also ließ ich die ganze Zeit meine Sonnenbrille auf. Amy dachte, ich wollte inkognito bleiben, falls wir jemanden vom Büro trafen. Dabei versuchte ich nur, nicht blind zu werden. Zum Glück zogen Wolken auf. Der Wetterbericht hatte noch vor dem Abend Schnee vorausgesagt. Ich sah zu, wie Amy ihre Kreditkarte für Diamantohrringe strapazierte. Das machte mich neidisch. Hätte ich noch
einen Job gehabt, wäre ich ihrem Beispiel zweifellos gefolgt, aber jetzt musste ich haushalten. Ich musste mit meinem Geld sparsam umgehen, bis... na ja, bis ans Ende der Zeiten. Wir aßen bei Essen & Trinken zu Mittag. Ich war zwar noch nicht hungrig, aber ich entschied mich trotzdem für den Mexikaner. Burritos mit Sour Cream und gebackenen Bohnen. Dazu eine Diät-Cola. Eines meiner Lieblingsessen. Doch schon der erste Bissen schmeckte so langweilig und lag mir so schwer im Magen, dass ich den Teller zurückschob. Amy sah mir zu, wie ich geistesabwesend in der Mahlzeit 101 herumstocherte, während sie ihren Cheeseburger mit Pommes verschlang. Schließlich legte sie den Burger zur Seite und tupfte sich mit einer Serviette das Kinn ab. »Du hast recht«, sagte sie. »Wir sollten diesen Mist nicht in uns hineinstopfen. Hat viel zu viel Kalorien.« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich jemand unserem Tisch näherte und sich schließlich neben mich setzte. Es war voll in der Esspassage, aber trotzdem wäre ich gern gefragt worden, ob es mir recht wäre, meinen Tisch mit jemand Fremdem zu teilen. Einige Leute waren einfach zu unhöflich. Ich drehte mich zu der Person um und unterdrückte einen Schrei. Es war Quinn.
Er sah mich lächelnd an. »Glauben Sie an das Schicksal, Sarah? Oder ist es nur ein glücklicher Zufall, dass wir uns so rasch wieder begegnen?« Ich öffnete meinen Mund, aber kein Ton kam heraus. Er sah Amy an. »Und wer sind Sie?« »Amy«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. »Ich bin Quinn.« Er deutete mit einem Nicken auf mich. »Ein guter Freund von Sarah. Stimmt doch, oder?« Ich schluckte und sah Amy an. Sie lächelte immer noch, aber ich bemerkte ihren vorwurfsvollen Blick. Sie dachte, Quinn wäre der mysteriöse Liebhaber. Das eigentlich Mysterium jedoch war, wie er mich so schnell gefunden hatte. Mir war schlecht. Vielleicht war es ja Schicksal. Er brauchte mir gar nicht bis zu meiner Wohnung zu folgen. Ich hatte ihm die ganze Mühe erspart und war ihm einfach über den Weg gelaufen. Ich war so gut wie tot. 102 Ich gehe dann mal. Amy stand auf, schlang sich ihre Tasche über die Schulter und warf mir einen giftigen Blick zu. Ich sah sie kläglich an, machte jedoch keine Anstalten, sie aufzuhalten. Es war überflüssig, sie auch noch in Gefahr zu bringen. »Ich ruf dich an.« »Wie du meinst.« Sie legte ihr schönstes falsches Lächeln auf und drehte sich zu Quinn um. »War nett, Sie kennenzulernen.«
»Ja, danke gleichfalls.« Sie wollte gehen, zögerte dann jedoch. Gut, Amy, dachte ich. Tu etwas Mutiges. Mach mir eine Szene. Egal was, es wäre großartig. Sie drehte sich wieder um und schnappte sich, ohne mich anzusehen, den Rest ihres Cheeseburgers, wickelte ihn in eine Serviette und stopfte ihn in ihre Tasche. Danach ließ mich meine beste Freundin seit vier Jahren in den Klauen eines Vampirjägers zurück, auf dessen Holzpflock bereits mein Name eingeritzt war. Quinn sah ihr nach, bis sie nur noch ein winziger kleiner Punkt war, der in einer Boutique am anderen Ende des Einkaufszentrums verschwand. Einzelhandelstherapie, um über den Verrat ihrer besten Freundin hinwegzukommen. Er drehte sich wieder zu mir um und grinste mich strahlend an. »Also, wo waren wir stehen geblieben?« Ich atmete langsam durch die Nase ein und ebenso langsam durch den Mund wieder aus. Ich konnte die Oberhand behalten. Ich würde ihm nicht zeigen, wie verängstigt ich war. 103 »Bevor Sie sich entschlossen haben, mich zu töten, oder hinterher?« »Ich glaube, wir wurden an der Stelle unterbrochen, als ich den Entschluss gefasst hatte, sie umzulegen.« Ich holte noch einmal kontrolliert Luft. »Eigentlich wurden wir unterbrochen, als Ihr Daddy Ihnen die Leviten las, weil Sie ein so böser Junge waren.«
Sein Grinsen erlosch, und seine Antwort ließ einen Moment auf sich warten. »Man kann es ihm nur sehr schwer recht machen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ihre Familienprobleme gehen nur Sie etwas an.« »Da haben Sie allerdings recht.« Ich ermahnte mich, die Klappe zu halten und nicht alles nur noch schlimmer zu machen, aber wie üblich hörte mein Mund nicht zu. »Und«, fuhr ich fort, »hat Ihre Mutter Sie auch zurechtgestutzt oder hat das nur Ihr Paps erledigt?« Diesmal erlosch das Grinsen nicht nur, sondern rutschte ihm gänzlich aus dem Gesicht. »Meine Mutter ist tot.« »Oh.« Mein Magen sackte mir in die Knie. »Das tut mir leid.« Wieso sagte ich das? Wofür zum Teufel entschuldigte ich mich? Ich trat häufiger ins Fettnäpfchen, also war meine Entschuldigung wohl nur ein bedingter Reflex. »Klar«, fuhr er fort. »Sie wurde von einem Ihrer Art umgebracht, als ich noch ein Kind war.« »Von einer Vorstandsassistentin?« Man konnte es ja wenigstens versuchen. »Von einem Vampir. Einem kaltblütigen, gemeinen, mörderischen Monster wie Ihnen.« 104 »Sie verkennen mich total. Sie kennen mich ja nicht mal.« »Ich weiß genug.« »Hören Sie, Ihr Verlust tut mir leid, wirklich. Aber ich bin nicht das, wofür Sie mich halten.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind ganz neu. Das habe ich kapiert. Aber es ändert nichts. Sie sind eine von denen. Der einzige Sinn in meinem Leben ist es, die Welt von Dingen wie Ihnen zu befreien.« Ich kniff die Augen zusammen. »Ich mag es nicht besonders, wenn man mich ein Ding nennt. Wann haben Sie sich das letzte Mal mit einer richtigen, lebendigen Frau unterhalten? Ohne vorher Ihre Kreditkarte zu zücken, meine ich.« Er funkelte mich düster an. »Sie haben eine ganz schön große Klappe.« Ich seufzte. »Hören Sie, ich will eigentlich nur weggehen und von Ihnen in Ruhe gelassen werden. Was muss ich dafür tun?« »Kein Vampir sein.« »Das ist also die einzige Eigenschaft, die es braucht, um am falschen Ende Ihres Pflocks zu landen. Was ist damit, dass ich völlig unschuldig bin?« »Unschuldig?« Dafür hatte er nur ein verächtliches Schnauben übrig. »Kein Vampir ist unschuldig.« »Klar, und ich dachte immer, dass Vampire gefährlich und sexy sind. Ich habe diese Theorie bereits ad absurdum geführt.« Er hob eine Braue. »Sie sind also nicht gefährlich und sexy?« Ich schwieg eine Sekunde und musterte ihn. Okay, was lief hier? Bedrohte er mich oder flirtete er mit mir? Ich sah mich um. Die Esspassage war vollbesetzt, und es 105
war laut. Ein Kind ein paar Tische von uns entfernt hatte seine Waffel mit Eiscreme fallen lassen und kreischte jetzt ohrenzerfetzend. »Ich habe eine Frage an Sie, Quinn.« »Und die wäre?« »Wäre Ihre Mutter stolz auf Sie?« »Was?« Das Wort klang wie ein Schuss. »Ihre Mutter«, wiederholte ich. »Wäre sie stolz darauf, dass Sie hilflose, unschuldige Frauen jagen und sie im Namen der Rache umbringen? Irgendwie bezweifele ich das. Sie würde sich vermutlich schämen, Sie Ihren Sohn zu nennen.« Und dann nutzte ich die Gunst des Augenblicks, denn mir war klar, dass ich keine andere Chance bekommen würde. Mit einer raschen Bewegung schleuderte ich ihm das Essen ins Gesicht und stieß ihn so hart von mir, wie ich konnte. Die gebackenen Bohnen, die ich nicht angerührt hatte, landeten direkt in seinen Augen. Das würde brennen. Er sprang auf, rutschte auf dem verschütteten Essen und den Getränken aus und fiel hin. Ich schnappte meine Handtasche und rannte los, zwischen den Leuten hindurch, weg von der Esspassage. Man hätte meinen können, dass ich nach all dem Gerenne in letzter Zeit praktischere Schuhe angezogen hätte. Weit gefehlt. Ich trug Schuhe mit fünf Zentimeter hohen Plateausohlen, die eine Nummer zu klein waren. Sie passten großartig zu Jeans, waren allerdings dafür ziemlich unbequem.
Ich stieß die Tür zur nächsten U-Bahn-Station auf, fegte die Treppe hinunter und am Eingang zur U-Bahn vorbei. Der PATH war samstagnachmittags praktisch menschenleer, weil er fast ausschließlich in der Woche von den Geschäftsleuten genutzt wurde. Ein paar Leute schlenderten jedoch noch herum und machten einen Schaufensterbummel, obwohl 107 die meisten Läden bereits geschlossen hatten und dunkel waren. Ich sah mich um, während ich weiterrannte. Quinn war mir auf den Fersen und rieb sich die Augen. Ich hoffte, dass er die unterirdische Passage nicht so gut kannte wie ich. Andererseits war er schneller als ich und hätte mich vermutlich eingeholt, bevor ich auch nur eine Chance hätte, ihn abzuschütteln. Das war nicht gut. Ich schwor, dass ich von jetzt an nur Nike tragen würde, wenn ich hier lebendig herauskam. Ich gelobte den Himmlischen Mächten, praktisches Schuhwerk zu tragen, falls sie mir halfen. Ich schlug einen Haken nach links. Direkt vor mir war eine Drehtür, die ins Untergeschoss eines Geschäftshochhauses führte. Ich rannte hinein und hielt die Tür fest, während sie schwang. Das Timing war perfekt. Quinn konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, krachte mit dem Gesicht gegen das Glas und fiel mit einem überraschten Schrei nach hinten. Er brüllte meinen Namen, als würde das genügen, mich aufzuhalten. Ich hielt keine Sekunde inne, bevor ich
durch eine zweite Tür gestürmt war. Diesmal war es leider keine Drehtür. Die Korridore gingen schnurgerade weiter und sahen fast alle gleich aus. Ich war jetzt in der Nähe des Ausgangs zur Dundas Street. Dabei kam ich an einem Laden vorbei, in dem eine Schaufensterpuppe ein wirklich hübsches Kleid trug. Ich merkte mir, wo ich es gesehen hatte, und rannte weiter. Ich hörte, wie Quinn hinter mir immer weiter aufholte. Er atmete angestrengt. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter zurück und geriet fast in Panik, als ich den Pflock in seiner rechten Hand sah. Er spielte nicht herum. Wenn er mich einholte, würde er mich töten, daran bestand kein Zweifel. 108 Der Flur vor mir war, wie ein großes Schild verkündete, wegen Bauarbeiten gesperrt. Ich sprang über das Absperrband und bedauerte es sofort. Nur sieben Meter weiter war der Korridor blockiert. Es war eine Sackgasse. Was zum Teufel hatte ich gedacht, was »Gesperrt wegen Bauarbeiten« bedeutete? Ich lief so weit, wie ich konnte. Quinn tauchte an der Ecke auf. Er sah mich an, keuchte und schüttelte den Kopf. »Netter Versuch.« Überraschenderweise war ich überhaupt nicht außer Atem. Körperliche Ausdauer. Das war ein weiterer Pluspunkt meiner Existenz als Vampir. Der jedoch leider nicht zum Tragen kam, weil ich gleich sterben würde. »Warum besprechen wir das nicht in aller Ruhe bei einem Kaffee?«, schlug ich vor. »Ich zahle.«
»Es gefällt mir, dass Sie nie aufgeben. Ich wünschte fast, ich könnte einwilligen.« Er kam näher und machte keine Anstalten, den Pflock einzustecken. »Vergessen Sie den Kaffee.« Ich fühlte, wie die Panik erneut in mir hochstieg. Ich musste dafür sorgen, dass er weiter redete. »Trinken wir lieber noch ein paar Tequilas. Letztes Mal haben wir uns doch prächtig amüsiert, stimmt's?« Er blieb stehen. »Ja, das stimmt.« »Wir hatten einen Draht zueinander, finden Sie nicht auch?« Ich versuchte Augenkontakt zu ihm zu halten, aber der Pflock in seiner Hand lenkte mich doch ziemlich ab. »Wollen Sie damit sagen, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten beilegen und Freunde werden sollten?« Ich nickte heftig. »Genau das will ich damit sagen, ja!« »Verlockend«, antwortete er bedächtig. »Trotzdem nein. Ich 109 weiß, was ich zu tun habe, ob ich will oder nicht. Tut mir leid, aber es wird Zeit, Lebewohl zu sagen.« Ich presste mich mit dem Rücken gegen die Wand und stieß einen kurzen, ängstlichen Schrei aus. Er trat noch einen Schritt auf mich zu und hob den Pflock. Ich sah ihm in seine blauen Augen. Er sah nicht so verrückt aus wie Strahlezahn. Quinn bereitete das hier kein Vergnügen. Er hielt es für seine Pflicht. Seinen Job. Er
musste den Müll wegräumen, ganz gleich, wie sehr er stank. Es gefiel mir zwar nicht, mit Abfall verglichen zu werden, aber andererseits war die Analogie ja auf meinem Mist gewachsen. Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Tun Sie das nicht.« »Tut mir wirklich leid, Sarah.« Ein dunkler Schatten krachte in Quinns Seite. Er stürzte zu Boden, der Pflock fiel ihm aus der Hand und rollte über den Boden. Ich keuchte. Was war da passiert, zum Teufel? Jemand presste Quinn zu Boden, drückte ihm die Arme über den Kopf und hockte sich rittlings auf seinen Oberkörper. Dann drehte der Mann sich um und sah mich an. Er war mittleren Alters, hatte einen Bierbauch und einen Vollbart. Außerdem trug er einen teuer aussehenden, anthrazitfarbenen Anzug. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, erkundigte er sich. Ich hatte Schwierigkeiten, meine Sprache wiederzufinden. »So gerade eben.« »Sie hatten Glück, dass wir in der Nähe waren.« Quinn kämpfte gegen den Mann, aber der Aufprall auf dem Boden hatte ihm die Luft genommen. »Lassen Sie mich aufstehen. Das hier geht Sie nichts an.« 110 Der Mann starrte ihn böse an. »Es geht mich durchaus etwas an, wenn jemand die neue Freundin des Meisters belästigt.«
Des Meisters neue was? Ein anderer Mann bog im Laufschritt um die Ecke. »Dan! Da bist du ja! Was zum Teufel ist hier los?« Dan beendete Quinns Gegenwehr, indem er seinen Kopf einmal heftig auf den Boden hämmerte. »Vampirmörder«, erklärte Dan. »Hat sich einen Zögling mitten am Samstagnachmittag ausgesucht. Die Kerle haben einfach keinen Funken Respekt im Leib.« »Monster«, stöhnte Quinn. »Ihr seid alle Monster.« »Eigentlich bin ich Anwalt«, erwiderte Dan. »Also bin ich an weit schlimmere Ausdrücke gewöhnt.« Das überraschte mich. »Ach? Sie sind gar kein Vampir?« Dan sah mich kurz an. »Doch, ein Vampir bin ich ebenfalls. Aber mein Job als Anwalt bringt mehr Geld ein. Schließlich darf ich meine kostspielige Ausbildung nicht vergeuden, nicht wahr?« Dans Freund kam näher. Er berührte meinen Arm, und ich zuckte zusammen. »Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?« »Es geht schon wieder. Irgendwann jedenfalls.« Ich deutete mit einem Nicken auf Quinn. »Was machen Sie jetzt mit ihm?« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht Ihren hübschen Kopf.« So, wie er das sagte, klang es sehr bedrohlich. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf« hieß so viel wie: »Wir werden ihn in winzige, blutige Fetzen reißen und ihn die nächste Klospülung hinunterjagen«. Vielleicht
interpretierte ich das aber auch ein wenig über. Hoffte ich jedenfalls. 112 Ich sah den Freund an. Seine scharfen Reißzähne blitzten, als er mich, wie er wohl glaubte, freundlich anlächelte. Die Reißzähne schienen plötzlich länger zu sein als noch einen Moment zuvor. »Ja, Sie sollten jetzt lieber verschwinden, Süße.« Mein Magen sackte in meine Kniekehlen. Mist! Sie würden ihn umbringen. Ich versuchte, nichts dabei zu empfinden. Immerhin hatte Quinn zweimal versucht mich zu töten, und ich wollte gar nicht wissen, was er womöglich noch angestellt hatte, seit er in Toronto war. Aber genau das unterschied uns. Ich wollte nicht, dass man ihm etwas antat. Ich wollte nur, dass er mich in Ruhe ließ. »Das sollte eine recht unmissverständliche Botschaft für die Jäger sein«, meinte Dan zu Quinn. »Sie und Ihre Freunde haben letzte Woche meine Frau zur Strecke gebracht. Wir hatten gerade geheiratet.« »Blödsinn!«, spie Quinn hervor. »Das Miststück hatte es sicher verdient.« Ein tiefes Grollen entrang sich Dans Kehle. Mir war übel. Ich wollte nicht weggehen, sondern Quinn helfen. Aber selbst wenn ich das tat, was dann? Konnte ich mir wirklich einreden, dass er mir verzeihen würde, was er offenbar für einen tragischen Makel an mir hielt? Nein. Er würde einfach nur erneut versuchen mich umzubringen. Irgendwie wirkte er recht dickköpfig.
Dans Freund kniete sich neben den anderen Vampir, packte Quinns Kopf und drehte ihn zur Seite, sodass sein Hals frei zugänglich war. Dann hörte ich es - das Geräusch, das mich in meinen Träumen verfolgen würde. Das Geräusch von Reißzähnen, die sich in Haut und Fleisch gruben. Quinns kurzen, schmerzerfüllten und panischen Schrei. Ich schlug die Hand vor den 113 Mund. Warum hatte er nicht um sein Leben gefleht? Warum hatte er sie gereizt, ihnen unter die Nase gerieben, dass er mehr oder weniger direkt eine Mitverantwortung dafür trug, was Dans Frau zugestoßen war? Dan sah zu mir hoch. Seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz zu sein schienen. Er hatte die Zähne gefletscht, und Zähne und Lippen waren blutverschmiert. Ich trat zitternd einen Schritt zurück. »Verschwinden Sie«, sagte er und drehte sich wieder zu Quinn um. Ich hörte auf nachzudenken, drehte mich um und rannte los, weg aus dem Korridor, in dem gebaut wurde, weg, weit weg von allem, dessen ich gerade Zeuge geworden war. Ich wollte es verdrängen, vergessen, was ich gesehen hatte, aber es war in mein Gedächtnis eingebrannt wie ein schreckliches Polaroidfoto. Ich stieß die Tür der nächsten Toilette auf, rannte in eine Kabine und versuchte mich zu übergeben, aber da war
nichts in meinem Magen, das ich hätte herauswürgen können. Ich trat an ein Waschbecken, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und blickte in den großen Spiegel. Da war etwas in meinen Augen, eine Wildheit oder eine tiefsitzende Furcht, was ich zuvor noch nie gesehen hatte, und es gefiel mir überhaupt nicht. Außerdem war da noch etwas, etwas mit meinem Spiegelbild. Ich starrte es einige Augenblicke an, bis ich begriff, was es war. Die Tür der Kabine direkt hinter mir. Ich... ich konnte sie sehen. Ich blinzelte und sah genauer hin. Ja. Ich konnte undeutlich durch mein eigenes Spiegelbild sehen, was hinter mir war. Selbst das Graffiti auf der Tür: »Joanna liebt Tony«. 114 Mein Magen schien noch tiefer zu sinken. Aber das sollte doch noch gar nicht passieren. Nicht so schnell. Ich hatte zwar noch ein Spiegelbild, aber es begann bereits zu verblassen. Ich war ein Vampir. Wirklich. Ein boshaftes, mörderisches, blutsaugendes Monster. Meine Knie gaben nach, und ich sank ohnmächtig auf den schmutzigen Boden der Damentoilette. 8 Eine Putzfrau stieß mich mit ihrem Turnschuh an. Ich blinzelte, schlug die Augen auf und sah zu ihr hoch. »Sie brauchen Krankenwagen?«, fragte sie in gebrochenem Englisch.
Ich tastete nach meiner Handtasche und stand langsam, zitternd auf. »Nein.« »Sie nehmen Drogen?« »Nein, keine Drogen.« Sie zuckte mit den Schultern und widmete sich ihrem Schrubber und dem Fußboden. Wie lange war ich ohnmächtig gewesen? Nicht lange? Mein Gesicht war noch feucht von dem Wasser, das ich darauf gespritzt hatte. Ich verließ die Toilette, obwohl ich nicht wusste, wohin ich jetzt gehen sollte, also ließ ich einfach meine Füße entscheiden. Und meine Füße wollten offenbar zur nächsten U-Bahn. Aber sie führten mich nicht nach Hause, nein. Sie schlugen den Weg zum Midnight Eclipse ein. 115 Am späten Nachmittag sah das Viertel anders aus, noch schmieriger, was ich kaum für möglich gehalten hätte. Die Vordertür war verschlossen. Im Fenster stand ein Schild. »GESCHLOSSEN«. Der Laden öffnete um neun, um neun Uhr abends, wohlgemerkt. Ich klopfte trotzdem. Ich würde nicht nach Hause gehen. Ich konnte nicht allein sein. Allein zu sein bedeutete, darüber nachdenken zu müssen, dass ich einen Mann hatte sterben lassen, ohne zu versuchen ihn zu retten. Ich empfand deswegen so starke Gewissensbisse, dass es mich innerlich fast auffraß. Er war von Vampiren getötet worden. Vampiren wie mir.
Nein, nicht solchen wie mir. Ich fuhr mit der Zunge über die Zähne im Oberkiefer. Sie fühlten sich normal an. Nichts war spitzer als gewöhnlich. Und ich wollte, dass das so blieb. Ich klopfte noch einmal, aber es reagierte niemand. Schließlich kam mir die Idee, nach einer Hintertür zu suchen, also ging ich um das Gebäude herum. Auf der Rückseite stand ein großer, grüner Müllcontainer, aus dem der Abfall in den frischen Schnee fiel, und in der Wand leuchtete eine solide rote Tür, an der keine Klinke zu sehen war. Ich klopfte dagegen, bis meine Knöchel wehtaten. Ich wartete ein paar Minuten und klopfte dann erneut. Nach einigen weiteren Minuten wandte ich mich ab. Meine Wangen waren nass von dem Schnee, der darauf schmolz. Natürlich war es Schnee. Ich weinte doch nicht, ich doch nicht! Na sicher doch! Die Tür hinter mir klickte, und ich fuhr herum. Sie schwang auf und Thierry steckte den Kopf durch den Spalt. »Oh, Sie sind's«, meinte er nicht sehr enthusiastisch. Ich rannte zu ihm, schlang meine Arme um ihn und blub 116 berte wie ein Kind in sein schwarzes Hemd. Er umarmte mich nicht, sondern zog mich hinein und schloss die Tür hinter uns. Ich spürte sein Unbehagen, aber er wartete geduldig, bis ich aufhörte zu heulen und mich an ihm festzuklammern.
Schließlich ließ ich ihn los und sah ihn mit geröteten, aufgequollenen Augen an. »Sie sollten doch erst heute Abend herkommen«, meinte er. Ich antwortete nicht. Ich glaube, ich hätte nicht mal antworten können, wenn ich es versucht hätte. Ich sah ihn nur mit meinen großen, feuchten Augen an, bis er nickte. »Also gut. Sie können bleiben, da Sie ja jetzt schon mal hier sind. Es ist aber noch niemand sonst hier. Wir öffnen erst in sechs Stunden.« Er führte mich in ein kleines Büro. Darin stand eine Couch, ganz ähnlich wie die in seinem Wohnzimmer. Ich kletterte darauf und schmiegte meine Wange gegen das kühle Leder. Allmählich beruhigte ich mich. Hier fühlte ich mich sicher. Bei Thierry. Er starrte mich an, wartete offenbar auf eine Erklärung, warum ich seine Zeit »für sich allein« gestört hatte, aber ich konnte noch nicht darüber sprechen. Als die Angst allmählich von mir abfiel, ließ sie eine bleierne Müdigkeit zurück. Ich wollte nur meine Augen schließen. Alles ausschließen. Aufwachen und merken, dass dies alles nur ein schrecklicher, grauenvoller Traum gewesen war. Der Schmerz weckte mich auf. Er fuhr wie ein glühendes Messer durch meinen ganzen Körper. Ich richtete mich zu schnell auf, und bei der plötzlichen Bewegung wurde mir so schwindlig, dass ich rücklings wieder nach hinten fiel. 117
Der Schmerz gewährte mir eine kurze Ruhepause, bevor er erneut zuschlug. Ich rutschte von der Couch herunter, schon wieder ein Déjà vu, und jaulte möglicherweise dabei leise. Ja genau, jaulte. Nein, es war eigentlich ein lauter Schrei, der mir aber in der Kehle stecken blieb, weil ich keine Luft mehr hatte, ihn auszustoßen. Ich beschloss ein für allemal, während ich mich vor Schmerzen auf dem Boden von Thierrys Büro wand, dass die Existenz als Vampir ätzend war. Ich wünschte, Gordon wäre noch am Leben, damit ich ihn eigenhändig umbringen konnte, weil er mich in diese blöde Situation gebracht hatte. Die Tür zu meiner Rechten öffnete sich, und ich blickte hoch. Thierry kam herein und sah mich besorgt an. Er hatte ein Messer in der einen und ein Glas mit Wasser in der anderen Hand. Ein Neuling-Spezial. Es störte mich nicht mehr, dass es Blut war. Menschenblut, Vampirblut, Schweineblut - zum Teufel, sogar Hamsterblut wäre mir recht gewesen - Komm zu Mama! Eine weitere Schmerzwelle erschütterte mich bis ins Mark und ich schrie erneut auf. Thierry schüttelte den Kopf und murmelte etwas wie: »Zu lange. Ich hätte ihr nicht erlauben sollen, so lange wegzubleiben.« Er zog die Klinge des Messers über sein linkes Handgelenk. Als ich das rote Blut sah, krallte ich meine Nägel in das Leder des Sessels hinter mir. Thierry griff nach dem Wasserglas, das er auf den Tisch gestellt hatte,
als ich zupackte und den unteren Rand seines Hemdes erwischte. Das Glas fiel ihm aus der Hand und zersplitterte auf dem Boden. Ich zog mich ein Stück hoch, sodass ich sein Handgelenk festhalten konnte und zog es instinktiv an meinen Mund. Er 119 stieß einen überraschten Laut aus, als meine Lippen sich auf seine Wunde legten. Als sein Blut meine Zunge berührte, verschwand der Schmerz, als hätte er nie existiert. Es war wie ein kühles Glas Wasser, nachdem man einen Monat in der Wüste herumgeirrt war. Es schmeckte wie bester Champagner, wie Erdbeeren mit Sahne, Kahlüa-Schokoladensoße auf französischer Vanilleeiscreme - nach Ambrosia, der Speise der Götter. Was auch immer. Thierrys Arm verkrampfte sich einen Moment, doch dann entspannte er sich allmählich, während ich von ihm trank. Ich blickte hoch und sah, dass seine Augen dunkel waren, er sie halb geschlossen hatte. Seine Miene war unergründlich. »Es gibt Gründe, warum ich keine Zöglinge schaffe.« Ich fuhr mit der Zunge über sein Handgelenk, während mir seine Worte durch den Kopf gingen, die Worte, die er gestern Nacht zu mir gesagt hatte. Ich hätte mich vielleicht gefragt, was sie wohl bedeuteten, wenn ich klar hätte denken können. Aber ich konnte im Moment nicht denken, jedenfalls nicht normal wie sonst.
Unsere Blicke schienen sich eine Ewigkeit zu verschränken. Dann änderte sich seine Miene langsam, ganz langsam, als er seine Fassung wieder zurückgewann. »Das ist genug, Sarah.« Seine Stimme klang gepresst. Genug? Nein, noch nicht. Noch ein kleines bisschen. Ich fühlte mich wie Oliver Twist. »Bitte, Sir, ich möchte noch ein kleines bisschen.« Er stöhnte, als er versuchte, mir den Arm zu entziehen, aber offenbar hielt ich ihn weit kräftiger fest, als ich gedacht hatte. 120 »Genug«, wiederholte er lauter. Er drückte meinen Arm und zog mich brüsk auf die Füße. Dann legte er eine Hand unter mein Kinn und zog meinen Mund von seinem Handgelenk weg. Ich fühlte mich merkwürdig, irgendwie schwindlig, berauscht. Ich sah Thierry an, während ich ihn noch auf meinen Lippen schmeckte. Seiner finsteren Miene nach zu urteilen erwartete ich, dass er mich zurückstoßen und aus dem Zimmer stürmen würde. Stattdessen packte er mich an den Schultern, zog mich an sich und presste seine Lippen auf meine, saugte mich förmlich aus, so wie ich es eben noch mit ihm gemacht hatte. Ich schlang meine Arme um seine Taille und erwiderte den Kuss, innig und so leidenschaftlich, dass ich das Gefühl hatte zu ertrinken ... Dann erst stieß er mich von sich weg und stürmte aus dem Zimmer.
Ich stolperte zur Couch zurück, ließ mich darauf fallen und versuchte so normal zu atmen, wie ich konnte. Ich legte meine Finger auf meine Lippen, benommen von dem, was da eben gerade passiert war. Also schön, vielleicht war es doch nicht so schlecht, ein Vampir zu sein. Die Jury beriet noch. Ein paar Minuten verstrichen, bevor ich ein leises Klopfen an der Tür hörte. Ich blickte hoch, erwartete, Thierry zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihm sagen sollte. »Danke für den Drink.« »Sie küssen großartig?« Aber nichts, was ich hätte über die Lippen bringen können, hätte sich auch nur halbwegs intelligent angehört. Zum Glück musste ich nicht länger nachdenken, denn er war es nicht. 121 Ein rothaariges Mädchen mit Sommersprossen auf der Nase schob ihren Kopf durch den Türspalt und zwinkerte mir zu. Sie schien noch ein Teenager zu sein. Sie lächelte mich an. »Hi.« Ich sah mich kurz um. Ich war die Einzige hier im Raum. Also gut. »Hallo.« »Sarah«, sagte sie. »Das ist ja lustig. Ich heiße auch so.« Es war ein müder Witz, zugegeben, aber sie fand ihn offenbar riesig, denn sie warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend, mit aufgerissenem Mund, was ihre langen Reißzähne präsentierte, die mich ein bisschen verängstigten. Ich hatte etwas Neues, das ich auf meine Liste mit Phobien setzen konnte: laute, rothaarige Teenager-Vampire.
»Nein. Du bist Sarah. Ich bin Zelda.« »Zelda?« »Richtig.« Ich wusste nicht, was ich jetzt sagen sollte. Sollten wir uns unterhalten? Mir war derzeit nicht sonderlich nach einem Plauderstündchen. »Thierry hat mich gebeten, dir Kleidung zu bringen.« Der Rest ihres Körpers tauchte hinter der Tür auf, als sie den Raum betrat. Sie trug einen schwarzen Rock und eine smaragdgrüne Bluse. Das Outfit sah aus, als hätte sie es sich von ihrer Mutter geborgt. Sie reichte mir die Kleidung, die sie auf den Armen trug, aber ich nahm sie nicht entgegen, sondern sah sie nur fragend an, während ich aufstand. Ich hatte keine Schmerzen mehr. Genau genommen fühlte ich mich alles in allem fantastisch. »Warum hat Thierry dich gebeten, mir etwas zum Anziehen zu bringen?« 122 Sie sah mich unsicher an. »Weil du... heute Abend zu der Schicht eingeteilt bist und... Jeans normalerweise nicht zu unserer Uniform gehören. Cooles Sweatshirt übrigens.« Ich berührte zerstreut meine Tweety-geschmückte Brust. »Das ist ein Scherz, richtig? Ich habe Schichtdienst?« »Nein. Ich meine, das ist kein Scherz.« Ich nahm mir einen Moment Zeit, die Kleidung zu inspizieren. Zelda war ein paar Zentimeter größer als ich, aber wir hatten in etwa die gleiche Größe. Wenn es ihre Kleidung war, würde sie mir passen. Was hatten wir denn da: schwarzer Rock, schwarze Strumpfhose. Schwarze
Riemchensandaletten und eine langärmelige, rote Bluse. Nicht gerade mein Geschmack, aber tragbar. Ich sah sie finster an. »Was genau meinst du mit, ich wäre >zur Schicht eingeteilt?« Zelda zuckte mit den Schultern. »Bedienen. Thierry sagte, du würdest heute Nacht aushelfen.« Meine Brauen zuckten hoch, und eine heiße Woge von Wut durchfuhr mich. So eine verdammte Frechheit! Wir hatten eine Abmachung getroffen. Er sollte mir beibringen, wie ich mich an das Leben als Vampir gewöhnen konnte, ohne vorher an einer Holzvergiftung zu sterben, und dafür sollte ich von ihm alle Informationen bekommen, die ich brauchte, um mein normales Leben weiterführen zu können. Welchen Teil der Abmachung hatte er nicht kapiert? Okay, eventuell hatte ich die Einzelheiten nicht besonders klar definiert, aber ganz bestimmt hatte ich mich nicht bereit erklärt, als Kellnerin in diesem albernen Vampirclub zu schuften. Ich schüttelte den Kopf. »Daraus wird nichts. Ich habe meine Tage als Kellnerin schon lange, sehr lange hinter mir. Ich 123 habe es damals gehasst und werde mir das nicht noch einmal zumuten.« Zelda starrte mich einen Moment an und brach dann plötzlich in Tränen aus. »Aber... er... sagte... du würdest... würdest ... aushelfen...«
Ich hob die Hände und versuchte sie zu beruhigen. Was war denn jetzt los, zum Teufel? »Tut mir leid.« Ich tätschelte verlegen ihre Schulter, während sie schluchzte. »Ich habe nichts gegen Kellnerinnen, wirklich nicht. Es ist ein toller, vornehmer Beruf. Nur eben nichts für mich. Das ist nicht persönlich gemeint. Jedenfalls danke für die Kleidung.« »Nein, darum geht es nicht. Es ist nur... es ist nur...« »Nur was?« »Ralph!«, jammerte sie. »Ralph? Wer zur Hölle ist Ralph?« »Ralph ist tot.« »Oh.« Ich schüttelte den Kopf. »Okay, Zelda. Atme erst mal tief durch und sag mir, wovon du eigentlich redest.« Der Springbrunnen ließ ein wenig nach. »Ralph war Kellner hier. Bis heute Nacht. Er ist tot. Die Jäger haben ihn erwischt.« »Oh. Tut mir leid.« Was gab es da mehr zu sagen. Wieder einer, der ins Holz gebissen hatte, sozusagen. Sie schnüffelte und fuhr mit dem Handrücken über ihre Nase. »Er dachte immer, dass er ewig leben würde.« »Na ja... das sollte er ja eigentlich auch, oder?« »Er weigerte sich einfach zu glauben, dass ihm etwas Schlimmes passieren könnte. Aber dann ist es doch passiert.« »Das nervt wirklich, ja.« 124
»Also, es ist nicht für ewig, okay? Nur so lange, bis wir jemanden finden, der ihn auf Dauer ersetzt. Thierry meinte, du hättest bestimmt nichts dagegen.« »Meinte er das, hm?« Zelda sah mich hoffnungsvoll an. Großartig. Jetzt würden mich auch noch Gewissensbisse quälen, wenn ich mich weigerte. Dabei hatte ich schon genug auf dem Gewissen, ohne mir noch mehr aufzuladen. Ich seufzte. »Okay. Aber nur für heute Abend.« Ihr strahlendes Lächeln verscheuchte ihre Tränen. »Danke. Ich stehe hinter der Bar, also haben wir später noch genug Zeit, miteinander zu plaudern.« »Super.« Sollte Enthusiasmus in meiner Stimme mitgeklungen haben, kann ich versichern, dass er nur gespielt war. »Du darfst also schon Alkohol servieren? Ich dachte, man müsste neunzehn sein, damit man das kann.« »Da bin ich auf der sicheren Seite«, erwiderte Zelda. »Ich bin letzten Dienstag dreihundertneunzehn geworden.« »Oh.« Ich verdaute diese Information. »Was sagt man da: herzlichen Glückwunsch?« »Eigentlich habe ich aufgehört, meinen Geburtstag zu feiern, als ich zweihundert wurde.« Sie ging zur Tür. »Ich bin an der Bar. Wenn du Fragen hast, dann wende dich ruhig an mich, okay?« »Okay. Danke.« Ich sah dem drei Jahrhunderte alten rothaarigen Barmädchen nach, als es das Büro verließ, und schüttelte den Kopf. Das Äußere konnte wirklich enorm täuschen.
Da saß ich nun. Soeben in die Kellnerschicht gelockt, als Ersatz für einen toten Vampir mit dem unwahrscheinlichen Namen Ralph. In gewisser Weise war es ganz gut, dass ich 126 heute Nacht einsprang. Es würde mir helfen, die Gedanken an das zu verdrängen, was in der U-Bahn passiert war. Ich konnte mich unter die anderen Kreaturen der Nacht mischen, die rauchige Clubs mit dunkelhaarigen Jazzsängerinnen liebten. Möglicherweise konnte ich ja auch mehr über die Jäger in Erfahrung bringen und darüber, wie ich am besten einem ähnlichen Schicksal wie dem, das Ralph ereilt hatte, aus dem Weg ging. Vielleicht würde ich ja sogar die wahre Geschichte hinter dem rätselhaften Monsieur de Bennicoeur herausfinden. Die wichtigste Frage war jedoch: Gaben Vampire großzügig Trinkgeld? Mit den Kleidern hatte die nette Zelda mir auch ihren Beutel mit Make-up da gelassen. Nachdem ich einen leuchtend roten Lippenstift aufgelegt hatte, schienen die Ärgernisse des Tages langsam zu verblassen. Zumindest konnte ich alle unerfreulichen Gedanken unterdrücken, während ich mich auf mein leicht durchsichtiges Spiegelbild konzentrierte, als ich meine Kriegsbemalung auftrug. Doch als ich fertig war, kehrten die Erinnerungen sofort wieder. Der arme Quinn. Jedes Mal, wenn ich an die Ereignisse dachte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Warum
konnte ich nicht kaltherziger sein? Vielleicht kam das noch, aber im Moment hatte ich das Gefühl, als hätte ich bei einem Mord geholfen oder ihm zumindest Vorschub geleistet. Nach ein paar Minuten verließ ich das Büro und suchte in dem dunklen Club nach Thierry, aber er war nirgendwo zu sehen. Keine Überraschung. Ich fühlte mich immer noch etwas verlegen wegen dem, was zuvor geschehen war. Ich wusste nicht, ob mir das spontane Handgelenksaugen oder das anschließende Lippensaugen peinlicher war. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Aber ich wollte trotzdem unbedingt mit ihm reden. Wenn ich schon servieren sollte, wollte ich wenigstens, dass sich der Zeitaufwand lohnte. Ich wollte mit meiner Ausbildung auf der Stelle beginnen. Schließlich hatte ich keine Zeit zu verschwenden, vor allem, nachdem ich mich heute Nachmittag in eine so unglückliche Situation gebracht hatte. Barry schlenderte auf mich zu. Er trug einen ähnlichen Smoking wie den, den er letzte Nacht getragen hatte, nur steckte diesmal eine rote Rose in seinem Revers. Er lächelte sein etwas herablassendes Lächeln, das seine winzigen Reißzähne entblößte. »Guten Abend, Sarah«, sagte er trocken und relativ uninteressiert. »Tagchen«, antwortete ich. »Also, hier bin ich, bereit einzuspringen und auszuhelfen. Nur für heute Nacht allerdings. Sagen Sie mir einfach, was ich tun soll.«
Ich gab ihm praktisch eine Vorlage, forderte ihn heraus, etwas Grobes, Unhöfliches zu erwidern, aber entweder überstieg diese Einladung seinen Horizont, oder er war einfach nicht in der Stimmung, Spielchen mit mir zu spielen. Ehrlich gesagt war auch ich nicht in der richtigen Laune dafür. »Ich glaube nicht, dass heute viel zu tun ist. Halten Sie sich einfach für unsere Gäste bereit. Wir haben eine sehr übersichtliche Speisekarte, weil die meisten Leute nur Getränke bestellen - die meisten von uns können keine festen Speisen zu sich nehmen...« »Ach, tatsächlich nicht?«, fiel ich ihm ins Wort. »Das dürfte es wohl erklären.« Er sah mich verwirrt an. »Was erklären?« 128 »Meinen mangelnden Appetit. Gut zu wissen, dass das für Vampire normal ist.« Er räusperte sich. »Ja, das ist völlig normal. Jedenfalls, wie ich sagte, bevor Sie mich so unhöflich unterbrochen haben -George wird Ihnen heute helfen, aber er kann nicht vor elf Uhr abends anfangen. Ich habe versucht, ihn früher herzubestellen, aber er ist nicht an sein Telefon gegangen.« »Ich glaube, das kriege ich schon hin.« Ich sah mich in dem leeren Club um. »Wo ist übrigens Thierry? Ich muss mit ihm reden.« Barrys Miene verfinsterte sich. »Der Meister kümmert sich zurzeit um andere Geschäfte. Er kehrt bald zurück.«
Ich musterte ihn stirnrunzelnd. »Warum nennen Sie ihn eigentlich Meister? Das klingt irgendwie so... förmlich.« Er seufzte ergeben. »Wie ich ebenfalls bereits sagte, zeigt dieser Titel meinen Respekt. Er ist der Älteste unserer Art, mit dem ich persönlich bekannt bin, und ich nenne ihn Meister ...«, er suchte kurz nach der richtigen Formulierung, »weil er schlichtweg so genannt wird.« »Ah, verstehe. Und was trinkt er für gewöhnlich?« »Wie bitte?« »Als Sie ihm neulich sein Getränk serviert haben, haben Sie ihm seinen üblichen Drink gebracht. Was ist es? Ich sollte so etwas wissen, damit ich ihn nicht fragen muss. Ich will schließlich nicht, dass der Meister verdurstet.« Ich verzog spöttisch das Gesicht. Barry starrte mich an, länger, als mir lieb war, bevor er schließlich antwortete. »Preiselbeersaft.« Das überraschte mich jetzt wirklich. »Kein Blut?« »Er trinkt nur sehr selten in der Öffentlichkeit Blut.« »Interessant.« 129 Barry zuckte mit seinen schmalen Schultern. »Wenn Sie das sagen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Er nickte mir knapp zu und ging seiner wenig fröhlichen Wege. Ich fragte mich ernsthaft, wo er den Besenstiel gefunden hatte, der so klein war, dass er ihn sich in den Hintern hatte schieben können. Er war ganz und gar nicht mein Lieblingskerl in der Stadt, aber was konnte ich schon tun? Vielleicht hatte er ja so einen
Napoleonkomplex. Kleine Männer mit großen Verhaltensproblemen. Jemand tippte mir nachdrücklich auf die Schulter, und ich drehte mich um. Ein stämmiger Kerl in einem olivgrünen Overall und einem schwarzen T-Shirt hielt mir ein Klemmbrett unter die Nase. »Unterschreiben Sie bitte für das Fass o-Neg?« »Das Fass was?« »Null-negativ. Unterschreiben Sie einfach hier auf der gepunkteten Linie.« Er deutete auf die entsprechende Stelle auf dem Blatt Papier. Hinter ihm stand ein silbernes Fass, das ich für ein Bierfass gehalten hätte. Normalerweise jedenfalls. Vermutlich war o-Neg kein Kodename für Alkohol. Aber wer lieferte Fässer mit Blut an einen Vampirclub? Ich blickte auf das Formular. Der Name der Firma war »Die Blutlieferanten«. Okay, das klang logisch. Ich unterschrieb wie eine gehorsam Angestellte auf der gepunkteten Linie; dann riss mir der Kerl das Klemmbrett aus der Hand und marschierte zur Hintertür. Er hatte es verdammt eilig. Ich fragte mich, wie viele Lieferungen er heute Nacht noch erledigen musste. Wie viele Vampirclubs gab es in Toronto eigentlich? Allmählich tröpfelten die Gäste ein. Keiner von ihnen sah 130 so verblüfft und derangiert aus wie ich letzte Nacht. Im Gegenteil, sie schienen schon häufig hier gewesen zu sein und waren offenbar daran gewöhnt, ihren Club durch ein Sonnenstudio zu betreten. Die Band trat um halb acht auf
die Bühne und erfüllte die rauchige Luft mit dunkler, sexy Musik. Wenn ich versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass all diese Leute Vampire waren, fühlte es sich hier an wie in jedem anderen Club. Nichts war außergewöhnlich. Keiner der Leute machte Ärger. Sie waren hier, um den Ärger zu vergessen, den sie draußen hatten, und freuten sich, ein paar Stunden in Frieden und Sicherheit zu verbringen. So wie ich. Es war ein tröstender Gedanke. Einen Augenblick lang. Dann fielen mir wieder Dan und sein Kumpel ein und was sie Quinn angetan hatten. Wie hatte Thierry gesagt: »Vampire können gut oder böse sein... genauso wie Menschen.« »Was darf ich Ihnen bringen?« Ich näherte mich dem letzten Paar, das den Club betreten hatte. Nach ein paar Stunden hatte ich mich an den Job gewöhnt. Niemand machte mir das Leben schwer. Natürlich erntete ich einige neugierige Blicke. Entweder kannten die Leute mich gar nicht oder sie hielten mich für Thierrys neue Freundin. Ich sparte mir den Atem, mit ihnen zu streiten. Thierry war bis jetzt noch nicht aufgetaucht, und das war so ziemlich das Einzige, was mir Stress machte. Ansonsten fühlte ich mich im Midnight Eclipse recht wohl. Der Mann am Tisch lächelte mich an. Allerdings fiel es mir schwer, ihn einen Mann zu nennen. Er wirkte mehr wie ein Collegestudent, der bis spät in die Nacht über seinen Büchern gehockt hatte. Er hatte scharf geschnittene Gesichtszüge, blondes Haar und war bartlos.
Er trug ein kurzärmeliges, blauweißes Polohemd und eine dunkelblaue Hose. »Ich hätte gern einen AB-Positiv und einen Orangensaft.« 132 Big Spender, dachte ich. AB-Positiv war eine seltene Blutgruppe, und ich hatte bereits gelernt, dass der Drink umso teurer war, je seltener die Blutgruppe war. Was auf eine merkwürdige Stephen-King-Weise natürlich logisch war. »Cool.« Ich notierte die Bestellung auf einem Block, den ich in Thierrys Büro gefunden hatte. Mein Gedächtnis war echt lausig. »Und was möchten Sie?« Ich wandte mich an seine Freundin. Sie gehörte nicht gerade zur dezenten Sorte. Von allen Gästen heute Abend wirkte sie am meisten so, als gehörte sie in einen Vampirclub. Über einer schwarzen Jeans trug sie ein tief ausgeschnittenes schwarzes T-Shirt, das nur sehr wenig von ihrem blassen Dekollete der Fantasie überließ. Ihr Gesicht war so weiß, dass es schon ungesund wirkte. Dazu hatte sie einen dunkelroten Lippenstift aufgelegt und schwarzen Eyeliner, und ihr dunkles Haar war so lang, dass es künstlich verlängert worden sein musste. Nase und Augenbrauen hatte sie mit silbernen Ringen gepierct. Sie sah mich mit dem gerade angesagten verdrießlichen Ausdruck an. »Wodka. Pur.« »Kein Blut?« Wenn sie Nein sagte, wäre sie die Erste heute Abend. »Nein.«
»Noch etwas?« »Nein.« Ich drehte mich um und ging zur Bar, um die Bestellung an Zelda weiterzugeben. »Wodka pur?«, erkundigte sich Zelda stirnrunzelnd. »Ja. Kein Blut.« »Für wen ist das?« Ich warf einen Blick über meine Schulter. »Für Tisch zwölf.« 133 Zelda spähte durch den dämmrigen Raum und schüttelte dann den Kopf. »O nein, nicht die schon wieder.« Ich folgte ihrem Blick. »Was?« »Das sind Timothy Langdon und seine menschliche Freundin.« Meine Brauen flogen in die Höhe. »Sie ist ein Mensch?« »Ein Möchtegern-Vampir.« »Und? Wo ist das Problem?« Zelda schüttelte immer noch den Kopf. »Wenn Thierry herausfindet, dass sie hier sind, rastet er aus.« »Warum denn? Wieso ist das ein Problem?« In diesem Moment nahm eine Bewegung links von mir meine Aufmerksamkeit gefangen. Die Tür zum Sonnenstudio ging auf, und ein gut aussehender Typ kam herein. Er ging direkt auf uns zu, das heißt auf Zelda. Mich würdigte er kaum eines Blickes. Er hatte langes Haar, das wie goldener Sand aussah und ihm in feinen Strähnen bis über die Schultern fiel. Er war gebaut wie ein Chippendale-Tänzer und sah aus, als würde er regelmäßig die Sonnenbänke vorn im Laden aufsuchen. Seine Brustmuskeln schimmerten unter dem dünnen
weißen Hemd durch, das er über einer schwarzen Lederhose trug. »Zelda, Honey«, begrüßte er sie. Nach diesen beiden Worten, die er mit seinen vollen, perfekten Lippen formte, war mir klar, dass dieser heiße, Güteklasse-AAdam so schwul war wie der Tag lang. Was für eine Verschwendung. »Was ist denn passiert? Der Nachricht nach zu urteilen, die Barry mir hinterlassen hat, sollte man meinen, die Welt ginge unter.« »Das tut sie auch, George. Du musst jetzt stark sein.« Ihre Miene war grimmig. »Vielleicht solltest du dich hinsetzen.« Seine Miene erstarrte. Er schwang seinen knackigen Hin 134 tern auf einen Barhocker und sah sie beunruhigt an. »Spucks schon aus.« »Ralph ist tot.« »Was?« Das Wort war ein einziger Klageschrei. »Wie?« Zelda streckte ihre Hand aus und legte sie tröstend auf Georges Arm. »Jäger natürlich.« »Verdammt!« Georges Stimme zitterte. »Verdammt! Verdammt, verdammt!« Er atmete tief durch, sichtlich erschüttert. »Bedeutet das etwa, dass ich Doppelschicht schieben muss?« Zelda schluckte. »Nein.« »Gott sei Dank. Soll ich dir was sagen? Es geschieht Ralph ganz recht, dass man seinen Hintern gepfählt hat. Er hat sich nie nach rechts und links umgesehen, wenn er eine Straße überquert hat.« Jetzt geruhte George endlich,
mich anzusehen. »Hallo, meine Hübsche, wer bist du denn?« Ich streckte ihm zögernd meine Hand entgegen. »Sarah.« Er nahm sie, aber statt sie zu schütteln, küsste er sie. »Wie nett, mit jemandem zu arbeiten, der neu ist und so hinreißend aussieht.« »Wow.« Ich lächelte ihn an. »Das ist süß. Und ich dachte, du wärst schwul.« »Bin ich, Honey. Aber deshalb bin ich ja nicht blind.« Ich wusste nicht genau, ob ich diesen Kerl hasste oder sofort mit ihm bummeln gehen wollte. Das würde sich noch herausstellen. Zelda maß ein Glas AB-Positiv aus einem Fass ab. Ich beobachtete sie neugierig. »Woher kommt das Blut eigentlich?«, erkundigte ich mich. Sie schenkte ein Glas Blutorangensaft ein, bevor sie zu mir hochsah. »Von den Lieferanten.« 135 Ich runzelte die Stirn. »Ja, das hab ich schon kapiert. Aber woher bekommen die es?« »Meistens von Spendern. Oder Leute werden dafür bezahlt, dass sie sich Blut abzapfen lassen. Es ist ein richtiges kleines Geschäft. Und es gibt auch Konkurrenz, da es mittlerweile verschiedene Lieferanten gibt.« »Gibt es so viele Spender in Toronto?« »Ein großer Teil des Blutes kommt aus den Staaten«, mischte sich George ein. »Das teure, besonders schmackhafte Blut wird aus Europa importiert. Wenn der
Nachschub stockt, behelfen wir uns mit synthetischem Blut, aber das schmeckt ein bisschen... eben synthetisch. Und wenn es ganz besonders schlimm kommt, nehmen wir Tierblut. Igitt.« Ich versuchte mir meinen Ekel nicht anmerken zu lassen. »Das klingt ja wirklich hübsch.« »Du hast gefragt.« George zuckte mit den Schultern. »Wo ist der Boss? Ich wollte ihn um eine Gehaltserhöhung bitten, und jetzt, wo Ralph ausfällt, ist das eventuell genau der richtige Moment zu betonen, wie sehr er mich braucht.« »Er ist unterwegs«, informierte ich ihn. »Sollte bald zurück sein. Ich muss auch mit ihm reden. Und zwar bald.« Er betrachtete mich. »Honey, du hast gerade erst angefangen. Ich bekomme die Gehaltserhöhung zuerst, okay?« Ich wollte ihm gerade klarmachen, dass ich nicht vorhatte, um ein paar Dollar extra zu feilschen, hielt es jedoch der Mühe nicht für wert. »Klar, wie du meinst.« Zelda stellte die Drinks auf ein rundes Tablett. »Bring sie ihnen und sag Timothy, dass er sie trinken und dann verschwinden soll, bevor Thierry wieder da ist.« Ich schluckte. »Ich weiß nicht, ob ich mich dabei wohlfühle.« 136 Sie blinzelte mich an. »Hast du Thierry jemals erlebt, wenn er wütend ist?« »Du nennst ihn auch nicht Meister, hm?«
»Ich bin zu alt, um irgendjemanden Meister zu nennen. Beantworte meine Frage. Hast du ihn jemals wütend erlebt?« Ich dachte an seine Reaktion letzte Nacht, als ich seinen Selbstmordversuch erwähnt hatte. Die Wut und Brutalität, die in seinen silbernen Augen aufgeblitzt war. »Wird er dann grün und schuppig wie Hulk?« »Schlimmer«, meinte George. Ich schnappte mir das Tablett mit den Getränken und ging zu Tisch zwölf. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber bei Gott, ich war durchaus fähig dazu. Ich war sogar ziemlich gut darin. Vermutlich würde ich an diesem Tisch heute kein Trinkgeld einstreichen. »Timothy, richtig?«, fragte ich, als ich den Drink vor ihm hinstellte. Er lächelte mich an. »Richtig. Sie sind neu hier, stimmts?« »Ja. Ich bin Sarah.« Seine Freundin gab ein unfreundliches Knurren von sich. Immer locker bleiben, Süße, dachte ich. Ich versuch absolut nicht, deinen Kerl anzumachen. Ich stellte das Glas mit Wodka vor sie. »Diese Drinks gehen aufs Haus, okay?« »Wirklich?« Timothy sah mich überrascht an. »Vielen Dank. Aus welchem Anlass?« »Der Anlass ist, dass Sie hier verschwinden, sobald Sie ihre Drinks gekippt haben.« »Wie bitte?« »Für wen zum Teufel halten Sie sich?«, fuhr mich die Freundin an.
138 Ich klemmte mir das Tablett unter meinen linken Arm. »Ich bin das Mädchen, das zwischen euch beiden und einem schmerzhaften Rauswurf steht. Man hat euch gesagt, dass ihr nicht mehr kommen sollt.« »Das hier ist ein freies Land.« Timothys Stimme wurde eine Spur lauter. »Vielleicht da draußen.« Ich deutete mit dem Kinn zur Tür. »Hier drin spielt ihr nach unseren Regeln.« »Du Miststück!«, spie mir die Freundin ins Gesicht. Ich drehte mich zu ihr herum. »Sperr die Lauscher auf, du Gruftie, ich will keinen Ärger. Glaub mir, ich hatte heute schon so viel davon, dass er für eine lange Zeit reicht. Also trinkt aus und verschwindet von hier.« Sie kniff die Augen zusammen. »Du kannst mich mal!« »Ja.« Ich grinste sie an. »Das würde dir gefallen, was?« Dieser Kommentar brachte mir einen Wodka pur ein, fein säuberlich über mein Gesicht verteilt. Ich wischte mir die Augen und wusste im selben Moment, dass mein so mühsam aufgetragenes Make-up verlief. »Du hast mir gerade doch nicht etwa einen Drink ins Gesicht gekippt, nein?« Wir hatten die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Vampire in unserem Teil des Clubs. Ich versuchte ihre sensationslüsternen Blicke zu ignorieren. Das Mädchen stand auf und baute sich trotzig vor mir auf. »Du schmeißt uns hier nicht raus. Wir bleiben.« »Melanie...«, Timothys Stimme klang warnend.
»Komm schon«, forderte Melanie mich höhnisch auf. »Versuch doch, mich rauszuwerfen, du blutsaugendes Miststück.« Sie ging nach dem ersten Kinnhaken zu Boden. Ich hatte 139 nicht mal vorgehabt, zuzuschlagen. Meine Faust schien aus eigenem Antrieb zu handeln. Der Wodka war schuld... Der Wodka, der gerade von meinem Kinn heruntertropfte. »Sarah.« Das Wort ließ mich wie festgefroren innehalten. Es klang weder drohend noch tadelnd, sondern eher gelassen. Viel zu gelassen. Ich versuchte mir das Gesicht mit meinem Ärmel abzuwischen, bevor ich mich umdrehte. Thierry stand zwei Meter hinter mir. Die Arme hatte er vor seiner Brust verschränkt. Ich zuckte mit den Schultern. »Sie hat es sich selbst zuzuschreiben.« Er antwortete nicht, sondern blickte auf das Mädchen, bevor sein Blick fast träge zu Timothy wanderte, der bemerkenswert bleich geworden war. »Ich...«, stammelte Timothy. »Es tut mir leid, Meister. Sie wollte unbedingt herkommen. Ich weiß, ich hätte es ihr ausreden müssen, aber...« »Verlassen Sie diesen Club.« Thierrys Stimme war immer noch ruhig, aber sie hatte einen Unterton, einen tiefen, dunklen und unaussprechlich furchteinflößenden Unterton. »Ja, natürlich, machen wir.« Timothy sah ihm nicht in die Augen. »Nochmals, verzeihen Sie mir bitte.«
Er stand auf und zerrte an Melanie. Sie drückte eine Hand auf ihre Nase, aus der das Blut nur so strömte. Ich war wohl kräftiger, als ich erwartet hatte. Hmm, vielleicht entwickelte sich meine Vampirkraft ja bereits. Nett. Thierry sah Timothy nicht an, sondern blickte starr geradeaus, mit unergründlicher Miene. Aber als Timothy an ihm vorbeiging, packte er den Arm des Jungen und zog ihn dicht an sich, um ihm leise etwas sagen zu können. Es war jedoch nicht so leise, dass ich es nicht gehört hätte. 140 »Komm wieder, und es wird das Letzte sein, was du tust.« Seine Stimme klang wie Stahl, wie der Sicherungsbügel einer Pistole, der zurückgeschoben wird. Sehr gefährlich. »Du und deine Menschenfreundin.« Timothy antwortete nicht, sondern nickte nur, fast krampfhaft. Dann gingen Melanie und er hastig zur Tür und verschwanden nach draußen. »Du.« Das galt mir. Ich kam mir plötzlich nackt vor und hielt das leere Tablett als recht erbärmlichen Rüstungsersatz vor meine Brust. »Hmm?« »Wasch dein Gesicht und geh wieder an die Arbeit.« Er drehte sich um und ging zu seinem Ecktisch im Schatten. Sein typischer »Arschloch-Boss«-Tonfall gefiel mir zwar nicht sonderlich, aber mir war das, was da eben passiert war, ein bisschen peinlich. Ich musste lernen, meine Wut im Zaum zu halten. Nur weil ich jetzt Vampirkräfte entwickelte, konnte ich nicht herumlaufen und jeden
verprügeln, der mich nervte. Jedenfalls nicht alle. Sonst würde ich ein Vermögen zur Maniküre schleppen. 9 Ich zog hastig meinen Lidschatten nach, frischte meinen Lippenstift auf und versuchte, mein Haar so ordentlich zu frisieren wie es ging, angesichts meines immer durchsichtiger werdenden Spiegelbildes, mit dem ich mich begnügen musste. Ich versuchte nicht zu viel darüber nachzudenken, weil Furcht und Schmerz sonst meine Brust wie eine Klammer zusammenpressten. Was sollte ich ohne Spiegelbild anfangen? Das war schlicht ein Unding! Nach zehn Minuten kam Zelda in den Waschraum, um nach mir zu sehen. Ich musste mich herumdrehen, um sie wahrnehmen zu können, weil ihr Spiegelbild überhaupt nicht mehr existierte. »Wie schaffst du das?« Ich deutete mit einem Nicken auf den Spiegel. Sie sah mich verwirrt an, bis sie begriff, was ich meinte, und zuckte dann mit den Schultern. »Man gewöhnt sich daran.« »Ich glaube nicht, dass ich das je kann. Am liebsten würde ich mich vor das nächste Kreuz werfen, das ich sehe.« Sie musterte mich prüfend. »Du machst Witze, stimmt's?« »Klar. Mehr oder weniger.« »Kreuze können nichts ausrichten, weißt du? Das ist nur ein alberner Mythos.«
Das war gut. Ich hatte mich nämlich schon gefragt, ob ich jetzt anfangen musste, Kirchen zu meiden. Das soll nicht heißen, dass ich häufig zur Kirche ging. Aber es wäre ganz nett, diese Möglichkeit zumindest zu haben. Ich bemühte mich, ihr zuzulächeln. »Als Nächstes wirst du mir sicher verraten, dass du nicht in einem Sarg schläfst, hab ich recht?« Sie nickte. »Diese Legende entspricht der Wahrheit. Leider kann ich mir nur eine Kiefernkiste leisten.« Sie lachte über meine verblüffte Miene. »Das war ein Scherz.« »Sehr komisch.« Sie warf einen Blick in den Spiegel. »Wenn es dich so stört, dann kannst du ein bisschen Geld sparen und dir eine Scherbe kaufen.« 142 »Eine was?« »Man nennt sie >Scherben<. Sie haben eine reflektierende Oberfläche wie ein Spiegel, allerdings mit dem Unterschied, dass sie auch für uns funktionieren. Aber sie sind sehr teuer.« »Wie teuer?« »Wenn du fragen musst, kannst du dir vermutlich keine leisten. Ich kann es jedenfalls nicht.« Ich seufzte. »Die Geschichte meines Lebens.« »Ich denke, wenn es dir so missfällt, ein Vampir zu sein, kannst du immer noch nach dem Heilmittel fragen.« Ein Heilmittel! Sehr witzig. »Ja, das wäre toll.« Ich lächelte. »Nein, vorausgesetzt, ich überstehe die nächsten
Wochen, denn dann bin ich bald in Mexiko. Dafür lohnt es sich doch zu leben, oder?« »Unbedingt.« Zelda erwiderte mein Lächeln. »Übrigens, die Show vorhin gefiel mir.« »Welche Show?« Sie schlug mit der Faust durch die Luft. »Als du dieser Gothic-Braut die Lampe ausgepustet hast. Als sie das vorige Mal hier war, hätte ich das auch gern gemacht. Sie ist wirklich ein Miststück. Ich weiß nicht, was Timothy an ihr findet.« »Kennst du ihn?« »Wir waren einmal zusammen. Aber das ist schon lange her.« Im ersten Moment hätte ich mich fast erkundigt, wie lange, doch dann kam ich zu dem Schluss, dass ich es eigentlich nicht wissen wollte. »Warum nimmst du dir nicht frei, da George jetzt hier ist«, führ Zelda fort. »Du siehst irgendwie müde aus.« »Das bin ich auch. Dieser Tag war wirklich anstrengend. 143 Aber ich muss mit Thierry reden, bevor ich irgendwo hingehe. Er ist meine Auskunftsstelle, wenn es um diese Vampirdinge geht.« »Seit wann bist du denn bereits ein Vampir?« Ich zog den Reißverschluss der Kosmetiktasche zu und gab sie ihr zurück. »Seit zwei Tagen.« Sie sah mich verblüfft an. »Zwei Tage? Und dein Spiegelbild ist schon so schwach?«
Ich warf einen Blick in den Spiegel und verzog das Gesicht. »Ja. Und?« Sie wandte sich ab. »Ach... nichts. Gar nichts.« »Ich glaube, du wolltest etwas sagen. Was? Was wolltest du sagen?« Als sich Zelda wieder zu mir umdrehte, kaute sie an ihrer Unterlippe. »Normalerweise verliert man sein Spiegelbild erst nach langer Zeit, es sei denn...« »Es sei denn was?« »Es sei denn, du bekommst ständig...« Sie hielt inne und sah mich an. Dann lächelte sie. »Ah, das muss der Grund sein.« Ich stemmte eine Hand in meine Taille und blitzte sie böse an. »Muss ich es aus dir herausprügeln? Wovon redest du?« »Du und Thierry« Zelda klang, als erklärte das alles. »Thierry und ich und was?« »Er gibt dir sein Blut. In seinem Alter ist dieses Blut wie Gold, selbst wenn es verdünnt wird. Kein Wunder, dass es den Prozess beschleunigt.« Sie bemerkte meine Anspannung und registrierte auch, dass ich nicht widersprach. »Das ist okay. Eigentlich ist es sogar ganz süß. Er braucht jemanden wie dich.« »Was soll das denn jetzt wieder heißen?« 144 »Jemand, der so lebendig ist. Jemand, der ein bisschen Licht in sein Leben bringen kann.« Ich schüttelte den Kopf. »Hör zu, da ist nichts zwischen uns.«
Zelda verdrehte die Augen. »Wenn da nichts wäre, würde er dir wohl kaum sein Blut anbieten, oder? Es gibt genug davon, das weißt du selbst. Schließlich hast du vorhin selbst den Empfang des Fasses quittiert. Er mag dich. Nimm es als Kompliment. Er mag nicht sehr viele Leute.« Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Er hätte mir sein Blut nicht geben müssen, wenn jedes beliebige alte Blut genügt hätte. »Wenn er mich mag, hat er jedenfalls eine komische Art, es mir zu zeigen.« »So benimmt er sich bei vielen Dingen.« »Wie lange kennst du ihn schon?« Zelda verschränkte die Arme. »Sehr lange. Er hat mir geholfen, als ich noch ein Zögling war. Mein Schöpfer hatte mich im Stich gelassen, und ich war in einem schlimmen Zustand. Ich verdanke ihm sehr viel«, sie sah mich an, »allerdings war er mir gegenüber nicht so großzügig. Du hast wirklich Glück.« Ich schüttelte den Kopf, als ich über ihre Worte nachdachte. »Teilen Vampire ihr Blut denn oft? Ist das normal?« »Nur bei Zöglingen. Danach geht man zu menschlichem Blut über. Es ist wie bei einem Baby, das von der Muttermilch auf normale Nahrung umsteigt.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Meine Pause ist vorbei. Ich sollte weiterarbeiten. Gehst du?« »Ja, ich denke schon.« Ich fühlte mich total erschöpft. Vielleicht konnte mein Gespräch mit Thierry ja noch eine Nacht warten. Ich war immer noch sauer, weil er mir den ganzen
146 Abend aus dem Weg gegangen war. Vielleicht konnte ich jetzt den Spieß umdrehen. »Glaubst du, du könntest mir noch einen Neuling-Spezial machen, bevor ich gehe? Ich möchte nicht schon wieder diese Krämpfe bekommen.« »Einen Neuling-Spezial?« Sie runzelte die Stirn. »Ja, dieser Wasser-und-Blut-Drink.« »Aber was ist mit Thierry... ?« Ich hob eine Hand. »Sagen wir, ich glaube, der Brunnen ist ausgetrocknet. Und selbst wenn nicht, möchte ich das Risiko nicht eingehen.« Sie nickte. »Er kann sehr launisch sein.« »Das kann man wohl sagen.« Wir gingen zur Bar, wo sie mir ein paar Flaschen von dem Neuling-Spezial gab, damit ich immer eine zur Hand hatte. Ich verstaute sie in meiner großen Schultertasche. Zelda riet mir, während der nächsten Tage alle vier Stunden etwas davon zu trinken. Danach könnte ich längere Zeit ohne aushalten. Wenn ich das Blut sehr stark verdünnt trank, würde mein Spiegelbild vielleicht nicht noch mehr verblassen, und ich würde auch keine weiteren unerwünschten Nebenwirkungen bekommen, wie ich sie nach den beiden Gaben von Thierrys Blut erlebt hatte. Ein Versuch konnte nicht schaden. Ich verabschiedete mich von Zelda und ging durch den dämmrigen Club zur Tür, was mich an Thierrys Nische vorbeiführte. Ich fühlte seinen Blick aus dem Schatten heraus. »Wohin gehst du?«, fragte er.
»Nach Hause.« »So früh? Ich dachte, wir könnten uns noch unterhalten.« »Ein andermal. Vielleicht.« Ich hätte gern noch viel mehr gesagt, aber das hier war nicht der richtige Moment dafür. Morgen war auch noch ein 147 Tag. Der heutige Tag würde sehr bald nur noch eine ferne Erinnerung sein. Gott sei Dank. »Wie du willst«, sagte er. Ich ging an seinem Tisch vorbei, blieb dann jedoch plötzlich stehen. Ich hatte vielleicht doch noch die Zeit, wenigstens etwas zu sagen. »Es ist nicht das, was ich erwartet habe.« »Wie bitte?« »Letzte Nacht hast du gesagt, du würdest mir helfen. Und? Wo warst du den ganzen Abend? Du hast mir ein paar einfache Fragen beantwortet und mich ansonsten gemieden, als hätte ich die Pest. Und übrigens, ich habe nie gesagt, dass ich hier arbeiten will. Du hast mich nicht einmal gefragt, sondern einfach angenommen, dass ich dir helfen würde.« Er antwortete zunächst nicht, sondern starrte mich nur an. »Vielleicht war es falsch von mir, davon auszugehen«, meinte er schließlich. »Und was jetzt?« »Ich weiß nicht, was du hören willst.« »Nichts. Sag einfach nichts. Darin bist du ohnehin ganz groß.« Ich setzte mich wieder in Bewegung. »Sarah!«, rief er mir nach.
Ich drehte mich um. »Ich weiß nicht, warum du dich überhaupt bereit erklärt hast, mir zu helfen. Es ist nicht zu übersehen, dass du mich nicht um dich haben willst.« Thierry schüttelte den Kopf. »Du bist irrational. Bitte setz dich.« »Ich will mich nicht setzen. Ich verstehe mein ganzes Leben nicht mehr, und aus dir werde ich schon gar nicht schlau. Ich weiß echt nicht, was ich von dir halten soll. Erst hilfst du mir, dann stößt du mich weg. Dann küsst du mich und stößt mich gleich wieder weg. Was willst du eigentlich?« 148 Seine Lippen wurden zu zwei schmalen Linien. »Sarah...« »Und ich möchte noch sagen, dass von allen Dingen, die ich nicht verstehe, das, was du neulich nachts auf der Brücke gemacht hast, am wenigsten Sinn macht. Du bist ein sechshundert Jahre alter Vampir, der nicht so einfach umzubringen ist. Und dann willst du einfach ins Wasser springen und allem ein Ende machen? Glaubst du wirklich, dass das funktioniert hätte? Ich verstehe das nicht. Wir sind durch den Sprung nur nass geworden, das ist alles.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich sagte dir bereits, dass ich darüber nicht mehr reden will.« »Ja, ja, schon gut. Mir wird allmählich klar, dass du unangenehmen Diskussionen gern aus dem Weg gehst. Soll ich dir mal was sagen? Du hast gewonnen. Die Diskussion ist vorbei. Ich verschwinde von hier.«
Seine Augen glühten jetzt wie zwei silberfarbene Flammen. Ich hatte offenbar einen wunden Punkt getroffen. Na schön, ich wusste genau, wie ich es anstellen konnte, Männer so zu verlassen, dass sie mir nachhechelten. Ich stieß die schwarze Tür auf und verließ das Midnight Eclipse zum, wie ich beschlossen hatte, letzten Mal. Die kalte Nachtluft biss auf meiner Haut, aber ich ignorierte sie. Ich warf einen Blick auf das Neonschild von Clancys Bar. Nein, heute würde ich dort keine zweite Vorstellung geben. Ich würde direkt nach Hause gehen. Einen Block weiter parkte ein Yellow-Cab am Bürgersteig. Endlich lief mal etwas gut für mich. Das wurde auch Zeit. Ich schwankte auf meinen Stöckelschuhen, die im Laufe der Nacht immer unbequemer geworden waren, darauf zu. Die Straße war menschenleer. Es kam mir fast ein bisschen sonderbar vor. Es war Samstagnacht und noch nicht so spät, 149 dass es schon so ruhig sein sollte. Sicher, das hier war nicht gerade das Partyviertel der Stadt, aber trotzdem. Ich fühlte mich plötzlich sehr einsam. Und außerdem hatte ich das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht war ich nach diesem miesen Tag aber auch einfach nur ein bisschen paranoid. Nein. Jemand beobachtete mich, ganz eindeutig. Ich konnte es fühlen.
Ich unterdrückte ein Stöhnen. Warum ich? Warum bin ich so ein Idiot? Musste ich den Club wirklich ohne Begleitung verlassen? Ich bemerkte, dass das Taxi nicht im Dienst war, und von dem Fahrer war nirgendwo etwas zu sehen. Ich warf einen nervösen Blick zur Stammkneipe der Vampirjäger hinüber. Wann werde ich endlich aus meinen Erfahrungen lernen? Und vor allem, werde ich noch atmen, wenn es so weit ist? »Hallo?« Meine Kehle war trocken und ich schluckte. »Wer auch immer Sie sind, Sie sollten wissen, dass ich den dritten Dan in Karate habe und mein Freund ein Cop ist. Reicht das?« Ich hörte ein Geräusch. Ein Stöhnen? Oder war es nur der Wind? Nein, es war definitiv ein Stöhnen. Dem ein Geräusch folgte, als würde ein schwerer Körper über den Boden schleifen. Plötzlich tauchte eine Hand hinter einer Hausecke auf, eine Hand mit weißen Knöcheln, die sich krampfhaft an dem Mauerwerk festhielt. Die Hand war blutig. Ich riss die Augen auf und schlug mir unwillkürlich die Hand vor den Mund. »Wer sind Sie?« Meine Stimme klang rau vor Angst. Der Hand folgte ein Gesicht, ein blasses, ausgemergeltes Gesicht. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, und das blutige weiße T-Shirt war zerfetzt. Trotz der kalten Nacht trug er kein Jackett. Und die Abdrücke der Reißzähne auf seinem Hals waren dunkelblau unterlaufen und noch
frisch. Er versuchte sich auf den Beinen zu halten, aber es war sinnlos. Quinn brach auf dem Bürgersteig zusammen. Ich stand wie angewurzelt da und sah mich um, aber es war niemand in der Nähe. Wir beide waren ganz allein. Ich und der Mann, der am Nachmittag vor meinen Augen ermordet worden war. Vielleicht hätte ich weglaufen sollen, hätte so viel Abstand zwischen mich und diesen Vampirjäger bringen sollen, wie möglich war, aber erneut musste ich erleben, dass meine Füße ein Eigenleben führten. Sie trugen mich näher zu diesem Mann, der meinen Tod wollte. Ich hockte mich neben ihn und strich ihm das dunkelblonde Haar aus dem Gesicht. Er zuckte zusammen und versuchte mir auszuweichen. »Schon gut. Ich werde Ihnen nichts tun.« »Sie!« Er kniff die dunkelblauen Augen zusammen, als er mich erkannte. Ich versuchte zu lächeln. »Ja, welche Überraschung, nicht wahr?« Gestern Nacht im Clancys hatte ich ihn zwar attraktiv gefunden, aber ein bisschen jungenhaft. Von einem Jüngling hatte er jetzt gar nichts mehr. Dies hier war ein Mann, der Schmerzen erlebt hatte, der durch die Hölle gegangen war und es irgendwie geschafft hatte, sie auf der anderen Seite wieder zu verlassen. Er war nicht gestorben, wie ich geglaubt hatte, aber etwas in ihm war gestorben. Das sah ich. Ich legte meine Hand auf seinen angespannten, musku-
152 lösen Arm. Quinn war weder schwach noch ein Waschlappen. Er stieß mich zurück und krabbelte weiter ins Dunkel. Die Zähne hatte er fest zusammengebissen, und er sah mich an, als wäre ich es gewesen, die ihn gebissen hatte. »Bleiben Sie mir vom Hals... Sie... Sie...« »Blutsaugendes Monster?«, beendete ich den Satz für ihn. »Hören Sie, Kumpel, nicht ich habe Ihnen das angetan. Sie können von Glück reden, dass man Sie nicht umgebracht hat.« Er lachte. Es war ein kurzes, unbeherrschtes Lachen, bei dem sich mir die Nackenhaare sträubten. »Nein... sie haben mich nicht umgebracht. Sie haben etwas Schlimmeres mit mir gemacht. Etwas viel Schlimmeres.« »Sie müssen ins Krankenhaus.« Ich wollte ihn anfassen, aber als ich seine Miene sah, hielt ich mitten in der Bewegung inne. »Fürs Krankenhaus ist es zu spät. Lassen Sie mich einfach in Ruhe, zum Teufel!« Es gelang ihm, sich aufzurappeln, aber er kippte sofort wieder um, hielt sich den Bauch und stöhnte laut vor Schmerzen. O nein! Ich kannte diese Symptome. Herr im Himmel, sie hatten es tatsächlich getan. Dan und sein Freund. Ich dachte, sie hätten Quinn töten wollen, weil er Dans Frau umgebracht hatte. Aber sie hatten ihn nicht umgebracht. Sie hatten ihn zu einem von uns gemacht.
Sie hatten einen großen bösen Vampirjäger zu dem gemacht, was er am meisten auf der Welt hasste - zu einem Vampir. Es war fast poetisch. Nur hatten sie, genau wie bei mir, den Job nicht zu Ende gebracht. Er litt Qualen. Er brauchte das Blut eines ausgewachsenen Vampirs oder er würde wirklich krepieren. »Kommen Sie.« Ich schob meine Schultertasche auf die andere Seite und griff erneut nach ihm. Diesmal hatte er nicht genug Kraft, um sich zu wehren. Er lehnte sich an mich. Hätte er es nicht getan, wäre er wieder gestürzt. Unsere Blicke begegneten sich. »Ich hasse Sie«, erklärte er. »Ah, Ihr alter Charme kommt wieder zum Vorschein. Kommen Sie, ich weiß, dass nur der Schmerz aus Ihnen spricht.« »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich will sterben. Ich will dorthin!« Ich folgte seinem schmerzerfüllten Blick. Er sah zu Clancy's. In dem seine Bier trinkenden, Vampire mordenden Kumpel hockten. »Sie glauben, die werden Ihnen helfen?« »Nein.« Er sprach leise und mit tödlicher Ruhe. »Sie werden mich umbringen. Mich aus meinem Elend erlösen.« »Tja, Pech für Sie, dass Sie ausgerechnet auf mich gestoßen sind, nicht wahr? Denn ich habe nicht vor, Sie so einfach sterben zu lassen.« Als ich ihn jedoch halb stützte, halb durch die Tür des Midnight Eclipse schleppte, drängte sich mir die Vermutung auf, dass ich mich besser um mich selbst
sorgen sollte. Denn wenn Thierry sah, was die Katze da ins Haus schleppte, kam er vielleicht auf die Idee, mich und Quinn umzubringen. 154 10 Kaum fünf Minuten, nachdem ich geschworen hatte, nie wieder einen Fuß in das Midnight Eclipse zu setzen, war ich wieder drin. Und diesmal hatte ich auch noch eine Verabredung mitgebracht. Quinn hatte aufgehört, sich wie ein Wichser zu benehmen, weil er vollauf mit seinen Schmerzen beschäftigt war. Das war geradezu ein Segen. Ich marschierte rasch durch das Sonnenstudio, stieß die Tür zum Club mit dem Fuß auf und zerrte Quinn mit mir an der falschen Palme vorbei hinein. George kam im Laufschritt herüber. »O mein Gott! Was ist das denn? Wieder die Jäger?« »Nein.« Ich schob Quinn George in die Arme, weil ich kurz davor war, unter seinem Gewicht zusammenzubrechen. »Ein Vampir-Angriff.« George runzelte die Stirn, während er Quinns Halswunde betrachtete. »Hat jemand einen Imbiss zum Mitnehmen bestellt?« »Er ist ein Opfer, kein Imbiss, du Blödmann! Und bitte, sag mir nicht, dass du das ernst gemeint hast.« George zuckte mit den Schultern. »Er sieht lecker aus, nichts für ungut.« »Wo ist Thierry?«
Als ich mich umdrehte, prallte meine Nase fast von Thierrys in Seide gehüllter Brust ab. Ich hatte nicht mal gehört, dass er sich mir genähert hatte. Unwillkürlich trat ich einen Schritt von ihm zurück und bemühte mich, gefasst zu wirken. »Was ist denn jetzt schon wieder los, Sarah?«, erkundigte er sich gereizt. 155 Ich deutete mit einem Nicken zu Quinn. »Ein VampirAngriff. Sie haben ihn umgedreht, aber er leidet große Schmerzen.« Thierry betrachtete Quinn. Ich wusste nicht, was er dachte, da seine Miene wie üblich kontrolliert ausdruckslos war, offenbar sein Markenzeichen. »Und warum hast du ihn hergebracht?« »Weil du ihm helfen kannst, so wie du mir geholfen hast.« Thierrys Blick glitt zu George, der Quinn beäugte, als wäre er der Fang des Tages. »Bring ihn in mein Büro.« George wollte protestieren, überlegte es sich jedoch anders. Er schnappte sich Quinn, schwang ihn sich mühelos über die Schulter, als würde er fast nichts wiegen, und marschierte dann durch den Club. Ich lächelte. »Also hilfst du ihm?« »Nein.« Thierry sah mich nicht an, als er sich umdrehte, zu seiner Nische zurückging und sich setzte. »Aber es würde die Gäste sicherlich schockieren, wenn wir ihn hier im Club sterben ließen.«
Eine Woge von Wut durchströmte mich. »Du willst ihm nicht helfen?« »Nein.« Ich knirschte mit den Zähnen und versuchte meine Atmung zu kontrollieren. »Du bist ein Arschloch.« Mit einer flüssigen Bewegung erhob er sich und baute sich unmittelbar vor mir auf. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt. »Niemand spricht so mit mir. Hast du eine Ahnung, wer ich bin?« »Ja. Ein Arschloch. Wie ich gerade bereits sagte.« Ich ließ ihn mit einer abschätzigen Handbewegung stehen und schritt so gelassen, wie ich konnte, in das Büro. 156 George hatte Quinn aufs Sofa gelegt, das heute wahrhaftig eine Menge Action erlebte. Quinn wand sich und hielt sich den Bauch. Zelda steckte ihr Gesicht zur Tür herein, um zu sehen, was dieser ganze Aufstand sollte. »Nun macht schon«, sagte ich zu ihnen. »Jemand muss ihm helfen.« George schüttelte den Kopf. »Keine Chance.« Zelda schüttelte nur den Kopf. »Tut mir leid, aber der Boss hat Nein gesagt.« Mir stieg vor Wut das Blut ins Gesicht. Verflucht, musste ich denn alles selbst machen? Ich öffnete meine Tasche. Ha! Ich brauchte niemandes Hilfe. Die Flaschen mit dem Neu-ling-Spezial lagen rosa und unschuldig auf dem Grund meiner Schultertasche. Ich zog eine davon heraus, schraubte den Verschluss auf und näherte mich Quinn.
Thierry tauchte hinter Zelda auf. Er hob eine Braue, als er mich wie Florence Nightingale neben dem Sofa knien sah. Ich streckte eine Hand in seine Richtung aus. »Versuch ja nicht, mich aufzuhalten!« »Das würde ich nicht mal im Traum tun«, erwiderte er. »Bitte mach weiter. Lass dich nicht stören.« Gut. »Hier.« Ich hielt Quinn die Flasche hin. »Trinken Sie das.« Er drehte sein Gesicht weg und schob mich schwach von sich. Ich runzelte die Stirn und stieß mit dem Finger gegen seine Schulter. »Wollen Sie sterben?« »Ja.« Es klang eher wie ein Stöhnen als wie ein Wort. Als ich noch klein war, hatten wir einen Labrador. Ich hatte ihn Princess genannt. Ich glaube nicht, dass er jemals über 157 diesen etwas unglücklichen Namen hinweggekommen ist, weil er ein recht machomäßiger Rüde war, aber he, was soll ich sagen? Kleine Mädchen geben allem niedliche Namen. Jedenfalls wurde Princess eines Tages krank, und wir mussten ihm täglich drei Pillen gegen die Infektion verabreichen. Wir versuchten ihn zu überlisten, indem wir die Pillen in seinem Futter versteckten oder in Käsestücke drückten. Aber Princess wollte nicht darauf hereinfallen. Er wusste es. Nachdem wir ununterbrochen versucht hatten, ihm die Pillen auf eine angenehme Weise zu verabreichen, machte meine Mutter schließlich ernst. Immerhin war es zu seinem Besten.
Ich beschloss, es bei Quinn mit einer Variante dieser Methode zu probieren. Ich drückte ihm die Nase zu. »He!«, protestierte er und schlug meine Hand weg. Er war geschwächt. Ich konnte mit ihm fertig werden. Unwillkürlich sah ich zur Tür hinüber. Thierry schien sich über mein Verhalten fast zu amüsieren. Ich warf ihm einen giftigen Blick zu. Dann kletterte ich aufs Sofa, nachdem ich meinen Rock so hoch gezogen hatte, dass ich mich frei bewegen konnte, setzte mich rittlings auf Quinns Brust und klemmte seine Arme unter meinen Knien fest. »Was machen Sie da?« Der Schmerz konnte die Überraschung in seiner Stimme nicht überdecken. »Ich behandle Sie als den ungezogenen Hund, der Sie sind«, erwiderte ich und drückte ihm erneut die Nase zu. Dann hielt ich ihm die Flasche mit dem verdünnten Blut an die Lippen und wartete. Er wehrte sich ein bisschen, aber ich hatte ihn gut eingeklemmt. Nach einem Augenblick kam mir sogar der Gedanke, dass ich meinen Zuschauern Geld für 158 diese Show abknöpfen sollte. Bei Princess war es ganz anders gewesen. Mein Vater hatte ihm den Rachen aufgesperrt, und meine Mutter hatte ihm die Pillen in den Rachen geworfen. Das lief wie geschmiert. Nicht wie »Reite den Wilden Quinn im Midnight Eclipse«. He, das klang fast nach einem Pornofilm.
Schließlich öffnete Quinn den Mund, weil er Luft holen musste, verschluckte sich prompt an dem Wasser und hustete es aus. Aber erst nachdem er ein bisschen getrunken hatte. Ich lächelte über meinen kleinen Sieg und vergaß in diesem kurzen Moment meine Konzentration. Quinn befreite seinen linken Arm und setzte sich auf. Ich verlor mein Gleichgewicht und glitt rückwärts vom Sofa, mit den Beinen in der Luft rudernd. Er hatte die Wasserflasche jetzt selbst in der Hand, und ich glaubte, er würde sie wegwerfen. Stattdessen setzte er sie erneut an und leerte sie bis auf den letzten Tropfen. Ich zog meinen geborgten Rock glatt und stand langsam auf. »Seht ihr?«, informierte ich die Zuschauer. »Genau wie ich es geplant hatte.« Thierry verließ seine Loge an der Tür und kam in den Raum. »Wie lange war er weg?« »Wie?« »Wann wurde er verwandelt?« »Er... wurde heute Nachmittag angegriffen. Kurz bevor ich hierhergekommen bin.« Thierry nickte. »Verstehe.« »Du verstehst was?« Quinn warf die leere Wasserflasche weg, als wäre ihm jetzt erst aufgefallen, dass er mit einer Spinne schmuste. »Wider 159 liehe Monster«, knurrte er, während er aufstand. »Ich will nichts mit eurer bösen Welt zu tun haben.«
Ich lächelte gequält. »Schön zu hören, dass Sie wieder normal sind. Warum bleiben Sie nicht einen Moment sitzen und ruhen sich aus?« »Ich muss meinen Vater suchen.« Er ging zur Tür, aber Thierry versperrte ihm den Weg. »Aus dem Weg, Vampir!« »Richtig, wusste ich doch, dass ich Sie kenne. Sie sind einer der Jäger. Ich habe Sie neulich nachts von weitem gesehen.« »Gut, ich schlage vor, genau da bleiben Sie. Weit weg. Und jetzt lassen Sie mich hier raus.« Thierry verschränkte die Arme, trat jedoch nicht zur Seite. »Damit Sie Ihre Freunde informieren können, wo wir sind? Lieber nicht. Außerdem bezweifle ich, dass Sie in Ihrem Zustand sonderlich weit kommen.« »Meinem Zustand?«, erkundigte sich Quinn. »Ich fühle mich sehr gut.« »Mehr als acht Stunden ohne Behandlung? Wir werden sehen.« Thierry trat zur Seite. Quinn blinzelte, offenkundig verunsichert, was er tun sollte. Doch schließlich riss er sich zusammen. Er ging zuversichtlich bis zur Tür. Dort schrie er auf, krümmte sich und hielt sich am Türrahmen fest. Ich wollte zu ihm eilen, aber Thierry hielt mich auf. Quinn presste seine Hände auf den Magen, als er am Türrahmen zu Boden rutschte. »Nein!«, stieß er hervor. »Nicht schon wieder!« »Was ist los?«, fragte ich Thierry. »Ich habe ihm doch schon das Blut gegeben.«
Thierry blieb lediglich vor mir stehen. Dann drehte er sich 161 um und nickte George und Zelda kaum merklich zu. Sie verstanden, gingen hinaus und schlossen die Tür hinter sich. Ich packte seinen Ärmel und zerrte daran, um ihn zu zwingen, mich anzusehen. »Komm schon, sag mir, was mit ihm passiert.« Er seufzte und zog seinen Ärmel aus meiner Faust. »Er ist vor mindestens acht Stunden gebissen worden. Ein milder Blutcocktail kann ihn nicht aus seinem Zustand befreien.« Seine Worte verwirrten mich, doch dann fiel es mir wieder ein. In seiner Heimatstadt... er hatte etwas über Vampirgift gesagt. Ein Gift im Blut, das so schnell wie möglich mit dem Blut seines Schöpfers behandelt werden musste, sonst... ' Tod. Ein schreckliches, schmerzhaftes Sterben, das Stunden dauern konnte. Meine Flaschen mit Neuling-Spezial konnten da nichts ausrichten. Ein Anflug von Panik krampfte meine Brust zusammen, als ich Quinn leiden sah. »Was können wir tun?« »Wir tun nichts, Sarah. Er ist ein Vampirjäger. Er tötet unseresgleichen ohne jedes Mitgefühl. Willst du ihm wirklich helfen?« Mein gesamter Körper war ebenso verkrampft wie meine Fäuste. »Ich kann nicht einfach danebenstehen und zusehen, wie er verreckt.«
»Dann geh hinaus.« »Thierry, bitte! Tu etwas. Was braucht er?« »Das Blut eines starken Vampirs. Und zwar viel davon.« Mein Blick zuckte zu Quinn, dann wieder zurück zu Thierry. »Dein Blut.« Er antwortete nicht. »Thierry. Hilf Quinn. Bitte!« 162 »Er verdient dein fehlgeleitetes Mitgefühl nicht.« Darauf wusste ich keine Antwort. Oder doch? Quinn war einer der bösen Jungs. Das war mir klar. Aber ich hatte vorher etwas in ihm gesehen. • • etwas, das nicht so schlecht war. Was er tat, gefiel ihm nicht. Ebenso wenig wie das, was er war. Ich bezweifelte, dass er überhaupt ein Vampirjäger geworden wäre, wenn sein Vater nicht so großen Einfluss auf sein Leben gehabt hätte. »Ich weiß«, antwortete ich schließlich. »Ich weiß das alles. Aber bitte, hilf ihm trotzdem, irgendwie.« Thierry ging langsam zu seinem Schreibtisch, blieb dort stehen und starrte mich dann eine geschlagene Minute lang an. »Wir müssen ihn hier behalten, bis wir sicher sind, dass er unser Versteck nicht verrät.« Ich nickte. »Natürlich.« »Wenn ich das tue, dann musst du versprechen, etwas für mich zu tun.« Quinn stöhnte vor Qual auf, und ich sah ihn kurz an, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Thierry richtete. »Okay. Was du willst. Was ist es?«
Seine Augen glühten, als er mich ansah. »Später. Jetzt genügt mir dein Versprechen, dass du mir hilfst.« »Ich verspreche es.« Plötzlich hatte er wieder dieses Messer in der Hand. Ich hatte nicht gesehen, wie er danach gegriffen hatte. Quinn sah ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht entgegen, als Thierry sich ihm näherte. Als er das Messer wahrnahm, sah ich die Furcht in seinem Blick. Er murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Er versuchte vor Thierry zurückzuweichen, aber er lehnte bereits mit dem Rücken an der Wand. Thierry zog sich die Klinge mit einer schnellen Bewegung 163 über den Unterarm, warf das Messer anschließend weg und drückte den Arm gegen Thierrys Mund. »Trink, Jäger.« Ich sah schweigend zu, wie Quinns Widerstandskraft erlahmte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, und sein Körper erschlaffte, das heißt sein ganzer Körper, bis auf die Hände. Mit ihnen umklammerte er Thierrys Arm wie ein Säugling die Flasche. Nach fünf Minuten zog Thierry den Arm weg und half Quinn zum Sofa. Er schlief sofort ein. Dann hob Thierry das Messer vom Boden auf und verließ den Raum. Ich folgte ihm in den Club. »Danke, dass du das getan hast!«, rief ich ihm nach. »Er wird eine Weile schlafen. Wenn er aufwacht, dürfte er nicht allzu erfreut sein.« »Ja, er scheint ein richtiger Morgenmuffel zu sein.«
Thierry drehte sich um und fixierte mich. »Es freut mich nicht sonderlich, wenn du die Leute in Gefahr bringst, die an diesem Ort Schutz suchen.« Ich schluckte. »Ich weiß.« »Geh jetzt nach Hause, Sarah. Ruh dich aus.« »Okay.« Ich drehte mich um. »Ach, übrigens«, meinte ich dann und drehte mich wieder um. »Was habe ich eben eigentlich versprochen? Wobei soll ich dir helfen?« Thierry setzte sich in seine Nische und trank einen Schluck Preiselbeersaft. »Sobald die Jäger in die nächste Stadt weitergezogen sind und ich mich davon überzeugt habe, dass du in Sicherheit bist, wirst du mir helfen, meiner Existenz ein für allemal ein Ende zu setzen.« Es dauerte eine Weile, bis ich seine Worte begriffen hatte. Dann flippte ich aus. »Ich soll dir helfen, dich umzubringen?«, stammelte ich. Hatte ich ihn missverstanden? H3 Er starrte mich an. »Richtig.« Ich ließ mich auf die Bank plumpsen. Mein Gesicht und meine Hände fühlten sich plötzlich eiskalt an. »Hast du schon mal daran gedacht, die Hilfe eines Psychiaters in Anspruch zu nehmen? Oder dir Antidepressiva verschreiben zu lassen?« Er lächelte. Aber dieses Lächeln lag nur auf seinen Lippen. Seine Augen erreichte es nicht. »Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, Sarah. Meine Existenz hat schlicht aufgehört, mir etwas zu bedeuten. Es gibt nichts mehr, was mich hier noch hält. Da ich bin, was ich bin,
konnte ich niemals ein normales Leben führen und kann auch nicht eines natürlichen Todes sterben; aus diesem Grund muss ich selbst den angemessenen Zeitpunkt dafür wählen. Und dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.« »Und auf der Brücke...« »Auf der Brücke habe ich vor allem über meine begrenzten Möglichkeiten nachgedacht. Mir war sehr wohl bewusst, dass der Sturz mich nicht umbringen konnte. Mit dem Holzpflock in meiner Tasche jedoch verhielt es sich da anders.« »Ach, das war ein Pflock?«, scherzte ich gequält. »Und ich dachte, du freust dich nur, mich zu sehen.« Seine Miene verfinsterte sich. »War nur ein Spaß.« Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe. »Ich wusste nicht mal, dass du in dieser Nacht einen Pflock bei dir hattest. Tut mir leid. Typisch für mich, dass ich zum falschen Zeitpunkt Witze mache.« »Also wirst du mir helfen?« Ich holte tief Luft. »Es gefällt mir ganz und gar nicht, aber ich habe dir versprochen, dir bei einer Sache zu helfen, bei der du meine Hilfe brauchst.« Das war so weit entfernt von einem Ja wie ich es in diesem 165 Moment schaffen konnte. Wie konnte er freiwillig sterben wollen? Er hatte alles was ein Mann nur begehren konnte. Ein langes Leben, ein fantastisches Aussehen, ein blühendes Geschäft... und eine heiße Braut, die ihm am
Tisch gegenüber saß. Hm. Also gut, drei von vier Punkten sind auch keine schlechte Ausbeute. »Wir diskutieren später darüber«, fuhr er fort. »Jetzt solltest du dich ausruhen. Ich werde für deinen Freund tun, was ich kann.« »Sein Name ist Quinn, und er ist eher ein flüchtiger Bekannter.« Ich sah mich in dem gut besuchten Club um. »Also gut, ich gehe, aber ich komme morgen früh wieder, um mich zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist.« Er hob eine Braue. »Glaubst du denn, dass es so sein wird?« Ich biss mir wieder auf die Unterlippe und sah zur Seite. »Ich bringe Donuts mit.« 11 Der Morgen fing damit an, dass ich erst um Viertel vor zehn aufwachte. Der Wecker hatte nicht geklingelt. Faule Entschuldigung, ich weiß. Ich hatte so fest geschlafen, dass ich nicht mal das Klingeln des Telefons gehört hatte. Auf meiner Mailbox zu Hause waren zwei Nachrichten, beide von meiner Mutter. Sie wollte sich nach meinen Reiseplänen wegen der Hochzeit meiner Cousine Missy erkundigen. Wann ich auftauchen würde, ob ich einen Begleiter mitbrächte und dass sie bereits meine H166 Lieblingsschokoladenkekse gebacken hatte. Für meine Ankunft. Morgen. Ich wäre fast gestorben, als mir dieses kleine Detail wieder einfiel. Die Zeit fliegt nur so, wenn man in seinem
neuen, unsterblichen Leben auf jedem Zentimeter gehetzt wird. Ich hatte mir für die Hochzeit sogar drei Tage freigenommen, nicht als ob das jetzt noch eine Rolle gespielt hätte. In vierundzwanzig Stunden sollte ich quietschfidel in meine Heimatstadt, drei Stunden nördlich von Toronto, unterwegs sein, wo die zweite Hochzeit meiner Cousine stattfand. Ich war eine der Brautjungfern. Ob sie mir glaubten, wenn ich ihnen erzählte, dass ich Grippe hätte? Vielleicht sollte ich ihnen schlicht die Wahrheit sagen. Hi, Mom, ich bin fast ausgeblutet und in ein Geschöpf der Nacht verwandelt worden, ein blutsaugendes Monster, das fast kein Spiegelbild mehr hat. Ob das auch bedeutete, dass ich auf den Hochzeitsfotos nicht zu sehen war? Oder war ich nur im Spiegel unsichtbar? Vermutlich sollte ich das erst klären, bevor ich irgendwo hinfuhr. Ich musste mich irgendwie vor der Reise drücken. Es gab keine andere Möglichkeit. In meinem jetzigen Zustand Brautjungfer zu spielen, wäre in so vielerlei Hinsicht falsch, dass ich all die Gründe gar nicht hätte aufzählen können. Trotzdem konnte ich erst später darüber nachdenken, was ich sagen würde. Jetzt musste ich erst einmal das Quinn-Problem lösen. Auf dem Weg zum Midnight Eclipse machte ich einen Abstecher zu Tim Hortons, wo ich ein Dutzend Donuts kaufte. Ich liebte Donuts, aber seit ich auf einer strikten Flüssigkeits-Diät war, löste ihr süßes, leicht beißendes Aroma nicht mehr 167
diesen Wunsch bei mir aus, das erste Dutzend herunterzuschlagen und dann noch ein Dutzend zu kaufen, um mein Fressgelage zu vertuschen. Was natürlich nicht heißen soll, dass dies schon einmal vorgekommen wäre. Klar doch. Erdbeerfüllung schien eine ziemlich gute Wahl für den durchschnittlichen, Kuchen essenden Vampir zu sein. Von wegen rotes Zeug in der Mitte und dergleichen. Das Taxi setzte mich vor dem Sonnenstudio ab. Ich hatte beschlossen, nur noch mit dem Taxi zu fahren, jedenfalls solange ich es mir leisten konnte. Allein über die Straße zu schlendern, selbst in dem gleißend hellen Sonnenlicht, machte mich mit jedem Tag nervöser. Die Vordertür war verschlossen, also marschierte ich zur Rückseite. Zu meiner Überraschung lehnte George an der Wand neben der Tür. Er trug eine sehr dunkle Sonnenbrille, genauso eine, wie ich sie auf der Nase hatte, und rauchte eine Zigarette. Auf der Straße vor seinen Füßen lagen jede Menge Kippen. »Du bist immer noch hier?«, erkundigte ich mich. »Sag bloß nicht, dass du gar nicht nach Hause gegangen bist.« Ich konnte seine Augen nicht erkennen, aber seine Miene war alles andere als freundlich. »Oh, du bist zurück. Vielen Dank, dass du uns mit diesem Verrückten allein gelassen hast.« »Verrückter? Quinn? Was hat er denn gemacht?« »Die eigentliche Frage lautet, was hat er nicht gemacht?« Ich drückte George die Schachtel mit den Donuts in die Hände und zog die Tür auf. Ich hörte das Hämmern
sofort -ein lautes, regelmäßiges Klopfen, als würde jemand mit einem Rammbock herumspielen. Zelda trat auf mich zu. Sie sah müde aus. »Gott sei Dank, H169 dass du endlich da bist. Er fragt ständig nach dir. Das heißt, er schreit nach dir, trifft es wohl eher.« »Wundervoll«, erwiderte ich sarkastisch. »Wo ist Thierry?« »Weiß ich nicht, aber ich soll dir das von ihm geben.« Zelda packte meine Hand und drückte eine große, schwere, versilberte Pistole mit einem schwarzen Griff hinein. Eine Pistole! So was hatte ich noch nie in der Hand gehabt. »Wofür ist die?«, stammelte ich. »Zum Schutz.« »Was denn? Sehe ich etwa aus wie Dirty Harry?« Zelda schlurfte hinter die Bar, schenkte sich einen Blutdrink aus einer Flasche ein, die aussah, als wäre es ihr privater Vorrat, und leerte das Glas mit einem Zug. »Ich mag dich, Sarah, wirklich. Aber du hast ihn hier eingeschleppt und bist dann verschwunden. Jetzt kannst du dich um ihn kümmern. Ich habe die Nase voll.« Sie schnappte sich ihren blauen Mantel, warf ihn sich über die Schultern und verließ die Bar durch die Hintertür. Ich schluckte. Na gut, wenigstens war George noch da. »Ich mache mich dann auch mal auf den Weg«, verkündete George, der den Kopf zur Tür hereinsteckte, die Zigarette zwischen den Zähnen.
Ich lief zur Tür, bevor er sie schließen konnte, packte sein weißes, fast durchsichtiges Hemd und zerrte ihn grob zurück. »O nein, du gehst nicht!« Ich schüttelte ihn an den Schultern. »Du lässt mich hier nicht ganz allein zurück.« Die Zigarette flog aus seinem Mund, gegen meinen Schenkel und dann auf den Boden. Er blinzelte. »Du bist irgendwie sexy, wenn du so dominant bist.« 170 »Heißt das, du bleibst?« »Wirst du mich verprügeln, wenn ich es nicht tue?« Er grinste mich an. »Wahrscheinlich.« »Oh.« Aus Thierrys Büro hinter uns drang ein scheppernder Knall. Wer das wohl war, hm? »Sarah!« Quinns Stimme war heiser, als hätte er die ganze Nacht gebrüllt. »Lass mich sofort hier raus!« Irgendwie fand ich es nur logisch, dass wir uns duzten. Ich sah George an. »Warum hat er die Tür denn noch nicht eingeschlagen?« »Sie ist verstärkt. Ist stärker, als sie aussieht. Ein bisschen wie du.« »George, solche Komplimente bringen dich wirklich überallhin«, sagte ich. »Nur schade, dass du schwul bist.« Ich hielt die Pistole an meiner Seite, wie die Cops es im Fernsehen taten, und ging zum Büro. Dann klopfte ich an die Tür. »Quinn?«
Der Rums, der mir antwortete, hörte sich an, als hätte Quinn sich mit dem ganzen Körper gegen die Tür geworfen, Schulter voran. »Lass mich raus, zum Teufel!« »Okay. Dir ist doch klar, dass das nicht geht, ja?« »Lass mich sofort raus!« Ich warf George einen Seitenblick zu und blickte dann wieder auf die Tür. »Bist du taub geworden, als man dich gebissen hat? Hör zu, niemand traut dir, und ich schon gar nicht. Wenn wir dich herauslassen, wirst du deinen Freunden von uns erzählen, und dann sind wir alle tot. Das alles machte auf mich in dem grellen Tageslicht weit 171 mehr Sinn. Vielleicht hatte ich einen gewaltigen Fehler gemacht, als ich Quinn in den Club gebracht hatte. Vielleicht? Okay, ich hatte eindeutig einen Fehler gemacht, ich gab es zu. Ich kam mit Gewalt, Tod und anderen schrecklichen Dingen einfach nicht gut klar. Normalerweise hatte ich auch nie etwas damit zu tun. Vermutlich hatte mein Hirn gestern Nacht den Teil, in dem sich der gesunde Menschenverstand befand, kurzfristig verabschiedet, und ich wurde von reiner Blödheit gesteuert. Deshalb war ich noch lange kein schlechter Vampir; es war allerdings noch wahrscheinlicher, dass ich so gut wie tot war. Trotzdem war ich jetzt für Quinn verantwortlich, ob es mir gefiel oder nicht. Vielleicht fiel mir das Du deshalb so leicht.
»Gut, Quinn. Nimm doch einfach eine große Beruhigungspille, einverstanden? Ich möchte mit dir reden, und zwar Auge in Auge.« Ich wartete auf eine Antwort, aber es kam nichts. »Nur damit du es weißt«, fuhr ich fort und versuchte, so sicher und zuversichtlich zu klingen, wie man sich laut der Werbespots für Deodorants fühlen soll. »Ich habe eine Pistole. Eine große Pistole. Ich kann damit umgehen und ich habe kein Problem damit, dir ein großes, klaffendes Loch in deinen armseligen Hintern zu ballern, wenn du mir Ärger machst.« Ich sah George an. Er nickte anerkennend und hob aufmunternd die Daumen. Dann wartete ich wieder auf eine Antwort von Quinn. »Also gut«, sagte er schließlich. »Komm rein, dann können wir gemütlich plaudern.« Warum nur konnte ich so schwer glauben, dass er es ernst meinte? Ach ja, möglicherweise war sein extrem unglaubwürdiger Tonfall daran schuld. 172 Ich packte die Pistole fester. Sie wurde zunehmend schwerer in meiner Hand. »Es ist eine Automatik«, flüsterte George. »Du musst nur zielen und abdrücken.« »Wie bei einer Kamera«, erwiderte ich. »Hör zu, George, wenn das hier schiefgeht, würdest du Thierry dann sagen, dass es mir leid tut, dass ich ihn gestern Abend als Arschloch beschimpft habe?«
Er riss die Augen auf. »Du hast ihn ein Arschloch genannt? Ich bete dich an!« Das quittierte ich mit einem Schulterzucken und wandte mich wieder der Tür des Büros zu. »Okay, Quinn!«, sagte ich lauter. »Geh von der Tür weg!« Dann setzte ich noch hinzu: »Sonst...!« George schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Ich spannte mich an, bereit, zu zielen und zu feuern. Ich würde auf die Beine schießen, wenn es nötig war. Konnten Kugeln Vampire töten? Ich wusste es nicht, aber ganz sicher würden die Wunden höllisch schmerzen. Ich drehte den Knauf und zog die Tür einen Spalt auf, sodass ich ins Büro spähen konnte. Quinn saß jetzt auf dem Sofa, hatte die Hände gefaltet und ließ den Kopf hängen. Es sah aus, als würde er beten. Ich machte einen Schritt in das Büro, und George donnerte die Tür hastig hinter mir zu. Ich hörte, wie der Schlüssel klickte, und mein Magen rutschte mir in die Kniekehlen. Vielen, vielen Dank, dachte ich. Wirf mich nur in die Löwengrube! Quinn hob langsam den Kopf, bis er mir direkt in die Augen blickte. »Also dann«, meinte er trocken. »Reden wir.« »Wie geht's?« »Großartig. Einfach fantastisch.« 173 Er starrte auf die Pistole. Ich hob sie etwas an, sodass die Mündung genau auf ihn zielte. »Warum kann ich einfach nicht glauben, dass du jemals eine Waffe abgefeuert hast?«, erkundigte er sich.
»Vielleicht weil du ein Chauvinist bist?« »Du brauchst sie nicht. Ich werde nichts tun.« »Klar. Wieso sollte ich dir das auch nicht glauben, wo du doch vorher so unglaublich freundlich warst, hm?« Er sah sich um. »Komme ich hier raus?« »Nein.« »Warum nicht?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin gierig und will dich ganz für mich allein haben. Es liegt an deinem Charme. Du hast mein Herz gewonnen.« Er blinzelte. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nur sarkastisch.« Quinn sah auf den Boden. »Darf ich dich was fragen?« »Frag.« »In der Bar neulich nachts, hattest du da vor, mich umzubringen?« »Wie bitte?« Ich ließ die Pistole ein wenig sinken. »Wolltest du mich beißen? Mich zu einem Vampir machen?«, fuhr er fort. »Nein.« Ich hätte fast gelacht. »Wie kommst du darauf?« »Weil Vampire das machen. Sie beißen Leute.« »Ich habe noch keinen gebissen und habe auch nicht vor, in naher Zukunft damit anzufangen. Sagen dir die Worte >unanständig< und >unhygienisch< etwas?« Er runzelte die Stirn. »Du wirkst so normal. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich keine Ahnung hatte, was du warst. Was du bist, meine ich.« 174 »Touche.«
»Also, was wolltest du da, ich meine neulich, im Clancy's?« »Du würdest mir vermutlich nicht glauben, wenn ich dir sage, dass ich schlicht einen Drink wollte.« »Wahrscheinlich nicht. Aber was hatte ich damit zu tun?« Ich verdrehte die Augen. »Wow, bist du wirklich so egozentrisch? Ich lasse deine Seifenblase nur ungern platzen, Kumpel, aber ich hatte nicht vor, dich anzumachen, falls du das annimmst. Mir war nach einem Drink, also habe ich einen Drink genommen. Dann habe ich seinen süßen Kerl am anderen Ende der Bar gesehen und mit dem süßen Kerl geflirtet.« »Süßer Kerl?« Er hob die Brauen. Ich fühlte, wie mir die Röte in die Wangen stieg. »Ich glaube, wir kommen ein bisschen vom Thema ab. Bei unserem Gespräch geht es darum, warum du uns nicht alle umbringen kannst.« »Du fandest mich süß?« »Glaub mir, ich bin mittlerweile darüber hinweg. Seit ich dich getroffen habe, hast du dich als eine hartnäckige Nervensäge entpuppt, was den ersten Eindruck nachhaltig verändert hat.« »Dieser Mann, dieser große, schwarz gekleidete... ist er dein Freund?« »Thierry ist ein Mann, und er ist ein Freund. Aber nicht so, wie du vielleicht denkst. Was spielt das für eine Rolle?«
Quinn stand auf. Ich trat einen Schritt zurück und hob die Pistole, die ich fast vollständig hatte heruntersinken lassen. »Ich hatte hier drin viel Zeit, über alles nachzudenken«, erklärte er. Ich fühlte, wie jeder Muskel in meinem Körper sich an 176 spannte, als er einen Schritt auf mich zukam. »Warum setzt du dich nicht wieder hin? Es ist ein sehr bequemes Sofa.« Er machte noch einen Schritt auf mich zu. Ich wollte nicht auf ihn schießen, aber irgendwie erschien es mir effektiv leichter zu werden, je näher er kam. Schließlich blieb er stehen und seufzte. »Hör zu Sarah, mir ist klar, dass ich ohne deine Hilfe gestern Nacht gestorben wäre.« »Und?« »Und ich weiß auch, dass du anders bist als der Rest.« »Welcher Rest?« »Die anderen Vampire.« »Tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber du bist jetzt ebenfalls ein Vampir.« Schmerz zuckte in seinen Augen auf, aber ich erkannte, dass es kein körperlicher Schmerz war. »Ich weiß. Trotzdem fühle ich mich genauso wie vorher, als ich noch normal war.« »Siehst du? Genau das habe ich versucht, dir klar zu machen!«
»Aber... ich bin jetzt anders. Ich muss anders sein!« Er klang traurig. »Ich kann nicht dasselbe Ding sein, das meine Mutter getötet hat. Ich kann kein böses, blutsaugendes, totes Ding sein!« Er ließ den Kopf hängen und begann zu schluchzen, sehr leise. So wie Männer schluchzen. Leise, trocken und so diskret wie möglich. Hätte ich nicht so dicht vor ihm gestanden, hätte ich es vielleicht gar nicht bemerkt. Ich schluckte, ließ die Waffe jedoch nicht sinken. »Quinn, das stimmt nicht. Du bist nicht so. Ich genauso wenig.« »Tote Dinge«, erwiderte er. »Wir sind widerliche, tote Dinge!« 177 »Nein, sind wir nicht!« Ich überwand die Distanz zwischen uns, packte seine Hand und legte sie auf meine Brust, damit er mein Herz schlagen fühlen konnte. Dessen Frequenz sich sofort zu einem peinlichen Hämmern steigerte, als mir klar wurde, dass ich ihn gerade gezwungen hatte, meine Möpse anzufassen. Ich ließ ihn los, aber er nahm die Hand nicht weg. Stattdessen atmete er schneller, als er mir in die Augen sah. »Du hast recht«, meinte er heiser. »Eindeutig nicht tot.« Er beugte sich vor, während seine Hand immer noch warm auf meinem Busen lag. Ich fühlte, wie sich etwas in mir zusammenzog, als ich in seine blauen, so eindringlich blickenden Augen sah. Vielleicht war es Verlangen oder Begehren oder Sehnsucht. Ich weiß es nicht. Ich wusste
nur, dass er süß war, verletzlich und tödlich. Und dass ich ihn gleich küssen würde. Ich würde ihn küssen. Die Pistole fiel polternd zu Boden, als ich meine Hände ausstreckte, um ihn zu umarmen. Dann fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter und wurde ein Stück zurückgerissen, außerhalb der Reichweite von Quinns Arm. »Was zum Teufel?« Ich drehte mich um. Thierry stand hinter mir, sichtlich unglücklich. Dann richtete er seinen Blick auf Quinn und stieß ihn gegen die Wand hinter seinem Schreibtisch. Der Aufprall war so hart, dass Quinn die Luft wegblieb. »Thierry, nicht!«, schrie ich. »Er wollte mir nichts tun!« Thierry hatte mit einer Hand Quinns Hals gepackt und ihn ein paar Zentimeter vom Boden gehoben. Aber er hörte mich. Langsam, sehr langsam ließ er Quinn wieder herunter. Der hustete und keuchte, während er zu Boden sank und sich krümmte. 178 »Was hast du dir dabei gedacht, hier ganz allein hereinzugehen?«, fragte mich Thierry. »So viel Dummheit habe ich noch nie erlebt!« Ich wurde knallrot. »Ich hatte alles unter Kontrolle.« »Hast du so rasch vergessen, was er ist? Ein Jäger. Ein Jäger unserer Art. Mach die Augen auf, kleines Mädchen, sonst wirst du nicht lange genug leben, um die Vorzüge davon zu ernten, was du jetzt bist.« »Ich sagte doch, ich hatte alles unter Kontrolle.«
Quinn stand langsam auf. »Ich werde kein Wort darüber verlieren, weder meinem Vater noch den anderen gegenüber, das schwöre ich! Ich verdanke euch beiden mein Leben.« Thierry starrte ihn an. »Worte, nichts als Worte. Ich habe keinerlei Sicherheiten, dass Sie die Wahrheit sagen.« Quinn zuckte mit den Schultern. »Dann weiß ich nicht, was ich Ihnen sonst sagen kann.« »Ich werde Ihnen etwas geben, das mehr wert ist als Worte«, fuhr Thierry fort. »Und zwar ein Versprechen. Wenn Sie hier weggehen und irgendeinem von uns etwas zustößt, meinen Gästen, meinen Angestellten oder Sarah, dann werde ich Sie zur Verantwortung ziehen.« »Ich verstehe...« »Sie verstehen gar nichts!«, fuhr Thierry ihm dazwischen. »Ich werde Sie persönlich zur Verantwortung ziehen. Alles in Ihrem Leben, das Ihnen lieb und teuer ist, jede Person, die Sie kennen, alle Freunde, alle Geliebten, alle Familienangehörigen ... ich werde sie alle ohne Ausnahme aufspüren und vernichten. Worte sind bedeutungslos, es sei denn, man hat den Willen, sie wahrzumachen. Also täten Sie gut daran, sich meine Worte zu merken, Jäger.« Quinns Gesicht war bemerkenswert blass geworden, genau 179 so wie meines, da war ich mir sicher. Thierry konnte ein sehr unheimlicher Mann sein, wenn er wollte, so viel war klar.
George schlenderte ins Büro und sah uns der Reihe nach an, bis sein Blick an Thierry hängen blieb. »He, Boss«, meinte er, steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an, inhalierte und blies den Rauch genüsslich aus. »Hat Sarah Sie neulich wirklich ein Arschloch genannt?« »George!«, stöhnte ich. »Jetzt? Musst du ausgerechnet jetzt damit kommen?« »Ist das ein ungünstiger Zeitpunkt?« Er erwartete weder auf diese Frage noch auf seine erste eine Antwort. »Ich dachte, da bisher keine Schüsse gefallen sind, wäre es ein guter Moment für mich, nach Hause zu gehen.« »Gehen Sie!«, sagte Thierry zu ihm, starrte mich jedoch an. Das wusste ich, obwohl ich ihn nicht ansah, weil ich es an dem brennenden Gefühl auf meiner Wange merkte. George lächelte, blies mir einen Kuss zu und verschwand. Ich schwieg, bis Thierry weitersprach. »Verstehen wir uns?«, fragte er leise. »Ja, absolut«, antwortete ich. »Ich rede mit dem Jäger.« Zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten hatte, fiel mir auf, dass die Abdrücke der Reißzähne an Quinns Hals schon so weit verblasst waren, dass ich sie kaum noch sehen konnte. Die Wirkung von Thierrys machtvollem Blut, schon wieder. Ich fragte mich, wie rasch er wohl sein Spiegelbild verlieren würde. Quinn ließ sich jedoch von Thierrys drohendem Blick nicht einschüchtern. »Ja, ich glaube, wir verstehen uns ausgezeichnet.«
181 Thierry musterte ihn einen Moment. »Dann gehen Sie. Ich werde nicht versuchen, Sie aufzuhalten.« Quinn ging zur Tür, blieb dort stehen und sah mich an. »Ich habe es wirklich ernst gemeint. Ich werde nichts verraten.« Ich zwang mich zu einem Lächeln und nickte. Als er verschwunden war, sah ich Thierry an. »Tut mir leid. Mir ist klar, wie dumm das war.« Er seufzte. »Und trotzdem hast du es getan.« »Ich hatte die Pistole, die du für mich dagelassen hast.« »Sie war nicht dafür gedacht, um dir Mut zu machen oder dass du hier hereinstürmst und damit herumfuchtelst, als wüsstest du, was du tust. Außerdem liegt sie jetzt auf dem Boden.« »Oh.« Ich bückte mich und legte sie behutsam auf seinen Schreibtisch. Er zog die oberste Schublade auf und verstaute sie darin. »Wo warst du eigentlich? Als ich hier ankam, wusste Zelda nicht, wohin du gegangen bist.« »Es gab eine Krise in einem anderen Club.« »Ach, dir gehört mehr als dieser eine hier?« »Ja. Mir gehören drei Clubs.« »Und was für eine Krise war das? Hat dir jemand den Job vor die Füße geworfen?« Er schloss die Schublade und setzte sich an den Schreibtisch. »Nein. Leider war das Problem etwas ernster. Gestern kurz nach Mitternacht wurde der Club von Vampirjägern überfallen. Fast alle wurden umgebracht
und der Club ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt.« Mir stockte der Atem. »Aus diesem Grund«, fuhr er fort, »entschuldigst du gewiss mein unhöfliches Verhalten deinem Freund gegenüber. 182 Denn schließlich waren es seine Freunde, die für diese Geschehnisse verantwortlich sind.« Ich wurde blass. »O Gott, Thierry, das tut mir so leid.« Er schüttelte den Kopf. »Ich war wohl in letzter Zeit zu sehr mit meinen eigenen kleinen Kümmernissen beschäftigt, aber das hat mich herausgerissen und mir die Gefahren, die uns umgeben, wieder bewusst gemacht.« »Also hast du dir diese Selbstmordgeschichte noch einmal überlegt?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Nein. Im Gegenteil, es hat mich darin bestärkt, dass meine Entscheidung richtig ist.« Ich wollte widersprechen, aber er hob abwehrend die Hand. »Ich möchte eine Weile allein sein, Sarah, wenn es dir nichts ausmacht.« Ich nickte ernst. »Kein Problem. Ich... ich gehe nach Hause, denke ich. Ich muss ohnehin ein paar Dinge erledigen.« Ich drehte mich um und ging zur Tür. »Ach übrigens, ich bin wahrscheinlich bis Mittwoch unterwegs. Sobald ich zurück bin, komme ich vorbei.« »Wohin gehst du?« »Ich muss auf eine Familienfeier.«
Ja. Ich hatte mich anders entschieden, das gebe ich zu. Und zwar war ich nun der Meinung, dass ich dieser Hochzeit unmöglich fernbleiben konnte. Es war sicher das Beste für mich, hinzufahren und es hinter mich zu bringen. Außerdem hielt ich es für eine ausgezeichnete Idee, für eine Weile aus der Stadt zu verschwinden. Thierry sah das offenkundig anders. Er blitzte mich verärgert an. »Hatte ich dir nicht gesagt, du solltest dich von deinem alten Leben verabschieden? Das schließt Besuche bei Familienfesten mit ein. Wie viele gefähr 183 liche Situationen willst du noch erleben, bevor du tust, was ich dir sage?« »Es ist die Hochzeit meiner Cousine in Abottsville. Ich muss hingehen - alle erwarten mich da. Ich trenne mich anschließend von ihnen, das verspreche ich.« Ich lächelte ihn an und drehte mich erneut um, während ich mich fragte, warum ich mich eigentlich schuldig fühlte. »Nein«, hörte ich. »Wie bitte?« Er holte tief Luft und massierte seine Schläfen, bevor er antwortete. »Ich sagte >Nein<. Du kannst nicht zu dieser Hochzeit gehen.« Ich runzelte die Stirn und fühlte, wie die Wut in mir hochstieg. »Du hast mir nicht zu sagen, was ich tun oder lassen soll. Ich kann gehen, wohin ich will.« Er sprang auf und umklammerte mit den Händen die Schreibtischkante. Seine Miene verfinsterte sich vor Wut.
»Hör auf, dich wie ein Kind aufzuführen! Du kannst eben nicht hingehen, wohin du willst; genauso wenig kannst du tun, was du willst. Nicht mehr. Dein Verhalten in den letzten Tagen hat alle in Gefahr gebracht, die in deiner Nähe sind. Begreifst du das nicht? Wenn du die Stadt verlässt, kann ich dich nicht mehr beschützen, und ich habe hier schon genug, was mir Sorgen macht.« Mir schnürte sich die Kehle zu, aber ich wollte nicht nachgeben. Er konnte mich nicht herumkommandieren, ganz gleich, wie angsteinflößend er auch sein mochte. Niemals. »Wie hast du mich denn hier beschützt, wenn du dich vergräbst und deinen Selbstmord planst? Du warst eine große Hilfe, wirklich! Tut mir leid, dass ich Quinn gerettet habe. Ich kann wohl einfach Menschen, die auf der Straße sterben, 184 nicht einfach den Rücken kehren. In der Hinsicht bin ich irgendwie komisch.« »Ich will nicht mit dir streiten, Sarah.« »Nein. Du willst nur, dass ich deinen Befehlen gehorche, so wie alle anderen hier. Vergiss es. So weit wird es niemals kommen.« Ich drehte mich zum dritten Mal um, aber bevor ich die Tür erreichte, stand er davor und versperrte mir den Weg. Er packte mich und zog mich an sich. Einen atemlosen Moment lang dachte ich, er würde mich wieder küssen. Das tat er jedoch nicht. Stattdessen starrte er mich an, während sich seine Finger in meine Oberarme gruben.
»Wenn du weggehst und meine Warnungen ignorierst...« Er hielt einen Moment inne. »... dann komm nie wieder zurück. Von da an bist du auf dich allein gestellt.« Jetzt lag keine Wut mehr in seiner Stimme; seine Worte waren nur eine kalte, monotone Feststellung. Ich fühlte mich elend und schrecklich allein. Thierrys Hauptproblem war, dass er zu unbeugsam war. Für ihn gab es lediglich schwarz oder weiß, und er kannte keine Kompromisse. Mein Problem war, dass ich genauso tickte. Aber was sollte ich tun? Den Kopf senken und sagen: »Ja, Meister, was immer du sagst, Meister«? Nie im Leben! Das war es also. Ich verließ das Midnight Eclipse durch den Hintereingang und versuchte, Thierrys Worte zu verdrängen, aber sie fraßen an mir wie hungrige Termiten. Machte ich mir wirklich etwas vor? War es ein Fehler, zu der Hochzeit zu fahren? Meine Heimatstadt war so sicher wie jeder andere Ort, an dem ich je gewesen war. Fast zu sicher. Und ich würde gut klarkommen, sehr gut, auch ohne den arroganten und fordernden Thierry de Bennicoeur in meinem Leben. Dieser Blödmann! 185 Ich trotzte meinem Unbehagen, allein zu meiner Wohnung zurückzufahren, und nahm die U-Bahn, statt ein Taxi zu rufen. Meine Laune war so mies, dass heute selbst die Jäger vor mir Angst haben würden. Auf dem Rückweg fuhr ich kurz in einer Videothek vorbei und lieh mir drei Filme für den Rest des Nachmittags, um mich
abzulenken. Nachdem ich das Angebot durchsucht hatte, entschied ich mich für den Original-Dracula mit Bela Lugosi; für Interview mit einem Vampir mit Tom Cruise und für Liebe auf den ersten Biss mit George Hamilton. Das Telefon klingelte, als ich die Tür aufschloss. Ich lief hin und warf meine Tasche und die DVDs auf den Küchentresen. Das musste Thierry sein. Ich wusste es. Er würde sich für seine Worte entschuldigen, und dann war alles wieder gut zwischen uns. »Hallo?«, stieß ich atemlos in die Sprechmuschel. »Sarah! Wie schön, dass du da bist!« Ich ließ die Schultern hängen. Es war nur Amy. Vor knapp vierundzwanzig Stunden hatte sie mich in dem Restaurant im Eaton Centre verlassen, unmittelbar bevor mein kleines Abenteuer mit Quinn losging. Ich hoffte, dass sie nicht zu viel Geld ausgegeben hatte, um sich über ihre Enttäuschung hin-wegzutrösten. Sie hatte ziemlich hohe Schulden. Andererseits hatte ich genug eigene Probleme, um die ich mich kümmern musste. »Amy, was gestern angeht...« »Vergiss es!«, unterbrach sie mich. »Vergiss es?« »Ja, ich glaube, ich war absolut unvernünftig. Es geht mich nichts an, wenn du mit einem neuen Kerl ausgehst. Eigentlich freue ich mich sogar sehr für dich.« 186 »Ja. Er ist wirklich süß. Quinn, richtig?«
»Quinn.« Mich durchfuhr der stechende Schmerz, der eine Migräne ankündigte. Vielleicht war es ja auch ein Gehirntumor. »Ja, so heißt er, richtig.« »Wie habt ihr beide euch überhaupt kennengelernt?« Ich versuchte, mir eine gute Lüge auszudenken, gab jedoch rasch auf. Das Nachdenken tat einfach zu weh. »Ich habe ihn in einer Bar sozusagen aufgegabelt, und seitdem weicht er nicht mehr von meiner Seite.« »Das ist ja so hinreißend! Wer behauptet da noch, man könnte keine großartigen Männer in Bars kennenlernen?« »Genau genommen habe ich das behauptet.« »Siehst du, Dummchen, damit hast du dich selbst der Falschaussage überführt. Hör zu, ich will dich nicht aufhalten; vermutlich hast du alle Hände voll zu tun, um dich auf diese Hochzeit vorzubereiten, aber ich rufe nur an, um mich bei dir zu bedanken.« »Zu bedanken? Wofür?« Amy kicherte. »Nachdem ich euch zwei Turteltauben gestern allein gelassen habe, bin ich losgegangen, um mich zu bemitleiden, und habe einen fantastischen Mann getroffen, den ich niemals kennengelernt hätte, wenn ich den Nachmittag mit dir verbracht hätte. Außerdem habe ich mir superschicke Schuhe gekauft. Warte nur, bis du sie siehst.« »Oh.« Ich war überrascht. Allerdings nicht sehr. Immerhin redeten wir hier von Amy. »Das ist ja großartig. Ich meine, das mit dem Mann. Wie ist er denn so?«
Sie holte tief Luft, bevor sie den Schwall losließ. »Zunächst mal ist er unglaublich sexy. Er ist neu in der Stadt; also ist das vielleicht Schicksal. Ich glaube, er könnte der Richtige sein. Du würdest ihn lieben. Wenn du von der Hochzeit zurück 188 kommst, könnten du und Quinn und Peter und ich uns ja vielleicht treffen, eine Verabredung zu viert eben.« Ich wartete ein paar Sekunden mit der Antwort. »Sarah?«, fragte Amy. »Bist du noch dran?« »Ja... ja, bin ich.« »Also? Eine Verabredung zu viert? Das wäre doch lustig?« Ich nickte, als ich mir vorstellte, wie wenig Spaß das machen würde. »Ja, superlustig.« »Hypersuperlustig. Ruf mich doch an, wenn du zurückkommst. Dann verabreden wir was, hm?« »Okay, versprochen.« Ich verschränkte zwei Finger. »Ach übrigens, Amy...« »Ja?« »Entschuldige. Es tut mir wirklich leid, dass ich dich gestern so schlecht behandelt habe.« Sie lachte. »Vergiss es! Wann haben wir schon jemals gleichzeitig einen Freund? Es ist alles gut.« Als ich auflegte, plagten mich Gewissensbisse. Ich würde niemals diese Verabredung zu viert einhalten. Aus mehr Gründen, als ich aufzählen konnte. Es wäre nicht das erste Mal in dieser Woche, dass ich einer Sache zugestimmt hatte, die ich nicht einzuhalten gedachte.
Außerdem hatte Amy sicher bereits ihren nächsten perfekten Mann am Haken, wenn ich zurückkam. Den Rest des Tages hockte ich auf meiner Couch und sah mir alle drei Filme von vorn bis hinten an, während ich mich in Selbstmitleid suhlte. Alle paar Stunden trank ich einen kleinen Schluck von dem Neuling-Spezial, den Zelda mir gemacht hatte. Aus den Filmen konnte ich nicht viel in Erfahrung bringen. Das heißt bis auf die Tatsache, dass man als Vampir offenbar 189 das Bedürfnis hat, seine Reißzähne in jeden verfügbaren Hals zu schlagen. Bei der Vorstellung fühlte ich mich ein bisschen elend. So etwas würde ich niemals tun. Niemals. Hand aufs Herz und hoffe auf... Ach, schon gut. Ich packte meinen Koffer und ging früh ins Bett. In den beiden nächsten Tagen sollte alles glattlaufen. Ich würde mir ein für allemal beweisen, dass Thierry sich irrte. Ich konnte ein normales Leben führen. Es würde alles gut werden. Nach der Woche, die ich gerade erlebt hatte, war ich nicht in Stimmung für weitere Katastrophen. Und mal im Ernst, was konnte auf einer Hochzeit schon schiefgehen? 12 Abottsville liegt drei Autostunden nordwestlich von Toronto und hat eine Bevölkerung von etwas über achttausend fröhlichen, strahlenden Menschen, die stolz auf ihre Stadt und ihre mit weißen Zäunen umfassten Häuser sind. Mit anderen Worten, es ist die Hölle auf Erden.
Ich war kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag aus meiner Heimatstadt geflüchtet, um in Toronto die Universität zu besuchen - Nebenfach Psychologie, Hauptfach Dramaturgie. Ich träumte davon, blitzartig ein Filmstar zu werden. Aber nach einer Hauptrolle in dem Werbespot eines Lokalsenders für Damenbinden verpufften meine romantischen Pläne. Ich hatte es so eilig gehabt, meine Heimatstadt zu verlassen, weil mich mein Freund drei Wochen vor dem Abschluss 190 ball mit der Frage aller Fragen überrumpelt hatte. Sein großer Traum war, die Apotheke seiner Familie zu übernehmen, während ich zu Hause blieb und vier Kinder warf, möglichst bevor ich fünfundzwanzig war. Das mochte für manche Mädchen der Sinn des Lebens sein, aber zu denen gehörte ich nicht. Das war dann das abrupte Ende unserer Beziehung. Ich habe gehört, dass er jüngst in der Lotterie gewonnen und mit einem ehemaligen Playboy-Model nach Hawaii gezogen ist. Hinterher ist man immer klüger. Mist! Ich habe später ab und zu meine Eltern besucht, jedoch sicher nicht so oft, wie ich es hätte tun sollen. Deshalb haben mich immer Schuldgefühle geplagt, aber die waren nie so schlimm wie das Unbehagen, das mich jedes Mal durchströmte, wenn ich an dem Schild: WILLKOMMEN IN ABOTTS-VILLE: HEIM DES GRÖSSTEN KÜRBISSES IN ONTARIO vorbeigefahren bin. Das Stadtleben war mir erheblich lieber. Lieber jeden Tag Rushhour,
Luftverschmutzung und überteuerte Capuccinos, das nahm ich mit Kusshand hin. Ich hatte mir für die Fahrt zur Hochzeit einen Kleinwagen gemietet. Der Montag war ausgefüllt mit glücklichen, freudigen Familientreffen und einer höchst unerfreulichen Kleiderprobe, die nur bewies, dass meine neue Flüssigdiät mir nicht geholfen hatte, nur ein einziges Pfund abzunehmen. Das war verdammt unfair! Die Kleider von Brautjungfern sollen natürlich hässlich sein, aber diejenigen, die Missy ausgesucht hatte, garantierten mir einen schweren Fall von posttraumatischer Kleidungsstörung. Sie bestanden aus einem kurzen, glänzenden Rock, einer breiten, funkelnden Schärpe und einem sehr - sehr - tief ausgeschnittenen Satintop. Die Farbe wurde »AubergineLeidenschaft« genannt. Ich kam mir vor wie ein Showgirl in ei 191 ner schmierigen Las Vegas-Produktion. Meine Cousine hatte offenbar LSD eingeworfen, als sie die Kleider aussuchte. Dennoch, es war immerhin ihr großer Tag, wie hätte ich mich da beschweren können? Die beiden anderen Brautjungfern sahen noch elender aus als ich. Wenigstens hatte ich die coolsten Schuhe an, da ich darauf bestanden hatte, meine eigenen, silbernen Sandaletten zu tragen, die ich für besondere Gelegenheiten aufsparte. Bis auf die Kleiderprobe verlief der Tag, den ich in der Stadt verbrachte, recht ereignislos. Ich bewies mir, dass
ich sehr gut als hundert Prozent menschlich durchging. Und der dumme Thierry wollte, dass ich mich von meinem alten Leben verabschiedete. Ich bewies gerade, dass ich gar nichts zu ändern brauchte und niemand den Unterschied bemerkte. Ich starrte mein kaum noch sichtbares Spiegelbild an, als ich versuchte, im Waschraum der Kirche mein Lipgloss aufzufrischen. Ich log mir etwas vor. Der letzte Tag war ein Albtraum wahrhaft epischen Ausmaßes gewesen. Und dabei übertrieb ich nicht einmal. Ich konnte es kaum erwarten, dass die Hochzeit endlich vorbei war, ich mich in meinen gemieteten Toyota Echo setzen und die Stadt verlassen konnte. Warum es so schlimm war? Okay, mal sehen: erstens die Nummer mit dem Spiegelbild. Es ist verblüffend, wie viele spiegelnde Flächen es so gibt. Wenn jemand bemerkte, dass ich kein Spiegelbild hatte, wie sollte ich es ihm erklären? Bis jetzt war mir als beste Möglichkeit eingefallen, solche Situationen möglichst zu vermeiden. Zweitens fühlte ich mich bei dem Probedinner verpflichtet, etwas von den Fettuccini »Alfredo« und dem Knoblauch 192 brot herunterzuwürgen. Ich erfuhr bei diesem Anlass, was passiert, wenn gewisse Vampire feste Nahrung zu sich nehmen, weil ich die Nudeln in das Blumenbukett in der Mitte des Tisches kotzte.
Ganz zu schweigen von dem Moment, als Cousin Jeremy sich mit einem Steakmesser in den Finger schnitt. Um Haaresbreite hätte sich die Vorstellung mit Missus Saunders wiederholt. Gott sei Dank griff ich mir reaktionsschnell ein rohes Steak, an dem ich nuckeln konnte. Aber ein echter Ersatz war das nicht. Danach behandelten mich alle sehr vorsichtig, als wäre ich kurz davor, vom schmalen Grat abzurutschen und in den Abgrund des Wahnsinns zu stürzen oder so etwas. Na gut, sie lagen ja nicht weit daneben. Eine der eher positiven Randerscheinungen bot jedoch eine Digitalkamera bei der Hochzeitsprobe, die mir bewies, dass ich auf Fotos gut und deutlich zu erkennen war. Ich war nur nicht sonderlich fotogen. Auch keine große Überraschung. »Sarah!«, jammerte Missy vom hinteren Ende der Kirche her. Ich sprang auf und stellte mein frisches Champagnerglas auf den Tisch des Waschraums, bevor ich in die Garderobe ging»Was ist los?« Ich versuchte besorgt zu klingen. Es war nicht das erste Mal seit meiner Ankunft, dass meine Cousine in Tränen ausbrach. Sie war entweder sehr emotional oder sehr bedürftig. Vermutlich beides. Willkommen im Club. Sie seufzte bebend. »Ich weiß nicht, ob ich das Richtige mache.«
Ich warf einen Blick über meine Schulter. Konnte ich dieses sprichwörtliche Staffelholz vielleicht an jemand anderen wei 194 tergeben? Wir waren allein in der Garderobe. Das heißt, bis auf die etwa zweihundert Menschen, die gerade in der Kirche nebenan saßen. Einschließlich des ganz eindeutig unheimlichen Reverend Micholby. Gestern Abend beim Probedinner hatte er mir die ganze Zeit böse Blicke zugeworfen. Vielleicht waren es auch heilige Blicke, schließlich war er Reverend. Wie auch immer. »Komm schon.« Ich zupfte ein Papiertuch aus der griffbereit aufgebauten Schachtel und reichte es ihr. »Alles wird gut.« »Wirklich? Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich schon bereit dafür bin.« »Richard ist großartig. Ihr beide werdet ein wundervolles Leben führen.« Sie schnüffelte. »Wir sind so unterschiedlich, weißt du? So unterschiedlich, dass es schon fast unheimlich ist.« »He, vive la différence. Gegensätze ziehen sich an und so weiter.« »Aber wenn er mich nun in fünfzig Jahren langweilig findet? Wenn ich alt bin?« »Das wird er nicht. Ihr beide seid füreinander bestimmt. Alles wird gut. Willst du ein Glas Champagner?« Ich schenkte ihr ein Glas ein. Sie nahm es und leerte es in einem Zug. Ich genehmigte mir auch ein Schlückchen
direkt aus der Flasche. Das kostenlose Gesöff half ein bisschen, aber nicht so gut wie sonst. »Er ist großartig, stimmt's?«, erkundigte sie sich. Ich wischte mir den Mund ab und versuchte mein Lipgloss nicht zu verschmieren. »Ja, wirklich großartig.« Ehrlich gesagt hatte ich bisher nur etwa fünf Minuten mit Richard, dem Bräutigam, gesprochen, und zwar nach dem 195 Dinner. Er war Buchhalter, etwas über vierzig, hatte lichtes Haar und fuhr einen blauen Volvo. Er wirkte ganz okay, aber schließlich musste ich ihn auch nicht heiraten. Missy war Anfang dreißig. Sie war schon einmal verheiratet gewesen, vor etwa zwölf Jahren. Die Ehe hatte nicht funktioniert, nicht zuletzt wegen der beiden anderen Ehefrauen ihres Gatten. Die Zeit zwischen ihren Ehen hatte sie mit Jo-Jo-Diäten und dem Sammeln von Katzen verbracht. Richard hatte sie letztes Jahr kennengelernt, als er ihre Steuer machte. Tja, intensiver wurden Romanzen in Abottsville nicht. Die ersten Noten des Canon D hallten von draußen in die Garderobe. Das war das Stichwort für die Braut. Zeit, dieses zickige Kleid vorzuführen. »Gerettet von Pachelbel«, erklärte ich. »Kapiert?« Missy sah mich verständnislos an. Offenbar sagte ihr der Komponist nichts. »Macht nichts. Komm, sie spielen unser Lied.« Missy lächelte und stand auf. »Danke, dass du für mich da bist, Sarah. Ich wünschte wirklich, ich könnte öfter in die Stadt kommen.« Sie
umarmte mich vorsichtig, um unser Make-up nicht zu verschmieren. »Ja, das finde ich auch«, log ich und zwang mich zu einem strahlenden Lächeln, als ich mich von ihr löste. Sie sah mich stirnrunzelnd an. »Deine Zähne sehen irgendwie komisch aus.« »Wirklich?« Ich fuhr mit der Zunge über die Zähne, als mich ein Schmerz durchzuckte. Ich verlor den Mut. Da waren sie. Wie winzige kleine Nadeln, und das weit vor ihrem Zeitplan, dank Thierrys superstarkem Blut. Meine Eckzähne. Die Vampir-Reißzähne. Na wunderbar! »Ehm...« Ich versuchte zu sprechen, ohne den Mund allzu weit aufzumachen. »Ich habe diese Zahnaufheller benutzt, 196 das ist alles. Ich glaube, sie sind einfach nur weißer als normal. Okay, Showtime! Wir sehen uns vor dem Altar.« Ich huschte hinaus, als mein Onkel in der Tür auftauchte, um Missy zum Altar zu führen. Ich trat hastig zu meinen ebenfalls aubergine gekleideten BrautjungferLeidensgenossinnen. Sie zupften an den Säumen ihrer Kleider, doch je fester sie zogen, desto mehr Dekollete quoll oben heraus. »Das ist so beschissen«, sagte ein Mädchen, Lana, bevor sie ihren Gang durch das Mittelschiff antrat. Sie war die Erste. Ich kam als Zweite. Die Ehrenjungfrau, die aussah, als würde sie jeden Moment aus dem Kleid platzen, folgte mir. Dann jedoch ging es nur noch um Missy.
»Atme«, sagte ich Susan, der Ehrenjungfrau. »Du schaffst das.« »Ich fühle mich wie eine große, fette Nutte«, erwiderte sie. Darauf wusste ich nichts zu erwidern, also setzte ich mich in Bewegung, schritt durch das Mittelschiff und umklammerte mein kleines Bukett aus pinkfarbenen und weißen Nelken. Okay, ich hatte also endlich meine Vampir-Reißzähne. Noch eine Kleinigkeit, mit der ich klarkommen musste. Kein Problem. Null Problemo. Wen wollte ich eigentlich veralbern? Es war schlichtweg beschissen. Die Ausrede mit dem Zahnaufheller war bestenfalls schwach. Aber vielleicht fiel es keinem auf. Ich musste einfach nur den Rest des Tages so wenig den Mund aufmachen wie möglich. Ich warf einen Blick zu der Bank, in der meine Eltern saßen. Ich musste mit ihnen reden, ihnen erklären, dass ich weggehen und in Zukunft nicht mehr häufig hier auftauchen würde. Ich würde nach Australien ziehen, wegen meines Berufs. Das würden sie doch sicher akzeptieren, ohne allzu viele Fragen zu stellen. Oder? Sie strahlten mich beide an und sahen sehr glücklich aus. Ich runzelte leicht die Stirn. Ein bisschen zu glücklich, fand ich. Wieso sahen sie so verdammt glücklich aus? Als ich näher kam und sie besser sehen konnte, blieb ich mitten auf dem Gang stehen. Mein Bukett fiel zu Boden. Zwischen meinen Eltern, mit einer dunklen Sonnenbrille
auf der Nase und einem gelangweilten Gesichtsausdruck saß - George. »Heilige Scheiße!« Ich sagte das recht nachdrücklich und hörte, wie ein kollektives Keuchen durch die Gemeinde wehte. Ich bückte mich, hob hastig das Bukett auf und raste praktisch den Rest des Weges durch das Mittelschiff zum Altar. Die meisten Versammelten erholten sich langsam von dem Schock, dass ich in einem Haus Gottes das S-Wort benutzt hatte. Ich erholte mich derweil von dem Schock, einen schwulen, kellnernden Vampir Schenkel an Schenkel neben meiner Mutter sitzen zu sehen. Die das jedoch nicht im Geringsten zu stören schien. Das dreiköpfige Orchester der Highschool-Band stimmte seine offenbar nicht sonderlich gut einstudierte Version von »Here Comes the Bride« an und Missy schritt über den Gang. Ich konnte meinen Blick jedoch nicht von George losreißen. Was machst du denn hier?, fragte ich ihn stumm. Er schien jedoch abgelenkt zu sein, starrte auf einen Wandbehang mit der Aufschrift JESUS LIEBT MICH und versuchte nach Kräften, mich zu ignorieren. Eine Million Gedanken schössen mir durch den Kopf. War etwas Schreckliches geschehen? War das Midnight Eclipse abgefackelt worden? Hatte Thierry Quinn umgebracht, während ich weg war? Hatte Barry plötzlich Rückgrat bekom 198
men? Ich konnte das Ende des Gottesdienstes kaum erwarten. Am liebsten hätte ich Missy und Richard angetrieben, als sie sich durch ihre Gelübde stammelten, aber es gelang mir, mich notdürftig zusammenzureißen. Sobald die Messe zu Ende war, wurden die Hochzeitsgäste zu einem Fototermin in den schmerzend hellen Sonnenschein und die kalte Luft nach draußen gebeten. Ich wollte nur zu George und endlich herausfinden, was los war. Das einzige von den Fotos, woran ich mich nachher erinnerte, war ein Streit mit dem Fotografen, der wollte, dass ich meine Sonnenbrille absetzte. Er verlor. Der Empfang fand im Festsaal des Abottsville Golf Clubs statt. Ich stand unruhig in der Reihe der Brautgäste, schüttelte zahllose verschwitzte Hände und versuchte zu lächeln, ohne zweihundert müden und hungrigen Menschen meine Reißzähne zu zeigen. Schließlich kam mein Vater an die Reihe. Er sah ausgesprochen gut aus, wenn ich das sagen darf. Sein grauer Anzug und seine Krawatte saßen makellos, obwohl ich sicher war, dass die Blume, die er im Revers trug, aus einem Scherzartikelladen stammte. Es war eine dieser Plastikblumen, die Wasser verspritzten. Ich beäugte sie misstrauisch. »Sweetheart.« Er umarmte mich herzlich. »Du siehst fantastisch aus. Wenn jemand dieses Kleid mit Anstand tragen kann, dann du.« Ich lächelte mit geschlossenen Lippen. »Danke, Dad.«
»Ich glaube, deine Mutter hat einen neuen Freund.« Er blinzelte mir zu. »Sollte ich eifersüchtig sein?« Mit diesen Worten trat er zur nächsten Brautjungfrau. Meine Mutter hielt Georges Arm in den ihren geklemmt, als sie die Reihe entlang zu mir voranschritten. George sah aus, als wäre er lieber woanders gewesen. Er und ich. 200 »Sieh mal, wen ich gefunden habe«, meinte meine Mutter mit einem vergnügten Lächeln. »George.« Ich warf George einen fragenden, giftigen Blick zu. »Und woher kennst du George?«, fragte ich sie. »Gar nicht, Dummchen.« Sie tätschelte liebevoll seinen Arm. »Jedenfalls kannte ich ihn bis gestern nicht. Ich nehme an, dass dies dein merkwürdiges Verhalten seit deiner Ankunft und deine gereizte Laune erklärt.« »Meine gereizte Laune?« »Ihr beiden Turteltäubchen hattet sicher einen Streit und er ist den ganzen Weg hierhergekommen, um sich zu entschuldigen. Ist das nicht schrecklich romantisch? Wir haben gesehen, wie er vor der Kirche herumgeschlichen ist. Du hast mir nicht einmal gesagt, dass du einen neuen Freund hast.« Turteltäubchen, hm? »Mom, du warst schon immer so scharfsinnig.« »Das ist eine Gabe, Liebes. Mach dir keine Sorgen, dein Vater und ich werden ihm schon einen Platz an unserem Tisch besorgen.« Sie ging weiter und plauderte mit Susan, die beklommen neben mir stand.
Ich funkelte George an. »Also?« »Also was?« Er lächelte, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass er bei der Hochzeit meiner Cousine vor mir stand. »Darf ich sagen, dass du einfach fabelhaft aussiehst. Dieses Kleid ist umwerfend!« »Vielleicht wird es dich auch umwerfen, wenn du mir nicht sofort sagst, was du hier machst.« Er sah sich um. »Ich bin nur hier, um mich bei meinem Liebling für unseren schlimmen Streit zu entschuldigen. Das ist alles. Darling, bitte verzeih mir, was ich gesagt habe.« Ich nahm seine Hand und grub meine Fingernägel in seine Handfläche, bis er zusammenzuckte. »Wir unterhalten uns später, Honey! Und bis dahin solltest du dir etwas Besseres zurechtgelegt haben.« Er fletschte seine Reißzähne zu einem verzerrten Lächeln und ging weiter. Na klar würden wir uns unterhalten. Thierry steckte dahinter, das wusste ich einfach. Er hatte George hierhergeschickt, um mir nachzuspionieren. Es gab keine andere Erklärung. Ich konnte es nicht fassen! Meine beiden Leben, sowohl mein normales als auch das als Vampir, brachen auseinander. Ich wurde aus keinem von beiden mehr schlau. So konnte ich nicht leben, pausenlos auf der Kippe und stets in Sorge, dass etwas Schreckliches passieren würde. Als das Dinner serviert wurde, bereitete mir allein der Geruch meines unberührten Cordon Bleus Übelkeit. Ich
schob den Teller so weit weg von mir wie möglich und suchte mit meinen Blicken den Raum nach George ab. Am Tisch meiner Eltern stand ein freier Stuhl, auf dem er eigentlich hätte sitzen sollen. Ich brauchte frische Luft, ein bisschen Zeit für mich selbst, irgendwo, wo ich nicht von normalen Leuten umgeben war, die mich durch ihre bloße Gegenwart daran erinnerten, dass ich jetzt so furchtbar anders war. Draußen lehnte ich mich an die Mauer des Festsaals und versuchte durchzuatmen. Dann schnüffelte ich, runzelte die Stirn und sah nach links. Die Ehrenjungfrau, Susan, hatte sich eine Zigarette angezündet und stand neben dem Kücheneingang. »Willst du eine?« Sie deutete auf ihre Zigarettenschachtel. »Dir ist klar, dass die schlecht für dich sind, oder?« 202 »Aber nein.« Sie inhalierte tief und blies dann ein paar Rauchringe in die kühle Nachtluft. »Davon habe ich noch nie etwas gehört. Tja, niemand lebt ewig, stimmt's?« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Das habe ich auch immer gedacht.« »Dein Freund ist echt klasse.« Ich wollte protestieren, unterließ es aber. »Danke. Findet er auch.« »Diese Kleider sind nicht zu fassen, oder?« Susan schüttelte den Kopf. »Und jetzt sind wir auch noch auf diesen verfluchten Hochzeitsfotos darin verewigt. Ich werde
mich wohl sinnlos betrinken müssen, um darüber hinwegzukommen.« »Die Nacht ist noch jung. Und die Bar ist geöffnet.« »Amen, sage ich.« »Sag bloß nicht Amen. Du könntest Reverend Micholby anlocken. Was hat er eigentlich für ein Problem?« Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette. »Er war eine Weile weg. Es kursierten Gerüchte, dass er einen Nervenzusammenbruch gehabt hätte oder so etwas. Das ist seine erste Hochzeit seit seiner Rückkehr. Ich würde mir aber deshalb nicht den Kopf zerbrechen. Vielleicht benimmt er sich ja wegen der Kleider so komisch. Weil sie sein Moralempfinden beleidigen.« Ich nickte. »Wahrscheinlich. Ich meine, wenn ich schon moralisch von ihnen beleidigt bin, warum nicht auch er?« Wir lachten, und ich fühlte mich etwas besser. Jedenfalls bis sie sich an ihrem letzten Zug verschluckte und anfing zu husten. Ich klopfte ihr auf den Rücken, als ein Van mit quietschenden Reifen neben uns hielt. Ein gehetzt wirkender junger Mann sprang vom Fahrersitz, eilte nach hinten, öffnete die Tür und wuchtete ein mittelgroßes, silberfarbenes Fass heraus, das er zur Küchentür rollte. 203 »Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte er zu uns. »Mir war nicht klar, dass dieser Ort so weit draußen liegt. Ich hätte schon vor Stunden hier sein sollen.« »He, das macht doch nichts«, erwiderte ich. »Was ist das überhaupt? Bier?«
»Klar.« Er lachte kurz. »Bier. Niedlich. Tun Sie mir den Gefallen und quittieren den Empfang? Ich habe es schrecklich eilig.« Ich zuckte mit den Schultern. »Sicher, warum nicht?« Er rollte das Fass bis zur Tür, kam zu mir zurück und drückte mir ein Klemmbrett in die Hand, an dem ein billiger Kugelschreiber mit einem schwarzen Band befestigt war. Er deutete auf die Stelle, wo ich quittieren sollte. Ich setzte den Stift an. Und erstarrte. Wieso hatte ich plötzlich das Gefühl, ein übles Déjà vu zu erleben? Ich hob den Kopf und musterte den Mann. Er kam mir schrecklich bekannt vor. Dann glitt mein Blick zu dem Logo auf der Seite des Lieferwagens. DIE BLUTLIEFERANTEN. SIE BRAUCHEN BLUT? WIR LIEFERN ES. »Stimmt was nicht?«, erkundigte sich Susan. »Du siehst plötzlich so käsig aus.« Ich kritzelte meine Unterschrift auf das Formular und stieß es ihm vor die Brust. Er lächelte mich an. Das Mondlicht schimmerte auf seinen Reißzähnen. Dann bedankte er sich, stieg in seinen Van und fuhr weiter. Ich fühlte mich ganz schwach. »Ich glaube, ich gehe wieder hinein.« »Ja, ich auch.« Susan warf die Zigarettenkippe gegen einen Baum. »Jetzt könnte ich ein Bier vertragen.« Ich ging zu meinem Platz am Hochzeitstisch zurück. Der 204
Stress setzte mir übel zu; ich leerte ein Glas Rotwein, aber auch danach fühlte ich mich nicht besser. Was ging hier vor? Was wollten die Blutlieferanten hier? Steckte George dahinter? Hatte er sie bestellt? Oder sollte das ein Scherz sein? Wenn ja, fand ich ihn jedenfalls nicht komisch. Nicht im Mindesten. Ich betrachtete den Tisch, an dem meine Eltern saßen. Von George war immer noch nichts zu sehen. Wo zum Teufel steckte er? Das Dinner war vorbei, und das Dessert wurde serviert, eine lecker aussehende Schokoladentorte. Ich liebte Schokolade, aber ich wollte nicht noch einmal ins Bukett spucken, also verzichtete ich auf den Nachtisch und trank noch ein Glas Rotwein. Ich hatte so viel getrunken, dass ich eigentlich gar nichts mehr merken sollte. Stattdessen fühlte ich mich, als hätte ich den ganzen Abend nur Leitungswasser zu mir genommen. Nach den Reden legte der DJ auf, und Missy und Richard absolvierten den Hochzeitstanz. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie George den Festsaal betrat, zum Tisch meiner Eltern ging und sich setzte. Ich schlenderte zu ihm hinüber, und er hob die Hände, als erwartete er, dass ich ihn ohrfeigen würde. Ich schnappte mir seine Handgelenke und zog ihn von seinem Stuhl. Reverend Micholby saß ebenfalls am Tisch meiner Eltern und starrte mich cool an. »Sarah!« Meine Mutter musterte mich tadelnd. »Vielleicht hat dein aggressives Verhalten den armen George überhaupt erst vertrieben!«
Ich ignorierte sie und eskortierte George ins Foyer und so weit von der lauten Musik weg, wie es ging. Nach dem ersten Lied kam der »Ententanz«. Normalerweise ließ ich den nie aus, aber diesmal musste ich eine Ausnahme machen. 206 »Wo hast du den ganzen Abend gesteckt?« Ich rammte ihm meinen Finger gegen die Brust. »Au. Ich hab mich umgesehen, bin ein bisschen durch die Stadt geschlendert, hab was gesucht, was vielleicht interessant sein könnte.« Er zuckte mit den Schultern. »War leider eine Niete.« »Also gut, George, spuck's aus!« Er lächelte. »Erwähnte ich schon, dass du fabelhaft aussiehst?« »Was willst du hier?« »Was ist daran auszusetzen, dass ich Missy und Richard meine besten Wünsche zu ihrem neuen, gemeinsamen Leben überbringen will?« Er musterte mich scharf, dann überzog ein breites Grinsen sein Gesicht. »Du hast schon deine Reißzähne? Gratuliere.« Ich ignorierte seine Bemerkung. Irgendwie kam es mir nicht höflich vor, die Vampirreißzähne einer Frau in der Öffentlichkeit zu erwähnen. »Hat Thierry dich geschickt?« Er setzte sich auf ein rustikales Sofa und seufzte tief. »Glaubst du wirklich, ich wäre sonst hier?« »Er hat mir gesagt, dass er mich nie wieder sehen will.«
»Er ist ein harter Mann, und seine Gedanken sind schwer nachzuvollziehen. Aber du kennst ja den alten Spruch: Einen harten Mann zu finden ist gut.« Er grinste. Ich riss mich zusammen, wollte geduldig sein. Wirklich. »Aber er ist nicht selbst gekommen, sondern hat stattdessen dich geschickt, um mir nachzuspionieren.« »Er hat viel um die Ohren. Es ist schon wieder ein Club überfallen worden.« »Die Jäger?« Ich hob die Brauen. George nickte grimmig. »Normalerweise greifen sie die 207 Vampirjäger nur draußen an, aber dieses Jahr finden sie offensichtlich auch unsere Verstecke. Ich weiß nicht, wie sie das schaffen.« »Thierry hat dich geschickt, um mich im Auge zu behalten?«, fragte ich argwöhnisch. »Damit du dafür sorgst, dass ich okay bin?« »Ja. Er mag dich.« »Das behaupten alle ständig. Er hat jedenfalls eine sehr merkwürdige Art, mir das zu zeigen.« Ich holte bebend Luft und sah ihn an. »Es war schrecklich hier, George, wirklich schlimm. Ich fühle mich, als würde mein ganzes Leben auseinanderbrechen. Sag es Thierry nicht, aber ich glaube, er hatte recht. Ich kann nicht tun, als wäre ich normal. Jedenfalls nicht so normal, wie ich einmal war.« »Warum auch? Normal sein ist langweilig.« Ich blickte hoch, als einer von Richards Trauzeugen aus dem Festsaal kam. Er lächelte mich an und ging in die Küche.
»Er ist süß«, bemerkte George. »Hallo? Konzentrier dich, George.« Ich sah ihn finster an. »Du hast nicht zufällig ein Fass mit Blut hierherbestellt, nein?« »Nein.« »Ich meine es ernst. Du kannst es mir ruhig sagen. Ich habe gerade den Empfang quittiert.« Er schüttelte den Kopf. »Ernsthaft, nein. Ich war das nicht.« Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück. »Das kapiere ich nicht. Warum sollten sie es dann hierherliefern?« »Wahrscheinlich ist es für den Bräutigam bestimmt«, meinte George. Ich richtete mich kerzengerade auf. »Excusez-moi?« 208 »Der Bräutigam. Er ist einer von uns. Sind dir seine Reißzähne nicht aufgefallen?« »Ich blicke kaum in den Mund jeder Person, der ich begegne, verstehst du? Außerdem sind diese Reißzähne klein und normalerweise kaum zu erkennen, außer man steht sich nah.« Ich schüttelte den Kopf so schnell, dass mir schwindlig wurde. »Niemals. Er kommt aus Abottsville, Herrgott noch mal. Er ist ein verdammter Buchhalter!« »Und... und...«, stammelte ich. »Er ist kein Vampir! Niemals. Völlig unmöglich!« In diesem Moment tauchte der Trauzeuge wieder auf, das silberne Fass im Schlepptau. Er verschwand im Festsaal, nachdem er mich erneut angegrinst hatte. Ich starrte ihm
nach und hatte den Mund so weit aufgesperrt, dass Kinder auf die Idee hätten kommen können, mir Bälle hineinzuwerfen. Dann drehte ich mich zu George um. »Und seine Kumpel auch«, erklärte er. 13 Nie im Leben. Ich schüttelte den Kopf. »Richard ist kein Vampir. Und seine Freunde genauso wenig. Du nimmst mich auf den Arm.« George stand auf. »Wie du meinst. Es spielt ohnehin keine Rolle, denke ich.« Ich umklammerte sein Bein in der braunen Lederhose und starrte zu ihm hoch. »Natürlich spielt das eine Rolle! Es ist wichtig! Wie kommst du überhaupt auf so etwas?« »Und?« 209 »Du meinst, dieses Fass mit Blut einmal außer Acht gelassen, das gerade über den Tanzboden gerollt wird? Weiß nicht. Vielleicht ist es ja eine Art sechster Sinn. Es überrascht mich, dass du es nicht auch wahrnimmst, obwohl du mittlerweile deine Reißzähne hast.« »Sechster Sinn? Nein. Niemals!« »Wie auch immer...«, George verdrehte die Augen, »gehen wir, ja? Der Boss will, dass ich dich persönlich nach Toronto zurückbringe. Sagen wir, morgen Mittag?« Ich stand auf, am ganzen Körper verspannt, angefangen von meinen hässlichen, violetten Perlenohrringen bis zu meinen hübschen, silberfarbenen, drei Zentimeter hohen Sandaletten. »Du kannst mir doch nicht erst erzählen,
dass meine Cousine einen Vampir heiratet, und dann das Thema wechseln.« »Warum nicht?« »Weil...« Ich ruderte mit den Armen durch die Luft und suchte nach einer Begründung, mit der ich ihn festnageln konnte. »Weil er ein Vampir ist, deshalb. Missy ist ein Mensch. Hallo? Nach dem, was ich gestern durchgemacht habe, kann ich schwören, dass es eine kosmisch schlechte Idee ist. Es sei denn...« Ich schlug die Hand vor den Mund, um ein Keuchen zu unterdrücken. »Es sei denn, Missy ist ebenfalls ein Vampir. Ist sie einer?« »Sie ist absolut kein Vampir.« Ich seufzte erleichtert auf. Die glückliche Missy. »Dann muss ich ihr sagen, auf was sie sich da eingelassen hat. Die Hochzeit ist zwar schon passiert, aber sie kann sie annullieren lassen.« Ich hielt inne. »Ich hoffe nur, dass sie sich deswegen nicht noch mehr Katzen anschafft.« »Ja, geh und sag es ihr.« George klang vollkommen unbekümmert. »Ich gehe derweil tanzen.« 210 Wir trennten uns, als wir den Festsaal betraten. George zog meine Mutter zu einer wilden Version von Macarena auf die Tanzfläche, und ich ließ meinen Blick durch den Raum gleiten. Bevor ich Missy reinen Wein einschenkte, musste ich Richard zur Rede stellen. Und herausfinden, was zum Teufel er sich dabei gedacht hatte, meine naive, arme Cousine zu heiraten. Aber er war nirgendwo zu sehen. Ebenso wenig wie seine Freunde und das Fass mit dem Blut.
Dafür entdeckte ich Missy auf der Tanzfläche, zusammen mit Lana und Susan. Sie rückten George auf die Pelle und flirteten auf Teufel komm raus mit ihm. Sie winkten mir, mich zu ihnen zu gesellen, aber ich signalisierte ihnen, dass ich mir etwas zu trinken holen wollte. George konnte also andere Vampire fühlen, hm? Ob ich das auch konnte? Ich verlor mein Spiegelbild früher als normal, dank Thierrys extrastarkem Blut. Meine Reißzähne waren zu früh gekommen. Vielleicht verhielt es sich mit diesem Vampirradar ja genauso. Es war jedenfalls einen Versuch wert. Ich schloss die Augen und versuchte, die Musik und die Stimmen um mich herum auszuschließen. Ich atmete tief durch die Nase ein, ließ den Atem dann langsam durch den Mund hinausströmen und konzentrierte mich so stark, wie ich konnte. Dann öffnete ich die Augen und marschierte geradewegs auf die winzige Garderobe zu, die sich neben der Bar auf der rechten Seite des Festsaals befand, öffnete die Tür und machte das Licht an. Richard und seine beiden Freunde sahen mich überrascht an. Sie hockten mit gekreuzten Beinen neben einer Reihe von Mänteln um das Fass herum. Jeder hielt ein Schnapsglas in der Hand. 211 Ich hob meine Brauen. He, mein sechster Sinn funktionierte. Wer hätte das gedacht? »Was zum Teufel ist hier los?«, fuhr ich sie an.
»Shhh!« Richard packte mein Handgelenk und zog mich zu Boden. Dann schob er eine Reihe von Mänteln zwischen uns und die Tür, die uns größtenteils verbargen, stand auf und schaltete das Licht aus. Meine Augen stellten sich überraschend schnell auf die Dunkelheit ein. »Ein Drink gefällig?«, fragte sein blonder Freund, der, den George für süß gehalten hatte. Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern reichte mir ein Schnapsglas mit der merkwürdig appetitlich wirkenden roten Flüssigkeit. Alles in allem sah sie wirklich lecker aus. »Na gut, vielleicht einen.« Ich drohte ihm mit dem Finger. »Aber dann will ich wissen, was hier vorgeht.« Der rothaarige, stupsnasige Freund hob sein Glas. »Auf Richard und Missy.« Wir stießen an und tranken. Ich wusste nicht, welche Blutgruppe es war, aber es schmeckte jedenfalls köstlich. Dann ließen sie eine halbleere Wodkaflasche herumgehen und tranken daraus. Ich winkte ab, als die Reihe an mir war. »Dieses Zeug wirkt bei mir nicht mehr.« Richard schüttelte den Kopf. »Nein, normalerweise nicht. Alkohohl macht dir nur einen Schwips, wenn du vorher Blut getrunken hast.« »Oh. Gut zu wissen.« Ich schnappte mir die Flasche, nahm einen Schluck und gab sie ihm zurück. »Also was zum Teufel geht hier vor?« Sie sahen sich verblüfft an. »Was meinst du damit?«, erkundigte sich Richard schließlich.
»Du bist ein Vampir.« 213 »Du auch.« Er zuckte mit den Schultern, als ich erschreckt keuchte. »Tut mir leid, aber das ist ziemlich offensichtlich. Dieses Ding mit dem rohen Steak gestern Abend hat dich endgültig verraten. Also ja, ich bin ein Vampir. Und, worauf willst du hinaus?« Worauf ich hinauswill? Ich runzelte die Stirn. Der Schluck Wodka stieg mir bereits zu Kopf. »Wir sollen uns nicht mit Menschen einlassen. Das ist falsch und gefährlich und noch viel mehr, aber die richtigen Worte fallen mir gerade nicht ein. Unterm Strich jedenfalls kannst du kein Vampir sein und das Leben eines Menschen führen. Das macht man einfach nicht.« »Und wer hat dir das gesagt?« »Ein Meister-Vampir.« Die drei sahen sich an. »Oh. Ein Meister-Vampir«, sagte der Blonde. »Ich bibbere förmlich.« »Wirklich angsteinflößend«, sagte der Rothaarige, ohne eine Miene zu verziehen. Er rückte seine Fliege zurecht. »Dann werde ich wohl morgen meinen Buchladen schließen und mit den anderen Monstern in den Untergrund gehen.« »Im Untergrund leben Monster?«, fragte ich staunend. »Trink noch einen Schluck.« Machte ich. Und noch einen. Und dann fühlte ich nichts mehr.
»Hör zu, Sarah, es ist großartig, dass du dich so um Missy sorgst.« Richard setzte die Wodkaflasche an und leerte sie. »Du hast recht. Es ist nicht einfach, diese beiden sehr unvereinbaren Leben in Einklang zu bringen. Aber manchmal ist es die Mühe wert. Missy ist den Aufwand jedenfalls wert.« Ich bohrte meinen Finger in seine Schulter. »Und du versuchst nicht, sie zu beißen?« 214 »Nur, wenn sie sich schlecht benimmt.« Als er meinen Blick sah, lachte er. »War nur Spaß. Sieh mal, Sarah, es ist so: Früher waren meine Freunde und ich Zimmergenossen auf dem College. Aber in der Stadt wurde es uns zu stressig, diese ständige Flucht vor den Jägern. In einer Kleinstadt wie Abottsville dagegen ist es ruhiger, und wir kommen besser klar. Sicher, es hat gelegentlich ein paar...«, Richard suchte nach dem richtigen Wort, »Zwischenfälle gegeben. Aber wir haben es geschafft.« »Zwischenfälle?« Der Blonde zündete sich eine Zigarette an. »Es tauchten ein paar irregeleitete Seelen auf, die sich einbildeten, >Vampirschlächten zu sein.« Er machte tatsächlich die Anführungszeichen in der Luft. »Das liegt an dieser verdammten Fernsehserie. Mit dieser dürren Blondine. Also sind wir, soweit es möglich war, unter uns geblieben. Hätte jemand die Wahrheit herausgefunden, hätten sie uns vielleicht mit Mistgabeln und Fackeln gejagt.«
»Mistgabeln.« Ich lachte schnaubend und eindeutig angetrunken, als ich mir das vorstellte. »Sehr komisch. Auf eine bizarre, gruselige Art und Weise.« »Also, Sarah, wie gefällt dir dein neues Leben?«, erkundigte sich Richard. »Mir.« Ich wurde schlagartig nüchtern und verzog säuerlich das Gesicht. »Ich darf wohl behaupten, dass Vampir zu werden das Schlimmste ist, das mir in meinem ganzen Leben zugestoßen ist. Ich habe sogar das sonderbare Bedürfnis, mich von einer Brücke zu stürzen.« »Das ist nicht gut.« Der Rothaarige schüttelte bedächtig den Kopf. »Außerdem wäre das eine ungeheure Verschwendung, weil du echt heiß bist. Obwohl du gestern Abend ins Bukett gekotzt hast.« 215 »He, danke.« »Weißt du«, meinte Richard, »wenn es dir so sehr gegen den Strich geht, solltest du vielleicht versuchen, das Heilmittel zu finden.« Ich sah ihn verständnislos an. »Hä?« »Das Heilmittel.« Ich sprang auf und stieß mir den Kopf an einem Mantelständer. Woraufhin ich wieder zu Boden plumpste. »Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden.« Richard seufzte. »Ein Mittel gegen Vampirismus. Ich habe gehört, Wissenschaftler in Europa hätten seit Jahren daran gearbeitet.« Ein Heilmittel? Eine Medizin? Meine Gedanken rasten. Jedenfalls so schnell Gedanken in einem von Wodka und
Blut vernebelten Hirn rasen können. Hatte Zelda nicht auch etwas von einem Heilmittel gesagt? Ich hatte geglaubt, sie hätte nur einen Scherz gemacht. »Ist das dein Ernst? Es gibt ein Heilmittel?« »Es ist nur ein Gerücht, das ich gelegentlich aufgeschnappt habe, doch wenn du es wirklich so hasst, ein Vampir zu sein, dann solltest du versuchen der Sache nachzugehen. Aber mal im Ernst, Sarah, lass dir etwas Zeit. Es ist nicht so schlecht, wie du glaubst.« »Ihr seid wirklich großartig.« Ich beugte mich vor und küsste Richard schmatzend auf die Wange. »Missy ist so ein Glückspilz, dass sie dich hat!« Ich schlang ihm die Arme um den Hals und drückte ihn an mich, wie es nur eine betrunkene Frau in einem sehr tief ausgeschnittenen, auberginefarbenen Kleid tun kann. »Ach wirklich?«, sagte Missy hinter mir. Ich sprang hoch und stieß mir erneut den Kopf an dem Regal. Während ich 216 mir meine jetzt doch ein wenig schmerzende Kopfhaut rieb, drehte ich mich um. Missy hatte den Kopf zwischen den Mänteln hindurchgesteckt und sah zu, wie ich ihren frischgebackenen Ehemann abschleckte. »Missy! Das hier ist... ist nicht das, wonach es aussieht!« »Wie merkwürdig, denn es sieht genauso aus wie das wöchentliche Treffen der Anonymen Vampire, das in der Garderobe meines Hochzeitsempfangs stattfindet.«
Ich hob die Hand, packte ihre Perlenkette und zerrte sie auf den Boden neben mich. Sie quietschte, und ich legte ihr die Hand auf den Mund. »Erstens«, sagte ich: »Shhhhh! Und zweitens: Wirklich sehr komisch!« Sie zog meine Hand von ihrem Mund, stand auf und strich sich ihr Hochzeitskleid glatt. »Himmel, Sarah, ich wollte dir nur sagen, dass ich gleich meinen Brautstrauß werfe, und jetzt muss ich mein Make-up wieder erneuern. Vielen Dank.« »Tut mir leid. Aber... aber... bedeutet das, du weißt es? Ich meine...« Ich deutete auf die drei Jungs. »Du weißt schon?« »Natürlich weiß ich es.« »Und es macht dir nichts aus?« Missys Unterlippe bebte. »Natürlich macht es mir etwas aus. Wie ich dir schon sagte, sind wir beide sehr unterschiedlich, Richard und ich. Ich habe Angst, dass in fünfzig Jahren, wenn ich alt bin und er immer noch der gut aussehende Mann ist...« »Missy, Baby«, unterbrach Richard sie. »Das haben wir doch bereits durchgekaut.« Sie schniefte. »Ich weiß.« Richard sah mich an. »Ich habe angeboten, sie zu beißen, sie auch zu einem Vampir zu machen, aber sie hat sich dage 217 gen entschieden. Ich respektiere ihre Entscheidung, aber ich werde sie ewig lieben.«
Ach, wie süß! Andererseits war ich schon immer eine hoffnungslose Romantikerin. Die Betonung liegt dabei auf »hoffnungslos«. »Und du, meine liebe Cousine«, Missy wandte sich an mich, »was zum Donner ist dir passiert?« Ich seufzte. »Ein mieses Blind Date. Sieht aus, als hätte ich eine Ewigkeit Zeit, mich davon zu erholen.« Sie nickte. »Ich wusste es. In dem Moment, als du mir diese Reißzähne gezeigt hast. Zahnweißer, meine Güte, also wirklich! Und jetzt bringen wir diese BrautstraußNummer hinter uns. Ich will meine Flitterwochen endlich anfangen.« Sie beugte sich vor und küsste Richard auf den Mund. »Igitt. Putz dir bloß die Zähne. Du hast wieder Blutatem.« »Ja, Schatz.« Wir verließen die Garderobe einer nach dem anderen, wobei wir versuchten so gelassen wie möglich auszusehen. Im Festsaal starrte mich der Reverend vom Rand der Tanzfläche aus an. Er hatte eine schwarze Reisetasche über der Schulter. Ich grinste ihn strahlend an und schlug mir dann die Hände vor den Mund, um meine Zähne zu verbergen. Ich muss daran denken, meine neuen Reißzähne nicht allen zu zeigen. Aber das war nicht der einzige peinliche Moment. Ich zog mein Kleid glatt, fast bis übers Knie, und hätte dabei fast eine Brustwarze entblößt. Der Reverend blinzelte und sah weg. Ich fühlte mich herrlich beschwipst von der Blut-WodkaKombination. Und wo ich gerade darüber nachdachte, erschien mir dieser Moment, in meinem derzeitigen
Zustand jedenfalls, einfach perfekt für eine »Verabschiedung« von meinen Eltern. Ich hatte sicher noch ein paar Minuten Zeit, 219 bevor Missy aus dem Badezimmer zurückkam. Warum sollte ich sie verschwenden? Lass dein altes Leben hinter dir. Bring es hinter dich. Überbringe ihnen die Neuigkeit, dass sie dich eine Weile nicht sehen werden. Hoffentlich nehmen sie es nicht zu schwer! Jemand tippte mir auf die Schulter, und ich drehte mich um. »Sarah«, sagte mein Vater. »Deine Mutter und ich gehen jetzt.« »Ihr verlasst mich?«, jaulte ich. »Warum denn?« Er zuckte mit den Schultern. »Zu viel Weißwein. Deine Mutter ist betrunken.« »Bin ich überhaupt nicht!«, lallte meine Mutter drei Meter entfernt am Tisch. Ihr Mantel hing schief über ihre Schultern. Dann stieß sie laut auf. »Aber Dad, ich...« Er tippte mit dem Zeigefinger unter mein Kinn. »Bis später.« »Aber ich...« Ohne ein weiteres Wort... verließen er und meine Mutter mich. Jedenfalls für den Rest des Abends. Irgendwie. Wie betäubt sah ich ihnen nach, als sie den Festsaal verließen. Ich kam mir plötzlich wie eine Waise vor. Wie die kleine Vampirwaise Annie.
»Okay«, verkündete der DJ, nachdem Buster Pointdexters »Hot Hot Hot« geendet hatte. »Darf ich alle ledigen Ladys auf die Tanzfläche bitten. Der Brautstrauß wird geworfen.« Ich trottete auf die Tanzfläche und sah Missy an. »Wer ihn fängt, wird die nächste Braut«, verkündete Missy. »Ist das nicht toll?« Ich drängelte mich in eine aussichtsreiche Position. Missy 220 drehte sich um. Nachdem sie die versammelte Menge von zehn ledigen Frauen mit zwei vorgetäuschten Würfen verrückt gemacht hatte, schleuderte sie den Brautstrauß hoch in die Luft. Er segelte weit über unsere Köpfe hinweg direkt in die Hände von Reverend Micholby, der unmittelbar hinter uns stand. Er starrte den Brautstrauß eine Sekunde an und ließ ihn dann vor sich auf den Boden fallen. Bevor ich ihm sagen konnte, was für eine entzückende Braut er abgeben würde, öffnete er die schwarze Schultertasche, die er den ganzen Abend mit sich herumgeschleppt hatte, und zog einen Holzpflock und ein großes, silbernes Kreuz heraus. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, sagte er ruhig. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich mehrere Vampire unter uns befinden. Würden Sie mich bitte nach draußen begleiten, damit ich Sie umbringen kann? Und zwar sofort, bitte?« Ich keuchte und drängte mich zwischen die Frauen. Die bedauerlicherweise gleichzeitig von der Tanzfläche
flüchteten, so dass ich allein auf meinem Hintern dasaß und den Mann anstarrte, der tagsüber Reverend, nachts dagegen Vampirjäger war. Nervenzusammenbruch? Von wegen! Er starrte mich mit kalten, entschlossenen Augen an. »Also gut, fangen wir mit Ihnen an.« Missy trat zu ihm. »Reverend, was geht hier vor?« »Monster«, erwiderte er sachlich, als würde er am Büfett ein leicht anstößiges Thema diskutieren. »Das geht hier vor. Bei der da hatte ich bereits Verdacht geschöpft, und als sie mir dann ihre Reißzähne gezeigt hat, wusste ich, dass ich einschreiten musste. Ich habe die heilige Pflicht, meine Stadt von dieser Satansbrut zu befreien!« »Satansbrut?« 221 Missy lachte, warf mir jedoch einen nervösen Blick zu. »Ich glaube, Sie haben zu viele schlechte Filme gesehen. Es gibt keine Vampire, das weiß doch jeder.« Der Reverend ließ mich nicht aus den Augen und schüttelte das Kreuz drohend in meine Richtung. Es war ein hübsches Kreuz und sah aus, als wäre es aus echtem Silber. Was mich nicht weiter bekümmerte. Der Pflock in seiner anderen Hand dagegen bereitete mir Kopfschmerzen. »Sie ist eine«, zischte er und deutete mit dem Kreuz auf mich. »Ein böser Blutsauger! Und es gibt noch mehr von ihnen, davon bin ich überzeugt! Ich werde sie aufspüren und vernichten!«
Im Saal herrschte tiefstes Schweigen. Niemand machte Anstalten, mir zu Hilfe zu eilen. Vielleicht hielten die Gäste es ja für eine etwas merkwürdige Inszenierung nach dem Dinner. »Ich bin kein Vampir.« Meine Stimme klang schrill und gepresst. »Schweig, du böse Hure! Du bist gekleidet, um zu verführen und zu töten!« Ich rappelte mich hoch. »He, das Kleid war nicht meine Idee, Kumpel!« »Was ist denn da los?«, erkundigte sich jemand von den Zuschauern. - »Er ist verrückt!«, schrie ich, laut genug, damit alle im Festsaal es hören konnten. »Und betrunken. Verrückt, betrunken und wahrscheinlich obendrein bekifft!« Der Reverend trat einen Schritt auf mich zu, aber Missy stand noch vor ihm. Er stieß sie zur Seite, und sie schrie auf, als sie zu Boden stürzte. Richard lief zu ihr und zog sie aus der Gefahrenzone. Der Reverend kam näher, und ich wich weiter zurück, bis ich gegen das Pult des DJs stieß. 222 Plötzlich tauchte George neben mir auf. Schließlich sollte er mich beschützen. Er hatte sich verdammt lange Zeit gelassen. »Tut mir leid.« Er legte mir einen Arm um die Schultern. »Die Natur hat ihr Recht gefordert.« Der Reverend brauchte einen Moment, um die neue Lage einzuschätzen, während er uns mit seinen Blicken
förmlich durchbohrte. Dann hob er den Pflock hoch über den Kopf und ließ ihn auf George heruntersausen. George quietschte vor Schmerz und blickte dann auf den Pflock, der aus seiner Brust herausragte. Dann fiel er auf die Knie und landete mit dem Gesicht auf dem Boden, bevor er sich auf den Rücken rollte. Ich stand vor Schreck wie angewurzelt da. Der Reverend trat so dicht an mich heran, dass er mir das Kreuz gegen die Wange pressen konnte. »He!«, schrie ich. »Lassen Sie das!« »Das brennt, Dämon, hab ich recht?« »Eigentlich nicht«, stieß ich zwischen den Zähnen hervor. »Aber das hier wird wehtun!« Ich rammte ihm mein Knie in die Lenden. Er schrie, krümmte sich vor Schmerz und sackte zu Boden. Das Kreuz fiel klappernd auf den Boden. Ich rieb mir meine schmerzende Wange und sank dann neben George auf die Knie. Wie durch einen Schleier registrierte ich, dass die Gäste im Festsaal durcheinanderschrien und zu den Ausgängen flüchteten. »George!« Ich strich ihm sein langes Haar aus der Stirn. »George, mein Süßer. Geht es dir gut? Sag was!« George starrte mit glasigen Augen an die Decke. »Autsch!« Ich zwang mich, auf den Pflock zu blicken. Um ihn herum hatte sich ein dunkelroter Fleck auf Georges cremefarbenem Hemd gebildet. Ich betrachtete ihn einen Moment. »Der Pflock steckt nicht in deinem Herzen, sondern nur in
deiner Schulter. Man muss ihn dir doch ins Herz rammen, damit du stirbst, stimmt's?« Ich atmete aus und merkte erst jetzt, dass ich unwillkürlich die Luft angehalten hatte. »Das ist doch eine gute Nachricht, oder nicht?« George drehte den Kopf zu mir und sah mich blinzelnd an. »Aua!« Ich schüttelte den Kopf. »Dein Hemd ist unwiederbringlich ruiniert. War es echte Seide?« Sein Blick glitt über meine Schulter hinter mich, und er versuchte vergeblich aufzustehen. »Aua«, wiederholte er und streckte die Hand aus. Ich drehte mich um. Der Reverend stand auf. Seine Miene war eine Fratze ungeschminkten Hasses. Auch wenn ich ihm seine Lenden zerschmettert hatte, würde er versuchen, mich mit bloßen Händen in Stücke zu reißen. Und soweit ich sehen konnte, war im Festsaal niemand mehr, der mir helfen konnte. Eine Hand hatte ich auf Georges Brust gelegt, die andere hob ich, um den Reverend aufzuhalten, als der auf mich zuschwankte. Na viel Glück! Dann hörte ich ein lautes Krachen. Der Reverend blieb wie angewurzelt stehen, seine Augen wurden glasig, er sank auf die Knie und fiel dann vornüber auf den Tanzboden. Sein Kopf landete nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich blickte fassungslos hoch. Thierry stand hinter ihm, in der Hand eine zerbrochene Weinflasche. George sah ihn ebenfalls an. »Aua!«
Mir hatte es die Sprache verschlagen, und ich starrte 225 Thierry mit einem vermutlich recht albernen Gesichtsausdruck an. »Und...«, Thierry sah sich in dem leeren Festsaal um. »War es eine nette Hochzeit?« Ich schluckte. »Sie war entzückend. Du hast wirklich etwas verpasst.« Er hockte sich hin und sah George skeptisch an. »Reiß dich zusammen. Das wird wehtun.« George wollte protestieren, aber Thierry packte den Holzpflock und zog ihn aus Georges Brust. Das schmatzende Geräusch war widerlich. George schrie einige Flüche, die ich noch nie gehört hatte. Ich merkte sie mir, um mein Vokabular aufzupolieren, während ich zusah, wie das Blut aus seiner Wunde sprudelte. Ich wusste, dass ich eigentlich die Fassung verlieren sollte, stattdessen jedoch knurrte mein Magen nur hungrig bei diesem Anblick. Allerdings würde ich diese bestürzende Erkenntnis für mich behalten. »Wird er wieder gesund?«, fragte ich. »Ja.« Thierry warf den blutigen Pflock zur Seite. »Mit der Zeit.« Mein Blick zuckte zum Reverend. »Ist er... ist er... ?« »Tot?«, beendete Thierry den Satz für mich. »Nein.« Er zog ein Handy aus der Tasche und rief die Polizei an, die zehn Minuten später auftauchte. Nachdem sie sich kurz mit Thierry unterhalten hatten, führten sie den
immer noch etwas benommenen Reverend ab, während die ersten Hochzeitsgäste sich wieder hereinwagten. »Was hast du ihnen erzählt?«, erkundigte ich mich. »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.« Er hatte George aufgerichtet und führte ihn zur Tür. 226 »Thierry!«, rief ich ihm nach. Er drehte sich um, während George sich schwer auf ihn stützte. »Warum bist du eigentlich hier? George hat mir gesagt, dass du ihn geschickt hast, weil du so viel zu tun hättest. Ich habe nicht erwartet, dass du kommst, nachdem... nach unserer Diskussion neulich.« Er holte tief Luft. »Willst du mir damit sagen, dass ich besser nicht gekommen wäre?« »Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil, dein Timing war perfekt. Es ist nur... George sagte, dass du beschäftigt wärest, weil es einen weiteren Überfall der Jäger gegeben hätte. Haben sie...«, ich schluckte schwer, »haben sie jemanden umgebracht?« »Zum Glück wurde bei ihrem letzten Überfall niemand verletzt; aber auch der zweite Club wurde so stark zerstört, dass ich ihn schließen musste.« Er erwiderte meinen Blick und sah dann weg. »Ich hatte einfach das Gefühl, dass du mich brauchtest.« Ich wartete auf eine nähere Erklärung, aber es kam keine. »Fährst du jetzt nach Toronto zurück?« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann George im Moment keine lange Autofahrt zumuten. Wir holen dich morgen
früh um acht Uhr ab. Bitte sei dann bereit. Es sei denn, natürlich, du hast vor, noch länger hierzubleiben.« »Nein, nein. Ich bin dann fertig.« Er ging weiter zur Tür. »Thierry!«, rief ich ihm nach. Er blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. »Ich... danke.« Er ging wortlos hinaus, und das einzige Geräusch war ein langes, schmerzliches Seufzen von George, als er gegen den Türrahmen stieß. Abottsville ist für seine schmalen Türen bekannt. 227 Ich ging hinaus und sah zu, wie Missy und Richard in die Flitterwochen fuhren. Das fiel zwar ein bisschen gegen die Aufregungen zuvor ab, aber es musste genügen. Ich hörte, wie die Leute sich murmelnd über Reverend Micholby unterhielten, der jetzt endgültig übergeschnappt wäre... offenbar etwas, was man schon seit Jahren hatte kommen sehen. Warum nur konnte das meine Stimmung nicht heben? Missy umarmte mich kurz. »Du wirst es schon schaffen«, sagte sie. Ich nickte, aber mir war klar, dass sie log, damit ich mich besser fühlte. »Sicher, klar schaffe ich das. Wir blutsaugenden Monster landen immer auf den Füßen.« Sie wollte noch etwas sagen, aber ich hinderte sie daran. »Du wirst es auch schaffen.« Ich lächelte sie an. »Richard ist ein richtiger Beschützer.« Sie nickte, und Richard zwinkerte mir aus der Limousine zu. Missy stieg ein, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Niemand hatte Reis oder Konfetti, also winkten wir einfach nur zum Abschied. Am Kofferraum der Limousine war ein Schild in Form eines roten Herzens angebracht, das zwei verdächtig wirkende Löcher aufwies. Ich las den Text: BIS DASS DER TOD UNS SCHEIDET HAT EINE GANZ NEUE BEDEUTUNG. RICHARD UND MISSY AUF EWIG. Sehr komisch. Nur, warum lachte ich dann nicht? Ich versuchte, den Kloß herunterzuschlucken, der mir in der Kehle saß, während ich zusah, wie sie davonfuhren. 228 14 Mam bestand darauf, dass ich zu Hause in meinem alten Zimmer wohnte. Dies war die zweite Nacht, die ich behaglich wie eine Made im Speck in meinem alten Einzelbett mit dem rosa Rüschenhimmel verbrachte. Ich starrte sehr lange auf mein altes Madonnaposter. Ich hatte von klein auf wie Madonna sein wollen. Stattdessen wurde ich lediglich ein »Material Girl«. Unterm Strich war das wohl auch okay. In dem Zimmer waren jede Menge Spuren zum Thema: »Ich, wie ich früher einmal war« verstreut. Meine alten Tagebücher, die noch in ihren Geheimfächern versteckt waren, mein Teddybär, der keine Augen mehr hatte, weil ich sie ihm im Schlaf abgedreht hatte. Ich glaube, schon als Kind war ich oral fixiert. In meinem Kleiderschrank fand sich noch die gesamte Kleidung, die ich vom letzten Cent meines McDonald's Lohns gekauft hatte. Heute war es nicht sehr viel anders. Ich gab auch jetzt noch mein
ganzes Geld für oberflächliche Dinge aus. Hübsche Sachen, durch die ich mich besser fühlte, die mir das Gefühl gaben, etwas Besonderes zu sein. Was für ein Witz. Es war noch nicht einmal Mitternacht, der Hochzeitsempfang war früher abgehakt als ursprünglich geplant. Ich wälzte mich eine Weile im Bett herum, aber ich war nicht müde. Also entschloss ich mich, die Cosmopolitan zu lesen, die ich mitgebracht hatte, bis ich schläfrig würde. Ich glitt aus dem Bett. Ich trug mein Roller-Skating Mama-Nachthemd. Ziemlich retro. Ich setzte mich an meinen kleinen Kosmetiktisch, an dem ich früher davon geträumt hatte, erwachsen zu werden. Ich hatte Make-up aufgetragen, das ich aus Mamas Badezim 229 merschublade geklaut hatte und mir vorgestellt, ein weltberühmtes Modell zu sein, eine Schauspielerin oder Stewardess. Jeder der oben genannten Berufe wäre prima gewesen. Damals wusste ich noch nicht, dass ich es nur zur Vorstandsassistentin bringen würde. Und selbst das war ich nicht mehr. Klar, ich suhlte mich in Selbstmitleid - irgendwelche Neuigkeiten? Das Schlimmste jedoch, am Kosmetiktisch meiner Kindheit zu sitzen, war zu sehen, dass mein Spiegelbild völlig verschwunden war. Kaputt. Daran würde ich mich nie gewöhnen. Von allem, was am Vampirdasein nervte, war dieser Re-flektionsverlust am nervigsten.
»Material Girls« müssen sich im Spiegel betrachten können. Das war eine unabdingbare Tatsache. Damit war es jetzt vorbei. Alles in allem konnte ich genauso gut auf Make-up verzichten. Welchen Sinn machte das noch? Mir war natürlich klar, dass mir die Tränen nicht nur über die Wangen liefen, weil ich kein Spiegelbild mehr besaß. Es waren die Ereignisse der letzten Tage - das Spiegelbild war nur der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich hasste alles, was es ausmachte, ein Vampir zu sein, und die Liste wurde jeden Tag länger. Und das Heilmittel, das Richard erwähnt hatte? Ich war überzeugt, dass dies auch nur ein weiterer Klumpen Mist war, den ich auf meinen schon recht umfangreichen Misthaufen werfen konnte. Da ich allein in einem Zimmer war, das einmal von so vielen zuversichtlichen, wundervollen Träumen über meine Zukunft erfüllt gewesen war, gestattete ich mir, wie das kleine Mädchen zu weinen, das hier früher einmal gelebt hatte. Mochte es in Frieden ruhen. 230 »Sarah«, sagte eine tiefe Stimme. Ich schniefte und hob den Kopf. Ich blickte in den Spiegel, sah jedoch nur den dunklen, leeren Raum darin. Ich drehte mich um. Auf der Fensterbank neben dem offenen Fenster saß Thierry. »Was willst du hier?« Ich wischte mir hastig die Tränen von den Wangen. Er stand auf. »Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
»Mir geht's gut«, sagte ich, aber meine Stimme zitterte. »Siehst du nicht, dass es mir gut geht? Friede, Freude, Eierkuchen! Es ging mir nie besser.« »Du hättest mich fast hereingelegt.« Er holte tief Luft und schwieg einen Augenblick. »Was da neulich im Club passiert ist...«, begann er dann. »Keine Angst«, unterbrach ich ihn. »Ich habe dir gesagt, dass ich nie mehr dort auftauchen werde, und daran halte ich mich auch.« »Nein, darum geht es nicht. Das heißt, eigentlich geht es genau darum.« »Wie bitte?« »Es war nicht richtig von mir, dir diese Dinge zu sagen.« Meine Brauen zuckten vor Überraschung nach oben. »Es war nicht richtig von dir?« »Bitte, lass mich ausreden. Ich muss zugeben, dass ich nicht so viel für dich da war, wie ich es versprochen habe, seit ich zustimmte, dir bei deinem neuen Leben zu helfen. Wäre ich da gewesen, wärst du Quinn nicht über den Weg gelaufen. Du hast einige unglückliche Entscheidungen getroffen, aber du warst ein Zögling, der einen aufmerksamen Schöpfer gebraucht hätte. Von dir zu verlangen, dass du das einzige Leben, das du kennst, aufgibst, ohne Hilfe zur Seite zu haben, 231 war falsch von mir. Es hätte mich nicht überraschen dürfen, als du gehen wolltest, und das gegen meinen ausdrücklichen Wunsch.« Er verschränkte die Arme und senkte den Blick. »Ich habe George hierhergeschickt, damit er dich im Auge behält - dafür sorgt, dass es dir gut
geht. Allerdings hatte ich gehofft, er könnte es ein bisschen unauffälliger bewerkstelligen, aber was passiert ist, ist passiert.« Ich blinzelte. »Geht es ihm gut?« »Bis wir morgen früh in die Stadt zurückfahren, wird er wieder gesund sein, ja.« Ich knabberte noch an der Tatsache, dass Thierry sich gerade bei mir entschuldigt hatte. Niemand musste mir sagen, dass dies nur sehr selten vorkam. »Warum weinst du?«, fragte er nach einem Moment. Ich zuckte nur mit den Schultern und zeigte auf den leeren Spiegel, aus Angst, ein merkwürdiges Geräusch von mir zu geben, wenn ich versuchte, trotz des dicken Kloßes in meinem Hals zu sprechen. »Oh«, sagte Thierry. »Da fällt mir etwas ein. Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht.« Er stand auf, trat zu mir und fasste in seine Tasche. Er zog eine mittelgroße, blaue Schachtel heraus, die mit einem weißen Band umwickelt war und stellte sie vor mich auf den Kosmetiktisch. Ich blickte zu ihm hoch. »Was ist das?« »Ein Geschenk.« Thierry machte mir ein Geschenk? Ich nahm die Schachtel, machte das Band ab, hob den Deckel an und sah hinein. Darin befand sich ein silbernes, ovales Ding. Ich nahm es heraus und sah Thierry verwirrt an. »Öffne es«, sagte er. 232 Das ovale Ding hatte einen Durchmesser von ungefähr vier Zentimetern und einen Verschluss an der Unterseite.
Ich drückte auf den Verschluss und der Deckel sprang auf. Es war eine antike Silberdose, wie man sie früher benutzte, um sich die Nase zu pudern. »Wie hübsch«, sagte ich, während ich meine geröteten Augen in dem kleinen Spiegel betrachtete. Moment mal! Mein Spiegelbild? Ich sah, wie meine Augen sich plötzlich weiteten, als es mir dämmerte. Es war eine dieser Scherben. Thierry hatte mir eine Scherbe geschenkt - einen dieser besonderen Spiegel, von denen Zelda mir erzählt hatte. Die so außerordentlich wertvoll waren. Ich hob den Kopf und starrte Thierry mit meinen weit aufgerissenen Augen an. »Gefällt es dir?« fragt er. Ich fing wieder an zu weinen, aber jetzt aus einem völlig anderen Grund. Thierry musste mich für einen komplett hoffnungslosen Fall halten. Er sah bestürzt aus, als ich die Scherbe vorsichtig hinlegte und aufstand. »Wenn sie dir nicht gefällt,« sagte er, »kann ich...« Ich würgte seine Worte mit einer festen Umarmung ab und presste mein Nachthemd gegen seinen schwarzen Anzug. »Es gefällt mir sehr, Thierry. Tausend Dank.« Ich sah mit Glückstränen in den Augen zu ihm hoch. Er lächelte auf mich hinunter. Er sah toll aus, wenn er lächelte. Er wischte mit seinen Daumen die Tränen von meinen Wangen, hielt zärtlich mein Gesicht in seinen Händen und sah mich einfach nur mit seinen silbrigen Augen an. Langsam erlosch sein Lächeln.
Mein Herz schlug heftig, während ich in seine Augen sah. Er beugte sich weiter herunter, und ich konnte seinen warmen Atem in meinem Gesicht spüren. Er atmete schneller 234 als üblich, und ich fühlte, wie sein Herz heftig an meinem pochte. Er zog mich an sich, und unsere Lippen berührten sich, sanft zunächst, doch dann intensivierte sich der Kuss, bis wir förmlich darum kämpften, wer von uns leidenschaftlicher, süßer und länger küssen konnte. Ich glitt mit den Händen seinen Rücken hinunter, fuhr unter sein Jackett, tiefer, zog seinen Körper noch dichter an meinen. Seine Hände wanderten zur Rückseite meiner nackten Oberschenkel, er packte sie, hob mich hoch, drehte uns um, und dann fielen wir zusammen auf mein ungemachtes Bett, ohne dass seine Lippen meine nur für einen Moment verlassen hätten. Er drückte mich mit seinem Gewicht tief in die schmale Matratze und fing an, mit wachsender Begierde meinen Hals zu küssen. Wieso musste ich ausgerechnet heute Nacht mein RollerSkating Mama-Nachthemd tragen?, schoss es mir durch den Kopf, aber ich schob den Gedanken rasch zur Seite. Thierry wanderte mit dem Mund meinen Hals hinauf, küsste mich auf den Mund, und ich vergaß das alberne Nachthemd. Dafür nahm ich mir vor, unbedingt neue sexy Unterwäsche zu kaufen, sobald ich wieder in der Stadt war. O ja.
Ich erkundete mit der Zunge seine Mundhöhle und glitt dann zart über seine Reißzähne. Er stöhnte leise, beugte sich ein bisschen zurück und betrachtete mich dann mit seinen dunklen Augen. »Bedankst du dich immer so für ein Geschenk?« »Absolut.« Ich packte seinen Hinterkopf und zog ihn wieder zu mir herunter. »Und jetzt halt die Klappe.« Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, dann küsste er mich wieder. 235 Bis jemand energisch an die Tür klopfte. »Sarah?« Die Stimme meiner Mutter. »Was ist da drinnen los?« »Oh, Scheiße«, murmelte ich an Thierrys Lippen. Ich schob behutsam sein Gesicht zur Seite, damit meine Stimme nicht gedämpft klang. »Nichts, Mom.« »Du hast doch nicht etwa einen Jungen bei dir da drin, oder? Ist es George? Ich habe ihm zwar gesagt, er könnte im Gästezimmer übernachten, junges Fräulein. Aber in diesem Haus gibt es gewisse Regeln.« Thierry sah zu mir herunter und zog eine Augenbraue hoch. »Hm... nein. Hier ist niemand, Mom. Nur die liebe kleine Sarah.« »Kann ich reinkommen?« »Äh... ja, eine Sekunde.« Ich schlängelte mich unter Thierry heraus und strich mein Nachthemd glatt. Ich räusperte mich und versuchte mich so gut ich konnte zu sammeln. Wieso fühlte ich mich schuldig, weil ich einen
Mann im Zimmer hatte? Ich war schließlich keine vierzehn mehr, Herrgott noch mal! Thierry stand langsam auf und ging zum offenen Fenster. Ich warf ihm einen verlegenen Blick zu. Verlegen und trotzdem sexy. Zumindest versuchte ich das. Er räusperte sich kurz, fuhr sich mit der Hand durch seine zerzausten dunklen Haare und lächelte mich an. »Wir holen dich morgen um acht Uhr ab.« »Können wir nicht neun sagen?« »Halb neun. Gute Nacht, Sarah.« Er kletterte aus dem Fenster und war nach einem letzten Blick verschwunden. Ich atmete ein paar Mal tief durch und bemühte mich um 236 Fassung, bevor ich die Tür öffnete. Meine Mutter stand im Flur, sie trug ihren hellgrünen Hausmantel und sah ein bisschen mitgenommen aus. Vielleicht hatte ihr Kater bereits früher eingesetzt. »Ja, Mom? Was gibt's?« »Möchtest du Eier zum Frühstück?« Ich blinzelte sie an. »Du wolltest wissen, ob ich Eier zum Frühstück essen möchte? Das ist alles?« »Das habe ich doch gerade gefragt, oder?« Ich seufzte. »Selbstverständlich. Eier wären wunderbar.« »Rührei oder Spiegelei?« »Rührei.« So wie mein Leben. »Okay, Schätzchen, dann schlaf gut.« Sie warf mir einen Kuss zu und ging den Flur hinunter. »Ja«, murmelte ich. »Dir habe ich zu verdanken, dass ich heute Nacht eine Menge Schlaf bekomme.«
Sie drehte sich um. »Was war das?« »Ich sagte, schlaf du auch gut.« »Okay. Gute Nacht.« Ich schloss die Tür und lehnte mich ein paar Minuten mit dem Rücken dagegen, bevor mein rasendes Herz sich beruhigte und zu einem relativ normalen Rhythmus zurückfand. Dann ging ich zu meinem kleinen Bett zurück, schlüpfte hinein und zog die Decke über mich. Ich beugte mich vor und tastete nach meinem alten Tagebuch. Ich hatte es in dem Geheimfach meines Nachttischs versteckt. Ich schlug eine leere Seite auf, nahm meinen »Hello-Kitty« Stift, der nach Erdbeeren duftete, und schrieb mit rosa Tinte. 237 Mrs. Sarah/de- Beunicoeur Thierry + Sarah = WahreLiebe- 4-eutr. Drumrum malte ich ein Herz. Mit Pfeil und allem Pipapo. Dann kam ich so weit wieder zur Besinnung, dass ich es rasch auskritzelte und anschließend nachdenklich abwesend auf dem Ende des Stifts herumkaute, während ich überlegte, was der morgige Tag wohl bringen würde. Er brachte einen extrem hellen und verdammt frühen Morgen. Ich zog meine ausgewaschene Jeans an, das heiße rosa T-Shirt und meine schwarze Lederjacke. Selig benutzte ich die Scherbe, um mein Make-up aufzutragen. Das war einfach supercool. Um nicht unhöflich zu wirken, verschlang ich eine halbe Portion Rührei, die meine Mutter extra für mich zubereitet hatte, sagte Auf
Wiedersehen und betete, dass ich die Eier nicht in Thierrys eleganten schwarzen Audi verteilen würde. Meine dunkle Sonnenbrille fest auf der Nase umarmte ich Mom und Dad ein letztes Mal - sie waren nach wie vor fassungslos von unserer Unterhaltung beim Frühstück. »Oh, übrigens, Reverend Micholby hat versucht, mich letzte Nacht umzubringen und sitzt jetzt im Gefängnis.« Damit sie nicht noch mehr ausflippten, als sie es sowieso schon taten, hatte ich beschlossen, mich erst für immer von ihnen loszusagen, wenn ich sie das nächste Mal sah. Beim Weihnachtsessen. Vielleicht könnte ich sogar bis Ostern warten. Ich würde das intuitiv entscheiden. Um Punkt halb neun verstaute ich mich auf dem Rücksitz von Thierrys Wagen. Meinen Mietwagen würde ich von der Firma abholen lassen. Thierry fuhr, und George saß auf dem 238 Beifahrersitz. Er wirkte ein bisschen blass, war aber wenigstens lebendig. Thierry drehte sich zu mir um und lächelte mich an. »Guten Morgen, Sarah.« Ich erwiderte das Lächeln und spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg, als ich mich an das Gefühl erinnerte, wie sich dieser unglaubliche Körper an mich gedrückt hatte. »Guten Morgen. Wie geht's dir, George?« »Als ob mich jemand zurückbringen und erschießen sollte«, erwiderte er ernsthaft. Ich strich ihm über sein blondes Haar, das er zu einem etwas unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden
hatte. »Klingt, als brauchte da jemand eine Dosis Koffein.« Die dreistündige Rückfahrt in die Stadt war entspannt und eigentlich ganz bequem, nur dass ich am liebsten auf den Vordersitz geklettert und mich rittlings auf Thierry gesetzt hätte. Es gelang mir, mich zu beherrschen. Aber diese Spannung zwischen uns musste bald gelöst werden, sehr bald. Sonst würde ich explodieren oder zumindest allmählich rösten. Ich lenkte mich damit ab, aus dem Fenster die vorbeifliegende Landschaft zu betrachten. Baum, Stall, Pferd. Pferd, Stall, Baum. Schließlich wichen die Ställe und die Pferde Bürgersteigen und Verkehr. Die Stadt vereinnahmte uns, und ich fühlte mich allmählich wieder einigermaßen normal. Ich fragte mich, ob Amy etwas dagegen hätte, wenn ich Thierry zu dem Rendezvous zu viert mitbrächte. Ich würde ihr einfach sagen, dass Quinn nicht mehr interessant war. Schluss, aus, vorbei. Andererseits konnte ich mir nicht so recht vorstellen, wie Thierry ein Abendessen und ein Tänzchen mit meiner besten Freundin und ihrem augenblickli 239 chen »Mr. Right« ertragen würde. Das würde erst die Zeit erweisen. »Ich habe das Midnight Eclipse für ein paar Tage geschlossen«, sagte Thierry, als wir uns dem Club näherten. »Aber ich muss noch ein paar Akten und Rechnungen holen.«
Er parkte auf der Rückseite des Clubs und stieg aus dem Wagen. Ich stieg ebenfalls aus. George blieb auf dem Vordersitz hocken, seine Wange gegen das Fenster gelehnt. Thierry zog eine Augenbraue hoch, als ich mich ihm von der anderen Seite des Autos näherte. »Ich brauche nur einen Moment«, sagte er. Ich grinste ihn an. »Was genau willst du damit sagen?« »Oh, nichts, gar nichts.« Er lächelte, als wir zur Hintertür gingen. Eine Frau hockte mit dem Rücken vor der roten Tür, die Knie an die Brust gezogen. Sie war zweifellos die schönste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen hatte, jedenfalls persönlich. Sie hatte rabenschwarzes Haar, das sehr lang und leicht gewellt war, einen perfekten blassen Teint und volle, dunkelrote Lippen. Eine große dunkle GucciSonnenbrille verdeckte ihre Augen. Sie trug ein dunkelblaues, changierendes Kleid, das raschelte, als sie aufstand. Sie war schlank und durchtrainiert, und ihre Beine kamen mir so lang und wohlgeformt vor wie die solcher Bademoden-Models. Ich fühlte den plötzlichen Drang, sobald wie möglich wieder zur Gymnastik zu gehen. »Endlich«, sagte sie und legte eine elegante Hand auf ihre schlanke Hüfte. »Ich warte hier schon eine Ewigkeit.« Ich sah Thierry an. Er holte tief Luft, machte jedoch keine Anstalten zu antworten. Wie unhöflich! »Hi.« Ich reichte ihr die Hand. »Ich bin Sarah.« 240
Sie lächelte, wobei ihre makellosen weißen Zähne, einschließlich Reißzähne, blitzten, und schüttelte meine Hand. »Veronique«, sagte sie. »Thierrys Frau.« 15 Véronique de Bennicoeur war knapp über siebenhundert Jahre alt, sah jedoch keinen Tag älter als dreißig aus. Sie und Thierry hatten sich kennengelernt, als die Pest in Europa wütete. Sie war zuerst ein Vampir gewesen und war Thierrys Schöpferin. Zurzeit lebte sie in Frankreich, aber ihr waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass es Ärger in Toronto gab, und sie vermutete, dass sie helfen könnte. Ihr Lieblingsgetränk war Martini auf Eis. Während ich ihr zuhörte, wie sie mir einen Abriss über ihr Leben gab, schien das Lächeln auf meinem Gesicht wie festgefroren. Während ich ihren Schilderungen über ihr sagenhaftes Leben lauschte, überlegte ich, wen ich lieber umbringen wollte. Sie oder ihn. »Na, was denkst du?« Ihre Stimme war genauso schön wie sie. Sie hätte als DJ oder bei einem Telefonsex-Center arbeiten können. Ich kam zu einem Entschluss. Ich würde mich selbst umbringen. »Hm? Wie bitte?« Ich stand hinter der Bar und hielt mich krampfhaft am Tresen fest. Eigentlich hatte ich mir nur einen Drink Blut genehmigen wollen, ganz gleich welche Sorte, als Véronique sich auf die andere Seite gesetzt und einen Martini bestellt hatte. Dafür gab ich ihr nur eine Olive. 241
Sie lächelte. »Ich habe gerade gefragt, ob wir zwei uns nicht zum Lunch verabreden können, nur wir Mädchen, solange ich in der Stadt bin. Ich begegne nur sehr selten einer anderen Frau, bei der ich das Gefühl habe, mit ihr richtig reden zu können. Du bist eine ausgezeichnete Zuhörerin.« »Ja? Wow. Klingt großartig.« Allerdings scheiterte ich kläglich bei dem Bemühen, Enthusiasmus in meine Worte zu legen. Nach einem flüchtigen, europäischen Küsschen auf beide Wangen und nachdem er Véronique beiläufig begrüßt hatte, war Thierry in seinem Büro verschwunden. George lag auf der Bank einer Nische in der Nähe und konzentrierte sich ausschließlich darauf, gesund zu werden. Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass er ein recht offenes und sehr neugieriges Ohr für unsere überwiegend einseitige Unterhaltung hatte. Was ich hier jedoch noch verloren hatte, ging über meinen Horizont. Vermutlich war der Schock daran schuld, der mich bis ins Mark erschüttert hatte. Thierry war verheiratet. Etwas, das bei einer unverbindlichen Plauderei natürlich nicht erwähnt wurde. Ich gab mir alle Mühe, nicht auszuflippen. Es war schwer, aber bis jetzt gelang es mir. Er hatte eine Frau. Okay. Er lebte derzeit nicht mit ihr zusammen; so viel hatte ich herausgefunden. Gut. Wenn man seit sechshundert verdammten Jahren verheiratet ist, braucht man wohl eine gewisse Distanz, um die Ehe am Leben zu erhalten.
Seit wir im Club waren, hatte ich mir vier Gläser B-Positiv mit jeweils einem Wodka pur genehmigt. Besser ging es mir trotzdem nicht. Ich glaube, B-Positiv hielt nicht, was sein Ruf versprach. Allmählich fühlte ich mich klaustrophobisch. 243 Da Thierry mir mit keinem Wort erklärt hatte, was los war, regte sich in mir das unverkennbare, Übelkeit hervorrufende Brennen im Magen, das mir sagte, ich wurde nicht mehr gebraucht. Seine hinreißende, europäische Superfrau war zurückgekehrt. »Ich muss los«, sagte ich. »Aber nein, meine Liebe, bleib. Ich mag dich. Außerdem mixt du einen exzellenten Martini.« Sie strich mit einem ihrer perfekt manikürten Finger über den Rand ihres Glases. »Danke, nein. Ich muss wirklich los.« »Na gut, wenn du darauf bestehst. Hör zu, ich weiß, dass Thierry den Club schließen will. Mach dir darüber keine Sorgen. Heute Nacht ist er geöffnet, wie üblich. Ich weiß, wie hart es ist, sich als berufstätiges Mädchen in einer großen Stadt durchschlagen zu müssen.« Sie hielt mich offensichtlich für eine Kellnerin hier im Club. Erschieß mich! Irgendjemand soll mich bitte erschießen! »Toll.« Ich lächelte sie mit zusammengebissenen Zähnen an. »Ich will mich nur schnell noch von Thierry verabschieden.«
Außerdem hätte ich ihm gern noch ein paar andere Dinge an den Kopf geworfen, aber ich versuchte, mich erwachsen zu benehmen. Das war ich schließlich. Erwachsen mit einem großen E. Ich klopfte leise an seine Bürotür und öffnete sie. Thierry saß an seinem Schreibtisch und starrte intensiv auf seine Papiere. Er sah nicht hoch. »Ich gehe«, sagte ich. Er sagte nichts. »Hallo? Ich habe gesagt, dass ich jetzt gehe.« Jetzt endlich blickte er auf, als sei er überrascht, mich dort stehen zu sehen. »Ich dachte, du wärst schon weg.« 244 Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden. »Ach, dachtest du?« Er zuckte mit den Schultern und sah dann wieder auf seine Papiere. »Spielt wohl keine Rolle, denke ich.« Ich trat in das Büro und schloss die Tür hinter mir. Jetzt konnte ich beweisen, wie erwachsen ich war. «Véronique ist sehr schön.« »Ja, das ist sie.« Ich zählte im Kopf langsam bis zehn. »Ich wusste nicht, dass du verheiratet bist.« Er blinzelte. »Jetzt weißt du es.« »Sie... scheint sehr nett zu sein.« »Hast du nicht gesagt, du wolltest gehen?« Diesmal zählte ich bis fünfzehn. Ich wusste ganz sicher, dass ich nichts gesagt hatte, was ihn hätte verärgern können. Ich hatte sogar gründlich über meine Worte
nachgedacht, bevor sie aus meinem Mund kamen. Was nur sehr selten passierte. Er hatte keinen Grund, sich mir gegenüber wie ein Idiot zu verhalten, insbesondere nach dem... eben nach dem, was zwischen uns passiert war. »Es gibt keinen Grund, mich so schroff zu behandeln. Ich versuche lediglich zu verstehen.« »Was zu verstehen?« Er stand auf und legte seine Handflächen auf den Schreibtisch. »Es ist nur... ich dachte... also, nach dem, was da in Abottsville passiert ist, habe ich angenommen...« »Da hast du dich wohl getäuscht«, fiel er mir ins Wort. »Ich will nicht unhöflich sein, Sarah, aber vielleicht interpretierst du mehr in die Situation hinein, als du solltest. Ich habe zugestimmt, dir zu helfen, dich an das Leben zu gewöhnen, das man dir aufgezwungen, ja. Aber bitte, verwechsle nicht 245 ein mögliches Liebesabenteuer mit etwas Bedeutungsvollerem.« »Ein mögliches Liebesabenteuer?«, stieß ich hervor. »Machst du dich über mich lustig?« »Okay, du hast recht. Es ein Liebesabenteuer zu nennen, wäre übertrieben. Schließlich haben wir uns nur geküsst.« Seine Worte trafen mich wie Ohrfeigen. Ich hatte mich in den letzten zwanzig Minuten unaufhörlich gefragt, wen ich lieber umbringen würde, mich oder Véronique. Ich hatte die Liste gerade überarbeitet und Thierry mit darauf gesetzt. Und jetzt war er eindeutig auf Platz eins.
Ich atmete tief ein und aus und konzentrierte mich darauf, meine fassungslose Miene in den Griff zu bekommen. »Weißt du was? Ich glaube, du hast recht. Es waren nur ein paar Küsse.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, ohne mir die Mühe zu geben, allzu freundlich auszusehen. »Und jetzt kannst du mich mal gern haben.« »Ah, ja.« Er grinste spöttisch. »Die Schlagfertigkeit der Sarah Dearly. Ich habe sie in der letzten Woche wirklich sehr genossen.« Mit der Hand an dem Türknauf blickte ich noch einmal über meine Schulter zurück. »Oh, und übrigens, falls du noch einmal den Drang verspüren solltest, dich von irgendeiner Brücke zu stürzen, warte nicht darauf, dass ich dich daran hindere. Spring einfach.« Das brachte mir einen finsteren Blick ein, bevor ich die Tür hinter mir zuschlug. Ich sah den Club wie durch einen Schleier. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie es zu diesem Streit gekommen war. Mir hallten nur die Worte »mögliches Liebesabenteuer« durch den Kopf. War das wirklich alles, was ich für ihn war? Und warum 246 verletzte mich diese Vorstellung mehr als die Tatsache, dass er eine Frau hatte? Ich wusste genau, warum. Weil ich eine dumme Gans war und mich in ihn verknallt hatte. Man brauchte mir die Wahrheit nicht ununterbrochen um die Ohren zu schlagen, damit ich sie begriff. Nicht, wenn diese Wahrheit mit ihren langen, schlanken
übereinandergeschlagenen Beinen an der Bar saß und verführerisch an einem Martini nippte. Véronique winkte mir zum Abschied zu. »Lunch, nicht vergessen. Bald.« Ich ging auf die andere Seite der Bar zu George. »Ciao, George. Und gute Besserung.« »Sarah.« Seine Stimme war immer noch schwach, aber schon etwas kräftiger als vorhin. Es ging ihm zusehends besser; ein weiterer Pluspunkt am Vampirleben. »Ja?« Ich beugte mich zu ihm herunter. »Wenn es dich irgendwie tröstet...« »Was?« »Du bist viel süßer.« Ich küsste ihn auf die Stirn. »Ich erkläre dich offiziell zu meiner liebsten Person auf der ganzen Welt.« Auf dem Nachhauseweg machte ich einen Abstecher zu Holt Renfrew und leistete mir ein Paar neue Schuhe. Teure Stilettos in angesagtem Rosa, die ich vor ein paar Wochen in der Vogue gesehen hatte - das gleiche Paar, das Charlize Theron kürzlich auf einer Premiere getragen hatte. Erwähnte ich schon, dass sie sündhaft teuer waren? Mir war schon klar, dass ich pleite war bis auf die zwanzig Dollar, die ich von dem Trinkgeld von meiner Schicht neulich nachts übrig behalten hatte. Aber ich musste einfach etwas kaufen - Einzelhandelstherapie. 247 Als ich die Schuhe zu Hause aus dem Karton nahm, wurde mir klar, dass ich sie noch nicht einmal mochte. Ich
heulte eine geschlagene halbe Stunde über diese rosa Schuhe. Ich weinte wegen der Schuhe. Ehrlich. Ich rief niemanden an. Ich sprach mit niemandem. Ich hatte beschlossen, offiziell zur Eremitin zu werden. Mein Eremitinnendasein dauerte genau drei Stunden. Ich wusch etwas Wäsche, duschte und lief durch mein kleines Apartment. Schließlich war mir so langweilig, dass ich die Wände hätte hochgehen können, und ich beschloss, einen Spaziergang zu machen. Trotz der Gefahr. Ich schlenderte an einem kleinen Park vorbei, etwa zwei Blocks von meinem Apartmenthaus entfernt. Dort stritt sich ein Mädchen mit einem jungen Kerl. Ich musterte ihre vertrauten schwarzen Haare, ihre schwarze Kleidung und ihr blasses Gesicht. Sie sah herüber und bemerkte, dass ich sie beobachtete. In dem Moment erkannte ich sie. Melanie. Die Gruftietante, der ich neulich nachts im Club einen Kinnhaken eingeschenkt hatte. Die menschliche Freundin von Timothy, dem Vampir. Sie kniff die Augen zusammen, als sie mich ebenfalls erkannte. Dann stieß sie den Typ, mit dem sie unterwegs war - es war nicht Timothy - gegen die Schulter und deutete auf mich. Anschließend marschierte sie auf mich zu und sah dabei alles andere als freundlich aus. Der Jüngling trottete artig hinter ihr her. »Das«, Melanie zeigte auf mich, »ist einer von ihnen.« »Was?«, fragte ich. »Jemand, der dich in den Hintern getreten hat?«
Melanie blickte mich düster an. Ihr Freund blinzelte nur. Vielleicht hatte er noch weniger Ahnung als ich, wovon sie eigentlich sprach. 249 »Nein, du Schlampe!«, blaffte sie. »Ein Vampir.« Ich seufzte. »Wow, informier die Medien. Ich finde, Timothy sollte allmählich wirklich in eine Leine und einen Maulkorb für dich investieren.« »Timothy und ich sind fertig miteinander«, fauchte sie und packte den Arm ihres schüchternen Begleiters. »Das hier ist mein neuer Freund.« Er klimperte erneut mit den Wimpern. »Mein Beileid«, sagte ich und drehte mich um. »Wo willst du hin, Schlampe?« Ich hob die Brauen und drehte mich wieder um. »Du steckst voller Feindseligkeit, Melanie. Wenigstens gleicht deine reizende Persönlichkeit das wieder aus.« »Vampire!« He, ihr Freund konnte sprechen. Seine Stimme klang dünn und nervös. Er wirkte auf mich wie ein Typ, der besser dran wäre, wenn er eine gepunktete Fliege trüge, in einem kleinen Büro säße und Zahlenkolonnen addierte, als mit »Miss Charme« herumzuhängen. Melanie nickte. »Das stimmt, Eugene. Ein Vampir. Und was machen wir mit Vampiren?« Seine Stirn kräuselte sich vor Konzentration. »Äh...« Melanie verdrehte die Augen. »Wir bringen sie um. Los, hol deinen Pflock raus und töte sie.«
»Er ist ein Vampirjäger?«, fragte ich ohne jegliche Panik in der Stimme. Also wirklich! »Erraten«, sagte Melanie stolz, während Eugene in seinen Taschen wühlte. »Ich bilde ihn aus, da ich genug über euch weiß.« Eugene hatte schließlich gefunden, was er suchte. Er umklammerte mit seiner zitternden Rechten einen Pflock, der ihm jedoch entglitt und auf den Bürgersteig polterte. 250 Ich bückte mich, hob ihn auf und gab ihn ihm zurück. »Ich muss dich warnen! Ich habe gerade extrem schlechte Laune. Du weißt schon, es ist einer von diesen Tagen.« »Bring sie um!«, hetzte Melanie ihn auf. Ihre schwarz geschminkten Augen glühten bei der Aussicht auf Gewalt. Eugene hob den Pflock. Ich trat ihm gegen das Schienbein. Er ließ den Pflock nochmal fallen und blinzelte mich schmerzverzerrt an, während er sich das Bein rieb und dann schleunigst in die entgegengesetzte Richtung davonhumpelte. Ich schüttelte den Kopf, während ich ihm nachsah. »Ehrlich, Melanie, ich glaube, du hast einen noch mieseren Geschmack, was Männer angeht, als ich.« Ich richtete meinen Blick auf sie. Gerade noch rechtzeitig! Sie stürzte sich auf mich, den Pflock in der erhobenen Hand. Instinktiv packte ich ihre Handgelenke, um sie davon abzuhalten, ihn mir in die Brust zu rammen. Ihr Schwung riss mich um, und wir stürzten übereinander auf den Boden. Meine dunkle Sonnenbrille segelte davon.
Melanie war stärker, als sie aussah, und sie hatte mich überrumpelt. Keine gute Kombination. »Das wird ihm eine Lehre sein, mir den Laufpass zu geben«, kreischte sie. »Er glaubt, ich bin nicht gut genug für ihn? Das werden wir ja sehen!« Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, Angst vor Melanie zu haben, nachdem wir gegen echt gefährliche Vampirjäger gekämpft hatten. Doch ihre Wut, verlassen worden zu sein, verdreifachte ihre Kraft, denn sie sah in mir den Grund all ihrer Probleme. Während ich mit ihr kämpfte, lief mein ganzes Leben vor meinen Augen ab. 251 Es war nicht sonderlich schön. Offenbar hatte ich kein besonders interessantes Leben geführt. Ich fühlte, wie mir die scharfe Spitze des Pflocks in die Brust drang. Der Schmerz riss mich aus meiner mentalen Diashow und brachte mich zurück in die Wirklichkeit. Während ich ihren Angriff abwehrte und mich unter ihr abstrampelte, wurde mir klar, dass ich, um hier heil herauszukommen, meinen Kopf gebrauchen musste. Und zwar im wörtlichen Sinne. Ich rammte meine Stirn gegen ihren Nasenrücken. Melanie jaulte vor Schmerz, ließ jedoch nicht locker. »Lass mich los!«, schrie ich. »Auf keinen Fall. Du bist so gut wie tot!« »Und Eugene?«, keuchte ich. »Willst du nicht nachsehen, ob es ihm gut geht?« »Fick Eugene!«, brüllte sie. »Nein danke!«
Wir rollten über den Boden. Das Mädchen hatte Mumm, das musste ich ihr zugestehen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab sie nicht auf. Nur leider fand ich ihr Ziel, mich umzubringen, nicht besonders gut. Dann bemerkte ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Gott sei Dank! Jemand kam mir zu Hilfe. Dieser Jemand bewegte sich. Während ich Melanies Hände festhielt, drehte ich den Kopf ein wenig. Quinn. Er sah zu, wie wir uns auf dem Boden wälzten. Und er trug eine dunkle Sonnenbrille. »Hey«, sagte er. »Hallo«, erwiderte ich keuchend. »Wie geht's?« »Geht so.« Diesmal erwischte ich Melanies Oberlippe mit 252 der Stirn, was mir die Chance gab, mich auf sie drauf zu manövrieren. Nach diesem Erlebnis brauchte ich ein paar Kopfschmerztabletten. Oder einen Bestatter. »Wer ist deine Freundin?« Quinn machte immer noch keine Anstalten, mir zu helfen. »Oh, das ist Melanie«, sagte ich, nachdem ich mit Mühe verhindert hatte, dass der Pflock meine Halsschlagader durchbohrte. »Melanie, darf ich dir Quinn vorstellen.« Melanie war momentan offenbar nicht in der Stimmung, neue Leute kennenzulernen. Es war ziemlich klar, dass Quinn sich nur mit Mühe ein Lachen über meine missliche Lage verkneifen konnte. Hätte ich nicht gerade um mein Leben gekämpft, hätte mich das ziemlich genervt. »Brauchst du Hilfe?«, erkundigte er schließlich.
»Aber, nein. Ich habe alles unter Kontrolle.« Melanie rollte sich auf mich, hockte auf mir und gab einen Schrei wie Xenia, die Kriegerin, von sich. »Okay«, sagte er. »Dann sehen wir uns später.« »Quinn!« Ich schrie, nachdem er mir den Rücken zugewandt hatte. In dieser Position blendete mich die helle Nachmittagssonne. »Herzlich willkommen im Land des Sarkasmus. Ein bisschen Hilfe wäre ganz schön.« Er grinste. Mit einer Hand packte er Melanie an ihrem schwarzen Sweatshirt und zog sie von mir herunter. Sie schlug blindlings nach ihm und durch die Luft. Ich rappelte mich mühsam hoch und klopfte mir den Staub von der Jacke. Über meinem Herzen verlief eine rote Spur, dort, wo sie mich mit dem Pflock geritzt hatte. Ich rieb die Stelle behutsam und schmollte. Sie hatte eines meiner Lieblings-T-Shirts ruiniert. Quinn schüttelte Melanie, bis sie den Pflock fallen ließ. 253 Sie schien keine Angst zu haben; offenbar war sie nur genervt, weil wir unterbrochen worden waren. Quinn presste ihr die Arme an die Seite, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Ich rettete meine Sonnenbrille vom Boden und setzte sie dankbar auf. Dann ging ich zu Melanie und musterte sie von oben bis unten. »Das hier scheint der richtige Zeitpunkt, dir zu sagen, dass es mir leidtut, wie es mit dir und Timothy auseinandergegangen ist. Und dass Vampire nicht alle schlecht sind. Und dass es dir schon bald
wieder gut gehen wird; du musst deinen Gefühlen nur etwas Zeit zum Heilen geben.« Sie blinzelte, und ich sah, wie die Wut langsam aus ihren Augen verschwand. »Lass sie los«, sagte ich zu Quinn. Er gehorchte. Melanie drehte sich um und wollte ohne ein weiteres Wort davonspazieren. »Ach, eines noch, Melanie«, sagte ich. Sie drehte sich um, und ich hämmerte ihr meine Faust auf ihre bereits übel lädierte Nase. Sanft lächelte ich sie an. »Wenn du es wagst, noch einmal in meine Nähe zu kommen, beiße ich dich.« Ihre Unterlippe bebte, dann drehte sie sich um und rannte davon. Ich rieb meine schmerzende Hand. »Au, das tut weh.« Quinn schüttelte nur den Kopf. Ich runzelte die Stirn. »Was?« »Du hast mich nur gerade an etwas erinnert, was du ganz am Anfang zu mir gesagt hast.« »Und das war?« »Dass du kein nettes Mädchen bist.« »Ah, richtig! Das war nach deiner teuflischen Anmache.« 254 Ich lächelte, und dann hörte ich auf, zu freundlich zu gucken. »Was tust du eigentlich hier?« »Ich suche dich.« »Wirklich?« Ich war sofort auf der Hut. »Entspann dich«, sagte er. »Ich will dir nicht wehtun. Nach dem, was ich gerade miterleben durfte, glaube ich übrigens nicht, dass ich dir überhaupt wehtun könnte. Du bist ganz schön zäh.«
Ich verschränkte die Arme. »Also, was willst du dann?« Er wollte etwas sagen, hielt dann jedoch inne. Dann setzte er noch einmal an und sah mir in die Augen. »Ich wollte mich entschuldigen.« Ich hob eine Braue. »Entschuldigen? Wofür?« »Für alles. Vor allem, weil ich dich fast umgebracht hätte. Ja, ich wollte mich dafür entschuldigen und mich außerdem dafür bedanken, dass du mir das Leben gerettet hast.« »Okay, Quinn, auch wenn ich dich noch nicht lange kenne, bist du hoffentlich nicht beleidigt, wenn ich an deiner Aufrichtigkeit zweifle.« Er zuckte mit den Schultern. »Schon klar. Ich glaube einfach nur, ich bin sehr lange in die Fußstapfen von jemand anderem getreten. Ich wurde in dem Vorurteil erzogen, dass Vampire...« Er verstummte und runzelte die Stirn. »...blutsaugende, mörderische Monster sind«, beendete ich den Satz für ihn. Wieder mit Sarkasmus. Dafür hatte ich halt Talent. Er seufzte. »Es ist hart. Mir wurde eingehämmert, wie böse sie sind. Jetzt bin ich selbst einer von ihnen und fühle mich nicht anders als vorher. Natürlich frage ich mich, ob ich mich die ganze Zeit vielleicht getäuscht habe.« »Glaubst du wirklich?« Ich verdrehte die Augen. »Belassen 255
wir es einfach bei deiner Entschuldigung. Damit ist die Sache erledigt. Ich hoffe, du hast ein schönes Leben, Quinn, ehrlich.« Als ich mich umdrehte, um zu gehen, hielt er mich an der Schulter fest. »Das ist noch nicht alles, Sarah. Seit ich dich getroffen habe, ich... ich kann einfach an nichts anderes mehr denken.« Ich sah in seine blauen Augen. »Wie war das? Du kannst an nichts anderes mehr denken... als an was?« Er wandte sich ab, massierte seine Schläfen und drehte sich wieder zu mir um. »Ich kann nicht aufhören, an dich zu denken.« »An mich?« »Ich weiß, es ist dumm. Ich weiß, dass du und Thierry..., na ja, was auch immer. Dieser Typ will mich schließlich umbringen. Ich weiß nicht, was das zwischen uns ist. Aber etwas ist da.« Einen Moment lang sagte ich gar nichts. Er konnte nicht aufhören, an mich zu denken? Mein Gehirn setze kurz aus. Schließlich fand ich die Sprache wieder. »Bist du verrückt?« »Wie bitte?« »Du hast vielleicht Nerven, verdammt!« Quinn sah mich verständnislos an. Ich schüttelte den Kopf. »Ich soll alles vergessen, was vorher passiert ist? Weil du urplötzlich begriffen hast, dass ich nicht so böse bin, wie du dachtest? Wäre dein Vater nicht in die Bar gekommen, wäre ich jetzt tot. Hätten Dan und sein Freund mir im PATH nicht geholfen, wäre
ich jetzt tot. Nie im Leben, Kumpel. Ich bin nicht bereit, dir eine dritte Chance zu geben. Ich habe dir geholfen, weil ich mich schuldig fühlte 257 wegen dem, was dir passiert war. Basta. Mehr ist nicht. Also, warum suchst du dir nicht ein anderes Mädchen, dem du hinterherschleichen kannst?« Er rieb sich erneut die Schläfen. Sein Gesicht war gerötet, entweder von all dem Gerubbel oder weil er sich schämte. Das wusste ich nicht genau. »Du hast recht. Mit allem. Du hast absolut recht. Ich verdiene nicht, dass du mir vergibst. Nichts, was ich getan habe, könnte meine Worte beweisen. Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe.« Er schüttelte heftig den Kopf, als würde er damit alles auslöschen, was er gerade gesagt hatte und drehte sich um, um zu gehen. Nach diesem kleinen Ausbruch wäre ich überrascht gewesen, wenn er sich mir jemals wieder nähern würde. Und das war gut so, richtig? Es spielte keine Rolle, dass er ganz nett gewirkt hatte, als ich ihn zum ersten Mal traf, dass es sich damals ganz gut anließ. Doch seitdem hatte er mir nur Probleme gemacht. Dennoch... Ich stand immer noch ein bisschen unter Schock. Der ehemalige Mr. Vampirjäger und frischgebissene Vampir hatte gerade mehr oder weniger zugegeben, dass er in mich verknallt war! Das Letzte, was ich in meinem Leben gebrauchen konnte, war eine weitere Komplikation.
Ich kaute auf meiner Unterlippe. Wann hätte mich das jemals abgehalten? Ich schluckte. »Quinn!« Er blieb stehen und drehte sich um. »Ja?« »Was hältst du von einem >Rendezvous zu viert« 258 16 Amy war begeistert, als ich sie im Büro anrief. Sie setzte mich in eine Warteschleife, um uns einen Tisch zu reservieren. Unmittelbar danach hatte ich sie wieder am Draht. »Heute Abend. Auf dem Dach vom CN-Tower«, sagte sie. Ich konnte hören, wie sie aus Vorfreude auf unser gemeinsames Date von einem Ohr zum anderen grinste. »Im 360.« »Ist das nicht wahnsinnig teuer?« Der CN-Tower war Torontos Touristenattraktion Nummer eins, ein riesiges Hochhaus, das alle anderen Wolkenkratzer in Downtown überragte und in dessen oberstem Stockwerk ein erstklassiges Restaurant lag, das sich drehte. Schickimicki. »Und?« »Und? Ich bin arbeitslos, wenn du dich bitte erinnern würdest? Ich habe mehr in Richtung McDonald's gedacht.« »Mach dir ums Geld keine Sorgen. Das ist eine ganz besondere Gelegenheit. Du wirst Peter lieben.« Ich bereute schon jetzt, diesem Date zugestimmt zu haben. Wie konnte etwas in einer Minute wie eine
großartige Idee erscheinen und in der nächsten wie ein Riesenfehler? Trotzdem, es war nur ein Abendessen. Es hatte nichts zu bedeuten, und würde mich dafür eine Zeit lang von meinen Vampirproblemen ablenken. Ich brachte meine überfälligen Monsterfilme zurück und bezahlte widerwillig die Mahngebühr. Dann löste ich die Designerschuhe wieder ein, weil ich mir von dem Geld ein Kleid kaufen wollte, das ich zum Abendessen tragen konnte. Nachdem ich zwei Stunden intensiv gesucht hatte, fand ich es. Es war kurz, eng und hinreißend lila. Außerdem war es ein Son 259 derangebot. Der Kauf setzte meine ShoppingGlücksendorphine frei. Womöglich entwickelte sich der Tag doch noch besser als erwartet. Dann kehrte ich in meine Wohnung zurück, um mich herauszuputzen. Ich beschloss, mich gut zu amüsieren und Thierry und seine magische, mysteriöse Ehefrau zu vergessen. Was sehr gut funktionierte, bis ich Make-up auftragen wollte. Kaum zog ich die Scherbe aus meiner Handtasche, wurden meine Augen feucht. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, sie an die Wand zu werfen und sie in tausend Scherben zerspringen zu sehen. Aber so verrückt war ich nicht. Noch nicht jedenfalls. Quinn hatte mir seine Handynummer gegeben, und ich rief ihn an, um ihn zu informieren, wann er mich abholen sollte. Um halb acht öffnete ich die gläserne Haustür
meines Apartmenthauses und stöckelte auf meinen sieben Zentimeter Absätzen hinaus in die kühle Nachtluft. Quinn wartete auf mich. Als er lächelte, blitzten ich seine brandneuen Reißzähne auf. Vermutlich saßen wir im selben Boot, denn sie hatten sich dank Thierrys hochkonzentriertem Blut ebenfalls sehr früh entwickelt. Und gut sah Quinn schließlich ebenfalls aus. Einige Männer verstehen es, sich zurechtzumachen, und Michael Quinn war einer von ihnen. Er trug einen dunkelblauen Anzug, und darunter ein leuchtend weißes Hemd mit offenem Kragen. Die Farbe des Anzugs brachte seine hinreißenden, blauen Augen zur Geltung. Sein mittelblondes Haar hatte er zurückgekämmt, und als ich näher kam, bemerkte ich, dass er mein Lieblings-Männer-Eau-de-Cologne von Calvin Klein aufgelegt hatte. Zwar entschuldigte das noch nicht, dass er zweimal versucht hatte, mich umzubringen. Aber es war ein Anfang. 260 Wir nahmen ein Taxi zum CN-Tower, nannten am Empfangstisch Amys Namen und wurden an den Touristenmassen vorbei zu einem Aufzug geführt, der speziell für Restaurantgäste reserviert war. Ich war schon ein paar Mal dort gewesen, so dass es keine große Sache für mich war, aber Quinn staunte nicht schlecht, als der Aufzug hoch in den Himmel hinaufglitt. Eine Hostess führte uns durch das volle Restaurant zu Amys Tisch, der an einem der geschwungenen Fenster stand, durch die man auf die Lichter der Stadt
hinabblicken konnte. Sie saß allein dort, die Serviette auf dem Schoß und nippte an einem Glas Wein. Als sie uns sah, stand sie auf und umarmte mich. Sie trug ein seegrünes, glitzerndes Kleid und die Ohrringe, die sie neulich in der Einkaufsgalerie gekauft hatte. Die hellblonden Haare hatte sie mit passenden funkelnden grünen Spangen zurückgesteckt. »Du siehst bezaubernd aus«, sagte sie. »Quinn, schön, Sie wiederzusehen.« Quinn lächelte zurück. »Gleichfalls.« Ich hatte ihm gesagt, dass er sich von seiner besten Seite zeigen müsste, weil Amy nichts von meiner geheimen Identität als Torontos best angezogenem Monster wusste. »Peter arbeitet noch, aber er hat gesagt, dass er so bald wie möglich herkommt« »Er macht Überstunden?« Ich sah auf meine Uhr. »Sehr engagiert. Was tut er noch mal beruflich?« »Hm.« Amy runzelte die Stirn. »So genau weiß ich das nicht. Ich glaube, es hat etwas mit Schädlingsbekämpfung zu tun.« Ich nickte. »Klingt sexy.« Wir setzten uns. 261 »Und, was machen Sie beruflich, Quinn?«, wollte Amy wissen. »Zufällig hatte ich auch mal mit Schädlingsbekämpfung zu tun.« »Wirklich?« Ich trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein.
»Wieso sind bei dieser Arbeit nur so viele Überstunden notwendig?«, erkundigte sich Amy. Quinn ignorierte meinen bösen Blick. »Das bringt es mit sich, wenn man seinen Job wirklich liebt.« »Fanden Sie es denn gefährlich?« »Gefährlich?« »Ich frage nur, weil Peter häufig verletzt ist. Ich mache mir ein bisschen Sorgen um ihn. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, hat er eine neue Beule oder einen blauen Fleck.« »Unfallrisiko«, warf ich ein. »Oder er hat mit echt harten Kakerlaken zu tun. He, wechseln wir das Thema, ja? Über die Arbeit zu reden ist deprimierend für ein arbeitsloses Mädchen wie mich.« »Sicher, kein Problem«, sagte Amy. »Leben Sie schon lange in Toronto, Quinn?« Der Kellner tauchte auf, um unsere Getränkebestellung aufzunehmen und stellte einen Korb mit Brot auf den Tisch. Ich bestellte einen Tequila Sunrise und ignorierte das Brot. Quinn entschied sich für Bier. »Noch nicht so lange«, antwortete Quinn, als der Kellner gegangen war. »Erst seit ein paar Wochen. Eigentlich wollte ich bald abreisen, aber die Dinge haben sich anders entwickelt. Vielleicht bleibe ich für immer hier.« »Na, um Sarahs willen hoffe ich, dass Sie das tun.« Amy grinste, nahm eine Sesamstange und kaute gedankenverloren 262 darauf herum. »Peter ist auch neu in der Stadt. Ihr beiden Männer habt bestimmt einiges gemeinsam.«
Das war der Moment, an dem mich ein ungutes Gefühl von Furcht beschlich, was Peter, den mysteriösen Schädlingsbekämpfer, anging. Ich zählte zwei und zwei zusammen, aber statt vier summierte sich das zu einem nagenden, widerlichen Gefühl in meiner Magengrube. Amy blickte hoch. »Endlich! Da ist er ja.« Sie beugte sich über den Tisch und fasste meine Hand. »Starr seine Augenklappe nicht zu Doll an«, flüsterte sie. »Er ist in dem Punkt sehr empfindlich.« Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und drehte mich auf meinem Stuhl um. Amy hatte recht. Peter war sehr attraktiv. Er trug einen dunklen Anzug, darunter ein T-Shirt, und wirkte ein bisschen wie aus Miami-Vice entsprungen; sein blondes Haar verstärkte diesen Eindruck noch. Über einem Auge trug er eine schwarze Augenklappe. Während er auf uns zukam, lächelte er Amy an, dass seine weißen Zähne nur so strahlten. Das Lächeln erlosch schlagartig, als er sah, wer da seiner neuen Freundin gegenübersaß. Meine letzte Erinnerung an Strahlezahn war das glibbernde Gefühl, als mein großer Zeh in seinem linken Auge landete. Kurz bevor Thierry und ich von der Brücke gesprungen waren, vor fast einer Woche. Und jetzt kam er auf mich zu, und ich befand mich fast dreihundert Meter über einer soliden Straße. Ich hatte zwar nicht vor, aus einer solchen Höhe in die Tiefe zu springen, aber die Nacht war ja noch jung.
Er zögerte. Ich konnte förmlich sehen, wie sein Gehirn verschiedene Szenarios ausarbeitete, mögliche Reaktionen 264 auf meinen überraschenden Anblick. Sein Blick zuckte zu Quinn, und er entspannte sich sofort, als er seinen Vampirjäger-Kumpel erkannte. Er trat an den Tisch, beugte sich vor und küsste Amy flüchtig auf die Wange. Dabei ließ er mich nicht aus seinem gesunden Auge. »He, Darling«, begrüßte er Amy. »Entschuldige die Verspätung.« Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch, und in seinem gesunden Auge loderte so viel Hass, dass ich mich fühlte, als müsste ich auf der Stelle auf dem Boden des 360 zu einer Glibberpfütze schmelzen. Amy merkte zum Glück nichts von den Spannungen, die über dem Brotkorb hin und her zuckten. »Peter«, sie legte die Hand auf den Ärmel seines Jacketts, »das ist Sarah. Ich hab dir schon so viel von ihr erzählt, dass du wahrscheinlich das Gefühl hast, sie schon zu kennen, stimmt's?« »Allerdings.« Peters Stimme klang leise und heiser. Er konnte sich kaum beherrschen. »Ich habe tatsächlich das Gefühl, Sie zu kennen... Sarah.« »Und«, fuhr Amy fort, »das ist Sarahs Freund Quinn.« Bei Amys Worten warf Quinn mir einen kurzen Seitenblick zu. Dann sah er Peter an und lächelte. »Die Welt ist wirklich klein, Mann.«
Peter grinste und klatschte Quinns ausgestreckte Hand ab. »Das kannst du laut sagen.« »Ihr kennt euch?« fragte Amy überrascht. »Allerdings«, erwiderte Peter. »Siehst du?« Amy lächelte beide an. »Ich dachte mir schon, dass ihr einiges gemeinsam haben könntet, wegen dieser Schäd 265 lingsbekämpfungsgeschichte, aber ich hätte nicht erwartet, dass ihr euch bereits kennt.« Ich saß so still da, wie ich nur konnte. Vielleicht konnte ich ja unter den Tisch rutschen und dann an den beschäftigten Kellnern vorbei durch das Restaurant Richtung Aufzug krabbeln. Andererseits, wieso machte ich mir überhaupt Sorgen? Wir saßen mitten in einem gut besuchten Restaurant voller elegant gekleideter, potenzieller Zeugen. Peter würde es außerdem kaum wagen, mich vor Amys Augen umzubringen. Sie würde danach wohl nicht mehr mit ihm ausgehen wollen, jedenfalls hoffte ich das sehr. »Schädlingsbekämpfung, hm?«, sagte Peter zu Quinn und musterte mich mit seinem unversehrten Auge. »Sieht aus, als müsstest du heute Abend noch arbeiten.« Quinn lächelte mit geschlossenem Mund. Ich registrierte sehr wohl, dass er seine Reißzähne nicht zeigen wollte. »Das kannst du wohl sagen.« Ein unangenehmes Schweigen machte sich an unserem Tisch breit, und mich beschlich das Gefühl, dass mich alle
anstarrten. Weil mir nichts Besseres einfiel, nahm ich ein Stück Brot und malträtierte es mit dem Buttermesser. »Also, Peter«, mich überkam plötzlich das starke Bedürfnis, das Schweigen zu brechen, »was zum Teufel ist mit Ihrem Auge passiert?« Fünf Augen richteten ihre Blicke auf mich. »Sarah!«, stieß Amy entsetzt hervor. »Tut mir leid.« Ich zuckte die Schultern. »Reine Neugier. Verklagt mich, wenn ihr wollt. Ich möchte einfach nur wissen, ob meine beste Freundin mit jemandem ausgeht, der ernsthaft verletzt ist oder eine Schwäche für Piratenfetische hat.« 266 Peter war so wütend, dass ich seine Hitze spüren konnte. Ich legte den Kopf auf die Seite und versuchte, ihn freundlich anzulächeln. Was vermutlich besser gelungen wäre, wenn ich nicht gerade das Gefühl gehabt hätte, meine Lippen wären mit Botox aufgespritzt. Er strich über die Augenklappe. »Ein bedauerlicher Arbeitsunfall. Aber Sie kennen ja sicher diesen alten Bibelspruch, Darling?: >Auge um Auge« Amy runzelte die Stirn. »Ich dachte eigentlich, du würdest nur mich Darling nennen. So wie ich nur dich >Pooky< nenne.« »Pooky?«, fragte Quinn. Peter knirschte mit den Zähnen. Ich war ehrlich überrascht, dass er noch nicht über den Tisch gegriffen und versucht hatte, mich mit meinem Buttermesser zu erdolchen.
»Was nimmst du?«, fragte Amy mich, während sie in ihre Karte sah. Sie war ein bisschen von Peter abgerückt. Ihre Genervtheit über seinen Fauxpas mit dem Kosenamen war offensichtlich. »Mir reicht mein Drink«, erwiderte ich. Amy klappt ihre Karte zu. »Sei nicht albern. Bestell, was du willst. Peter wird diesmal die Rechnung übernehmen, hab ich recht?« Sie stieß ihn mit dem Ellbogen an. Peter biss die Zähne zusammen. Ich schenkte ihm ein Lächeln, wobei ich den Mund geschlossen hielt. »Das ist aber sehr nett von Ihnen, Peter. In diesem Fall«, mein Blick suchte die Karte nach dem teuersten Gericht ab, »nehme ich die Hochrippe. Vielleicht sollten wir auch gleich noch eine Flasche Wein bestellen.« »Klingt großartig«, erklärte Amy. »Das nehme ich ebenfalls.« 267 Ich wandte mich an Quinn. »Also, erzähl mir doch, woher ihr beiden euch kennt, hm?« »Die Geschichte ist nicht sonderlich interessant.« »Ach, komm schon, Quinn«, drängte Peter ihn. »Erzählen wir deiner neuen Freundin alles darüber.« Glaubte er vielleicht, ich wüsste nicht, dass Quinn ein Vampirjäger war? Vielmehr, Ex-Vampirjäger. Er klang, als erwartete er, dass es ein Riesenschock für mich wäre, wenn die Wahrheit herauskam. Was für ein Idiot!
»Wir haben gelegentlich zusammengearbeitet«, sagte Quinn nach einem tiefen Schluck aus seinem Bierglas. »Eigentlich sind wir eher Kollegen als Freunde.« »Also wirklich, Quinn.« Peter grinste unfreundlich. »Wir haben all die Jahre einen Haufen Schädlinge ausgemerzt. All die langen Tage und vor allem die langen Nächte. Die Suche, die Jagd und am Ende das unglaubliche Finale. Diese Genugtuung zu wissen, dass du eine widerliche Kreatur mit bloßen Händen ausgerottet hast.« Amy verzog angewidert das Gesicht; wahrscheinlich stellte sie sich vor, wie ihr gut aussehender neuer Freund mit bloßen Händen Kakerlaken und Spinnen zerquetschte. »Das stimmt«, Quinn warf mir einen kurzen Blick zu. »Aber ich glaube, für mich wird es Zeit, den Beruf zu wechseln.« »Soll das ein Witz sein?«, erkundigte sich Peter. »Selbst nach dem, was gestern Nacht passiert ist? Als wir diesen...«, sein Blick zuckte zu Amy, »dieses Nest mit ekelhaftem Ungeziefer ausgeräuchert haben? Komm schon, das war wie ein Rausch, das Beste, was wir seit Monaten erlebt haben.« Meine Augen weiteten sich. Gestern Nacht? Ich starrte Quinn an, wartete darauf, dass er es abstritt, aber er wich 268 meinem Blick aus. Mein Herz hämmerte förmlich in meiner Brust. Quinn machte weiter wie bisher, obwohl er jetzt selbst ein Vampir war? Und mir gegenüber eingeräumt hatte, er
glaubte nicht mehr, dass alle Vampire böse waren? Bei der Vorstellung, dass er mit den anderen Jägern diese Überfälle durchzog, wurde mir übel. Ich hätte ihn am liebsten verprügelt, ihn so geohrfeigt, dass ihm die Ohren klingelten. Ich wollte, dass er sagte, es wäre nicht wahr, selbst wenn er mich dafür anlügen musste. Wieso war ich nur so ein schlechter Menschenkenner? War ich wirklich so blöd? Okay, streichen wir die Frage. Peter grinste nach wie vor bei der Erinnerung an das, was letzte Nacht passiert war. Der Kellner kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, aber Amy sagte ihm, wir brauchten noch ein paar Minuten. Stattdessen brachte er uns noch etwas Eiswasser. Schließlich sah Quinn mich an. Ihm ging Thierrys Fähigkeit ab, ein ausdrucksloses Gesicht machen zu können. Seine Gefühle und seine Gedanken, die ihm im Kopf herumgingen, zeigten sich in seiner Miene. Es sei denn, er war ein hervorragender Schauspieler. Was ich vielleicht sogar noch besser ertragen hätte können. »Ich habe niemanden umgebracht«, sagte er ruhig. »Sei nur nicht zu bescheiden«, widersprach Peter. »Ich glaube, Quinn, dein Vater täuscht sich in dir. Du wirst eines Tages ein großartiger Anführer sein. Du schreckst nicht vor schwierigen Entscheidungen zurück, du riskierst, auch gefährliche Schädlinge zu töten.« Sein Blick wanderte zu mir. »Egal wie gut sie im Bett sein mag.« Amy bohrte Peter den Rest ihrer Sesamstange in den Arm.
270 »Ich weiß wirklich nicht, was du da redest, Pooky, aber hast du da gerade meine beste Freundin beleidigt? Das gefällt mir ganz und gar nicht.« »Amy...« Ich stand auf. Quinn starrte aus dem Fenster. Entweder wurde er von einem gewaltigen Schuldgefühl erdrückt, oder er fühlte sich ungeheuerlich verleumdet. Das konnte er gern mit sich selbst ausmachen. Mir reichte es. »Ich verschwinde mal kurz zum Waschraum.« »Okay.« Amy stand auf und nahm ihre Tasche. Ich ließ das Buttermesser in meine kleine perlenbestickte Tasche gleiten, nur für den Fall, dass ich später eine Waffe brauchte. Sicher, diese Waffe war zwar von der eher nicht so tödlichen, kulinarischen Sorte, aber trotzdem besser als nichts. Ich machte eine mentale Notiz, unbedingt in eine neue Dose Pfefferspray zu investieren. Ich stieß die Tür zur Damentoilette auf, und wir gingen hinein. Dann sah ich mich kurz um. Wir waren allein. »Ich musste eigentlich nicht aufs Klo«, erklärte Amy. »Ich wollte mich nur für Peter entschuldigen. Er ist wohl doch nicht der Richtige. Keine Ahnung, warum er sich so seltsam benimmt.« »Ich schon.« Ich beobachtete Amy angespannt, die im Spiegel ihr Make-up überprüfte, während ich mit meiner Schulter an der Tür lehnte, damit niemand uns überraschen konnte. »Du weißt es?« »Ja. Ich muss dir etwas gestehen, Amy. Etwas, das ich dir schon früher hätte sagen sollen.« »Und was?«
Ich holte tief Luft. »Ich bin ein Vampir.« Amy starrte mich ein paar Sekunden verständnislos an. »Wie?« 271 »Ein Vampir. Ein Geschöpf der Nacht.« Ihr Blick blieb nach wie vor bar jeden Verstehens. Ich seufzte. »Dracula, Lestat, Angel... alles klar? Nur Blut trinken, nichts essen, ewig leben und dabei fantastisch aussehen ... etwas bleiche Haut, spitze Reißzähne... eben ein Vampir.« Nach einem Moment nickte sie und lächelte mich nachsichtig an. »Ich hab dir ja gesagt, du solltest aufhören, die Bücher von Anne Rice zu verschlingen. Und diese ganzen Serien von Buffy auf DVD? Es war nur eine Frage der Zeit, bis du auf solche Ideen kommen musstest.« »Nein«, ich schüttelte den Kopf, »das hat nichts damit zu tun. Außerdem waren die DVDs ein Sonderangebot. Doch das spielt keine Rolle. Ich bin ein echter Vampir.« Sie lächelte und nickte mir zu. »Wie du meinst, Sarah.« Amy neigte zwar selbst im besten Fall dazu, einen zu frustrieren, aber das hier ging mir zu sehr auf die Nerven. »Okay. Dann beweise ich es dir.« Ich machte den Mund weit auf. »Sieh hin. Reißzähne.« Sie beugte sich vor, um sie zu betrachten. »Niedlich. Aber Halloween war vor über einem Monat. Wir sollten die Jungs nicht länger allein lassen. Sonst essen sie noch das ganze Brot auf.« Ich fürchtete schon, dass ich sie beißen musste, damit sie es glaubte, doch dann fiel mir etwas Besseres ein. Ich hatte die Lösung direkt vor der Nase. Ich packte ihre
Oberarme und drehte sie um, sodass sie in den Spiegel schaute. Sie sah ihr Spiegelbild, das war alles. Meines war nicht da. Sie sah sich an, suchte mich, drehte sich zu mir herum. Dann starrte sie wieder in den Spiegel. Und drehte sich erneut zu mir um. Dieses Spielchen wiederholte sich eine ganze Weile. 272 Schließlich kullerten ihr vor Schreck fast die Augen aus den Höhlen. »Siehst du?«, sagte ich fast triumphierend, weil ich schließlich doch zu ihr durchgedrungen war. »Was habe ich dir gesagt?« Amy riss den Mund auf, holte tief Luft und kreischte. 17 Ich presste meine Hand auf Amys Mund, bevor sie länger als eine Sekunde dieses markerschütternde Geräusch von sich geben konnte. Die Tür schwang auf, und eine grauhaarige ältere Frau kam in den Waschraum. Sie hatte ein kleines, etwa sechsjähriges Mädchen an der Hand, vermutlich ihre Enkelin. Sie sah kurz zu mir hin, während ich Amy von hinten umklammerte, und riss die Augen auf. Ungläubig und ernst schüttelte sie den Kopf. »Ehrlich«, erklärte sie. »Euch Lesben werde ich nie verstehen.« Sie hielt ihrer Enkelin die Augen zu, drehte sich um und verschwand. Amy versuchte, sich zu bewegen und mich anzusehen, aber ich presste meine Hand nach wie vor fest auf ihren
Mund. Sie nuschelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. »Was?«, erkundigte ich mich und ließ meine Hand sinken. »Du bist ein Vampir.« Ihre Augen wirkten so groß wie die Brotteller auf unserem Tisch. 273 Ich nickte. »Schön, dass du das endlich kapiert hast. Und jetzt schrei bloß nicht wieder. Ich will niemandem weh tun, vor allem dir nicht.« Sie sah mich eine Weile an, dann rannte sie in eine Toilettenkabine und schloss sich ein. »Amy...« »Geh weg! Lass mich allein!« Ihre Stimme zitterte. Ich verschränkte die Arme und marschierte in dem kleinen Waschraum auf und ab. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ehrlich nicht. Ich werde dir nichts tun.« »Wie konnte das passieren? Ich versteh das nicht! Hat das etwas damit zu tun, dass du gefeuert worden bist? Hast du versucht, Ms. Saunders zu beißen?« Ich dachte einen Moment nach. »Nein.« Fingerlutschen und in den Hals beißen waren zwei völlig unterschiedliche Dinge. Fingerlutschen war weniger eklig. Jedenfalls geringfügig. »Was ist dir dann passiert?« »Komm da raus, dann erzähle ich es dir.« »Nein! Erzähl es erst, dann komm ich raus.« Ich seufzte ergeben. »Es ist eigentlich deine Schuld. Du solltest Gewissensbisse haben, statt auszuflippen.«
»Meine Schuld?« Ich sah, wie sie mich durch den schmalen Spalt an der Seite der Toilettentür musterte. »Ja. Die ganze Sache ist passiert, weil du eine Verabredung mit Gordon Richards für mich eingefädelt hast. Er war ein Vampir, und er hat mich gebissen.« »Du machst Witze! Er wirkte so normal.« Ich antwortete nicht und wartete, bis sie die Neuigkeit verarbeitet hatte. »Dieses Arschloch«, erklärte Amy. Ihre Stimme klang lau 274 ter, nicht mehr so verängstigt und erschreckt. »Ich bringe ihn um, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.« »Tu dir keinen Zwang an.« Ich beschloss, ihr zu verschweigen, dass ihr jemand zuvorgekommen war, und zwar ausgerechnet ihr neuer Freund. Das hätte ihr sicher den Rest gegeben. Es folgte eine längere Pause, und dann... »Also, du willst mir sagen, dass du ein guter Vampir bist?« »Ja. Ich bin ein guter Vampir.« Ich zögerte. »Wie Angel aus dieser Fernsehserie. Mit einer Seele und Gewissen und allem Drumherum.« »Aber Angel war nicht immer gut. Wirst du auch böse, wenn du Sex hast?« Ich verdrehte die Augen. Bei allem, was mir heilig war, ich hätte ihr diese Buffy DVDs niemals ausleihen dürfen. »Du musst mir einfach vertrauen. Ich bin die Gute.« Ich wartete eine weitere Minute. »Amy«, sagte ich schließlich. »Alles okay bei dir?«
Ich hörte die Toilettenspülung. Dann klickte das Schloss, und die Tür klappte langsam auf. Amy spähte nervös zu mir hinaus. Ihre Unterlippe zitterte. »Es tut mir so leid, dass ich dich mit diesem Idioten zusammengebracht habe.« Sie wankte auf mich zu und umarmte mich fest. Ich tätschelte ihren Rücken. »Mir auch.« Sie schniefte und trat einen Schritt zurück. »Ich kann nicht fassen, dass du mir das nicht erzählt hast! Besonders nett ist das nicht.« »Ich habe gehofft, ich könnte mein Leben ganz normal weiterführen, ohne dass irgendjemand merkt, wie ich mich verändert habe. Leider hat sich herausgestellt, dass das nicht so einfach ist.« 275 »Warum solltest du das wollen?« Ihre Stimme wurde kräftiger, und ihr breites Lächeln ließ sie plötzlich ganz anders wirken. »Meine beste Freundin ist ein Vampir. Ich bin total neidisch.« »Dafür hast du keinen Grund. Glaub mir.« »Und Quinn?« »Was meinst du mit: >Und Quinn« »Weiß er es?« Ich holte tief Luft. »Das ist einer der Gründe, warum ich hier mit dir reden wollte. Quinn ist auch ein Vampir.« »Dann verschwindet bloß hier!« »Ich wünschte, es wäre so einfach. Lange Rede, kurzer Sinn: Quinn war ein Vampirjäger. Er hat sogar mehrmals versucht, mich umzubringen. Dann ist er in einen von uns verwandelt worden.« »Und ihr habt euch verliebt.« Sie seufzte. »O mein Gott, ist das romantisch.«
»Ich bin nicht in ihn verliebt«, widersprach ich entschieden. »Aber ihr seid so süß zusammen. Das Hochzeitsfoto wäre bezaubernd.« »Das dürfte kaum ein ausreichender Grund sein, sich zu verlieben, fürchte ich. Aber ich muss dir noch etwas sagen. Etwas Schlimmes.« Sie hielt die Luft an. »Was?« »Peter ist ein Vampirjäger.« Sie keuchte. »Aber er hat doch behauptet, dass er als Schädlingsbekämpfer arbeitet.« »Ja, zählen wir eins und eins zusammen, Amy, hm? Schädlingsbekämpfung ist gleich: Vampire ausrotten. Sie halten Vampire für böse, aber glaub es mir, wir sind es nicht. Er ist der Bösewicht.« 276 »Glaubst du, er hat sich sein Auge bei der Vampirjagd verletzt?« Amy wirkte so verwirrt, dass sie mir leid tat. Normalerweise fiel es ihr schon schwer, der Geschichte von The Young and the Restless zu folgen, geschweige denn der von The Fanged and the Fashionable. »Allerdings, Amy. Und zwar war ich es, die das seinem Auge letzte Woche angetan hat. Es ging nicht anders. Er hat versucht, mich umzubringen, und ich habe mich nur verteidigt. Er wird mich hier um keinen Preis lebendig gehen lassen. Und zu allem Überfluss hat er keine Ahnung, dass Quinn verwandelt worden ist. Er hält ihn unbeirrt für einen von den Jungs. Der bereit ist, später
mit ihm loszugehen und noch ein bisschen Vampire zu jagen.« »Peter hat versucht, dich umzubringen?« Sie schien nicht glauben zu können, dass ihr neuer Freund zu so etwas Widerlichem fähig wäre. »Ja.« »Und du glaubst, er wird wieder versuchen, dich umzubringen?« Ich zuckte die Schultern. »Er ist ein Vampirjäger. Das ist sein Job.« »Aber du bist meine Freundin.« »So einfach liegen die Dinge für ihn bedauerlicherweise wohl nicht.« »Das ist nicht gut.« »Das dürfte die Übertreibung des Jahrhunderts sein. Ich kann kaum fassen, dass du von allen Kerlen in Toronto ausgerechnet an ihn geraten bist.« »Tut mir leid.« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Ich seufzte. »Es 277 ist nicht deine Schuld. Das Schicksal hat mir einfach im Vorbeigehen in den Hintern getreten.« »Und, wie lautet dein Plan?«, erkundigte sie sich. »Mein Plan?« »Ja, wie wir dich sicher hier herausbekommen.« »Wir müssen Peter umbringen«, sagte ich. Amy rang nach Luft und schlug eine Hand vor den Mund.
»War nur Spaß.« Ich tätschelte ihre Schulter und versuchte, sie wegen ihrer Reaktion nicht auszulachen. Ob ich am Ende doch böse war? »Ich habe nur einen Scherz gemacht. Entschuldige, aber ich konnte nicht widerstehen. Ich habe keine Ahnung, wie wir hier rauskommen. Er wird mich diesmal auf keinen Fall entwischen lassen, nicht nach dem, was ich mit seinem Auge angestellt habe.« Amy öffnete ihre Handtasche und wühlte darin herum. »Ich glaube, ich habe eine Idee.« He, schließlich gab es für alles ein erstes Mal. »Was suchst du?«, fragte ich. »Sie müssen hier doch irgendwo sein, das weiß ich genau. Ah, da sind sie ja.« Sie zog eine Pillendose heraus. »Sind das Schlaftabletten?« Ich stellte mir auf einmal Peter vor, der zusammengerollt in einer Ecke des Restaurants döste, während wir an ihm vorbei zum Aufzug entschwanden. »Das wäre perfekt.« »Nein«, sagte sie. »Die sind zur Muskelentspannung.« »Tut mir leid, wenn ich deinen brillanten Plan verderbe, aber ich glaube nicht, dass Peter gerade seine Tage hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Vertrau mir. Es wird funktionieren.« »Du willst also deinen Freund unter Drogen setzen, um mir zu helfen? Du bist wirklich eine Freundin.« 278 Sie umarmte mich. »Du würdest das Gleiche für mich tun.« Würde ich? Na klar, warum nicht?
»Peter wird stinksauer sein. Ich möchte eure Beziehung nicht ruinieren.« Sie ließ die Pillendose in ihre Handtasche fallen. »Schon gut. Außerdem macht mir das endgültig klar, dass er nicht der Richtige ist. Mein richtiger Prinz Charming würde sich nie mit meiner besten Freundin anlegen. Peter bekommt nur, was er verdient.« Wir gingen zurück zum Tisch. Quinn und Peter schienen in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein. Als wir uns dem Tisch näherten, verstummten sie. »Alles okay?«, erkundigte sich Quinn, als ich mich setzte. »Alles bestens«, erwiderte ich ohne ihn anzusehen. Ich war immer noch wütend, dass er letzte Nacht auf Vampirjagd gegangen war. »Gut.« Er leerte sein Bierglas. »Wir haben schon mal das Essen bestellt«, erklärte Peter. »Wir wollten nicht ewig warten.« »Sprich bloß für dich selbst«, flüsterte ich. »Quinn und ich haben uns darüber unterhalten, was wir danach unternehmen könnten.« Peter starrte mich intensiv an. »Amy wollte tanzen gehen, aber ich dachte an etwas Intimeres. Ich würde Sarah gern etwas besser kennenlernen.« Mein Name hörte sich aus seinem Mund wie ein Schimpfwort an. »Und sie vielleicht einigen meiner Freunde vorstellen.« Von wegen. Trotzdem lächelte ich ihn an. »Aber nur, wenn sie alle so unglaublich charmant sind wie Sie.« Die Vorspeisen kamen. Peter hatte für alle Salat bestellt,
280 und für sich selbst Escargots geordert. Amy umarmte ihn und küsste ihn ziemlich häufig, um ihn abzulenken, während sie eine kleine blaue Pille in die Schnecken gleiten ließ. Er verschlang sie, ohne es zu merken. Quinn war so damit beschäftigt, aus dem Fenster oder auf sein frisches Bier zu starren, dass er nicht mitbekam, was vor sich ging. Als der Hauptgang serviert wurde, stocherte ich nervös darin herum und bemerkte, dass Quinn das Gleiche tat. Ob er sich auch übergeben musste, wenn er feste Nahrung zu sich nahm? Ich wollte dieses Risiko heute Nacht nicht eingehen. Dafür musste ich an zu viele andere Dinge denken. Ich schielte zu Amy hinüber und sah, wie sie eine blaue Pille in Peters Kartoffelpüree steckte. Er schob sie sich mit dem Püree ohne zu zögern in den Mund. Und wenn Amys Plan nun nicht funktionierte? Was sollte ich dann tun? Ich bemühte mich, eine Art Vampir-Telepathie zwischen Quinn und mir herzustellen, und versuchte, ihm eine Nachricht über einen möglichen Fluchtplan zukommen zu lassen, aber es schien nicht so, als ob Telepathie zu meinen neuen Talenten gehörte. Quinn sah mir kaum noch in die Augen. Wenn ich seine Aufmerksamkeit wollte, musste ich wohl deutlicher vorgehen. Ich stach ihm mit meiner Gabel in die Hand. »Autsch.« Er riss seine Hand zurück. Wenigstens sah er mich jetzt endlich an.
»Was hältst du von Peters Plan?«, erkundigte ich mich. »Ich meine, nach dem Essen noch seine Freunde zu besuchen. Gefällt dir die Idee?« »Es sind auch meine Freunde.« »Wie genau meinst du das?« »Wie ich es gesagt habe.« 281 »Ah, verstehe.« Er frustrierte mich. Hatte er schon vergessen, dass er ein Vampir war? Oder war er nur verrückt geworden? Ich hatte ihm fast geglaubt, als er mir sagte, dass er nicht aufhören könnte, an mich zu denken. Offensichtlich hatte er es so gemeint, dass er nicht aufhören konnte, über Wege nachzudenken, mich wütend zu machen. Ich beobachtete Peter finster über den Tisch hinweg. Er stopfte heißhungrig seine Mahlzeit in sich hinein. Offenbar machte die Vampirjagd mächtig Appetit. Seine Geschicklichkeit im Umgang mit Messer und Gabel ließen keine Trägheit, keine Unbeholfenheit erkennen, die darauf hingedeutet hätten, dass sich seine Muskeln entspannten. Hieß das, die Tabletten wirkten nicht? Was sollte ich nur tun? Er wollte mich mit zu seinen Freunden nehmen, und Quinn würde alles mitmachen, die leibhaftige Verkörperung von Selbstbetrug. Dieser Plan gefiel mir überhaupt nicht. Der Kellner kam, räumte die Teller ab und nahm unsere Dessertbestellung auf. Ich entschied mich für einen Mokka. Ich mochte alles, was mich an meine Mexikoreise
erinnerte. Sie war wie ein glänzendes Zielband. Wenn ich es bis dahin schaffte, würde alles gut ausgehen. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, während ich an meinem Dessert-Kaffee nippte und verzweifelt darauf wartete, dass Quinn aufstand und mich verteidigte. Peter verprügelte oder so was. Alles wäre willkommen, statt lediglich hier herumzusitzen, als scheute er davor zurück, Ärger zu machen. »Peter, ich möchte Ihnen was erzählen«, sagte ich plötzlich. Ich kramte verzweifelt nach einem Ausweg aus meiner Lage. Er blickte nicht einmal von seinem Nachtisch auf, ein recht großes Stück feisten Schokoladenkuchens. 282 »Was?«, fuhr er mich an. Ich sah, dass er ein kleines Stück Schokoglasur auf seiner Augenklappe hatte. »Es ist wichtig. Vielleicht hören Sie wenigstens eine halbe Sekunde lang damit auf, sich Essen in den Mund zu stopfen.« Er schob den Teller zurück. »Was.« Diesmal war es eine Aussage, keine Frage. Ich holte Luft. »Was ich Ihnen sagen werde, wird alles ändern.« Er legte den Kopf auf die Seite. »Tatsächlich?« »Ja, tatsächlich.« »Dann raus damit, Darling.« Er sah kurz Amy an. »Ich meine, Sarah.« Ich blickte zu Quinn. »Es muss ein Geheimnis bleiben.«
»Sie haben mein Ehrenwort.« Er grinste mich an. Sein Ehrenwort war meinem Verständnis nach weniger wert als nichts. Ich holte noch mal tief Luft. Also los. »Quinn ist auch ein Vampir.« »Sarah!« Quinn stieß vor Schreck sein Wasserglas um, was uns kurz die Aufmerksamkeit einiger Gäste an den Nachbartischen bescherte. Eine Zehntelsekunde lang herrschte Schweigen im Restaurant, doch dann setzte das Stimmengemurmel wieder ein. Quinn versuchte vergeblich, mit seiner Serviette die Tischdecke trocken zu tupfen, während er mich verblüfft anblinzelte. »Was zum Teufel hast du gesagt?«, zischte Peter. Wobei mir seine plötzlich vertraute Anrede völlig egal war. »Ein Vampir. Quinn ist auch einer. Genau wie ich. Seit letztem Wochenende. Falls Sie also planen, mich umzubringen, erhalten sie gleich zwei für den Preis von einem. Das ist schließlich nur gerecht.« 283 »Das glaube ich einfach nicht.« Quinns Stimme klang gepresst. »Glaub mir, mein Freund. Ich gehe nicht alleine unter.« Peter schüttelte ungläubig den Kopf. Dann fing er an zu lachen. »Du bist wirklich witzig. Aber deine Lügen verfangen bei mir nicht.« »Das ist keine Lüge«, sagte Amy. »Sie sagt die Wahrheit.« Er drehte sich zu ihr um. »Lass mich raten: Du bist auch ein Vampir?«
»Ich wünschte, ich wäre es!« Sie hob ihre Handtasche auf ihren Schoß und zog den Reißverschluss zu. Ich nahm an, dass sie keine Tablette mehr hatte. Verdammt. »Quinn«, sagte Peter, »lass das nicht auf dir sitzen! Sag was!« »Ich...«, begann Quinn. Er wirkte verzweifelt. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Das ist doch nicht wahr, oder? Das darf nicht wahr sein!« »Es ist wahr.« Ich schlang einen Arm um Quinns Schultern. »Darum sind wir ja zusammen. Nun zeig ihm schon deine Reißzähne, Liebling. Ja, wir sind Vampire. Alle beide. Liebende Vampire, vereint für immer und ewig.« Ich küsste Quinn mitten auf den Mund, dann drehte ich mich um, um Peter breit anzulachen, mit Reißzähnen und allem. Ich sah, wie Peters Ausdruck von Verwirrung in Wut umschlug, als er seinen alten Jagdfreund ansah. Er schnappte sich ein Steakmesser, während sein gesundes Auge wütend funkelte. »Das hat dir diese Schlampe angetan. Dieses Miststück hat aus dir einen widerlichen Blutsauger gemacht.« Amy stand auf und stampfte mit dem Fuß auf. »Wage es nicht, so über meine beste Freundin zu reden!« 284 »Ich rede über sie, wie es mir passt, verflucht!«, konterte Peter wütend. »Quinn, es tut mir leid, ehrlich. Wenn du an meiner Stelle wärst, würdest du dasselbe tun und
meinem Leben ein Ende setzen. Bitte mach es mir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.« Quinn war immer noch geschockt von meiner Enthüllung. Ich fühlte mich ein bisschen schuldig, ich konnte nicht anders. Mit einem Satz hatte ich sein Leben unwiederbringlich zerstört. Aber ich hatte nur getan, was ich tun musste, um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken. Leider schien das genaue Gegenteil der Fall zu sein. Peter richtete seine Aufmerksamkeit jetzt ausschließlich auf mich. Seine Wut wurde dadurch verstärkt, weil er glaubte, ich hätte seinen Freund in ein Monster verwandelt. »Bitte sag es nicht meinem Vater«, flehte Quinn kläglich. »Ich bitte dich.« Peter zog eine Augenbraue hoch und packte das Messer fester. »Ich werde ihm sagen, dass du heldenhaft im Kampf gegen eine dieser widerlichen Kreaturen gestorben bist. Es ist besser für alle, wenn er die Wahrheit nie erfährt. Also, los.« Er stand auf. Er war größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, mindestens eins neunzig. Er war eine imposante Erscheinung, gebaut wie ein Kleiderschrank und mit Leichtigkeit in der Lage, mich mit seinen bloßen Händen zu zerquetschen, so wie es jeder gute Schädlingsbekämpfer tun konnte. Er machte einen Schritt auf uns zu, und seine Beine knickten unter ihm ein. Er sackte zu Boden, was ihm die Aufmerksamkeit der übrigen Restaurantgäste einbrachte. Ein Kellner wäre fast über ihn gestolpert, als er mit einem
Tablett voller Drinks zu einem Nachbartisch unterwegs war, an dem die Gäste zu uns hingafften. 286 »Was zum Teufel...?« Peter versuchte, sich an dem Tisch abzustützen, sich aufzurichten, vergeblich. »Was habt ihr mit mir gemacht, verdammt?« Amy atmete geräuschvoll aus. »Gott sei Dank. Ich habe fast nicht mehr geglaubt, dass die Tabletten wirkten. Aber zwanzig Stück davon mussten doch irgendetwas ausrichten.« Quinn sprang auf, und ich hielt ihn am Arm fest, um ihn daran zu hindern, Peter zu nahe zu kommen. »Habt ihr ihn vergiftet?« »Mach dir keine Sorgen, es ist nur ein Muskelentspannungsmittel«, erklärte ich. »Allerdings sind zwanzig eine erkleckliche Menge.« Ich beugte mich zu Peter herunter, der angestrengt versuchte, mich mit dem Steakmesser zu durchbohren. Es fiel ihm jedoch schlaff aus der Hand. »Wenn es dir in zehn Minuten nicht besser geht, bitte ich die Kellner, einen Krankenwagen zu rufen, ja? Und übrigens, danke für das Essen. Du bist wirklich ein Sweetheart.« »Tut mir leid, Pooky.« Amy beugte sich runter und küsste ihn auf die Wange. »Aber ich kann nicht zulassen, dass du versuchst, meine besten Freunde umzubringen. Das ist echt nicht nett. Ich glaube, wir sollten uns besser nicht mehr treffen.« Ich hielt einen vorbeieilenden Kellner fest. »Unser Freund hat ein bisschen zu viel getrunken und redet dummes
Zeug. Ignorieren Sie ihn einfach. Es wird ihm sicher gleich besser gehen, nur fahren sollte er wohl nicht mehr.« »Soll ich ihm vielleicht einen Kaffee bringen?«, bot der Kellner hilfsbereit an. Ich nickte. »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Ja, viel Kaffee.« »Wir kümmern uns um ihn«, versprach der Kellner. »Leb wohl, Peter.« Ich tätschelte ihm den Kopf. »Und nochmal danke für das Essen. Es war schön, Sie wiederzusehen.« 287 Quinn stand stumm und fassungslos neben uns. Ich packte den Ärmel seines Jacketts. »Nun komm schon«, sagte ich. »Verschwinden wir hier.« 18 Wir schafften es bis ins Erdgeschoss und raus in die kalte Nachtluft, bevor ich endlich tief durchatmete. Ich hatte fast erwartet, Peter würde uns verfolgen, selbst wenn er dafür seinen entspannten Körper hinter sich herziehen musste, wie ein Walross oder eine Meerjungfrau. Vor dem CN-Tower wühlte Amy in ihrer Tasche nach Zigaretten, nahm eine aus der Packung, zündete sie an, inhalierte tief und bekam prompt einen Hustenanfall. »Ich wusste gar nicht, dass du rauchst«, staunte ich. »Tue ich auch nicht. Das sind Peters Zigaretten. Aber irgendwie schien mir das ein guter Zeitpunkt zu sein, um damit anzufangen.«
Quinn hatte den ganzen Weg im Aufzug nichts gesagt, aber ich würde keine Schuldgefühle bekommen. O nein. Okay, vielleicht ein ganz, ganz kleines bisschen. »Quinn.« Ich trat zu ihm. Er ließ sich auf eine verschneite Bank fallen. »Ist alles okay mit dir?« Er starrte ins Leere. Ich wedelte mit meiner Hand vor seinen Augen hin und her. »Hallo, jemand zu Hause? Hör zu, ich habe nur getan, was nötig war, um heil dort herauszukommen. Er hätte es sowieso herausgefunden. Sie hätten es alle irgendwann herausgefunden.« »Du hast recht.« 288 »Siehst du? Ich wusste es.« Er sah mich wütend an. »Sie hätten es herausgefunden. Aber sie hätten es von mir erfahren. Nicht von dir. Und dann so, als wäre es ein Riesenspaß!« Ärger wallte in mir hoch. »Lache ich etwa? Es ist kein Spaß für mich. Und soll ich dir mal sagen, was ich auch überhaupt nicht komisch finde? Dass du gestern Nacht losgezogen bist und weiter Vampire umgebracht hast, als ob keiner von ihnen dir etwas bedeuten würde. Das macht dich nicht zum Helden, Quinn; das macht dich zum Mörder. Und es fördert nicht gerade mein Vertrauen, wenn ich so etwas über dich höre.« Er schüttelte den Kopf, dann sprang er plötzlich hoch und stand unmittelbar vor mir. »Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Ich habe nicht darum gebeten, Vampir zu werden. Jeder Moment meines Lebens ist ab jetzt die reinste Folter für mich; das Wissen, dass ich
ebenso eine Kreatur bin wie die, die meine Mutter umgebracht hat.« »Hör endlich auf, darauf herumzureiten.« »Ich reite darauf herum, so lange ich will, verdammt!«, presste er zwischen den Zähnen heraus. »Ich habe getan, was ich tun musste.« »Ja, Vampire töten. Das klingt tatsächlich nach etwas, das du unbedingt tun musstest. Konntest du dir nicht wenigstens diese Nacht freinehmen? Wäre das zu viel verlangt gewesen?« »Ich habe es versucht.« Er ließ sich wieder auf die Bank fallen. Ich warf einen Blick zu Amy. Sie hielt sich etwas abseits, paffte ihre Zigarette und tat, als hörte sie nicht zu. Kluges Kind. »Wie meinst du das, du hättest es versucht? Du hast versucht, ein paar Stunden lang niemanden umzubringen?« 289 Er seufzte; es war ein dunkles, schluchzendes Geräusch. »Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte.« »Wovon redest du?« »Ich brauchte das Blut eines voll ausgewachsenen Vampirs. Ich habe euch neulich Nacht reden hören. Ich habe die Regeln verstanden. Als der Schmerz zurückkehrte, wusste ich nicht, was ich unternehmen sollte. Es hat höllisch wehgetan. Ich wollte es ertragen, wollte mich davon töten lassen, aber der Selbsterhaltungstrieb war stärker. Zurück zu Thierry konnte ich natürlich nicht gehen, das war unmöglich.
Aber mir war klar, wenn ich leben wollte, brauchte ich Blut. Also, habe ich...« Er verstummte, als ekelte er sich zu sehr vor sich selbst, um den Satz zu beenden. »Also bist du auf die Jagd nach einem Vampir gegangen, der bereit war, dir zu helfen«, brachte ich ihn zu Ende. Er seufzte. »Es war mir egal, ob sie dazu bereit waren oder nicht. Als Peter und die anderen fertig waren, gab es reichlich Blut. Ich versteckte mich, bis sie weg waren und tat, was ich tun musste.« Ich fühlte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. »Nachdem sie tot waren.« »Einer von ihnen war noch nicht tot. Aber du hast recht.« Quinns Gesicht wirkte angespannt im Mondlicht. »Je älter der Vampir, desto weniger bleibt übrig. Die Jungen bleiben fest nach dem Tod; die älteren lösen sich auf.« Richtig, das hatte Thierry schon einmal erwähnt. Was Quinn mir versuchte zu sagen war, dass er nicht mit auf die Jagd gegangen war, um sich am Gemetzel an den Vampiren zu beteiligen, sondern um sich von ihnen zu ernähren. Wie ein makabrer McDracula-Drive-In. Ich sah ihn an und erwartete, Ekel zu empfinden. Stattdessen tat er mir nur leid. Er 290 war ganz allein mit dieser Situation gewesen und hatte keine andere Wahl gehabt. Ich war auch ganz allein, aber ich hatte zumindest Thierry gefunden. Was hätte ich an Quinns Stelle getan?
»Tut mir leid«, sagte ich schließlich. »Niemand sollte durchmachen müssen, was du erlebt hast. Und jetzt habe ich dich auch noch geoutet.« Er schüttelte den Kopf. »Wie du schon sagtest, sie hätten es früher oder später herausgefunden. Ich habe mir selbst etwas vorgemacht, als ich dachte, ich könnte so tun, als wäre nichts passiert.« »Und was jetzt?« Ich spürte das dringende Bedürfnis, ihn zu umarmen, ihn festzuhalten und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde, aber ich hielt mich zurück. Hauptsächlich deshalb, weil ich nicht sicher war, ob alles gut werden würde. Für keinen von uns. »Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht.« »Wenn du irgendetwas brauchst, sag Bescheid.« »Ja«, sagte er. »Egal, ich gehe jetzt. Ihr zwei solltet hier auch nicht lange herumhängen. Peter wird nach euch suchen.« »Er ist ein ziemlicher Dickkopf, oder?« »Er hat mir etwas erzählt, während ihr zwei auf der Toilette wart, und ich... ich wollte nichts sagen, aber...« »Was?« »Er sagte, dass etwas Großes vor sich geht. Dass sie, bevor sie dieses Jahr weiterziehen, so gut wie jeden Vampir in der Stadt ausgerottet haben werden.« »Ich dachte, das wäre von Anfang an ihr Plan gewesen. Das ganze Jagd-Saison-Ding. So viele Vampire umzubringen wie möglich und dann Bier im Clancy's zu trinken, um zu feiern.« 291
Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein, Peter hat von etwas anderem gesprochen. Wir...« Er zögerte. »Normalerweise versuchen sie so viele wie möglich im Freien zu erwischen, aber nicht ein komplettes Massaker aller Vampire in einem Umkreis von hundert Kilometern anzurichten. Dieser Plan ist größer als alles, was ich jemals zuvor gehört habe.« Mir stockte der Atem. »Glaubst du, er hat nur angegeben? Ein bisschen Machosprüche geklopft?« »Das dachte ich zunächst auch, aber er hat eine ganze Weile darüber geredet. Als gäbe es dieses Jahr eine Art Masterplan. Etwas, von dem selbst ich nichts wusste, was mich allerdings nicht sonderlich überrascht. Mein Vater war nie sehr gesprächig, was seine Pläne angeht. Ich glaube, es stimmt. Peter meint, sie hätten einen Insider.« »Was soll das heißen?« »Einen Informanten unter den Vampiren. Ein Vampir, der ihnen Namen und Orte verrät.« Ein Vampirverräter, der bereit war, seine Gefährten zu verraten! Das war ungeheuerlich! Vermutlich war das der Grund, warum einige der geheimen Clubs aufgeflogen waren. Und das Midnight Eclipse konnte ohne weiteres der nächste auf der Liste sein. Véronique hatte gesagt, dass sie heute Abend ganz normal öffnen würden. Ich musste Thierry warnen, er musste vorsichtig sein. Ich sah Quinn an. »Alles okay?« »Mir geht's gut«, sagte er. »Pass auf dich auf, Sarah.« Er erwiderte meinen Blick einen Moment, dann drehte er sich um und ging.
»Auf Wiedersehen, Quinn!«, rief Amy ihm fröhlich hinterher. »Es war sehr nett, dich wiederzusehen.« 293 »Du solltest jetzt sofort nach Hause gehen«, sagte ich zu Amy. Sie lächelte mich an. »Klar, träum weiter. Wohin gehen wir jetzt?« » Wir gehen nirgendwohin.« Sie runzelte die Stirn. »Wann bist du so ernst geworden?« »Ernste Situationen verlangen ernste Mienen. Und jetzt geh nach Hause.« »Nein.« Sie verschränkte die Arme. »Geh nach Hause oder ich beiße dich.« Sie hielt mir ihren Hals hin. »Mach schon, ich würde gern sehen, wie du das versuchst.« Ich rümpfte die Nase. »Krass. Gut, dann soll es wohl so sein. Komm mit. Aber versprich mit, dass du ruhig bist und dich benimmst. Sag nichts und guck so böse, wie du kannst.« »Das kriege ich schon hin.« Ich hielt das erste Taxi an, das vorbeikam und gab ihm die Adresse des Midnight Eclipse. Eigentlich wollte ich nicht dorthin. Ich wollte Thierry nach unserem Gespräch am Nachmittag nicht wiedersehen, aber ich konnte es schaffen. Ich musste es einfach tun. Ich würde hineinmarschieren und ihm sagen, was Quinn mir erzählt hatte. Dann würde ich wieder gehen, Auftrag erfüllt, und er würde mir nie mehr unter die Augen kommen. Das klang recht simpel.
Aber dann durchzuckte es mich, und ich erinnerte mich daran, was ich empfunden hatte, als Thierry mich in meinem Schlafzimmer in Abottsville geküsst hatte. Es war wunderschön gewesen, so perfekt, so unglaublich. Und danach ging alles so schnell den Bach hinunter. Es war kompliziert. Ich wollte eigentlich nur, dass er mich in die Arme nahm und mir sagte, dass alles nur ein Schabernack gewesen war, dass 294 es keine Frau gab, dass er all diese schrecklichen Dinge nur gesagt hatte, um herauszufinden, was ich wirklich für ihn empfand. Dann wäre alles wunderbar und perfekt, und wir würden gemeinsam in seinem schwarzen Audi in den Sonnenuntergang fahren, die dunklen Sonnenbrillen fest auf der Nase. Und lebten für immer und ewig glücklich und zufrieden. Aber so einfältig war ich nicht. Glücklich für immer und ewig gab es nur im Märchen. Ich kannte kein Märchen, in dem ein Vampir vorkam. Sie tauchten in Horrorgeschichten auf, und in denen lebte niemand glücklich und zufrieden für immer und ewig. »Du bist so still«, sagte Amy neben mir. »Was ist los?« »Nichts.« Ich wischte mir eine verirrte Träne von der Wange. »Sarah!«, drängte sie. »Sag mir sofort, was nicht stimmt!« Ich sah sie an und revidierte meine Antwort. »Alles.« Sie nickte, als würde sie verstehen, und insistierte nicht weiter in mich.
Als der Taxifahrer vor dem Sonnenstudio hielt, fischte Amy die Geldbörse aus ihrer Handtasche, um zu bezahlen. Diese Location verwirrte sie sichtlich, aber sie folgte mir brav wie ein guter Freund durch die Eingangstür. Barry saß am Empfang in seinem üblichen, niedlichen schwarzen Smoking. Er sprang auf und baute sich vor der schwarzen Tür auf. »Oh«, sagte er verächtlich. »DU bist zurück.« »Ja«, sagte ich. »Und du bist klein. Ich muss zu Thierry.« Er war drauf und dran, mich dafür zurechtzuweisen, dass ich ihn zum bestimmt dreißigsten verdammten Mal nicht »Meister« genannt hatte, als er an mir vorbei auf Amy sah. 295 Seine Kinnlade sackte herunter und entblößte seine winzig kleinen Reißzähne. Ich drehte mich um und sah, wie Amy ihn ebenfalls anstarrte. Ich könnte schwören, dass anschließend zwei Amors über uns flatterten und jeweils einen Pfeil in die Herzen der beiden schössen. Komisch, aber wahr: Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ihr wollt mich wohl veralbern!« Barry stürzte sich förmlich auf Amy, nahm ihre Hand in seine und küsste sie zart. »Ich bin Barry Jordan, und stehe zu Ihrer Verfügung, meine entzückende Lady.« »Da bleibt mir doch glatt die Spucke weg«, erklärte ich.
Amy warf mir einen kurzen Seitenblick zu. »Amy«, hauchte sie und errötete, was recht niedlich aussah. »Amy Smith.« »Und da dachte ich vorhin, mir würde übel.« Sie ignorierten mich. »Okay, schon gut. Vertreibt euch die Zeit, ihr zwei. Ich brauche nicht lange.« Ich stieß die Eingangstür zum Club auf. Er war besser besucht, als ich erwartet hatte. Beinahe jeder Tisch war besetzt. Die Band stand auf der Bühne; die Musik war fast zu laut, um sich zu unterhalten. Zelda stand hinter der Bar und winkte mich zu sich, als sie mich entdeckte. »Hey«, sagte sie und fletschte ihre Reißzähne in einem Lächeln, als ich näher kam. »Lange nicht gesehen.« »Ganz so lange war es nun auch wieder nicht.« Ich schwang mich müde auf einen leeren Barhocker und ließ meinen Blick durch den vollen, verrauchten Club gleiten. »Du bist philosophischer als noch vor drei Tagen.« Sie schob mir ein Schnapsglas mit Blut hin. Hoffentlich ging er 296 aufs Haus, denn ich hatte noch schlappe fünfzig Cent bei mir. »Ich glaube, es war eine Art philosophische Woche. Eine von diesen Wochen, in der man mit dem Gedanken spielt, ein Bad mit dem einstöpselten Toaster zu nehmen. Hier ist ja ganz schön was los.« Zelda sah sich um, während sie eine weitere Runde Drinks vorbereitete. »Es sind zurzeit nur noch wenige
Clubs geöffnet. Deshalb sind die anderen ziemlich überfüllt.« George tauchte neben mir auf und schenkte mir eines seiner fabelhaften Chippendale Lächeln. »He, Schöne. Nach deinem dramatischen Abgang heute Morgen hatte ich schon Angst, dass ich dich hier gar nicht mehr sehen würde.« Ich erwiderte sein Lächeln. Wenn er heute Abend arbeiten konnte, musste er wohl recht schnell gesund geworden sein. »Jedes Mal, wenn ich herkomme, sage ich, dass ich nie wiederkomme. Und da bin ich.« »Willst du, dass ich, du weißt schon wen, für dich suche?« »Wenn du Thierry meinst: Nein, den spüre ich lieber selbst auf. Aber jetzt noch nicht.« Zelda griff quer über die Theke nach meiner Hand. »Tut mir leid, wegen unseres Besuchs aus Frankreich. Ich hatte keine Ahnung, dass sie auftauchen würde.« Ich versuchte, mich dumm zu stellen. Was nicht allzu schwer war. »Wen meinst du denn?« »Queen Vee, natürlich.« »Ach die«, ich zwang mich zu lachen. »Warum sollte ich ein Problem damit haben, dass sie hier ist?« Zelda betrachtete mich eine Sekunde. »Ach, war nur so ein Gedanke.« Sie wechselte einen vielsagenden Blick mit George. »Schon gut.« 297
»Wo wir gerade über Véronique sprechen« - ich sah mich in dem schwach beleuchteten Club um - »hat sie gesagt, wie lange sie vorhat, in der Stadt zu bleiben?« »Ich habe sie nicht gefragt«, antwortete George. »Sie mag mich nicht besonders, frag mich nicht, warum. Aber es scheint unendlich zu sein.« »Ihr Besuch oder ihre Abneigung gegen dich?« Zelda lachte. »Wahrscheinlich beides.« Ich lächelte. »Es ist schön, dass sie uns besucht. Sie scheint eine sehr interessante Person zu sein.« Sie sahen sich wieder an. »Bemüh dich nicht weiter, Sarah«, meinte Zelda dann. »Du musst uns nichts vormachen. Wir wissen, dass du höllisch eifersüchtig bist.« »Eifersüchtig? Warum sollte ich eifersüchtig sein?« George sah Zelda an. »Sie ist total eifersüchtig. Und kannst du es ihr verübeln? Thierry ist zum Niederknien. Glaub mir, wenn ich Gelegenheit hätte... würde ich... also, ich will nicht ins Detail gehen, bevor ich nicht eure Pässe kontrolliert habe, um sicherzustellen, dass ihr alt genug seid, um zu hören, was ich machen würde.« »Eigentlich«, sagte ich, »bin ich überhaupt nicht an verheirateten Männern interessiert, insbesondere nicht an solchen, die so wenig Informationen über sich preisgeben. Also, von mir aus kannst du ihn geschenkt haben.« »Ach ja?« Zelda schob mir einen weiteren Drink hin, diesmal Wodka.
»Kann es sein, dass die Schutzschilde unseres kleinen Zöglings schwächer werden, je länger wir darüber reden?« Meine Unterlippe bebten. »Nein. Vergiss es einfach, okay? Ich will nicht darüber reden. Ich will über gar nichts reden.« 25« Ich gab einen langen, zittrigen Seufzer von mir. »Außer natürlich, ihr zwei wisst zufällig irgendetwas über dieses Heilmittel gegen Vampirismus, von dem ich gehört habe.« »Ein Heilmittel?« George spielte mit dem Salzrand an einem der Drinks, den er eigentlich schon servieren sollte. »Da klingelt bei mir nichts.« »Ich weiß davon«, erklärte Zelda. »Habe ich es dir gegenüber nicht erwähnt?« »Doch.« Ich war überrascht. »Aber ich dachte, du alberst nur herum. Also, wie? Was? Wo?« Sie lachte. »Eine Frage zur Zeit, okay? Zunächst mal, ja, es gibt ein Heilmittel, wenn du es so nennen willst. Es ist sehr schwer zu beschaffen, und es weiß kaum jemand davon. Es ist eine Art geheimes Forschungsprojekt.« »Bist du wirklich sicher?«, erkundigte sich George. »Wie kommt es, dass ich noch nie davon gehört habe?« »Ich nehme an, du umgibst dich nicht mit den richtigen Leuten, Geòrgie. Wenn man schon so lange lebt wie ich, lernt man eine Menge Leute kennen. Dann nimm noch meinen derzeitigen Job als unterbezahlte und
überarbeitete Barfrau hinzu; da will der eine den anderen mit seinen Geschichten ausstechen.« Ich war fassungslos. »Hast du jemals versucht, mehr darüber herauszufinden?« Sie zuckte mit den Schultern. »Wieso sollte ich? Ich habe kein Interesse, geheilt zu werden. Ich bin gern ein Vampir. Es macht das Leben so viel interessanter.« »Was ist mit dir?«, fragte ich George. »Würdest du gern geheilt werden?« Er dachte einen Moment darüber nach. »Vielleicht früher einmal. Jetzt nicht mehr. Ich meine, he, sieh mich an! Wäre 300 ich kein Vampir, wäre ich jetzt in meinen Achtzigern, eingesperrt in einem Altersheim, wo ich um eine saubere Bettpfanne betteln würde. Außerdem dürfte es kaum besonders lustig sein, faltige, schlaffe Haut zu bräunen, oder?« Zelda lehnte sich gegen den Tresen. »Willst du sagen, dass du nach einem Heilmittel suchst?« »Vielleicht.« Ich runzelte die Stirn. »Die Vorstellung war himmlisch, bevor ich erfuhr, dass es tatsächlich ein Heilmittel gibt. Aber jetzt bin ich nicht mehr sicher, was ich davon halten soll.« »Es hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass du herausgefunden hast, dass Thierry verheiratet ist, oder?« »Nein«, beteuerte ich hastig. »Ich weiß nur, dass früher nie jemand versucht hat, mich umzubringen oder mich ein Monster nannte. Ich konnte mich im Spiegel sehen,
meine Zähne waren normal, nicht so spitz und scharf. Mein Leben war effektiv unkomplizierter, so viel ist sicher.« »Das Leben macht keinen Spaß ohne Komplikationen«, sagte Zelda. »Das hängt wohl mit deiner Definition von kompliziert zusammen.« Ein breitschultriger, blasser Mann trat zu George und schlug ihm derb auf die Schulter. »Wir warten schon ziemlich lange auf unsere Drinks. Willst du kein Trinkgeld oder was?« George schnappte sich das Tablett mit den Drinks und drückte es dem Mann in die Hand, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Hier, bitte. Behalten Sie Ihr Trinkgeld.« Der Vampir brummte etwas von miesem Service, trug aber brav das Tablett an seinen Tisch, wobei er sein Bestes gab, nichts zu verschütten. 301 »Siehst du, Sarah, Honey?« George schlang einen Arm um meine Schulter. »Die Dinge sind nur so kompliziert, wie du ihnen erlaubst zu sein.« »Weißt du was? Ich glaube, du hast recht. Ich mache viel zu viel Aufhebens davon. Ich werde mich jetzt um gar nichts mehr kümmern. Und wenn das nächste Mal ein großes, selbstgefälliges Arschloch mit meinen Gefühlen spielt, werde ich mit seinem Hintern den Boden aufwischen...« Ich verlor den Faden. Zelda und George sahen ausdruckslos an mir vorbei. Sie versuchten tatsächlich, ganz woanders hin zu sehen.
Ich drehte mich langsam um. Thierry stand direkt hinter mir, den Kopf zur Seite geneigt, mit neutraler Miene obwohl ich hätte schwören können, dass eine Spur Belustigung in seinen silbergrauen Augen funkelte. »Du bist zurückgekommen«, sagte er ausdruckslos, als hätte er nicht jedes einzelne Wort meiner Tirade mitbekommen. »Wie eine Plage.« Dann runzelte ich die Stirn. Woher stammte dieser Ausdruck überhaupt? Ich war nicht mal sicher, ob ich ihn richtig benutzt hatte. »Wolltest du mich sehen?« »Nicht speziell.« Ich versuchte, meine Fassung wiederzuerlangen. He, sie kam und ging. In diesen Tagen ging sie hauptsächlich. »Aber ich muss mit dir reden.« »Dann hättest du vielleicht das Telefon benutzen sollen.« Ich seufzte. »Hinterher ist man immer klüger. Also, ich will nicht wie Joan Rivers klingen oder so was, aber können wir reden?« »Natürlich.« Er deutete auf seine Nische in der Ecke. Ich schüttelte den Kopf. »In deinem Büro? Ich würde ein intimeres Umfeld bevorzugen.« Er hob eine Braue, und ich re 302 gistrierte finster seinen amüsierten Gesichtsausdruck. »Nicht diese Art von Intimität.« »Leider ist mein Büro gerade von einer anderen intimen Angelegenheit besetzt.« So schlecht war die Nische vielleicht auch nicht. Ich wollte nicht länger über Locations diskutieren. Nur mit
Thierry zu reden machte mich bereits nervös, und zwar nicht auf eine angenehme Art. Ich wollte das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen. Also glitt ich in die Nische, und George brachte uns ein paar Drinks. Er zwinkerte mir zu, bevor er uns allein ließ. »Also«, sagte Thierry, »warum wolltest du mich sprechen ... intim?« War es falsch, dass ich ihn küssen wollte, auch nach dem, was alles passiert war? Sein schönes Gesicht mit Küssen bedecken wollte, mich über seinen Hals und bis zum Saum seines ach so schwarzen Seidenhemdes vorküssen wollte. Ihm die dunklen Haarsträhnen hinters Ohr schieben und ihm zuflüstern wollte, was ich für ihn empfand, gerade so laut, dass nur er es hören konnte? Ja, es war falsch. Es war total falsch. »Es ist wegen der Jäger«, sagte ich schließlich. »Was ist mit den Jägern?« Er schien überrascht, so als hätte er erwartet, dass ich ein gänzlich anderes Thema anschneiden würde. Über welches andere Thema sollte ich mit Thierry de Bennicoeur schon sprechen müssen? Hm, lass mich mal nachdenken... »Sie haben etwas vor. Etwas Großes. So groß, dass sie überzeugt sind, selbst den letzten Vampir, der zurzeit in der Stadt sein Unwesen treibt, umbringen zu können.« Er verzog die Lippen. »Ja, das weiß ich bereits.« 303 »Tatsächlich?« Natürlich wusste er es. Er war der Meister. Wahrscheinlich wusste er Dinge einfach durch Osmose
oder durch diese Vampir-Telepathie, auf die ich kürzlich vergeblich gesetzt hatte. »War das alles, Sarah?« »Nein, das war nicht alles. Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass es einen Verräter unter uns Vampiren gibt, der die Jäger mit Informationen versorgt.« Er trank einen Schluck von seinem Preiselbeersaft und stellte das Glas lautlos auf den Tisch zurück. »Und woher beziehst du deine zuverlässigen Informationen, wenn ich fragen darf?« »Glaubst du mir nicht?« »Es ist nicht einfach eine Frage von glauben oder nicht glauben. Es ist eine schwerwiegende Anschuldigung zu behaupten, es wäre ein Verräter in unserer Mitte. Ich möchte nur wissen, wer solche Dinge erzählt und welche Beweise diese Person hat.« Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, zu lügen oder mir eine abenteuerliche Geschichte auszudenken, wo ich dieses Gerücht aufgeschnappt hatte. Aber ich tat es nicht. »Quinn hat es mir gesagt.« Thierry lehnte sich gegen die Wand der Nische. »Quinn.« »Genau.« »Der Jäger, der jetzt ein Vampir ist.« »Danke für die Zusammenfassung. Ja, genau der.« »Wann hat er es dir erzählt?« Diesmal nahm ich einen Schluck von meinem Drink, bevor ich antwortete. George war so nett, mir einen Neuling-Spezial zu bringen, mit Betonung auf »spezial«.
Mittlerweile war ich wohl bereit für die erwachsenen Vampirdrinks. 305 »Heute Abend«, antwortete ich nach einem Moment. »Heute Abend.« »Du musst nicht alles wiederholen, was ich sage.« »Es hilft mir, dich besser zu verstehen. Und als du Quinn heute Abend gesehen hast, wo warst du da? Hat er dich gesucht, um dir diese fragwürdige Information zu geben?« »Nein«, ich bemühte mich, mein Gesicht so ausdruckslos wie seins aussehen zu lassen. »Wir hatten eine Verabredung.« Seine Miene verriet nichts von seinen Gedanken, was ich auch nicht anders erwartet hatte. Hätte er etwa in einem Anfall von Eifersucht von seinem Stuhl hochhüpfen sollen? Das passte wirklich nicht zu ihm. »Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ihr zwei miteinander ausgeht.« Ich zuckte die Schultern. »Du weißt doch, was man über Gegensätze sagt, die sich anziehen.« »Ja, das stimmt. Also, ist es etwas Ernstes zwischen euch beiden? Diese Beziehung zwischen Vampir und ehemaligem Vampirjäger?« »Also, wir planen nicht zu heiraten oder so was.« Ich betonte das Wort heiraten sehr nachdrücklich. »Und du vertraust diesem... Quinn?« Gute Frage. Vertraute ich ihm? Nicht besonders. Glaubte ich, dass er mich anlog, als er mir von den Jägerplänen
erzählt hatte? Nein, es war die Wahrheit. So weit vertraute ich ihm. »Ich glaube ihm.« »Ich habe nicht gefragt, ob du ihm glaubst. Ich will wissen, ob du ihm vertraust.« Ich kniff die Augen zusammen. »Offen gestanden, Thierry, habe ich ein bisschen Schwierigkeiten, dieser Tage irgend 306 jemandem zu vertrauen. Selbst wenn du mich für verrückt hältst.« »Und du hast beschlossen, dass du mir diese Neuigkeit mitteilen musst? Wieso kommst du damit zu mir?« Ich zuckte wieder mit den Schultern. »Du scheinst der Mann zu sein, dem sich alle anvertrauen. Sie nennen dich Meister, Himmelherrgott. Also wirklich, in welchem Jahrhundert leben wir eigentlich? Trotzdem, ich war der Meinung, dass ich es dir erzählen müsste. Also gut, betrachte dich als informiert. Mein Job ist getan. Ich will nichts damit zu tun haben. Ehrlich, wenn ich meine Mexikoreise früher antreten kann, werde ich hier weg sein, bevor überhaupt irgendetwas passiert.« »Du willst das Land verlassen?« »Die Tickets haben wir schon vor drei Monaten gekauft. Amy und ich, das ist meine beste Freundin, falls dich das interessiert, haben das schon seit Jahren geplant. Ich hatte überlegt, die Reise zu stornieren, aber jetzt denke ich, dass es die beste Idee überhaupt ist, die Stadt zu verlassen.«
»Vielleicht solltest du Quinn einladen, dich zu begleiten.« Ich hob eine Augenbraue. »Du scheinst von dieser kleinen Information ziemlich besessen zu sein, oder? Dass Quinn und ich zusammen sind, meine ich. Kannst du mir das verübeln? Er ist unglaublich scharf. Und gefährlich. Und sexy. Welches Mädchen könnte da widerstehen?« Sein Mundwinkel verzog sich zu einem Anflug eines schwachen Lächelns. »Meine Güte, das klingt nach einem echten Fang.« »Das ist er«, sagte ich. »Und he, das Beste ist, er ist weder suizidgefährdet noch verheiratet.« Er presste die Zähne zusammen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie George auf uns zukam. 307 »Sarah, tut mir leid, wenn ich störe, aber da ist ein Anruf für dich.« »Wirklich? Ich meine natürlich: Ich komme sofort. Danke, George.« Ich wandte mich wieder zu Thierry um. »Also, ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte, und noch etwas mehr. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe einen wichtigen Telefonanruf.« Ich drehte mich um. »Sarah«, sagte Thierry, und ich wandte mich wieder um. »Was?« Unsere Blicke trafen sich, und ich merkte, wie mein Widerstand schmolz. Er sah mich eine ganze Weile an. »Nichts. Geh telefonieren.«
Ich lief blindlings zur Bar, während ich mich bemühte, den Kloß in meinem Hals kleinzukriegen. Der Telefonhörer lag neben der Gabel. Ich nahm ihn hoch und hielt ihn an mein Ohr. »Hallo?« Meine Stimme klang merkwürdig. »Sarah?«, sagte Amy. »Bist du das? Deine Stimme klingt ein bisschen merkwürdig.« Wir waren immer auf derselben Wellenlänge, Amy und ich. Also, fast immer. »Ja, ich bin's. Wo bist du?« »Ich bin gegangen. Tut mir leid, dass ich dir nicht vorher Bescheid gesagt habe.« Ich seufzte. »Wegen Barry, stimmt's? Er ist so ein mieser, kleiner Scheißkerl. Hat er dich beleidigt?« »Nein, nichts dergleichen.« Sie kicherte. »Er ist jetzt gerade bei mir.« »Du bist mit Barry unterwegs? Dem kleinen Freak vom Eingang?« 308 »Sei nicht so gemein.« Ihre Stimme war streng. »Ich bin so froh, dass du uns bekannt gemacht hast.« »Ich hab euch nicht bekannt gemacht. Gib mir bloß nicht die Schuld daran.« »Dir die Schuld geben? Ich wollte mich bedanken! Ich dachte ja, Peter wäre wundervoll, aber Barry ist geradezu spektakulär.« »Spektakulär? Sprechen wir von demselben Typen? Der Napoleon Bonaparte von Toronto? Hat er dich unter Drogen gesetzt oder so etwas?«
»Sarah!«, schimpfte sie. »Du musst wirklich lernen, hinter das Äußere zu sehen. Du bist einfach zu oberflächlich.« »Ja, das bin ich. Die oberflächliche Sarah.« »Weißt du, ich habe nie an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber, Sarah, er hat so wunderschöne Augen. Ich könnte sterben.« »Mir wird gleich schlecht. Wo bist du?« »Mach dir darum keine Sorgen. Ich hab Spaß, und ich wollte nur nicht, dass du dir Sorgen um mich machst.« Ich hatte weder genug Zeit noch Energie, um mir Sorgen um Amy zu machen. Ich hatte so viele eigene Probleme, dass ich überlegte, sie alphabetisch zu ordnen. »Tust du mir einen Gefallen?« »Sicher, jeden.« »Kannst du Barry etwas von mir ausrichten?« »Mmmh-hmm. Lass mich einen Stift suchen.« »Dafür brauchst du keinen Stift. Sag ihm einfach Folgendes: Wenn er dir irgendwie wehtut, werde ich ihn umbringen, ihn lackieren und ihn in den Vorgarten meiner Eltern stellen. Er gibt sicher einen fantastischen Gartenzwerg ab.« »Das werde ich ihm nicht sagen! Du bist schrecklich.« 309 »Ich liebe dich auch. Amüsier dich.« »Ich ruf dich an. Vielleicht können wir uns ja noch einmal zu einem Rendezvous zu viert treffen.« Ich hielt inne. »Ich glaube, ich würde mich eher auf ein Nagelbett aus Essstäbchen werfen.«
»Oh, gute Idee. Dann essen wir das nächste Mal chinesisch.« Ich legte den Hörer auf. Der Kloß in meinem Hals war mir in den Magen gerutscht. Vielleicht sollte ich überdenken, wen ich zu meiner besten Freundin wählte. Jeder, der auf romantische Art an Barry interessiert war, musste ernste mentale Probleme haben. Und nicht nur deshalb, weil er klein war. Er war einfach so... so Barry. Das war ein ernsthafter Ekelfaktor, ungeachtet der Körpergröße. Ich beschloss, nach Hause zu gehen. Es gab keinen Grund, länger im Club herumzuhängen. Ich hatte alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Wenn ich es genau bedachte, sogar noch erheblich mehr als ursprünglich geplant. Nicht, dass irgendetwas davon eine Rolle spielte. Aus dem Augenwinkel sah ich langes, gewelltes, dunkles Haar. Véronique drehte ihre Runden, blieb gelegentlich an einem Tisch stehen und plauderte mit den Gästen. Ich wollte nicht, dass sie mich sah. Sie musste gerade erst aufgetaucht sein, denn ich hatte sie bis jetzt nicht wahrgenommen. Und sie war jemand, den man nur sehr schwer übersehen konnte. Ich flüchtete auf die andere Seite der Bar und trat in den Flur, der vor Thierrys Büro endete. Sie hatte mich nicht entdeckt, und ich seufzte erleichtert auf. Vielleicht konnte ich unauffällig durch die Hintertür verschwinden. Es gab keinen Grund, warum ich denselben Weg hinaus nehmen musste, den ich gekommen war. 310
Genau in dem Moment hörte ich einen lauten Krach. Ich hätte ihn über der Musik fast nicht gehört. Die Band hatte nicht aufgehört zu spielen, seit ich hier war. Gerade jetzt spielten sie eine Coverversion des Rolling Stones Songs »Sym-pathy for the Devil« - nur eben mit einer Sängerin und in einer jazzigen Version. Ich fragte mich, ob die Bandmitglieder ebenfalls Vampire waren. Das musste so sein. Thierry hätte sie nie engagiert, wenn sie keine Vampire wären. Das Krachen kam aus Thierrys Büro. Ich schlich dorthin und bemühte mich, mehr zu hören. Was hatte er noch gleich gesagt, was dort vor sich ging? Eine gewissermaßen intime Angelegenheit? Ich riss erstaunt die Augen auf, als jemand unverständliche Worte schrie und dann erneut das Krachen ertönte. Ich tastete zum Türknauf und drehte ihn. Dann legte ich die Hand flach gegen die Tür, um sie vorsichtig aufzudrücken. Was sagt man noch über die Neugier, welche die Katze tötet? Ich hoffte inständig, dass diese Neugier keinen Holzpflock in der Hand hielt. 19 Einen der Männer erkannte ich sofort. Es war Dan, der Anwalt, der mich vor Quinn gerettet und ihn dann in einen Vampir verwandelt hatte. Es waren noch drei weitere Männer im Raum. Zwei von ihnen hatte ich noch nie zuvor gesehen, aber als sie zur Seite traten, erkannte ich den dritten. Es war Melanies neuer Freund. Ich glaube, sein Name war Eugene, der Vampirjägerlehrling.
312 Er war in der Mitte des Raumes an einen Stuhl gefesselt und starrte mich mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen an. Seine Brille war kaputt und hing an einem Ohr herunter. Als ich die Tür öffnete, drehte sich Dan zu mir um, sein Gesicht hellte sich auf. »Sarah.« Seine Stimme klang warm und freundlich. »Schön, dich zu sehen. Leute, das ist Sarah.« »Hi, Sarah«, sagten die beiden anderen im Chor. »Was zum Teufel ist hier los?«, brachte ich heraus. »Ich dachte, die Tür wäre zu«, sagte Dan. Er schien deshalb aber nicht allzu besorgt zu sein. »Ja«, sagte einer seiner Freunde. »Dachte ich auch. Komisch, ne?« Ich merkte, wie ich vor Wut rot anlief. »Weiß Thierry, was ihr hier unten treibt? Vielleicht sollte ich ihn holen.« »Ja, mach das, Schätzchen«, sagte einer der anderen Typen. »Es ist nur so, dass der Meister das hier selbst angeordnet hat. Deshalb sind wir in seinem Büro.« Er drehte sich zu den anderen. »Sie ist niedlich, aber irgendwie dumm. Genau so, wie ich sie mag.« Ich bekam große Augen. »Er hat das hier angeordnet?« Ich trat einen Schritt zurück und fiel über jemand hinter mir. Ich stolperte herum. »Wieso bist du noch hier?« Thierrys Stimme klang ganz ruhig. »Du... du hast ihnen gesagt, dass sie das tun sollen? Wie kannst du nur?«
»Du solltest das nicht sehen.« »Binde ihn sofort los«, sagte ich ruhig. »Und lass ihn gehen.« »Das kann ich nicht.« »Kannst du nicht oder willst du nicht?« 313 »Also gut, ich will es nicht. Er ist ein Jäger. Wir müssen Informationen über ihren Plan aus ihm herausbekommen.« »Aus dem7.« Ich prustete. »Du kennst ihn?« Thierry hob eine dunkle Augenbraue. »Ach ja, natürlich, wahrscheinlich hattest du mit ihm auch eine Verabredung.« Ich ignorierte das. »Eugene gehört nicht zu den Jägern. Er ist nur ein Möchtegernjäger. Er kann keiner Fliege was zuleide tun, schon gar nicht einem Vampir. Er ist völlig harmlos.« »Das bin ich. Ich bin harmlos«, jaulte Eugene, verstummte jedoch abrupt, als Dan seine Fingergelenke für jeden deutlich hörbar knacken ließ. Thierry richtete seinen Blick wieder auf mich. »Das heißt nicht, dass er nicht irgendetwas wissen könnte, das uns weiterhilft.« »Hat er euch bis jetzt irgendetwas gesagt?« Thierry sah zu Dan hinüber. Dan schüttelte den Kopf. »Nichts Brauchbares.« »Das kommt daher, weil er nichts weiß«, sagte ich. »Hört auf mit dem Blödsinn und lasst ihn gehen. Bitte.« Thierry überlegte einen Moment, dann entschied er: »Nein.«
»Warum nicht? Nenn mir einen vernünftigen Grund, warum du ihn nicht freilassen willst, obwohl du verdammt genau weißt, dass er euch nichts sagen wird, was ihr nicht ohnehin schon wisst. Alles, was ihr erreicht ist, dass ihr ihn halb zu Tode erschreckt.« »Ich muss meine Entscheidungen nicht vor dir rechtfertigen, Sarah. Aber gut. Ich werde ihn nicht freilassen, weil ich nicht will, dass noch ein Mensch da draußen rumläuft, der weiß, wo sich dieser Club befindet.« 314 Ich runzelte meine Stirn so sehr, dass es wehtat. »Wenn ihr ihn nicht freilasst, was bedeutet das dann? Ihr könnt ihn doch nicht für ewig hier festhalten.« »Wir werden tun, was notwendig ist, um unsere Art zu schützen.« Mir fröstelte bei diesen Worten. »O mein Gott. Ihr wollt ihn doch nicht etwa umbringen? Dann seid ihr kein Stück besser als die Jäger. Ich werde nicht danebenstehen und das zulassen.« »Dann solltest du besser gehen.« Thierry drehte sich von mir weg. Ich schaffte es nicht, Eugene noch einmal anzusehen. Ich wusste, dass Thierrys Entscheidung endgültig war. Ich verschwendete nur meinen Atem, wenn ich weiter mit ihm stritt, und stand am Ende wie eine weinerliche Göre da, die sich nicht für das Schicksal »unserer Art« interessierte. Was auch immer das heißen mochte. Ich verließ das Büro und schlug die Tür hinter mir zu, wobei ich mir wünschte, dass Thierrys Kopf
dazwischengesteckt hätte. Ich war so wütend, dass ich nicht klar denken konnte. Ich sammelte mich eine Minute, bevor ich wieder in den Club zurück ging und mich durch die Gäste zur Bar drängte. Zelda lächelte mich an. »Ich dachte, du wärst schon gegangen.« »Weißt du, was in Thierrys Büro los ist?« »Nein, was?« Ich musterte sie eine Sekunde. »Vergiss es.« »Alles okay mit dir?« Ich schüttelte den Kopf, ich war fassungslos und betroffen von dem, was ich gerade gesehen hatte. »Nein. Seit fast einer Woche ist nichts okay. Ich hasse es. Ich hasse das alles. Hör 315 zu« - Ich sah hoch und suchte ihren Blick - »wegen dieser Heilsache, über die wir vorhin gesprochen haben, hast du da irgendwelche Informationen für mich? Vielleicht jemand, mit dem ich darüber sprechen könnte?« Sie schob den Margarita weg, den sie gerade mixte. »Meinst du das ernst?« »Todernst.« Sie schien einen Moment darüber nachzudenken und nahm dann eine Serviette mit dem Midnight Eclipse Logo. »Hast du einen Stift?« Ich öffnete meine kleine Tasche und wühlte zwischen den zwei 25-Cent-Stücken und der Scherbe, die sich darin befanden. »Ja, hier.« Ich gab ihr einen. Sie kritzelte einen Namen und eine Nummer auf. »Als ich das letzte Mal davon gehört habe, musste man Kontakt
zu diesem Typen aufnehmen. Ich weiß nicht, ob er noch da ist, aber es ist ein Anfang.« Sie schob mir die Serviette quer über den Tresen zu. Ich nahm sie, faltete sie und steckte sie in meine Tasche. »Danke.« Sie fasste meine Hand und drückte sie. »Es ist nicht so schlimm. Ich meine, ein Vampir zu sein. Du hast dir ja noch gar keine richtige Chance gegeben.« »Ich möchte lediglich über eine andere Option verfügen. Danke, Zelda. Du bist eine echte Freundin.« Ich stand auf und bahnte mir meinen Weg zum Ausgang. Ich wollte nach Hause gehen und, falls ich heute Nacht überhaupt Schlaf bekommen würde, wollte ich darüber schlafen. Ich wusste, dass ich, sobald ich meine Augen schloss, Eugene sehen würde, wie er wie eine hilflose, alberne Puppe an den Stuhl gefesselt war. 316 »Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte eine gelassene, beruhigende Stimme. Durch meine tränenverschleierten Augen sah ich Veronique, die an einem freien Tisch in der Nähe lehnte. Ihr langes Haar war über die eine Schulter drapiert wie ein dunkler Wasserfall. »Es ist wirklich bedauerlich, was Männer im Namen des Krieges so alles tun.« »Das kannst du laut sagen.« »Ich habe viele Kriege miterlebt, und es ist immer dasselbe. Es gibt diejenigen, die kämpfen, und die anderen, die verletzt werden. Am Ende verlieren beide Seiten, und wenn es nur ein Teil ihrer Seele ist.«
Ich blinzelte sie an. »Ja, wie du meinst. Ich gehe jetzt jedenfalls nach Hause.« »Arbeitest du heute Abend nicht?« »Ich bin keine Kellnerin.« »Ich dachte, du wärst eine der Angestellten.« »Da hast du falsch gedacht. Ich hab neulich abends ausgeholfen, aber das war auch schon alles.« »Als du vorhin mit Thierry gesprochen hast... ihr seid Freunde, ja?« »Freunde!«, schnaubte ich verächtlich. »Ja, wir sind Freunde. Zumindest dachte ich das, bevor ich diese kleine Vorstellung männlicher Angeberei in seinem Büro gesehen habe.« »Falls es dich tröstet, Thierry macht die Drecksarbeit selten selbst - wenn überhaupt.« »Das ist kein großer Trost, Vee. Trotzdem danke.« Sie kniff die Augen zusammen. »Wie hast du mich gerade genannt?« Oh. Hoppla. »Vee. Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor.« »Nein.« Sie lächelte. »Es gefällt mir. Vee. Ich kann mich 317 nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen Kosenamen hatte. Wie soll ich dich nennen?« »Hm, einfach Sarah wäre schön. Ich bin die einfache, ganz gewöhnliche Sarah.« Sie schüttelte den Kopf. »An dir ist nichts gewöhnlich, meine Liebe. Aber ich verstehe, dass dich das, was du gerade gesehen hast, aufwühlt. Darf ich dich zu einem
Drink einladen und dir helfen, dich ein bisschen zu entspannen?« »Das müsste schon ein sehr großer Drink sein. Aber ich möchte nicht mehr länger bleiben, also nein, danke.« »Ich meine nicht hier.« Sie ließ ihren Blick kurz über die versammelten Vampire gleiten. »Wir wär's, wenn wir in einen anderen Club gingen. Einen menschlichen vielleicht.« »Du lebst gern am Limit, oder?« »Ich lebe einfach, meine Liebe.« Ich musste überlegen. Wollte ich wirklich mit Thierrys hinreißender Frau einen trinken gehen? Eigentlich nicht. »Einverstanden«, sagte ich. »Gehen wir.« Andererseits, wer war ich schon, dass ich es mir leisten konnte, einen Drink auszuschlagen? Wir verließen den Club durch das Sonnenstudio. Veronique deutete auf Clancy's Neonschild auf der anderen Straßenseite. »Wie wäre es damit?« Ich beäugte es argwöhnisch. »Das ist der örtliche Treffpunkt der Vampirjäger. Eher keine besonders gute Wahl.« Sie überquerte bereits die Straße, und ich musste rennen, um sie einzuholen. Sie hatte wirklich lange Beine. Ich packte ihren Arm. »Welchen Wortteil von Treffpunkt der Vampirjäger hast du nicht verstanden?« »Wir nehmen einfach nur einen Drink.« Sie schenkte mir ein 318
strahlendes Lächeln. »Habe ich Kanada wirklich schon so lange nicht mehr besucht? Ich dachte, es wäre ein freies Land?« Ich hatte mir vorgenommen, für die nächsten, sagen wir, tausend Jahre oder so keinen Fuß mehr ins Clancy's zu setzen, nach dem, was das letzte Mal dort passiert war. Aber Véronique marschierte auf ihren Zehnzentimeterabsätzen über die Straße, als würde ihr nicht nur die Straße selbst, sondern dazu jedes Geschäft gehören, das sich auf ihr befand. Als ich meine Schritte beschleunigte, um mit ihr mitzuhalten, fühlte ich mich plötzlich in die Rolle der kleineren, nicht ganz so attraktiven Freundin gedrängt. Vielleicht hätte ich einfach sagen sollen: »He, da kriegen mich keine zehn Pferde rein.« Hätte ich, habe ich aber nicht. So viel zum Thema: >Ich kann für mich selbst sprechend Véronique zog die Eingangstür auf und trat in die volle Bar, ohne eine Sekunde innezuhalten. »Ah, ja.« Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem strahlenden Lächeln, als sie ihren Blick durch den verrauchten, von Vampirjägern überfüllten Pub gleiten ließ. »Das erinnert mich an eine Kneipe in Deutschland, in der ich früher öfter war. Ich bin seit über fünfzig Jahren nicht mehr dort gewesen.« »Okay, Vee«, sagte ich, als sich ein riesiger Mann an mir vorbeischob. Er trug eine Lederjacke, auf dessen Rücken mit Nieten KILL geschrieben stand. »Wenn du schon
darauf bestehst, hierzubleiben, solltest du wenigstens deinen Sampir-vlang ablegen.« Sie drehte sich zu mir herum. »Soll das eine Geheimsprache sein?« »Yup.« »Du bist wirklich sehr charmant.« 320 Stimmt, das war ich. Nur würden uns Komplimente nicht retten, wenn sie auf diese Weise weiterredete. Ich wollte keine unerwünschte Aufmerksamkeit. Ich hatte für heute Abend genug Aufregung erlebt. Ein Drink, dann war ich weg. Ich musterte unauffällig die gefährlich aussehenden Gäste. Aber ich erkannte niemanden, der in letzter Zeit versucht hatte, mich umzubringen. Das war wenigstens ein guter Anfang. Ich setzte mich auf genau denselben Barhocker, auf dem ich gesessen hatte, als ich Quinn traf. Es schien Jahre her zu sein. Der Barkeeper sah zu mir herüber. »Tequila«, sagte ich kleinlaut. »Einen großen bitte.« Véronique setzte sich neben mich. »Ich nehme einen Mimosa. « »Was ist das denn?«, erkundigte sich der Barkeeper. »Was ein Mimosa ist? Champagner mit Orangensaft, natürlich.« »Champagner ist leider alle, Euer Majestät.« Er unterdrückte ein Lachen. »Oder sieht das hier aus wie das Ritz, hm?« »Selbstverständlich nicht«, sagte sie. »Das nächste RitzCarlton befindet sich in Montreal.«
»Geben Sie ihr einfach auch einen Tequila«, bat ich ihn. Je länger sie für ihre Bestellung brauchte, desto länger würden wir dort sein. Véronique widersprach nicht, sondern lächelte mich stattdessen entzückend an. Es ging mir wirklich gegen den Strich, dass sie selbst in diesem Licht, das viel greller als das gedämpfte Licht im Midnight Eclipse war, noch hinreißend aussah. Ich hatte gehofft, immer mehr Makel an ihr zu entdecken, je länger ich sie anstarrte. Vielleicht ein einsames Gesichtshaar oder ein frisch sprie 321 ßender Pickel. Ich wäre schon froh über eine glänzende Stirn gewesen, aber ich fand nichts, keinen einzigen verdammten Fehler. Sie sah aus wie ein Covergirl, und zwar, nachdem man das Foto retouchiert hatte. Schlichtmakellos. Eigentlich war das einzig Negative, das ich an ihr entdecken konnte, dass sie mit Thierry verheiratet war. Dafür jedoch war das ein ziemlich großer Minuspunkt. »Also, Sarah, Liebes«, sagte sie, nachdem es ihr gelungen war, anmutig einen Schluck Tequila aus dem Schnapsglas zu trinken. »Warum erzählst du mir nicht alles über dich?« Ich stürzte meinen Drink auf eindeutig undamenhafte Weise hinunter und bestellte gleich noch einen. Alkohol wirkte bei mir nicht mehr? Das wollten wir doch mal sehen! »Was willst du wissen?«
»Hm.« Sie dachte einen Moment nach. »Wie kam es dazu, dass du dich mit meinem Thierry angefreundet hast?« Bei »meinem Thierry« verzog ich das Gesicht. »Er ist so etwas wie mein Adoptivschöpfer. Er hat mir geholfen, als ich gerade zum Vampir geworden war...« Ich sah mich hastig um. Das sollte ich wohl besser etwas anders formulieren. »Ich meine, zu einer ChefVorstandsassistentin der Nacht. Er hat mich vor den... den bösen Leuten der Personalabteilung gerettet.« »Er hat dich gerettet?« Glücklicherweise schien sie meinem Gedankengang folgen zu können, denn sie nickte amüsiert. »Interessant. Was ist mit deinem eigentlichen Schöpfer passiert?« »Er wurde in die Firmenzentrale im Himmel versetzt, wenn du verstehst, was ich meine.« »Oh, Liebes.« Sie schüttelte ihren Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Wie furchtbar für dich. Und wie lange ist das her?« 322 »Morgen Abend ist es eine Woche her.« Das überraschte sie. »Wirklich? Ich hätte dich viel älter geschätzt. Du strahlst eine innere Energie aus, die man normalerweise nur bei älteren... ChefVorstandsassistenten findet.« »Ja, so etwas Ähnliches hat Zelda auch gesagt. Sie meinte, es käme daher, dass ich Thierrys Blu... ahm... Kaffee trinken würde. Thierry kocht wirklich einen ziemlich
starken Kaffee. Er wirkt eher wie Espresso, wenn du mich fragst.« Sie nickte. »Ja natürlich, das wird der Grund sein. Ja, sein... Kaffee muss inzwischen ziemlich stark sein.« Ich seufzte. »Ich halte diese Büroanalogie nicht mehr aus. Können wir nicht vielleicht über etwas anderes reden?« Sie betrachtete mich ein paar Sekunden. »Mir wird langsam klar, dass hinter deiner Freundschaft mit meinem Mann mehr steckt, als ich ursprünglich angenommen habe.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, denk das nicht, denn es trifft schlichtweg nicht zu. Wir sind nur Freunde, und nach dem heutigen Abend bin ich nicht einmal sicher, ob ich selbst das nur sein möchte.« »Wie meinst du das?« »Tut mir leid, wenn das für jemand wie dich extrem naiv klingt, aber was ich heute Abend gesehen habe, hat mir überhaupt nicht gefallen. Dass Thierry zu so etwas fähig ist... ist einfach schrecklich. Auch wenn er glaubt, es aus den richtigen Gründen zu tun, werde ich das nie verstehen.« »Das stimmt.« Sie trank einen weiteren winzigen Tropfen von ihrem Drink. Bei diesen Tempo würden wir die ganze Nacht hier rumhocken. »Eigentlich entspricht es mehr seiner Art, sich zu verstecken, wenn Gefahr in Verzug ist, und erst wieder herauszukommen, wenn sie gebannt ist.« »Wie bitte?« 323
Sie lächelte. »Ich will dir etwas sagen, meine Liebe, du musst sehr tapfer sein, wenn du nach all dem, was du in der letzten Woche durchgemacht hast, am Ende nicht einmal sonderlich mitgenommen aussiehst. Das ist wirklich bewundernswert. Aber es gibt eben auch Leute, die lieber den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass ihnen nichts Schlimmes passiert.« Ich blinzelte verwirrt. »Willst du mir sagen, dass Thierry sich wie ein Strauß benimmt?« Sie musste sich irren. Sprachen wir über zwei verschiedene Thierrys? Vielleicht hatte ich ja diesen Teil des Gesprächs verpasst, hatte einen Blackout gehabt. So etwas kommt vor. »Früher einmal war er so, ja. Ach, ich könnte dir Geschichten erzählen.« Ich bestellte noch einen Tequila. »Schieß los!« »Nein, nein. Ich sollte nicht weitersprechen. Ich möchte seine Fassade als tapferen und mächtigen Anführer der... Chef-Vorstandsassistenten-Gemeinschaft nicht zerstören.« Ich entdeckte eine leere Nische in der Ecke, in der wir einigermaßen ungestört sein würden. Mein Herz hämmerte bei dem Gedanken, etwas über Thierry zu erfahren, das er lieber vor mir geheim gehalten hätte. Véronique folgte mir, als ich mich durch die Phalanx muskulöser, Bier trinkender Männer - und einigen wenigen muskulösen, Bier trinkenden Frauen - zu dem freien Tisch zwängte.
»Ich habe dir doch neulich Abend erzählt, dass wir uns vor Jahrhunderten, zur Zeit der Pest, in Europa kennengelernt haben, oder?«, sagte sie, nachdem wir uns gesetzt hatten, und warf ihre wunderschönen dunklen Haare nach hinten, sodass es sich perfekt über eine ihrer blassen Schultern drapierte. Ich blickte zu den Billardtischen und verfolgte, wie ein gro 325 ßer, behaarter Mann an einem die weiße Kugel so heftig anstieß, dass sie einige der anderen Kugeln vom Tisch fegte. Ich beugte mich vor, damit ich nicht so laut sprechen musste. »Ja, hast du erwähnt.« »Es waren wundervolle Zeiten in Frankreich, vor der Seuche. Ich war die Tochter von Adeligen, und wir lebten auf einem großen Anwesen.« Sie seufzte. »Wirklich wundervolle Zeiten, das kann ich dir sagen.« »Keine Klosetts«, erwiderte ich. »Wie bitte?« »Keine Klosetts«, wiederholte ich. »Das hätte ich nicht ertragen. Deshalb ist auch Camping nichts für mich. Okay, schon gut. Red weiter, bitte.« »Eines Tages lud meine Familie einen sehr wohlhabenden, sehr gut aussehenden Gentleman ein. Ich habe mich sofort in ihn verliebt.« Ich nickte. »Thierry.« Sie lachte darüber. »Nein, Dummerchen. Ganz und gar nicht Thierry. Sein Name war Marcellus, und er war ein
mächtiger Vampir. Er fand Gefallen an mir und hat mich zu dem gemacht, was du heute vor dir siehst.« Zu einem enervierend perfekten Geschöpf Oh! Hoffentlich hatte ich das nicht laut gesagt. »Uns waren zwanzig wundervolle gemeinsame Jahre beschieden. Ich war sehr, sehr glücklich. Und, möchte ich hinzufügen, er war zudem ein wunderbarer und unersättlicher Liebhaber.« Ich winkte dem Barkeeper, mir einen weiteren Tequila zu bringen. Und zwar pronto! »Leider war mein Glück nicht von Dauer. Eines Tages ist er 326 nicht nach Hause zurückgekehrt. Ich wusste nicht, ob er ermordet worden war, oder ob er das Gefühl hatte, es wäre der richtige Zeitpunkt, weiterzuziehen. Natürlich wollte ich nur zu gern glauben, dass er ermordet worden war.« »Natürlich.« Ich nickte. »Zu dieser Zeit wurde Europa von der Pest heimgesucht. Ohne Marcellus' Geld, das mir meinen gewohnten Lebensstil ermöglicht hatte, saß ich plötzlich auf der Straße. Plötzlich gab es keine Diener mehr, die mir mein Blut in einem Silberbecher servierten. Ich musste mich allein durchschlagen. Aber in diesen Zeiten der Pest lag die Nahrung sozusagen auf der Straße herum.« Der Barkeeper brachte drei Tequila für jede von uns. Das würde ein paar Minuten reichen. »Nachdem er fort war«, fuhr Véronique fort, »machte ich schreckliche Zeiten durch. Die Kranken brachen vor
einem zusammen und verreckten stinkend direkt vor einem. Es war höchst unappetitlich. Und sehr unhygienisch. Kein Wunder, dass sie alle so krank waren. Sie mögen noch so sehr den Ratten die Schuld an der Pestilenz geben, aber den Fußboden zu schrubben hat noch keinem geschadet. Außer vielleicht dem Küchenmädchen.« Ich warf verstohlen einen Blick auf meine Uhr. Es war fast elf. Ich hoffte, dass die Geschichte nicht allzu lang wurde. Ich bin meines Wissens die Einzige, die bei dem Film Titanic eingeschlafen ist. »Also, wie hast du Thierry kennengelernt?«, fragte ich müde. »Dazu komme ich noch, Liebes. Aber zunächst muss ich den Hintergrund der Geschichte ausbreiten. Also, wie gesagt, da war ich, eine schöne, hilflose - und bereits unsterbliche 327 Frau mitten im pestverseuchten Europa. Ich wanderte ziellos umher, auf der Suche nach anderen meiner Art, die mich vielleicht aufnehmen würden. Schließlich kam ich in ein kleines Dorf namens Le Vieux Cochon. Die meisten Bauern waren geflüchtet, aber ihre Häuser waren noch einigermaßen bewohnbar, also entschloss ich mich, eine Weile dortzubleiben. Ich wollte die Seuche abwarten, denn mir war klar, dass ich mir endlos viel Geduld leisten konnte. Ich richtete mich in einem kleinen, aber malerischen Häuschen ein, und hoffte, dass mich niemand störte.«
Sie runzelte die Stirn. »Natürlich wurde ich gestört. Eines Tages klopfte es an der Tür, und als ich öffnete, stand ein ziemlich verrückt wirkender Mann vor der Tür. Er war schmutzig, hatte lange, ungepflegte Haare und schien verzweifelt. Er flehte mich an, ihn einzulassen, denn der Mob sei hinter ihm her. Du musst wissen, dass die Gesunden die Kranken fortjagten. Wenn es ihnen nicht gelang, sie zu vertreiben, brachten sie sie um und verbrannten ihre Leichen auf großen Scheiterhaufen, um eine weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern.« »Dieser Mann«, folgerte ich, »das war Thierry.« »Ja. Gewiss nicht ganz derselbe Mann, den wir heute vor uns sehen, aber was Veränderungen und Evolution angeht, ist ein wahrhaft faszinierender Faktor, n'est-ce pas?« »Du hast ihm also geholfen.« Hinter uns ertönte lauter, grölender Jubel, und ich warf einen Blick über meine Schulter. Ein Mann von der Größe eines kleinen Elefanten hatte gerade die Acht im Eckloch versenkt und das Spiel gewonnen. Der Verlierer zerbrach vor Wut sein Billardqueue über seinem Knie. Gemütlicher Laden. 328 Ich drehte mich wieder zu Véronique herum, die nichts Anstößiges an unserer Umgebung zu finden schien. »Nein, selbstverständlich habe ich ihm nicht geholfen«, sagte sie, als wäre das ein wirklich alberner Vorschlag. »Ich schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Ich wollte nichts mit seinen oder den Problemen von irgendjemand
anderem zu tun haben. Ah, du bist überrascht, wie ich sehe. Glaub mir, du hättest dasselbe getan. Diese Epoche damals war wirklich unvergleichlich; blanke Panik hatte sich breitgemacht. An der heutigen Zeit kann man sie nicht messen.« Sie wartete, ob ich noch etwas zu sagen hätte. Als ich schwieg, fuhr sie fort. »Schließlich hat der Pöbel ihn erwischt. Er hat versucht, sich zu verstecken, aber es hat nichts gefruchtet. Das Amüsante daran war, dass er gar nicht krank war. Damals jedenfalls nicht. Zweifellos war es nur eine Frage der Zeit, wann auch er sich infiziert hätte. Jedenfalls nahm der Mob ihn gefangen und erdolchte ihn.« »Erdolchte ihn? Was heißt das?« »Sie töteten ihn.« Sie klang, als würde sie übers Wetter reden. »Zumindest glaubten sie, dass er tot wäre. Sie warfen seinen blutüberströmten Körper auf einen Haufen von Leichen in der Nähe, und zündeten sie dann an.« »Und dann?« Ich schrie fast. »Sarah, meine Liebe, du musst Geduld lernen. Da du jetzt bist, was du bist, verfügst du über den Luxus, Zeit zu haben. Nutze sie gut, denn manchmal ist Zeit alles, was wir besitzen.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Entschuldige. Bitte erzähl weiter.« »Der Pöbel hatte sich allmählich zerstreut. Sie hatten ge 329 nug Tod erlebt und sahen keinen Grund, zu warten, bis das Feuer die von ihnen so gefürchtete Krankheit
verbrannte. Ich war zu diesem Zeitpunkt sehr hungrig. Ich verließ mein Haus und schlenderte zwischen den Toten umher, hielt hier und da, um ein bisschen zu kosten. Zumeist war es jedoch recht unappetitlich.« Ein kühler Luftzug streifte meinen Hals, als sich die Tür in der Nähe unserer Nische öffnete und eine Gruppe von etwa zehn Männern den bereits überfüllten Pub betrat. Ich versuchte, sie zu ignorieren und mich auf Veroniques Geschichte zu konzentrieren. »Schließlich kam ich auch an diesem Mann vorbei... der mir damals jedoch mehr wie ein Junge erschien. Ich war damals schon fast fünfzig Jahre alt, sah jedoch noch genauso aus wie du mich heute siehst. Ich glaube, ich trug nur meine Haare etwas länger.« Ich gab mir wirklich Mühe, geduldig zu sein. Ganz ehrlich. Die Knöchel meiner Finger traten schon weiß hervor, weil ich unter dem Tisch meine Knie umklammerte, um mich davon abzuhalten, ihr meine Faust in ihr makelloses Gesicht zu hämmern. »Er lebte noch«, sagte sie. »So gerade eben. Er war sehr schwer verletzt und hatte sehr viel Blut verloren. Er war kein großes Mahl für mich. Aber dann öffnete er die Augen und starrte mich von der Spitze des brennenden Haufens von Leichen an. Seine Augen haben einen wirklich außergewöhnlichen Grauton, fast silbern. Besonders, als sie im Schein des Feuers funkeln. Plötzlich war ich sehr angetan von ihm, obwohl er so schmutzig und verschwitzt war. Ich zerrte ihn von dem
Haufen herunter und schleppte ihn zu meinem Haus. Ich wusch 331 ihn so gut ich konnte und dann... schuf ich ihn. Es war dumm von mir, das zu tun, nur weil mir seine Augen gefielen, aber ich war wohl auch ein wenig einsam und sehnte mich nach Gesellschaft. Am nächsten Tag bereute ich meine Handlung, weil ich nicht das geringste Interesse hatte, mich um einen Zögling kümmern zu müssen. Ich brauchte jemand, der sich um mich kümmerte, aber es war nun mal passiert, und ich habe mich nie vor einer Verantwortung gedrückt. Als er am nächsten Tag erwachte, war er ziemlich verwirrt. Er hatte noch nie von meinesgleichen gehört, von dem, was auch er jetzt war, und es dauerte recht lange, bis er es verstand. Er war sehr ängstlich und versteckte sich die meiste Zeit vor mir.« Sie lachte zärtlich. »Er nannte mich einen Teufel. Ach ja, all diese Erinnerungen.« Sie trank noch einen Tropfen von ihrem ersten Tequila, während ich bereits meinen vierten kippte. »Mit der Zeit hat er akzeptiert, was geschehen war, hat seine zweite Chance zu leben sogar zu schätzen gewusst. Wir haben uns einige Jahre in dem Dorf versteckt, bevor wir nach Paris umgezogen sind. Dort trafen wir zum ersten Mal auf Jäger - bis zu dieser Zeit habe ich von ihrer Existenz überhaupt nichts gewusst. Marcellus hatte nicht erwähnt, dass man uns so verachtete, dass es Leute gab, die uns schaden wollten. Wir machten aus unserer
Unsterblichkeit keinen Hehl, waren stolz auf das, was wir waren, und sprachen ganz ungeniert darüber, weil wir andere unserer Art suchten. In Paris haben wir dann geheiratet, und ich glaubte eine Weile, dass ich mit Thierry so glücklich sein könnte, wie ich es mit Marcellus gewesen war.« Ich sah, wie ihre Knöchel weiß wurden, als sie die Tischkante umklammerte. 332 »Bis zu dem Tag, an dem ich ihn wiedersah. Am anderen Ufer der Seine. Er war mit einer anderen Frau zusammen, einem jungen Mädchen von kaum sechzehn Jahren, die noch frische Bissspuren an ihrem Hals hatte. Da wurde mir klar, dass Marcellus mich verlassen hatte, weil« - sie verstummte und nahm zitternd einen Schluck von ihrem Drink - »weil ich zu alt war.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber du sahst doch noch genauso aus. Du hast aufgehört zu altern.« »Männer«, sagte sie nur, als ob das alles erklärte. Na ja, irgendwie tat es das wohl auch. »Thierry und ich besuchten an jenem Abend die Oper. Ich versuchte zu vergessen, dass ich Marcellus nach so vielen Jahren wiedergesehen hatte. Aber er war ebenfalls dort. Er hat unter vier Augen mit mir gesprochen, hat mir unaufhörlich Komplimente gemacht und versucht, meine verletzten Gefühle zu lindern. Vielleicht war ich dumm, ihm zu glauben, aber sein Charme war so überwältigend, dass ich ihm nach dem ersten Blick in seine wunderschönen Augen verzieh.«
Sie machte eine kleine Pause, als die Männer, die den Club vor Kurzem betreten hatten, mit ein paar Drinks in der Hand an unserer Nische vorbei zu den Billardtischen gingen. »Er nahm uns mit zu einem geheimen Club«, fuhr sie dann fort, »in der sich uns eine völlig neue Welt auftat. In dieser Nacht hatte ich nur Augen für Marcellus. Er war charismatisch, bezaubernd, faszinierend. Ich hatte mich nicht mehr so lebendig gefühlt, seit ich ihn vor zehn Jahren das letzte Mal gesehen hatte.« »Was war mit Thierry?« »Er beobachtete mich von der anderen Seite des Clubs. Ich konnte seine Eifersucht spüren, aber was sollte ich tun? Meine 333 wahre Liebe war zu mir zurückgekehrt. Doch es sollte nicht von Dauer sein, denn in derselben Nacht wurde der Club von Jägern überfallen. Es war ein einziges Chaos. Sie drangen in den Club wie die personifizierte Pest, wollten alles ausrotten, was sich ihnen in den Weg stellte. Marcellus hat tapfer gekämpft, aber...« Sie verstummte erneut. Ich wartete. Véronique schniefte und tupfte sich mit einer Papierserviette die Augen. »Er wurde getötet. Sie umzingelten ihn und töteten ihn mit Schwertern aus Holz. Unsere Blicke trafen sich, bevor er sich vor mir auflöste. Dann war er für immer von mir gegangen. Meine einzige, wahre Liebe, Marcellus.« Sie schniefte in die Serviette.
»Was war mit Thierry?«, fragte ich wieder. Sie sah mich scharf an. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Thierry alles ist, was dich interessiert. Thierrys Leben, Thierrys Schicksal. Aber das hier ist meine Geschichte. Meine Geschichte. Und meine Liebe war tot.« Sie schien derart unter etwas zu leiden, was vor mehr als sechshundert Jahren geschehen war, dass ich unwillkürlich ein bisschen Mitleid mit ihr empfand. Ein bisschen. Ich entschloss mich, sie nicht zu provozieren, um ihren Schmerz nicht zu verschlimmern, sondern wartete, bis sie bereit war, fortzufahren. »Als mir schließlich bewusst wurde, dass er unwiderruflich tot war, erfüllte mich eine glühende Wut. Es war eine schreckliche Wut, ein gewaltiger Wunsch nach Rache - und sie gaben mir Kraft. Ich, die ich nie zuvor in meinem Leben gegen etwas gekämpft hatte, außer vielleicht gegen eine leichte Erkältung, griff nach einer Waffe und wehrte mich gegen die Jäger. Und ich war nicht die Einzige. Andere im Club bekämpften 334 sie ebenfalls. Es war ein wahrhaft ruhmreicher Augenblick, als ich Schulter an Schulter mit jenen focht, die ich nicht einmal kannte, die mir jetzt jedoch so nah zu stehen schienen wie meine eigene Familie. In den frühen Morgenstunden, als es endlich vorbei war, suchte ich nach Thierry. Ich konnte ihn nirgends entdecken, und ein stechender Schmerz durchfuhr mein Herz.«
»Du wurdest erdolcht?« Sie sah mich an. »Ich meinte es metaphorisch, Liebes, nicht wörtlich. Es war ein metaphorischer Schmerz. Ich war beunruhigt, weil ich dachte, dass mein junger Zögling, der schließlich gleichzeitig mein treu ergebener Ehemann war, das gleiche Schicksal erlitten haben könnte wie mein geliebter Marcellus.« Sie schüttelte den Kopf. »Zwei Tage lang konnte ich ihn nicht finden. Beim ersten Anzeichen von Gefahr war er verschwunden, hatte sich versteckt gehalten. Er hat sich nicht herausgewagt, bis er sich sicher fühlte. Ich habe ihn nicht mit offenen Armen empfangen, was er womöglich erwartet hatte. Ich war wütend auf ihn. Marcellus hatte mutig gekämpft und war gestorben, und er hatte sich wie ein Feigling versteckt und lebte.« Ich ließ ihre Geschichte auf mich wirken. Das war also ihr Beweis dafür, dass Thierry ein Riesenfeigling war, nur weil er vor mehr als sechshundert Jahren einem lebensgefährlichen Kampf ausgewichen war? Jedenfalls sah das nicht dem Thierry ähnlich, den ich kannte, ein Mann, der mutig, stark und undurchschaubar wirkte. Andererseits war ich mir ziemlich sicher, dass sechshundert Jahre fast jeden verändern konnten. Véronique lächelte mich an, obwohl ihre Augen ein biss 335 chen gerötet von ihrer Trauer um ihren geliebten Marcellus waren. Derselbe Mann, der sie wegen einer Jüngeren ohne ein Wort verlassen hatte. Ich konnte verstehen, dass sie nach wie vor um ihn trauerte. Dieser
Marcellus schien wirklich ein Paradebeispiel für einen echt großartigen Kerl zu sein. »Du hast ein sehr interessantes Leben geführt.« Sie nickte feierlich. »Ja, das habe ich.« »Wie lange wart ihr zwei denn getrennt?«, fragte ich. »Ich hatte zumindest den Eindruck, dass du und Thierry nicht mehr zusammengelebt habt.« »Das ist eine sehr persönliche Frage, stimmt's? Doch ich habe das Gefühl, als wären wir alte Freunde. Und gegen persönliche Fragen von alten Freunden habe ich nichts einzuwenden. Unsere Ehe hat nur knapp etwas mehr als hundert Jahre Bestand gehabt. Gekriselt hat es jedoch bereits vorher. Seit diesem Vorfall in dem Pariser VampirClub habe ich nicht mehr dasselbe für ihn empfunden.« »Wenn Marcellus überlebt hätte, hättest du Thierry verlassen?« Sie blinzelte. »Mein Gott, was für eine Frage! Er war mein Mann; wie hätte ich ihn verlassen können? Ich hätte Marcellus selbstverständlich nur als Liebhaber akzeptiert.« »Oh.« Jemand näherte sich der Nische, und ich nahm an, es wäre der Barkeeper, der sich erkundigen wollte, ob wir noch mehr Drinks bestellen wollte. Als ich hochsah, verschlug es mir den Atem. Quinns Vater starrte auf mich herab. »Hallo.« Ich quiekte förmlich.
»Ich kenne dich.« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Du bist doch schon einmal mit meinem Sohn hier gewesen.« »Das... das stimmt.« 337 Sein Blick verfinsterte sich. »Hast du den Jungen gesehen? Ich kann ihn heute Abend nirgendwo finden.« Ich schluckte. »Nein. Ich hab ihn nicht gesehen.« Er schüttelte den Kopf. »Meine Geduld ist wirklich am Ende. Er hat kein Mitleid mehr von mir zu erwarten.« »Roger?«, mischte sich Véronique ein. Der Kopf von Quinns Vater ruckte zu ihr herum. »Veronique?« Er zog eine buschige Augenbraue nach oben. »Das kann doch nicht wahr sein.« Sie stand auf. »Und ob es das ist.« Sein Blick glitt an ihrem engen, schwarzen Kleid hinunter. »Umwerfend. Eine wahre Schönheit, genauso wie ich dich in Erinnerung habe, und das nach all der Zeit!« »Du dagegen hast ein paar Falten mehr im Gesicht«, erwiderte sie lächelnd. »Aber es steht dir. Du siehst auch noch immer so gut aus, wie ich mich an dich erinnere.« Er erwiderte ihr Lächeln. Es war fast ein anzügliches Grinsen. »Wie lange ist das schon her, hm?« »Dreißig Jahre? Vielleicht mehr? Sarah, Liebes, würdest du uns einen Moment entschuldigen?« Ich nickte, da es mir die Sprache verschlagen hatte. Ich beobachtete, wie Veronique Quinns Vater, dem Anführer der Vampirjäger, in eine dunkle und verrauchte Ecke folgte. Ihre Gesichter beugten sich zueinander, als sie wie
alte Freunde miteinander flüsterten und lachten und sich berührten. Wusste er, dass sie ein Vampir war? Er musste es wissen. Ich glaube, er war clever genug, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmen konnte, wenn jemand in drei Jahrzehnten keinen Tag gealtert war. Und er verhielt sich etwas anders, als ich es in dieser Situation von ihm erwartet hätte, auch wenn ich ihn kaum kannte. Ich wusste über ihn nur das, was ich 338 zufällig gehört hatte, als er Quinn wie ein ungezogenes Kind gerüffelt hatte. Quinn war sein ganzes Leben lang von diesem fanatischen Vater schikaniert worden, der Vampire hasste und sein Leben dem Bemühen gewidmet hatte, sie vollständig auszurotten. Warum kicherte er jetzt mit Véronique herum wie ein verknallter Schuljunge? Das verstand ich einfach nicht. Es sei denn... Der Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war so schrecklich, dass ich ihn sofort unterdrückte. Aber er kam wieder, nervte mich, bestand hartnäckig darauf, dass ich ihm Beachtung schenkte. Konnte es sein, dass Véronique die Verräterin war? War sie deshalb in der Stadt aufgetaucht, kurz bevor die Jäger ihren neuen und verbesserten Vernichtungsplan geschmiedet hatten? Auf mich hatte Véronique den Eindruck gemacht, dass sie sich nur für eine einzige Person interessierte - und das war nicht Thierry. Sondern sie selbst.
Also musste es wahr sein. Es war logisch. Sie war die Informantin. Sie gab den Jägern Informationen über die Lage der geheimen Clubs und drehte dann ihren hübschen dunkelhaarigen Kopf zur Seite, wenn die hereinstürmten und alle Vampire abschlachteten. Ich glitt aus der Nische und verließ die Bar, ohne dass Véronique es merkte. Ich spielte mit dem Gedanken, auf die andere Straßenseite zu gehen und Thierry über meinen Verdacht zu informieren, aber ich unterließ es. Ich ertrug es nicht, in seiner Nähe zu sein, nicht nach dem, was ich vorhin erlebt hatte. Véroniques Geschichte hatte weder meine Meinung über ihn geändert noch mein Urteil darüber, dass das, was er dem armen Eugene antun wollte, falsch war, schlicht falsch, falsch, falsch. 339 Stattdessen ging ich in meine Wohnung zurück. Ich war so müde, dass ich einfach nur schlafen und mir die reale Welt so weit wie möglich vom Hals halten wollte. Vielleicht würde morgen alles nicht mehr ganz so hoffnungslos aussehen, obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, dass dies nur ein frommer Wunsch war. Ich brauchte einen Moment, bis es mir endlich gelang, den Schlüssel ins Schloss zu schieben, und öffnete die Tür. Ich warf Tasche und Schlüssel auf den Küchentisch und seufzte resigniert in der Dunkelheit. Es war schön, nach Hause zu kommen. Es wirkte so normal nach diesem verrückten Tag. Hier konnte ich noch so tun, als hätte sich nichts in meinem Leben geändert. Als wäre ich immer noch dasselbe Mädchen, das Sex and the City
guckte und dabei Häagen-Dazs Eiscreme direkt aus der Packung aß. Die geschlagene zwei Stunden mit Amy am Telefon über einen süßen Typen tratschte, den eine von uns beiden gesehen hatte, und das, nachdem wir den ganzen Tag gemeinsam in der Arbeit verbracht hatten. Deren Garderobe nach Farben sortiert war, um die Kleiderwahl zu vereinfachen. Ja, meine Wohnung war meine Privatsphäre. Meine gemietete Sicherheitszone. Meine Ikea-dekorierte Oase. Ich schaltete die Deckenlampe an. Und schrie. Auf meinem Sofa saß Quinn. Er blinzelte in das grelle Licht. »Was zum Teufel tust du hier?«, japste ich, während mein Herz förmlich raste. »Wie zum Teufel bist du hier hereingekommen?« Er stand auf und streckte seine Hände aus, um mich zu beruhigen. »Ruhig, ganz ruhig. Tut mir leid, ich habe... Es war 340 nicht schwer herauszufinden, welche Wohnung dir gehört. Dearly ist schließlich kein sehr verbreiteter Nachname.« Ich tastete in meiner Tasche nach dem Messer, das ich im Restaurant hatte mitgehen lassen. Es war zwar nur ein Buttermesser und alles andere als scharf, aber es würde bestimmt ziemlich wehtun. Zumindest würde es einen sehr unangenehmen Bluterguss hinterlassen. Ich hielt es drohend vor mich.
Er warf einen Blick darauf und hätte fast gegrinst. »Willst du gleich auch noch ein Lied aus West Side Story zum Besten geben?« »Ich singe nicht. Was zum Teufel machst du hier?« »Ich dachte, wir hätten vorhin alles ziemlich klar besprochen. Ich war der Meinung, du würdest mir jetzt vertrauen.« Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich einen Schritt zurück. »Was dich angeht, Quinn, findet sich das Wörtchen Vertrauen nicht in meinem Wortschatz. Außerdem bist du gerade in meiner Abwesenheit in meine Wohnung eingebrochen. Nicht gerade ein gelungener Weg, mein Vertrauen zu gewinnen.« »Ich wusste nicht, wo ich sonst hätte hingehen sollen.« »Hast du schon mal vom Holiday Inn gehört? Eins liegt direkt um die Ecke. Da bekommst du sogar das Frühstück umsonst.« Er seufzte. »Das meinte ich nicht, das weißt du. Ich wollte dich sehen. Du hast gesagt, wenn ich etwas brauchte, sollte ich nicht zögern zu fragen.« »Ja, aber ich meinte, du solltest jemand anders fragen. Jemanden, den das alles nicht kümmert. Ich schlage vor, du verschwindest, bevor...« 341 Er überwand den Abstand zwischen uns, bevor ich irgendetwas tun konnte und riss mir das Messer aus der Hand. Ich hörte es klappernd zu Boden fallen und fühlte gleichzeitig seine starken, warmen Hände auf meinen
Wangen, als er mich an sich zog und mir mit einem leidenschaftlichen Kuss den Atem nahm. 20 Bevor ich zur Besinnung kam, lagen wir bereits auf dem Bett. Selbst jetzt noch erwiderte ich seine Küsse, klammerte mich an ihn, wie eine Ertrinkende den Rettungsring umklammert. Und ich fühlte mich wie eine Ertrinkende. »Nein.« Ich unterbrach den Kuss und schob ihn sanft zurück. »Das können wir nicht tun.« Er hörte nicht besonders gut zu und fuhr mit seinem Mund meinen Hals hinunter. Ich stöhnte unwillkürlich auf, bevor ich alle Willenskraft zusammenraffte, die ich auftreiben konnte. »Quinn, nein.« Diesmal stieß ich ihn heftiger zurück, und er fiel rücklings zu Boden. Dort blieb er liegen und sah zu mir hoch. Seine Augen waren dunkel. »Warum nicht?« »Darum nicht. Reicht das nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du mich willst. Versuch es nicht abzustreiten.« Ich stand auf und strich das Kleid glatt, das ich für unsere Verabredung zu viert heute Abend gekauft hatte. Dabei bemerkte ich einen kleinen Riss in meiner Unterhose. Einfach wunderbar. »Ich glaube, du solltest jetzt gehen.« 342 Er stand auf und kam näher, als mir lieb war. »Sarah.« Seine Stimme war leise und sexy, und mein Magen krampfte sich unwillkürlich zusammen. Aber ich wich vor
ihm zurück und vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Schließlich blieb er stehen. »Es ist seinetwegen, richtig?« »Wegen wem?« Er seufzte. »Wegen Thierry. Du bist in ihn verliebt.« Ich runzelte die Stirn. »Nur weil ich nicht gleich beim ersten Einbruch mit dir schlafen will, heißt das noch lange nicht, dass ich in Thierry verliebt bin.« Er ließ sich auf den lila Sitzsack in der Ecke meines Schlafzimmers plumpsen. »Er verdient dich nicht.« Die bloße Erwähnung von Thierrys Namen ließ mein Herz laut und schmerzhaft gegen meine Rippen schlagen. »Verschwinde, Quinn.« Ich hörte, wie er schluckte. Seine Augen schimmerten in der Dunkelheit feucht und glänzend. »Ich dachte... ich dachte, dass es zwischen dir und mir eine Verbindung gäbe. Ich empfinde etwas, wenn ich mit dir zusammen bin. Du fühlst das doch ebenso. Vergiss ihn. Wir sind sowieso ein viel besseres Team.« »Ich will nicht länger darüber reden. Hast du eine Ahnung, wie mein Tag war? Ich wollte nur nach Hause kommen und alles vergessen, auch wenn es nur für ein paar Stunden wäre. Auf noch mehr Komplikationen kann ich herzlich gerne verzichten.« »Das ist alles, was ich für dich bin? Eine Komplikation?« »Möchtest du wirklich die Wahrheit hören?« Ich sah, wie ihm seine Gesichtszüge entgleisten. Er hatte ebenfalls einen ziemlich harten Tag hinter sich, und ich benahm mich echt 343
zickig. Ich ging zu ihm und nahm ihn in den Arm. Er fing an zu schluchzen. So saßen wir eine Weile beieinander. Die Erotik zwischen uns war verflogen, und nur noch der Trost war übriggeblieben. Nach ein paar Minuten sah er mich an. »Ich bin ein Vampir.« »Ich fürchte ja.« »Ich hasse es. Ich will, dass alles wieder so ist, wie es war. Dann wüsste ich wenigstens, was ich tun müsste. Ich wüsste, wie ich mich benehmen, wie ich denken müsste. Ich will kein Vampir sein.« »Ich auch nicht.« Jetzt weinte ich ebenfalls. Ja, wir waren ein gutes Team, richtig. Die emotionalsten Monster in ganz Toronto und im weiteren Umkreis. Wir waren wild, gruselig und brauchten dringend eine Familienpackung Papiertaschentücher. Moment mal. Ich ließ ihn los, als mir ein Gedanke kam. Wir hassten beide, was mit uns passiert war. Keiner von uns wollte ein Vampir sein. Ich stand auf und verließ das Schlafzimmer. Dann nahm ich meine Tasche vom Küchentisch und suchte darin nach der Serviette. Als ich sie fand, umklammerte ich sie mit der Hand und ging damit zu Quinn zurück. »Das ist die Lösung.« »Die Lösung?« Er sah hoch. »Wofür?« »Für all unsere Probleme.« »Die Lösung all unserer Probleme ist eine Cocktailserviette? Offenbar sehen deine Probleme ein bisschen anders aus als meine.«
»Nein, es ist dasselbe Problem.« Ich gab ihm die Serviette und kniete mich wieder neben den Sitzsack. »Das ist die Tele 345 fonnummer von einem Kerl, der ein Mittel hat, mit dem man Vampirismus heilen kann. Wir müssen keine Vampire bleiben. Wir müssen nur mit ihm reden und ihn dazu bringen, uns zu helfen.« Er starrte auf die Serviette. »Es gibt eine Medizin dagegen? Ich hatte keine Ahnung.« »Dann ist es wohl ganz gut, dass du mich kennst.« »Hast du ihn schon angerufen?« »Noch nicht.« »Vom wem hast du das?« Ich nahm ihm die Serviette weg und faltete sie behutsam. »Von Zelda aus dem Club.« Er saß einfach nur da, fassungslos, während die Information langsam sackte. »Es gibt eine Therapie dagegen.« »Ja.« Ich lächelte. »Wir können wieder normal werden.« »Das ist zu schön, um wahr zu sein. Irgendwo muss die Sache einen Haken haben.« »Kannst du dich nicht einfach darüber freuen?« Er lächelte mich an und strich mir die Haare aus der Stirn. »Okay. Ich freue mich. Aber was heißt das für dich und mich?« Er warf einen Blick auf das Bett. Ich zog die Augenbrauen hoch. »Es heißt, dass wir beide wieder Menschen sein werden. Es heißt auch, dass ich ein
sehr bequemes Sofa im Wohnzimmer habe.« Ich stand auf, packte eins meiner Kopfkissen und warf nach ihm. »Schlaf schön.« Ich hatte gedacht, ich wäre müde. Aber ich lag den größten Teil der Nacht wach, während die Gedanken durch mein Gehirn rasten. Das war es. Ich würde geheilt werden. Ein Vampir 346 zu sein war eine Krankheit, also würde ich eine Medizin nehmen, die bewirkte, dass es mir wieder besser ging. Ich würde wieder normal werden; ich musste mir keine Sorgen mehr machen, ständig gejagt zu werden; ich würde meine Reißzähne loswerden und mich wieder im Spiegel betrachten. Ich hätte glücklich sein müssen. Das war alles, was ich wollte. Nur, wieso konnte ich dann nicht schlafen? Ich wälzte mich hin und her, während die Ereignisse der letzten Woche mir durch den Kopf schössen wie ein nächtlicher Horrorfilm-Marathon. Nach einer Weile musste ich doch eingedöst sein, denn als ich die Augen aufschlug, war es bereits hell. Ich warf die Decke zurück und zog einen graublauen Trainingsanzug an. Ich hatte keine Sekunde vergessen, dass Quinn nicht mal zehn Schritte entfernt von mir auf meinem Sofa schlief. Ich öffnete die Schlafzimmertür und spähte hinaus. Er war in der Küche am Telefon. Als er mich sah, verabschiedete er sich rasch von der Person, mit der er
gerade gesprochen hatte und legte auf. Ich sah die Cocktailserviette auf der Arbeitsplatte. Er sah mich an. »Ich habe ihn angerufen.« »Schon? Hättest du nicht auf mich warten können?« »Wie lange hätte ich denn warten sollen? Es ist fast Mittag.« »Tatsächlich?« Ich warf einen Blick auf die Herduhr. Er hatte recht. »Okay. Also, schieß los!« »Er hat sich bereiterklärt, sich mit uns zu treffen. Wir können sofort aufbrechen. Er hört sich recht kompetent an. Es gibt tatsächlich ein Heilmittel, und er wird es uns geben. Also, zieh dich an.« 347 »Ich bin angezogen.« »Das sieht wie ein Schlafanzug aus.« »Ist es aber nicht.« Ich verdrehte die Augen. »Entschuldige bitte, dass ich nicht immer einen kurzen Rock und hohe Absätze trage. Willkommen in meinem wirklichen Leben. Ich muss mir nur eben das Gesicht waschen und meine Reißzähne putzen. Dann können wir los.« »Wie du willst.« Quinn kehrte mir den Rücken zu. Von mir aus. War er schlecht gelaunt wegen meiner Abfuhr letzte Nacht? Ich konnte förmlich sehen, wie er wieder die Mauer hochzog, die sein männliches Ego vor Verletzungen schützen sollte. Ich fragte mich, wie er sich wohl verhalten würde, wenn ich ihn nicht aufs Sofa verbannt hätte. Nicht, dass ich meine Entscheidung bedauerte. Ich fühlte mich von ihm sehr stark angezogen - sicher, das musste ich zugeben. Aber das war kein
Grund, mein ohnehin schon viel zu kompliziertes Leben noch weiter zu verkomplizieren. Wenn die Dinge anders lägen... Ach, ich weiß es einfach nicht. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Außerdem, eine Beziehung auf einem missglückten Mordversuch zu gründen, war garantiert nicht gerade der beste Nährboden. Trotzdem, es hatte nichts mit Thierry zu tun. Absolut nichts, wirklich nichts. Jedenfalls so gut wie nichts. Der mysteriöse Wissenschaftler wohnte fünfundvierzig Minuten von Toronto entfernt am Stadtrand von Grimsby. Das Taxi würde ein Vermögen kosten. Ich bestand darauf, am erstbesten Tim Hortons zu halten und einen Kaffee mitzunehmen. Dass Koffein keine Wirkung mehr auf mich hatte, war noch lange kein Grund, eine meiner liebsten schlechten An 348 gewohnheiten aufzugeben, vorausgesetzt, es bewirkte nicht, dass ich mich übergeben musste. Quinn nahm auch einen. Schwarz, kein Zucker. Keine große Überraschung. Nach einer Weile bog das Taxi links von der Hauptstraße ab und fuhr einige Meilen in die Wildnis. Ich wurde nervös. »Wo wohnt dieser Kerl eigentlich?« Quinn zuckte mit den Schultern. »Irgendwo hier in der Gegend, nehme ich an.« Großartig. Der Heiler und Bigfoot. Ich hätte meine Kamera mitnehmen sollen.
Das Taxi hielt vor einem heruntergekommenen Wohnwagen mitten im Nichts. Quinn stieg aus, bezahlte den Fahrer und bat ihn, in der Nähe zu warten. Ich öffnete meine Tür und trat direkt in eine große, schmierige Matschpfütze. Ich verzog das Gesicht, als die Feuchtigkeit durch meine Schuhe drang. Großartig. Wenigstens hatte ich mich heute für meine Turnschuhe entschieden. Quinn wartete nicht auf mich. Er marschierte geradewegs auf die Tür des Wohnwagens zu, klopfte energisch und wartete. Niemand antwortete. Ich stemmte eine Hand auf meine Hüfte. »Bist du dir sicher, dass die Adresse stimmt?« »Ja«, fauchte er. »Reiß dich zusammen, Quinn. Wir stecken hier beide drin, erinnerst du dich?« Er sah mich wütend an, dann weiteten sich seine Augen. »Rühr dich nicht.« Ich stand wie angewurzelt. »Was?« »Beweg dich einfach nicht. Ich meine es ernst, Sarah.« Ich hörte etwas. Nah. Das Knacken von Zweigen auf dem Boden. Lautes Hecheln. Schnaufen. 349 Ich blickte hinunter. Da stand ein großer Hund - und ich meine wirklich groß, nur Zentimeter von mir entfernt und starrte mich an. Er knurrte, leise und bedrohlich und fletschte die Zähne. »Ich mag keine Hunde«, flüsterte ich. »Geh weg. Schuuuhu.«
»Sei nett zu ihm«, warnte mich Quinn. »Ehm...« Ich merkte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief. »Braves Hündchen? Ja. Gutes Hündchen.« Er knurrte lauter und machte einen Schritt auf mich zu. Ich wusste nicht, was für eine Rasse er war. Jedenfalls war er groß, schwarz, und hatte vermutlich die Tollwut. Er gehörte zu der Art von Hund, die einem erst die Kehle herausreißt und dann Fragen stellt. »Braver Hund...« Er sprang mich an. Seine matschigen Pfoten landeten auf meiner Brust und warfen mich auf den Boden. Ich landete in einem großen, nassen Schneehaufen. Ich schrie und sah, wie Quinn mir zu Hüfe eilte. Dann hörte ich einen Pistolenschuss. Und merkte, wie eine heiße, raue und sehr feuchte Hundezunge meine linke Wange abschleckte. »Igitt.« Ich versuchte, seine Schnauze wegzuschieben. Es knallte noch einmal, aber der Hund rührte sich nicht. Wer schoss da? »Barkley!«, befahl eine raue Stimme. »Runter von der Lady. Sofort!« Barkley winselte und ließ mit einem letzten leidenschaftlichen Wischen seiner Zunge von mir ab. Ich war zu geschockt, als dass ich hätte aufstehen können, also blieb ich einfach auf dem Rücken liegen. Quinn tauchte in meinem Blickfeld auf. Seine Miene war besorgt. Dann sah ich den an 350
deren Mann. Er war groß und dünn, hatte langes, schütteres weißes Haar, das an seinem Schädel klebte. Er trug einen zerschlissenen, dunkelroten Hausmantel. Wenn Wahnsinn einen Kleidungsstil hatte, dann sah ich ihn gerade vor mir. Er richtete ein Gewehr auf mich. »Steh auf, Vampir.« Er trat zurück, als Quinn mir auf die Füße half und scheuchte uns mit einem Winken der Waffe zum Wohnwagen. »Sind Sie Dr. Kalisan?«, erkundigte sich Quinn. »Klappe halten und weitergehen.« Wir drehten uns um, und er trieb uns beide mit Gewehrstößen vorwärts. »Hören Sie«, sagte ich. »Wir können einfach wieder gehen. Wir wollen Sie nicht belästigen. Unser Taxi...« Ich warf einen Blick zurück. Wo das Taxi hätte sein sollen, befanden sich nur noch zwei dunkle Reifenspuren in der dünnen Schneedecke. Ich schüttelte den Kopf. »Ach, schon gut.« Kalisan schubste uns in den Wohnwagen und schloss die Tür hinter uns. Die Dunkelheit verschluckte uns. »Runter«, sagte er, und ich fühlte, wie das Gewehr mir erneut ins Rückgrat stieß. Ich klammerte mich an Quinns Arm und merkte, dass wir am oberen Ende einer langen Treppe standen. Wir liefen sie hinunter, immer weiter und weiter. Es war höchst merkwürdig. Ich strauchelte ein paar Mal, erreichte schließlich aber ebenen Boden.
Eine Neonröhre flammte flackernd auf. Wir standen in einem großen Wohnzimmer: Sofas, Fernseher, Stereoanlage, merkwürdige Embryos in Einmachgläsern auf dem Bücherregal. Der Wohnwagen schien nur die Spitze des Eisberges sein. Dies hier war eine unterirdische Höhle. Allerdings im Vorstadtstil eingerichtet. 352 Kalisan hielt nach wie vor das Gewehr auf uns gerichtet und hatte die Augen zusammengekniffen. Barkley hockte neben ihm, groß, bedrohlich und hechelnd, aber dabei fröhlich mit dem Schwanz wedelnd. »Warum zielen Sie mit dem Gewehr nicht woanders hin?«, schlug Quinn vor und umklammerte dabei meine verschwitzte Hand. »Was wollt ihr hier, Vampire?« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Das Heilmittel natürlich. Wir hatten Sie wegen eines Termins angerufen.« »Und ihr glaubt, das wäre so einfach? Sich einen Termin geben lassen und dann in die Sprechstunde kommen?« »Ehrlich gesagt... ja.« Er kniff die Augen noch weiter zusammen, bis es winzige Schlitze waren. Ich konnte kaum glauben, dass er überhaupt noch etwas sah. »Wer seid ihr? Wie heißt ihr?« Quinn warf mir einen Blick zu und drückte meine Hand. »Ich bin Michael Quinn. Und das ist Sarah Dearly.« Kalisan runzelte die Stirn und ließ das Gewehr ein Stückchen sinken. »Quinn, ja?« »Ja, genau.«
Der Doktor trat zurück, ohne die Augen von uns zu lassen. Er nahm ein gerahmtes Foto, das neben dem Fernseher auf einem Tisch stand, kam zu uns zurück und hielt es Quinn direkt unter die Nase. »Wer ist das?« Das Foto zeigte einen deutlich jüngeren Kalisan. Er trug einen hellgelben Freizeitanzug und eine Krawatte, die so breit war, dass ich vermutet hätte, es wäre ein HalloweenKostüm gewesen, wenn mein Vater früher nicht genau das gleiche Outfit getragen hätte. Rechts und links von ihm standen 353 ein deutlich jüngerer Roger Quinn und eine hübsche blonde Frau. Quinn riss Kalisan das Foto aus der Hand. »Das sind meine Eltern.« Kalisan fixierte ihn. »Dein Vater ist der große Vampirjäger Roger Quinn?« Quinn starrte ihn ungerührt an. »Wie gesagt, ich suche nach dem Heilmittel.« »Verstehe.« Kalisan ließ den Lauf des Gewehres zu Boden sinken. »Dein Vater ist ein bewundernswerter Mann. Er wäre gewiss sehr enttäuscht, wenn er erführe, was mit dir passiert ist. Ich nehme an, er weiß es nicht?« »Da liegen Sie ganz richtig.« Kalisan richtete seinen Blick auf mich. »Und wie lautet deine Geschichte?«
Barkley hatte sich neben mich gesetzt und ich streichelte abwesend seinen Kopf. »Ich bin einfach ein Mädchen, das dieses Heilmittel braucht.« Sein Blick glitt zu dem Hund. »Ich glaube, wenn mein Werwolf dich mag, kannst du nicht so schlecht sein.« Ich zog meine Hand zurück. »Ihr Wer-was?« Kalisan lächelte. »Was denn, bist du ein Vampir, der nicht an Werwölfe glaubt?« Barkley leckte meine Hand, und ich wischte sie sofort an meiner Hose ab. »Eklig.« »Er kann nichts für sein unhöfliches Verhalten. Er ist schon ziemlich lange eingesperrt. Die üblichen menschlichen Umgangsformen hat er längst vergessen. Ich habe auch an einem Heilmittel für ihn gearbeitet, aber, leider, die universitären Gelder für diese Art von Forschung sind sehr dünn gesät.« Ich sah hinunter zu Barkley. »Armer Hund.« 354 Er leckte wieder meine Hand. Kalisan trat zu Quinn und nahm ihm das Foto ab. »Du willst also wirklich das Heilmittel?« Quinn nickte. »Ja.« »Ich werde es dir geben.« Er reichte Quinn das Gewehr. »Aber zuerst musst du die Frau erschießen.« Ich hörte ein Winseln und war nicht sicher, ob Barkley oder ich selbst es ausgestoßen hatte. Quinn sah düster auf die Waffe in seinen Händen. »Sie wollen, dass ich...«
Kalisan zeigte auf mich. »Erschieß sie. Sie ist ein Vampir; du bist ein Jäger. Das dürfte für dich ja wohl kein großes Problem sein.« »Das stimmt.« Quinn richtete die Waffe auf mich, und ich trat zurück an die Wand. Ich konnte kaum atmen, kaum denken. Nur das Wort »Nein« tobte mir durch den Kopf. Und der Gedanke, dass ich ihn letzte Nacht nicht auf das Sofa hätte verbannen sollen. Das war ein großer Fehler gewesen. Ein sehr, sehr großer Fehler. »Erschieß sie einfach«, sagte Quinn zu sich selbst, als er mit dem Gewehr auf meine Stirn zielte. »Nichts einfacher als das.« Dann richtete er die Waffe auf Kalisan. »Tut mir leid, Doc. Die Dinge sind seit einiger Zeit nicht mehr ganz so einfach für mich. Also, was ist nun mit dem Heilmittel?« Der Doktor starrte ihn eine Sekunde lang an, lachte dann und schob das Gewehr beiseite. »Eine Attrappe. Lediglich eine Attrappe. Ich wollte euch nur testen.« Ich hatte mich nicht bewegt. Ich war nur Sekunden davon 355 entfernt, Erwachsenenwindeln zu brauchen und bemühte mich, mein Gehirn wieder in Gang zu setzen. Waffen sind böse. Sehr böse. Vor allem, wenn sie auf mich gerichtet sind. »Sarah?«, erkundigte sich Quinn. »Alles okay?«
»Sicher, kein Problem.« Meine Stimme klang eindeutig ein paar Oktaven zu hoch. »Kommt mit«, sagte Kalisan. »Ich koche uns einen Kaffee.« Fünf Minuten später saß ich in der ausladenden Küche des Doktors und versuchte, mein Zittern im Angesicht des sicheren Todes loszuwerden. Kalisan hatte mir einen Kaffeebecher gegeben, auf dem stand: FORSCHER MACHEN ES NACH DEM BUCH. Ich glaube, es sollte anzüglich klingen, aber ich war nicht in der Stimmung, es lustig zu finden. Wir hatten bereits wieder ein Taxi gerufen. Hier draußen in der Wildnis kam es uns besser vor, wenn eins auf uns wartete, als dass wir für immer und ewig festsaßen. Um es vorsichtig auszudrücken. »Seid ihr zwei ein Paar?«, fragte Kalisan, nachdem er in seinen dänischen Apfelkuchen gebissen hatte. Quinn betrachtete mich. »Nein. Wir sind nur Freunde.« »Darf ich fragen, warum ihr geheilt werden wollt?« »Das ist einfach«, sagte Quinn. »Wir möchten unser altes Leben zurückhaben.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir wurden beide gegen unseren Willen verwandelt.« Kalisan überlegte einen Moment. Vielleicht wollte er herausfinden, ob ich log oder nicht. »Seid ihr sicher, dass ihr meine Versuchskaninchen spielen wollt?« Das klang nicht sonderlich vielversprechend. »Ist das Heilmittel vorher nicht schon erfolgreich getestet 356
worden?« Quinn griff unter dem Tisch nach meiner Hand und drückte sie. »Doch, natürlich. Aber im Großen und Ganzen ist es immer noch eine brandneue Technik.« Quinn nickte. »Wir sind interessiert.« Kalisan schenkte sich Kaffee nach und füllte großzügig Milch und diverse Löffel Zucker hinzu. »Dann ist es nur eine Frage des Preises.« Das hatte ich erwartet. Man bekam nichts Gutes umsonst, selbst dann nicht, wenn man sich freiwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung stellte. Ich könnte mein Sofa verkaufen. Außerdem hatte ich noch ein Paar Prinzessin-Diana-Erinnerungsmedaillen, die sich wahrscheinlich ganz gut bei eBay verscherbeln ließen. Und ich besaß noch etwas von dem Geld, das meine Großmutter mir hinterlassen hatte. Es waren nur ein paar Tausend, aber es war gut zu wissen, dass ich einen Notgroschen für miese Tage hatte. Und heute war ein verdammt mieser Tag. »Okay«, sagte ich. »Wie viel?« »Eine Million Dollar.« Kalisan trank einen Schluck Kaffee. »Von jedem, versteht sich.« Diesen Preis würden selbst meine Prinzessin-Diana-Medaillen nicht erzielen, nicht einmal, wenn ein LastMinute-Bieterwettstreit ausbrach. »Wie bitte?«, platzte ich heraus. »Wollen Sie sich über uns lustig machen?«
Ich sah zu Quinn. Sein Gesicht war rot. »Das ist doch kompletter Wahnsinn! Es muss eine andere Möglichkeit geben.« »Bedauerlicherweise ist das der aktuelle Kurs«, erklärte Dr. Kalisan fast entschuldigend. »Ich verfüge hier nicht über ein Labor, in dem ich die Inhaltstoffe einfach zusammenmixen 358 könnte. Die Herstellung ist ein sehr langwieriger und sehr kostspieliger Prozess. Die Zutaten müssen aus allen Teilen der Erde zusammengetragen werden. Schwarze Magie spielt ebenfalls eine Rolle, und ihr glaubt ja nicht, was heutzutage der gängige Kurs für einen Magier ist. Erfolgreiche Zauberer haben total aufgeblähte Egos, echt unvorstellbar. Es ist mir egal, was das Kino euch weisgemacht hat.« Ich umklammerte Quinns Arm. Das waren schlechte Nachrichten. Wir würden das Gegenmittel nicht bekommen. Es existierte zwar, aber es ging nur ums Geld, wie überall auf der Welt. Geld regierte die Welt, und wer keins hatte - zum Beispiel Vampire - war in den Hintern gekniffen. »Danke für Ihre Zeit.« Ich zerrte Quinn hoch. »Wir haben ja Ihre Nummer, für den Fall, dass wir im Lotto gewinnen. Komm schon, Quinn, warten wir draußen auf das Taxi.« Das war's. Es war vorbei. Ich würde für ewig ein Vampir sein.
»Moment«, hielt Kalisan uns auf. »Wenn ihr tatsächlich kein Geld habt, gibt es wohl noch einen anderen Weg.« Wir drehten uns wieder um. »Ihr kommt doch aus Toronto, richtig?« Quinn verschränkte die Arme. »Richtig.« »Es gibt da einen viel gesuchten Vampir, der angeblich in eurer Stadt lebt. Er ist alt, sehr alt und einfach nicht umzubringen. Er ist eine richtige Legende. Auf ihn ist ein Kopfgeld ausgesetzt, das eure Kosten mehr als nur decken würde. Wenn ihr herausfindet, wo er sich versteckt... diese Information könnte ich an diejenigen weiterverkaufen, die ihn suchen. Dann könnten wir wohl ins Geschäft kommen.« »Sie würden uns das Mittel für diese Information geben?«, erkundigte Quinn sich ungläubig. 359 »Ja.« Ich sagte nichts, aber mein Mund war wie ausgetrocknet. Er wollte Informationen für die Jäger, damit sie einen Vampir fangen und töten könnten, der alt und mächtig genug war, um als Legende bezeichnet zu werden? Mir war klar, dass es nur einen Vampir in Toronto gab, auf den diese Beschreibung zutraf. Junge, Junge. Wie klein die Welt doch war. »Wer ist es?«, fragte Quinn. »Er heißt Thierry de Bennicoeur.« Er lächelte. »Den großen Thierry de Bennicoeur zur Strecke zu bringen, mit dieser Feder würde sich jeder gern schmücken. Eine
Trophäe, die sich jeder gern ein Vermögen kosten lassen würde.« Ich grub meine Fingernägel in Quinns Arm, bevor er die Chance hatte, etwas zu sagen. »Wir kennen ihn nicht«, erklärte ich. »Mag sein. Aber ich bin ziemlich sicher, dass er in der Stadt ist. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass ihr aufgrund der Möglichkeit, als Belohnung das Heilmittel zu erhalten, ausreichend motiviert seid, seine Wohnung und seine Verstecke aufzuspüren.« Quinn holte tief Luft. »Ich habe keine Ahnung.« Ich hätte ihn küssen mögen. Kalisan nickte. »Ah, Loyalität. Das respektiere ich. Es ist zwar höchst unangebrachte Loyalität, aber nichtsdestotrotz Loyalität. Deine eigene Gattung zu beschützen, egal, ob du weiter zu ihr gehören willst oder nicht, ist eine bewundernswerte Geste.« Quinn blieb stumm, und ich wusste, dass er mit sich rang. Er mochte Thierry nicht besonders, aber der hatte schließlich Quinns Leben gerettet. Quinn besaß Ehre, und sie bedeutete ihm etwas. 360 »Es muss einen anderen Weg geben«, sagte Quinn. »Ich wünschte, es gäbe einen. Aber ich bin nicht der Einzige, der mit diesem Prozess zu tun hat. Wenn es nach mir ginge, würde ich euch das Mittel nur zu gern umsonst geben. Aber ich fürchte, so läuft das nicht.« »Dann tut es mir leid, dass wir nicht zu einer Einigung kommen können.« Quinns Stimme klang gepresst.
Das Foto von Kalisan mit Quinns Eltern hatte die ganze Zeit im Regal hinter dem Doktor gestanden. Er warf einen Blick darauf. »Deine Mutter war eine wundervolle Frau. Schön, charmant, eine hinreißende Frau und Mutter. Ich hatte die Ehre, sie verschiedentlich zu treffen. Eine Schande, was mit ihr passiert ist.« »Ich bin nicht hergekommen, um über meine Familie zu plaudern«, sagte Quinn scharf. »Sarah, ich denke du hast recht. Wir sollten gehen.« Dr. Kalisan nickte. »Eine schmerzliche Erinnerung. Ja, ich verstehe.« »Sie verstehen gar nichts.« Jegliche Freundlichkeit war aus Quinns Augen verschwunden. Er sah Dr. Kalisan an, wie er einst mich angesehen hatte. Gefühllos, mordlustig, ohne jegliches Mitgefühl oder auch nur irgendeine andere Emotion. Er nahm meine Hand und zog uns ohne ein weiteres Wort in Richtung Treppe. Kalisan räusperte sich. »Ich weiß, dass du keine Ahnung hast, dass Thierry de Bennicoeur für den Tod deiner Mutter verantwortlich ist, anders kann ich mir nicht erklären, dass du ihn so vehement beschützt.« Quinn erstarrte. »Ja, er hat sie umgebracht«, fuhr Kalisan fort. »In der Jägerszene ist das sehr bekannt, aber ich nehme an, dein Vater 361 wollte dir die unschönen Einzelheiten ersparen. Ich kenne die Akten, die Berichte. Ich weiß, was er ihr vor ihrem Tod angetan hat, und wenn ich dir die grausamen
Einzelheiten schildern würde, würdest du keinen Moment zögern, ihn mir auf einem Silbertablett zu servieren.« Obwohl ich mich bemühte, mir nichts anmerken zu lassen, schrie ich innerlich auf, als ich das hörte. Ich war nicht fähig, darüber nachdenken, was wahr und was falsch war. Ich wusste nur, dass ich Quinn unbedingt hier herausbringen musste, bevor er etwas Verrücktes tat. Er stand immer noch am selben Fleck, hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt. Er zuckte zusammen, als ich seinen Arm berührte. Quinn sah über seine Schulter. »Ich werde über Ihr Angebot nachdenken.« Seine Stimme war tonlos. »Ja, mach das.« Kalisan trank einen Schluck Kaffee. »Meine Nummer hast du ja. Würdet ihr bitte so freundlich sein, die Tür hinter euch zu schließen, wenn ihr geht?« 21 Wir redeten auf der gesamten Rückfahrt kein einziges Wort. Es war nicht nur ein unangenehmes Schweigen, es war die reinste Folter. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Es fühlte sich an, als wäre ein Albtraum Realität geworden. Thierry hatte Quinns Mutter umgebracht? Das konnte nicht stimmen. Dr. Kalisan log, eine andere Erklärung gab es nicht. 362 Das Taxi hielt vor meinem Wohnhaus. Ich wandte mich zu Quinn.
»Was wirst du tun?« Er sah mir nicht in die Augen. »Das weiß ich nicht.« »Wohin gehst du jetzt?« »Weiß nicht.« »Ich kann dich begleiten. Wir können darüber reden. Es muss einen anderen Weg geben.« »Ich will allein sein.« »Aber... du wirst doch nicht...« Ich schluckte. »Wirst du Dr. Kalisan anrufen?« Endlich sah er mich an. In seinen Augen spiegelte sich der Schmerz in seinem Inneren. »Ich weiß es wirklich nicht.« »Er lügt dich an... uns. Er muss lügen.« »Dass du das glaubst, ist klar.« Seine Stimme klang verächtlich. »Ich weiß nicht, Sarah, ich kann nicht klar denken. Ich muss allein sein. Wenn das, was der Doktor sagt, stimmt - wenn Thierry meiner Mutter das wirklich angetan hat...« Seine Stimme brach. »Ich glaube, ich würde es ihm trotzdem nicht sagen.« Ich atmete auf. Er knirschte mit den Zähnen. »Eher würde ich Thierry selbst töten, auch wenn es mich das Mittel kostet.« »Quinn...« »Steig jetzt aus, Sarah.« »Aber...« Er beugte sich hinüber, um die Taxitür zu öffnen und stieß mich praktisch hinaus auf den Bürgersteig. »Raus.« Ich hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und bevor ich noch etwas sagen konnte, schlug die Tür hinter mir zu, und das Taxi fuhr davon. 363
Wenn ich doch nur nie versucht hätte, etwas über die Heilmethode herauszufinden. Mit dem Öffnen dieser Büchse der Pandora hatte ich zu viele Würmer freigesetzt. Und ich hasste Würmer. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden konnte. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich dachte kurz daran, einfach hoch in meine Wohnung zu fahren und mich im Bett zu verkriechen, aber irgendwie schien das nicht richtig zu sein. Ein Zeichen. Ich war verloren und wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte... Ich brauchte ein Zeichen, das mir den Weg wies. Als ich hochblickte, sah ich ein Werbeschild für die Theaterproduktion »Mamma Mia\«, umgeben von Zitaten aus lobenden Kritiken einer Reihe von Zeitungen. Ich runzelte die Stirn. Okay. Ich meinte ein anderes Zeichen. Nicht so eins. Jemand stieß gegen meine Schulter, als er hastig an mir vorbeilief. »Hey!«, schrie ich ihm wütend nach. »Pass auf, wo du hingehst, du Trottel.« Der Mann drehte sich um, und mir blieb die Luft weg. Es war Eugene; er sah nervös und abgespannt aus, aber er lebte, und es ging ihm gut. »Eugene!« Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst, als er mich erkannte. »Lass mich bloß in Ruhe«, stieß er mit zitternder Stimme hervor. »Tu mir nichts.«
Ich lief ihm nach und hielt ihn an der Schulter fest. Er wich rückwärts bis an die Wand zurück und hielt die Hände hoch, um seinen Hals zu schützen. 365 »Ich will dir nichts tun. Was machst du hier? Hat man dich letzte Nacht gehen lassen?« »J... ja«, stammelte er. »Sie haben mich laufen lassen, als sie schließlich sicher waren, dass ich die Wahrheit sage.« »Sie haben dich laufen lassen? Einfach so? Obwohl du jetzt weißt, wo der Club ist?« »Dieser dunkelhaarige Kerl, dieser Furcht einflößende Vampir, der hat mich laufen lassen. Die anderen wollten es nicht.« Der dunkelhaarige, Furcht einflößende Kerl? Damit musste Thierry gemeint sein. Was auch immer ich erwartet hatte, all meine verrückten Vorstellungen, was Thierry mit Eugene anfangen würde - dass er ihn laufen ließ, auf diese Möglichkeit war ich nicht gekommen. Ich legte meinen Kopf schief und versuchte, gemein auszusehen. »Du wirst niemandem verraten, wo du gewesen bist?« »Nichts! Kein Wort! Ich habe es ihm versprochen. Pfadfin-derehrenwort!« »Was ist mit den anderen Jägern?« »Ich kenne keine anderen Jäger. Das war alles Melanies Idee. Sie wollte sich irgendwie an ihrem Exfreund rächen. Ich wollte niemandem wehtun. Ich werde die Stadt verlassen, sodass ich mit niemand reden muss. Ich verlasse Kanada und gehe zurück nach Wisconsin.«
Ich ließ ihn gehen. »Gut. Mach das. Und... gute Reise.« Er rannte die Straße entlang wie eine ängstliche Maus, die gerade einer hungrigen Kobra entwischt war. Es war schon sehr komisch, dass jemand wirklich Angst vor mir hatte, aber genauso hatte Eugene mich angesehen. Thierry hatte Eugene nicht ermordet. Er hatte ihn laufen lassen. Das musste ich erst mal verarbeiten. 366 Schließlich nahm ich die Straßenbahn zum Lakeside Drive. Ich hatte nicht mehr genug Geld für ein Taxi, also musste der öffentliche Personenverkehr genügen. Es war drei Uhr. Der Club hatte zwar noch nicht geöffnet, aber ich versuchte es trotzdem an der Vordertür. Zu meiner Überraschung war sie nicht verschlossen und schwang nach innen auf, als ich sie leicht anstieß. Ich betrat das Sonnenstudio, kurz bevor ich attackiert wurde. Also, »attackiert« ist vielleicht ein zu hartes Wort. Es war mehr eine heftige Umarmung, die aus dem Nichts zu kommen schien. Ich stieß die Person weg, wer auch immer es sein mochte, und starrte sie verblüfft an. Es war Amy, die mich fröhlich und strahlend anlächelte. »Hallo Sonnenschein!«, trillerte sie. »Wie geht es dir an diesem wunderschönen Tag?« »Amy.« Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Vergeblich. »Was zum Teufel soll das?« »Ich hatte einen so großartigen Tag, das glaubst du nicht. Und erst letzte Nacht! Ab-so-lut un-vor-stell-bar!«
Ja, ja. Amy und Barrys kleine, höllische Romanze. Bitte keine Details. Sie hob die Brauen. »Du siehst aber gar nicht gut aus.« »Ach was«, erwiderte ich mit gespielter Überraschung. »Das ist aber komisch, ich fühle mich wie ein EineMillion-Dollar-Baby. Da fällt mir etwas ein: Du kannst mir nicht zufällig eine Million Dollar pumpen, oder?« »Tut mir leid, nein. Oh, Liebes, wenn du einen schlechten Tag hast, sollte ich dir wohl nicht so deutlich zeigen, wie glücklich ich bin.« 3i367 »Schlechter Tag? Wie wär's mit schlechtem Jahrzehnt?« Sie lachte und strich sich die hellblonden Haare aus dem Gesicht. Dabei fiel mein Blick auf einen sehr merkwürdigen Fleck an ihrem Hals. Genau genommen waren es zwei Flecke. Sie konnten doch nicht etwa das sein, wonach es aussah, oder? Ich packte Amy, strich ihre Haare zur Seite und untersuchte die bereits verblassenden Beißspuren über ihrer Halsschlagader. Sie sahen aus wie zwei kleine Knutschflecken. Sie legte eine Hand auf ihren Hals und lächelte mich verlegen an. »Ich wollte nicht, dass du es siehst.« Ich wartete stumm. »Ich habe Neuigkeiten für dich«, begann sie. Ich hob eine Augenbraue. Es war keine sehr glückliche Augenbraue. Amy hielt ihre linke Hand hoch. Sie trug einen Ring mit einem kleinen Diamanten am Finger. »Ich bin verlobt.« Ich sagte immer noch nichts. Ihr Lächeln ließ nach. »Freust du dich nicht für mich?«
Ich fühlte, wie sich, was nicht anders zu erwarten war, die Kopfschmerzen ankündigten. Vielleicht war es auch der potenzielle Gehirntumor. »Amy, meinst du nicht, dass du das alles ein bisschen überstürzt? Ich will nicht, dass man dir wehtut. Er tut das wahrscheinlich nur, um sich von dir zu ernähren. Das ist abscheulich, aber wahr.« Sie sah mich schockiert an. »Sich von mir ernähren? Wie kannst du es wagen, so etwas Schreckliches über meinen Barry zu sagen? Er hat sich nicht einfach nur von mir ernährt...« Sie hielt einen Augenblick inne und sah mir dann direkt in die Augen. »Er hat mich in einen Vampir verwandelt, genau wie dich!« 368 Sie sagte das mit so viel Enthusiasmus, so reiner Begeisterung, dass ich mich beinahe für sie freute. Bei ihr klang es, als hätte sie eine Alles-Inklusive-Weltreise gewonnen. Aber sie würde nirgendwohin gehen. Außer vielleicht den Bach runter, das war alles. Ihr Lächeln verschwand langsam, als ich nicht vor Aufregung über ihre »wundervolle« Neuigkeit auf der Stelle hüpfte. »Tut mir leid, Amy.« Ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. »Ich hab dich da hineingezogen. Das wäre nie passiert, wenn ich dich gestern Abend nicht hätte herkommen lassen. Es ist alles meine Schuld.« Sie runzelte die Stirn. »Wovon redest du denn? Das ist das Beste, was mir je passiert ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Da irrst du dich. Ich kann das einfach nicht glauben, Amy. Wach verdammt noch mal
auf! Ein Vampir zu sein ist schrecklich. Entweder bringen dich die Jäger um oder du hast dauernd Schmerzen, weil du nicht regelmäßig Blut bekommst. Dir wachsen Reißzähne, und du verlierst dein Spiegelbild. Das ist nicht normal, und es macht absolut keinen Spaß. Warum solltest du das wollen?« Ihre Miene wurde kalt. »Du bist doch nur eifersüchtig.« »Eifersüchtig? Na klar, ich bin ja so eifersüchtig.« »Das bist du, du gestehst es dir nur nicht ein.« Sie verschränkte abwehrend die Arme vor ihrem Körper. »Ich bin mit einem wunderbaren Mann verlobt, ich bin glücklich, und jetzt bin ich ein Vampir genau wie du. Du dachtest wohl, du würdest die Einzige bleiben? Also, da habe eine brandheiße Nachricht für dich: Die Welt dreht sich nicht nur um Sarah Dearly.« »Weißt du was? Gerade mal vor drei Wochen bist du los 3i369 gegangen und hast dir den gleichen Rock wie ich gekauft, weil du dachtest, er wäre cool. Du bist ein Mitläuferin, Amy. Also, ich finde es furchtbar, dass ich es dir so deutlich machen muss: Das Leben als Vampir ist nicht einfach nur ein Kleidungsstück, das du morgen zurückbringen kannst, wenn es dir nicht mehr gefällt. Das ist dein Leben, und du hast gerade geschafft, es zu ruinieren.« »Was ist mit dir los, Sarah?« Ihre Enttäuschung über mich war offensichtlich. »Du hast dich verändert. Ich erkenne dich kaum wieder. Ich meine, du siehst noch genauso aus, aber du verhältst dich ganz anders.«
Dafür hatte ich nur ein verächtliches Schnauben übrig. »Allerdings. Ich habe mich vorher wie ein Dummkopf verhalten, genau wie du. Komisch, wie eine Woche, in der man um sein Leben rennen muss, jemanden verändern kann.« »Es ist deine eigene Schuld, dass du nicht die positive Seite der Dinge sehen kannst. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen uns. Es tut mir leid, dass du dich nicht für mich freuen kannst. Aber ich freue mich für mich. Barry freut sich für mich. Und das ist alles, was zählt.« Ich hob die Hände. Jetzt war ich wirklich wütend auf sie. »Wie du meinst. Ich will damit nichts weiter zu tun haben.« »Dann lass es doch.« Ihre Unterlippe bebte verdächtig. »Lass es einfach. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Barry hat mir angeboten, dass ich die Sonnenbänke heute Nachmittag umsonst benutzen kann.« Sie drehte sich auf dem Absatz herum, marschierte in eine der Kabinen und schlug die weiße Tür hinter sich ins Schloss. Einen Augenblick stand ich stumm vor Fassungslosigkeit da. Ich konnte es nicht glauben. Sie war so ein Trottel. War 370 das wirklich die Art, wie ich auf Leute wirkte? Als würde ich nur darüber nachdenken, was ich anzog und wie
hübsch mich andere Leute fanden? Es war schlichtweg bescheuert. Etwas in mir jedoch wollte hinter ihr her gehen und mit ihr reden. Wir waren schon so lange befreundet. Wir hatten so viel geteilt, und nicht nur diesen oberflächlichen Mist. Ich hoffte, unsere Freundschaft würde das hier überstehen. Ich hoffte es wirklich. Ich war mir nur nicht sicher. Andererseits, so wie die Dinge lagen, hatten wir vermutlich viel, sehr viel Zeit, das wieder hinzubiegen. Ich schüttelte den Kopf. Und fragte mich, wo ich ihren Junggesellinnenabschied ausrichten sollte. Vielleicht reagierte ich über. Wer, ich? Ich atmete ein paar Mal tief durch. Vielleicht musste ich mir nur etwas Zeit lassen und mich entspannen, ein paar YogaAtemübungen machen. Meine Mitte finden. Ich glaube, ich habe meine Mitte ungefähr zum selben Zeitpunkt verloren, an dem ich letzte Woche gefeuert wurde. Was allerdings voraussetzt, dass ich jemals so etwas wie eine Mitte hatte. Wenn ich es genau bedachte, war ich noch nicht einmal sicher, was eine Mitte überhaupt war. Ich öffnete die schwarze Tür zum Club und trat ein. Er war noch leer, aber das hatte ich erwartet. Offiziell wurde erst in sechs Stunden geöffnet. Es war unheimlich, ganz allein hier zu sein; die Stühle standen noch auf den Tischen, die Lichter waren gelöscht. Alles wirkte ruhig und friedlich. Ich ging zur Bar und genehmigte mir ein paar Gläschen Blut. Es war erstaunlich, wie sehr mich dieses widerliche
Zeug aufbaute. Lustig, wie man sich an die verrücktesten Dinge gewöhnen kann, wenn man nur genug Zeit hat. Thierrys Nische war ebenfalls leer. Es war niemand hier außer mir. Und Amy, draußen auf der Sonnenbank. Es wür 372 de mir guttun, einen Moment Ruhe und Frieden zu haben. Ich musste über alles nachdenken, ich wollte mit Thierry darüber reden. Ich musste wissen, ob er irgendetwas mit dem Tod von Quinns Mutter zu tun hatte. Ich wollte wissen, wieso er Eugene freigelassen hatte, nachdem er vor mir so getan hatte, als wollte er ihn umbringen. Ich setzte mich in Thierrys Nische und legte meinen Kopf auf den Tisch. Kurz darauf musste ich eingenickt sein. Ich wachte von einem spitzen Schmerz an meiner Schulter auf. Jemand schubste mich. »Was zum Geier?« Ich blickte unwillig hoch. »He«, sagte Zelda. Ich rieb mir die Augen. »Selber he.« »Was machst du denn hier?« Sie rutschte auf die andere Seite der Bank. »Ich wollte mit Thierry sprechen, aber er ist noch nicht da.« »Wie bist du reingekommen?« »Amy war vorne, um auf die Sonnenbank zu gehen.« »Ah, richtig.« Sie lächelte. »Unsere kleine zukünftige Braut.« »Ja.« Ich verdrehte die Augen. »Kannst du das glauben?«
»Ich finde es irgendwie niedlich.« Sie schob einen Neuling-Spezial über den Tisch. »Den habe ich für dich gemacht.« »Oh, danke.« Ich nahm einen Schluck. Das verdünnte Blut schmeckte ziemlich schwach, jetzt, wo ich an das richtige Zeug gewöhnt war. »Du findest es wirklich niedlich?« »Warum nicht? Liebe ist immer niedlich.« Ich lachte. »Ja. Liebe. Richtig. Ich glaube, es wird eine Weile dauern, bis ich davon überzeugt bin, dass sie ineinander ver 373 liebt sind. Und weißt du, was das Größte ist: Er hat sie sogar verwandelt. Dem werde ich demnächst ordentlich die Meinung geigen. Oder sie ihm einbläuen, wenn ich schon mal dabei bin.« Sie lächelte mich an. »Barry ist harmlos. Deine Freundin hätte es weit schlechter treffen können.« »Wenn du es sagst.« Sie musterte mich ein paar Sekunden. »Du wirkst ein bisschen deprimiert.« »Wirklich?« »Ja. Was ist los?« Sicher, ich suchte jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Normalerweise wäre das Amy gewesen, aber es sah nicht so aus, als ob sie derzeit eine große Hilfe wäre. Also brauchte ich jemand anderen, der mir sagte, wie er über alles dachte. Jemand, dem ich vertraute. Zelda wartete auf meine Antwort. Es war komisch, aber wie sie da auf der anderen Seite des Tisches saß, kam es mir vor, als würde ich meine jüngere Schwester ansehen.
Wenn ich eine gehabt hätte, heißt das. Zelda sah aus wie Ende zwanzig, und obwohl ich wusste, dass sie dreihundert Jahre älter war, war die Illusion ziemlich überzeugend. Vielleicht konnten wir uns ja später Zöpfe flechten und über Jungs plaudern. Vielleicht auch nicht. »Ich bin zu diesem Typen gefahren«, sagte ich. »Dem mit dem Heilmittel. Ich habe mich mit ihm getroffen.« »Tatsächlich?« Ihre Miene war abwartend. Vielleicht wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte, ob es eine gute oder schlechte Nachricht war, dass ich ihn getroffen hatte. Das versuchte ich selbst ja immer noch herauszufinden. »Und es ist stimmt. Es gibt ein Mittel.« 374 »Du bist dort ganz allein hingefahren? Wow, ganz schön mutig.« »Nein, ich habe Quinn mitgenommen.« Sie bekam große Augen. »Der Typ, der diesen Laden neulich nachts auf den Kopf gestellt hat? Der Jäger?« »Genau der. Er hat sich aber ein bisschen beruhigt. Er will das Mittel auch, deshalb habe ich ihn mitgenommen.« »Ah, das klingt vernünftig. Also, was ist passiert?« Ich seufzte. »Du glaubst nicht, was dieses Mittel kostet.« »Das kostet etwas? Oh, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Aber eigentlich ist das nur logisch. Also, wie viel?« »Probier's mal mit einer Million für eine Dosis.« Ihre Augenbrauen zuckten hoch. »Verdammt. Das ist eine Menge Geld.«
»Ja.« »Und er wollte euch nicht entgegenkommen und im Preis etwas heruntergehen?« »Warum sollte er?« Ich zuckte mit den Schultern. »Er kennt mich nicht. Warum sollte er mir dann einen Gefallen tun?« »Meine Güte, Sarah, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wo du doch so darauf gesetzt hast.« Ich kaute auf meiner Unterlippe, während ich überlegte, ob ich ihr noch mehr erzählen wollte. Die Versuchung nagte an mir wie Ameisen an einem schimmeligen Eiersalat-Sandwich -ich wollte meine Karten offen auf den Tisch legen. Ich sah sie an. »Er sagte, dass es einen anderen Weg gebe, an das Mittel zu kommen. Ich werde es zwar nicht machen, aber es gibt eine andere Möglichkeit.« »Wollte er, dass du mit ihm schläfst?« Ich verzog angeekelt das Gesicht. »O Gott, nein. Igitt. Du hättest ihn sehen müssen. Er war nicht gerade ein Sahne 375 schnittchen. Nein. Nein, er wollte wissen, wo Thierry sich versteckt. Er behauptete, diese Informationen könnte er für viel Geld an die Jäger verkaufen. Thierry wäre so etwas wie eine heiß begehrte Trophäe, weil er so alt und legendär wäre und dergleichen.« »Du machst wohl Witze.« Zeldas Augen waren so groß, dass ich darin wahrscheinlich mein Spiegelbild hätte sehen können, wenn ich noch eins gehabt hätte. »Was hast du ihm geantwortet?«
»Ich hab mich natürlich blöd gestellt. Was nicht sonderlich schwer war.« »Und Quinn?« »Er hat auch nichts gesagt. Aber dann hat der Typ behauptet, dass Thierry für den Tod von Quinns Mutter verantwortlich sei. Es war schrecklich.« »Das hat er gesagt? Und was hat Quinn dann gemacht?« »Ich fürchtete schon, er hätte einen kleinen Schlaganfall bekommen. Aber er hat kein Wort gesagt. Wahrscheinlich war er zu geschockt. Doch jetzt ist alles möglich. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Zelda. Sag mir, was ich machen soll. Soll ich Thierry verraten, dass dieser Kerl solche Lügen über ihn verbreitet?« Sie schwieg einen Moment. »Warum glaubst du, dass es eine Lüge ist?« Ich blinzelte sie an. »Weil es so sein muss. Thierry ist kein Mörder. Er wäre dazu niemals fähig gewesen, auf keinen Fall.« Sie bestätigte mit keinem Wort, dass ich recht hatte, sondern wich meinem Blick aus. »Zelda.« Panik stieg in mir hoch. »Sag was!« »Thierry ist immer gut zu mir gewesen«, antwortete sie. 376 »Ich habe dir erzählt, dass er mir geholfen hat, als ich noch ein Zögling war, oder?« Ich nickte. »Nicht dass er etwa sein Blut mit mir geteilt hätte« - sie warf mir einen viel sagenden Blick zu - »aber ich bin ihm etwas schuldig, okay? Er war gut zu mir, und ich habe mich stets verpflichtet gefühlt, auf ihn aufzupassen und nichts zu tun, was ihm schaden könnte. Deshalb werde
ich nichts sagen, was alles noch schlimmer machen könnte, als es ohnehin schon ist.« »Viel schlimmer kann es eigentlich nicht mehr werden.« Meine Stimme klang schrill. »Bitte, Zelda, sag mir, was du denkst.« Sie zuckte mit den Schultern und rutschte unbehaglich auf der Bank herum. »Hast du dich nie gefragt, warum es überhaupt Vampirjäger gibt?« »Weil sie unser Leben interessanter machen?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie verhalten sich deshalb so, der größte Teil von ihnen zumindest, weil sie ernsthaft glauben, dass sie das Richtige tun. Sie glauben, sie wären die Guten und wir die schreckliche Höllenbrut.« »Aber sie irren sich. Wir sind nicht böse.« Sie ließ sich einen Moment Zeit mit ihrer Antwort. »Das war nicht immer so.« »Okay, Zelda, hör auf, um den heißen Brei herumzureden. Sag endlich, worauf du hinauswillst.« Sie runzelte die Stirn. Offensichtlich wollte sie mir nicht verraten, was in ihrem Kopf vorging. Und ich war nicht sicher, ob ich es wirklich hören wollte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »Vor allem«, sagte sie, »vergiss nicht, dass die Dinge nicht immer so einfach waren, wie sie es heute sind.« 377 »Was meinst du damit?« »Sieh dich um. Du bist in einem Vampir-Club. Für ein paar Dollar bekommst du so viel Blut, wie du brauchst, mit oder ohne Alkohol. Wir können ein normales Leben
führen, uns mit normalen Menschen unterhalten und haben sogar sogenannte normale Jobs, falls wir sie brauchen. Niemand erfährt, wer wir wirklich sind, außer wir sagen es ihnen.« Ich ballte meine Faust. Ich hatte natürlich nicht vor, Zelda zu schlagen, aber es half mir ein bisschen, meine Anspannung abzubauen. Vielleicht verstärkte die Geste sie aber auch, ich wusste es nicht. »Du redest um den heißen Brei herum. Komm endlich zur Sache.« »Vor Hunderten von Jahren lagen die Dinge nicht so einfach. Wir brauchen Blut, um zu überleben. Es gibt nicht so viele Leute, die uns so ohne weiteres ihr Blut überlassen. >Na klar, verbeiß dich ruhig in meinen Hals und saug mich aus.< Wenn wir diesen Schmerz fühlen, den der echte Hunger auslöst, und ich glaube, du hast das selbst schon erlebt, tun wir, was nötig ist, um zu bekommen, was wir brauchen.« Ich ballte so fest die Fäuste, dass meine Fingernägel sich schmerzhaft in meine Handflächen gruben. »Ich fürchte, du musst etwas deutlicher werden, Zelda. Ich kapiere nur langsam.« Sie seufzte. »Ich bin noch nicht so alt, im Vergleich gesehen. Es war hart für mich, ist es eigentlich nach wie vor. Aber vor meiner Zeit war es viel, viel schlimmer. Die Vampire nahmen sich, was sie brauchten, und manchmal übertrieben sie es.« »Sie saugten die Menschen versehentlich so stark aus, dass sie starben.« Ich war wie betäubt.
»Hunger ist etwas Furchtbares. Es gab unbeabsichtigte Todesfälle. Nach einer Weile akzeptierten sie die. Ich glaube, sie 379 mussten sich das einreden, sonst wären sie verrückt geworden.« »Was hat das mit Quinns Mutter zu tun?« »Nichts. Aber es erklärt vielleicht, warum Vampire heute als Monster betrachtet werden.« »Weil sie früher genau solche Monster waren«, erwiderte ich. Das Herz schlug mir bis in den Hals. »Den schlechten Ruf, der uns bis heute anhängt, haben wir hauptsächlich einer bestimmten Gruppe aus Europa zu verdanken. Man könnte sie die Partylöwen ihrer Zeit nennen. Sie tranken Blut, so viel sie wollten, und es war ihnen egal, ob sie zu viel von ihren Opfern nahmen. Wenn man viel Blut trinkt, kann einen das berauschen, und wenn man das ständig tut... du verstehst, worauf ich hinauswill.« Sie holte Luft und wartete, ob ich etwas dazu sagen wollte. Als ich schwieg, sprach sie weiter. »Also taten sich die Vampirjäger zusammen, um die Welt von dieser Gruppe von Mördern zu befreien. Sie verjagten sie aus Europa, aber damit zerstreuten sie sie lediglich über die ganze Welt. Die meisten dieser Vampire wurden im Lauf der folgenden Jahrhunderte getötet, aber ich weiß von zweien, die bis heute überlebt haben.« »Lass mich raten«, sagte ich dumpf. «Véronique und Thierry.«
Sie nickte. »Sie sind legendär. Jedenfalls sind die beiden die ältesten Vampire, die ich persönlich kenne.« »Du willst also behaupten, dass Thierry früher einmal ein Suchtproblem gehabt haben könnte. Aber das war damals, und jetzt ist jetzt. Quinns Mutter dürfte erst vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren getötet worden sein. Tut mir leid, aber diese Erklärung kaufe ich dir nicht ab.« »Du bist süß«, erwiderte Zelda, »und noch so jung. Du 380 siehst ihn durch eine rosarote Brille, weil er so gut aussieht und so mächtig ist. Aber mach dir nichts vor. Er kann auch sehr gefährlich sein, und das war er schon immer. Niemand, der sich ihm in den Weg stellt, tut das für gewöhnlich lange, wenn du weißt, was ich meine.« Meine Miene wurde immer finsterer. Irgendwie konnte ich die Erzählstunde heute nicht so richtig genießen. «Véronique hat mir von ihrem früheren Leben erzählt. Sie nannte Thierry einen Feigling. Er war jemand, der sich beim ersten Anzeichen von Gefahr verkroch. Das klingt für mich nicht nach einem richtig gefährlichen Monster.« »Das hat Véronique dir erzählt?« Zelda lächelte nachsichtig. »Dann überleg mal, wer dir das erzählt hat, hm?« »Wie meinst du das?« «Véronique erzählt Geschichten gerne so, dass sie dabei glänzt und alle anderen blass aussehen.« »Willst du behaupten, dass sie gelogen hat?« »Einige Jahrhunderte können eine Geschichte ein wenig verfärben. Genau wie eine alte Fotografie, bei der die Details verblasst und die Ecken abgeschabt sind. Ich
glaube nicht, dass Thierry ein Feigling ist oder jemals einer war. Genau weiß ich das natürlich nicht. Ich kenne nur den Thierry von heute, und er ist jemand, mit dem man sich nicht gern anlegt. Außerdem weiß ich, dass er die Jäger hasst. Was alles andere angeht, da kann ich nur spekulieren.« Ich lehnte mich auf meiner Bank zurück. Geschichte habe ich schon auf der Highschool gehasst. Man musste sich einfach zu viele Daten und Namen merken. Jetzt jedoch hasste ich sie aus einem völlig anderen Grund. »Wieso erzählst du mir das?« Ich weinte nicht, sondern fühlte mich nur wie betäubt. 381 Zelda beugte sich vor und berührte meine Hände, die ich so fest auf dem Tisch gefaltet hatte, dass ich sie nicht mehr spürte. »Wissen ist Macht. Aber bitte sag Thierry nicht, dass ich dir das alles erzählt habe.« »Tue ich nicht.« »Ich sollte mich jetzt an die Arbeit machen. Wir öffnen in einer guten Stunde.« Ich nickte ohne sie anzusehen. Sie stand auf und ließ mich allein in der Nische zurück. Ich hatte mich noch nie so einsam gefühlt. Thierry war ein Schurke. Ein Bilderbuchvampir, der in Hälse biss, Blut trank, und einen Haufen Leichen auf seinem Weg zurückließ. Die Art Monster, die gehetzt und zur Strecke gejagt werden und deren Tod die braven Bürger bejubeln.
Die Sorte Mann, die eine liebende Ehefrau und Mutter aussaugen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich war unwillkürlich aufgestanden. Ich musste hier weg, wollte nach Hause. Nein, ich wollte Quinn suchen. Ja, Quinn. Ich musste mit ihm reden. Ihm sagen... ihm was sagen? Dass alles, was er gehört hatte, stimmte? Dass wir Thierry ausliefern sollten, damit wir das Mittel bekommen konnten? Verdiente er es, für die Verbrechen zu sterben, die er in der Vergangenheit begangen hatte? Und wenn, durften wir dann von seinem Tod profitieren? Ich unterdrückte diese Gedanken. Im Moment waren sie einfach zu viel für mich. Was ich jetzt brauchte war frische Luft. Das heißt, eigentlich sehnte ich mich danach, aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum gewesen war. Alles. Jedes noch so kleine Detail. Ich wollte, das all dies verschwand. Ich rannte fast zur Hintertür, stieß sie auf und fühlte, wie die kalte Luft meine Haare über meine Schultern wehte. Viel 382 leicht konnte ich diesen gesamten Schrott ja hinter mir lassen, wenn ich anfing zu laufen. Wenn ich ausreichend Abstand zwischen mich und das Monster brachte, in das ich selbst mutiert war. Ich würde weit, sehr weit weglaufen. Ich spürte die Tränen auf meinen Wangen, die sich wegen der Kälte fast wie Eiszapfen anfühlten. Himmel, ich hatte in der letzten Woche mehr geweint als in meinen gesamten Zwanzigern. Sogar als mein Date für den Abschlussball mit mir Schluss machte und mich mit
der Rechnung für die Limousine sitzenließ, habe ich nicht so viel geheult. Dann fühlte ich, wie mich jemand am Unterarm packte und mich festhielt. Dieser jemand drehte mich herum, damit ich ihn ansah, und zwang mich, ihm direkt in seine seltsamen, silbrigen Augen zu blicken. »Sarah«, sagte Thierry. »Was ist los?« 22 Thierry, ich... ich wollte gerade gehen.« »Hattest du wieder das Bedürfnis, mit mir zu reden?« »Nein.« Ich wusste nicht, was ich ihm hätte sagen sollen. »Ich muss los.« Ich sah in der kalten Luft vor mir meinen Atem. Aber Thierry lockerte seinen warmen Griff um meinen Arm nicht. »Es hat mir nicht gefallen, wie wir gestern Abend auseinandergegangen sind«, sagte er. »Es gibt da ein paar Dinge, die wir klären sollten.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe Eugene gesehen. Du hast ihn laufen lassen. Dafür danke ich dir.« 383 Er musterte mich prüfend. »Warum benimmst du dich dann so?« »Wie >so« »Als ob du es nicht ertragen könntest, mich anzusehen.« Ich schluckte und sah zu ihm hoch, zwang mich, ihm in die Augen zu sehen und seinem Blick standzuhalten. »Warum wollen alte Vampire keine Zöglinge schaffen?«, erkundigte ich mich. Ich weiß nicht, wo diese Worte herkamen. Ich glaube, die Frage überraschte mich genauso sehr wie ihn.
»Wie bitte?« »An dem Abend, nachdem wir uns zum ersten Mal getroffen haben, hast du mir gesagt, dass es Gründe gäbe, warum Vampire, die so alt sind wie du, keine Zöglinge schaffen wollen. Ich habe mich nur gefragt, was das für Gründe sein können.« »Bitte, komm herein, dann reden wir darüber.« »Nein... ich glaube nicht. Ich wollte es einfach nur wissen.« Thierry seufzte. »Je älter der Vampir ist, desto mächtiger ist sein Blut. Das kann bestimmte Nebenwirkungen für die Jüngeren haben, die nicht immer erwünscht sind.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel vieles, was du selbst erlebt hast. Da wäre zunächst dein Spiegelbild. Es ist viele Monate früher verblasst als das normalerweise geschieht. Deine Reißzähne haben sich ebenfalls früher gebildet. Sicherlich sind das hauptsächlich Unannehmlichkeiten, aber es kann manchmal sehr traurig sein, den Kontakt mit dem, was man vorher war, zu schnell zu verlieren.« »Das ist alles? Eine Art Schnellvorlauftaste im VampirDVD-Spieler? Das wusste ich bereits.« 384 »Nein.« Er zögerte einen Moment, dann trat er dichter zu mir, bis sein Gesicht nur noch Zentimeter von meinem entfernt war. »Man sagt, dass die psychische und emotionale Bindung zwischen einem älteren Schöpfer und seinem Zögling in mancherlei Hinsicht stärker und tiefer ist. Allerdings brauchst du dir darüber keine allzu
großen Sorgen zu machen, da ich nicht dein Schöpfer bin. Du bist nicht länger an mich gebunden, als du möchtest.« »Oh. Vermutlich ist das gut. Ich fühle mich nämlich nicht an dich gebunden, weder psychisch noch sonst wie, ganz gleich, was du gehört hast.« Ich stand da und wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Dabei war ich normalerweise nicht auf den Mund gefallen. Thierry war der einzige Mann, sogar die einzige Person auf der Welt, bei der es mir dauernd die Sprache verschlug, vor allem wenn er so dicht vor mir stand wie jetzt. Seine Lippen verzogen sich zu einem unmerklichen Lächeln. »Ich glaube, ich werde dich vermissen.« »Warum? Wohin gehst du?« Sein Schweigen verriet mir alles, was ich wissen musste. Ich schüttelte den Kopf. »Ach ja, richtig. Wie konnte ich das vergessen?« »Es gibt keinen Grund, traurig zu sein. Sieh es einfach als ein Ereignis, dessen Zeit jetzt gekommen ist.« »Wer sagt denn, dass ich traurig bin?« Meine Worte klangen härter, als ich beabsichtigt hatte. »Ich habe versprochen, dir zu helfen, oder? Nenn mir einfach den Ort und die Zeit, und ich werde da sein. Genau dafür sind wir Zöglinge gut. Für alles andere scheine ich ja nicht besonders nützlich zu sein.« Thierry unterbrach schließlich unseren Blickkontakt, packte die halboffene Tür, vor der ich stand, zog sie weit auf und 385 trat von mir weg. Er hatte immer noch dieses Lächeln auf dem Gesicht, aber ich hatte das Gefühl, dass es nicht der
richtige Ausdruck für seine Miene war. Es muss ein besseres Wort als »Lächeln« geben, wenn hinter dieser Gebärde weder Spaß noch Freude stecken. Wenn es lediglich eine Form ist, die ein Mund halt gerade einnimmt. In diesem Moment fiel mir etwas auf. Wenn ich Thierry nicht kennen würde - wenn ich ihm lediglich auf der Straße begegnen würde und nicht wüsste, dass er ein Vampir oder etwas anderes als ein Mensch war -, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass etwas an ihm ungewöhnlich wäre. Ich hätte nichts Altes oder Legendäres, Schlechtes, Mörderisches oder Kaltblütiges wahrgenommen. Er sah einfach aus wie ein sehr attraktiver Mann Mitte dreißig. Ein bisschen traurig vielleicht, aber ansonsten völlig normal. Doch wie es in dem alten Klischee heißt, man kann ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen. Thierry war wie ein dickes, in Leder gebundenes Buch mit einem prägefrischen Cover - die Seiten darin jedoch waren abgenutzt und vergilbt. Und die Geschichte würde einen nachts wachhalten, weil man Angst vor dem hatte, was im Kleiderschrank lauern könnte. »Bis dann, Sarah«, sagte er, bevor er im Club verschwand. Die Tür schloss sich langsam hinter ihm und fiel mit einem Klicken ins Schloss. Ich blieb eine ganze Weile regungslos stehen, während dicke Schneeflocken auf meinen Haaren und in meinem Gesicht landeten und auf meiner Haut schmolzen.
Schließlich machte ich mich auf den Heimweg. Wenn ich im Midnight Eclipse blieb, würde ich mich nur mies fühlen, was ich aber genauso gut auf meinem Sofa konnte - wie zu einem 387 Embryo zusammengerollt. Eventuell würde ich sogar am Daumen lutschen. Natürlich auf die kindliche Art, nicht auf die >meine Chefin hat sich am Brieföffner geschnitten<-Art. Ich stieg vor meinem Wohnblock aus dem Bus und ging zielstrebig darauf zu, setzte einen Fuß vor den anderen. Wenn ich mich auf die leichten Dinge konzentrierte, kamen mir die schwierigen Dinge möglicherweise nicht mehr so erdrückend vor. Ein Fuß vor den anderen. Ein tiefer Zug von der kalten Abendluft nach dem anderen. Und eine Hand, die mir grob den Mund zuhielt. Ich war so überrascht, dass ich noch nicht einmal versuchte zu schreien. Wer auch immer es war, er drückte mich fest gegen sich, presste den Arm wie den Sicherungsbügel eines Karussell über meine Brust, und hielt mir mit der anderen Hand meinen Mund zu. Die Person war sehr kräftig und zerrte mich um die Ecke in eine menschenleere Gasse. Dann ließ er mich los. Ich fuhr herum, um festzustellen, wer es war, und schrie unwillkürlich auf. Warum überraschte es mich nicht, Quinn vor mir zu sehen? Er war ganz in Schwarz gekleidet und lächelte nicht.
»Dafür werde ich dir den Hintern versohlen.« Ich fuhr mir mit dem Handrücken über den Mund. »Was zum Teufel fällt dir ein?« Er griff in seine Tasche und zog ein Stück Seil heraus. Ich betrachtete es argwöhnisch. »Wozu ist das?« Er sah mir in die Augen. »Was ich vorhabe, wird dir nicht gefallen, aber du musst mitkommen.« »Ich komme ja schon.« Ich hob die Hände, um ihn von mir 388 fernzuhalten. »Kein Grund, mich wie einen Psycho zu behandeln. Also, warum sagst du mir nicht, was los ist, bevor ich ausflippe?« Er zögerte und schlang das Seil um sein Handgelenk, genau so, wie es ein potenzieller Würger vermutlich ebenfalls machen würde. Was meinen Gemütszustand nicht sonderlich stabilisierte. »Wir bekommen das Mittel«, sagte er. »Heute Nacht.« »Niemals.« Meine Stimme klang entschlossen, wenn auch wohl ein ganz klein wenig hysterisch. »Nein, Quinn, das kannst du nicht tun!« »O doch, kann ich. Es ist die beste Entscheidung, und wir profitieren beide davon. Ich werde dir das Mittel besorgen, ob du willst oder nicht. Also, wir können es mit oder ohne Knebel durchziehen, Sarah. Es ist allein deine Entscheidung.« Überflüssig zu sagen, dass der Knebel zum Einsatz kam. Kaum trat Quinn auf mich zu, fing ich an zu schreien, mehr aus einem Reflex heraus als aus Angst. Nicht dass
mir jemand zu Hilfe gekommen wäre. Gab es denn gar keine guten Samariter mehr in der Stadt? Möglicherweise überwinterten sie ja alle im Süden, so wie die Zugvögel. In weniger als einer Minute hatte er mich verschnürt wie einen Thanksgiving-Truthahn. Wenigstens tat er mir nicht weh. Unwillkürlich wunderte ich mich darüber, wie viel Übung er darin zu haben schien, Frauen in dunklen Straßen zu fesseln. Im Hausschatten parkte ein Wagen. Ein paar Sekunden fürchtete ich, dass dies eine niveaulose Mafia-Entführung würde. Dass er mich in den Kofferraum einer ominösen schwarzen Limousine stopfen würde. Wie sich herausstellte, war es ein Mietwagen, ein silberner VWKäfer, und ich durfte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, ich Glückspilz. 389 Eine Zeit lang machte ich so viel Lärm, wie ich konnte, beschimpfte ihn, auch wenn der Knebel meine Worte leicht dämpfte und sie daher wie verschiedene Variationen von »Mrrghh!« klangen. Ich versuchte, das Seil zu lockern. Wahrscheinlich hätte ich mich gegen Quinn werfen können, aber vermutlich würde er dann im besten Fall nur die Kontrolle über das Auto verlieren und wir würden in einem brennenden, zertrümmerten Chaos im Straßengraben enden. Also blieb ich irgendwann still sitzen, richtete den Blick geradeaus und versuchte, mich zu entspannen. Quinn würde mir nicht wehtun, das war mir klar. Allerdings
konnte ich nicht versprechen, dass ich ihn nicht verletzen würde, wenn er mich in ferner Zukunft losband. Er würde Dr. Kalisan verraten, wo Thierry zu finden war, damit die Jäger losgehen und Vampir-Hackfleisch aus ihm machen konnten. Er tat es, weil Thierry seine Mutter umgebracht hatte. Nach allem, was Zelda mir erzählt hatte, blieben mir nicht allzu viele Argumente, die ich für Thierrys Verteidigung einsetzen konnte. Ich hätte gern geglaubt, dass Thierry es nicht getan hatte, dass er nie etwas Größeres als eine eklige Spinne getötet hatte. Aber es gelang mir nicht. Quinn stoppte so scharf vor dem Wohnwagen des Doktors, dass ich förmlich aus dem Sitz geschleudert wurde. Glücklicherweise hatte er mich ordentlich angeschnallt, bevor wir zu unserer kleinen Höllentour aufbrachen. Er beugte sich zu mir, um den Sicherheitsgurt zu lösen, und erwiderte schließlich meinen wütenden, intensiven Blick. »Ich weiß, was du denkst, aber es ist das Beste so. Und ich mache das nicht nur aus Rache.« Er zögerte einen Moment, während er mich losmachte, und setzte dann nachdrücklich hinzu: »Wirklich nicht.« 390 Na klar. Wahrscheinlich glaubte er es tatsächlich selbst. Er trat an die Beifahrertür und wollte mir beim Aussteigen helfen, aber ich rührte mich nicht von der Stelle. Er hatte mir keine andere Wahl gelassen, als
mitzukommen, aber ich würde es ihm nicht zusätzlich noch leicht machen. Er stöhnte offenkundig gereizt, und beugte sich dann zu mir herunter, um mich über seine Schulter zu werfen. Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich wohl freiwillig gegangen. So schleppte er mich wie einen großen Kartoffelsack zur Eingangstür des Wohnwagens. Wenn ich nicht vor Wut gekocht hätte, wäre mir das ungeheuer peinlich gewesen. Er klopfte so heftig gegen die Tür, dass sie erzitterte. Ich spürte die Erschütterungen im ganzen Körper. Nach ein paar Minuten tauchte Dr. Kalisan auf. Ich weiß nicht, wie er reagiert hat, als er mich sah - das heißt, mein Hinterteil auf Augenhöhe hatte, aber er bat uns jedenfalls hastig hinein. Quinn trug mich die Treppe hinunter und setzte mich auf dem Sofa im Wohnzimmer des Doktors ab. Dann entfernte er den Knebel aus meinem Mund. Wahrscheinlich erwartete er, dass ich sofort eine Tirade von Flüchen loslassen würde, aber ich sagte kein Wort. Quinn machte keine Anstalten, meine Fesseln zu lösen, sondern strich nur eine Haarsträhne zur Seite, die mir ins Gesicht gefallen war und schob sie hinter mein linkes Ohr. »Alles okay?«, fragte er besorgt, als er sich neben mich kniete. »Tut mir leid, dass ich das machen musste.« Ich wandte mein Gesicht von ihm ab. Ich hatte offiziell beschlossen, nicht mit ihm zu reden.
»Es ist schlicht der einzige Weg.« Aus seiner Stimme sprach keine Begeisterung über die Aussicht, jetzt endlich das Heilmittel zu bekommen. 392 Vielleicht sollte ich mir mein vernichtendes Schweigen für eine passendere Gelegenheit aufheben. »Es gibt einen anderen Weg«, sagte ich. »Welchen? Sag ihn mir.« Ich holte tief Luft. Sie roch abgestanden, wie halt der Muff in einem unterirdische Wohnwagen. Es war nicht sonderlich überraschend, dass sich der Gestank von nassem Hund darunter mischte. Wo Barkley wohl steckte? »Ich kenne ihn nicht, aber ich bin sicher, dass es einen gibt. Es muss einen anderen Weg geben. Wenn wir ein paar Tage Zeit hätten...« »Aber«, unterbrach mich Dr. Kalisan, »in ein paar Tagen ist die Jagdsaison vorbei, und die wohlhabenderen Jäger werden weitergezogen sein. Sie wollen die Information natürlich immer noch, aber dann ist sie deutlich weniger wert. Ich fürchte, die Zeit ist ein sehr entscheidender Faktor.« Quinn stand auf. »Also, wie soll es laufen?« »Quinn!« »Sarah, ich werde das hier durchziehen, ob du willst oder nicht. Wir werden beide geheilt, und wenn du danach nie mehr mit mir sprechen willst, muss ich damit leben.« »Es muss doch einen anderen Weg geben. Es muss ihn einfach geben. Ich werde das nicht zulassen.« »Hör zu,« - seine Stimme klang härter - »ich weiß, dass du und Thierry euch... nahesteht. Und er hat auch mir
geholfen. Aber ich werde mich verdammt noch mal deswegen nicht schuldig fühlen. Er hat meine Mutter umgebracht. Weißt du, was diese Frau mir bedeutet hat?« Ich schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Ich war erst fünf Jahre alt, als sie starb. Ich weiß eigentlich gar nicht, wie viel sie mir bedeutet hat. Aber ich erinnere mich an eine Frau, die alles für mich, für unsere Familie getan hat. Wenn ich jetzt seinen Aufenthaltsort 393 verrate, bekomme ich meine Rache und für uns beide das Heilmittel. Diese Entscheidung bringt mehr Gutes hervor als Schlechtes.« Ich seufzte, lange und bebend. Ich wünschte, ich hätte ihm widersprechen können, aber mein Kampfgeist war versiegt. Wenn Thierry seine Mutter getötet hatte, hatte Quinn das Recht auf Vergeltung. Ich war nicht dumm; das hatte ich verstanden. Ich sah jedoch die Welt nicht so schwarzweiß wie er. Was auch immer Thierry in der Vergangenheit Schreckliches getan haben mochte, ich fand nicht, dass er es verdiente, dafür jetzt zu sterben. Das Problem war nur, dass Thierry unbedingt sterben wollte. Er war des Lebens überdrüssig und plante möglicherweise sogar in diesem Moment seinen Selbstmord. Wäre es also so schlimm, ihn zu verraten? Vor allem, wenn ich es nicht selbst tat, sondern Quinn es tun ließ? Vielleicht kam Thierry den Jägern am Ende sogar zuvor. Was eine ziemliche Enttäuschung für sie sein würde. Oder aber sie glaubten in einem solchen Fall, er
wäre verschwunden, um seinen Ruf als legendären Meistervampir unangetastet zu lassen. »Es ist sehr einfach«, sagte Kalisan. »Du sagst mir, wo man ihn finden kann, und ich besorge das Heilmittel für euch. Dann ist diese ganze unerfreuliche Geschichte im Handumdrehen vorbei.« Das brachte mich auf eine Idee. Wenn Quinn ihm Thierrys Aufenthaltsort verriet, würden wir, wie Kalisan versprochen hatte, sofort das Heilmittel bekommen. Ich würde mich blitzartig ans Telefon hängen und Thierry warnen, damit er untertauchte. Dieser Plan erschien mir absolut logisch. Niemandem musste etwas passieren. Wir könnten alle bekommen, was wir wollten. Aber ich musste cool vorgehen. 394 »Eines will ich noch wissen«, erklärte Quinn. »Sie müssen mir versprechen, dass niemand anders zu Schaden kommt. An dem Ort, an dem sich Thierry versteckt, halten sich noch eine Menge anderer unschuldiger Leute auf.« »Meinst du nicht eher eine Menge anderer Vampire?« Kalisan lachte heiser. »Meine Güte, wie sich die Dinge verändert haben. Der mächtige Jäger wird eins mit seiner ehemaligen Beute.« Quinn musterte ihn finster. »Darum geht es nicht. Mehr Gewalt ist nur effektiv nicht nötig. Versprechen Sie mir, dass niemand anders verletzt wird.«
»Ich werde tun, was ich kann. Ich fürchte nur, dass sich die Ereignisse meiner Kontrolle entziehen, sobald ich diese Information weitergegeben habe.« In dem folgenden Schweigen beobachtete ich Quinn aufmerksam. Er dachte angestrengt nach, und seine finstere Miene verdeutlichte, dass ihn Kalisans Antwort störte. Das war der Preis, den er zahlen musste. Hatte er wirklich gedacht, alles würde glatt ablaufen? »Bind mich los«, forderte ich ihn auf. Quinn blinzelte mich misstrauisch an. »Ich verspreche, dass ich nichts anstellen werde.« Er schien dankbar für diesen Aufschub zu sein und machte sich an den Knoten zu schaffen. Nach einer Minute fielen die Stricke herunter, und ich rieb meine Handgelenke. Quinn sah mir in die Augen. »Vergiss nicht, du hast es versprochen.« »Ich weiß.« Ich hatte das Gefühl, eine dichte Nebelwand würde über mir schweben, eine, die sich seit fast einer Stunde dort zusammengebraut hatte. Was heißt Stunden, zum Teufel? Der Nebel hatte schon vor Tagen eingesetzt, ungefähr zu 395 der Zeit, als mir klarwurde, dass mein Vampirdasein kein verrückter Traum war. Gut, wir würden geheilt werden. Warum war ich dann nicht glücklich? Plan hin oder her, diese Situation war einfach mies. Wenn alles vorbei war, wenn ich wieder mein normales Leben führte - obwohl ich nicht einmal mehr wusste, was eigentlich normal bedeutete -, dann
würde ich wegziehen. Irgendwo ein neues Leben beginnen. Vielleicht in Vancouver. Ich war als Kind einmal dort gewesen und konnte mich noch daran erinnern, wie mich die Berge und das Meer begeistert hatten. Ich wäre entzückt, wenn mich irgendetwas wieder mitreißen könnte. Quinn wandte sich zu Dr. Kalisan um und atmete tief durch. »Okay. Sie finden Thierry de Bennicoeur in 217 Lakside Drive in Toronto. Ihm gehört das Sonnenstudio Midnight Eclipse. Dahinter versteckt sich ein geheimer Vampirclub.« Dr. Kalisan nickte. »Gut. Ausgezeichnet.« Ich wischte mir eine Träne weg. Das war es also. Es hatte nur eine Sekunde gedauert. Ich fragte mich, wie lange ich cool tun konnte, bevor ich ausflippen und zum nächsten Telefon rennen würde. Der Countdown hatte angefangen. »Und jetzt das Heilmittel.« Quinns Stimme klang gepresst. Offenbar hatte er ebenfalls mit seinen Emotionen zu kämpfen. »Bitte.« Dr. Kalisan nickte kurz. »Ich hole es. Zufällig habe ich es hier. Ich hatte so ein Gefühl, dass ihr heute Abend vorbeikommen würdet.« Er drehte sich um und ließ Quinn und mich allein im Wohnzimmer. Quinn sah mich an. »Tut mir leid.« Ich konnte ihm nicht antworten, also schüttelte ich nur den 396
Kopf. Ich fühlte mich schrecklich. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich gerade den ersten von vielen Pflöcken in Thierrys Brust gerammt. Mein Plan war absolut schwachsinnig. Selbst wenn Thierry lebend davonkommen sollte, war der Club erledigt. Mist. Und es war meine Schuld. Ich hätte die ganze Sache aufhalten müssen. Aber wie? »Sarah.« Quinn berührte meinen Arm, und ich zuckte zurück. »Sag etwas.« »Wie war's mit: Rede nie wieder mit mir? Nie mehr.« »Das ist nur gerecht.« Ein paar Minuten verstrichen in Schweigen. Es dauerte lange genug, dass meine Zweifel über das, was wir hier gerade taten, immer stärker wurden. Ich war drauf und dran, aufzustehen und zu gehen, aber in der Sekunde tauchte Dr. Kalisan wieder in der Tür auf, die zur Küche führte. Er grinste selbstgefällig. »Haben Sie es?«, fragte Quinn. »Wieso glaubst du, dass das Heilmittel ein es ist?«, erwiderte der Doktor. Eine weitere Person erschien hinter ihm in der Tür. Sie hatte ein vertrautes Gesicht, das vom Alter und von Erfahrung gezeichnet war. Ein gepflegter, grauer Bart zierte es. Die Augen darin ähnelten denen seines Sohnes, ihr Blick jedoch war deutlich weniger freundlich und mitfühlend. »Genau.« Quinns Vater starrte uns beide an, während er in das Handy sprach, das er sich ans Ohr hielt. »Midnight Eclipse. Richtig. Ich komme dorthin.« Er klappte das
Telefon zu und schob es in die Innentasche seines Jacketts. Mist! Supermist. Mein Magen sackte mir in die Kniekehlen. »Vater?« Quinns Stimme war kaum zu hören. Roger Quinn schüttelte sichtlich enttäuscht den Kopf. »Wa 398 rum bin ich nicht überrascht? Mein einziger Sohn hat den Familiennamen besudelt. Ich kann deine Widerwärtigkeit bis hierhin riechen.« »Es tut mir leid.« Quinn trat einen Schritt vor. Er hätte alles tun sollen, nur nicht sich entschuldigen. Mich beschlich das Gefühl, dass er sein ganzes Leben damit verbracht hatte, sich bei diesem Mann zu entschuldigen, sogar für Dinge, die er gar nicht getan hatte. »Spar dir deine Worte. Ich habe dir nichts mehr zu sagen.« »Aber Vater, ich bin hergekommen, weil ich das Heilmittel will. Ich will nicht das sein, was ich bin. Ich will es nicht! Und jetzt muss ich es auch nicht mehr sein. Dr. Kalisan hat gesagt, dass er ein Heilmittel hat. Deshalb sind wir hier.« »Dummkopf«, fauchte Roger Quinn. »Es gibt kein Heilmittel.« 23 Mir klappte die Kinnlade herunter, als ich seine Worte hörte. »ES gibt kein Heilmittel?« Sollte das ein Witz sein. Er spielte Spielchen mit uns! Gleich würden Leute hinter
dem Sofa hervorspringen und uns zeigen, wo die versteckte Kamera war. Es war ein Witz. Es musste ein Witz sein. Aber warum lachte dann niemand? Ich sah den Doktor an. Der zuckte verlegen mit den Schultern. »Tut mir leid, meine Liebe, aber er sagt die Wahrheit. Es gibt kein Mittel gegen Vampirismus. Das hat es nie gegeben und wird es auch nie geben.« 399 »Aber... aber warum haben Sie uns angelogen?« »Der Zweck heiligt die Mittel, würde ich sagen. Die Sache mit dem Heilmittel war ein Gerücht, das von den Jägern in die Welt gesetzt wurde, ein Trick, um ein paar von euch aus euren Grüften zu locken. Es wurden Hinweise gestreut, hauptsächlich als Versuchsballons. Mein Name kam wegen meiner Vergangenheit als Wissenschaftler ins Spiel und weil ich mit Roger befreundet bin. Das ist mein Beitrag, um das Böse auf jegliche Art zu bekämpfen, die mir möglich ist.« Ich wollte die Stirn runzeln, aber mein Gesicht war wie erstarrt. »Wie oft muss ich eigentlich noch sagen, dass ich nicht böse bin?« »Es liegt in der Natur des Vampirs, böse zu sein. Ich werfe dir das genauso wenig vor, wie ich einer Löwin verübeln könnte, dass sie ihrer täglichen Mahlzeit nachjagt.« »Sie haben uns benutzt«, sagte Quinn. Er sprach immer noch sehr leise. »Sie wollten Thierrys Aufenthaltsort ausfindig machen. Nur darum ging es.«
»Die Gelegenheit ergab sich sozusagen von selbst. Dieser besondere Erfolg war nicht geplant, sondern nur ein glücklicher Zufall.« »Aber er hat meine Mutter umgebracht.« Quinn sah zu seinem Vater. Roger lächelte, schwach und sehr unfreundlich. »Wie sehr du mich jetzt an sie erinnerst. Sie hat ebenfalls bis zum Schluss ihre Unschuld verteidigt.« »Wovon redest du da?« Roger seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe dir nie die Wahrheit über deine Mutter erzählt. Und jetzt kommt es mir vor, als würde ich diese schrecklichen Tage noch einmal durchleben.« 400 »Der Mord an ihr...« »Ihre Bestrafung«, korrigierte Roger. »Es wäre womöglich besser gewesen, ich hätte dich von Anfang an glauben machen, dass de Bennicoeur sie abgeschlachtet hat. Stattdessen habe ich geschwiegen. Ich habe angenommen, du würdest versuchen, auf eigene Faust etwas herauszufinden, und war sehr enttäuscht, als deine Neugierde dich nicht weiter gebracht hat als bis hierhin.« »Vater, wovon redest du?« »Deine Mutter war eine Hure.« Roger spie die Worte förmlich hervor; seine Wut war heute noch genauso glühend wie sie fünfundzwanzig Jahre früher gewesen sein musste. »Eine ehebrecherische Hure, die sich mit Vampiren eingelassen hat.« ' »Was?« Quinn starrte ihn fassungslos an.
»Als ich es herausfand, habe ich sie zur Rede gestellt - ich wollte die Wahrheit wissen. Sie hat es nicht einen Moment geleugnet. Sie behauptete sogar, sie würde einen von ihnen lieben.« Er lachte. Es klang wenig erfreulich. »>Liebe...< als ob ein Vampir die Bedeutung dieses Wortes überhaupt kennen würde. Zu diesem Zeitpunkt liebte ich sie immer noch und war bereit, ihr diesen Fehltritt zu verzeihen, aber sie war bereits verwandelt. Die Bissspuren an ihrem blassen, weißen Hals waren noch deutlich zu erkennen. Sie wollte mich in jener Nacht verlassen, dich verlassen, Junge, ohne ein Wort der Erklärung.« Mein Herz schlug laut und heftig in meiner Brust. Diese Geschichte gefiel mir überhaupt nicht, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass Quinn sie mochte. Er starrte auf einen Punkt an der Wand, direkt neben dem Kopf seines Vaters. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, aber er unternahm kei 401 ne Anstalten, seinen Vater zu unterbrechen, und zu verhindern, dass die ganze Wahrheit ans Licht kam. »Deine Mutter«, fuhr Roger fort, »war eine Vampirhure. Ihr verdorbenes Herz jubilierte bei der Vorstellung, die zu verlassen, die zu lieben und zu achten sie vor Gott gelobt hatte, und zwar bis dass der Tod uns scheide.« »Sie haben sie umgebracht.« Es war meine Stimme, die diese Worte verkündete. Ich hatte nichts sagen wollen; die Worte purzelten unwillkürlich aus meinem Mund. Roger sah mich zum ersten Mal richtig an.
»Ich habe nur getan, was getan werden musste. Und ich wusste, dass es von diesem Tag an meine heilige Pflicht war, die Erde von solchem Abschaum zu befreien.« Es war nicht Thierry gewesen. Er hatte Quinns Mutter nicht getötet. Diese Nachricht hätte mich fröhlich stimmen müssen oder wenigstens erleichtern sollen, aber ich war wie gelähmt. Ich wartete auf Quinns Reaktion. Was würde er tun? Er hatte nach fünfundzwanzig Jahren soeben erfahren, dass sein Vater seine Mutter umgebracht hatte, weil sie genau das war, was er, Quinn, jetzt war. »Mit Véronique schienen Sie neulich abends aber keine Probleme gehabt zu haben«, erklärte ich. Im selben Moment wurde mir der Grund dafür klar. Sie war die Verräterin. Robert Quinn mochte Vampire, solange sie ihm dabei halfen, andere Vampire zu töten. Ein sonderbares Lächeln zuckte über sein faltiges Gesicht. »Veronique ist ein Sonderfall. Eine seltene Rose in einem Garten voller Schlangen. Dennoch würde ich keine Sekunde zögern, ihr das Herz aus ihrem reizenden Busen zu reißen, wenn sie mich dazu provozieren würde.« Er funkelte mich wütend an und bemühte sich, mich mit 402 seinem starren Blick einzuschüchtern. Es funktionierte. Ich sah zuerst weg. »Nun, das alles ist ein bisschen peinlich, oder?«, ergriff Dr. Kalisan nach kurzem Schweigen das Wort. »Vielleicht sollte ich einen Kaffee kochen, und wir plaudern in der Küche weiter?«
»Dafür, mein Freund«, Roger griff in die andere Innentasche seines Jacketts und zog einen langen, spitzen Holzpflock heraus, »haben wir leider keine Zeit.« Quinn kniff die Augen zusammen. »Was hast du damit vor, Vater?« »Ich werde tun, was getan werden muss«, erwiderte er gelassen. »Glaube nicht, dass mir dein Tod auch nur einen Moment lang Vergnügen bereitet. Ich hatte große Hoffnungen in dich gesetzt. Sehr große Hoffnungen. Leider werden sie sich wohl nicht mehr erfüllen.« »Ja, ich bin eine ziemlich große Enttäuschung für dich, oder?« Quinns Wut und Bitterkeit waren so stark, dass sie sich wie eine dichte, schwarze Aura um ihn legten. »All die Jahre hast du mir beigebracht, wie man jagt und tötet, und nun sieh, was aus mir geworden ist.« »Genau.« Roger prüfte die Spitze des Holzpflocks mit seiner Fingerkuppe. Ich fand ihn echt verdammt spitz. »Das ist bedauerlich, aber dieses Risiko gehört zum Leben jeden Jägers. Zumindest der Schwachen unter uns.« »Für all die Arbeit, die ich geleistet habe, hast du mir nie irgendeine Anerkennung gezollt.« Quinns Stimme wurde kräftiger, angestachelt von der schrecklichen Wahrheit, die er gerade eben erfahren hatte. »Ich habe immer gedacht, es wäre richtig. Du hast mich in dem Glauben erzogen, dass Vampire böse wären und getötet werden müssten, als wären sie nur Ungeziefer.« 403 »Genau das sind sie ja auch, mein Sohn. Bitte mach es mir nicht schwerer als nötig.« Drohend, wie ein
erfahrener Jäger trat Roger einen entschlossenen Schritt auf seinen Sohn zu. »Nein!« Quinn hob den Arm schneller, als ich wahrnehmen konnte, und riss mit einem Griff seinem Vater den Pflock aus der Hand. »Ich bin nicht böse. Ebenso wenig wie Sarah böse ist. All die Jahre habe ich im Namen Gottes Vampire getötet. Und die ganze Zeit habe ich nicht geahnt, dass ich selbst zu den Bösen gehörte. Aus persönlichem Rachedurst unschuldige Leben auszulöschen! Du hast mich angelogen. Betrogen. Du hast meine Mutter umgebracht. Du warst es, du bist ihr Mörder.« »Ja, ich war es. Ich habe getan, was getan werden musste. Um meinen Sohn vor der schmerzhaften Wahrheit zu schützen. Und der Tod deiner Mutter bereitet mir keinerlei Gewissensbisse. Sie hatte ihn verdient. Sie hätte noch viel Schlimmeres verdient, aber leider ist sie viel zu schnell gestorben, sodass ich sie nicht so bestrafen konnte, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte.« »Ich hasse dich!« Quinns Stimme klang jetzt brüchig und schrill, fast hysterisch. »Ich glaube, ich habe dich immer gehasst.« Roger beugte sich vor und zog ein langes Messer aus seinem Stiefelschaft. »Reines Silber«, erklärte er und drehte es im Licht. Es funkelte. »Funktioniert bei Monstern wie euch genauso gut wie Holz.« Er stürzte sich auf Quinn, bevor ich mich rühren oder auch nur schreien konnte. Quinn versuchte ihn abzuwehren, das Messer von seinem Hals und seiner
Brust fernzuhalten. Der Holzpflock, Quinns einzige Waffe, flog zu Boden. Er schlug zu und traf Rogers Kinn mit der Faust. Ich sah das Blut, als das Messer Quinn quer über der Wange erwischte. 405 Dann hörte ich einen Schuss. Und den Plumps, als ein Körper zu Boden stürzte. Quinn trat von der Leiche seines Vaters zurück. Er zitterte. Genauso wie ich zitterte. Ich sah zur Küchentür hinüber. Dr. Kalisan hielt das rauchende Gewehr in der Hand und schüttelte traurig den Kopf. »Ich kannte die Wahrheit nicht. Hätte ich das gewusst, hätte ich damit nichts zu tun haben wollen. Bitte verzeiht mir.« Er drehte sich um und verschwand in der Küche. Ich wankte zu Quinn, packte seinen Arm und versuchte sein Zittern in den Griff zu bekommen. Er stand unter Schock. Ich erkannte es an seinem glasigen Blick, als er sich zu mir umdrehte und mich anstarrte. »Er ist tot.« Ich nickte. Quinn fiel neben seinem Vater auf die Knie. Er weinte. Weinte über den Mann, der seine Mutter kaltblütig ermordet hatte. Der ihm in den Jahren danach das Leben zur Hölle gemacht hatte. Er weinte, weil sein Vater tot war. Dann wischte er sich mit dem Ärmel seines Hemdes übers Gesicht, atmete einmal tief durch und schüttelte sich.
Ich ließ mich auf meine Knie sinken und umarmte ihn. Ich erwartete, dass er mich wegstoßen würde, aber das tat er nicht. Ebenso wenig, wie er meine Umarmung erwiderte; er ließ sie einfach zu. Ich fühlte, wie jemand meinen Arm anstieß und sprang auf. Es war Barkley. Er war ins Zimmer gekommen, um nachzusehen, was dieser Lärm zu bedeuten hatte. Dann setzte er sich neben mich und hechelte. Ich schenkte dem Werwolf ein kleines Lächeln und betrachtete dann wieder Roger Quinns Leiche. 406 In einem Horrorfilm war dies normalerweise der Moment, an dem der Bösewicht, unbeschadet von seinen Verletzungen, wieder aufsteht, darauf erpicht, seinen Job zu Ende zu bringen. Quinns Vater würde jedoch nicht mehr aufstehen. Er starrte mit leeren, blicklosen Augen an die Decke. Der Doktor musste zurückgekommen sein, weil ich ihn nach ein paar Minuten sprechen hörte. »Entschuldigung«, sagte er, und als ich aufblickte, sah ich, dass er sich ein ziemlich großes Glas bernsteinfarbenen Alkohol eingeschenkt hatte vermutlich Scotch. Er trank einen ordentlichen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ich wollte nicht stören.« Ich sah ihn nur kurz an. Ich konnte dieses Ende kaum begreifen, geschweige denn, dass ich einen klaren Gedanken hätte fassen können, was als Nächstes zu sagen oder zu tun war.
»Ich fühle mich verantwortlich für das, was hier passiert ist«, fuhr der Doktor fort. »Leider weiß ich nicht, wen ich anrufen müsste, um die Jäger aufzuhalten. Ich kannte nur Roger.« »Wovon reden Sie da?«, fragte Quinn, ohne aufzublicken.. »Die Information, die Sie mir gegeben haben. Irgendwie erscheint es mir nicht richtig, dass die Jäger diese Information besitzen, nachdem ich jetzt die ganze Wahrheit kenne.« Ich ließ Quinn los und sprang auf. Thierry. Ich erinnerte mich an das, was Roger zu seinen Freunden am Telefon gesagt hatte. »Ich komme dorthin.« »Mist, er hat es schon den anderen Jägern gesagt. Wir müssen sofort los.« »Ich kann mich gar nicht genug entschuldigen«, sagte Dr. 407 Kalisan. »Sie sollten wissen, dass ich Ihnen jederzeit helfen werde, falls Sie irgendwie meine Hilfe benötigen könnten.« Quinn und ich rannten hinaus zu dem Käfer. Es kam mir vor, als wären Stunden seit unserer Ankunft vergangen, aber die ganze Sache hatte nur Minuten gedauert. Große, lebensverändernde Dinge neigen häufig dazu, rasend schnell zu passieren. »Ich brauche ein Handy.« Ohne ein Wort reichte Quinn mir seins. Wir würden einige Zeit brauchen, um nach Toronto zurückzufahren, aber
ich konnte Thierry zumindest warnen, ihm sagen, dass er unbedingt das Midnight Eclipse verlassen musste, bevor es zu spät war. Das bedeutete, dass ich ihm beichten musste, was wir gerade getan hatten. Wir hatten ihn verkauft. Egal. Sollte er mich hassen, aber er durfte nicht meinetwegen sterben. Ich kannte die Nummer auswendig. Während es klingelte, warf ich einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war einundzwanzig Uhr fünfzehn. Der Club war seit fünfzehn Minuten geöffnet. »Geh ran!«, fauchte ich ins Telefon, als Quinn mit Vollgas startete. »Geh ran, verdammt noch mal!« Und wenn es schon zu spät war? Wenn die Jäger alle in Clancy's Bar Bier getrunken und Billard gespielt hatten, als der Anruf kam? Sie brauchten nur über die Straße zu marschieren und hätten den ganzen Laden innerhalb von wenigen Minuten auseinandernehmen können. Der Gedanke war zu schrecklich, um ihn weiter zu verfolgen. Nach dem fünften Klingeln nahm schließlich jemand ab. »Midnight Eclipse«, tönte Zeldas Stimme laut und deutlich durchs Telefon. Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus. 408 »Ist da vielleicht wieder irgend so ein Perverser?«, fragte Zelda, als sie mein langes Ausatmen hörte. »Nein. Hier ist Sarah.« »Wie schade. Dabei hatte ich so auf einen Perversen gehofft. Sarah, was gibt's?«
»Ich muss mit Thierry sprechen. Es ist dringend.« »Tut mir leid, Süße. Er ist weggegangen.« »Wo ist er hin? Wann kommt er zurück?« »He, immer mit der Ruhe. Er wollte mit ein paar Leuten reden. Mit wem, weiß ich nicht. Es hat wohl etwas mit diesem Verräter zu tun. Was ist denn los?« »Der Verräter«, wiederholte ich. »Aber ich weiß bereits, wer es ist.« »Du... du weißt es?« »Ja. Mein Gott, warum habe ich dir das nicht früher gesagt? Thierry muss es unbedingt erfahren. Es ist Véronique. « »Veronique? Bist du sicher?« »Sie ist es. Ich bin mir absolut sicher. Als ich mit ihr einen Drink genommen habe, hat sie mit den Jägern geflirtet. Sei einfach vorsichtig. Sie ist wahrscheinlich sehr gefährlich.« »Wo bist du jetzt?« »Wir biegen gerade auf den QEW ein, sind auf dem Rückweg von Grimsby.« »Du warst in Grimsby? Was zum Teufel hast du da gemacht?« Ich warf Quinn einen Blick zu, aber er konzentrierte sich vollkommen aufs Fahren. Er brauchte wahrscheinlich den letzten Rest seiner Kraft, um das Auto auf der Straße zu halten. »Ich habe etwas Schreckliches getan, Zelda. Quinn und ich... wir wollten das Heilmittel. Thierry ist in schrecklicher 409
Gefahr. Sag ihm... sag ihm, er soll sich irgendwo verstecken. Ich fühle mich so furchtbar. Ich weiß nicht, was ich tun soll!« Zelda schwieg einen Moment. »Ihr habt ihn verkauft«, sagte sie schließlich. »Für ein Heilmittel, das noch nicht mal existiert?« »Ich weiß. Ich bin dumm. Ich gebe es zu. Aber wenn die Jäger noch nicht da sind, dann gibt es noch eine...« Ich verstummte. Die Übelkeit in meinem Magen schwappte durch meinen ganzen Körper. »Sekunde mal. Woher weißt du, dass es gar kein Heilmittel gibt?« Einen Moment herrschte Schweigen, bevor ich Zeldas leises Lachen hörte. »Ich hätte dich einfach weiterreden lassen sollen. Das zumindest kannst du gut.« »Du wusstest, dass es nicht existiert?« Mein Gehirn fühlte sich an, als würde es jeden Moment explodieren. »Aber du hast mir doch die Telefonnummer gegeben, unter der man es bekommen kann.« »Ja, das stimmt.« Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. »Mein Gott. Es ist nicht Veronique, stimmt's? Du bist es. Du bist die Verräterin.« »Du weißt ja, wer im Glashaus sitzt, Schätzchen, und so weiter. Ich glaube, du bist diejenige, die gerade Thierry verraten hat. Es wäre zwar nicht das erste Mal, dass du ihn hintergehst, aber bitte, das ist deine Sache, nicht meine.« »Wie konntest du das tun?«
»Die Frage ist eher, wie hätte ich es nicht tun können? Wir sind alle bereit, etwas für einen größeren Zweck zu riskieren, Sarah. Du hast Thierry verraten, um das Heilmittel zu bekommen. Ich habe es aus finanziellen Gründen getan.« 411 »Für Geld?« »Ich lebe schon sehr lange. Und ich besitze kaum einen verdammten Cent. Ich bin eine dreihundert Jahre alte Bardame, Herrgott noch mal. Du hattest es so leicht, und dabei merkst du das nicht einmal. Thierry hat mir nie so geholfen, wie er dir geholfen hat. Trotzdem hätte ich ihn nie so betrogen, wie du es gerade getan hast. Auf der anderen Seite habe ich erst heute erfahren, dass er so viel Geld wert ist. Trotzdem, niemand außer ihm hat jemals einen Finger für mich gerührt. Und jetzt rühre ich einen Finger, und zwar meinen Mittelfinger - und bekomme endlich, was mir zusteht.« Ich umklammerte das Handy fester. »Allerdings. Du wirst genau das bekommen, was du verdienst. Warte nur, bis ich da bin.« »Ich muss jetzt Schluss machen, Süße. Der Boss ist gerade wiedergekommen, und er sieht nicht glücklich aus. Es ist schon merkwürdig, dass sein Kopf so viel Geld wert ist. Irgendwie sehe ich ihn jetzt mit ganz anderen Augen. Diese Art von Bezahlung in Naturalien wäre zwar ganz nett gewesen, aber ich fürchte, in diesem pikanten Punkt bist du mir zuvorgekommen, hm? C'est la vie.« Die Leitung war tot.
Ich schrie in den Hörer und hämmerte mit dem Handy auf das Armaturenbrett. Es zerbrach in meinen Händen. Ich sah zu Quinn. »Oh, tut mir leid. Ich kaufe dir ein Neues.« »Vergiss es. Worum zum Teufel ging es gerade?« Meine Benommenheit verschwand. Der Nebel verzog sich und hinterließ eine deftige Portion Wut. »Zelda ist die Verräterin. Ich kann es nicht fassen. Ich dachte, sie wäre meine Freundin.« 412 »Wer ist Zelda?« »Die Barkeeperin im Midnight Eclipse. Sie sieht aus wie ein Teenager.« Ich starrte aus dem Fenster auf die Straße vor uns. »Sobald wir zurück sind, werde ich ihr für immer Sargarrest geben.« Quinn donnerte die ganze Strecke nach Toronto mit Höchstgeschwindigkeit, aber es kam mir trotzdem so vor als kämen wir nur im Schneckentempo voran. »Wie sieht dein Plan aus?«, erkundigte er sich, als wir den CN-Tower direkt vor uns sahen. Rechts von uns schimmerte der See. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht panisch werden. Für diesen Luxus blieb uns keine Zeit. »Ich weiß nicht. Ich hoffe, wir kommen rechtzeitig, damit wir überhaupt noch einen Plan umsetzen können.« »Tut mir leid.« »Und mir erst. Auch das mit deinem Vater. Vielleicht hättet ihr zwei nur ein bisschen Zeit gebraucht, um das alles zu verarbeiten.«
Er lachte, aber es war kein fröhliches Geräusch. »Ich glaube, das ist das Einzige, was mir nicht leidtut. Er hat meine Mutter umgebracht. Er hat mich fast dreißig Jahre wie ein Stück Scheiße behandelt. Ist es falsch, froh zu sein, dass er endlich seine Quittung bekommen hat?« Darauf wusste ich nichts zu antworten, also schwieg ich. Endlich erreichten wir den Club. Es war kurz nach zehn. 24 413 Quinn machte sich nicht die Mühe, ordentlich einzuparken, sondern wir ließen das Auto schräg auf dem Bürgersteig stehen. Ich rannte zur Eingangstür und stieß sie auf. Quinn war neben mir. Es war leer. Niemand stand hinter dem Tresen. Dezente Hintergrundmusik plätscherte aus den Lautsprechern. Ich ging auf die schwarze Tür zu, die zum Club führte und öffnete sie. Im nächsten Moment schlug mir eine komplett andere Art von Musik entgegen. Die schwarze Tür war offensichtlich schalldicht, denn im Sonnenstudio gab es nie ein Anzeichen dafür, dass nur ein paar Schritte weiter etwas ganz anderes vor sich ging. Die übliche Band stand auf der Bühne, die Betty-Page-Doppelgängerin sang gerade einen Song, »Goldfinger«, den Titelsong zu dem James Bond Film. Auf den ersten Blick war das einzig Auffällige am Club, dass er fast bis an die Grenzen seines Fassungsvermögens gefüllt war. Es mussten mindestens hundert Vampire sein. Diese Menge von Gästen kam mir zunächst
merkwürdig vor, aber dann fiel mir ein, dass die anderen Clubs geschlossen hatten, weil sie entweder bis auf die Grundmauern abgebrannt oder geschlossen worden waren, um zu verhindern, dass sie abgefackelt wurden. Ich hatte gedacht, Véronique wollte, dass das Midnight Eclipse offen blieb, weil sie die Verräterin wäre und den Jägern so leichteren Zugang zum Club verschaffen wollte. Jetzt war mir klar, dass sie es schlicht aus geschäftlichen Gründen tat. Ihre Designergarderobe verschlang sehr viel Geld. Und angesichts all der durstigen Vampire im Club, dürfte sie heute Nacht einige Kostüme verdient haben. »Sarah!« George kam auf mich zu. Seine verschwitzten 414 Haare klebten ihm auf der Stirn. »Bin ich froh, dass du da bist!« Ich starrte ihn entsetzt an und packte seine muskulösen Arme. »Was ist los? Wo ist Thierry?« Wer interessiert sich denn für den! Deine Romanze kann warten, Sweetheart. Siehst du nicht, was hier los ist? Ich werde noch verrückt! Schnapp dir ein Tablett und nimm Bestellungen auf.« Er sah Quinn an. »Und du auch, Süßer.« Ich packte sein Hemd. »Ich meine es ernst, George. Wo ist Thierry?« Er hob die Brauen. »Irgendwo hier. Ich hab ihn vor einer Minute noch gesehen, okay?« Ich ließ ihn los und sah zur Bar hinüber. »Wo ist Zelda?« »Sie ist verschwunden. Jetzt sind nur noch ich und der neue Typ da, der ein absoluter Totalausfall ist. Komm
schon! Wenn du mir hilfst, schulde ich dir einen Riesengefallen. Du kannst verlangen, was immer du willst.« »Sagtest du nicht, dass diese Kleinigkeiten dich nicht ins Schwitzen bringen würden?« »Okay, ich habe gelogen. Ich schwitze wie eine Sau. Sieh mich nur an! Es ist einfach ekelhaft.« Er blickte zur Bar und entdeckte einen jungen Vampir, der hinüberlangte, um seinen Becher wieder mit Blut aufzufüllen. »He! Hände weg!« Er lief los, um den Mann zurückzudrängen. Ich sah Quinn an. »Ich bin heute Abend nicht in Stimmung, um zu kellnern«, erklärte er. Ich zupfte an seinem Hemd. »Wir müssen Thierry finden.« Wir bahnten uns unseren Weg zwischen den voll besetz 415 ten Tischen, bis jemand eine Hand nach mir ausstreckte und mich am Arm festhielt. Ich wirbelte herum, bereit zu schlagen oder zu treten, wer auch immer es war. »Sweetheart«, lallte ein dunkelhaariger Mann. Neben ihm saß eine vollbusige Blondine, die offensichtlich ebenso betrunken war wie er. »Kriegen wir eine Runde O-Positiv und Gin? Ach, was soll's, mach uns zwei Rostige Sargnägel, okay?« Ich drehte mich um, wollte ihn ignorieren, aber er kniff mir so fest in den Hintern, dass ich erneut zu ihm herumwirbelte. Ich musste meine Hand an meiner Seite festkrallen, damit ich ihn nicht ohrfeigte.
»Hör zu, Milchzahn, sehe ich aus wie eine Kellnerin?« »Neulich abends schon.« »Ah. Also, heute ist nicht neulich, richtig? Und behalt deine Hände bei dir, Freundchen.« »Ich werde mich beim Geschäftsführer beschweren.« Von diesem Idioten ließ ich mich nicht länger aufhalten. Ich warf Quinn einen Seitenblick zu. Trotz der besonders für ihn schrecklichen Erlebnisse, besaß dieser Kerl doch die Dreistigkeit, sich zu amüsieren! »Was?« »Milchzahn?« Ich zuckte mit den Schultern. »Na und? Er war ein Blödmann, und wenn ich einen sehe, sage ich es ihm klar und deutlich.« »Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie du mich jetzt gern nennen würdest.« Die Belustigung wich aus seiner Miene. »Nun werd nur nicht meinetwegen melancholisch. Ich brauche dich, wir müssen zusammenhalten.« »Du brauchst mich?« »Ja. Aber bilde dir bloß nichts darauf ein.« 416 »Du meinst, wir reden ein andermal darüber?« Er sah mich hoffnungsvoll an. »Du bist unmöglich.« »Heißt das Ja?« »Es heißt: Ja, du bist unmöglich. Darüber hinaus verspreche ich gar nichts.« »Dir ist schon klar, dass wir füreinander geschaffen sind, Sarah, oder?«
»Ich fasse nicht, dass du das ausgerechnet jetzt diskutieren willst nach allem, was passiert ist. Dein Timing ist echt miserabel.« Er lächelte mich an. »Ich bin froh, dass du mich nicht in die Wüste schickst. Aber ich verstehe nach wie vor nicht, welche Einwände du dagegen hast, dass wir beide zusammenkommen.« »Erwähnte ich schon, dass du reif für einen ernsthaften Tritt in den Hintern bist?« Sein Lächeln verstärkte sich. »Klingt nicht uninteressant.« .Ich stöhnte frustriert, so laut, dass er mich trotz der Musik hören konnte. »Du hast versucht, mich umzubringen, Armleuchter. Zweimal.« »Und jetzt möchte ich dich einfach nur küssen. Nenn mir nur einen Grund, warum wir nicht zusammen sein sollten.« Er war verrückt. Und außerdem war es effektiv ein schlechter Zeitpunkt für dieses Gespräch. Ich drehte mich von ihm weg, weil mein Gesicht warm wurde. Mein Blick glitt über die Vampire, die mit ihren Freunden tranken, mit ihren Familien, mit ihren Liebsten, sich amüsierten trotz des lausigen Services heute Nacht. Schließlich blieb mein Blick an Thierrys Nische hängen. Der an dem Tisch davor lehnte und mich direkt ansah. 417 »Thierry.« Ich seufzte erleichtert und setzte mich sofort in Bewegung.
»Oh, richtig«, hörte ich Quinns betrübte Stimme. »Das ist ein Grund.« Ich näherte mich Thierry, bahnte mir meinen Weg zwischen den Gästen hindurch, bis ich schließlich direkt vor ihm stand. »Sarah.« Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Schön, dich zu sehen.« Der Blick seiner silbernen Augen wanderte zu Quinn, der seinen Stolz und Schmerz hinuntergeschluckt hatte und an meiner Seite geblieben war. »Wie ich sehe, bist du heute Abend in Begleitung.« Ich wollte es bereits abstreiten, aber dann klappte ich den Mund wieder zu. Es gab Wichtigeres und Dringenderes zu besprechen, als Eifersüchteleien auszutauschen. War Thierry überhaupt eifersüchtig? Nein, darüber konnte ich jetzt nicht nachdenken. Ich durfte mich nicht ablenken, aber Thierry lenkte mich ständig ab. Vor allem, nachdem ich jetzt wusste, dass er Quinns Mutter nicht getötet hatte. Quinn wusste das auch, was jedoch nichts an seinem Widerwillen gegen Thierry änderte, den man ihm nur zu deutlich anmerkte. »Du musst hier verschwinden«, erklärte ich ihm. »Das ist mein Club«, antwortete er. »Wieso sollte ich woanders hingehen?« »Du musst. Es ist nicht sicher.« Er sah mich einen Augenblick an, dann bedeutete er uns, uns zu setzen. Ich ließ mich auf die Bank in der Nische gleiten, obwohl mein Hirn mir zubrüllte, ihm so schnell wie möglich alles mitzuteilen.
»Man ist nirgendwo sicher, Sarah. Das heißt nicht, dass wir uns wie Feiglinge verstecken müssen.« 419 Bei seinen Worten legte ich meinen Kopf ein wenig schief. Irgendwie klangen sie mir schrecklich vertraut. Er lächelte mich an. »Ja, Véronique hat mir von eurer Mädchen-Nacht erzählt. Sie hatte Angst, dass sie dich verschreckt hätte oder du jetzt schlecht von mir denkst, weil du gegangen bist, ohne dich von ihr zu verabschieden. Ich weiß, dass sie dir Geschichten aus meinen früheren Zeiten erzählt hat. Ich verstehe jetzt, warum du dich vorhin so komisch verhalten hast.« »Ich habe ihr nicht geglaubt.« Quinn saß schweigend neben mir und hatte die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. »Warum nicht? Schließlich hat sie die Wahrheit gesagt, aber es ist schon sehr lange her. Und du solltest nicht glauben, dass ich heute noch derselbe Mann bin, der ich damals war.« »Das brauche ich nicht. Ich meine, das denke ich nicht.« »Also, warum willst du dann, dass ich mich verstecke wie ein Kind, das Angst vorm Gewitter hat?« Ich war kurz davor, alles hervorzusprudeln, ihm zu sagen, wie schrecklich ich war, dass ich ihn verraten hatte und dass deshalb jetzt die Jäger hinter ihm her waren. Mit anderen Worten, die Wahrheit. Aber Quinn kam mir zuvor. »Es ist alles meine Schuld«, sagte Quinn. »Die Jäger wissen jetzt, wo dieser Laden ist, und sie sind besonders
hinter Ihnen her. Ich habe ihnen die Information verkauft, um für mich ein Gegenmittel zu kaufen. Für mich und Sarah. Ich wollte, dass wir wieder Menschen werden.« Thierry betrachtete ihn einen Moment. Ich erwartete fast, dass er Quinn an Ort und Stelle umbringen oder ihm zumindest den Tod androhen würde. Aber er blieb ruhig, stoisch, wie eine Statue. 420 »Es gibt kein Heilmittel.« »Das wissen wir«, sagte Quinn. »Jetzt wissen wir es, immerhin. Aber es ist zu spät. Man hat uns hereingelegt, und jetzt müssen Sie hier verschwinden.« »Ich gehe nirgendwohin.« »Aber, Thierry«, ich registrierte den schrillen Unterton der Panik in meiner Stimme, »du musst. Sie werden dich umbringen.« Sein Blick glitt langsam zu mir, bis wir uns in die Augen sahen. »Ja, das werden sie.« Ich schüttelte den Kopf. »Es interessiert dich nicht?« »Nein, tut es nicht. Wie du genau weißt, Sarah, ist dieser Moment schon lange überfällig. Wenn ich heute Nacht durch die Hände von Jägern sterben muss, werde ich dieses Schicksal akzeptieren. Es ist unausweichlich. Ich habe keine Angst.« Seine Stimme klang plötzlich so laut, oder vielleicht waren es nur seine Worte - so mutlos und ohne Hoffnung. Es juckte mich in den Fingern, ihm eine kräftige Ohrfeige zu verpassen, ihn wachzurütteln. Er
hatte nicht den geringsten Grund, heute Nacht zu sterben. Überhaupt keinen verdammten Grund. Ich hörte, wie mein Herz hämmerte, wie das Blut in meinen Ohren rauschte. Alles schien auf einmal lauter zu sein. Aber warum? Ich war nicht der Grund. Es war plötzlich absolut ruhig im Club. Die Musiker hatten aufgehört zu spielen. Sämtliche Gespräche in dem ganzen, verrauchten Laden waren verstummt. Ich blickte zur Band hinüber. Die dunkelhaarige Sängerin umklammerte den Mikrofonständer und stand stumm, wie erstarrt, da. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein merkwürdiger Ausdruck ab. Überraschung? Schock? Bevor ich es he 421 rausfinden konnte, erlosch jeglicher Ausdruck, und eine dicke rote Flüssigkeit breitete sich auf ihrer weißen Bluse aus. Dann fiel sie, langsam, wie in Zeitlupe, vornüber von der Bühne. Peter stand hinter ihr und hielt einen blutigen Holzpflock in der rechten Hand. Er packte den wackelnden Mikrofonständer, beugte sich vor, bis sein Mund dicht am Mikro war und hob eine Braue. Diejenige, die nicht von der Augenklappe verdeckt wurde. »Befindet sich zufällig eine gewisse Sarah Dearly hier im Publikum?«, fragte er laut und deutlich. »Falls ja, würde sie dann bitte nach oben auf die Bühne kommen?« 25
Die Stille im Club dröhnte geradezu unerträglich. Ich rutschte unwillkürlich tiefer in die Bank. Woher wusste Peter, dass ich da war? Oder hatte er nur geraten? Vielleicht hoffte er es nur, damit er sich endlich an mir rächen konnte, wegen dem, was ich mit seinem Auge gemacht hatte. Thierry wollte aufstehen, aber meine Hand schoss vor; ich packte sein Handgelenk und drückte es, so fest ich konnte. »Setz dich hin«, fauchte ich ihn an. »Bitte!« Er erwiderte meinen Blick und schüttelte den Kopf. Dann legte er die andere Hand auf meine und löste sanft meine Finger von seinem Arm. Er stand auf und blickte zur Bühne. »Verlassen Sie diesen Club. Sie sind hier nicht willkommen.« »Du bist nicht Sarah«, sagte Peter und grinste. »Aber ich wette, du bist dieser Thierry, richtig?« 422 »Das ist richtig. Mein Name ist Thierry de Bennicoeur.« »Ziemlich schwuler Name, Mann. Ich hasse euch Franzosen. Aber keine Angst, wir kümmern uns in einer Minute um dich. Die Jungs und ich haben die ganze Nacht Zeit. Also, wo hast du diese Schlampe versteckt? Liefere sie uns aus, dann lasse ich vielleicht ein paar von euch Kreaturen am Leben.« Ein paar andere recht martialisch wirkende Typen hatten sich neben Peter aufgebaut. Ich erkannte einige von ihnen; ich hatte sie an dem Abend gesehen, an dem ich gebissen wurde. Und die anderen in dem Pub auf der
anderen Straßenseite. Einige jedoch hatte ich noch nie gesehen. Sie blickten allesamt in die Menge erstarrter Vampire wie Löwen, die sich die fettesten Tiere unter ihrer schwachen, hilflosen Beute aussuchen wollte. Ich fühlte, wie sich ein warmer Körper zwischen mich und Quinn drängte. Es war George. Er sah ziemlich geschockt aus. »Was zum Teufel soll das?«, flüsterte er. »Wieso wollen die dich?« »Es ist nicht leicht, berühmt zu sein«, flüsterte ich zurück. »Du«, George funkelte Quinn an. »Das sind doch deine Freunde, oder? Unternimm gefälligst was!« Quinns Ausdruck war leer. »Es sind nicht mehr meine Freunde. Ich kann nichts tun.« »Also los.« George zupfte an meinem Arm. »Nehmen wir den Hinterausgang.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das würde zu viele von uns hier drin das Leben kosten. Außerdem lässt Thierry sich umbringen, wenn wir nicht irgendetwas tun, um diese Kerle zu stoppen.« Mein Blick überflog die Menge, und ich entdeckte Amy, 423 die mit Barry an einem kleinen Tisch in der Nähe der Bühne saß. Sie winkte mir kurz zu und signalisierte mit ihren Lippen: »Was jetzt?« Dabei umklammerte sie das schmale Gerippe von Barry, als ob nur er verhindern konnte, dass sie vom Hocker fiel.
Barry hatte seinen Blick starr auf die Bühne gerichtet. Er sah entschlossen und mutig aus. Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste ehrlich nicht, was als Nächstes zu tun war. Klar war mir nur, dass ich mich nicht einfach heimlich davonschleichen konnte, nur um mich selbst zu retten, und die anderen im Stich lassen würde. So was tat man einfach nicht. »Wenn Sie etwas verhandeln wollen«, herrschte Thierry Peter an, »dann reden Sie gefälligst mit mir. Sarah hat mit all dem überhaupt nichts zu tun.« Peter nahm das Mikrofon vom Ständer und presste es gegen seine Lippen, sodass die Worte übersteuert und sehr laut klangen. »Sa-rah. Sa-rah. Komm raus, komm raus, wo auch immer du steckst. Ich fange mit deinen Augen an und arbeite mich dann an diesem leckeren kleinen Körper herunter. Nun komm schon. Lass mich nicht so lange warten.« Quinn stieß mich zur Seite und baute sich neben Thierry auf. »Peter!«, schrie er zur Bühne hoch. »Mach das nicht.« Peter lächelte seinen früheren Kumpel an. »Wenn das nicht Michael Quinn ist. Freut mich, dich zu sehen. Nochmals vielen Dank, dass du mich im Restaurant im Stich gelassen hast. Sie haben mich ins Krankenhaus geschafft und mir den Magen ausgepumpt. Ich wäre fast verreckt.« »Töten oder getötet werden, Mann. Die Zeiten haben sich geändert.« 424
»Ja, das haben Sie. Weißt du, Quinn, ich werde dir einen Gefallen tun, weil wir so viel miteinander durchgemacht haben. Ich lasse dich laufen. Verschwinde, und ich drücke so lange mein gesundes Auge zu. Das heißt nicht, dass ich deinen Hintern nicht ein anderes Mal jagen werde, aber heute Abend will ich nur dieses Flittchen.« Quinn stand vor mir, sodass Peter mich nicht sehen konnte. Er schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Das hier ist jetzt auch mein Kampf.« »Falsche Entscheidung. Vielleicht hatte dein Vater doch ganz recht.« »Mein Vater ist tot.« Peter hob wieder die Braue und wartete einen Augenblick, bevor er weiterredete. »Du hast also deine Entscheidung getroffen. Okay, Leute« - er ignorierte Quinn und adressierte seine Leute - »fangen wir an. Zeit ist Geld.« Er sprang von der Bühne und riss Amy Barry aus den Armen. Er zerrte sie auf die Bühne, den Arm fest um ihren Hals geschlungen. »Hallo, Sweetheart.« Vor dem Mikro gab er ihr einen Kuss auf die Wange, der eklig feucht schmatzte. »Schön, dich wiederzusehen.« Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich mich gerührt hatte, aber auf einmal stand ich. »He, Arschloch«, schrie ich zur Bühne. »Lass sie sofort los.« Thierry drehte sich um und funkelte mich böse an, weil ich mich verraten hatte. Quinns Blick sprach ebenfalls
Bände. Meine beiden gut aussehenden Bodyguards. Wow, war ich ein Glückspilz! Peter grinste mich an, ließ seine Exfreundin aber nicht los. »Ich würde sie liebend gern in die Wüste schicken. Falls 426 du kommst und ihren Platz einnimmst. Was hältst du da von?« »Nein, Sarah!« Amys Stimme klang gepresst. Thierry, Quinn und George versuchten, mich an meinem Vorhaben zu hindern, aber ich war fest entschlossen. Ich marschierte durch die Menge, die sich vor mir teilte wie das Rote Meer, und dann stand ich vor Peter. »Hier bin ich, du einäugiger Bastard.« »Komm ein bisschen näher. Nur nicht zu schüchtern.« Peter starrte wütend auf mich herunter. Er würde mich umbringen. Für das, was ich ihm angetan hatte, obwohl ich mich nur verteidigt hatte. Ich zögerte. Im Grunde wollte ich nicht sterben. Vielleicht war ich doch nur ein Schwätzer. Als ich darüber nachdachte, fiel mir ein, dass sie das in der Highschool oft über mich gesagt hatten. Aber ich wollte auch nicht, dass heute Nacht irgendjemand sterben musste. Was war los mit diesen Jägern? Merkten sie nicht, dass das, was sie taten, falsch war? Wir waren nicht böse. Wir waren keine Monster. Aber genauso sahen sie uns.
Mir stockte der Atem. Genau! Sie sahen in uns böse, blutsaugende Monster, die man wie Ungeziefer ausrotten musste. Das war es! Das war die Lösung! Ich versuchte, so gelassen wie möglich zu antworten. »Du kannst mich haben, Peter. Mach mit mir, was du willst. Aber darf ich vorher noch ein paar Abschiedsworte sagen?« »Soll das ein Witz sein?« »Eine zum Tode verurteilte Person hat das Recht auf ein paar letzte Worte. Ebenso wie auf eine Henkersmahlzeit, aber zufällig bin ich nicht hungrig. Ich möchte nur einen Moment ins Rampenlicht. Komm schon, sei ein Sportsmann.« 427 Er musterte mich einen Moment misstrauisch, dann lachte er höhnisch. »Klar, warum nicht? Leg los, Sweetheart. Halt deine Rede. Danach gehörst du mir.« Das Lächeln, mit dem er mich bedachte, verhieß unzweideutig, welch schreckliche Dinge er mit mir anstellen würde, fals meine Idee nicht funktionierte. Ich sehnte mich plötzlich nach einem Plan B. Man kann sich nie zu gut vorbereiten. Ich kletterte auf die Bühne. Peter ließ Amy los, nachdem er ihr noch einmal mit der Zunge über die Wange gefahren war -widerlich! - und stieß sie dann ins Publikum hinunter. Ein paar Leute fingen sie auf, sodass sie sich nicht wehtat oder etwa auf der toten Sängerin landete.
Peters Grinsen verstärkte sich, als er vom Mikrofon zurücktrat und mir mit einer großkotzigen Handbewegung den Platz überließ. Ich stand jetzt so dicht neben ihm, dass er mich mit Leichtigkeit hätte packen können, wenn er es gewollt hätte. Aber er hatte versprochen, mich zu Wort kommen zu lassen. Vermutlich hielt er sich für einen Mann, der zu seinem Wort stand. Er steckte den Pflock in eine Hülle und verschränkte die Arme. Ich umklammerte das Mikrofon. Das grelle Scheinwerferlicht blendete mich, und die Gesichter des Publikums lagen im Dunkeln, aber ich wusste, dass ich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden genoss. Im rückwärtigen Teil des Clubs erkannte ich zwei Jäger, welche die schwarze Tür bewachten, damit niemand entkommen konnte. Wenn ich richtig gerechnet hatte, machte das insgesamt zwölf Jäger. Ich sah zu Thierry und Quinn hinüber. George stand immer noch neben ihnen. Sie hatten keine Ahnung, was ich vorhatte, außer, dass ich dabei war, mich umbringen zu lassen. »Hallo, alle zusammen«, hauchte ich ins Mikrofon. »Ich 428 will mich kurz fassen, denn Peter hat es sicher eilig. Männer, ihr wisst schon. Er tut nur, was er für richtig hält, und das heißt, er tötet mich und so viele von euch, wie er kann, bevor die Nacht vorbei ist. Das machen Jäger nun mal. Sie töten Vampire. Ich meine, ihr wisst doch selbst, was Hollywood aus uns gemacht hat. Man hat uns zu blutsaugenden, mörderischen Monstern gemacht. Zu
hässlichen, bleichen Fledermauskreaturen. Zu Furcht einflößenden, widerlichen Jägern der Nacht. Oder aber zu heißen, erotischen Vampirliebhabern. Das sind natürlich meine Favoriten, aber auch die sind vor allem böse.« Ich nahm das Mikrofon vom Ständer, damit ich es dichter an den Mund halten konnte. »Und böse Dinge müssen getötet werden, richtig? Wenn wir alle normale Leute wären - Ärzte, Anwälte, und Lehrer -, die ihrer täglichen Arbeit nachgingen... das wäre natürlich etwas völlig anderes. Dann hätten wir es nicht verdient zu sterben. Die Jäger wären dann die Mörder, richtig? Aber wir gehören ja nicht zu diesen normalen, alltäglichen, langweiligen Typen.« Ich atmete tief durch. »Wir sind Monster. Böse, gruselige Monster mit spitzen Reißzähnen. Wir sind stark und gefährlich, und fähig, uns um uns selbst und unsere ebenso fiesen Freunde und Familien zu kümmern. Wir schenken den Jägern nichts, oder? Wir machen es ihnen nicht leicht, sonst hätten sie zu viel Spaß daran. Sie würden das Töten als Spiel sehen, als Hobby - eben als Vergnügen. Als eine gefahrlose Beschäftigung, bei der sie sich mächtig und wichtig fühlen können. Sie haben die Waffen, sicher. Sie sind ein eingespieltes Team, zugegeben. Aber unterm Strich - he, seht euch um, meine Monsterfreunde... sind wir in der Überzahl.« 429 Ein Raunen ging durch die Menge, als sich die Vampire umsahen und sich flüsternd über meine Worte unterhielten und rätselten, worauf ich eigentlich
hinauswollte. Ich hoffte, dass ich diesen Punkt klar und deutlich formulieren konnte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Barry auf seinen Stuhl stieg. »Sie hat recht!«, rief er. »Wir sind Monster! Und es gibt von uns einen Haufen mehr als von denen da.« Einen Moment herrschte andächtiges Schweigen, dann stand ein anderer Vampir auf. Dann noch einer. Und noch einer. Nach wenigen Sekunden standen über hundert Vampire in dem Club und starrten die Jäger an; ihre Reißzähne schimmerten in der dämmrigen Beleuchtung. Dann schwoll ein Knurren an, das immer lauter wurde, und ich merkte, wie ich das Mikrofon fester umklammerte, je mehr die Spannung in dem Raum anstieg. Ich drehte mich zu Peter herum. Ich sah das Weiße in seinem aufgerissenen Auge und bemerkte auch den dünnen, glänzenden Schweißfilm auf seinem Gesicht. Ich lächelte ihn an. »Danke. Mehr wollte ich nicht sagen.« 26 Meine Monsterarmee machte wie auf ein Stichwort einen Schritt auf die Bühne zu. Ich schob das Mikrofon auf den Ständer und schützte meine Augen vor dem grellen Licht. Dann blickte ich wieder Peter an. »Wo genau waren wir stehen geblieben?« 430 »Du eingebildetes Miststück!«, zischte er, aber ich witterte die Furcht unter seinen Worten.
Die Vampire waren nie auf die Idee gekommen, sich gemeinsam gegen die Jäger zu wehren. Sie sahen sich selbst als Opfer, die einfach irgendwann abgemurkst wurden. Sie wussten nicht, was sie dagegen unternehmen sollten, außer es möglichst zu vermeiden. Vermeiden brachte einem nicht viel. Außer in diesem Fall, da könnte es uns den Tod bringen. Aber wenn die Jäger schon glaubten, sie hätten es mit bösen Monstern zu tun, sollten wir ihnen diese bösen Monster auch liefern. Dann würden wir ja sehen, wie lange sie das für lustig und für ein Kinderspiel hielten. Peter machte einen Schritt auf mich zu, aber im selben Moment schlangen sich starke Arme um meine Hüfte und hievten mich von der Bühne. Ich drehte mich um und entdeckte Quinn. »Guter Plan«, sagte er. »Danke. Habe immerhin dreißig Sekunden daran gearbeitet.« Peter nahm das Mikrofon. »Ja, großartiger Plan, Miststück. Aber wir verfügen über mehr als eine Methode, euch elendes Ungeziefer umzubringen. Das hier war nur eine kleine Kostprobe. Ihr werdet alle in den nächsten Tagen verrecken, und ihr werdet es noch nicht mal kommen sehen.« »Und wie genau willst du uns in deiner derzeitigen Lage umbringen?«, erkundigte ich mich zuckersüß. »Ich? Das brauche ich nicht.« Er lachte. Es klang, als balancierte er auf der Grenze zum Wahnsinn. »Ihr bringt euch selbst um. Indem ihr euch hier versteckt und trinkt.
So einfach ist das. Ihr seid so dumm, dass ihr nicht mal etwas ahnt.« Ich fühlte Thierrys Hand auf meiner Taille, drehte mich 432 um und und sah ihm in die Augen. Er erwiderte meinen Blick und wandte sich dann an Peter. »Sie wollen damit sagen, Sie hätten die Blutlieferung vergiftet, richtig?« Ein Raunen ging durch den Club. Peter hob verblüfft eine Braue. »Sehr schlau. Ja, euer Blut ist vergiftet. Es war meine Idee, wenn ich das anmerken darf. Wir haben vor mehr als einer Woche diese Blutlieferanten dazu gezwungen, mit uns zusammenzuarbeiten. Mittlerweile habt ihr so viel Gift im Körper, dass ihr in den nächsten Tagen tot umfallt. Und es gibt kein Gegenmittel.« Er lachte höhnisch. Ich starrte Thierry an. O mein Gott. Vergiftetes Blut? Alle, die ich kannte, kauften ihr Blut als Konserve. Niemand verschaffte es sich noch auf die altmodische Art - das machte man einfach nicht mehr. Obwohl wir uns am Ende gewehrt hatten, würden wir jetzt trotzdem sterben. Thierry nickte ungerührt. »Das war tatsächlich ein genialer Plan. Er hat nur einen Schönheitsfehler. Ich kaufe bereits seit einer Weile nicht mehr bei den Blutlieferanten, sondern arbeite mit den Leuten vom Blutservice zusammen - sie sind zwar ein bisschen teurer, aber sie sind jeden Cent wert, meinen Sie nicht auch? Ich habe für sie die gleichen Uniformen organisiert, vielleicht hat Sie das ja ein bisschen irritiert. Nun, die
Blutlieferanten haben seit über einer Woche nichts mehr hierhergeliefert. Übrigens haben alle Clubs in der Stadt gewechselt. Dafür habe ich persönlich gesorgt.« Peters Gesicht war dunkelrot angelaufen. »Du hast es gewusst. Woher?« »Möglicherweise sind Sie nicht der Einzige, der Informanten in seinen Reihen hat.« »Zelda«, flüsterte ich, um Thierrys Aufmerksamkeit von 433 Peter abzulenken. »Zelda ist der Informant. Ich meine, sie ist ihr Informant.« »Ich weiß.« »Das weißt du? Was bist du, ein verfluchter Hellseher?« Er lächelte mich an. »Nein. Nur ein guter Menschenkenner. Außerdem hat Zelda vor etwa einer Woche aufgehört, das Blut zu trinken, das angeliefert wurde. Sie hat sich ihren eigenen Vorrat mitgebracht und ihn unter der Bar versteckt. Solche Kleinigkeiten sind sehr verräterisch.« »Wo ist Zelda jetzt?« »In meinem Büro.« Er zögerte. »Mit Veronique.« Ich hob die Brauen. »Oh, die arme Zelda.« »Das ist wohl wahr.« »Haltet den Mund!«, schrie Peter. »Alle beide. Haltet euer Maul! Es interessiert mich nicht, was ihr gemacht habt. Es interessiert mich nicht, wie viele es von euch gibt. Weißt du, wie viele Morde ich auf dem Kerbholz habe? Nein? Ich weiß es auch nicht, weil es so verdammt viele sind! Ich könnte die Hälfte von euch mit geschlossenen Augen noch heute Nacht kaltmachen.« Sein Blick zuckte zu seinen Freunden. Sie sahen ein
bisschen weniger selbstsicher aus als zu dem Zeitpunkt, als sie hereingekommen waren. Aber in den Händen hielten sie allesamt eine gefährliche Waffe. Eine Waffe, mit der sie stechen, metzeln, töten konnten. Zudem war die Macht der Verzweiflung auf ihrer Seite, und ihr unbändiger Hass. Peter sprang von der Bühne ins Publikum, das sich ihm entgegengestellt hatte. Dann brach die Hölle los. Es war eine Sache, den Vampiren klarzumachen, dass sie sich selbst verteidigen könnten, aber eine ganz andere, wenn es dann wirklich hart auf hart ging. Viele von ihnen flüch 434 teten, rannten zu den Ausgängen, drängten sich an den erschrockenen, überrumpelten Jägern vorbei, die ihnen den Weg versperren wollten. Ich wurde von der Menge mitgerissen, die mich von Thierry und Quinn trennte. Ich kämpfte gegen die Flut der Leiber an, aber ich wurde von allen Seiten bedrängt. Die Vampire flippten völlig aus. Entweder kämpften sie gegen das Duzend Jäger, oder sie versuchten irgendwie zu fliehen. Plötzlich schoss eine Hand unter einem Tisch hervor und zerrte mich hinunter. George. »Bleib einfach hier hocken«, sagte er. »Es ist gleich vorbei.« »Aber Thierry...« »Thierry will sterben. Das weiß doch jeder. Rette dich selbst, Honey.«
Er wollte nicht grausam sein, sondern versuchte nur, mir zu helfen. Das war mir klar. Ich zog ihn an mich und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »Lass dich nicht erstechen.« Ich kroch unter dem Tisch heraus. »Ich versuch's«, sagte er traurig. »Du auch.« Ich suchte die Menge nach jemandem ab, den ich kannte, aber ich war von fremden Gesichtern umgeben, auf denen sich Wut, Angst oder Verwirrung abzeichnete. Wo waren Quinn und Thierry? Warum konnte ich Barry und Amy nicht finden? Wusste Véronique überhaupt, was los war? Ich musste ins Büro und sie warnen. Ich befand mich gerade in der Nähe der Bar und hangelte mich an der Stange entlang durch die Menge, die mir entgegen strömte. Dann lief ich den Gang hinunter, stieß die Tür vom Büro auf, stürmte hinein und schlug sie hinter mir zu. Dann sah ich mich um. 435 Zelda stand unmittelbar vor mir. Sie lächelte zuckersüß. »He, Sarah.« Sie schlug mir mit dem Handrücken quer ins Gesicht. »Schön, dass du uns Gesellschaft leistest.« Vor meinen Augen explodierten weiße Sterne. Ich stürzte zu Boden und versuchte von ihr wegzukriechen, benommen von dem Schlag und dem Schmerz. Was ging hier vor? Sollte Véronique nicht auf sie aufpassen? Ich blickte hoch. Véronique lang bewusstlos auf dem Sofa. Ein Holzpflock ragte aus ihrer üppigen Brust heraus; ihr Designerkleid war ruiniert, und an ihren Füßen
steckte nur noch einer der teuren Schuhe; der andere war quer durch den Raum geschleudert worden, wobei der Absatz abgebrochen war. Ich kroch zu Thierrys Schreibtisch und zog mich daran hoch. Meine Ohren klingelten von dem Schlag. Ich hatte nicht gewusst, dass Mädchen so hart austeilen konnten, aber Zelda war schließlich auch kein Mädchen. Sie war ein dreihundert Jahre alter Vampir, der im Moment ziemlich gereizt war. Wir drei waren außerdem nicht die Einzigen im Raum. Peter tauchte aus einer Ecke auf und lächelte mich an. »Netter Auftritt da draußen, Sweetheart. Das habe ich wirklich nicht kommen sehen.« »Ehrlich gesagt scheinst du zurzeit sowieso nicht allzu viel kommen zu sehen.« Ich nahm den vertrauten Geschmack von Blut in meinem Mund wahr. »Jedenfalls nicht, wenn es von links passiert, richtig?« Sein Lächeln erlosch und wich einem finsteren Blick. »Hast du mir irgendetwas zu sagen?«, schnauzte Zelda mich an. »Nein.« Ich würde ihr nicht die Genugtuung verschaffen, auch nur irgendetwas aus mir herauszubekommen. »Nicht das Geringste.« 436 Einen Moment schien sie fast enttäuscht zu sein. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Okay, Peter, ich verschwinde. Ich habe alles gemacht, was du wolltest.«
Er starrte sie an. »Danke. Du warst sehr hilfreich. Obwohl ich nicht gerade behaupten kann, dass es mich begeistert, wie diese Nacht bislang verläuft.« »Das ist nicht meine Schuld. Also, wie sieht es mit der Bezahlung aus?« »Der Bezahlung?« »Genau«, mischte ich mich ein. »Unsere liebe kleine Zelda will nur, was ihr zusteht.« Einen Moment lang glaubte ich, mit Peter auf einer Wellenlänge zu schwimmen, aber das war unmöglich. Er war ein Psychopath, und als ich mich das letzte Mal habe untersuchen lassen war ich das nicht. Trotzdem, er grinste mich breit an. »Sie will nur, was ihr zusteht, richtig?« »Nun komm schon«, sagte Zelda ungeduldig. »Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.« Peter holte seinen Pflock heraus und rammte ihn ihr in die Brust. Ich ging hinter dem Schreibtisch in Deckung, während ich beobachtete, wie ihr gieriger Gesichtsausdruck sich in einen der Verblüffung verwandelte. »Aber...«, sie sah von dem Pflock zu Peter, »das habe ich nicht gemeint.« Dann fiel sie vornüber, wie die arme Sängerin vorhin. Ihr Kopf krachte auf den Teppichboden. Anders als bei der Sängerin, die offenbar jünger gewesen sein musste, weil sie einfach nur eine Leiche geblieben war, schrumpfte Zeldas Leichnam langsam, wurde dunkel, bis nichts mehr
von ihr übrig war als ein Haufen Kleider, ein Holzpflock und eine große 438 Glibberpfütze auf dem Teppich, der vermutlich eine professionelle Dampfreinigung benötigen würde. Peter beugte sich vor und nahm den Pflock. Er sah auf den glibbrigen Fleck hinunter und schüttelte den Kopf. Dann trat er einen Schritt auf mich zu und streifte dabei abwesend Véronique mit einem Blick. »Sie ist wirklich scharf. Ich bin froh, dass sie noch nicht tot ist. Vorher will ich noch ein bisschen Spaß mit ihr haben.« Ich hatte mich mit meiner Hand langsam in Thierrys obere Schublade vorgearbeitet und betete, dass ich dort fand, was ich suchte. Sie musste dort sein. Sie musste einfach dort sein. Wenn nicht, saß ich ernsthaft in der Falle. Ich stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus, als sich meine Finger um Thierrys Waffe schlossen; es war diejenige, die er mir erst vor ein paar Tagen gegeben hatte, damit ich mich vor Quinn schützen konnte. Peter kam näher, bis er mir auf der anderen Seite des Tisches gegenüberstand. »Ja, wir bekommen alle, was uns zusteht, früher oder später, nicht wahr, Sweetheart? Jetzt bist du dran.« Sein Grinsen verstärkte sich, als er nach mir griff. »Bitte nach dir.« Ich riss die Waffe heraus, zielte auf seine Brust und drückte ab. Der Knall war ohrenbetäubend, und der Rückstoß schleuderte mich gegen die Wand hinter mir.
Peter trat ebenfalls ein paar Schritte zurück und starrte an sich hinunter. Genau wie bei der Sängerin, die er vorher umgebracht hatte, breitete sich ein roter Fleck in der Mitte seiner Brust aus. Dann ließ er den Pflock fallen und presste seine Hand auf die Wunde, als ob das etwas ändern könnte. »Tut mir leid«, sagte ich. Ich meinte es ernst. Erst sein Auge, und jetzt auch noch das. Er hätte wissen sollen, dass er mich besser in Ruhe ließ. 439 »Du... Schlampe.« Er klang so überrascht, dass es fast schon traurig war. »Worte lassen mich kalt, Peter. Im Gegensatz zu Holzpflöcken. Oder Bleikugeln, hm?« Er torkelte noch einen Schritt zurück, dann gaben seine Knie nach. Er brach mitten in der Pfütze zusammen, die einmal Zelda gewesen war, und ich hörte, wie sein letzter Atemzug zischend aus seinem Mund drang. Mit zitternden Händen legte ich die Waffe zurück in die Schublade und ging rasch zu Véronique. Sie atmete noch. Dem lieben Gott sei Dank. «Véronique. « Ich sah alle paar Sekunden zu Peter, nur für den Fall, dass er noch einen Auftritt plante, aber er war genauso tot, wie er es sein sollte. Holzpflöcke in den Herzen von Vampiren, Bleikugeln in den Herzen von Menschen - das funktionierte zuverlässig. Ich schluckte heftig. Ich würde jetzt nicht ausrasten, weil ich jemanden umgebracht hatte, selbst wenn er es verdammt nochmal verdient hatte. Das hob ich mir für später auf.
» Véronique! « Ich gab ihr eine Ohrfeige. Sie schlug die Augen auf und starrte mich an. »Sarah. Was ist passiert?« »Rühr dich nicht. Du bist verletzt.« Sie sah auf den Pflock herunter und riss die Augen auf. »Ich werde ihn herausziehen müssen«, erklärte ich ihr. Ich wollte den Pflock packen, aber sie schlug meine Hände weg. Dann legte sie ihre eleganten Finger um den Pflock und zog ihn mit einem einzigen, schnellen, widerlichen Ruck aus ihrer Brust. Sie schrie dabei nicht einmal, sondern richtete sich langsam auf. »Wenn ich für jedes Mal, das ich gepfählt wurde, fünf Cent 440 bekommen hätte...«, sie sah mich müde an, »na gut, dann besäße ich nur zwanzig Cent. Aber trotzdem, es ist keine besonders schöne Erfahrung.« »Bist du wieder okay?« Ich war überrascht, dass sie sich den Pflock selbst hatte herausziehen können. »Nein, bin ich nicht.« Sie sah an sich hinunter. »Dieses Kleid war ein Einzelstück. Ich bin außer mir. Wollen wir diesen Mistkerl noch mal abknallen?« »Du hast gesehen, wie ich ihn erschossen habe? Ich hatte dich für bewusstlos gehalten.« »Das war ich auch, aber er liegt dort mit einem Loch in der Brust. Also ist offensichtlich, was passiert ist.« Ich lächelte und half ihr auf die Beine. Wir schlugen einen großen Bogen um die Sauerei, die Peter und Zelda
hinterlassen hatten, und öffneten die Tür. Vorsichtig spähten wir hinaus. Es war ruhig. Viel zu ruhig. »Vielleicht sollten wir hierbleiben«, schlug ich vor. Sie schüttete den Kopf. »Nein. Wir sehen nach.« Wir tasteten uns langsam bis in den Clubraum vor. Er war fast leer. Der Kampf war vorüber. Ein paar Leichen lagen herum. Einige waren Vampire, andere Jäger. Einige bewegten sich noch, andere lagen reglos da. Der Club wirkte wie ein schummriges, rauchiges Schlachtfeld, auf dem sich improvisierte Schwestern und Ärzte um die Verletzten kümmerten. George kam uns freudestrahlend entgegen. »Euch ist nichts passiert!« »Nein. Und dir auch nicht.« Ich erwiderte sein Lächeln. »War es gemütlich unter deinem Tisch-Bunker?« »Nein. Schließlich bin ich rausgekrabbelt und habe einigen Leuten mächtig in den Hintern getreten. Das hat erheblich mehr Spaß gemacht, als ich vermutet hätte.« 441 »Wie schön für dich.« »Sarah.« Quinn bahnte sich einen Weg zu uns an die Bar. Er hinkte, und der Schnitt auf seiner Stirn passte zu dem, den sein Vater ihm vorher auf der Wange hinterlassen hatte. Er zog mich an sich. Ich war so froh, dass es ihm gutging, dass ich fast in Tränen ausgebrochen wäre. »Du siehst höllisch aus«, sagte ich zu ihm. »Du dagegen siehst himmlisch aus.«
Ich verdrehte die Augen. »Du solltest wirklich an deinen Pointen arbeiten.« Er verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich werde eine Zeitlang auf Pointen verzichten, aber ich werde es mir trotzdem merken.« Er sah Véronique an. »Und wer bist du?« » Véronique. « Sie streckte ihre Hand aus und zuckte dann vor Schmerz zusammen. Er nahm ihre Hand, schüttelte sie aber nicht. »Freut mich, eine kampferprobte Kameradin kennenzulernen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vor zu kämpfen. Ich will nur, dass meine Wunde makellos verheilt.« Er ließ ihre Hand los. »Das war nur so eine Redensart.« Amy und Barry gesellten sich ebenfalls zu uns. Barry hatte einige Schnittwunden davongetragen, strahlte aber über das ganze Gesicht. Amy umarmte mich. »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte ich. »Ich auch.« »Du trägst mir nichts nach?« »Nein. Dafür sind wir schon viel zu lange Freundinnen. Ich will nur, dass du dich für mich freust.« Ich sah Barry an, der meinen Blick erwiderte. »Ich liebe sie. Ich weiß, dass es ein bisschen überstürzt erscheint, aber manchmal ist das Leben halt so.« 442 »Na schön.« Ich lächelte ihn an. »Dann gratuliere ich euch beiden. Wann ist der große Tag?« »Wir fahren noch heute Nacht los«, erklärte Amy. »Wir brennen zu den Niagarafällen durch.«
»Ihr fahrt zu den Niagarafällen, um dort zu heiraten? Das ist ja dermaßen geschmacklos. Einfach großartig.« Amy zögerte. »Das heißt aber, dass ich nicht mit dir nach Mexiko fahren kann.« »Das habe ich mir fast gedacht. Nach allem, was passiert ist, werde ich die Reise wohl absagen. Ich meine, he, was will ein Vampir in Mexiko? Das wäre doch wirklich merkwürdig, oder?« Ich sah mich um. »Wo steckt eigentlich Thierry?« George drehte sich im Kreis. »Ich weiß nicht. Habe ihn nicht mehr gesehen, seit dieses Gemetzel losging.« Mir blieb die Luft weg, und eine Träne lief über meine Wange. »O Mist. Bitte sagt mir nicht, dass sie ihn umgebracht haben.« Quinn berührte meinen Arm. »Nein, er ist nicht tot. Er hat zwar mutig gegen die Jäger gekämpft, aber er ist nicht tot. Ich habe ihn vor fünf Minuten durchs Sonnenstudio verschwinden sehen. Wohin er wollte, hat er nicht gesagt.« Ich seufzte bebend und wischte mir die Tränen von den Wangen. Ich versuchte zu lächeln. »Dir liegt viel an ihm, stimmt's?«, sagte Véronique. »Du hast es zwar zuvor abgestritten, aber mir kannst du nichts vormachen.« Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. »Hör zu, ich weiß, dass er dein Mann ist und... « Sie unterbrach mich und lachte, bis die Schmerzen in ihrer Brust sie zwangen, damit aufzuhören. »Das ist
wirklich kein Problem. Wir sind zwar schon eine Weile verheiratet, aber 444 wir sind bereits so lange nicht mehr Mann und Frau, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wie es sich angefühlt hat. Ich hatte seitdem eine Menge Liebhaber, und ich erwarte von Thierry wahrlich nicht, dass er mir treu geblieben ist. Also, Liebes, beantworte meine Frage: Liegt dir etwas an ihm?« Ich schniefte. »Ja. Aber ich habe angenommen, dass du wieder mit ihm zusammen sein wolltest, weil du nach so langer Zeit zu ihm zurückgekommen bist.« Sie lächelte kurz, wurde dann jedoch schnell ernst. »Ich bin hier, weil man mich darum gebeten hat. Besser gesagt, Thierry hat mich gebeten.« »Warum?« »Es gibt da etwas, das du wissen solltest«, antwortete sie ernst. »Thierry will seinem Leben ein Ende setzen, er ist seiner Existenz überdrüssig. Er findet nichts mehr daran. Sechshundert Jahre sind eine lange Zeit.« »Das weiß ich schon. Aber wieso hat er dich gebeten zu kommen?« »Er weiß, dass ich einen exzellenten Geschäftssinn habe. Er hat mich gebeten, mich um seine Clubs zu kümmern, sie entweder selbst zu betreiben oder sie an jemand zu verkaufen. Er wollte nicht, dass seine Angestellten oder seine Kunden keinen Ort mehr haben, an dem sie sicher sind. Schließlich habe ich Thierry geschaffen, und außerdem war er einmal mein Ehemann. Zufällig suchte
ich gerade nach einer neuen Aufgabe in meinem Leben. Ich bin meiner Existenz zwar auch ein wenig überdrüssig, aber ich bin noch nicht bereit, allem ein Ende zu setzen. Ich weiß nicht, ob ich jemals bereit sein werde. Jedenfalls schien das die perfekte Lösung zu sein.« »Und du hast nicht versucht, Thierry von seinem Vorhaben abzuhalten?« 445 Véronique zögerte. »Nein. Es ist seine Entscheidung. Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas hätte sagen können, das ihn hätte umstimmen können.« »Ich muss mit ihm reden. Ich muss wissen, wo er hingegangen ist.« Niemand sagte etwas. Angst erfüllte mich, durchdrang jede Faser meines Körpers. »Er will es heute Nacht tun, richtig? Deshalb ist er weggegangen? Wohin? Wohin ist er gegangen?« Sie wechselten ratlose Blicke. George schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, er hat es nicht gesagt.« Ich stieß verzweifelt den Atem aus, den ich angehalten hatte. Es war ein bebender, hoffnungsloser Seufzer. »Ich ertrage das nicht. Nach allem, was passiert ist, darf ich ihn nicht auch noch verlieren. Ich ertrage es einfach nicht.« Ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter. Véronique. Sie lächelte mich an, und in ihren perfekten Gesichtszügen lag mehr Wärme, als ich je gesehen hatte. Vielleicht hatte ich vorher nicht genau genug hingesehen. »Wenn es
etwas gibt, was ich in all meinen vielen Jahren gelernt habe, dann das: Wenn die Welt verrückt spielt und du dich total verloren fühlst -dann musst du darauf vertrauen, dass dein Herz dich dorthin führte wohin du gehen musst.« Ich blinzelte sie durch meine Tränen hindurch an. »Das ist das Lahmste, das ich je gehört habe.« Vielleicht war es lahm, aber es war unbestreitbar richtig, das wusste ich. Bei all dem, was passiert war, hatte ich immer nur auf das vertraut, was mein Herz mir sagte, ob es nun richtig oder falsch erschien. Und in diesem Moment sagte mein Herz mir, dass es noch nicht zu spät war. 446 »Es gibt einen Grund, warum Vampire, die so alt sind wie ich, keine Zöglinge schaffen.« Ich schloss die Augen. Thierry hatte gesagt, dass es zwischen Schöpfern und ihren Zöglingen eine Verbindung gäbe, die manchmal vom Alter noch verstärkt würde. Zugegeben, er war nicht mein echter Schöpfer, aber verdammt nochmal, es musste einfach funktionieren. Ich schob alle Gedanken aus meinem Gehirn und konzentrierte mich. Es war, als wäre ich wieder auf Missys Hochzeit und versuchte die anderen Vampire ausfindig zu machen. Ich versuchte, meinen sechsten Sinn zu aktivieren. Aber da war nichts. Nichts. Gar nichts. Und dann...
Ich schlug die Augen auf »Ich glaube, ich weiß, wo er ist. Jemand muss mich dorthin fahren. Sofort. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Barry trat vor. »Mein Auto steht hinter dem Club. Amy und ich wollten sowieso jetzt los. Wir fahren dich hin, wohin du willst.« Ich atmete tief durch. »Danke. Du wirst mir langsam sympathisch. Ein bisschen, jedenfalls.« »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.« Amy und Barry gingen zur schwarzen Tür. Ich drehte mich zu den anderen um. »Danke, Leute. Für alles. Wünscht mir Glück.« Quinn legte seine Hand auf meinen Arm. Seine Augen verrieten seine Trauer, aber er versuchte trotzdem zu lächeln. »Viel Glück. Das meine ich ehrlich.« Ich küsste ihn, nur ein flüchtiger Kuss auf die Wange, aber er war ernst gemeint. Er sollte wissen, wie viel er mir bedeu 447 tete. Hätten die Dinge anders gelegen... wer weiß? Aber sie lagen nun mal so und nicht anders. Ich wollte Thierry. Und ich musste ihn daran hindern zu tun, was er vorhatte. Ich warf den anderen Kusshände zu, während ich rückwärts zur Tür ging; dann drehte ich mich um und folgte Amy und Barry hinaus zum Auto. Ich führte sie zum Bloor Viaduct - der Brücke, an der Thierry und ich uns zum ersten Mal begegnet waren, wo
die Jäger mich verfolgt hatten. Der Don River rauschte unter uns, kalt, dunkel und bedrohlich. Ich stieg aus, schlug die Autotür zu und suchte rasch mit meinem Blick die Brücke ab. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich wusste, dass er dort war. »Sollen wir warten?«, erkundigte sich Amy. »Nein. Ich komme schon klar. Fahrt nur.« »Bist du sicher?« »Absolut.« Ich drehte mich um, dann sah ich noch einmal zurück. »Danke. Tut mir leid, dass ich so eine Zicke war.« »Du kannst nichts für das, was du bist«, erwiderte Barry, das kleine Miststück, huldvoll und winkte mir zu. »Viel Glück. Bring den Meister heil nach Hause.« Ich nickte und sah zu, wie sie davonfuhren; dann konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Brücke. Einen Moment lang fürchtete ich, ich hätte einen Fehler gemacht. War er wirklich hier? Oder hatte ich alles auf eine Karte gesetzt und mich getäuscht? Hatte ich ihn für immer verloren? Doch dann sah ich ihn. Mitten auf der Brücke, hinter dem Schutzgitter auf einem Träger; er stand einfach da und starrte 448 in die Nacht um sich herum. Er sah mich nicht an, als ich auf ihn zuging, aber er wusste genau, dass ich da war. »Thierry!«, rief ich. Ich sah, dass er einen Holzpflock in der Hand hielt. Diesmal meinte er es also ernst. Wenn ich keinen Weg fand,
um ihn aufzuhalten, würde er es tun, für immer und ewig. Sein Leben beenden, das länger als sechshundert Jahre gedauert hatte. Das klang nach einem Ereignis, über das die Zeitungen und die Sechs-Uhr-Nachrichten berichten sollten. Es wäre ein Knüller. Aber woher sollten sie das wissen? Thierry wäre nur ein weiterer Selbstmörder. Einer, für den es sich nicht lohnte, seinen Schlaf zu opfern. Er sah mich an und schüttelte den Kopf. »Du hättest nicht kommen sollen.« Ich kletterte auf die Betonabsperrung und krabbelte durch die Öffnung in den Metallstäben, die er letzte Woche schon gemacht hatte, zu ihm. Früher einmal hätte diese schwindelnde Höhe mich gelähmt. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, mich zu rühren - aus Angst zu fallen, aus Angst zu sterben. Aber das erste Mal habe ich mich aus Angst um mein eigenes Leben hier herausgewagt, und diesmal aus Angst um sein Leben. Meine Höhenangst schien unter Stress zu verschwinden. Schließlich richtete ich mich auf, und balancierte auf einem Metallvorsprung, etwas mehr als eine Armlänge von ihm entfernt. Seine Augen leuchteten nicht silberfarben. Offenbar war es zu dunkel. Sie wirkten wie zwei ausdruckslose, dunkle Seen, von derselben Farbe wie das Wasser weit unter uns. »Schöner Ausblick«, sagte ich. »Geh zurück, Sarah. Du kannst mich nicht aufhalten.« »Wer hat denn gesagt, dass ich dich aufhalten will?« 449
»Wie bitte?« Er sah mich überrascht an. »Ich habe gesagt, dass ich nicht hier bin, um dich aufzuhalten.« »Das überrascht mich, Sarah. Andererseits überraschst du mich immer wieder, seit wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Also gut, dann verrate mir, was du hier willst, wenn du nicht vorhattest, mich mit einem klugen Plan aufzuhalten.« Ich zog Peters vämpirerprobten Pflock aus der Gesäßtasche meiner graublauen Trainingshose. Ich hatte ihn für alle Fälle dort verstaut. Es war nicht gerade bequem gewesen, ihn mit sich herumzuschleppen, schon gar nicht, wenn man auf dem Rücksitz von Barrys Auto saß - aber ein Mädchen tat, was ein Mädchen tun musste, hm? Ich zwinkerte ihm zu. »Ich bin hier, um dich zu begleiten.« »Wie bitte?« »Ich bringe mich auch um.« »Bitte, Sarah, sei nicht albern. Ich bin nicht in der Stimmung für deine Witze.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist kein Witz. Ich mache keine Scherze. Ich meine es ernst. Todernst, sozusagen.« Jetzt genoss ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Das kannst du nicht tun.« »Warum nicht?« »Du bist jung und hübsch. Du hast ein langes und aufregendes Leben vor dir. Es gibt so viel, was du noch erleben musst. Du kannst dem nicht einfach heute Nacht ein Ende setzen.«
Ich zuckte mit den Schultern und betrachtete meinen Pflock. »Ich bin nicht glücklich. Ich dachte, ein Vampir zu sein, wäre irgendwie cool. Das ist es nicht. Ich dachte, es gäbe 451 ein Heilmittel. Wieder eine Niete. Ich habe gegen das Image des blutrünstigen, mörderischen Monsters angekämpft. Und was passiert? Ich habe Peter umgebracht. Ich bin ein bisschen ausgetrocknet und jetzt ernähre ich mich hauptsächlich von Blut.« Er starrte mich an. »Und deshalb willst du mich in mein wässeriges Grab begleiten?« »Nein.« Ich blinzelte durch den Schleier meiner Tränen hindurch. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, wirklich. Aber es wurde zunehmend schwieriger, je länger ich hier herumstand. »Was ich versuche zu sagen ist, dass es mich schrecklich deprimiert, ein Vampir zu sein. Das war die schrecklichste Woche meines Lebens. Und jetzt weiß ich, dass es keinen Ausweg gibt. Keine Zauberpille, die alles besser macht. Es fällt mir schon schwer genug, als Vampir zu leben, wenn du bei mir bist, Thierry. Ohne dich werde ich das nicht durchstehen.« »Sarah...« »Halt den Mund und lass mich ausreden. Verdammt. Du hättest dich letzte Woche einfach umdrehen können und mich den Jägern überlassen. Es hätte dir eine Menge Ärger erspart. Aber das hast du nicht getan. Du hast mir geholfen.« »Natürlich habe ich das.«
»Du redest ja immer noch dazwischen.« »Verzeihung.« »Ich dachte, du wärst ein Trottel. Ein richtig aufgeblasenes, allwissendes Arschloch. Wenn ich mich nicht irre, habe ich diesem Gefühl dir gegenüber mehrfach Ausdruck verliehen.« Er öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn aber wieder. Gut für ihn. Offenbar war er noch lernfähig. »Aber die ganze Zeit wusste ich, dass ich mich in dich ver 452 liebte. Und es war nicht einfach nur dein hinreißendes Aussehen, die Macht, das Geld, obwohl ich nicht behaupten will, dass all dies nicht angenehme Zugaben sind. Nein, du warst der Grund. Ich habe dich hinter all dem gesehen, und was ich da sah, hat mir gefallen. Sehr sogar. Aber dann ist aus dem Nichts deine verdammte Frau aufgetaucht. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Und dann hast du mich ausgeschlossen. Hast mir das Gefühl gegeben, ich wäre für dich nur ein flüchtiges Abenteuer. Im Grunde hast du das sogar fast wörtlich gesagt.« Er sah zur Seite. »Sie hat mich an mein Vorhaben erinnert. Ich wollte nur verhindern, dass du noch tiefer verletzt wirst.« »Ja, das weiß ich jetzt auch. Aber vorher verkörperte sie für mich all das, was ich niemals sein konnte. Sie war hinreißend, beeindruckend, und hatte eine lange Vergangenheit mit dir. Wie hätte ich damit konkurrieren sollen?«
»Deshalb bist du also mit Quinn ausgegangen«, erwiderte er bitter. »Quinn und ich sind nie miteinander >ausgegangen<. Ich habe das nur gesagt, weil ich dir gleichfalls wehtun wollte. Aber wer weiß? Vielleicht an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben, da wären wir womöglich zusammengekommen. Aber nicht jetzt.« »Warum nicht?« »Weil ich ein bisschen zu sehr verrückt nach dir bin, du Blödmann.« Er musterte mich mit seinen dunklen, dunklen Augen. »Vielleicht bist du nur ein bisschen verrückt.« »Das ist ebenfalls eine Möglichkeit, zugegeben. Aber es ist so, Thierry, dass ich dich liebe. Es ist mir egal, ob du dasselbe für mich empfindest. Das ist die reine Wahrheit. Ich liebe dich. Wenn dir das nichts bedeutet, wenn du einfach von 453 dieser Brücke springen willst, weil du das Gefühl hast, dass es nichts in diesem Leben gibt, was dich hier halten könnte, dann mach es. Aber du musst wissen, dass ich dir sofort hinterherspringen werde.« Schweigen breitete sich aus, als ich nichts mehr zu sagen wusste. Tränen liefen über mein Gesicht. Das war es. Ich hatte alles herausgesprudelt, was ich empfand. Ich liebe ihn. Es war mir selbst nicht wirklich klar gewesen, bevor ich mich die Worte sagen hörte. Verknallt? Ja. Verliebt? Absolut. Aber Liebe? Kein Wunder, dass ich mit Quinn
niemals glücklich werden würde, obwohl er mir viel bedeutete, so viel, dass es mich fast schmerzte. Aber Thierry, Thierry liebte ich. »Sarah...« Seine Stimme klang erstickt von seinen eigenen Gefühlen, wurde vom Wind verweht, der gerade auffrischte. Ein Sturm braute sich zusammen. Der erste große Schneesturm des Jahres. Ich schmeckte es in der Luft, fühlte mit jeder Faser meines Körpers, dass er kam. Und außerdem hatte ich den Wetterbericht in Barrys Autoradio. Für die kommende Nacht wurden zwanzig Zentimeter kaltes weißes Zeug vorhergesagt. Thierry machte einen Schritt auf mich zu, und ich versuchte einen Schritt näher zu ihm zu gelangen, aber ich rutschte ab, stieß einen überraschten Schrei aus, ruderte mit den Armen durch die Luft - und fiel. Thierry ließ seinen Pflock fallen und erwischte mich am Handgelenk, hielt mich fest, hoch oben über dem Don River. Ich sah verzweifelt zu ihm hoch. »Zieh mich hoch!« Er legte den Kopf auf die Seite. »Wolltest du nicht sowieso springen?« 454 »Ich habe meine Meinung geändert! Zieh mich hoch!« »Und was ist mit den anderen Dingen, die du gesagt hast? Dass du mich liebst? Hast du darüber auch deine Meinung geändert?« Ich schluckte, sah hinunter, dann wieder in sein Gesicht. »Nein. Ich liebe dich. Ehrlich!« »Dann sollte ich dich vielleicht hochziehen.«
»Hör auf, das Arschloch zu spielen und zieh mich gefälligst hoch, sofort!« Er lächelte. Er war stark genug, dass er mich die ganze Nacht so hätte halten können, wenn ihm danach war. »Du musst an deiner Ausdrucksweise arbeiten, Sarah. Also gut.« Er stützte sich an der Brücke ab, um mich endlich hochzuziehen. Doch eine Bö traf ihn, bevor er sicher stand. Er verlor den Halt und rutschte von der Brücke. »O Scheiße!« Ich kreischte, ^ls wir zum zweiten Mal gemeinsam in das eiskalte, dunkle Wasser stürzten. 27 Drei Wochen später lag ich an einem Strand in Puerto Vallarta, einen großen Schlapphut auf dem Kopf und einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase, dazu vier Bikinis im Gepäck. Ich Augenblick trug ich gerade den roten. Machte sich ziemlich gut auf meiner weißen Haut. Ich hatte mich gar nicht erst bemüht, braun zu werden. Die Sonne war viel zu grell, und ich mochte mich einfach nicht mit diesen schmierigen Hautbräunungscremes abgeben. Von Sonnenstudios ganz zu schweigen. Nie im Leben! 391 Ich seufzte zufrieden, als ich die rote Sonne gemächlich hinter dem Horizont verschwinden sah. Mexiko war wunderschön. Ich fühlte den kühlen Sand zwischen meinen Zehen und hörte die Wellen sanft ans Ufer schwappen.
Der Strand war ziemlich verlassen um diese Zeit. Die meisten Touristen saßen beim Abendessen oder starteten ihre Trinkgelage, denn schließlich war dies ein AllInklusive-Club. Aber sie servierten einem um diese Uhrzeit auch Drinks am Strand, wenn man es wünschte. Zwar mit mürrischer Miene, aber sie hielten sich an den Grundsatz, dass der Kunde König war. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, hierherzufahren. Nach allem, was geschehen war, fühlte es sich irgendwie nicht richtig an, die Sachen zu packen und in Urlaub zu fahren. Aber ich brauchte Luftveränderung. Musste einen klaren Kopf bekommen. Das Drama bewältigen, die Trauer, den Schmerz. Ich fand, das hatte ich verdient. Vorsichtig schlich der Kellner über den Sand zu mir, das Tablett in beiden Händen. Er lächelte freundlich und reichte mir einen Tequila Sunrise. Ich nahm das Glas und trank einen großen Schluck. »Köstlich. Muchas gracias.« »De nada. Ihr Cranberrysaft, Sir?« Thierry nahm das Getränk entgegen. »Gracias.« »Ich hoffe, Sie genießen Ihren Urlaub«, meinte der Kellner. »Oh, das tun wir ganz bestimmt.« Ich lächelte Thierry an. Wir stießen an, nachdem der Kellner gegangen war. »Worauf sollen wir trinken?«, fragte ich. Er sah mir in die Augen und lächelte zurück. »Auf neue Anfänge.« 456
Wir tranken darauf, und ich kuschelte mich an seinen komplett bekleideten Körper. Ich hatte ihn bislang noch nicht zu einer Badehose überreden können, aber das war nur eine Frage der Zeit. Amy und Barry waren immer noch in ihren Flitterwochen an den Niagarafällen. Thierry hatte den Club für ein paar Wochen dichtgemacht und hatte allen - das heißt, Barry, George und dem neuen Kellner - bezahlten Urlaub gegeben. Der Laden selbst stand zum Verkauf, weil seine Lage den wenigen Jägern, die hatten entkommen können, bekannt war. Thierry suchte im Beaches-Viertel von Toronto nach einem Grundstück für einen neuen Vampirclub. Sehr schick. Quinn war froh, dass Thierry und ich zueinander gefunden hatten. Zumindest behauptete er das. Im Vertrauen hatte er mir verraten, dass er mich garantiert eines Tages zurückgewinnen würde. Was schon etwas komisch war, weil er mich ja nie wirklich gehabt hatte. Ich hatte genickt und ihm geraten, sich in der Zwischenzeit jemand anders zu suchen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass er sich meinen Ratschlag so zu Herzen nehmen würde. Denn um über mich hinwegzukommen, hatte er eine leidenschaftliche Romanze mit Véronique angefangen. Er hatte sogar etwas Französisch gelernt, und die Schimpfwörter beherrschte er bereits ganz ausgezeichnet. Und jetzt wollten sie uns doch tatsächlich in Mexiko besuchen, übers Wochenende. Wirklich, eine kleine, glückliche Familie, hm?
Ja, alles war gut. Ich betrachtete Thierry, der den rotglühenden Horizont beobachtete, bis sich unsere Blicke trafen. Ich tat mein Bestes, damit er glücklich war, dass er noch lebte. Bislang hatte ich noch keine Beschwerden gehört, vielen Dank. 458 Ich trank einen Schluck von meinem Drink, während ich zusah, wie der Sonnenuntergang langsam erlosch. Vielleicht bekamen Vampire ja am Ende doch wie die Hauptfiguren aus den Märchen die Chance, für immer und ewig glücklich zu sein. Wer weiß? Andererseits, vielleicht brachte mich auch nur der Tequila auf solche Gedanken.