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Die Autorin Tabitha King wurde 1949 in Old Town (Maine ) geboren. Schon auf dem College fing sie an Kurzgeschichten und Gedichte zu verfassen. In ihrem letzten Collegejahr 1969 lernte sie auf einem Picknick Stephen King kennen. Am 24. Dezember 1970 gaben die beiden dann ihre Hochzeit bekannt. Im gleichen Jahr ist Tabitha mit der Uni fertig und ein freudiges Ereignis steht ins Haus: Töchterchen Naomi Rachel wird geboren. Am 3. Juni 1972 steht wieder ein freudiges Ereignis ins Haus Joseph Hillstrom King wird geboren. 1977 wurde Tabithas drittes Kind Owen Phillip geboren. Danach gehen die Kings für drei Monate nach England. 1981 erscheint endlich Tabitha Kings erstes Buch, es trägt den Titel Small World. Aufgrund einer großen Spende für den Anbau eines neuen Flügels in der Bibliothek in Old Town, Tabitha Kings Heimatstadt wird der Flügel ›Tabitha-Spruce-King-Flügel‹ genannt. Ihr zweites Buch Caretakers erscheint 1983. Dann folgen 1985 The Trap und 1988 Pearl. Ihr fünftes Buch One on one erscheint 1993. Dann schreibt Tabitha 1995 The Book of Reuben und 1997 Survivor.
Klappentext Kissy Mellors, talentierte 21-jährige Fotografin und Kunststudentin, ist mit ihrem Auto auf dem Rückweg zum College, als sich vor ihren Augen ein furchtbarer Unfall ereignet: Zwei Kommilitoninnen, Diane und Ruth, werden von einem angetrunkenen jungen Mann überfahren. Erschüttert und außerstande, das Geschehene zu bewältigen, sucht Kissy Trost bei Junior Clootie, dem ehemaligen Freund der tödlich Verunglückten – und verfällt ihm leidenschaftlich. Doch als unerwartet auch der Unfallverursacher James Houston in Kissys Leben tritt, sowie der damals am Unfallort anwesende Polizist Mike, laufen die Ereignisse aus dem Ruder. Bald ist Kissy gezwungen, sich ihren Gefühlen zu stellen.
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
presents
TABITHA KING
EIN NEUER TAG
Roman Aus dem Amerikanischen von Carla Blesgen RONDO Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Survivor« bei Dutton Signet / Penguin Putnam Inc. New York Umwelthinweis: Dieses Buch ist auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. Copyright © 1998 by Tabitha King Copyright © 2002 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH &Co. KG, München Rondo ist ein Unternehmen der Heyne Verlagsgruppe, München Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg Printed in Germany ISBN 3-453-19.948-0
Für Anne, der es am besten gefiel
\1[ Die Mädchen kamen aus dem Nichts. Urplötzlich tauchten sie aus der Dunkelheit vor ihr auf der Straße auf. Sie saß hinter dem Lenkrad ihres Blazers, nur wenige Meter von den Mädchen entfernt. Als die beiden vom Lichtkegel der Scheinwerfer erfaßt wurden, verwandelte sich die fröhliche Ausgelassenheit in ihren Gesichtern schlagartig in Entsetzen. Wie um sich gegen das grelle Licht zu schützen, warfen sie die Arme hoch. Mit aller Kraft trat sie auf die Bremse. Der Blazer erzitterte und geriet ins Schleudern, die Reifen quietschten. Die Mädchen, Zentimeter bloß von ihrer Stoßstange entfernt, schwankten, als tobe draußen ein gewaltiger Sturm. Und ebenso unvermittelt, wie die Mädchen vor ihr aufgetaucht waren, befand sich plötzlich der kleine, flache Wagen, den sie schon eine Weile im Rückspiegel beobachtet hatte, neben ihr, um sie rechts zu überholen. Sie drückte auf die Hupe, doch es war zu spät – die Mädchen wurden von dem anderen Wagen erfaßt, in die Luft geschleudert und fielen mit unkoordiniert schlackernden Gliedern auf den Boden zurück, wobei das eine der beiden Mädchen gegen den Blazer prallte, der daraufhin sachte zu schaukeln begann. Der kleine Wagen, ein gelber T-Bird, wie sie jetzt sehen konnte, wurde durch den Zusammenstoß keineswegs langsamer, obwohl der Fahrer gebremst haben mußte. Schlingernd schleuderte er herum und kam schließlich einige Meter vor ihr ruckartig zum Stehen. Der Fahrer ließ den Kopf auf die Arme sinken, die er um das Lenkrad gelegt hatte wie um einen Rettungsring. Dann richtete er sich kerzengerade auf und öffnete ohne Eile die Tür. Dem Aussehen nach war er höchstens siebzehn. Sein Gang wirkte gestelzt wie der eines Betrunkenen, der auf einer geraden Linie zu balancieren versucht. Sie packte ihre Taschenlampe und zog die Handbremse, ehe sie aus dem Wagen sprang. Kaum war sie draußen, stand sie einen Augenblick unschlüssig herum. Sie spürte ein Aufflackern von Panik, eine leichte Enge in der Brust, als würde sie bei dem Versuch zu atmen entdecken, daß es keine Luft zum Einatmen gab. Sie kannte diese Straße, sie kannte die Umgebung, die uralten Bäume, Denkmäler der Natur, hinter denen schemenhaft die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Wälle der Wohnheime und die alte Turnhalle hervorlugten. Die schlichte, kleine Ladenzeile auf der gegenüberliegen-
den Straßenseite. Und doch wirkte die Gegend trotz aller Vertrautheit mit einem Mal falsch. Eines der Mädchen lag am Straßenrand. Sie sah aus wie eine Halloween-Puppe – ein achtlos zusammengenähter, mit Blättern gefüllter Haufen Stoffstreifen, der auf irgendeiner Veranda, einer Haustreppe oder in einem Vorgarten zurückgelassen worden war. Genauso sah sie aus: wie etwas, das man weggeworfen hatte. Der Bursche aus dem T-Bird übergab sich mit einem bellenden Laut in den Rinnstein. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück und stützte sich Halt suchend auf der Haube des Blazers ab. Sie war heiß vom noch laufenden Motor und schmutzig. Sie hatte den Wagen eigentlich waschen wollen, es aber nicht mehr geschafft. Jetzt war ihre rechte Hand dreckverschmiert; schnell wischte sie sie an ihrer Levi’s ab. Sie wollte sich nicht umdrehen, um nach dem anderen Mädchen zu sehen. Als sie es dennoch tat, entdeckte sie zunächst nur eine nackte Ferse, die unter dem Blazer hervorragte. Der Körper mußte unter den Wagen gerutscht sein. Es war die ganz normale Ferse eines jungen Mädchens. Am Knöchel schmal, die Haut ohne Makel – kein Kratzer, kein blauer Fleck, nicht die Spur einer Verletzung. Einfach eine nackte Ferse, ebenso unschuldig, als schaute sie in einer heißen Sommernacht unter dem Laken hervor. Wie war das möglich? Einen Augenblick lang hatte sie die albtraumhafte Vision, wie sich das Mädchen während der wenigen Sekunden, die sie selbst gebraucht hatte, um aus dem Wagen zu steigen, zuckend und verzweifelt mit den Armen rudernd in der glühenden Finsternis darunter wand. Es stank nach den Ausscheidungen menschlicher Körper, nach verbrannten Reifen und Bremsbelägen, den heiß gelaufenen Motoren. Ihr wurde schlecht. Der Junge wimmerte: »Ich hab sie zu spät gesehen!« Er zitterte wie Espenlaub, raufte sich verzweifelt die Haare und erbrach sich mitten auf die Straße. Aus der Ferne waren Sirenen zu hören. Die Schaulustigen, die inzwischen zum Unfallort gekommen waren, liefen ziellos durcheinander. Ein zum Campus gehörender Sicherheitsmann mit Taschenlampe in der Hand gab ihnen Zeichen, aus dem Weg zu gehen. Immer mehr Lichter tauchten auf, sie brannten in ihren Augen. Sie fühlte
sich plötzlich zittrig und schwach, setzte sich auf den Bordstein und brach in Tränen aus. Der Sicherheitsmann vom Campus beugte sich zu ihr hinunter und fragte, ob sie in Ordnung sei. Sie kannte den Mann; wie oft hatte sie schon ein Lächeln oder diverse Nettigkeiten mit ihm ausgetauscht, wenn sie auf dem Weg zum oder vom Campus an seinem Wachhäuschen am Haupteingang vorbei mußte. Jetzt war ihr Kopf vollkommen leer. Ihr fiel nicht einmal sein Name ein. »Ich saß in dem Blazer«, erklärte sie matt. Natürlich hätte sie das nicht zu sagen brauchen, denn er kannte sie, kannte ihren Wagen. Da fiel ihr sein Name wieder ein. Chick. »Nicht schlappmachen, Schätzchen.« Chick tätschelte ihre Schulter. »Der Krankenwagen ist schon unterwegs.« Er ging zu dem Burschen aus dem T-Bird, der immer noch mitten auf der Straße stand und mit seinem Schicksal haderte. »Ich hab sie zu spät gesehen«, wiederholte er verstört. Chick sagte ein paar scharfe Worte zu ihm, woraufhin jegliche Starre von dem Jungen abfiel und er zu schluchzen begann. In dem Moment kam der Krankenwagen, gefolgt von einer Polizeistreife. Chick schwenkte seine Taschenlampe durch das Dunkel – zu den Opfern, zu dem Jungen, zu ihr. Alle starrten sie an; die Männer aus dem Krankenwagen, die Cops aus der Stadt, der Polizist vom Campus und die vielen Schaulustigen, die sich inzwischen auf den Gehwegen zu beiden Seiten der Straße angesammelt hatten. Einer der Polizisten schob seinen Arm in den Blazer und mit einem Schlag wurde es merkwürdig still. In dem Moment wurde ihr bewußt, daß die ganze Zeit über ›Rocking the Casbah‹ von The Clash aus den Wagenlautsprechern gedröhnt hatte. Im Schock war sie nicht auf die Idee gekommen, den Motor abzustellen. Erst das Fehlen der Musik machte ihr klar, wie sehr sie die Stille im Grunde genoß; der Krach erschien ihr mit einem Mal wie ein Tor zur Verdammnis. Sie stand auf, um den Polizisten zu sagen, daß sie die Mädchen um ein Haar selbst getötet hätte. Doch kaum stand sie auf den Beinen, wurde ihr schon wieder schummrig. Einer der Cops stützte sie am Ellbogen. Sie schloß die Augen, damit der Schwindel nachließ, und lehnte sich an seine Schulter. »Immer mit der Ruhe«, meinte er. »Keine Panik.«
Er war jung, nur ein paar Jahre älter als sie. In letzter Zeit waren ihr viele Leute ihres Alters aufgefallen, die sich in Schale warfen und fürchterlich erwachsen gaben. Sie hingegen sah immer noch wie eine reichlich zerlumpte Studentin aus. »Ich hätte sie fast überfahren«, sagte sie. »Kein Wort davon«, riet ihr der Bulle. »Halten Sie einfach den Mund und regen Sie sich nicht auf.« Er half ihr über die Straße. Einmal mußte sie stehen bleiben, um nicht hinzufallen. Nach wie vor an den Polizisten gelehnt, schaute sie nach unten und blickte direkt auf das andere Mädchen, das Halloweenpuppen-Mädchen. Sie war tot. Das sah selbst ein Blinder. Vom starren Gesicht ging etwas seltsam Geheimnisvolles aus. In dem einen Auge, dem offenen, spiegelten sich sämtliche Lichter, die die Straße mittlerweile in gleißende Helligkeit tauchten, die Höhle des anderen war ein Kelch voller Blut. Der Kiefer befand sich nicht mehr dort, wo er hingehörte, und in der extremen Beleuchtung wirkte das ganze Gesicht sonderbar uneben, zusammengeschustert und ausgestopft wie eine primitive Maske. Der Cop schob sie auf den Rücksitz der blauweißen Funkstreife. Er hieß Michael Burke. Sein Vater hatte es nie geschafft, die Streife hinter sich zu lassen, war nicht einmal über den Sergeant hinausgekommen – obwohl es ihm an Ehrgeiz bestimmt nicht gemangelt hatte. Auch Michael Burke hatte ehrgeizige Ziele, und eines davon war, daß das, was dem alten Burke widerfahren war, seinem einzigen Sohn nicht passieren würde. »Wie heißen Sie?«, fragte er beiläufig. Gelähmt nannte sie ihm ihren Namen. »Irgendwelche Papiere dabei?« »Im Wagen.« »Soll ich sie für Sie holen?« Sie nickte nur. Er richtete sich lächelnd auf und schlug die Tür auf ihrer Seite zu. Genau genommen, hatte sie ihm soeben die Erlaubnis zu einer kleinen Durchsuchung erteilt. Nicht, daß er etwas Bestimmtes zu finden erwartete, aber manchmal vergaßen Menschen, die unter Schock standen, was sie so alles in ihren Fahrzeugen deponiert hatten. Und
man wußte schließlich nie, was sich später als nützlich erweisen könnte. Pearce, Burkes Partner, überprüfte Zulaßung und Führerschein des Burschen aus dem T-Bird. Mit gesenktem Kopf, die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, hockte der Junge auf dem Rücksitz des zweiten Streifenwagens. Obwohl er betrunken war und unter Schock stand, war dem Mistkerl vollkommen klar, was er getan hatte. Er hatte einen Menschen umgebracht, vermutlich sogar zwei. Sein Leben auf wahrhaft königliche Weise versaut. Er weinte. Na ja, irgend jemand mußte ja auch weinen. Der Aufprall der beiden Körper hatte Spuren an dem T-Bird hinterlassen. Er war verbeult, außerdem fanden sich natürlich Hautfetzen und Blut. Bei der Autopsie würde sich herausstellen, welche Knochen in den Körpern bei dem Zusammenstoß mit dem Wagen, welche beim Aufprall auf den Boden gebrochen waren. Und Lackspuren würden sicherlich auch vorhanden sein. An dem Blazer konnte der junge Cop keinerlei Anzeichen für eine Kollision mit einem menschlichen Körper entdecken. Der T-Bird hatte ein schlingerndes Zickzackmuster aus Gummiabrieb hinterlassen, was jeder Laie interpretieren konnte – zu schnell, zu dicht aufgefahren, zu spät gebremst. Die Bremsspuren des Blazers verrieten ein promptes Anhalten bei niedriger Geschwindigkeit. Im Wageninnern fand er weder Flaschen noch Dosen, ob offen oder geschlossen. Kein Gestank von Zigaretten oder Gras. Der Aschenbecher war zu. Herausgezogen präsentierte er sich in jungfräulicher Pracht. Kein Stäubchen, das Holmes hätte analysieren können. Ein schwacher Geruch von Bleichmitteln stieg ihm in die Nase. Auf dem Rücksitz war ein feuchtes Handruch über einer offenen Sporttasche ausgebreitet. Im Zündschloß steckte noch der Schlüssel, an dem ein Schlüsselanhänger der Sowerwine University baumelte – ihr Maskottchen, ein karikiertes Gespenst. Nichts, das auch nur entfernt an eine Handtasche erinnerte. Auf dem Boden lagen eine Kameratasche und ein Stativ. Er zog die Tasche am Gurt zu sich herüber und kippte sie aus. Unter der Fotoausrüstung befand sich eine Brieftasche. Führerschein, Studentenausweis. Der Name war anders als der, den sie ihm genannt hatte, aber wahrscheinlich hatte sie bloß ihren Spitznamen gesagt. Er holte den Fahrzeugschein aus dem Handschuhfach und stieß wieder auf einen anderen Vornamen.
In der einen Hand die Papiere, die Kameratasche in der anderen, kehrte er zu der Funkstreife zurück und gab die Daten durch. Dann reichte er ihr die Tasche über die Rückenlehne hinweg und fragte: »Geht’s wieder?« Sie zuckte mit den Schultern. »Sind Sie Kristen oder Caitlin Mellors?« »Kristen. Caitlin ist meine Mutter.« »Vorhin haben Sie gesagt, Sie wären Kissy Mellors.« »Bin ich auch. Kissy ist mein Spitzname.« Er wollte wissen, ob sie high sei, was sie verneinte. Es hatte auch nichts darauf hingedeutet, nichts, was nicht durch den Schock zu erklären war. Dann zeigte er ihr seinen Ausweis und fragte sie, ob ihr klar sei, daß sie in einen tödlichen Unfall verwickelt war. Sie räusperte sich und brachte ein Ja zustande. Es folgte die routinemäßige Aufklärungsprozedur hinsichtlich des Blutalkoholtests und daß sie ihn verweigern könne. Sie sagte, sie habe verstanden. Der Fahrzeugschein, betonte er, sei nicht auf ihren Namen ausgestellt, woraufhin sie erwiderte, der Wagen gehöre zwar ihr, laufe aber auf den Namen ihrer Mutter, um die Versicherungsbeiträge möglichst niedrig zu halten. Eine absolut gängige Vorgehensweise bei Autofahrern unter fünfundzwanzig. Er erklärte ihr, der Wagen müsse für die forensische Untersuchung vorerst beschlagnahmt werden. Sie schien nicht besonders glücklich damit, fragte, ob sie ihre Sachen herausnehmen dürfe, und wirkte sehr beruhigt, als er ihr dies zusicherte. »Sollten Sie Gras oder irgendwas anderes da drinnen haben, das Sie vielleicht in Schwierigkeiten bringen könnte, sagen Sie’s mir lieber gleich«, riet er ihr. »Seien Sie jetzt ehrlich zu mir, sonst muß ich später unangenehm werden.« Sie schien ihm tatsächlich zuzuhören. Ein schwaches, ungläubiges Lächeln entspannte ihren verkrampften Mund, dann schüttelte sie müde den Kopf. »Mit dem Mist habe ich nichts am Hut.« Sie schloß die Augen und lehnte den Kopf an die Rückenlehne. Er betrachtete noch einmal das Paßbild auf ihrem Führerschein. Kristen Elizabeth Mellors, genau einundzwanzig Jahre und drei Wochen alt, noch ein Jahr Fahrerlaubnis auf dem aktuellen Schein. Vor einem Jahr war ihr Haar schwarz und, abgesehen von einem langen Schwänzchen am Hinterkopf, rasiermesserkurz geschnitten gewesen. Jetzt waren die Haare etwas länger, aber vollkommen un-
gleichmäßig gestuft, als hätte man Mellors gewaltsam festgehalten und dann daran herumgesäbelt, während sie sich wand und zu entkommen versuchte. Bei dieser Vorstellung mußte er grinsen. Das Haar war auch nicht mehr schwarz, sondern stark blondiert. Die Frisur wirkte ausgefranst und seltsam fedrig, was einen starken Kontrast zu ihrer straffen, jungen Haut bildete. Die helle Farbe betonte ihre dunklen Augen. Kein BH bezwang ihre außergewöhnlichen Brüste, wogegen er – bei der Erinnerung an das angenehme Gefühl, das ihn überkommen hatte, als sie seinen Unterarm streiften, während er sie über die Straße führte – absolut nichts einzuwenden hatte. Er warf einen Blick auf die Frau auf dem Rücksitz, dann wieder auf das Foto: eindeutig dieselbe Person. Drei Ohrstecker im linken Ohr, im rechten eine Sicherheitsnadel. Er betrachtete noch einmal das Bild, dann sie. Die Innenlampe des Streifenwagens warf nur einen schwachen Schein nach hinten, doch durch das pulsierende Blaulicht des Krankenwagens wurde ihr Gesicht in regelmäßigen Abständen in gespenstisches Licht getaucht. In Anbetracht der verrückten Frisur und der durchbohrten Ohrläppchen – von der Größe ihrer Brüste ganz zu schweigen – hätte er sich bestimmt an sie erinnert, wenn sie ihm schon einmal über den Weg gelaufen wäre. Der Campus war eine Enklave mit eigenem Sicherheitssystem, das für ein Mindestmaß an Ordnung sorgte und den Verkehr innerhalb des Geländes regelte, jedoch letztlich wenig mehr tat, als größere Straftaten aufzunehmen und an die örtliche Polizeidienststelle weiterzuleiten. Die Polizei von Peltry war über das Treiben auf dem Campus nicht auf dem Laufenden, wie es normalerweise der Fall war, wenn man in einem bestimmten Bezirk regelmäßig die Runde drehte. Burke besaß zwar noch gewisse Kenntnisse aus seiner eigenen Studentenzeit, von der jährlich wechselnden Studentenschaft kannte er allerdings niemanden mehr. Als Magisteranwärter an der juristischen Fakultät kam er nur noch zu den Abendkursen her. Er stieg aus dem Wagen, um sich mit seinem Partner zu besprechen. »Sie ist Studentin. Absolut nüchtern. Gesetzliche Versicherung okay. Der Blazer läuft auf ihren Namen. Der Computer prüft gerade, ob sie irgendwelche Einträge hat. Wie steht’s mit ihm?« »James A. Houston. Vorstudium der Medizin an der Sowerwine. Meister James ist allerdings vorbestraft. Drei Einträge. Erste Fest-
nahme mit zwölf: Trunkenheit in der Öffentlichkeit, Alkoholbesitz als Minderjähriger. Mußte mit sechzehn den Führerschein abgeben wegen Alkohol am Steuer, dann, letztes Jahr – Überraschung – wieder Alkohol am Steuer. Hat den Lappen erst vor ein paar Monaten zurückgekriegt. Der T-Bird ist auf seinen Namen angemeldet. Zulaßung in Ordnung. Und – welches Glück – eine Zeugin, die an der Kreuzung stand, hat gesehen, daß er eine Flasche am Mund hatte, als er an ihr vorbeigefahren ist. Sie konnte sogar das Etikett erkennen, weil’s die ganze Zeit im Fernsehen in der Werbung kommt.« Burke lachte. »So ein Pech aber auch. Und die Opfer?« »Die eine war auf der Stelle tot. Beides Studentinnen, sagt Chick, riechen beide nach Bier. Kamen von irgendeiner Party und waren auf dem Weg zur nächsten, schätze ich, oder zu einer Bar.« »Es ist noch früh.« Pearce warf einen Blick auf den Knaben im Streifenwagen. »Um besoffen zu sein, ist es niemals zu früh, stimmt’s?« Der Polizist gab ihr die Tasche. Das Ausmaß ihrer Erleichterung überraschte sie selbst. Kissy zählte sich nicht zu den Menschen, deren Herz besonders an Dingen hing, doch es war in der Tat sehr tröstlich, ihre Sachen zurückzubekommen. Sie quittierte die Abgabe des Blazers und bekam eine Telefonnummer, unter der sie erfahren konnte, wann er wieder freigegeben war. Dann fragte er sie, ob sie eine Aussage machen wolle. Er erklärte ihr, was das bedeutete. Hier, an Ort und Stelle, würde er ihre Worte auf Band aufnehmen. Sie sei nur eine Zeugin, stehe in keinster Weise unter Anklage. »Die beiden sind mir direkt vor den Wagen gelaufen«, sagte sie. »Ich hätte sie fast überfahren, aber dann hat’s der Junge in dem TBird getan. Ist sie gestorben? Das Mädchen, das noch am Leben war? Ist sie tot?« Sie wartete die Antwort nicht ab, wischte sich erst mit dem Handrücken, dann mit den Fingern über ihr nasses Gesicht. »Was passiert jetzt mit ihm? Mit dem Fahrer?« »Sie können nichts für ihn tun«, erwiderte der Cop. »Besser, Sie denken gar nicht an ihn. Denken Sie an die beiden Mädchen. Die eine ist tot, die andere wird es vermutlich bald sein. Und er ist schuld. Er war betrunken, ist viel zu schnell gefahren, hat Sie rechts überholt – das war’s.«
»Aber ich hätte es genauso gut gewesen sein können! Fast hätte ich sie überfahren!« »Haben Sie aber nicht. Sie waren nüchtern, sind mit erlaubter, harmloser Geschwindigkeit gefahren und konnten rechtzeitig reagieren.« »Sie sind ihm praktisch vor den Wagen gesprungen, um nicht von mir erwischt zu werden!« Der Cop sah sie durchdringend an, als wolle er sie auf diese Weise zwingen, ihm zu glauben und zu tun, was er sagte. »Ich rate Ihnen wirklich, das für sich zu behalten. Es war nicht Ihre Schuld, und Sie sollten niemanden auf die Idee bringen, Ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben. So – sollen wir irgendwen anrufen, der Sie im Krankenhaus abholt und nach Hause bringt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich rufe meine Mitbewohnerin an.« Nach einem weiteren beruhigenden Lächeln – mit einer angemessenen Spur Ernst und Trauer darin – nickte der Cop. Ihre Mitbewohnerin erwartete sie, als sie von der Untersuchung kam. Mary Frances war ein paar Jahre älter und tendierte dazu, sie zu bemuttern. »Alles in Ordnung?« »Nein. Ich habe praktisch mit angesehen, wie jemand umgebracht worden ist, Mary.« Mary Frances zog sie an sich und legte einen Arm um ihre Hüfte. »Arme Kleine. Erzähl mal.« Aber sie konnte nicht. Schlagartig kehrte die Benommenheit zurück. Mary Frances verfrachtete sie hastig in ihren Subaru. Nach Sauerstoff lechzend, kurbelte Kissy das Beifahrerfenster hinunter. Sie war vollkommen erledigt. Um den Behörden zu beweisen, daß in ihren Adern nichts weiter floß als ihr eigenes reines Blut und vielleicht ein paar Chlormoleküle, hatte sie einem Bluttest zugestimmt. Jetzt bildete sich zu ihrem Leidwesen unter der billigen Krankenhausbinde in ihrer Armbeuge ein Bluterguß. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Als sie vor einer Ampel an der Kreuzung Riverside Drive/College Avenue stehen blieben, schlug sie die Augen wieder auf. Wenn sie nach rechts schaute, konnte sie die Stelle sehen, an der der Unfall passiert war. Langsam drehte sie den Kopf. Die Notdienstwagen waren verschwunden, nichts deutete mehr auf einen Unfall hin. Als wäre das alles nie ge-
schehen. Die Ampel sprang auf Grün. Ihr Blick klebte an der Unfallstelle, bis sie die Kreuzung hinter sich gelassen hatten und sie nichts mehr sehen konnte. Dann schaute sie starr geradeaus, unfähig, die Augen noch einmal zu schließen. Der Fluß Dance teilte Peltry in einer Diagonalen, die von Nordwesten nach Südosten führte. Die Erdgeschoßwohnung, die sie mit Mary Frances teilte, lag am nördlichen Stadtrand, am Ostufer des Flusses. Ihre Mitbewohnerin nahm die Mid-Dance-Brücke, um ihn zu überqueren. Hoch ragte sie über dem glänzenden schwarzen Wasser auf. Selbstmorde waren hier an der Tagesordnung, so daß es zu beiden Seiten Absperrungen gab, außerdem einen drei Meter hohen Sturmzaun, der sich an der höchsten Stelle nach innen wölbte. Der Draht teilte die Sicht auf den Fluß in kleine Rauten, was Kissy das Gefühl gab, durch die Augen eines Insekts auf ihn hinabzublicken. Wild rauschte das Wasser auf seinem endlosen Weg dahin. Sie dachte an ihre erste Begegnung mit den wogenden Massen, als sie im Alter von elf Jahren mehr als nur ein bißchen begeistert das eiserne Gebot gebrochen hatte: Du sollst nicht schwimmen im Fluß. An seine Kälte, selbst am heißesten Sommertag. Und an seine Kraft, die mit eisigem Griff an ihr zog, ähnlich dem unwiderstehlichen Sog des Ozeans. Es war nur ein Haufen Wasser, gemacht aus derselben belanglosen Substanz wie ein Tropfen aus dem Wasserhahn oder ein Regenspritzer an der Fensterscheibe, doch früher einmal hatte er die einzige Verbindung zur Wildnis dargestellt und damit den Grund für Peltrys Existenz überhaupt. Sie hatte sich von ihm angezogen gefühlt, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, und begriff vollkommen, was in den Köpfen all der Möchtegern und, selbst heute noch, bisweilen erfolgreichen Selbstmörder vorging. Es wäre in Ordnung, in seinen Tiefen zu sterben, von den Fluten ins Nichts getragen zu werden, wie sie abends vom Schlaf ins Nichts getragen wurde. So stellte sie sich den Tod darin vor: als eine kalte, unwiderstehliche Umarmung, unerwartet und kraftvoll – genau wie der Fluß. Auf der anderen Seite hob die Straße sich ihnen entgegen. Sie preßte ihr Gesicht gegen die kühle Scheibe; ihr Atem warf zerfließende Muster auf das Glas.
Aus der Stereoanlage über dem Kopfende ihrer Matratze dröhnten The Clash. Mit hämmerndem Herzen fuhr sie hoch. Ausgepumpt, wie sie vergangene Nacht gewesen war, hatte sie den von ihr als Weckruf auf dem Kassettenrekorder eingespielten Mix vollkommen vergessen. Nachdem sie ihn ausgeschaltet hatte, blieb sie eine Weile ausgestreckt auf dem Bett liegen und wurde wieder von der Erinnerung an den Unfall übermannt. Das kleine Zimmer, in dem sie schlief, ging nach hinten hinaus. Nach der Heimkehr vergangene Nacht schien es ihr zunächst keine schlechte Idee, eine Flasche billigen, nach Metall schmeckenden Weißwein zu leeren, doch im Anschluß hatte ihr Magen rebelliert und ihr keinen Schlaf mehr gegönnt. Beim Aufstehen wurde ihr sofort wieder schlecht und sie stolperte schnell ins Bad. Um den säuerlichen Geschmack des Erbrochenen aus ihrem Mund zu waschen, spülte sie ihn einige Male mit Mundwasser aus. Ihre Achseln rochen, als hätte sie längere Zeit mit Fieber im Bett gelegen. Als sie sich anzog, wehte plötzlich der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und Zigarettenrauch ins Bad. Ryne hatte sich durch die Küchentür Einlaß verschafft und machte Frühstück. Vermutlich rieselte es soeben von seinem Glimmstengel auf das Rührei in der Pfanne hinab. Der Gig im Skinner’s hatte sicher bis nach drei Uhr gedauert. Viermal in der Woche arbeitete er nachts im Schlachthof. Die Schicht ging bis zum frühen Nachmittag, so daß er von zwei oder drei Uhr mittags bis neun Uhr abends schlafen konnte. Während der Arbeit trug er eine Art Putzlumpen über den frisch geschorenen Haaren. Mit seiner randlosen Brille und dem diskreten Ohrring sah er aus wie jeder x-beliebige Vertreter der Studentenschaft, obwohl er der Universität bereits im ersten Semester den Laufpaß gegeben hatte. Sie goß Kaffee in einen Becher, den er bei Denny’s hatte mitgehen lassen. Es gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, frühmorgens mit einem Becher, einem Teller, einem Salz- oder Pfefferstreuer oder einem Bestecksatz aus Denny’s hinauszuspazieren. Was ihr früher exzentrisch erschienen war, empfand sie längst nur noch als dämliches Getue. Mary Frances schlurfte wortlos an ihnen vorbei in Richtung Bad. Morgens ein fröhliches Gesicht zu machen fiel ihr ohnehin nicht leicht, und für Ryne würde sie es erst recht nicht tun.
»War ja ganz schön was los bei dir, letzte Nacht«, meinte er. »Hab’s auf der Heimfahrt im Radio gehört. Bist du okay?« Sie gähnte. »Geht schon.« Tatsächlich fühlte sie sich wie jemand, der die ganze Nacht Möbel geschleppt hatte. Klaviere, Sofas und Kisten. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Da sie keine abonniert hatten, mußte Ryne sie auf dem Weg zu ihnen mitgenommen haben – etwas, das so gut wie nie geschah, es sei denn, seine Band hatte ausnahmsweise einmal eine Besprechung bekommen. Sie griff danach und überflog die Titelseite. »Ich kannte sie«, sagte sie langsam. »Diane Greenan. Das darf doch nicht wahr sein. Ich hab sie tatsächlich gekannt!« Das Titelfoto starrte sie an. Eine Studioaufnahme zu Ehren des Highschool-Abschlusses: glitzerndes Scheinwerferlicht auf Haarspray, Perlen und Pastell. Das Bild ähnelte der Diane Greenan, die sie gekannt hatte, ebenso wenig wie der Frau von vergangener Nacht. Sie hatte ihr direkt ins Gesicht geschaut, ehe Diane vor den T-Bird gestolpert war. Sie hatte ihr direkt ins Gesicht geschaut, als sie anschließend tot auf der Straße lag. Und sie hatte sie beide Male nicht erkannt. »So richtig kannte ich sie doch nicht«, räumte sie ein. »Wir haben beide im gleichen Semester angefangen. Haben im selben Wohnheim gewohnt, aber sie im ersten Stock.« Diane, eine schuldmädchenhaft ausstaffierte Blondine mit Geld im Rücken, hatte sich mit einer speziellen Auslese innerhalb der Mitstudentinnen und der jungen Männer, mit denen sie ausging, umgeben. Da es den Erstsemestern zum einen nicht erlaubt war, außerhalb des Campus zu wohnen, es in Sowerwine zum anderen auch keine speziellen Häuser für die weiblichen Mitglieder der Studentenschaft gab, blieben die Geiseln an die Wohnheime gefesselt, bis sie sich im zweiten Studienjahr mit ihren Kommilitoninnen eine Wohnung irgendwo in der Stadt nehmen konnten. Da fiel ihr plötzlich noch etwas ein. Einmal hatte sie nachts am Fenster ihres Zimmers im zweiten Stock gestanden, um den Mond anzuschauen. Während sie ihn betrachtete und sein bleiches, aufgedunsenes Gesicht fahl zu ihr herabgrinste, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Sie blickte auf die verglaste Veranda hinab, die mit dem Wohnheim ein L bildete. Dort unten stritt sich ein
einsames Liebespaar. Sie erkannte es an den angespannten Körpern, den harten Gesten, den wütenden Gesichtern. Und dann konnte sie sogar die durch die Entfernung und die Verglasung gedämpften Stimmen hören, als die beiden sich anbrüllten. In einem der Streithähne erkannte sie Diane Greenan. Kurz darauf fuhr der Junge plötzlich zornig herum und trat eine Scheibe ein. Die Erinnerung war lückenhaft. Die emotionale und physische Gewalt der Szene hatte sie damals zwar gefangen genommen, dennoch war sie ihr vollkommen fern erschienen, als hätte sie das Ganze von der Warte des Mondes aus verfolgt. Es war ihr wie ein Theaterstück vorgekommen, ein Stück über etwas sehr Persönliches und Schreckliches. Dachte sie heute daran zurück, war es wie etwas, das man als Kind mit angesehen hat, aber erst als Erwachsener deuten kann. In dem Moment tauchte völlig unvermittelt ein winziges Detail vor ihrem geistigen Auge auf: das Ohr des Jungen – und sie wußte augenblicklich, wer er war. Jemand, den sie wesentlich besser kannte als Diane Greenan. Sie hatte den Zwischenfall so gründlich vergessen, daß sie ihn nie mit Diane in Verbindung gebracht hatte. »Ich hab sie mal zufällig bei einem schlimmen Streit mit einem Typen beobachtet«, fügte sie schließlich hinzu. »Wie klein die Welt doch ist«, grunzte Ryne. Er verteilte das Ei auf zwei Teller und reichte ihr einen. Kissy setzte sich, um den Zeitungsbericht zu lesen. Bei dem zweiten Opfer handelte es sich um eine Studentin, die kurz vor dem Abschluß stand. Sie hieß Ruth Prashker und war in derselben Studentinnenvereinigung wie Diane. Ein verschwommener Schnappschuß zeigte sie auf einer Party, umgeben von anderen, undeutlich sichtbaren Leuten. Ihr Zustand sei kritisch, stand dort. Die Fotos der Unfallstelle brachten sie etwas aus der Faßung. Im Vordergrund einer Aufnahme ließ eine Plastikplane – und das Zeitungspapier selbst, fand Kissy – Diane Greenans Leiche noch anonymer und lebloser aussehen. Im Hintergrund waren ihr schäbig aussehender Blazer und der T-Bird zu erkennen, kleiner und verbeulter, als sie ihn in Erinnerung hatte. Ein weiteres Foto umrahmte auf melodramatische Weise einige dunkle Flecken auf dem Straßenpflaster. Sie selbst war nirgends zu entdecken. Nur im Text tauchte ihr Name auf: ›Kissy Mellors, Fahrerin des anderen Fahrzeugs‹, doch die
Kamera hatte versäumt, ihr Bild festzuhalten. Sie konnte sich ohnehin an keine Fotografin erinnern. Von dem Jungen hingegen, der Diane und das Prashker-Mädchen angefahren hatte, existierte eine Aufnahme. Sie zeigte ihn auf dem Weg ins Polizeirevier. Unrasiert und in Handschellen sah er aus wie jemand, der bereits irgendwo ein paar Jahre in Einzelhaft verbracht hatte. James Houston war sein Name. Zwanzig Jahre alt, Student in Sowerwine – wie Diane Greenan, Ruth Prashker und sie selbst. Vorstudium der Medizin, berichtete die Zeitung. Kissy vergrub das Gesicht in den Händen. »Schöne Scheiße, was?«, meinte Ryne. »Allerdings.« »Brauchst du ’ne kleine Aufmunterung?« Sie ignorierte das Angebot. Während er sich den Rest dessen eingoß, was noch in der Kaffeemaschine war, schaute er sie prüfend an. »Vielleicht solltest du die Uni heute sausen lassen.« Er wollte unbedingt mit ihr aufs Zimmer. Ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, stand er auf. Als er sah, daß sie ihre Eier nicht aß, nahm er ihr den Teller ab. »Wie soll es mit uns eigentlich weitergehen, Ryne?«, wollte Kissy wissen. »Immer locker bleiben, Baby!« Er lachte. Fast dieselben Worte hatte er benutzt, nachdem ihre Neugier sie getrieben hatte, mit ihm ins Bett zu gehen. Immer schön locker bleiben, okay? Angesichts seines Irrglaubens, Sex mit ihm sei derartig überwältigend, daß sie ihm augenblicklich hörig geworden sein müsse, hatte sie ihm laut ins Gesicht gelacht. Er war beleidigt gewesen. Seitdem bestand ihre Beziehung hauptsächlich aus Trennungs- oder Versöhnungsszenen. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er mit der Band. Auch sie hatte ihr eigenes Leben und nicht die geringste Lust, etwas davon aufzugeben, nur um herumzuhängen und darauf zu warten, daß Ryne überhaupt merkte, wie sehr jemand auf ihn wartete. Dennoch war sie – ihren besten Vorsätzen zum Trotz – im Laufe der Zeit zu einer vollwertigen Bandmitglied-Freundin avanciert. Allerdings zu einer der fiesen, egoistischen Sorte: weder verlieh sie den Blazer, wenn der Bus mal wieder nicht fuhr, noch pumpte sie irgend jemandem Geld für die Miete; kein Geld, um die Instrumente und Verstärker aus dem Leihhaus zu holen; kein Geld für Drogen oder Bier. Die Hexe, die sie
gnadenlos zum Teufel jagte, wenn sie um einen Quadratmeter Platz in ihrer Wohnung winselten – nur bis sie etwas anderes gefunden hatten, selbstverständlich. Sie war einundzwanzig, nicht mehr siebzehn, und die Richtung, die sein und ihr Leben nahm, war sonnenklar. Genau wie die Frage, ob es immer so weitergehen würde. »Nenn mich nicht Baby«, sagte sie. »Ich mein’s ernst.« Sein Lächeln verschwand. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Küchentheke. »Worauf willst du hinaus, Kissy? Willst du mich durch die Mangel drehen? Spielchen mit mir treiben?« Sie konnte noch am selben Tag vor einen Wagen laufen und alles verlieren. Die Panik und das Grauen des Augenblicks, in dem die beiden Mädchen aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht waren, schlugen über ihr zusammen. »Du willst hören, daß es aufs Standesamt geht.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe bloß gefragt, ob es überhaupt weitergeht.« »Aber genau das willst du doch hören. Du hast vorgeschlagen, daß wir uns trennen. Ich dachte, du brauchst nur mehr Raum für dich. Ich brauche auch Raum. Aber jetzt dachte ich eigentlich, wir könnten wieder Zusammensein. Und du bist plötzlich auf dem Ganz-in-Weißmit-Blumenstrauß-Trip.« Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion. Als keine kam, wurde er noch wütender. »Verdammt, Kissy, ich blick nicht mehr durch. Du willst einen Ring? Du willst eine Verlobung? Du weißt genauso gut wie ich, daß das einen Scheißdreck bedeutet. Wir können morgen heiraten und übermorgen reichen wir die Scheidung ein.« »Ja, das ist mir klar«, sagte sie schließlich. »Ich will keinen Ring, Ryne. Es sind jetzt drei Jahre und alles ist noch genauso wie am Anfang. Nichts, absolut gar nichts hat sich geändert. Gibt dir das überhaupt nicht zu denken?« »Es ist ein hartes Geschäft, das weißt du. Es kann Jahre dauern, in der Branche ein Bein auf den Boden zu kriegen. Wirklich zum Kotzen, daß ausgerechnet du solche Scheiße erzählst.« »Ich bin jetzt einundzwanzig, du bist sechsundzwanzig, und ich komme mir nicht im Geringsten erwachsen vor. Wann sind wir endlich erwachsen, Ryne?«
»Ich kann’s nicht fassen! Du weißt ganz genau, wie das ist. Erwachsen sein bedeutet Selbstmord für jeden Künstler.« Er legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. »Komm schon, Kissy, vergessen wir das Ganze.« Sie schüttelte ihn ab. »Nein, Ryne. Bumsen allein reicht nicht. Davon wird’s auch nicht besser.« »Was im Klartext heißt, du bumst jemand anderen, stimmt’s?« Sein Gesicht legte sich von der Nase bis zum Kinn in zornige Falten. »Ich wünschte, es wäre so. Wenn auch nur, um deinen Vorstellungen zu entsprechen.« Er starrte sie einen Moment lang an. »Du miese Schlampe«, zischte er dann, machte auf dem Absatz kehrt und knallte die Tür hinter sich zu. »Genau«, murmelte sie. »Womit meine Frage wohl beantwortet wäre.« Sie schüttelte die Milchtüte, um festzustellen, wie viel noch drin war, und stellte sie zusammen mit der Butterdose und den restlichen Eiern in den fast leeren Kühlschrank zurück. Trotz ihrer redlichen Bemühungen war die Küche deprimierend schäbig und schmuddelig. Im Grunde konnte es ihr egal sein – meistens war es das auch – doch manchmal ging es ihr auf die Nerven. Manchmal hätte sie gern Geld gehabt. Nur so viel, daß es reichte. Die Studiengebühren waren durch ein Stipendium gedeckt. Den Blazer hatte sie mit dem finanziert, was sie über Jahre hinweg mühsam angespart hatte. Sommer für Sommer seit der Highschool, jeder erdenkliche Job, Doppelschichten, Überstunden, zwei Jobs auf einmal sogar, wenn sie es schaffen konnte. Ihre Mutter hatte ihr zwar bei der Fahrzeugversicherung unter die Arme gegriffen, mußte als alleinerziehende Frau mit einem Kind im Teenageralter aber selbst sehen, wie sie zurechtkam. Nach der Trennung ihrer Eltern hatte Kissy voller Staunen verfolgt, wie ihre Mutter ihr altes Leben über Bord warf und in einem überkandidelten Touristenkaff an der Küste als Modeschneiderin noch einmal ganz von vorn anfing. Ihre Beziehung zueinander glich eher der zweier Schwestern, die einige Jahre auseinander waren und sich nicht besonders nahe standen, als der von Mutter und Tochter. In dem Moment rauschte Mary Frances herein. Sie hielt ihren Rucksack in der Hand. »Wenn du willst, kann ich dich irgendwo
absetzen. Schaffst du’s, diesem Arschloch den Schlüssel abzunehmen, oder müssen wir die Schlösser auswechseln lassen?« »Tut mir leid – ich fürchte schon.« Sie lief los, um ihre Sachen zu holen. \2[ Arbeit war jetzt genau das, was sie brauchte. Es würde sie von den Gedanken an den Unfall ablenken. Sie mußte noch einige Filme entwickeln und jede Menge Abzüge anfertigen. Wie immer machte ihr Herz wegen der alchemistischen Dünste in der Dunkelkammer einen Satz. Der Raum an sich aber, das Gefühl des Eingeschlossenseins, das Fehlen jeglichen Lichts, die Hitze und die abgestandene Luft wirkten oft beklemmend auf sie – wenigstens so lange, bis sie sich in der Arbeit verlor. Diesmal war es schlimmer denn je. Da sich kein anderer Student in der Dunkelkammer von Sowerwine aufhielt, hatte sie das Gefühl, lebendig begraben zu sein, und die Fehler, die sie machte, brachten sie noch mehr aus der Faßung. Schlechte Tage kamen bei jedem vor, aber solche Probleme wie heute hatte sie bislang nie gehabt. Frustriert gab sie auf. Aus einem Impuls heraus machte sie sich auf den Weg zum Krankenhaus. Die Luft war angenehm frisch und der Spaziergang machte ihren Kopf frei. Sie fragte sich zur Intensivstation durch, die ausschließlich aus zahllosen, aus Maschinen zusammengesetzten Inseln zu bestehen schien. Im Schwesternzimmer erkundigte sie sich nach Ruth Prashker. »Kein Besuch außer den engsten Familienangehörigen«, lautete die schroffe Antwort. »Ich bin ihre Zwillingsschwester Rachel«, gab Kissy zurück. Volltreffer. »Du liebe Zeit«, murmelte die Stationsschwester und verdonnerte eine ältliche Frau mit Kittel und Anstecknadel, die sich als Ehrenamtliche zu erkennen gab, Kissy zum entsprechenden Zimmer zu führen. Die Patientin schwebte über dem Bett wie ein paralysiertes Insekt in einem mechanischen Netz. Der bandagierte Kopf wirkte wie ein Kokon, das Gesicht war durch Ödeme derart entstellt, daß es dem Bild aus der Zeitung kaum noch ähnlich sah. Doch auf der Krankenkarte stand deutlich lesbar ›Prashker‹.
Ein Streifen lebloses Weiß schimmerte zwischen den geschwollenen Augenlidern hindurch. Der mit Laken bedeckte Oberkörper hob und senkte sich mit roboterhafter Monotonie, die Hände darauf waren zu Fäusten geballt. Um ihren Hals lag – wie ein von Technikerhand angefertigter Edelstein – ein Kragen, der den Zugang zu dem Loch in ihrer Luftröhre freihielt. Das Fleisch hing schlaff von den Knochen wie eine Patchworkdecke aus Blutergüssen, Abschürfungen und teigigem Weiß. Die Blutkrusten in ihren Brauen und Wimpern, die Dreckspritzer auf dem übel zugerichteten Gesicht verliehen dem Anblick etwas Grausiges. Auch die Hände waren schmutzig. »Wer sind Sie?«, ertönte eine weibliche Stimme. Kissy fuhr herum. Die Stimme gehörte einer älteren Frau, deren zu einem dicken Zopf geflochtenes Haar sich über den Schultern gelokkert hatte. Eine elegante Dame im Zustand der Auflösung. Das Weiß ihrer Haare war rein und weich, nicht von der bewußt harten, brutalen Farblosigkeit wie Kissys. Zwischen dieser Frau und den Fotos von Ruth bestand eine auffallende Ähnlichkeit: die Nase, die leicht schräg geschnittenen Augen, der Mund, das Kinn. In ihrer Blässe und den dunklen Brunnen ihrer Augen schien sich sogar der traumatisierte Zustand ihrer Enkeltochter widerzuspiegeln. »Ich bin Kissy Mellors.« Die alte Dame blinzelte. »Mellors war der Name des anderen Fahrers.« Kissy nickte. »Das war ich.« »Ich bin Sylvia Cronin, Ruths Großmutter.« »Es tut mir sehr leid«, sagte Kissy förmlich. »Das glaube ich Ihnen«, erwiderte Mrs. Cronin. »Ich finde es überaus tapfer, daß Sie Ruth besuchen. Es ist bestimmt nicht leicht. Nach dem, was man mir gesagt hat, trifft Sie nicht die geringste Schuld.« Sie deutete auf einen der Stühle, die neben dem Bett standen. »Vielleicht möchten Sie sich einen Augenblick setzen.« Kissy trat einen Schritt zurück. »Ich will nicht stören.« »Ich finde es schön, daß Sie hier sind.« Kissy zögerte. »Ja, ich verstehe.« Mrs. Cronin lächelte beschwichtigend. »Es ist wirklich nicht leicht.« »Ich komme ein anderes Mal wieder«, sagte Kissy schnell. »Wenn niemand etwas dagegen hat, natürlich.«
»Die Ärzte meinen, Ruth nimmt unsere Gegenwart möglicherweise wahr. Bitte kommen Sie wirklich wieder, falls Sie es ertragen können.« »Ganz bestimmt«, erwiderte Kissy. »Das mache ich.« Das Versprechen erfüllte sie mit unerwartetem Frieden. Wenigstens etwas konnte sie tun. Den Kopf gegen den Wind gestemmt, dachte Kissy über Ideen für das Oriental Seagull-Fotopapier in ihrem Rucksack nach, das sie gerade beim Lieferanten abgeholt hatte. Sie hatte den Bürgersteig bereits verlassen, als ihr klar wurde, daß sie soeben dabei war, die College Avenue an der Stelle zu überqueren, wo sich der Unfall ereignet hatte. Mit rasendem Puls blieb sie wie angewurzelt stehen und schaute hastig immer wieder nach rechts und nach links. Es bestand keine Gefahr, weit und breit war niemand in Sicht, dennoch begann sie zu rennen. Schweißgebadet kam sie auf der anderen Straßenseite an. Dort, unter den Bäumen, war die Lücke in der Eibenhecke, die den Campus gegen die Straße abgrenzte. Dadurch waren die Mädchen gekommen. Der Pfad war nicht gepflastert, einfach von zahllosen Füßen in den Boden gestampft. Als sie noch auf dem Campus gewohnt hatte, hatte sie diesen Weg selbst oft benutzt. Einschließlich des Mülls, der zwischen den Zweigen der Hecke festsaß, war er ihr in seiner ganzen Schäbigkeit bestens vertraut. Das am nächsten gelegene Gebäude war die alte, viktorianische Turnhalle, die der neue Sportkomplex mit seinen High-Tech-Krafträumen, dem Schnellschwimmbecken und dem Stadion abgelöst hatte, in dem solch glamouröse Mannschaftssportarten wie Eishockey oder Basketball ausgetragen wurden. Die alte Turnhalle, Field House genannt, beherbergte inzwischen eine eigene Etage für das weibliche Basketballteam, Korbballwände für die universitätsinternen Ligen und Räume für Gymnastik, Wrestling, Aerobic und Tanz. Jenseits der Hecke lag ein kleines Wäldchen aus hohen alten Kiefern, die wie riesige Säulen aufragten. Der Boden war mit goldfarbenen Kiefernnadeln bedeckt, die der Wind von Zeit zu Zeit in kleinen Wölkchen aufsteigen ließ. Ein schwaches Flattern an einem der Bäume erregte ihre Aufmerksamkeit. Unten, neben dem Stamm, stand ein zur Vase umfunktionierter Milchbehälter aus Plastik. Je-
mand hatte den oberen Teil abgeschnitten und mehrere Astern sowie ein paar Zweige irgendeines rotblättrigen Strauches hineingesteckt. Als Kissy näher kam, sah sie, daß das Flattern von einem Foto in einer Plastikhülle herrührte. Es war nur oben an den Baum genagelt, so daß der Wind darunter fahren und es anheben konnte. Sie hielt eine der unteren Ecken fest: Es war eine Aufnahme von Diane Greenan. In ihrem Rucksack hatte sie eine Schachtel Reißzwecken. Heftig blinzelnd, um trotz des Windes den Überblick zu behalten, heftete sie das Foto fest an den Baum, damit er es nicht ganz abreißen konnte. Er lag auf der Lauer. Irgendwann würden ihre Wege sich kreuzen, irgendwann mußte sie an ihm vorbei, wenn sie zum Schwimmen oder zum Training wollte. Der Kraftraum für die Sportstudenten befand sich im ersten Stock. Der davor liegende Flur bildete eine offene Galerie, von der aus man den Kraftraum für die anderen im Erdgeschoß einsehen konnte. Diese Anordnung ermöglichte es den Unisportlern, alles im Blick zu haben. Und von genau dort erspähte er sie jetzt. Melone. Er wäre sowieso stehen geblieben, um zu beobachten, wie sie sich an das Tri-Fly-Gerät setzte; genau der richtige Anblick zum Mit-Nachhause-Nehmen und wirken lassen. Sie hatte ihre Freundin dabei. Die, von der es allgemein hieß, sie sei Exnonne. Melone hatte seinen Blick offenbar gespürt, denn sie blickte hoch, und das mit mehr als bloßem Wiedererkennen. Auch sie war darauf gefaßt gewesen, hatte damit gerechnet, ihm irgendwann über den Weg zu laufen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er sie zum ersten Mal gesehen hatte. In der Pause auf dem Campus vermutlich. Oder in der Bibliothek. An das Schwänzchen, die Sicherheitsnadel im Ohr und die Titten erinnerte er sich allerdings sehr gut. Wie hätten ihm die auch entfallen können? Dann hatte ihm jemand gesagt, wie sie hieß. Er mußte erst im Studentenverzeichnis nachschlagen, ehe er es glauben konnte. Mittlerweile war sie im unteren Kraftraum angekommen, und ihre hasengesichtige Freundin half ihr in Position. Seiner Meinung nach stimmte das Gerücht mit der Exnonne. Sie hatte einen bescheuert eifrigen Ausdruck im Gesicht, als wäre sie gerade drauf und dran, ihre Treffer beim Softball-Match gegen eine Horde Fünftkläßler
einzustreichen. Ihrer grauen Trainingshose haftete etwas Mönchisches an, und noch schlimmer verhielt es sich mit den zweieinhalb Zentimetern karottenrotem Haar, das ihren Schädel bedeckte; damit sah sie viel eher aus, als hätte sie gerade den Schleier genommen denn den Orden verlassen. Einmal war er aus einer Eingebung heraus bei Melone stehen geblieben, als sie gerade die Hebel der Maschine zusammendrückte. »Ich bin ganz gern hier«, hatte er gesagt, während er zu ihr auf die Bank hinunterstarrte. Nicht mit irgendwelchen Erwartungen etwa, nur um mal am Glücksrad zu drehen. Er hatte gehört, daß sie mit einem Musiker zusammenlebe. Die Exnonne hatte auf der Stelle angefangen, wie verrückt zu zwinkern. Wie eine Ampel, die falsch geschaltet war. Melone war seinem Blick zu der Stelle gefolgt, wo er wie angewachsen fest hing: in der verschwitzten Mulde ihres weiten, tief ausgeschnittenen T-Shirts, das einen grandiosen Blick auf ihren Brustansatz freigab. Feucht war es dort, das machte ihn an. Auch die Haare in ihren Achselhöhlen waren naß und schön klebrig. »Ich bin Junior Clootie«, war er fortgefahren, obwohl sie das vermutlich schon wußte. »Wie schön für dich«, hatte sie beim Ausatmen erwidert, während sie die Hebel in die Halterung hievte. Kein besonders gelungener Anfang, aber wo er nun schon dabei war: »Hast du Lust, einen Kaffee oder ein Bier mit mir zu trinken, wenn du hier fertig bist?« »Nein. Und mit dir vögeln will ich auch nicht. Jetzt hau endlich ab und glotz die Titten von jemand anderem an, okay?« Die Exnonne hatte ihm ein Lächeln unermeßlich großer, christlicher Nächstenliebe geschenkt. Die Hände in einer Geste erhoben, die irgendwo zwischen Resignation und Selbstverteidigung lag, hatte er sich davongemacht. »Entschuldige die Ausdrucksweise, Mary Frances«, hatte Melone zu ihrer Freundin gesagt. »Außerdem kann sie den Kopf auf den Rücken drehen und gezielt mit hochgewürgter Erbsensuppe spucken«, hatte die Exnonne ihm nachgerufen, und dann waren die beiden in furchtbares Gelächter ausgebrochen.
Lesben, hatte er den Typen mit einem Achselzucken zu verstehen gegeben, die ihn mit knallrotem Kopf aus dem Raum stürmen sahen. Als er ein paar Wochen später die Studentenzeitung überflogen hatte, war ihm eine Aufnahme mit ihrem Namen darunter – Foto von Kissy Mellors – aufgefallen. Es handelte sich um den Schnappschuß eines Pärchens, das unter einem Baum herumschmuste. Das Foto war aus einem solchen Winkel aufgenommen, daß keiner der beiden erkannt werden konnte, und weitaus heißer, als es auf den ersten Blick wirkte. Das T-Shirt des Mädchens spannte sich über den aufgerichteten Brustwarzen, der Typ hatte eine ordentliche Beule in seiner Levi’s. Trotzdem war das Bild meilenweit von der typischen, mit Weichzeichner gemachten Aftershave-Werbeaufnahme entfernt. Weder Körper noch Haut der Protagonisten waren makellos, und am äußersten Rand war ein Bauarbeiter zu sehen – ein bärtiges, langhaariges Dickerchen, den der Anblick der beiden amüsierte. Er erinnerte sich noch gut an Diane Greenans höhnische Bemerkung ›eingebildete Kunstakademie-Schlampe‹, als er es ihr gezeigt hatte. Er hatte ihr nicht widersprochen, zum Großteil, weil es den Streit nicht wert war, zum anderen aber auch, weil es bei den Bildenden Künsten vor nichts als Mist produzierenden Künstlern nur so wimmelte. Er hatte Kurse in Kunstkritik belegt, jeden einzelnen davon, zum Kuckuck, um die Anforderungen zu erfüllen, und war zu dem Schluß gekommen, daß das Vermögen, Farbe auf eine Leinwand zu klatschen oder ein Wiener Würstchen aus einem Felsblock zu hauen als Ursprung allgemeiner Autorität allgemein überbewertet wurde. Doch Diane hatte vermutlich soeben jemanden schlecht gemacht, um selbst besser dazustehen. All ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit zum Trotz war sie der Snob gewesen, und ihre Eitelkeit hatte sie zu einem leichten Opfer für all jene gemacht, die ihr nur ordentlich um den Bart strichen. Sie hatte sich ausschließlich mit Frauen umgeben, die beim Vergleich mit ihr automatisch den Kürzeren ziehen mußten. Melone hatte schon eine Menge Fotos in der Studentenzeitung veröffentlicht, außerdem hingen viele ihrer Arbeiten in den Galerien und Fluren der School of Fine Arts. Es war nicht etwa so, daß sie sich richtig kennen gelernt hätten, dennoch wußte jeder, wer der andere war. Dann war diese Sache passiert – und sie Verrückterweise darin verwickelt.
Er ging hinunter und fragte sie ohne Umschweife: »Wie lange brauchst du noch?« »Zwanzig Minuten.« »Ich warte draußen. Ich muß mit dir reden.« Sie nickte nur. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden. Während er geduldig wartete, dribbelte er mit den Tennisbällen, die er ständig bei sich trug, um Handgelenke und Reflexe zu trainieren. Er hätte mühelos eine ganze Eiszeit aussitzen können. Seine einzige gute Eigenschaft, wie seine Mutter zu sagen pflegte, was er ein bißchen hart fand. Die eigene Mutter sollte doch imstande sein, wenigstens ein oder zwei andere positive Seiten an einem zu entdecken. Selbstdisziplin beispielsweise, in Anbetracht dessen, wie schwer er für seinen Mannschaftssport ackerte. Ein ausgeprägter Sinn für Humor. Saubere Ohren, saubere Unterwäsche. Keine Glimmstengel. Und vieles mehr, wenn er so recht darüber nachdachte. Da erschien Melone, sich neben ihn hockend, an einem dieser sauberen Ohren. »Ich kann nicht glauben, daß sie tot ist«, sagte er. »Dir geht’s auch nicht anders, oder? Muß ja ein schöner Schock gewesen sein. Kommst du klar?« »Einigermaßen.« »Das ist alles so verrückt. Du bist dabei gewesen. Noch jemand, den ich kenne. Du hast gesehen, wie es passiert ist.« Er schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich hundsmiserabel.« »Ist doch klar, das ist der Schock. Man rechnet einfach nicht damit, daß jemand stirbt, den man kennt.« »Mir ist erst am nächsten Tag aufgegangen, wer sie war.« Ihr Gesicht verschloß sich, kaum daß sie die Worte ausgesprochen hatte. Sie biß sich auf die Lippe. Er starrte sie einen Moment lang an, dann räusperte er sich. »Weißt du, wann die Trauerfeier stattfinden soll?« Die Antwort wartete er nicht ab. »Ist schon seltsam, das Ganze. Ich möchte hingehen, ich hab das Gefühl, ich sollte es tun, dabei kenne ich nicht mal ihre Familie.« Sie grinste fast. »Ja, so geht’s mir auch.«
»Ich gehe mit dir hin«, schlug er vor. »Wenn du willst. Oder du gehst mit mir, was immer dir besser paßt.« Das Grinsen erstarb. »Soll das eine Verabredung sein, Clootie?« Vielleicht war das genau die Art von Unverfrorenheit, die er brauchte, um sein Ziel zu erreichen. »Warum nicht? Zu einer Beerdigung habe ich mich noch nie verabredet.« »Trauerfeier«, berichtigte sie ihn. »Die eigentliche Beerdigung ist doch in Trust Fund, Connecticut, oder?« Er nickte. Sein Lächeln verschwand. »Was, wenn ich dort ankomme, und es ist die falsche Diane Greenan? Sie ist doch nicht wirklich tot, oder?« Melone sah ihn nur mitleidsvoll an. »Mist«, murmelte Junior, während er Kraft sammelte, um sich auf die Füße zu stemmen. »Diese Antwort habe ich befürchtet.« Diane war an einem Donnerstagabend ums Leben gekommen. Vor acht Tagen also, eine Woche und genau ein Tag, und er wartete wieder auf Melone, diesmal auf der kleinen Veranda vor dem Haus, in dem er wohnte. Sie hatte sich dort mit ihm treffen wollen, und als er ihr sagte, er wohne im Barnyard, war sie in schallendes Gelächter ausgebrochen. Früher hatte die Gegend Bagnaide geheißen und aus ein paar Reihen überfüllter Baracken am Flußufer bestanden, deren Dauerbewohner hauptsächlich weiblichen Geschlechts waren – ursprünglich aus Frankreich stammende Damen, die als Waschfrauen getarnt den Holzfällern und Matrosen ihre Dienste anboten. In den behelfsmäßigen Badehäusern und billigen Absteigen wurden die Jungs entlaust und rasiert und bekamen die Wäsche gewaschen. Außerdem konnten sie dort nach Herzenslust krakeelen, die eitlen Gockel spielen und sich Geschlechtskrankheiten, diverse Kater und jede Menge Beulen am Kopf zuziehen. In keiner speziellen Reihenfolge – obwohl die Waschhaus-Huren zweifellos jene vorgezogen hatten, die zuerst badeten. Eine Serie von Bränden hatte das Barnyard zerstört, aber es war immer wieder neu aufgebaut worden, bis es schließlich einen gewissen Grad von Halbehrbarkeit erreicht hatte, während es mit dem Hafen von Peltry immer weiter bergab ging. Unter Beibehaltung des
anglisierten Namens wurde es schließlich zu einem reinen Arbeiterviertel, bis in den 60er-Jahren die Studenten einrückten, stets auf der Suche nach billigen Unterkünften. Zu Ehren des besonderen Anlaßes in Jackett, Krawatte und Lederschuhen anstelle der obligatorischen Turnschuhe, vertrieb er sich die Zeit mit Mutmaßungen darüber, was sie wohl tragen würde. Schwarz, nahm er an. Mit Bildender Kunst als Hauptfach sollte sie eigentlich eine große Auswahl haben. Die große Gemeinschaft aller Kunststudenten bildete zugleich auch den Hauptabsatzmarkt für schwarze Klamotten im ganzen Universum; ohne sie würde es das Schwarze Loch gar nicht geben. Wer die Kunstakademie bevölkerte, trank schwarzen Kaffee, rauchte schwarzes Haschisch und wusch sich mit schwarzer Seife. Ein einziges Mal in seinem Leben hatte er schwarze Seife gesehen; sie stammte aus Spanien. The world is so full of a number of things. I’m sure we should all be as happy as kings. Er mußte einmal einen Aufsatz schreiben über die Philosophie, die in dem Vers steckte. 1+. Damit hatte sich die Plackerei einigermaßen gelohnt, fand er. Sein Hauptfach war tatsächlich Philosophie. Nicht nur, daß die Reaktionen auf diese Enthüllung eine fortwährende Quelle der Erheiterung für ihn waren, ebenso sehr amüsierte es ihn, Pluspunkte zu sammeln, indem er herumhockte und Blödsinn von sich gab. Dieselbe verstockte Naivität, mit der er seit Beginn der Oberstufe bei Konfrontationen mit Autoritätspersonen immer so gut gefahren war, war für den sokratischen Dialog wie geschaffen. Junior gab jedem einzelnen Mitglied des Lehrkörpers das Gefühl, ein verdammtes Genie zu sein, darüber hinaus mußten sie sich mit der Bürde herumschlagen, daß ein Sportler zu ihrem Club Der Weißen Knochigen Beine zählte. Sie liebten seinen Arsch – er vermutete, sie träumten bisweilen sogar davon – , und er erreichte mühelos die Spitze all ihrer Kurse, bis er seinen mittleren Notendurchschnitt schließlich auf die höchste Punktzahl des gesamten Eishockeyteams gesteigert hatte. Die Masche war einmalig. Es bestand nicht die geringste Gefahr, daß er eine Laufbahn als Profiphilosoph einschlagen würde; er rechnete sogar damit, daß sein Kampf ohne Abschluß in der Tasche zu Ende gehen sollte. Man hatte sein Talent schon während der letzten Jahre an der Highschool entdeckt und jetzt wartete eine Karriere als Profisportler auf ihn.
Endlich sah er sie die Straße entlangkommen. Daß sie zu Fuß war, durchkreuzte seine Pläne. Schließlich hätte er sie problemlos abholen können. Wenigstens mit dem T-Shirt hatte er recht behalten, es war schwarz. Dazu trug sie eine Herrenweste, die obligatorische ausgebeulte Levi’s, abgetragene Cowboystiefel und obendrein ein Herrenjackett aus Tweed, das zweifelsohne aus einem Secondhand-Laden stammte. Die unzähligen Stoffschichten ließen ihre fantastischen Brüste für seinen Geschmack etwas zu sehr darin untergehen. Auf ihrer Nase saß eine Sonnenbrille mit rotem Plastikgestell. Warum hatte er nicht an eine Sonnenbrille gedacht? Ein netter kleiner JoanCrawford-Touch, wie er seine vom Heulen verschwollenen Augen versteckt. Sie nahm die Brille ab und fuhr sich durch die alberne Frisur. Schlecht sah sie aus; die Haut war fahl, unter den Augen lagen dunkle Schatten. Er zupfte spielerisch an den Entendaunen auf ihrem Kopf. »Alles in Ordnung mit dir? Siehst ziemlich erledigt aus.« »Unterleibskrämpfe«, gab sie mit einem Schulterzucken zurück. Genau der richtige Tag, um das Midol im Apothekerschränkchen stehen zu lassen. Er zog seine Wagenschlüssel aus der Jackentasche. »Du Arme. Na ja, wir sollten uns langsam auf den Weg machen.« Gedämpftes Licht sickerte durch das Buntglasfenster hinter dem Altar der Universitäts-Kapelle. Es zeigte ein sich aufbäumendes Pferd, von dem ein Skelett hinabbaumelte. Darunter befand sich ein Banner mit der Inschrift So fällt der Mensch vom Leben in den Tod. Das Fenster wie die Kapelle selbst war zum Gedenken an einen Studenten gebaut worden, der wenige Jahre nach Gründung der Universität beim Sturz von einem Pferd ums Leben gekommen war. Die mit kunstvollen, reliefartigen Schnitzereien verzierte Vertäfelung von Wänden, Kanzel und Kirchenbänken war ebenso auf Hochglanz poliert wie der Sarg. Farbige Lichtstreifen drangen durch die Fenster und ruhten wie Flecken auf der Trauergemeinde; ein paar Sonnenstäubchen durchschwebten die vorherrschende Düsternis, die staubige Luft kitzelte sanft in den Lungen. Eine Lobrede von einer Kommilitonin, eine Lobrede von ihrem Studienberater, schließlich der Pfarrer, der sie mit den Einzelheiten aus Diane Greenans Leben vertraut machte. Sie hatte einen jüngeren
Bruder gehabt, der unter Cerebraler Parese litt – der Bursche im Rollstuhl neben ihrer Mutter. Diane hatte seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr jeden Sommer als musikalische Beraterin in einem Camp für CP-kranke Kinder verbracht. Ihr älterer Bruder war ein aufstrebender Schauspieler, ihr Vater Psychologe. Die Mutter spielte die dritte Geige in einem Symphonieorchester. Diane war Cellistin gewesen und hatte die gleiche Laufbahn einschlagen wollen wie ihre Mutter. Junior rückte seine Krawatte gerade, strich über die Ärmel seines Cordsamt-Jacketts und zupfte an den Ausbuchtungen, die seine Knie in der Levi’s verursachten. »Das ist ja schlimmer als beim Annual Athletic Achievements Bankett«, flüsterte er in Kissys Ohr. Ihre Mundwinkel zuckten. Er legte einen Arm um ihre Schultern. Sie bekam einen Schluckauf, legte eine Hand vor den Mund und kniff die Augen zusammen. Ihre Augenwinkel schimmerten feucht, was er eher für einen Reflex infolge des Schluckaufs hielt. Ihre Atmung ging ruckartig und ihr Busen wogte einfach wundervoll – Gott sei Dank befand er sich auf einer Beerdigung, wo er den Blick nach allen Regeln des Anstands gesenkt halten durfte. Der Pfarrer stürzte sich in ein dramatisches Shakespeare-Finale: Des maien teure knospen drehn im schlage Des sturms und allzukurz ist sommers frist… Doch soll dein ewiger sommer nie ermatten. Dann forderte er die Trauergäste auf, nach vorn zu kommen, um der Familie zu kondolieren. Kissy erhob sich und marschierte los. Mit gedämpfter Stimme fragte er: »Hältst du das für eine gute Idee?« Sie ließ sich nicht aufhalten, flüsterte bloß etwas Unverständliches. Er folgte ihr, sich im Stillen verfluchend, daß er sie unbedingt hatte mitschleppen müssen. Und daß er selbst gekommen war. Mrs. Greenan stand zwischen ihrem im Rollstuhl sitzenden Sohn und ihrem Ehemann. Blinzelnd schaute sie Kissy an und streckte ihr eine behandschuhte Hand entgegen. »Ich bin Kissy Mellors«, verkündete diese, während sie die Hand ergriff. »Mein aufrichtiges Beileid.« Mr. Greenan zuckte neben seiner Frau zusammen, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. Wortlos starrte er Kissy an.
»Oh«, hauchte Mrs. Greenan. Junior packte Kissys Ellbogen und bugsierte sie zum Ausgang, während sie ihren Hals verrenkte, um zurückblicken zu können. Die Greenans starrten ihnen nach. »Alles klar, alles klar, alles klar, bis die Peltry-Polizei mir den TBird wegnahm«, murmelte Junior, riß seine Krawatte herunter und stopfte sie beim Fahren in die Tasche. Kissy, vollkommen versunken in die Erinnerung an die Spuren tiefer Verzweiflung in den Gesichtern von Dianes Angehörigen, gab keine Antwort. Wenig später, an einer roten Ampel, trommelte er nervös gegen das Lenkrad. »Ich hätte Lust, mich zu besaufen. Machst du mit?« Sie dachte einen Moment darüber nach, ein an sich nicht besonders gutes Zeichen. »Ich trinke nicht viel«, sagte sie dann. »Nicht so viel, daß ich sternhagelvoll bin jedenfalls. Ich bin nicht so wild drauf, mich zu übergeben.« Junior schnitt eine Grimasse. »Du mußt ja nicht saufen, bis du kotzt. Das erledige ich schon. Aber vielleicht hilft’s ja gegen deine Krämpfe.« Wieder dachte sie nach. »Na gut. Ich trinke was mit dir. Wo willst du hingehen?« »Ich habe Bier zu Hause. Weggehen kann ich mir diese Woche nicht mehr leisten.« »Zu dir also.« Junior hob in gespieltem Entsetzen die Hände. »Ihr Frauen denkt auch immer nur an Sex. Ich will mich betrinken und hätte dabei bloß gern Gesellschaft.« Er zwinkerte ihr zu. »Wenn ich betrunken genug bin, bin ich natürlich zu haben.« Sie lachte. Es war genau das richtige Lachen: direkt aus dem Bauch, ohne jeden Sarkasmus. Dafür mit einer Prise Sex. Ihre Blicke trafen sich. Auf leicht unterkühlte Art war sie belustigt; er provozierte sie, zog sie auf. »Ich mag Bier nicht besonders«, wandte sie ein. »Wie steht’s mit Wein? Hab ich auch da.« »Mit Schraubverschluß?«
»Klar. Meine Lieblingsmarke. Das Leben ist zu kurz, um auf einen Wein zu warten, den man nicht gleich trinken kann, wenn er aus dem Faß kommt.« »Barbar«, sagte sie, aber sie lächelte dabei. Er wohnte in einem Einzimmerappartement. Links befand sich eine winzige Kochnische, rechts ein beinah noch winzigeres Bad. Auf dem Boden lag eine Matratze, außerdem gab es eine Stereoanlage und einen Fernseher. Es herrschte ein fürchterliches Durcheinander – überall Eishockeystöcke, Schutzpolster und diverses anderes Zubehör. Alles wirkte abgetragen, und Kissy kam zu dem Schluß, daß es seine eigenen Sachen waren. Offenbar hing er zu sehr daran, um irgendein Teil ausmustern zu können. Die Eishockeyausrüstung verströmte einen eigenartigen Geruch, der an einen schmutzigen, alten, nassen Köter erinnerte, der Raum an sich war jedoch sauber. Das Bett war gemacht, nirgends lugten versteinerte Pizzaränder hervor. Die Wände waren mit Postern, Schnappschüssen und Zeitungsausschnitten gepflastert. Sie studierte sie rasch, aber gründlich. Ihr Blick blieb an einem Hochglanzfoto hängen, das ihn in voller Montur hinter einem Mikrofon zeigte, als er gerade von den Islanders aufgerufen wurde. »Läuft da was?« »Es bedeutet nur, daß ich mit ihnen ins Trainingslager fahre. Sie haben das Vorrecht, für mich zu unterschreiben, für mich zu verhandeln oder mich zu verkaufen – oder mich als müden Gaul auszumustern.« Er goß Rotwein aus einer Karaffe in ein Glas und reichte es ihr. »Die bezeichnen sich schließlich nicht umsonst als Eigentümer. Wenn sie einen Vertrag machen wollen und ich nicht, könnten sie mich nach Tierra del Fuego verschachern, wo ich dann entweder selbst den besten Deal für mich rausholen oder einfach aufs Spielen verzichten mußte. In dieser Saison bin ich ein Spectre. Wenn ich meine Sache wirklich gut mache, kann ich meine Position vielleicht verbessern, aber im Moment sind das nur Luftschlösser. Von meinem Stück vom großen Kuchen kann ich nur träumen.« »Wie ein geträumtes Stück Kuchen wohl schmeckt?«, überlegte sie laut und fügte dann rasch hinzu: »Du brauchst nicht darauf zu antworten.« Er grinste sie an. »Ich wollte soeben ansetzen.«
Die Auswahl an Sitzgelegenheiten war beschränkt: die Matratze, das Klo, die Badewanne, der Fußboden oder einer von drei Stühlen. Zwei davon waren Hocker, die vor der Küchentheke standen, der dritte war ein Schaukelstuhl, dessen Armlehnen fehlten. Er sah aus, als wäre er am Tag der Sperrmüllabholung von der Bordsteinkante geborgen worden. Sie entschied sich für ihn. Junior legte Sergeant Pepper auf. Wenn sie die Beatles nicht mochte, zum Teufel mit ihr. Wenn doch, war sie fällig – eine spontane Regung, angefacht durch das plötzliche Hochgefühl verursacht vom Wein, der ihm zu Kopf stieg, und dem kleinen Wortgefecht bezüglich des Kuchens. Er nahm die Leselampe, die neben der Matratze auf dem Boden stand, drehte sie um, und zog den Beutel mit Gras heraus, den er für besondere Gelegenheiten in ihrem Sockel aufbewahrte. Er hielt ihn ihr hin, doch zu seiner Überraschung schüttelte sie ablehnend den Kopf. »Sicher? Ein kleiner Joint ist bei Bauchkrämpfen genauso gut wie ein Glas Wein.« »Hast du eigentlich oft mit Bauchkrämpfen zu tun?« »Mit solchen von deiner Sorte nicht, nein.« Sie tippte mit dem Zeigefinger an ein Familienfoto. Mutter, Vater, er, sein jüngerer Bruder, die jüngere Schwester, ein Hund. Aufgenommen mit dem Selbstauslöser auf einer Veranda im Ferienlager. »Wird dein Bruder auch hier spielen?« »Nächstes Jahr wahrscheinlich. Er muß noch viel lernen. Das hier ist mein Hund Ed.« Er hängte das Jackett auf, kickte die Schuhe von den Füßen, nahm die Karaffe und sein Glas und ging zur Matratze. Nachdem er die Kissen zu einer Art Rückenrolle zusammengeschoben hatte, machte er es sich bequem. Er hatte nichts zu verlieren, und wenn er nicht damit anfing – sie würde es bestimmt nicht tun. Sein Wohlgefühl hielt nicht lange an. »Ich habe einen ziemlich üblen Streit zwischen dir und Diane beobachtet«, sagte sie plötzlich. Er erstickte beinah an seinem Rotwein. Ausspucken konnte er ihn nicht, das hätte sein gutes Hemd versaut. Sie saß da und schaute ihn an, als sei es die normalste Reaktion der Welt. Als er sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, schüttelte er ungläubig den Kopf.
»Ich habe damals noch im Melville gewohnt«, erklärte sie. »Mein erstes Jahr. Danach bin ich ausgezogen. Es war billiger, sich außerhalb des Campus eine Wohnung zu teilen.« Er ließ die Schultern kreisen, um sich wieder zu entspannen. »Ich habe Diane in irgendeiner Kneipe kennen gelernt, dann sind wir ein paarmal miteinander weggegangen. Wir haben uns gegenseitig benutzt, um nicht so allein zu sein. Wenn sie sich nicht an mich rangemacht hätte, hätte ich’s vermutlich bei ihr versucht.« Er verzog angewidert den Mund. »Ist auch egal. Aber mit dem Englischprofessor zu vögeln – wie blöd muß man da sein?« »Putnam?« »Genau. Ist eins seiner Hobbys, dumme kleine Erstsemester flachzulegen. Man kann jedes Jahr Wetten darauf abschließen, welche er zuerst nageln wird.« Ohne weitere Zwischenfälle leerte er sein Glas. »Ich glaube, was mich an dem Streit so geschockt hat, war«, fuhr sie fort, »daß du eine Scheibe eingetreten hast.« »Ich war noch ziemlich unreif damals.« Er lachte über sich selbst und stand auf, um ihr Glas nachzufüllen. »Ich konnte einfach nicht fassen, daß sie sich in dieses Arschloch verknallt hatte. Ein Fläschchen Amaretto, ein bißchen Hasch, ein wenig poetisches Gesäusel und sie dachte tatsächlich, er würde ihretwegen seine Frau verlassen.« Er schüttelte den Kopf. »Diane hat in meinem Leben keine große Rolle gespielt. Jetzt ist sie tot und es macht mir nicht einmal viel aus. Etwas erstaunt bin ich vielleicht, daß jemand gestorben ist, mit dem ich mal gevögelt habe.« Er untersuchte den Inhalt seines Glases auf Bazillen oder sonstige Fremdkörper, entdeckte keine und nahm einen ordentlichen Schluck. »Ich weiß, es muß furchtbar gewesen sein, sie sterben zu sehen, aber du hast Diane im Grunde nicht gekannt, oder?« Kissy schaukelte sanft vor und zurück. »Nein.« »Kanntest du die andere? Ruth Prashker?« Sie schüttelte den Kopf. »Und diesen Arsch – den besoffenen Fahrer?« »Auch nicht.« »Muß ein ganz schöner Horrortrip gewesen sein. Du hältst mich bestimmt für einen ziemlichen Mistkerl, weil ich Diane einfach so hab fallen lassen.« »Ich wußte, daß du eine Klasse für sich bist.«
»Wie bist du überhaupt zu dem Spitznamen Kissy gekommen?« »Mein älterer Bruder Kevin konnte Krissy nicht aussprechen, von Kristen ganz zu schweigen.« Ihre vollen Lippen kräuselten sich in milder Verachtung. »Und die Typen haben Kissy Melons – knutsch die Melonen – zu mir gesagt, seit ich die ersten Schwellungen auf der Brust hatte.« Wie immer, wenn er seine Verlegenheit zu verbergen versuchte, wurde die Hitze in seinem Gesicht noch schlimmer. »Du hättest auf Kristen beharren können…« »Ich werde nicht das Geringste an mir ändern, nur weil ein paar Arschgeigen nicht über das Stadium der Tittenwitze hinausgekommen sind. Sie haben das Problem, also sollten sie etwas ändern.« Während er den letzten Rest Wein in seinem Glas schwenkte, dachte Junior über die vielen Male nach, die er selbst sie Melone genannt hatte. Sie hätte ihren Vornamen ändern können. Sie hätte sich einer Operation unterziehen können, die für B-Körbchen sorgte. Meistens trug sie nicht einmal einen BH. So wie die Dinger herumbaumelten, war sie selbst schuld. Aber wie die Frauen heutzutage drauf waren, dachten sie vermutlich, sie könnten beides haben. Vielleicht konnten sie das auch. Schließlich hatten sie diesen Überredungskünstler zwischen den Beinen. ›I read the news today oh boy‹ erfüllte das vorübergehende Schweigen und brachte sie abrupt zum aktuellen Geschehen zurück. ›Ein Schlückchen Wein wird deinem Bauch gut tun‹, pflegte schon ihre Mutter zu sagen, wenn sie ihr wegen der Unterleibsschmerzen ein Glas in die Hand drückte. Der Burgunder war nur leicht verwässert; er sorgte für ein Gefühl wohliger Wärme in ihrem Mund und, tatsächlich, auch in ihrem Bauch. Die Krämpfe ließen nach. Sie leckte etwas Flüssigkeit von ihrer Oberlippe. ›»Des maien teure knospen‹«, zitierte Junior. »Das hat mich wirklich umgehauen. Ist doch ein bißchen dick aufgetragen, findest du nicht?« Kissys Blick ließ ihn nicht los. Sie stemmte sich aus dem Schaukelstuhl und sank neben ihm auf die Knie. Mit einem plötzlichen Glitzern in den Augen beobachtete er, wie sie langsam näher kam. Ihre Finger glitten zu seinem Kinn, zogen sanft daran, dann drehte sie sein Ohr zu sich hin. Er hatte nichts dagegen.
Sich zu ihm vorbeugend ließ sie die Zungenspitze um sein Ohr kreisen. Er erschauerte und sein Griff um ihren Oberarm verstärkte sich. Dann gruben sich ihre Zähne in sein Ohrläppchen, woraufhin er einen Satz zur Seite machte. Sie streckte hastig die Handflächen aus, um sich abzustützen, und landete auf allen vieren. Sein Gesicht wurde heiß, die Kehle eng. Er legte eine Hand auf ihren Nacken, um sie zu sich heranzuziehen, während sein Kopf dem ihren entgegenkam. Ohne Vorwarnung schob er ihr seine Zunge in den Mund und stützte mit der einen Hand ihren Kopf, während die andere gegen ihre Lendenwirbelsäule drückte, so daß sie das Gleichgewicht verlor und über ihm zusammenbrach. Er erwischte eine ihrer Hände, als sie Halt suchend nach der Matratze griff, und legte sie auf seinen Penis. Sie wehrte sich nicht; als er seine Hand fortnahm, blieb ihre, wo sie war. Seine Hände strichen über ihre Brüste und die Berührung war angenehm zart. Der Penis unter ihrer Hand wurde härter. Seine Zunge in ihrem Mund fühlte sich riesig an, so daß sie kaum noch Luft bekam und ihr ein wenig schwindlig wurde. Er zog sie heraus und legte Kissy auf den Rücken. Dann versuchte er sie wieder zu küssen und rieb dabei seinen Steifen an ihrem Oberschenkel. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und schob ihn weg. Er rollte zur Seite. Er räusperte sich und griff er nach seinem Glas. »Was ist? Lief doch alles prima. Kein Problem, wenn du schon deine Tage hast. Das stört mich überhaupt nicht.« »Nein, hab ich nicht. Das ist nicht der Grund. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.« »Daran soll’s nicht liegen«, neckte er sie. »Diese Entscheidung kann ich dir leicht abnehmen. Es gibt nichts Besseres gegen Unterleibskrämpfe, hab ich mir sagen lassen.« Die Musik hatte aufgehört. Er ging zur Stereoanlage und legte Abbey Road ein. Sie bohrte die Spitze eines Stiefels in die Ferse des anderen. Er kniete sich hin, um ihr beim Ausziehen zu helfen. Als sie sich gegen die Kissen lehnte, streifte er ihre Socken ab und wackelte mit einem ihrer großen Zehen. Sie kicherte. Er kroch über ihren Körper und ließ sich sanft auf ihr nieder. ›Come together‹, tönte Lennons Stimme aufmunternd von oben.
\3[ Es war wie das Erwachen aus einem feuchten Traum, in dem Dinge geschehen waren, von deren immenser Wirkung auf ihren Körper sie bislang keine Ahnung gehabt hatte. Als sie ihr T-Shirt, das bereits aus der Hose gerutscht war, über den Kopf ziehen wollte, sog er heftig die Luft ein, hielt ihren erhobenen Ellbogen fest und ließ seine Zunge genüßlich durch ihre Achselhöhle wandern. Sie zerrte an seinem Hemd. Hastig streifte er es ab, dann drückte er sie auf die Matratze zurück und schob sich ohne Vorwarnung nach unten, um sein Gesicht zwischen ihren Beinen zu reiben. Seinen Kopf, sein Gesicht, so unerwartet dort zu spüren, ließ sie den Atem anhalten. Als er wieder auftauchte, um nach Luft zu schnappen, waren seine Finger an seinem Hosenknopf. »Nein«, sagte sie. »Es ist gefährlich jetzt.« Er setzte sich auf die Hacken. »Ich dachte, wenn du deine Tage kriegst, kann nichts passieren.« »Da hast du falsch gedacht.« »Ich zieh ihn raus, wenn’s so weit ist«, sagte er schnell, da er seine Felle davonschwimmen sah. Sie schüttelte den Kopf. »Auf die Art bin ich schon mal schwanger geworden.« Er sah sie an. Fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Rang sich ebenfalls zu einem Geständnis durch. »Ich habe Gummis.« Nun wußte er also von ihrer Abtreibung, und sie wußte, daß er bereit gewesen war, sie das alleinige Risiko tragen zu lassen, um den eigenen Genuß nicht zu schmälern. Auch eine Form von Vertrautheit, dachte sie. »Okay.« Ein blitzartiges Lächeln erhellte sein Gesicht. Ein Lächeln wie eine Explosion, ein Lächeln, das ihr das Gefühl gab, Macht zu haben, großzügig zu sein. Ein schönes Gefühl. Er machte sich an den Knöpfen ihrer Levi’s zu schaffen, streifte sie über ihre Hüften und zog sie ihr aus. Dann stand er über ihr und schälte sich hastig aus der eigenen Hose. Er legte eine Hand auf die Brust, als wolle er der Nationalflagge seine Ehre erweisen, schaute an sich hinab und wirkte ein wenig erstaunt ob des schier unglaublichen Ausmaßes seiner Erektion. Wie auf der Suche nach etwas be-
gann er zwischen ihren Beinen herumzutasten. Als er es endlich gefunden hatte, ließ er ihr einen derart enthusiastischen Kuß zuteil werden, daß sie lachen mußte. Das Gelächter verwandelte sich in Keuchen, als sein Mund an ihrem Körper hinabwanderte, und er sie zu lecken begann. Es dauerte eine Weile, bis sie kam, aber das schien ihm nichts auszumachen. Im Gegenteil – er legte sich ins Zeug, als hätte er kein sehnlicheres Ziel. Von Zeit zu Zeit verkrallten sich ihre Finger in seinen Haaren, und manchmal bäumte sie sich unter ihm auf, woraufhin er glucksende Geräusche von sich gab, als würde diesmal er lachen. Als sie sich im Orgasmus wand, packte er ihr Kinn und küßte sie. Sein Mund, sein ganzes Gesicht war naß und roch nach ihr. Kissy registrierte, daß sie in der Tat lange gebraucht hatte; die CD war mittlerweile bei ›Golden Slumbers‹ angelangt. Sein Schwanz preßte sich hart gegen ihr Bein. Er legte ihre Hand darüber und stöhnte unter der Berührung auf. Dann zog er einen Gummi hervor. Die fürchterliche Unbeholfenheit am Anfang, wenn ein Mann auf ihr lag, hatte ihr sonst nie besonders gefallen. Seine Eichel bohrte sich in ihre Vulva, dann drang er erschauernd in sie ein. Naß von seinem Mund und noch erregt von ihrem Orgasmus, machte es sie rasend, ihn in sich zu spüren. Sie begann sich heftig unter ihm zu bewegen, er stieg darauf ein. Es war roh und wild, beide keuchten und stöhnten, aber sie sagten kein Wort. Abbey Road ging mit einem belanglosen Klimpern zu Ende, und die Geräusche, die sie machten, hallten plötzlich laut durch den Raum. Er preßte ihr hart seine Lippen auf den Mund, und sie küßten sich heftig, während sie weiterbumsten. Sie saugte an seiner Zunge, als er kam. Er hörte nicht auf, sie zu vögeln, und sie schaffte es selbst ein zweites Mal. Ihre Atemzüge hallten scharf durch die fast schamhafte Stille. Das Herz in ihrem bebenden Brustkorb tobte. Als sie eine Hand auf seine Brust legte, spürte sie, daß es bei ihm nicht anders war. Sein Herz hämmerte wie eine Faust, die wütend gegen eine Tür schlug. Sie stützte sich auf dem Ellbogen ab und nahm ihr Glas, um einen Schluck zu trinken. Obwohl ihr bewußt war, daß er sie beobachtete, sagte sie nichts. Junior griff nach seinem Penis, um das Kondom abzurollen. »Ist ja ganz rot. Du blutest.« Er grinste. »Hab dich ganz schön in die Gänge gebracht, was?«
Sie stand auf, um die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. In der Brusttasche ihrer Jacke befand sich der Tampon, den sie in weiser Voraussicht eingesteckt hatte. Es war eigentlich nicht viel. Kissy fühlte sich benutzt; als wäre irgendeine innere Maschinerie geölt worden. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht. Schon jetzt konnte sie kaum glauben, daß sie sich von Junior Clootie hatte vögeln lassen. Hatte sie aber. Ihr Spiegelbild lächelte sie verschwörerisch an. Er lag halb eingeschlafen auf der Matratze, träge wie ein Kater nach einer fetten Mahlzeit. Sie begann sich anzuziehen. Er machte ein Auge auf. »Bist du okay?« Die Füße in ihren Stiefeln versenkend hob sie den Kopf zu einem flüchtigen Lächeln. »Klar. Ich danke dir, Junior.« »Oh, keine Ursache. Es war mir ein Vergnügen.« Sie lachten beide. Kissy ging in die Hocke, um ihm einen leichten Kuß zu geben – mehr aus übertriebener Höflichkeit –, ehe sie die Wohnung verließ. Er wälzte sich im Bett und erweckte auf diese Weise die DuftGeister ihrer Begegnung, die noch in den Laken hingen, zu neuem Leben. Von wohliger Wärme durchflutet überließ er sich ganz dem Gefühl verdammt, war ich gut. Dann durchlebte er in der Stille des Augenblicks noch einmal den Anflug von Romantik, der sich beim Anblick ihres weißen, von der Anstrengung feucht im Nacken klebenden Haars seiner bemächtigt hatte. Ihr im Orgasmus verzerrtes Gesicht hatte ihm eine Offenbarung beschert. Sie war O – die Frau aus dem Film Geschichte der O. O hatte die Maske einer Eule getragen, wann immer sie sich ihren sadomasochistischen Spielchen hingab. Genauso hatte ihr Haar gewirkt: weiß und fedrig umgab es ihren Kopf wie ein Gefieder. Ein Effekt, der von ihr vielleicht nicht beabsichtigt war, auf ihn aber hatte es eine starke Wirkung gehabt – und das war nach wie vor so. Wie er sich O’s Gesicht auch vorgestellt haben mochte – jetzt war es ihres und würde es für alle Zeiten bleiben. Verrückt, daß ausgerechnet Dianes Tod sie zusammengebracht hatte. Er hoffte, Diane würde irgendwie davon wissen und Verständnis haben. Weshalb sollte er sich schuldig fühlen, nur weil er noch am Leben war und die nachklingende Wärme eines weiblichen Körpers genoß, das Nachglühen eines guten Ficks.
Da war ein Freund, dachte er schläfrig, irgendein Musiker. Folglich bestand das Risiko, daß sie es dem Typen beichten und er sich als Arschloch entpuppen würde. Noch nicht ganz Alarmstufe Rot, aber wenn man den Zahn eines anderen flachlegte, mußte man auf alles Mögliche gefaßt sein. Machte vielleicht sogar Spaß, einen MusikerBlödmann auseinander zu nehmen. »Die Soyasauce habe ich selbst gemacht«, verkündete Mary Frances. Sie kochte zum ersten Mal in ihrem Leben Huhn in Mandarine und war bereits über zwei Stunden zugange. »Es hat so lange gedauert, die blöden kleinen Mandarinenstücke zu schälen.« »Kriegt man die nicht schon abgezogen in Dosen?«, erkundigte sich Kissy. »Ich dachte, sie schmecken vielleicht besser, wenn ich’s selbst mache. Ich bin wirklich bescheuert, was?« Das Gelächter, in das beide einfielen, war tief und warm. Kissy sah zu, wie Mary Frances das Hühnerfleisch in papierdünne Scheiben schnitt. Neben dem Herd standen in der Abfolge des Kochvorgangs kleine, schnurgerade aufgereihte Schälchen mit schon vorbereiteten Zutaten. Eine weitere, ins Abseits verbannte Schüssel enthielt diverse Gemüsestücke, die Mary Frances’ Urteil zufolge für dieses Gericht nicht vollendet genug gewürfelt waren, püriert in einer Suppe aber durchaus noch zu gebrauchen seien. Mary Frances lud jeden Sonntagabend Freunde zu sich zum Essen ein. Für die Zubereitung der Speisen brauchte sie fast den ganzen Tag. Sie hatte Kissy anvertraut, daß diese Form der Selbstbeschäftigung ihr half, die Panik zu verdrängen, die jeden Sonntag in ihr hochstieg, weil sie nicht zur Messe gegangen war. Manchmal machte es sie wütend, daß sie immer noch so empfand, und dann ließ sie meistens etwas anbrennen oder vergaß eine entscheidende Zutat. »Mein Vater hat angerufen«, sagte sie. Seit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter im vergangenen Frühjahr war Mary Frances zum Mittelpunkt im Leben ihres Vaters geworden. Ihre Brüder und Schwestern fanden, aufgrund ihres Status als allein stehende Frau müsse sie den Vater unter ihre Fittiche nehmen. Der Vater glaubte aus dem gleichen Grund, sich um seine Tochter kümmern zu müssen. Das Tauziehen darum, wer nun für wen zuständig war, war eine permanente Frustration für beide.
»Er hatte eine fantastische Idee. Er möchte, daß wir nächsten Sommer nach meinem Abschluß eine große Reise durch Europa machen.« »Was möchtest du denn?« Mary Frances grinste. »Ich würde den Sommer gern in Europa verbringen. Besonders in den Lesbenkneipen. Ich brauche ihn bloß mit einer Freundin zu versorgen, damit er in den Nächten was anderes zu tun hat, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich mit meinen anfange.« Kissy lief unruhig in der Küche auf und ab. »Du glaubst nicht, was ich nach Dianes Trauerfeier getan habe.« Mary Frances schaute von ihrem Messer auf. »Spann mich nicht auf die Folter, Baby, spuck’s aus.« »Du weißt doch, daß ich mit Junior Clootie hingegangen bin…« Mary Frances bekam große Augen, ihre helle Haut rote Flecken. Sie stampfte mit dem Fuß. »Jetzt erzähl schon, wie’s war!« »Es war«, Kissy brach in kehliges Gelächter aus, »ehrlich gesagt, ganz schön wild.« Sie fischte ein Stück Wassernuß aus der Schüssel mit dem verschmähten Gemüse und schob es in den Mund. Ihr Gesicht glühte. Jetzt, wo es draußen war, wußte sie nicht genau, wie viel sie der Freundin noch erzählen wollte. Sie war nicht einmal sicher, was sie selbst davon halten sollte, aber es beschäftigte sie mehr, als sie erwartet hatte. In gespielter Frömmigkeit blickte Mary Frances gen Himmel, doch die rosarote Färbung ihrer Wangen war ein zuverlässiger Indikator ihres heimlichen Entsetzens. Sie schob die Hühnchenscheiben in eine Schüssel und stellte sie in den Kühlschrank. Dann trug sie das Messer zum Spülbecken, um es mit Akribie zu säubern, abzutrocknen und in den Messerblock zurückzustecken. »Ist das dieselbe Kissy Mellors, die mir erzählt hat, sie habe sich entschieden, auf einen Mann genauso wenig angewiesen zu sein wie ein Fisch auf ein Fahrrad? Wie bist du von da zu Junior Clootie gekommen? Ich meine, was will überhaupt eine Frau, die nur halbwegs alle beisammen hat, ausgerechnet mit Junior Clootie?« »Mit ihm ficken«, erwiderte Kissy demonstrativ kauend. Sie drückte es absichtlich so drastisch wie möglich aus; nicht nur wegen Mary Frances, auch sich selbst zuliebe. Sie schluckte den Bissen hinunter. »Ich werde hier nicht mit ihm anrücken.«
»Das will ich doch hoffen!« Mary Frances erschauerte theatralisch. Sollte sie tatsächlich durch die Lesbenkneipen Europas ziehen, würde es sich auf Anschauen beschränken, kein Anfassen. Sie hatte sich zu einer einzigen sexuellen Begegnung mit einem anderen Menschen in ihrem siebenundzwanzigjährigen Leben bekannt. Kissy konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie das vonstatten gegangen sein sollte. Falsch – was sie sich eigentlich nicht vorstellen konnte, war, daß irgend jemand die Geduld aufbringen würde, erst einmal zu warten, bis Mary Frances das Schlafzimmer neu gestrichen hatte. Trotz endloser Diskussionen darüber, wie ein Orgasmus durch Masturbation herbeizuführen sei, hatte Mary Frances nie einen zustande gebracht. Vermutlich, weil sie vollkommen gefühllos war nach zwei Stunden von dem, was auch immer das masturbatorische Äquivalent zum Abziehen von Mandarinenstückchen darstellte. »Na los«, forderte Mary Frances sie auf. »Gönnen wir uns die schmutzigen Details beim Tischdecken.« Kissy heuchelte Nonchalance, während sie den Tisch umkreiste, um die Gedecke aus feinstem Porzellan und echtem Silber zu plazieren, die Mary Frances für ihre Sonntagsessen herausrückte. »Das Übliche eben. Wir sind wie die Tiere übereinander hergefallen. Haben uns die Klamotten vom Leib gerissen und so.« »Sicher, aber wie viel vom Kamasutra habt ihr geschafft?« Kissy gluckste. »Wach auf, Weib!« »Du hast mit Ryne Schluß gemacht«, spekulierte Mary Frances, während sie die Gedecke, die Kissy aufgelegt hatte, sorgfältig zurechtrückte. »Kann schon sein.« »Und? Alles in Ordnung?«, fragte ihre Freundin. Die stille Sorge in Mary Frances Ton rührte Kissy. Sie nickte. »Ich komm schon klar.« Am Montag nach der Trauerfeier wurde der Blazer freigegeben. Mary Frances setzte Kissy am Polizeirevier von Peltry vor dem Parkplatz für sichergestellte Fahrzeuge ab. Ihr Wagen stand in jämmerlicher Pracht einsam neben dem gelben T-Bird, beide etwas abseits, als wären sie von starkem Körpergeruch befallen und den anderen Fahrzeugen ein Dorn im Auge. Die Schuld des anderen schien auf
ihren Blazer abzufärben. Er war schmutzig; viel schmutziger, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seit dem Unfall war sie immer von Mary Frances mitgenommen worden und nicht mehr selbst gefahren. Ihre Handflächen waren feucht, ihr Magen rumorte, als sie die Zündung anließ. Das Lenkrad rutschte mit einem Ruck durch ihre Finger und sie biß sich auf die Lippe. Sie fuhr viel zu langsam, mit lächerlich übertriebener Vorsicht. Leckt mich doch, tobte sie innerlich angesichts der ungeduldig hupenden Fahrer hinter ihr. Wartet bloß, bis jemand gegen eure Stoßstange knallt und stirbt. Oder Schlimmeres. Sie bog in die nächstbeste Waschstraße ein. Im Innern der Waschanlage wurde der Blazer zu einem Käfig auf Rädern, beklemmend wie ein Beichtstuhl. Sie dachte an alles, was sie bislang in Automobilen getrieben hatte. Ihre Hände glitten über den Sitz. Vordersitze, Rücksitze. Erkundungen und Experimente. Was sie damals wild und verrucht gefunden hatte, kam ihr heute nur noch kitschig vor. Dann kam Ryne. Drei Jahre, die sich im Nachhinein gar nicht so sehr von dem Bumsenund-dann-Abhauen mit all den anderen unterschieden. Sie war besser darin, sich aus dem Staub zu machen, als jeder sonst. Bis Junior. Sie hatte mit demselben altbekannten Spielchen gerechnet, aber es war anders gewesen. Wieso und warum genau, versuchte sie noch herauszufinden. Als sie vor ein paar Monaten etwas gesucht hatte, war ihr ein brauner Umschlag mit Fotos von den Jungs in die Hände gefallen, mit denen sie auf der Highschool ausgegangen war. Die Erkenntnis, was für Milchbubis sie alle gewesen waren, traf sie wie Schlag. Fotos hatten diese Macht. Die Zeit war eine ihrer Dimensionen. Sie selbst sah auf den Bildern ebenfalls wesentlich jünger aus, als sie sich damals vorgekommen war. Zum ersten Mal hatte sie eine schwache Ahnung davon bekommen, wie schnell die Zeit verging, wie die Jahre verflogen. Auch das Leben an der Highschool war wie eine vergilbte Fotografie gewesen; glanzlose, körnige, überbelichtete Jahre der Verstellung, des Durchhängens, des Wartens darauf, daß sie endlich mit ihrem Leben weitermachen konnte. Seit sie zum ersten Mal das Auge an den Sucher der Nikon ihres Vaters gelegt hatte, war ihr klar gewesen, wohin es für sie gehen würde. Er hatte sie verlassen, als eine der besten Ausbildungsstätten für Bildende Kunst im ganzen Nordosten
für sie gerade in greifbare Nähe rückte. Um sich für ein Stipendium zu qualifizieren, hatte sie es jedes Semester bis ins Ehrenverzeichnis geschafft. Schwimmen war neben der Fotografie ihr einziges Steckenpferd gewesen. Sie hatte einen Platz in der Schwimmermannschaft übernommen, den kein anderer haben wollte. Sie wurde niemals aufgestellt, aber sie verlor auch nicht die zwanzig Pfund, die sie dem Trainer zufolge unbedingt abnehmen sollte. Dennoch war sie bis zum Ende dabei und bekam schließlich ihre Urkunde und ihre vierte Universitätsmedaille überreicht – von einem Trainer, der immer noch schmollte. Während sie von der Außenwelt abgeschnitten in ihrem Blazer saß, umgeben von dem Rauschen der Sprühdüsen, dem Surren der Bürsten und dem Klatschen durchweichter Textilstreifen, dachte sie an ihre zweite Aussage zurück. Sie war wenige Tage nach dem Unfall aufgenommen worden, von einem Typen mit einem kleinen Rekorder auf einem Regal in einem kleinen Raum in der Behörde des Bezirkstaatsanwalts. Wieder und wieder hatte er sie zu den kleinsten Einzelheiten befragt. Sie überlegte, wie oft sie das Ganze wohl noch würde erzählen müssen. Bis sie es verarbeitet hatte, schoß es ihr mit einem müden Lächeln durch den Kopf. Als sie kurz darauf mit einem Satz ins Tageslicht gespuckt wurde, fühlte sie sich augenblicklich befreit. Der Blazer war wieder sauber. Sie kurbelte das Fenster hinunter und atmete tief durch. In einem überfüllten Gang entdeckte sie James Houston, als sie auf dem Weg zu ihrer Fünf-Uhr-Schwimmrunde aus einer Vorlesung stürmte. Vermutlich war er auf Kaution draußen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterhin die Kurse zu besuchen, während die Gerichtsverhandlung vorbereitet wurde. Mit gesenktem Blick schleppte er seine Bücher absichtlich durch das dichteste Gedränge. Er war unrasiert und bleich; er sah aus wie jemand, der unter einem Stein lebt. Zwanzig Minuten später ging sie am Rand des Schwimmbeckens in die Hocke. Der Moment, als sich ihr Körper streckte und in die Höhe schoß, war für den Bruchteil einer Sekunde wie freier Fall; sie genoß ihn sehr. Dann tauchte sie sauber ins Wasser ein. Es umspülte sie von allen Seiten. Am anderen Ende der Bahn machte sie die Wende und
schwamm zurück. Schwimmen war für sie ein automatischer Vorgang, etwas, bei dem sie nicht denken mußte, eine Gewohnheit, die fast an ein Ritual grenzte, und doch ein überwältigend sinnliches Erlebnis. Das Wasser schloß ihren Körper ein. Sie glitt hindurch, schob es beiseite, stupste es und stieß es, zwang es, sich vor ihr zu teilen, sie aufzunehmen und voranzutragen. Später unter der Dusche dachte sie an James Houston, an seinen jämmerlichen Zustand, an die Art, wie er jeglichem Blickkontakt ausgewichen war. Dann fiel ihr voller Schuldbewußtsein ein, daß sie Ruth Prashkers Großmutter versprochen hatte wiederzukommen. Das würde sie auch tun, und zwar bald; es war nur so viel los gewesen. Wenn sich der Schlaf endlich einstellte, brachte er ihr beklemmend reale Bilder des Unfalls. Er geschah wieder und wieder, mit dem Unterschied, daß sie den beiden Mädchen diesmal nicht ausweichen konnte. Wenn es ihr gelang, während des Zusammenstoßes nicht aus dem Schlaf zu schrecken, stieg ihr Traum-Ich aus dem Wagen, um die Körper zu untersuchen. Diesen Teil des Traumes fürchtete sie mittlerweile ebenso wie den Augenblick des Zusammenpralls, weil nie vorauszusagen war, welche Gesichter sie vorfinden würde. Manchmal war es Diane oder Ruth, die zu ihr hoch starrte, manchmal jemand anders. James Houston. Ihr Bruder Kevin. Ihre Mutter, ihr Vater sogar. Einmal war es Mary Frances. Ein anderes Mal sie selbst. Die Träume, die nicht von Gewalt geprägt waren, waren sexueller Natur. Sie wachte häufig abrupt auf, mit dem Gefühl, alles Blut würde in ihrem Bauch zusammenlaufen und sich mit dem starken Verlangen mischen, das unter ihrem Brustbein, in ihren Eingeweiden immer stärker anzuschwellen schien. Eines Morgens schreckte sie noch vor Sonnenaufgang derart heftig hoch, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Ihr Körper schmerzte vor Anspannung. Sie zitterte und brach in Tränen aus. Diesmal war es Juniors Gesicht gewesen, aber der Weinkrampf galt allen zusammen. Vollkommen blödsinnig, dieser ganze Kummer, versuchte sie sich einzureden. Irgendwann starb jeder; so war das nun mal. Es war halb fünf. Sie zog sich im Dunkeln eine Trainingshose an und schlüpfte aus dem Haus. Mit dem ersten Atemzug an der frischen, kühlen Luft verflogen die letzten Fetzen des Albtraums. Sie stieg in den Blazer und fuhr über den Dance auf die andere Seite von
Peltry, ins Valley. Über die Drumhill Street kam sie an dem Haus vorbei, in dem ihr Bruder Kevin eine Zeit lang gewohnt hatte, nachdem er im ersten Semester in Sowerwine ausgestiegen war. Seit Kevin beschlossen hatte, seine jüngere Schwester in ein besseres Leben durch Chemie einzuführen, indem er ihr ein mit Acid versetztes Bier andrehte, ohne ihr zu sagen, was darin war, hatten sie nicht mehr viel miteinander zu tun gehabt. Es war ein ziemlich übler Trip gewesen, der ihr Vertrauen in Kevin und in ihre eigene geistige Gesundheit heftig erschüttert hatte. Wenn sie seither auch nachhaltig von dem allgemein verbreiteten Blödsinn über die Freuden des Drogenkonsums geheilt war, so empfand sie es doch manchmal auch als einen Verlust an Unbefangenheit, der sie davon abhielt, sich mit Gleichaltrigen zu vergnügen. Ihr Bruder war ohne ein Wort aus Peltry verschwunden. Ihre Mutter hatte einige Monate später eine Postkarte von ihm bekommen, dann hatte niemand mehr etwas von ihm gehört. Die Karte war in Sturgis, South Dakota, aufgegeben worden, wo ein großes Harley-Jahrestreffen anstand. Das Valley, eine dicht bewaldete Schlucht, die die westliche Hälfte der Stadt durchschnitt, umschloß einen wilden Nebenarm des Dance, die ›Hornpipe‹ genannt. Während Peltry stetig gewachsen war, war dem Valley seine Ursprünglichkeit erhalten geblieben. Immer wieder hatten die Ärmsten der Armen entlang der Hornpipe Wohnbaracken errichtet, die früher oder später mit grausamer Verläßlichkeit von einem ungewohnt starken Frühjahrshochwasser hinweggespült wurden. Mittlerweile waren die einzigen Bewohner ein paar Gammler, deren bauliches Geschick sich auf Papphütten beschränkte. Peltry hatte das Valley als öffentliches Erholungsgebiet ausgewiesen und man stieß dort tatsächlich auf Jogger, Fahrradfahrer und Hundebesitzer samt Anhang. Bei schönem Wetter gab es Picknicks, und wenn das Wasser im Frühling seinen Höchststand erreichte, wurde ein ausgelassenes Wildwasserrennen veranstaltet. Doch das Valley war auch ein Ort der Schatten. Im dämmrigen Schutz des Waldes, der überhängenden Felsblöcke, der Überführung der Bundesstraße, der zahlreichen Brücken, die über die Hornpipe führten, und des verlassenen angrenzenden Friedhofs, der sich an seinem Rand befand – ein Friedhof, der von der Schnellstraße in zwei Teile zerschnitten wurde – , fanden Penner Unterschlupf, hatten Huren und Ehebrecher ihr Stelldichein, wurden Drogen und Sex
verkauft. Gelegentlich ereignete sich eine Vergewaltigung, ein- bis zweimal im Jahr gab es einen Mord. Sie selbst hatte sich zwischen den Grabsteinen, auf dem üppigen Gras über einem der ältesten Gräber, zum ersten Mal zu einem Jungen gelegt. Sie konnte gut sehen bei Nacht, zudem waren an strategisch wichtigen Punkten Bogenlampen aufgestellt, so daß sie in ordentlichem Tempo joggen konnte. Als sich die Dunkelheit zu lichten begann, war sie sich deutlich bewußt, wie die Einzelheiten, die Ecken und Tiefen, die vorher nur zu ahnen gewesen waren, langsam Gestalt annahmen. Von den nahe gelegenen Straßen drang vereinzelt das Rauschen eines Wagens zu ihr durch. Als sie langsamer wurde, um auf den Pfad abzubiegen, der hügelaufwärts aus dem Valley hinausführte, hörte sie das knirschende Geräusch von Kies unter Füßen, ein lautes, angestrengtes Schnaufen. Noch ein Läufer. Ein gutes Stück weiter oben drehte sie sich um. Durch eine Lücke zwischen den Bäumen sah sie den Weg, den sie soeben verlassen hatte, und darauf den Jogger. Sie trabte auf der Stelle und beobachtete ihn. Haare und Kleidung klebten ihm feucht an der Haut, seine Atemzüge gingen schwer vor Erschöpfung. Trotzdem lief er schnell, zu schnell, machte er keinerlei Anstalten stehen zu bleiben. Plötzlich, als hätte er ihren Blick gespürt, hob er den Kopf und entdeckte sie. Es war James Houston. Sie rannte los, als wäre er hinter ihr her. Die Laternen in den ausgestorbenen Straßen verbreiteten immer noch ihren mittlerweile überflüssigen, matten Schein. Kissy stellte fest, daß sie vor dem Krankenhaus in ihrem Wagen saß. Sie mußte kurz eingeschlafen sein. Auf der Uhr, die sie durch die Glaswände erkennen konnte, war es sechs. Sylvia Cronin saß am Bett ihrer Enkeltochter, als hätte sie es nicht eine Sekunde verlassen. Ihr warmes Lächeln bei Kissys Anblick verstärkte deren schlechtes Gewissen noch. Die alte Dame hatte seit ihrer ersten Begegnung einiges an Haltung gewonnen. Sie trug ein elegantes königsblaues Kostüm, ihr Haar war diesmal zu einem bewußt altmodischen, kunstvollen Zopfarrangement hochgesteckt, und sie trug zwei filigran gearbeitete Ohrringe aus Altsilber. An einer Kette um ihren Hals hing ein rundes Silbermedaillon, in dessen
Oberfläche ein wunderschönes antikes Muster getrieben war. Das Silber war derart blank gerieben, daß es die Wärme von Gold besaß. Ruth wirkte irgendwie kleiner. Die Blutergüsse verloren dank des voranschreitenden Heilungsprozesses langsam an Farbenpracht, doch die unverletzten Körperstellen wirkten vollkommen blutleer. Die Farbe ihrer Hände war die gleiche wie die des Lakens, auf dem sie ruhten. Die Finger, deren Nägel bis auf einen, der komplett herausgerissen war, immer noch einzelne Fetzen roten Nagellacks schmückten, umklammerten leere Luft. Es waren weder schöne noch häßliche Hände; sie muteten eher kindlich und unfertig an. Anhand der Fotos, die in der Zeitung und im Fernsehen veröffentlicht worden waren, hatte Kissy sich kein eindeutiges Bild von Ruths Aussehen vor dem Unfall machen können. Wie Diane Greenan hatte auch Ruth auf den Aufnahmen in der Peltry Daily News Jugend, Gesundheit und das Bestreben, das Beste aus sich zu machen, ausgestrahlt. Auf diesem allerersten Foto – dem seltsam verschwommenen, das wohl am weitesten verbreitet worden war – , war vielleicht ein Hauch von Gefallsucht erkennbar gewesen, hatte etwas in ihren Augen Kissy an ein verschrecktes Pferd erinnert. Scheu und wachsam hatte Ruth ausgesehen. Die Frau aber, die hier an den Maschinen hing, war vollkommen ohne Ausdruck. Kraftlos. Leblos. Unerreichbar. Diese Ruth Prashker war ein noch verschwommeneres Abbild ihres Fotos. Und das Gesicht der Ruth Prashker, die im mondlichtbleichen Scheinwerferlicht des Blazers plötzlich vor ihr gestanden hatte, war eine Maske gewesen. Ebenso unwirklich wie das Gesicht dieses gefangenen Körpers, ebenso wild, verzweifelt und angstvoll lachend wie das Mädchen auf dem Schnappschuß. Kissy hätte nicht schwören können, daß es sich um ein und dieselbe Person handelte. Konnte es selbst nicht glauben. Es. Nicht einmal ein Geschlecht hatte sie dem Gesicht in ihrer Erinnerung zugeordnet. Sie trat ans Bett und sagte leise zu Ruth: »Ich bin Kissy Mellors. Ich war schon mal hier. Ich habe in dem anderen Wagen gesessen, in dem, der Sie nicht verletzt hat. Es tut mir furchtbar leid, was passiert ist.« Dann machte sie einen Schritt zurück, sank in den nächstbesten Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen. »Sie sind erschöpft, oder?«, meinte Mrs. Cronin. Kissy nickte.
»Kommen Sie. Gehen wir einen Kakao trinken.« In der Kantine reichte sie Kissy einen Becher Instant-Kakao aus dem Automaten und wies mit dem Kopf auf einen freien Tisch. »Ich mache mir Sorgen um Sie.« Müde und ausgepumpt, wie sie war, ließ Kissy sich zu einem Geständnis hinreißen. »Ich habe Albträume.« »Das wundert mich nicht. Ich habe in letzter Zeit selbst ein paar gehabt. Eigentlich kommt es mir so vor, als ob ich einen einzigen Albtraum erlebe.« Mrs. Cronin rührte gedankenverloren in ihrem Kakao. Er schmeckte viel besser, als er sollte. Kissy war plötzlich hungrig. Sie kaufte sich ein Schälchen Müsli und machte sich unter Mrs. Cronins zugleich beifälligem und ironischem Blick darüber her. »Wie geht es Ruth? Ich meine, bessert sich ihr Zustand?«, wollte Kissy wissen. Die alte Dame klopfte resigniert mit einer altersfleckigen Hand auf den Tisch und machte ein entrüstetes, kehliges Geräusch. »In der ersten Woche habe ich nicht die ganze Zeit an ihrem Bett gesessen. Entweder war ich hier in der Bibliothek oder ich habe die Ärzte abgefangen und dazu gebracht, mit mir zu reden, als ob ich kein kompletter Dummkopf wäre. Nachdem ich mich mit ihrem Jargon vertraut gemacht hatte, wurde mir klar, daß es nicht viele Möglichkeiten gibt. Sie hat eine diffuse Verletzung der Gehirnnerven erlitten. Eine Form der Schädigung, bei der die Heilungsprognose denkbar schlecht ausfällt. Selbst wenn sie morgen aufwachen würde und alle Tests plötzlich Anlaß zu Optimismus gäben, würde sie bestenfalls eine schwere Behinderung davontragen. Man brauchte ein Wunder, um sie nur so weit zu bringen, daß sie gelegentlich bei Bewußtsein ist und sich vielleicht durch das Klappern mit den Augenlidern verständigen kann.« Bei den letzten Worten begann Mrs. Cronins Stimme zu zittern. Der Bissen, den Kissy im Mund hatte, wirkte mit einem Mal sperrig. Sie schluckte mühsam. »Hat sie Schmerzen?« »Nein. Ohne Bewußtsein spürt man nichts.« Mrs. Cronin nahm eine Serviette aus dem Tischspender und tupfte mit bebender Hand ihre Augenwinkel ab. »Man hält das für einen Segen«, fügte sie verächtlich hinzu. »Das ist alles so schrecklich«, sagte Kissy.
Mrs. Cronin lächelte milde. »Sartre meinte, andere Menschen seien die Hölle. Boshafter kleiner Narziß, habe ich immer gedacht, wenn mir diese Worte eingefallen sind. Nun, seiner Definition nach ist Ruth jetzt im Himmel, weil sie sich in ihrer Verfassung nicht mit anderen Menschen herumschlagen muß.« »Sie ist in der Vorhölle«, sagte Kissy. »Falls es einen solchen Ort tatsächlich gibt.« »Ja«, nickte Mrs. Cronin. »Genau wie wir.« Kissy zerknüllte ihre kakaofleckige Serviette. »Ich wünschte, ich könnte irgend etwas tun.« Mrs. Cronin legte den Kopf auf die Seite. Sie sah aus wie ein alter Kakadu. Ein Kakadu mit magischen Kräften, der nicht nur sprechen, sondern einem auch kryptische Rätsel aufgeben konnte. »Ruhen Sie sich ein wenig aus, meine Liebe.« »Ich komme wieder«, erbot sich Kissy. »Tun Sie das.« Mrs. Cronin tätschelte ihre Hand. Die Berührung war leicht und trocken wie die eines welken Blattes. Dann glitt ihre Hand zu dem Medaillon. Sie strich zärtlich darüber, hob den Kopf und schaute Kissy flehend an. Kissy nickte. Mrs. Cronin löste mit zitternden Fingern den Verschluß der Silberkette und reichte sie ihr. Das mit wunderschönen Arabesken verzierte Medaillon war körperwarm wie ein kleines, schlagendes Herz. Kissy klappte es auf. In seinem Innern befand sich das Foto eines etwa zehnjährigen Mädchens. Ruth. Die dunklen Augen leuchteten, das Lächeln war fröhlich, die Zähne hoben sich weiß schimmernd gegen die sonnengebräunte Haut ab. »Sie war so ein glückliches Mädchen«, sagte Mrs. Cronin. Kissy betrachtete das Bild. Ihr wurde ein wenig schlecht bei dem Gedanken, daß dieses reizende Kind nun eine zerstörte Frau war, die auf der Intensivstation lag. Als sie den Kopf hob, saß Mrs. Cronin immer noch reglos wie eine Statue da, die Hände im Schoß übereinandergelegt, aber ihr Gesicht war tränenüberströmt. Die Uhr im Armaturenbrett war gerade auf sieben gesprungen, als sie den Blazer startete und den Krankenhausparkplatz verließ. Auf den Straßen herrschte mäßiger Verkehr. Sie war ruhig und vollkommen wach. Als sie jedoch an ihrem nächsten Halt die Treppe hinaufstieg,
wurde sie plötzlich wieder nervös. Sie klopfte an eine Tür. Als keine Reaktion kam, klopfte sie noch einmal, lauter. Von innen ertönte ein gedämpftes »Verdammt, ich komm ja schon.« Dann das Geräusch einer Bettdecke, die hastig zurückgeschlagen wurde, das leise Klatschen nackter Füße auf dem Boden, ein Stoffrascheln, das Schnappen eines Gummibandes, dann wieder Füße, die näher kamen. Junior machte die Tür einen Spaltbreit auf und blinzelte ihr verschlafen entgegen. Er drückte gähnend mit einer Hand gegen seinen Penis, der unter den Boxershorts, die sie ihn hatte anziehen hören, deutlich abstand. »Großer Gott«, entfuhr es ihm. Sie schlüpfte an ihm vorbei, er machte die Tür hinter ihr zu. »Es hätte jemand hier sein können«, sagte er vorwurfsvoll. »Ist aber nicht.« Er kratzte sich grinsend die Brust. »Na, und was willst du? Einen Kaffee und eine kleine Aussprache?« Sie ließ sich geziert in den Schaukelstuhl sinken, schaute ihn an und dann schnell auf den Boden. »Ach so.« Er gähnte wieder. »Du denkst wohl, weil du mich einmal rumgekriegt hast, bin ich ein Hurenbock, der jederzeit zu haben ist?« Sie unterdrückte mühsam ein Kichern. Zweimal ist immer noch ein Experiment, sagte sie sich. Ein bißchen Wahnsinn war genau das, was sie brauchte. Ryne war der erste Mann gewesen, den sie bewußt gewollt hatte, bei dem sie eine Vorstellung davon gehabt hatte, was sie eigentlich wollte. Bei Junior war der Drang nach der Erfahrung, mit ihm zu vögeln und von ihm gevögelt zu werden, weitaus stärker als bei jedem anderen, selbst Ryne. Entfacht worden war dieses Gefühl durch die Erinnerung an die Nacht, in der er die Scheibe eingetreten hatte. Die Qualität des Mondlichts, das in jener Nacht auf sie gefallen war, erschien ihr zurückblickend magisch, wie geschaffen dafür, Zombies in traumähnlichen Marsch zu versetzen. Sie hatte irgendwo gelesen – vermutlich als Kind in einem Kinderbuch, wie die Verschwommenheit ihrer Erinnerung nahe legte –, daß Motten von einer Kerzenflamme angezogen werden, weil sie sie für den Mond halten. Vor ihrem geistigen Auge entstand die Vorstellung von einem riesigen Mottenschwarm, der wie ein gewaltiger Kondensstreifen zum Mond hinaufzog.
Als sie sich rittlings auf ihn setzte, sah sie nur noch das stumme Flehen in seinem Blick, nicht aufzuhören. Mary Frances gegenüber hatte sie sich darüber lustig gemacht, aber es war schon etwas Wahres dran; sie waren wie Tiere, taten etwas Animalisches, und für sie war die Grobheit ihres Kopulierens genau das Richtige. Ein momentanes Auslöschen alles anderen. Sie war nicht sicher, wie viel das, was sie tat, mit Junior zu tun hatte – geschweige denn, ob überhaupt. Vielleicht kam alles nur aus ihr. Eine plötzlich entdeckte Fähigkeit, wie damals, beim ersten Blick durch den Sucher. Ein Augenblick der Erleuchtung, ein echtes Amazing Grace: I was blind and now I see. Oder als sie zum ersten Mal selbstständig geschwommen war, als sie schlagartig den Rhythmus heraushatte, in welchem Moment der Schwimmbewegung sie den Kopf drehen mußte, um einzuatmen; später dann, als sie die Wende machen konnte, ohne mit den Schwimmzügen oder der Atmung ins Stocken zu geraten. Oder die Nacht, in der Latham, ihr Studienberater, ihr das erste Glas richtig edlen Wein eingeschenkt hatte, sie ihn wie angewiesen in ihrem Mund hin- und herwälzte und plötzlich merkte, daß an dem scheinbar blöden Gelaber über guten Wein tatsächlich etwas dran war. Es war in ihrem Mund – die unbeschreibliche Beschaffenheit der Flüssigkeit, die Komplexität des Geschmacks, das ganze unvorstellbar sinnliche, seit uralten Zeiten bekannte, nicht mehr abzustreitende Erlebnis. Zerstreut überlegte sie, was ihr bislang noch alles entgangen sein mochte. Dann brach sie unvermittelt in wunderbar staunendes, fröhliches Gelächter aus. Junior hörte es und lachte mit, als hätte er den Ursprung ihrer Erheiterung haargenau erkannt. \4[ Kröties Wahnsinnsritt, dachte Junior, als er wieder dazu in der Lage war. Froggy went a’courtin’. Er hatte sich ordentlich bemüht um Miss Molly. Mußte die gleiche Miss Molly gewesen sein wie in dem Little-Richard-Song; Good Golly Miss Molly she sure like to ball. Ihre Haut war feucht und gerötet, die Augen standen weit offen und blickten leer. Er stützte sich auf dem Ellbogen ab, um sie ganz zu betrachten. Die Beine waren weit gespreizt, der Pelz dazwischen naß, die deutlich sichtbare Spalte prall geschwollen. Von Zeit zu Zeit
zuckte ihr Bauch. Ein Arm lag neben dem Kopf, der andere schlaff an der Seite, so daß eine Brust angehoben wurde und ihr Gegenstück platt auf den Rippen klebte. Er hatte sich nie für einen besonderen Tittenfetischisten gehalten, aber ihre würden jeden aus der Faßung bringen. Außerdem hatten sie jene erstaunliche Eigenart, die allen Titten zu eigen war, ob groß oder klein – es gab zwei davon. Ein Umstand, der in der Tat darauf hindeuten konnte, daß Gott einen Schwanz besaß. Er ließ sich auf den Rücken fallen, um einen Moment die Augen zu schließen, um wieder zu Atem zu kommen, ehe er sie erneut heimlich beobachtete. Jetzt schlief sie wie ein Stein. Die Lippen waren leicht geöffnet, in einem Mundwinkel hing eine kleine Speichelblase. Mit den dunklen Rändern unter den Augen, im Zustand des Tiefschlafs, sah sie aus, als hätte man sie zu Tode gebumst. Als sie später zusammen in der Wanne saßen, sie mit dem Rücken an seine Brust gelehnt, und ein harmloses Fußgeplänkel veranstalteten – reiben, kratzen, stupsen – , meinte er: »Wer hätte gedacht, daß ausgerechnet wir zwei mal was miteinander hätten?« Ihre Antwort bestand aus einem tiefen Lachen, das er als Vibration an seinem Körper wahrnahm. Eine kleine Erinnerung daran, wie sich dieses Lachen anfühlte, wenn er in ihr war. Er preßte einen Schwamm über ihr aus und beobachtete, wie das heiße, von Schaumblasen durchsetzte Wasser über ihre Brüste rann, sie umspielte, den Spalt dazwischen schmierte, bis alles glänzte wie polierter Stein. Der darunter liegende, vom Schwimmen und Gewichtheben modellierte Muskel stützte die vollen Brüste. Obwohl sie die dreieckige Figur einer Schwimmerin besaß – breite Schultern, schmale Hüften –, waren auch ihre Oberschenkel und der Hintern schön fest und muskulös. Er hatte es nie länger als ein paar Monate mit derselben Frau ausgehalten. Frauen waren wie Pflanzen: Wie leicht sie auch zu haben sein mochten, man mußte sie wässern und sich darüber auf dem Laufenden halten, ob sie Sonne, Schatten oder Halbschatten brauchten. Um die Pflichtfächer aus dem Bereich der Naturwissenschaften abzudecken, hatte er Botanik und Gartenbau belegt. Der Laberkopf, der den Gartenbau-Kurs geleitet hatte, hatte bei jeder Gelegenheit voller Inbrunst Dorothy Parker zitiert: Man kann eine Hure zwar kultivie-
ren, zum Denken bringt man sie dadurch jedoch nicht. Es war die einzige Stunde des ganzen Kurses, die bei Junior hängen geblieben war. Hatte die Saison erst einmal begonnen, wurde es zur wahren Plage, mit jemandem zu gehen. Zwischen den Kursen, dem Training und den Spielen blieb ihm nicht viel Zeit und Energie für Gartenbau. One-Night-Stands waren noch unberechenbarer. Nur eine einzige Szene von einer verheizten, hysterischen Schlampe, die sich nicht vom Acker machen wollte, war mehr als genug für ihn. Wenn an der Behauptung, so schlimm könne es gar nicht sein, daß es nicht auch etwas Tolles haben müsse, auch ein Körnchen Wahrheit war, in Wirklichkeit gab es einfach Unterschiede. Da waren die echten Wahnsinnsgalopps, dann kamen die guten, die schlechten und schließlich die, die einen kalt ließen. Dieses letzte Mal mit Diane beispielsweise – sie waren sich zufällig bei irgendwem auf der Bude über den Weg gelaufen, hatten beide zu viel getrunken, kein Wort miteinander gesprochen, waren einfach im Badezimmer verschwunden, hatten sich ein bißchen an Dianes Koksvorrat gütlich getan und dann hatte er sie gefickt, im Stehen an der Wand. Nicht ganz leicht für so ein magersüchtiges kleines Huhn, wie er sich erinnerte; dafür war der Schuß sensationell gewesen. Diane hatte ihre Calvin-KleinJeans zugeknöpft und war nach einem prüfenden Blick in den Spiegel in die Nacht hinausspaziert, um zu sterben. Mit Kissy hingegen war es ein einziger Superstreifen. Als ob sie beide das Ficken erfunden hätten. Nichts von solcher Intensität konnte lange so bleiben. Aber solange es dauerte, würde er ganz bestimmt nicht bremsen. Ihre Telefonnummer hatte er immer noch nicht. Bislang hatte sie immer den ersten Schritt getan, und er neigte sehr dazu, nicht von sich aus nach der Nummer zu fragen. Manchmal war es besser abzuwarten. Nur dann nicht, wenn man wußte, daß man aussteigen und sich das Problem vom Hals schaffen sollte. Und genau das war es, worauf er im Grunde wartete; auf den Moment, in dem ihm klar wurde, ob er die Sache beenden mußte. Eigentlich spielte es ohnehin keine Rolle. Es war nur ein Spiel, das er spielte. »Wir sind Suppe«, meinte sie schläfrig. Über ihrer Oberlippe hatten sich Tröpfchen gebildet, die Haarwurzeln waren feucht. »Suppe für die Kannibalen.« Er leckte lachend an ihrem Ohr. »Wer ist hier jetzt der Missionar?«
Nachdem Junior eine Weile vergeblich in dem Klamottenwust in seiner Sporttasche nach einer Socke gewühlt hatte, dämmerte ihm allmählich, daß er sich mit einer feuchten würde abfinden müssen. Neben ihm auf der Bank inspizierte Zoo die Ränder des Klebstreifens auf einem seiner Stöcke. Das Training war vorbei. Abgesehen von ein paar wenigen anderen Nachzüglern, die sich noch mit dem Trainer unterhielten oder ihre Ausrüstung zusammensuchten oder flickten, war niemand mehr im Umkleideraum. Zoo zog den Klebstreifen ab, richtete ihn aus und befestigte ihn wieder. »Nagelst du sie?« »Wen?« »Melone. Hab heute morgen ihren Blazer vor deiner Bude stehen sehen. Außerdem hast du diesen, na ich würde sagen« – Zoo hob grinsend den Kopf – »diesen ganz speziellen Glanz in deinen Augen.« Die Socke hing an Juniors Zehnagel fest. Er streifte sie ungeduldig ab und untersuchte den Nagel, der an einer Seite eingerissen war. Mit gerunzelter Stirn zog er den obersten Nagelstreifen ab. »Du tust es!«, sagte Zoo. »Und wie.« Junior grinste. »Hast du eine Nagelschere dabei?« Zoo warf ihm eine zu. »Du schneidest dir sofort die Nägel, oder du wirst diesen Traum nie mehr haben«, zitierte er aus dem ersten Teil von Nightmare on Elm Street. Dann sagte er lachend: »Hoot, Hoot, was bist du bloß für’n verbogener Typ. Um ein Haar hätte sie Diane gekillt.« »Das Leben geht weiter. Soll ich etwa auf den Superfick verzichten, bloß weil Diane Pech gehabt hat?« Er warf die Schere zurück. In dem Moment tauchte Dionnes grobes Gesicht in der Tür zum Trainerzimmer auf. Auf seiner rechten Schulter klebte ein Eisbeutel. Seine Pupillen waren auf Stecknadelkopfgröße geschrumpft, das Resultat irgendwelcher Schmerzmittel. »Diane? Diane Greenan?« »Hoot hatte mal was mit ihr laufen«, klärte Zoo ihn auf. Das war vor Dionnes Zeit gewesen. Er war eine Klaße unter Junior und Zoo. »Nein, Scheiße.« Dionne blinzelte. »Echt?« »Jetzt nagelt er Melone. Ist das nicht zum Kotzen?« »Melone?« Dionne fielen beinah die Augen aus dem Kopf. »Ich hab gehört, in Wirklichkeit war sie’s, die Diane und die andere über-
fahren hat. Sie sind von ihrem Wagen abgeprallt und auf den von dem Typen geknallt…« »Du bist ein gottverdammter Idiot«, fiel Junior ihm ins Wort. »Der Typ, der sie erwischt hat, war besoffen für zwei. Sie hat man auch getestet und sie hatte kein bißchen Alkohol im Blut. Liest du keine Zeitung?« »Vertuschung, sonst nichts«, meinte Dionne wegwerfend. »Machen die doch die ganze Zeit.« »Und du hast natürlich Beweise – sobald du dich vorbeugst und sie dir aus dem Arsch ziehst«, gab Junior zurück. Dionne machte ein gekränktes Gesicht, dann schien er sich durch den Nebel von Schmerzkillern in seinem Hirn an etwas von Relevanz zu erinnern: »He, hast du nicht immer behauptet, Melone wär ’ne Lesbe?« Junior legte die Hände um seine Hoden und wog sie in der Hand. »Das war einmal.« »Blödmann«, sagte Zoo zu Dionne. »Glaubst du denn, bloß weil auf einem Schild ›Einbahnstraße‹ steht, kann man nicht in beide Richtungen fahren?« Es war immer ein Mordsspaß, Dionne durcheinander zu bringen. Das Schwarzweiß der Spectres würde einen fantastischen Akzent auf der weißen Eisfläche abgeben, überlegte Kissy, während sie zusah, wie die Spieler sich warm liefen. Junior, der seinen Handschuh noch nicht angezogen hatte, reckte ihr einen erhobenen Daumen entgegen. Sie war auserkoren, die Fotos des Eröffnungsspiels der Vorsaison zu schießen. Das uniforme Schwarz, die Farbe der Mannschaft bei auswärtigen Spielen, spielte gegen Weiß garniert mit etwas Schwarz das die Spectres bei Heimspielen trugen. Beide Teams gingen jetzt in Position für ein spektakuläres Schwarz-Weiß-Gemenge. Bei Clarissa, der Assistentin des Herausgebers der Studentenzeitung, hatte sie einen Sonderauftrag herausschinden können. Roger Day, der normalerweise die Fotos für den Sportteil machte, war ziemlich sauer geworden. »Sie weiß einen Dreck über das Spiel!«, hatte er mehrmals wiederholt, während Clarissa ihm Zigarettenrauch ins Gesicht blies. »Was soll das sein? Eine Lesbe, die der anderen einen Gefallen tut?«
»Ich wollte dich eigentlich bitten, dich nicht wie ein Arschloch zu benehmen«, hatte Clarissa erwidert. »Aber wie ich sehe, ist es dafür zu spät.« In einer Art Kompromiß hatten sie sich schließlich geeinigt, daß Roger ebenfalls dort sein würde. Eigentlich, um sie einzuweisen, doch in Wirklichkeit verwendete er den Großteil seiner Energie darauf, sie wie eine Vollidiotin zu behandeln. Beide trugen sie Plastikausweise, die ihnen Zugang zu dem Bereich zwischen den Plexiglaßcheiben direkt vor der Eisfläche und den Sitzreihen erlaubten. In den Scheiben befanden sich an ausgesuchten Punkten Löcher, durch die ein Objektiv paßte. Platz gab es reichlich, so daß Roger während des Spiels an seinem Loch im Plexiglas vollauf beschäftigt sein würde. Sie würde am anderen Ende der Eisfläche stehen, in der Nähe des Ganges zu den Umkleiden und dem Tor, das die Spectres in zwei von drei Dritteln jedes Heimspiels verteidigten. Die Kälte des Eises kroch in ihre Stiefel und sogar in das Extrapaar dicke Socken hinein, das sie angezogen hatte; über die lange Unterhose unter ihrer Levi’s war sie ausgesprochen froh. »Erklär es mir doch«, hatte sie Junior in den Ohren gelegen. »Kommt nicht in Frage«, hatte er grinsend abgelehnt. »Du bist ein Mädchen. Nur die männlichen Mitglieder des Stammes dürfen in die Geheimnisse eingeweiht werden…« Ihre Hand war zwischen seine Beine geglitten. »O ja, na gut, also dann – alles ganz simpel: raus mit dem Puck aus deiner Zone und rein damit ins gegnerische Netz… Ja, laß mich dir alles beibringen, was ich je gelernt habe…« Mit Juniors undeutlichen und rudimentären Instruktionen als Ausgangsbasis hatte sie ein wenig nachgelesen und sich etliche Fotos von Eishockeyspielen in Zeitschriften angeschaut. Die Schutzmaske des Torhüters hatte eine drastische Entwicklung hinter sich: ausgehend von den ersten, wahrhaft schaurigen Exemplaren, die keinerlei menschliche Züge besaßen, über Abbilder des mordlüsternen Jason – aus zahllosen Horrorstreifen bekannt –, bis hin zur aktuellen Generation. Dabei handelte es sich um anspruchsvoll konzipierte Helme, die den gesamten Kopf umschlossen, während sie zugleich das jeweilige Mannschaftstotem darstellten. Der Torhüter eines Teams, das sich Bears nannte, konnte sich beispielsweise wie die Krieger oder Schamanen eines Eingeborenenstammes die Maske eines Furcht einflößend brüllenden Grizzlys oder Schwarzbären überstülpen. Juniors
Helm griff auf das indifferente, anonyme Weiß des Jason-Looks zurück, wodurch der grausige Totenkopf, den er darstellte, etwas bestürzend Realistisches bekam. Ein menschlicher Schädel paßte natürlich wesentlich besser über das Gesicht, das er verbarg, als jede Löwen-, Tiger- oder Bärenmaske. Ein Blick auf Juniors Augen, die voller Energie hinter den Gitterstäben hervorblitzten, garantierte ihr ein paar außergewöhnliche, unheimliche Aufnahmen. Die Intensität, mit der er in Gorillahaltung darauf wartete, daß das Spiel in seine Richtung lief, verschlug ihr die Sprache. Angesichts der Sperrigkeit seines Aufzugs waren seine flinken, fließenden Bewegungen um so erstaunlicher. Er war allein auf weiter Flur wie ein Förster, der vom Hochsitz aus nach Rauch über einem riesigen Gebiet Ausschau hält. Der Puck konnte jederzeit nach einem einzigen Schlag über die Länge des Spielfelds auf ihn zuschwirren, und dann mußte er da sein, darauf vorbereitet sein. Selbst in den einsamen Momenten, wenn sich der Puck vor dem gegnerischen Tor befand, konnte man ihn quer über die Eisfläche seinen Teamkollegen hinterher brüllen hören. Er benutzte dazu eine Tonlage, die höher war als gewöhnlich, damit sie ihn über ihr eigenes Rufen hinweg, über das durchdringende Quietschen der Kufen, das Klappern der Stöcke, das Krachen von Körpern gegen die Bande verstehen konnten. Es war eine Stimme, die ihm den Spitznamen ›Hooter‹, Sirene, eingebracht hatte. »Puck abgeben!«, schrie er manchmal, während er die Ecke deckte, wenn die Stürmer oder Verteidiger den Puck von der Bande abschlugen. Gelegentlich verfiel er auch in eine Art Singsang-Alarm, um jemanden zu warnen, der von hinten angegriffen wurde. Er schrie zum Angriff, feuerte sein Team an, seine Stimme allzeit im Rücken der Mitstreiter. Kam der Puck auf ihn zu, schoß er mit einem Triumphschrei heraus, der an einen Pfau erinnerte, um ihn abzuschlagen, und schnellte dann wie ein Jojo in den Torraum zurück. Als sie nach dem Spiel ihre Ausrüstung zusammenpackte, blieb er kurz auf dem Gang zu den Umkleiden stehen. »Kissy«, sagte er, seinen Ellbogen reibend, »Bird’s!« Roger, der soeben heranstapfte, um sie abzuholen, bekam es mit. Ein boshaftes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Jetzt
geht mir aber ein Licht auf. Du willst wohl das Team durchprobieren. Sieh an.« Bird’s war eine Sportlerkaschemme in der Nähe des Jachthafens. Kissy hatte den Laden noch nie gemocht. Grelles Licht, viel Lärm und Horden von hochnäsigen Unisportlern. Der Besitzer war selbst einer und sah sich die Ausweise der Sowerwine-Athleten nicht besonders genau an. Der Rest der Kundschaft, größtenteils Männer mittleren Alters, war ganz versessen darauf, den Goldjungen Drinks zu spendieren und endlose Geschichten von ihren eigenen Tagen als junge Götter zum Besten zu geben. Als Kissy ankam, fand sie Junior mit Zoo, dessen Freundin Brenda, sowie Dionne in Begleitung eines dürren Mädchens, das Kissy nicht kannte, im Kraftraum aber schon öfter gesehen hatte, an einem Ecktisch. Am Nebentisch saßen ebenfalls ausschließlich Eishockeyspieler – und ein paar Mädchen. Mädchen. Wo Sportler waren, waren immer Mädchen. Und Bier. Und irgendwer, der den Jungs die nächste Runde ausgab. Junior sprang auf, um sie zu begrüßen. Sein Atem war warm und roch nach Bier. Sie wunderte sich wieder einmal darüber, wie sehr sie den Geschmack von Bier im Mund eines Mannes mochte, obwohl sie es selbst nicht besonders gern trank. Er quetschte einen freien Stuhl neben seinen. Nachdem sie sich gesetzt hatte, legte er ihre Hand für die anderen unsichtbar unter dem Tisch auf seinen Schritt. Sein Penis machte unter der Berührung einen Satz. »Siehst du, was du mit mir machst?«, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann lachte er und sagte zu seinen Freunden: »Ihr kennt Kissy?« Alle nickten, sogar die Dünne. Es war ein wissendes Nicken. Kissy gehörte zu Junior; nur das zählte. Sie waren mitten in einem Gespräch. Keiner machte sich die Mühe, ihr zu erklären, worüber sie redeten, man überließ es ihr von allein dahinter zu kommen. Es ging anscheinend um Mannschaftspolitik, um jemanden, der nichts dazu beisteuerte. Das Ganze war eine einzige Meckerei, also nutzte Kissy die Gelegenheit, sich etwas umzusehen. An der Bar veranstaltete eine Gruppe von Leuten mit vom Alkohol offensichtlich außer Kraft gesetzten Hemmungen ein solches Affentheater, daß sie am liebsten ihre Kamera aus dem Blazer geholt hätte.
Junior holte ihr ein Glas roten Hauswein. Er schaute sie häufig an, sagte aber nichts, konzentrierte sich ganz auf seine Freunde. Die Hand, die nicht das Bierglas umklammerte, lag abwechselnd auf ihrem Schenkel, um ihre Hüfte, um ihre Taille, auf ihrer Hand – um sich ihrer Gegenwart zu vergewissern oder sie der seinen zu versichern. Plötzlich steuerte ein Mädchen mit unsicheren Schritten auf sie zu. Mit wogendem Busen und glasigen Augen beugte sie sich über den Tisch. Obwohl das Gespräch weiterging, hatte jeder sie auf seinem Radar registriert. »Hooter?« Ihre Stimme klang heiser und drängend. In den rot angemalten Krallen hielt sie einen Bierdeckel, auf dem ein Name und eine Zahlenfolge stand. Sie streckte ihn Junior wie eine Visitenkarte entgegen. »Rufst du mich mal an?« Kissy schubste den Bierdeckel weg. »Verpiß dich«, sagte sie. Alle bis auf Junior lachten. Das Mädchen musterte sie verächtlich. »Wer ist die Schlampe?« »Meine Frau«, verkündete Junior. »Und du beleidigst uns beide gerade zu Tode.« Zoo und Dionne krümmten sich Tränen lachend auf ihren Stühlen. Brenda und Dionnes Begleiterin kicherten hinter vorgehaltenen Fäusten. Das Mädchen blinzelte unsicher. »Ach so.« Sie schniefte und schob Junior den Bierdeckel von neuem hin. »Meine Nummer kann ich dir ja trotzdem geben.« »Er hat die Nummer und ich hab sie auch.« Kissy schnippte den Bierdeckel auf den Boden, wo er in einer Bierpfütze landete. Das Mädchen schien einen Augenblick unschlüssig, welche Strategie die beste wäre, reckte dann das Kinn und verzog sich. Wieder brachen Juniors Freunde in Gelächter aus. Brenda lehnte sich zu Kissy und meinte leise: »Gewöhn dich besser dran.« »Frau?«, würgte Zoo hervor, wobei er Junior mit einer hochgezogenen Braue fassungslos anstarrte. »Tut mir leid«, murmelte der und drückte Kissys Hand.
Dionne und seine Flamme entdeckten jemanden, den sie besser begrüßen sollten, Brenda verkündete, sie müsse kurz für kleine Mädchen, und Zoo meinte, er wolle auch kurz seine Nieren abpumpen. »Mach dir wegen meiner Freunde keine Gedanken«, sagte Junior, als sie allein waren. »Die sind in Ordnung. Sie kennen dich bloß noch nicht. Du jagst ihnen genauso viel Respekt ein wie sie dir.« Nachdem er seinen Bierkrug geleert hatte, warf er einen Blick auf ihr Glas. »Willst du noch was?« »Zu trinken?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur kein Spielverderber sein. Ein Tonic hätt’s auch getan.« Er musterte sie skeptisch. »Irgendwann möchte ich dich mal betrunken sehen.« Sie hob die Brauen. Er spielte mit einem Bierdeckel. Es war der gleiche wie der, den das Mädchen ihm andrehen wollte, nur daß auf diesem hier keine Telefonnummer stand. »Laß uns verschwinden.« »Ich fahre. Du kannst deinen Wagen morgen abholen.« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, er würde ärgerlich werden. »Ich kann noch fahren«, protestierte er schwach, doch als sie seinem Blick standhielt, zuckte er einlenkend mit den Achseln. Junior ließ einige Dollarscheine als Trinkgeld auf dem Tisch liegen, dann machten sie sich auf den Weg. Beim Hinausgehen tauschte er noch ein paar frotzelnde Bemerkungen mit seinen Teamkollegen aus, denen Kissy entnahm, daß die Gewinner des Spiels sich auf Kosten der Verlierer vollaufen ließen. Am Freitag stand das nächste Heimspiel an, diesmal gegen eine Mannschaft namens The Red Bloc Comrades. Obwohl es sich bei den Gästen angeblich um Studenten handelte, ging beinah das gesamte Team hart auf die dreißig zu. Nur einer nicht – er sah wie fünfzehn aus und war nicht nur, anders als seine Kameraden, erschreckend hübsch, er hatte auch noch sämtliche Zähne, die er ununterbrochen mit einem herzerweichenden Starkstromlächeln zur Schau stellte. Als die Spectres sich warmliefen, stand Kissy an dem Loch im Plexiglas, das der Eisfläche am nächsten lag.
Bei seiner letzten Aufwärmrunde bremste Junior ab. Er drückte sein Gesicht an die Öffnung. »Du sorgst hoffentlich dafür, daß ich umwerfend aussehe.« »Ich habe mein Bolzenobjektiv drauf. Allein bei deinem Anblick werden die Frauen schon schwanger werden.« Er lachte. Sie hatte in der Tat ein gewaltiges Objektiv aufgeschraubt. Sie brauchte sogar ein Stativ, um es zu stützen. Obwohl sie die Kamera vor dem einen Auge hatte, ließ sie das andere offen und schaute ihn daraus ohne zu blinzeln an. Ihr Gesicht wirkte dadurch seltsam geteilt, als wäre sie eine Art Android. Die eine Hälfte war ein schwarzer Kasten mit einem dunklen Spiegel als Auge, die andere gehörte zu einer echten Frau mit einem echten Auge, das ihn unverwandt und belustigt ansah. Ihr Zinken ragte neben der Kamera hervor wie herausgeschnitzt. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ließ er sich von ihr weggleiten und verschwand. Die Comrades heizten ihm ordentlich ein. Nicht nur er – auch Zoo und Dionne samt ihren Männern –, sie alle wirkten wie blutige Anfänger. Das Foto, das den Charakter des Spiels später am anschaulichsten wiedergeben sollte, war eine unscharfe, verschwommene Aufnahme von Junior, wie er seinem Bestimmungsort den Bruchteil einer Sekunde hinterherhinkt. Dann die zweite Wahl: Junior, der mit hochgeschobener Gesichtsmaske und schweißnassen Haaren gierig trinkt, wobei es in seiner Kehle arbeitet, als verschlucke er Steine, und ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht läuft. Später, bei der Durchsicht des Materials, würde er lächeln, zustimmende Geräusche von sich geben und wie ein Papagei nachplappern, dieses Spiel habe eindeutig gezeigt, wie dringend sie an sich arbeiten müßten. Das eiserne Ringen darum, cool, gelassen und belustigt auszusehen, machte sein Gesicht interessanter. Das aufgesetzte Gesicht war angespannt, das echte angstvoll, kindlich und verletzt. Sie wäre ihm gern gefolgt, um ihn in einem Moment der Unbedachtheit zu erwischen, aber Clarissa hatte sie gebeten, sich auch hinter den Kulissen umzusehen: bei den Trainern, der Gastmannschaft, den hohen Tieren aus der Sponsorenriege, den Universitätsbonzen. Und dem Maskottchen selbstverständlich.
Das zwei Meter zwanzig hohe Gespenst mit dem Totenkopfgesicht, das wie ein Panzer aus abgeschrubbten Knochen aussah, überragte alles und jeden und sorgte bei den Comrades für einige Unruhe. Das Teeny-Idol der Comrades war von ihm hingerissen wie ein Kind von Disney World. Im Innern des Kostüms steckte ein im Grunde sanfter Student der Kommunikationswissenschaften, der einfach gern in den Ring stieg und jeden so richtig erschreckte. In jüngster Zeit hatte das Maskottchen für einige Kontroversen gesorgt. Es waren Einwände laut geworden, mit dem gehörnten Helm, der seinen Schädel zierte, wirke es insgesamt zu dämonisch. Außerdem würde es mehr schleichen denn gehen und kleine Kinder brächen bei seinem Anblick immer wieder in Tränen aus. Als sie zusammenzupacken begann, stand Junior plötzlich neben ihr. »Es war das falsche Objektiv«, sagte er. »Das für Nieten.« »Die haben euch ganz schön zugesetzt.« Es war lediglich eine Feststellung, kein Ausdruck ihres Mitleids. »Ich hab’s versaut.« Auch das eine Feststellung, doch sie klang matt. Er stürzte sich auf ein anderes Thema: »Wir wollen den Comrades ein paar Bierchen spendieren. Du kommst doch mit, oder?« »Du trinkst Bier. Ich fahre.« Er schaute sie an. »Das entwickelt sich allmählich zur fixen Idee. Mußt du immer noch ständig an den Unfall denken?« Sie zuckte mit den Schultern. Er legte einen Arm um ihre Taille. »Fahr hinter mir her. Ich lasse meinen Wagen zu Hause stehen.« Als sie vor seinem Haus ankamen, fragte er, ob er den Blazer fahren könne. »Nur auf dem Hinweg. Zurück fährst du.« Er ließ ihr ihren Willen, also gab sie ihm ihren Wagenschlüssel. Zu Bird’s ging die Reise jedoch nicht. Er fuhr in Richtung Stadtmitte. »Wo fahren wir hin?«, wollte sie wissen. »Wir treffen uns im Skinner’s. Damit die Comrades ein bißchen was vom Lokalkolorit mitkriegen.« »Wessen glorreiche Idee ist das denn gewesen? Die Band ist miserabel. Das Skinner’s übrigens auch.« Sie bemühte sich um einen schnoddrigen Tonfall. Seit dem Morgen nach dem Unfall war es ihr erfolgreich geglückt, Ryne aus dem Weg zu gehen. Vergangenes Wochenende hatte er einen Zettel in ihren Briefkasten gesteckt, auf
dem er sie um ein Treffen im Skinner’s gebeten hatte, aber sie war nicht darauf eingegangen. Seitdem hatte sie die meisten Nächte bei Junior verbracht und war zwischendurch nur wenige Stunden in ihrer Wohnung gewesen, um die Klamotten zu wechseln oder sich an ihren Mac zu setzen. »Es war meine Idee.« Er warf ihr einen schiefen Blick zu. »Was dir wirklich Sorgen macht, ist der Drummer. Dein Freund.« »Er ist nicht mein Freund. Wehe, du sagst das noch mal!« Junior schien sich zu freuen. »Tja, er wird wohl kaum von dir erwarten, daß du plötzlich zur Nonne wirst. Außerdem hat er sowieso genug zu tun. Er muß schließlich spielen.« »Laß uns zu dir gehen.« Seine Miene wurde störrisch. »Nur auf ein oder zwei Bier. Dann hauen wir wieder ab.« Laß es gut sein, sagte sie sich. Höchstwahrscheinlich würde Rynes Interesse vielmehr dahin gehen, ihr zu beweisen, wie schnell er ein neues Mädchen gefunden hatte, als Junior auf die Hörner zu nehmen – falls es das war, was Junior vorschwebte. Das Skinner’s befand sich im Keller eines verlassenen Kaufhauses. Es fungierte als zentraler Auftrittsort der Lokalbands, so daß dort Uni-Punks, Skinheads aus dem Rest der Stadt, langhaarige HeavyMetal-Freaks und andere, unspezifische Fieslinge aufeinander prallten – oft mit gewaltsamem Ausgang. Die Ziegelsteinmauern des Gebäudes waren schwarz angestrichen und mit Graffitis übersät, deren Inhalt in etwa den Esprit von Autoaufklebern besaß; die Skala erstreckte sich von schwachsinnig bis obszön. Man betrat das Lokal über den ehemaligen Hinterhof des Kaufhauses. Dort führten einige Stufen von einem Treppenabsatz unterbrochen in die Tiefe. Der ideale Platz für einen Türsteher, um Verzehrbons oder Eintrittskarten zu verkaufen – sollte die Band auf derart exotischen Wegen wandeln –, oder aber Minderjährige zur Rede zu stellen, sofern ihm der Sinn danach stand. Kissy erkannte er sofort, bei Junior mußte er zweimal hinschauen, dann wurde er überschwenglich, wollte ihm unbedingt die Hand schütteln und die Verzehrbons erlassen. Innen war es nahezu finster, die Luft ein übles Gebräu aus Rauch, Schweiß, Urin, Erbrochenem und schalem Bier. Die Musik paßte in Dezibelzahl, Härte und halsbrecherischem Tempo hervorragend zu
dem überwältigenden Gestank. Sängerin Amy wand sich kreischend um den Ständer des Mikrofons, Jose und Leo, der Bassist, schwitzten beinah Stirn an Stirn über ihren Gitarren. Rynes Unterarm war durch den Kraftakt seines Getrommels angeschwollen wie der eines Gewichthebers, das T-Shirt klebte ihm am Leib wie eine feuchte zweite Haut. Die Comrades und Juniors Teamkollegen verrenkten bereits in spastischen Zuckungen auf der Tanzfläche ihre Glieder. Kissy hinter sich herziehend, stürzte Junior sich in das Meer von Körpern. Er fiel in einen ekstatischen Pogo ein. Ein Teil der Stammgäste, die ihn und die übrigen Spectres erkannten, die Comrades aber als schlimmere Eindringlinge identifizierten, begann sie zu schubsen und zu stoßen – mit einer Böswilligkeit, die, zumindest anfangs noch, als reiner Spaß an der Freude angesehen wurde. Junior fiel ihr überschwenglich um den Hals. »Wahnsinn, der Laden!« Er mußte ihr direkt ins Ohr brüllen. Wahnsinn, das war es. War es zumindest einmal gewesen. Hemmungslos tanzen, die Außenwelt ausblenden, den Puls von der Musik bestimmen lassen. Manchmal war es ihr als das erschienen das Sex am nächsten kam, manchmal sogar besser, da Konversation unmöglich war. Bei diesem Gewühl existierten nur Körper. »Ja«, bestätigte sie. Sie mußte sich an ihn hängen, um sein Ohr zu erwischen. »Bist du oft hier?« Nicht mehr so oft wie früher. »Ab und zu. Wird mit der Zeit langweilig.« Er schien sie nicht zu hören. Vielleicht konnte er es nicht. Sie verstand ihn jedenfalls kaum, auch wenn er ihr die Zunge quasi ins Ohr schob. Vielleicht verfügte er jedoch über telepathische Kräfte. Aus heiterem Himmel packte er ihr Kinn, schob tatsächlich seine Zunge in ihr Ohr und küßte sie anschließend voller Inbrunst. Irgendwo neben ihnen bellte eine Stimme: »Fick sie, Mann! Ich hab’s getan!«, andere Stimmen brachen in rauhes Gelächter aus. Obwohl sie wußte, daß es nicht Rynes Stimme gewesen war, mußte sie unwillkürlich in seine Richtung schauen. Als sie den Blick wieder auf Junior richtete, lächelte er ironisch zurück; er war ihren Augen gefolgt.
Der Druck seines Armes um ihre Taille verstärkte sich. Er zeigte nach rechts, wo die Dünne mit hochgerutschtem Jeansrock auf Dionnes Schultern ritt. Das T-Shirt hatte sie ausgezogen. Ihre kleinen Brüste hüpften im Licht der Scheinwerfer, die der Beleuchter unverzüglich daraufgerichtet hatte. Plötzlich begann sie zu schwanken, entglitt Dionnes zupackenden Händen und stürzte mit einem schrillen Entsetzensschrei hintenüber in gierige Hände. Sofort war sie in der wogenden Menge verschwunden. Dionne tauchte hinter ihr her und fing an, die Leute zur Seite zu stoßen. Einer von ihnen versetzte ihm einen Hieb aufs Ohr. Kaum jemand nahm Notiz davon. Die Band machte weiter, die meisten Tänzer ließen sich ebenfalls nicht stören. »Danke«, brüllte Junior in ihr Ohr. »Ist ’n richtiger Trip hier!« Mit zunehmendem Bierpegel wurde die Musik stetig lauter, das Tanzen wilder. Der schöne junge Comrade erklomm die Bühne, um dort zu tanzen. Seinem Aussehen nach war er zu jung für den Club. Seinem Aussehen nach war er der kleine Bruder, der sich heimlich auf die Party der Großen geschlichen, mit einem geklauten Bier betrunken hatte und jetzt den Hampelmann spielte. Die Band ignorierte ihn. Er begrapschte Amy, die ohne zu zögern mit einem Unterleibshaken parierte. Er übergab sich auf die Bühne und in die Menge. Einige Skinheads zerrten ihn hinunter, um ihm Saures zu geben. Seine Mannschaftskollegen eilten ihm zu Hilfe, während Junior und die restlichen Spectres sie anfeuerten. Die Skins begannen sich mit anderen Dumpfbirnen zusammenzutun. Junior und Zoo kamen übereinstimmend zu dem Schluß, daß, wie viel Spaß es auch machen mochte, ihnen die Köpfe abzureißen, es wesentlich besser wäre, dieses den Comrades zu überlassen. Ohne ihre angeblichen Gäste davon in Kenntnis zu setzen, klopften die Spectres einander stumm auf die Schultern und verließen in Zweier-, Dreier- und Vierergrüppchen den Club. \5[ Down to the river down to the river I go jammerte Springsteen aus der Stereoanlage. Sein heiseres Klagen wurde begleitet von Kissys Keuchen und Juniors Anfeuerungen, dann plötzlich übertönt von einem unartikulierten Wutgeschrei, das wie das Heulen eines Tieres
klang. Jemand trat derart heftig gegen die Tür, daß sie im Rahmen wackelte. Sie fuhren auseinander. Junior glitt aus ihr hinaus und kauerte sich in Abwehrhaltung zusammen. Kissy rollte sich nach der Bettdecke greifend auf die Knie. Springsteens Trauerlied tönte unverdrossen aus den Lautsprechern. Kissy sprang auf und brachte ihn mit einem Knopfdruck zum Schweigen. Als sie sich zu Junior umwandte, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf sein von der Straßenbeleuchtung erhelltes Gesicht. Der versunkene, leidenschaftliche Ausdruck des vorangegangenen Moments hatte sich in blinden Zorn verwandelt, als wäre er derjenige, der hinter der Tür herumbrüllte. Vor Entsetzen war sie wie gelähmt. Splitternackt schlich er von ihr weg, machte einen Bogen um die Tür und kam mit einem Eishockeystock in der Hand zurück. »Scheißkerl!«, kreischte Ryne, während er erneut auf die Tür eindrosch. Diesmal war seine Stimme gut zu erkennen. Junior streckte einen Arm aus. Kissy begriff sofort, daß er die Tür öffnen wollte. Ryne würde auf den Schläger nicht vorbereitet sein. Vor Angst fast gefühllos angesichts der Gewaltbereitschaft, die eindeutig hinter Rynes Wut steckte, kam sie doch zu dem Schluß, daß die Situation keinesfalls in Mord und Totschlag ausufern durfte. Sie rappelte sich hoch, angelte nach Juniors Arm und bekam sein Handgelenk zu fassen. Er schrie auf. »Nein!«, zischte sie. Das ließ ihn zögern. Sie lehnte sich schnell mit dem Rücken an die Tür – genau in dem Moment, als Ryne sich von neuerlichem Geheul begleitet mit aller Kraft dagegen warf. »Ich bring euch um! Alle beide!«, tobte er. Ein Riß fuhr durch die Türplatte, als hätte der Blitz eingeschlagen. Juniors Zähne funkelten im Licht der Straßenlaterne. »Geh aus dem Weg«, forderte er sie mit sanfter Stimme auf. »Die Tür hält nicht mehr lange.« »Ryne – verdammt noch mal!«, brüllte Kissy. »Ich ruf jetzt die Bullen!« Sie hechtete zum Telefon. Die Drohung hatte lediglich einen weiteren fluchgeladenen Anschlag auf die Tür zur Folge. »Komm und hol’s dir, Arschloch«, schrie Junior, während er die Tür aufriß.
Kissy schleuderte das Telefon in die Ecke, um sich zwischen die beiden zu werfen, aber sie kam zu spät. Junior schwang den Schläger – Zielrichtung zwischen Rynes Augen –, Ryne machte einen Satz auf ihn zu. Kissy bekam Junior gerade noch zu fassen, so daß der Schlag abgefälscht wurde. Der Schläger prallte gegen Rynes Stirn. Der Hieb bremste ihn zwar, hielt ihn jedoch nicht davon ab, mit beiden Händen nach Juniors Kehle zu greifen. Junior, der mit Kissy um die Hüften das Gleichgewicht nicht halten konnte, geriet ins Wanken. Für den Nahkampf war der Schläger nicht so gut geeignet, also ließ er ihn fallen, um seine Arme zwischen Rynes zu pressen. Es gelang ihm tatsächlich. Als er Rynes Hände mit einem ruckartigen Auseinanderreißen beider Arme abschütteln konnte, knallten die linken Fäuste der Männer bei der abrupten Seitenbewegung fast gleichzeitig gegen Kissys Schläfe. Viel zu überrascht, um einen Schrei auszustoßen, ging sie zu Boden wie ein Stein. Junior schlängelte sich unter Ryne durch, warf ihn lässig über die Schulter und versetzte ihm ein paar Haken. Plötzlich heulten Sirenen. Durch die offen stehende Wohnungstür konnte man Nachbarn vorsichtig in den Flur spähen sehen. Junior beugte sich zu Kissy hinab. »Alles in Ordnung, Baby?« Ryne hievte sich auf die Knie und stürzte sich auf Junior, der ihn geschickt in den Schwitzkasten nahm und begann, seinen Schädel auf den Boden zu knallen. Der Türrahmen füllte sich mit hünenhaften Männern in Blau. Sie schwangen Gummiknüppel und riefen durcheinander. Kissy legte sich flach auf den Boden, die Arme schützend über dem Kopf. Der Raum war erfüllt von laut rufenden Männerstimmen, dem Geräusch von Knüppeln auf Fleisch, dann machte jemand Licht und es war mit einem Mal erbarmungslos hell. Das Rufen hörte auf, jemand beugte sich über sie. Sie spürte Stoff auf ihrer Haut. »Hier. Deck dich zu, Kleine«, sagte eine Stimme. Ohne die Augen zu öffnen, nahm sie die Decke, die sie an dem Stoff zwischen ihren Fingern erkannte, und wickelte sich darin ein. Schließlich hob sie den Kopf und blickte in die mitfühlenden Augen von Officer Burke. Er lächelte, was sie mit Dankbarkeit erfüllte. »Na so was, ist das nicht Kissy? Erinnern Sie sich an mich? Mike Burke?«
Sie nickte. »Sie haben ein paar Beulen abgekriegt.« Er musterte kritisch ihr Gesicht. »Wir rufen besser den Notarztwagen.« »Nicht nötig«, flüsterte sie, doch er achtete nicht darauf. Immer noch nackt, lag Junior mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, Ryne etwa einen Meter neben ihm. Über beiden kauerten Cops, die ihnen die Hände auf dem Rücken fesselten. Ryne blutete am Kopf und aus der Nase, zum Teil Juniors Verdienst, zum Teil das der Polizei. Er schien kaum zu wissen, wo er sich befand. Seine Augen waren rot, der Blick ging ins Leere. »Scheiße«, murmelte Kissy. Der Griff von Burkes Hand um ihren Arm wurde fester. Als sie ihn anschaute, deutete er mit dem Kopf in Rynes Richtung. »Stimmt was nicht?« Sie drehte das Gesicht weg. »Er ist breit.« »Wovon?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er gekifft.« »Nimmt er das Zeug regelmäßig?« »Manchmal.« Er ging weg, um mit einem anderen Cop zu sprechen. Kissy erkannte in dem Mann Sergeant Pearce, seinen Partner, der auch in der Unfallnacht dabei gewesen war. Burke und Pearce hievten Junior erst auf die Knie, dann auf die Füße. »Ich befinde mich eindeutig im Nachteil«, beklagte er sich. »Wär’s vielleicht möglich, daß ich meine Unterhose anziehen kann?« »Na, ich weiß nicht«, grinste Pearce. »Sieht für mich gar nicht so sehr nach einem Nachteil aus.« Die anderen Cops lachten. »Was ist eigentlich passiert?«, fragte Pearce. »Der Verflossene hat den Affen gemacht«, erklärte Junior. Pearce seufzte theatralisch. »Das hab ich mir fast gedacht.« »Geht’s besser?«, erkundigte Burke sich bei Kissy. Er sah so etwas nicht zum ersten Mal – Frauen mit einem Eisbeutel auf dem Gesicht, die sich alle Mühe gaben, unsichtbar zu sein. Die Blutergüsse wurden purpurrot, trotz Eis.
Kowanek saß unten auf der Straße in einem Streifenwagen, konnte demnächst abtransportiert werden. Clootie hatte sich mittlerweile eine Unterhose angezogen und machte bei Pearce seine Aussage. Burke ließ Wasser in einen Becher laufen. Er brachte ihn ihr zusammen mit dem Excedrin, das auf dem Bord neben dem Spülbekken stand. Sie schluckte mühsam. Ihre Kehle war vor Anspannung offenbar genauso verkrampft wie ihr Gesicht. Mit Interesse beobachtete er die Qual, die ihr das Schlucken bereitete. »Es tut mir leid«, sagte er. Wut blitzte in ihren Augen auf, als sie rasch den Blick senkte. »Kowanek ist Ihr Freund. Er hat Sie mit Clootie erwischt…«, half er ihr auf die Sprünge. »Er ist nicht mehr mein Freund. Wir haben uns vor einer Weile getrennt.« »Erzählen Sie mir, was passiert ist.« Das tat sie. Kurz, hastig, getrieben von dem Wunsch, daß es endlich vorbei war, daß sie seiner Gegenwart endlich entkommen konnte. Hier roch es wie in einer Bums-Fabrik. Er bezweifelte, daß er der einzige Mann im Raum war, den das erregte. »Und die Prellungen in Ihrem Gesicht stammen von Zufallstreffern, als die beiden Männer miteinander gekämpft haben und Sie dazwischengegangen sind?« »Genau.« »Wo beschafft Ryne sich den Shit?«, fragte er weiter. Sofort verschloß sie sich, blitzartig wie eine Pupille, die sich im Strahl einer Taschenlampe zusammenzieht. »Überall und nirgends.« Er hielt ihrem Blick stand, um ihr zu zeigen, daß er wußte, welchen Blödsinn sie redete. »Finden Sie, wir sollten das Zeug legalisieren?« Sie schnaubte verächtlich. »Ich dachte, das wäre schon längst geschehen.« Darüber mußte er lachen, dann wurde er wieder ernst. »Was wollen Sie jetzt tun? Wir behalten Kowanek über Nacht, aber morgen ist er wieder draußen. Sie könnten ihm anbieten, keine Anzeige zu erstatten, wenn er Sie im Gegenzug in Ruhe läßt. Es liegen genügend Anklagepunkte gegen ihn vor, vielleicht geht er darauf ein.«
»In Ordnung«, sagte sie. »Damit kann ich leben.« Burke seufzte. »Sie haben natürlich das Recht, hinzugehen wo Sie wollen, aber Sie könnten sich eine Menge Kummer ersparen, indem Sie ihm aus dem Weg gehen. Wenn Sie wissen, daß er im Skinner’s ist, bleiben Sie da weg, vor allem mit einem anderen Kerl. Er muß erst mal damit fertig werden, daß Sie mit jemand anders zusammen sind. Sie haben es in der Hand, ihn nicht noch mal wild zu machen.« »Zum Teufel mit ihm!« All ihre Wut kam wieder hoch. »Ich zeige ihn an und dann soll er doch im Knast verrotten…« Er ließ sie schimpfen. Was immer sie tat, Kowanek würde aufgrund der anderen Geschichten zumindest diese Nacht im Gefängnis verbringen. Runde Nummer zwei mußte er wohl oder übel aufschieben – sofern ihm nach einer Fortsetzung der Sinn stand –, jedenfalls bis morgen Abend. Burke hatte niemals eine Frau geschlagen, außer in Ausübung seiner Pflicht. In Notwehr gewöhnlich, wenn irgendeine Schlampe durchdrehte, die auf Alkohol oder Drogen war. Es gab jedoch Momente, in denen er Frauen schlagen wollte. Frauen wußten, auf welche Knöpfe sie drücken mußten; viele von ihnen spielten mit einem Mann wie mit einer Flipperkugel. Manche Frauen machten ein Hobby daraus, Männer um den Verstand zu bringen. Meistens lief es auf die berühmten Wochenendnächte hinaus, wenn die Leute nichts zu tun hatten, wenn sie sich gegenseitig auf die Nerven gingen und schließlich ein paar Klapse oder auch handfeste Hiebe tauschten – bis der Typ soweit in Erregung geriet, daß er ihr einen Fick reinhauen konnte, der dem Ganzen wenigsten einen Sinn gab. In Burkes Augen war in solchen Fällen die natürliche Auslese am Werk. Frauen, die Männer auf ihre Fähigkeit zu überleben testeten; Männer, die miteinander um Besitz kämpften oder den anderen von hinten zur Seite schubsten, wenn der gerade damit beschäftigt war, im Ameisenhaufen nach einem kleinen Imbiß zu stochern – um sich den Lekkerbissen dann selbst einzuverleiben. All das selbstverständlich, ohne sich dessen bewußt zu sein, rein instinktiv. Ein Juckreiz, der gestillt werden wollte, aber immer wieder als derselbe romantische Quatsch verkauft wurde: der Kampf um Liebe und Ehre. Spiel’s noch einmal, Sam.
»O Baby«, sagte Junior, während er zärtlich über die Blessuren in Kissys Gesicht strich. »Ich finde es schrecklich, daß du was abgekriegt hast.« Die Cops machten sich nach und nach aus dem Staub. Burke, der junge, stand im Türrahmen und betrachtete sie fragend. Dann fiel die Tür zu. Sie war arg ramponiert, so daß die Wärme hinausging. Kissy und Junior atmeten eisige, beißende Nachtluft ein; sie fühlten sich wie in freier Natur. »Der Mistkerl war bis obenhin voll mit Koks«, sagte Junior. »Das haben die Bullen garantiert auch gemerkt.« Er verzog das Gesicht und betastete seinen Schritt. »Die Eier tun mir weh. Gott, was für eine Nacht.« Er schaute sie an. »So schnell werde ich die nicht vergessen. Du hältst mich vielleicht für verrückt, aber ich habe einen Mordshunger. Gehen wir frühstücken?« Sie stand innerlich immer noch unter Strom. Ein bißchen Nahrung würde das überschüssige Adrenalin möglicherweise aufsaugen. Der einzige Laden, der um diese Uhrzeit geöffnet hatte, war Denny’s. Dort angekommen, bestellte Junior sich ein ausladendes Frühstück und stürzte sich begeistert darauf. Nach der Hälfte sah er sie grinsend an. »Das war ’ne richtige Schau.« »Schön, daß es wenigstens einem gefallen hat«, meinte Kissy lakonisch. Sie hatte nur eine Scheibe Toast hinunterwürgen können. »Ich habe um mein Leben gebangt. Außerdem war es ein Riesenspaß, pudelnackt von der halben Polizeimannschaft der Stadt angeglotzt zu werden.« »Du vergißt wohl, daß auch ich mit blankem Hintern rumstand.« Mit zuckendem Mund unterdrückte sie ein Lächeln. »Wie könnte ich das vergessen.« »Stimmt«, pflichtete er ihr grinsend bei. »Ich schätze, das wirst du nicht. Und sie genauso wenig.« Er zuckte die Schultern. »Manchmal erwischt es einen eben. So was kommt vor. Man kann nicht allen Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, man muß damit leben. Was soll’s. Es ist vorbei, Baby. Neuer Tag, neues Glück.« »Nenn mich nicht Baby.« »Und ob, wenn ich Lust dazu habe – Baby, Baby, Baby«, neckte er sie. Dann löste sich sein Grinsen auf. »Dir liegt doch nichts mehr an dem Arschloch, oder?«
»Nein. Wenn du denkst, ihr habt euch meinetwegen geprügelt, liegst du falsch. Ihr wolltet bloß wissen, wer der Stärkere ist.« Junior wischte mit einem Stück Toast Eigelb von seinem Teller, kaute, schluckte und sagte: »Ich habe mich nicht um dich geprügelt, ich habe dich beschützt. Und mich. Der Blödmann wollte dir wirklich wehtun. Wenn du allein gewesen wärst, wärst du jetzt im Krankenhaus. Oder tot.« Bei dem Gedanken an Rynes Brutalität konnte sie eine gewisse Gefahr für sich nicht leugnen. Es war alles so schnell gegangen, zu einer anderen Regung als Angst hatte sie gar keine Zeit gehabt. Nun aber, in dem ganz normalen Licht im Denny’s betrachtet, wollte sie einfach nicht glauben, daß die Situation derart brenzlig gewesen war. Wollte nicht glauben, daß Ryne ihr tatsächlich ernsthaft wehgetan hätte – genauso wenig wie Seth, ihr erster Mann damals auf dem Friedhof, als sie fünfzehn Jahre alt war und von ihm geschwängert. Ihr Gesicht pochte vor Schmerz. Junior, der ihren inneren Aufruhr spürte, griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. »Komm. Laß uns baden, ein bißchen entspannen und endlich schlafen gehen.« Später, als sie beide auf allen vieren waren und er sie auf eine Art und Weise von hinten festhielt, die ihr das Gefühl gab, ihm vollkommen ausgeliefert zu sein, fragte er, den Mund dicht an ihrem Ohr: »Bin ich besser?« Ihre Antwort bestand aus einem geschluchzten Aufschrei mit einem eigenartigen Anflug von Triumph. Er war zufrieden. In all den Jahren, die sie zusammenwohnten, hatte Mary Frances niemals von Kissy verlangt, Rechenschaft über ihren Verbleib abzulegen. Sie kam und ging, wie es ihr paßte. Ryne hatte nicht bei ihnen gewohnt – Kissy wollte nicht, daß er über Nacht blieb –, sich aber durch einen dreisten Trick einen Schlüssel verschafft. Mit der Behauptung, Kissy habe ihren verloren, hatte er sich Mary Frances Schlüssel ausgeliehen und ihn nachmachen lassen. Kissy hatte ihn deswegen zum Teufel gejagt und sich später wieder mit ihm vertragen – den Schlüssel hatte er behalten. Mary Frances hatte ein Vorhängeschloß an ihrer Zimmertür angebracht, und Kissy war ihrem Beispiel gefolgt, damit Ryne nicht an ihren Mac, an die Stereoanlage oder die Fotoausrüstung herankam. Mary Frances war zu keiner Zeit
glücklich mit Ryne gewesen, aber sie hatte ihn tapfer ertragen. Angesichts Kissys Interesses für Junior Clootie machte sie schlapp. Diese Beziehung war von Anfang an stärker. Kissy verbrachte wesentlich mehr Zeit mit Junior, als es mit Ryne je der Fall gewesen war. Als sie jetzt mit verschwollenem Gesicht nach Hause kam, war ihr Anblick für Mary Frances beinah zu viel. Alle würden es wissen. Es stand in der Polizeiakte; Junior hatte einen Namen in Peltry; im Radio war die Meldung gekommen, daß man die Polizei wegen Störung des Hausfriedens zu seiner Wohnung gerufen hatte; morgen würde es unter der Rubrik Polizeieinsätze in der Zeitung nachzulesen sein. »Es geht mir gut«, erklärte Kissy zum x-ten Mal. Niedergeschlagen und bleich wischte Mary Frances sich die Augen und putzte sich die Nase. »Latham meint, du solltest deine Sachen packen und…« »Laß ihn doch reden. Es ist vorbei. Ryne hat momentan viel zu viele Schwierigkeiten, um mir noch mal auf die Pelle zu rücken. Mach dir keine Sorgen mehr. Mir passiert schon nichts.« Mary Frances nickte. Sie stimmte Kissy zu, weil sie ihr unbedingt glauben wollte. Der Herbstsonnenschein fiel mit messerscharfer Grausamkeit auf Ruth Prashkers Gesicht, ließ es anorganisch und seltsam transparent aussehen. Die Ödeme waren verschwunden, die Haut straffer, als hätte eine versierte Schneiderin das Gewebe geschickt eingenäht. Bis auf ein paar Kleckse in der Umgebung der Venenzugänge, wo Blut abgenommen wurde oder Schläuche in den Blutstrom hineinführten, waren auch die Blutergüsse verschwunden. Ihre Haut war mondsteinblaß. Sie atmete mittlerweile ohne Sauerstoffzufuhr, und die Muskelsteife war durch Medikamente behoben worden, so daß ihre Glieder bewegt werden konnten, um einer Verkürzung der Sehnen vorzubeugen und die Blutzirkulation anzuregen. Man hatte sie in das Haus ihrer Großmutter in der James Street verlegt, wo ein kleiner, nach vorn gelegener Salon ihren speziellen Bedürfnissen angepaßt worden war. Die Krankenzimmerausstattung tat dem hübschen Raum keinen Abbruch. Die Fenster hatten sowohl Vorhänge als auch Jalousien. In dem einen hing eine Ampel mit einer Grünlilie, in dem anderen stand eine Kalanchoe mit sternförmi-
gen Trauben wachsblättriger, orangefarbener Blüten – ein Geschenk von Kissy. Um das Bett waren bequeme Stühle für die Besucher gruppiert, die mit Bändern geschmückten Pflanzen und Karten auf Fensterbänken und Kaminsims bezeugten, daß Ruths Freunde und Kommilitoninnen bereits bei ihr gewesen waren. An prominenter Stelle auf einem Seitentischchen stand eine gerahmte Fotocollage von Ruth im Kreis ihrer Freunde und Verwandten. Als Kissy die Aufnahmen betrachtete, stiegen Kummer und Beklommenheit wieder in ihr hoch. Dieses Mädchen hatte ein Leben gehabt. Auf einem Foto schnitt sie auf einer Geburtstagsparty mit ihren Freundinnen Grimassen in die Kamera. Ein anderes zeigte sie mit ihren Eltern anläßlich des Highschool-Abschlusses, den Absolventenhut schief in die Stirn gezogen. Sie blickte schüchtern von einem gescheckten Pony auf, das sie hingebungsvoll streichelte; sie ritt mit der Ausgelassenheit eines Teenagers auf den Schultern eines grinsenden Jungen im Swimmingpool. Und jetzt war der Nachttisch mit Medikamenten, Papiertüchern und anderen Pflegeutensilien übersät. Ein Dauerkatheter entleerte ihre Blase, doch was die Verdauung anging, bedurfte es umfangreicherer Maßnahmen seitens der Betreuungspersonen. Außerdem mußte sie regelmäßig gedreht werden, um Druckstellen zu vermeiden. Das war ihr Leben heute. Mrs. Cronin hatte Kissy mit einem Überschwang begrüßt, der die Vermutung nahe legte, daß ihr die Belastung der unermüdlichen Pflege allmählich über den Kopf wuchs. Ruths Mutter kam jeden Tag, aber ihr Vater besuchte sie nie. Im Krankenhaus hatte es einen furchtbaren Streit gegeben. Der Vater schrie, seine Tochter sei tot, die junge Frau in dem Bett nicht mehr als eine Leiche, nur deshalb am Leben erhalten, um das Einkommen der Quacksalber zu verbessern. Er, seine Frau, Ruths Bruder Daniel – sie alle würden in ihrer Trauer schamlos ausgenutzt. Es schien das Beste zu sein, Ruth bei Mrs. Cronin unterzubringen, sobald ihr Zustand stabil war. Daniel hatte kleine Kinder, die die gesamte Energie seiner Frau in Anspruch nahmen. Sylvia Cronin, Lehrerin im Ruhestand und Anwaltswitwe, erfreute sich bester Gesundheit, lebte allein und war mehr als willens, Ruth in den Mittelpunkt ihres Lebens und ihres Haushalts zu stellen. Sie hatte einen speziell umgebauten Transporter gekauft, mit dem Ruth für gelegent-
liche Untersuchungen oder Therapien ins Krankenhaus gebracht werden konnte. Darüber hinaus kam vielleicht irgendwann einmal der Tag, an dem sie Spaß an einem Ausflug haben würde, auch wenn sie bislang auf absolut nichts ansprach. Das Haus war mit Rampen ausgerüstet worden, damit Ruth im Rollstuhl in jedes Zimmer geschoben werden konnte. Im Badezimmer hatte Mrs. Cronin einige Sonderanfertigungen vornehmen sowie einen Whirlpool für diverse Wassertherapien einbauen lassen. Dank ihrer Organisation war Ruth rund um die Uhr versorgt; den Großteil der Pflege übernahmen sie und Ruths Mutter, unterstützt von Dan oder seiner Frau und den sporadischen Besuchen einer examinierten Krankenschwester. Mrs. Cronin las Ruth gerade aus einem Roman vor, dessen Held aus dem Koma erwacht war und hellseherische Fähigkeiten an sich entdeckt hatte. Kissy, die Ruths Gesicht genau im Auge behielt, bemerkte keinerlei Reaktion. Als Mrs. Cronin eine Pause einlegte, um einen Schluck Wasser zu trinken, fragte sie, ob sie ein paar Fotos machen dürfe. Mrs. Cronin musterte sie einen Moment lang mit prüfendem, skeptischem Blick, stimmte dann aber zu. »Ja, vielleicht sollten Sie das tun.« Kissy arbeitete lautlos. Sie nahm sich viel Zeit, um Ruth oder Ruth und ihre Großmutter zu beobachten, bis sie schließlich im geeigneten Moment so unauffällig wie möglich auf den Auslöser drückte. Als sie die Kamera wieder herunternahm, setzte sie sich zu Ruth ans Bett und hielt kurz ihre Hand. Wie Mrs. Cronin sprach sie sie bei jeder Berührung direkt an und erklärte ihr, daß sie Fotos von ihr gemacht hatte. Später in der Dunkelkammer erschien Ruth auf dem Papier in den Entwicklerschalen zunächst als geisterhafter Schatten, der jedoch zunehmend an Schärfe und Tiefe gewann. Die Aufnahmen waren gut. Sie strahlten eine Würde aus, dachte Kissy, die Sylvia Cronin sehr gefallen würde. Falls jemand die Fotos zu sehen bekam, dann sie. Mit dem Wochenende kamen die ersten Auswärtsspiele – in Arkham, Rhode Island, Schlag auf Schlag. Junior ging schwitzend ins Eröffnungsspiel und hatte gleich in den ersten Minuten ungewöhnlich weiche Knie. Seine Abwehr baute sich
vor ihm auf, um erst einen Wraparound, dann ein heimtückisches Rebound abzublocken. Er saugte an seiner Wasserflasche, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die lange, glänzend weiße Prärie. Zoo und seine Mannen glitten ins Aus, als Dionne – gefolgt von seinen Männern – ein Bein über die Bande schwang. Dionne schlug einen Fehlpaß, woraufhin Arkham mit dem Puck von dannen schoß. Junior glitt heraus, ging lauernd in die Knie, wartete auf den Puck wie die Tür auf den Schwanz der Katze, stoppte ihn und gab ihn fast im selben Moment wieder an Dionnes linken Flügel ab, an Golem. Später ließ er zwei Tore durch, blieb aber cool. So was kam vor. Wenn nichts mehr ging, ging eben nichts mehr. Über eingeheimste Tore nachzugrübeln riß einen nur aus dem aktuellen Spielverlauf. Der richtige Zeitpunkt, um Fehler zu analysieren, war nach dem Spiel und vor dem nächsten – versicherte ihm der internalisierte Trainer in seinem Kopf. Er schob sich aus dem Tor, um den Puck, der – gefolgt von der Meute – direkt auf ihn zukam, in die neutrale Zone zurückzubefördern. Die Spectres waren schließlich mit drei Treffern die Gewinner des Spiels, und an Juniors Durchschnittswert, was die von ihm eingestrichenen Gegentore betraf, hatte sich nichts geändert. Ohne jemandem etwas davon zu sagen, nicht einmal Zoo, genehmigte er sich nach dem Spiel eine ordentliche Mahlzeit, kippte dazu ein paar Bierchen hinunter und legte sich anschließend aufs Ohr, statt mit den anderen wegzugehen – mit Zoo und Onsrud beispielsweise, mit denen er das Zimmer teilte. Das nächste Spiel war am kommenden Abend, und er wollte in dieser Saison besonders gut sein, um seine Position endlich zu verbessern. Coach Stannick würde wissen, daß er dageblieben war, genau wie er jedes Mal wußte, wer sich aus dem Staub gemacht hatte. Der ganze Verein sollte – auch ohne Worte – die Botschaft erhalten, daß es Junior Clootie mit dieser Spielzeit absolut ernst war. Früh ins Bett zu gehen bedeutete nicht zwangsläufig, auch einschlafen zu können. Sein Körper dieselte immer noch nach von den Anstrengungen des Spiels. Er wußte aus Erfahrung, daß feiern für die Kondition nicht gerade förderlich war. Aber er mußte sich erst noch etwas anderes zum Abschalten einfallen lassen.
Im zweiten Spiel machten die gegnerischen Warlocks nur ein Tor, und die Spectres gewannen wieder, diesmal 2:1. Während sie sich umzogen, verfolgten sie über den Ghettoblaster des Trainers die verhängnisvollen letzten Minuten des sechsten Spiels der Sox gegen die Mets. Wütendes, ungläubiges Geschrei, ein Gewitterhagel von Flüchen – das eigene Spiel war vorübergehend vergessen. Als sie später im Bus Karten spielten und sich diverse Biere hinter die Binde kippten, kauten sie das Desaster immer wieder durch, genossen ihren eigenen überlegenen Sieg und beweinten schließlich den Ball, der zwischen Billy Bruckners Beinen verloren gegangen war. Nach einer Weile schaute Junior aus dem Fenster. Es goß wie aus Kübeln und sie hatten noch Hunderte von Kilometern zu fahren. Er döste ein, bis ihn ein plötzliches Rucken im Getriebe hochschrecken ließ. In seinem Mundwinkel hing Speichel. Er hatte geträumt. Von Kissy. Er seufzte und setzte sich anders hin, eine Hand gegen die Erektion gepreßt, die der Traum entweder verursacht, oder die ihm den Traum beschert hatte. Neben sich hörte er Zoo leise schnarchen, in der Gewißheit, daß er am Ende der Fahrt ein von Brenda angewärmtes Bett vorfinden würde. Die Stadiontribüne von Sowerwine platzte an Halloween schon früh aus allen Nähten. Fast jeder war verkleidet und in Karnevalstimmung, das Lieblingskostüm ganz offensichtlich jede nur denkbare Variation des Mannschaftsmaskottchens, des Gespensts. Der Rest der Zuschauer glich einer bunt zusammengewürfelten Bürgerwehr aus lauter Sensenmännern. Zusammen gaben sie ein bemerkenswert grausiges Publikum ab. Die Worte des Coaches im Hinterkopf, tat Junior so, als hätte er Kissy an ihrem gewohnten Standort hinter der Plexiglasscheibe noch gar nicht bemerkt. Nichtsdestotrotz hatte sich ihr Anblick bereits in der ersten Sekunde unwiderruflich in seine Netzhaut eingebrannt. Sie ging als Skelett: strahlend weiße Knochen, mit der Präzision einer Anatomietafel auf einen hautengen schwarzen Gymnastikanzug gemalt, lediglich am Brustkorb schienen ein paar Rippen zu fehlen. Sie hörten unmittelbar unter den Brüsten auf, was dem Ganzen den Anschein eines schauerlichen Bustiers verlieh. Ihr Gesicht war noch
nicht geschminkt, weil sie die Kamera benutzen mußte, würde es später aber sein. Das Spiel entpuppte sich als Sensation. 3:0 für die Spectres gegen eine Mannschaft, die sie sich wesentlich schwieriger vorgestellt hatten. Das Publikum, das fast die gesamte Spieldauer über stand und das Gebäude mit erdbebenartigem Gebrüll erzittern ließ, schien die Gäste vollkommen aus der Faßung zu bringen. »Die waren ja total aufgedreht«, meinte Junior zu Zoo, während er nach dem gelungenen Ende des Spiels seine Schnürsenkel aufband. »Das lag bestimmt an den Kostümen. Als ob sie plötzlich jemand anders wären und machen könnten, was sie wollen.« »Was denkst du denn? Mensch, jetzt ist Partytime!« Auf der anderen Seite von Zoo brachen Dionne und Golembiewski in wildes Kriegsgeheul aus. \6[ Auf dem Campus wimmelte es von Toten. Die Kombination daraus, daß Halloween auf ein Wochenende fiel, die Luft ungewöhnlich mild und obendrein Vollmond war, hatte einen enormen Effekt. Es war wie bei einer gewaltigen Springflut, wenn der Mond der Erde am nächsten kommt und Sonne, Mond und Erde gleichzeitig eine Gerade bilden. Abe Lincoln, Marie Antoinette, Michelangelos David, der Tasmanische Teufel, Minnie Mouse, der Marlboro-Mann, Madonna, Michael Jackson, der Präsident und seine Frau, Queen Elizabeth, Adolf Hitler, Traci Lords, Freddy Krüger, Kareem Abdul Jabbar – sie alle spazierten über das Universitätsgelände. Ichabod Crane ging Hand in Hand mit dem Kopflosen Reiter, der in dieser speziellen Nacht nicht nur ohne Pferd war, sondern den Kopf zudem nicht unter dem Arm trug; obszön thronte dieser auf einem frappierend naturgetreuen Dildo, der aus Ichabod Cranes Pantalons hervorragte. Es gab ganze Stammesgemeinschaften von Punks, die überwiegend aus vielfarbigen Mohawk-Indianern mit Sicherheitsnadeln in den Ohren bestanden, mehrere Alice Coopers mit angemalten Gesichtern und Legionen von Gespenstern, Dämonen und Vampiren, die von einer Party zur nächsten flatterten. Die Verbindung von Unimaskottchen, dem Gespenst und dem Feiertag der Toten hatte zu einer Anzahl von Skeletten, Zombies und anderen Untoten geführt, die in keinem Ver-
hältnis zum nicht unbeträchtlichen Einfallsreichtum der übrigen Kostüme stand. Die muntere Menge wälzte sich durch die Schlafsäle und Unterkünfte der Studentenvereinigung, durch Innenhöfe und Mensen, strömte über den Campus und die umliegenden Straßen und tummelte sich in gewaltigen Scharen auf den drei Kostümbällen. Einen der Bälle veranstaltete der Studentensenat in seiner Funktion als Repräsentant der überwiegenden Studentenzahl im campuseigenen Kongreßzentrum. Die Griechen schmissen ihre Party in der Herrenturnhalle, und die Studentengilde der Kunstakademie, inoffiziell ›Freakers‹ genannt, hatte die Damenturnhalle im Field House mit Beschlag belegt. Der alljährliche Ball der Freakers hatte wegen des hohen Anteils bekennender schwuler und lesbischer Studenten den Spitznamen ›Homo-Schwof‹ erhalten. Die Damenturnhalle, der kleinste zur Verfügung stehende Veranstaltungsort, hieß auch ›Der Hades‹, und das aus gutem Grund. Mit dieser Bezeichnung als Motto hatten die Freakers die düstere, schlauchartige und hohe Turnhalle wie einen Höllenschlund dekoriert. Bevor die oben gelegenen Zuschauertribünen aus Sicherheitsgründen abgesperrt worden waren, hatten die für die Dekoration zuständigen Theaterstudenten die Reihen mit extraterrestrischem Publikum gefüllt. In einigen Tribünenbereichen litten kreischende und stöhnende Sünder nicht endende Höllenqualen, in anderen waren die Plätze von staubigen, spinnwebenbedeckten Knochen und Mumien besetzt. Ein als Teufel verkleideter DJ legte in einer Ecke Musik auf, während neben ihm ein Beleuchter mit Trollmaske am Schaltbrett zugange war. Am gegenüberliegenden Ende der Turnhalle thronte auf einem Podium ein schlichter europäischer Holzsarg, auf dessen Kissen ein echtes menschliches Skelett mit Namen Mr. Bones ruhte – der offizielle Gastgeber des Balls. Gerüchten zufolge war Mr. Bones auf einem Indianerfriedhof ausgebuddelt worden. Die Tanzfläche platzte aus allen Nähten. Zuckende Lichtblitze überspülten die Dielen mit roten, grünen und violetten Wogen, die die Gesichter und Masken von unten gespenstisch anstrahlten. Schwarzlicht, das im Rhythmus der Musik pulsierte, ließ die auf schwarze Gymnastikanzüge gemalten weißen Knochengerüste leuchten. Diese Kostümierung war so beliebt, daß der Großteil der Tanz-
wütigen aus torkelnden, sich windenden Skeletten zu bestehen schien. Oingo Boingo lieferten die Musik der Stunde: Going to a party where no one’s still alive. Es war fast Mitternacht, als das Maskottchen Eintrittskarten schwingend im Türrahmen erschien, gefolgt von mehreren Jasons mit Eishockeymasken, Frankensteins Monster, dessen Braut sowie einem weiblichen Skelett. Beim Anblick des Gespenstes brach die Menge in Applaus und Jubelgeschrei aus, dann teilte sie sich, um es durchzulassen. Manche verbeugten sich oder knieten zum Zeichen ihrer Ehrerbietung demütig nieder, während es auf das Podium zuwankte. Dort angekommen, sprang es mühelos hinauf. Das scheinbar stark verwitterte Skelett des gehörnten, zwei Meter zwanzig hohen Unholds war ein geschicktes Trompe l’oeil. Die Knochen hoben sich scharf von dem schwarzen Hintergrund ab, der nahtlos in einen ausgefransten, fließenden schwarzen Umhang überging. Die in Metallkrallen auslaufenden Fingerknochen umklammerten eine gigantische Sense, die elfenbeinfarbenen Schädelknochen des Totenkopfgesichts leuchteten im Schwarzlicht. Es war ein Kostüm, das zum Leben erwacht war. Zu neuem Leben. Das Gespenst stolzierte auf dem Podest herum und schwang die Sense im Takt von Rockapella. Back to back, belly to belly, I don’t give a damn ’cause I’m stone dead already. Es nahm die Sense zwischen die Beine und begann, obszön darauf herumzureiten. Dann schleuderte es sie weg und warf sich auf den Boden, um einen wilden Geschlechtsakt zu imitieren. Die Menge feuerte es grölend an. Es sprang mit einem Satz auf die Füße und schritt an den Rand des Podests, wo es mit lüsternen Hüftbewegungen eine Masturbation nachahmte. Anschließend deutete es mit einer Metallkralle in die Menge und ließ den Finger kreisend hin- und herwandern, bis er an Frankensteins Braut hängen blieb. Unter tatkräftiger Beteiligung von Frankensteins Monster schubste die brüllende Menge sie nach vorn. Kreischend und scheinbar der Ohnmacht
nahe ließ sie sich auf das Spielchen ein und wurde dem Gespenst hinaufgereicht. Mit einer schwungvollen Bewegung stellte es sie auf die Füße. Seine Kiefer bewegten sich in einer unhörbaren Anweisung, die sie mit einem Grinsen quittierte, ehe es sie zu Boden warf und eine zügellose Paarung mit ihr simulierte, wobei es zwischen ihren kreisenden Hüften und seinem stoßenden Becken einen deutlichen Spalt frei ließ. Nach einem kurzen Moment stand es auf und half ihr hoch, doch kaum befand sie sich in der Senkrechten, packte es sie erneut und drohte sie in die Menge zu werfen. Das Publikum brach in Klagegeheul aus, sie gab ein obligatorisches Kreischen von sich und das Gespenst ließ sie in wartende Arme fallen. Ohne Befriedigung gefunden zu haben, sprang es auf dem Podest herum, die Hände frustriert gegen die Lenden gepreßt, als plötzlich ein Wurfgeschoß geflogen kam. Das Gespenst machte sich bereit, hob einen Arm und fing den Flugkörper geschickt auf; es war der Kopf des Kopflosen Reiters. Zum Entzücken des Mobs hielt es ihn hoch, drückte ihn an seinen Schritt und stieß rhythmisch dagegen. Nach mehreren Stößen nahm es den Kopf wieder weg, um ihn angewidert zu schütteln. Es griff nach der Sense, warf den Kopf in die Luft und beförderte ihn mit der Seite der gebogenen Klinge in die Menge zurück. Als wäre er ein Brautstrauß oder ein ins Aus geschlagener Fußball, streckten sich gierige Hände nach ihm aus. Während das Gespenst triumphierend die Sense schwang, tauchte der nächste Flugkörper auf. Wieder bekam es ihn mühelos zu fassen – es war Ichabod Cranes Dildo. Das Gespenst hielt ihn mit einer Hand vor seine Lenden, begann ihn mit der anderen zu masturbieren und versenkte ihn schließlich in dem knöchernen Becken des Sargbewohners. Nachdem es an den Rand des Podests zurückgekehrt war, deutete es auf der Suche nach einer weiteren Gefährtin erneut in die Menge. Manch eine ließ ihren Tanzpartner stehen, um zu ihm zu eilen und sich selbst anzubieten. Der Unhold spielte mit ihnen, wog sorgfältig ab. Dann hatte der wandernde Finger seine Wahl getroffen; er zeigte auf das weibliche Skelett. Die Menge bugsierte es nach vorn und reichte es über die Köpfe hinweg auf das Podium hinauf. Von allen Skeletten des Balls war sie ein Highlight, was die Ausarbeitung der Kostümierung betraf, genau wie das Maskottchen selbst.
Doch während der Unhold eine Schädelmaske trug, war ihr Gesicht derart umgestaltet worden, daß die Haut von den Knochen abgezogen worden zu sein schien. Die Augenhöhlen waren schwarz gefärbt, so daß sie wie finstere Löcher aussahen, in denen die Augäpfel frei herumschwammen. Die ebenfalls geschwärzte Nase war nicht mehr zu erkennen. Die leuchtend weiß geschminkten Lippen dagegen verschmolzen mit der übrigen Knochenstruktur. Das weiße Haar stand in gewundenen Drähten und Hörnchen von der knochenfarbenen Schädelkappe ab, die die Ohren bedeckte und unter sich verschwinden ließ. Die Skelettknochen leuchteten im pulsierenden Schwarzlicht. Die Körperumrisse waren in dem schwarzen Gymnastikanzug ebenso wenig zu erkennen wie Fleisch und Organe auf einer Röntgenaufnahme. Sie versuchte zur Seite zu rollen, doch das Gespenst packte sie und riß sie hoch. Nach einer geschmeidigen Landung auf den Fußballen machte sie einen Satz von ihm weg. Der Unhold jagte ihr unter allgemeinem Beifallsgeschrei in Harpo-Manier quer über das Podest nach, bis sie sich schließlich einfangen ließ und beide in ein übertrieben langsames erotisches Hüftkreisen einfielen. Das Skelett glitt mit schlangenartigen Bewegungen an dem Gespenst auf und ab, die Zuschauer tobten. Cameo sang zu treibenden Drums: if it’s music we can use it if we can dance we don’t have no time for psychological romance Der Balztanz der Protagonisten wurde drängender. Das Gespenst umkreiste sie, preßte sie an sich, spreizte die Fingerknochen über ihren Hüftknochen. Sie schob sich ihm willig entgegen und streichelte seinen Oberschenkelknochen, woraufhin seine Zunge hervorschnellte und vor ihren Zähnen hin- und herzuckte, als suche sie ihren Mund. Ein unheilvoll in der Luft schwebender Akkord kündigte ein neues Stück an – die Coverversion einer legendären Beatles-Hymne von den Honeymoon Killers. Eine heisere Stimme grollte: Why can’t, why can t, why can’t…
Die Wirkung auf das Gespenst war fatal. In wilde Raserei versetzt, rieb es sein Becken an dem des Skeletts. Die rasierklingenscharfen Nägel am Ende der Fingerknochen bohrten sich in die leichte Erhöhung, wo ihre Schläfenknochen in die Schädelkappe übergingen, glitten langsam nach unten und rissen ein Loch in das Schwarz, unter dem bleiches, lebendes Fleisch zum Vorschein kam. Der Anblick war weitaus obszöner als die Illusion der Skelettknochen. Mit einer einzigen abrupten Abwärtsbewegung legte das Gespenst die Brüste des Skeletts bloß. Die Menge tobte. Auch das Skelett bekam langsam Lust. Es packte den Schädel des Unholds, während dieser vor ihm kniete, und reckte ihm die Brust entgegen, damit er mit der Zunge über die harten, entblößten Brustwarzen gleiten konnte. Die Stimme des Volkes erhob sich in lüsternem, sanft grollendem Gestöhn, der Körper des Volkes ließ in manch dunklem Winkel seinen Bedürfnissen freien Lauf. Der Unhold erhob sich, bedeckte das Skelett mit seinem Umhang und hob es auf. Es vergrub den Kopf an seiner Brust. Ohne seine Errungenschaft loszulassen, sprang das Gespenst mit einem Satz vom Podest. Begleitet vom Johlen der sich teilenden Menge, marschierte es schnurstracks durch die Halle, zur Tür und – seine Gefährtin unter dem Arm – in die Nacht hinaus. Torkelnd schleppte es seine Beute zu einer abgelegenen Baumgruppe, um auf dem weichen Polster aus Kiefernnadeln einen horizontalen Danse macabre mit dem Skelett zu zelebrieren. An einem Baumstamm ganz in ihrer Nähe schien das Mondlicht fahl auf das Bild einer toten Frau. Das Gespenst saß hinter dem Lenkrad eines parkenden Wagens. Es nahm den Kopf ab, atmete tief durch und fuhr sich mit seinen Skelettfingern durchs verschwitzte Haar. »Na, hat’s dir gefallen?«, fragte Junior. Immer noch vom Adrenalin in ihrem Körper zitternd, lehnte Kissy den Kopf an das Beifahrerfenster. Er grinste. »Ich bring den Anzug besser schleunigst ins Spind zurück, sonst gibt’s Ärger. Oh, Mist!« Junior schlug sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. »Ich hab die verdammte Sense vergessen!« Kissy brach in beinah hysterisches Gelächter aus.
Sie wechselten einen betretenen Blick. Keiner von ihnen hatte an Verhütung gedacht. »Wird schon nichts passiert sein, oder?«, meinte er unsicher. »Woher soll ich das wissen?« Sie ließ sich zurücksinken und versuchte beunruhigt, ihre Nacktheit mit den Überresten ihres Kostüms zu bedecken. Er streckte eine Totenhand aus, um ihren Oberschenkelknochen zu tätscheln. In der sicheren Düsternis neben einem Hinterausgang kämpfte er sich aus dem Kostüm. Während er in Jogginghose und Sweatshirt schlüpfte, warf Kissy einen Blick ins Innere des Kostüms. Von der Mitte der Wade abwärts war alles künstlich – wie nicht anders zu erwarten, sollte der Träger ein Riese von zwei Metern zwanzig sein. Wenn man den Fuß hineinschob, war man gezwungen, auf Zehenspitzen zu gehen; der torkelnde Gang des Gespensts ließ sich schwerlich vermeiden. Junior nahm das Kostüm, inspizierte es sorgfältig und fluchte gedämpft. Dann rollte er es zusammen, verschwand durch die Hintertür und war in wenigen Augenblicken zurück. »Sei nicht so hektisch«, warnte sie ihn, als er auf den Wagen zusprintete. »Damit machst du die Leute nur auf dich aufmerksam.« Er ging sofort langsamer. »Kopf runter, Baby«, sagte er im Wagen und klopfte auf sein Bein. »Du siehst ziemlich wild aus.« Sein Oberschenkel gab ein recht passables Kissen ab. Er strich über die klebrigen Haarstacheln, die aus ihrer Schädelkappe herausragten. Sie schaute zu ihm hoch. »In der Seventh Street gibt’s eine Apotheke, die die ganze Nacht geöffnet hat. Kannst du da halten? Ich muß mir einen Irrigator besorgen.« »Meinst du wirklich?« In ihrem zerfetzten Kostüm konnte sie sich kaum in der Apotheke blicken lassen, also nahm er es in die Hand. Als er nicht fand, was sie brauchte, mußte er sich an die Apothekerin wenden. Eine noch peinlichere Aktion, als Gummis zu kaufen – was er auch erst regelmäßig tat, seit er mit Kissy zusammen war. Die meisten Mädchen nahmen die Pille, und er konnte es kaum erwarten, daß sie sich endlich diesem Kreis anschloß. Mit Scheidenspülungen kannte er sich
nicht aus, so daß ihm nichts anderes übrig blieb, als zu nehmen, was die Apothekerin ihm in die Hand drückte. Das Erste, was sie tat, als sie in seiner Wohnung ankamen, war, ins Badezimmer zu stürzen. Nach einer Weile klopfte er ungeduldig an die Tür. Sie war nicht verschlossen, also riskierte er einen Blick hinein. Sie stand splitternackt am Waschbecken und entfernte ihr Make-up. Der Irrigator steckte im Mülleimer, die Überreste ihres Kostüms lagen auf dem Boden. »Willst du duschen?«, erkundigte er sich. »Bloß nicht. Ich bin völlig erledigt.« Ihm ging es nicht anders. »Hast du vielleicht Hunger? Ich würde sogar die Matratze vertilgen. Wie wär’s mit Rührei und Toast?« Sie nickte dankbar. Als sie aus dem Badezimmer kam, waren die Toasts fertig, und die Eier begannen sich langsam zu kräuseln. Sie machte sich über das Essen her wie ein Straßenköter. Weil sie so hungrig war, schob Junior ihr auch seine Toasts hin und stand wieder auf, um für Nachschub zu sorgen. Bei seiner Rückkehr lag sie ausgestreckt auf der Matratze, ein Toaststückchen in der vollgekrümelten Hand, und war jenseits von Gut und Böse. Das Haar stand immer noch in Korkenzieherförmigen Hörnchen von ihrem Kopf ab. Wie eine Emanzen-Medusa, dachte er. Ihre Lippen glänzten von dem gebutterten Toast, in den Mundwinkeln hingen Krümel. Unter einem Ohr befand sich ein weißer Fleck, wo sie vergessen hatte, die Schminke zu entfernen. Ihre Augen waren vor Erschöpfung dunkel umringt. Er nahm den Toast aus ihren Fingern und leckte sacht ihre Mundwinkel ab. Dann deckte er sie zu, betrachtete das Toaststückchen, zuckte mit den Schultern und schob es sich in den Mund. Langsam und vorsichtig legte er sich neben sie. Seine Fingerspitzen glitten zu ihren Brüsten. Das muß Liebe sein, schoß ihm durch den Kopf. Um den hysterischen Lachkrampf zu unterdrücken, der ihn daraufhin zu packen drohte, vergrub er schnell das Gesicht in seinem Kissen. Das Rauschen der Dusche weckte ihn auf. Mit geschlossenen Augen schnüffelte er an der Kuhle im Kissen, wo ihr Kopf gelegen hatte,
und an den Laken, die noch warm waren von ihrem Körper. Dann streckte er sich, gähnte genüßlich und ließ die Ereignisse der vergangenen Nacht noch einmal in Gedanken Revue passieren. Als die Erinnerung an den sensationellen Auftritt allmählich mit der Wirklichkeit verschmolz, verschwand das selbstzufriedene Grinsen von seinem Gesicht. Junior schlug die Augen auf und sofort marterte unbarmherzig grelles Licht seine Netzhaut. Eine glühende Kissy kam auf ihn zu. Allein sie aus seinem Badezimmer auftauchen zu sehen, war unglaublich schön. »He«, sagte er, während er die Decke zur Seite schlug, »sieh dir das an!« Sie war eher erheitert als beeindruckt, doch schon lange, bevor sie miteinander fertig waren, hegte er nicht mehr den leisesten Zweifel daran, daß er ihre volle Aufmerksamkeit besaß: Sie kam wie ein Güterzug und riß ihn einfach mit. Mit derselben Zuverlässigkeit, mit der die Nacht dem Tage folgt, stellte sich das Magenknurren ein. Junior wärmte etwas Suppe auf, bereitete einige Thunfisch-Sandwiches zu, dann machten sie es sich zum Essen auf der Matratze bequem. »Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach«, meinte er schließlich, »ob wir nicht zusammenziehen sollten.« Kissy stieß einen leisen, ungläubigen Pfiff aus. Ein wenig gekränkt fragte er: »Hat dir vielleicht jemand ein besseres Angebot gemacht?« »Unsinn. Das ist lieb von dir, Junior, wirklich.« Sie schluckte ein Stück Sandwich hinunter. »Aber ich bin mir nicht sicher. Wir kennen uns nicht besonders gut…« »Um so schneller wird’s gehen, wenn wir zusammen wohnen. Ist dir eigentlich klar, wie gut das mit uns beiden klappt, Kissy? Ich hab so was jedenfalls noch nie erlebt.« Sie vertilgte den Rest ihres Sandwiches und starrte auf das Muster der Krümel auf dem Bettlaken. »Wenn’s nicht funktioniert«, schlug er vor, »sagen wir das einfach, okay? Freunde bleiben wir auf jeden Fall.« Ihr Körper war immer noch warm und entspannt vom Liebesakt, ihr Bauch angenehm voll. In einem solchen Zustand und angesichts der Möglichkeit, sich immer – oder doch meistens – derart gut zu fühlen, fiel ihr Streiten nicht leicht. Sie mußte zugeben, daß sie mit
Junior bislang mehr Spaß gehabt hatte als mit jedem anderen Kerl. Er ließ sie nicht links liegen, wenn sie irgendwo hingingen; er hatte niemals versucht, sie anzupumpen, niemals gefragt, ob er sich den Blazer ausleihen könne. In seiner Wohnung war es zwar ziemlich eng, doch das mußte nicht unbedingt ein Nachteil sein. Außerdem war es schließlich nicht für immer. Nur für so lange eben, wie es hielt. Auf der anderen Seite würde es Mary Frances bestimmt wehtun, wenn sie ging, abgesehen davon, daß sie die Novembermiete bereits bezahlt hatte. »Ich hab gerade erst die Miete für diesen Monat bezahlt.« »Ich auch.« »Wir könnten Halbe-Halbe machen…« »Klar«, stimmte Junior zu. »Kein Problem. Ich kann dir den November aber auch erlassen, als Einstandsgeschenk sozusagen. Schließlich kostet es mich ja nicht mehr, wenn…« »Du kannst mir den November nicht erlassen. Es ist noch ein ganzer Monat.« Er hob den Saum ihres T-Shirts hoch und verpaßte ihrem Nabel einen geräuschvollen Schmatz; sie lachte laut auf. Ganz leise, um Mary Frances nicht zu wecken, verfrachtete sie die Einzelteile ihrer Stereoanlage in den Blazer. Abgesehen von der Matratze, die sie von der Vormieterin geerbt hatte und zurücklassen wollte, waren sie die schwersten Stücke ihres Besitzes. Obenauf kamen ihre Kleidung, ihre Bücher, der Mac und die Kameraausrüstung. Sie sah sich ein letztes Mal in dem nun kahlen Zimmer um, in dem sie zwei Jahre gewohnt hatte, und war nicht traurig darüber, es zu verlassen. In letzter Zeit hatte sie dort mehr als nur unbedeutende Anflüge von Klaustrophobie bekommen. Sollte es mit Junior danebengehen, wollte sie ohnehin nicht hierher zurück. Sie löste die Wohnungsschlüssel von ihrem Schlüsselbund und legte sie auf den Tisch, auf einen Zettel mit Juniors Adresse und Telefonnummer. Dann machte sie sich einen Kaffee, setzte sich hin und wartete. Wenig später kam Mary Frances in Schlafanzug und Morgenmantel in die Küche gestolpert. Blinzelnd sagte sie: »Muß ja eine höllische Nacht für dich gewesen sein. Wie kannst du da bloß noch dein Zimmer umstellen!« »Ich ziehe zu Junior…«
Mary Frances goß schweigend etwas Kaffee in einen Becher und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich hab’s geahnt. Ich möchte nur, daß du glücklich bist, Kissy…« »Mary Frances Donohoe«, fiel Kissy ihr ins Wort, »reiß dich zusammen und spiel mir kein Theater vor.« Mary Frances starrte sie trotzig an. »Na schön! Ich hoffe, dir wird’s mindestens so miserabel gehen wie mir. Und ich erwarte, daß du ein paar wirklich fantastische Fotos machst. Laß dich bloß nicht von irgend jemands Ständer ablenken!« Kissy mußte lachen. »Wie könnte ich!« Sie sprang auf, beugte sich über die Freundin und flüsterte ihr ins Ohr: »Ist schon gut, Mary Frances. Ich mag dich, auch wenn du keine Heilige bist.« Mary Frances griff nach ihrer Hand und küßte sie. Ein Sieg am Freitagabend und ein spielfreier Samstag bedeuteten, daß Coach Stannick die Zügel bei denen, die sich Freitag ins Zeug gelegt hatten, etwas lockerer ließ. Bei den anderen nicht, aber das hatten sie gewußt. Video-Session um drei, also blieb Junior genügend Zeit, die Strecke zum Campus in einem ausgiebigen Siebeneinhalb-Kilometer-Dauerlauf zurückzulegen. Die Luft war angenehm frisch, was das berauschende Gefühl, mit dem er losgelaufen war, noch verstärkte. Auf dem Weg zum Kraftraum fing Zoo ihn ab. »Ist was passiert?«, wollte Junior wissen. »Auf dem ganzen Campus geht das Gerücht um, daß gestern Abend jemand auf dem Homo-Schwof das Spectre-Kostüm angezogen und ’ne Puppe – beziehungsweise gleich mehrere – flachgelegt haben soll. In aller Öffentlichkeit.« Zoo drückte eine Hand auf seinen Mund, um sein Lachen zu dämpfen. »Entweder ’ne Orgie im Drogenrausch oder ’ne Schwarze Messe – such dir was aus.« »Wer verbreitet bloß solchen Mist?«, grinste Junior. »Unser guter alter Hausverwalter Barry hat mir erzählt, das Spind, in dem das Kostüm aufbewahrt wird, war definitiv aufgebrochen worden. Das Kostüm sei zwar drin, aber jemand hätte es angehabt.« Zoo knuffte Junior in die Rippen. »Heute Morgen hat man die Sense gefunden. Sie lag vor der Damenturnhalle, direkt neben ’nem künstlichen, abgeschlagenen Kopf. Barry meint, der Stellvertreter vom Direktor war sofort in seinem Büro aufgetaucht, nachdem man das
offene Spind entdeckt hat. Ein paar Sicherheitsleute sind auch da gewesen.« »Wie abscheulich!«, meinte Junior. »Unerlaubte Benutzung des Maskottchen-Kostüms bei einer Schwarzen Messe!« Zoo dämpfte die Stimme. »Vergiß nicht: wir waren alle bei mir, okay?« »Von elf bis eins«, gab Junior zurück. Zoo schüttelte mißbilligend den Kopf. »Vielleicht solltest du die Sache mit Melone für ’ne Weile auf Eis legen. Ein paar Leute haben sie erkannt, auch wenn keiner außer uns weiß, daß du in dem Kostüm gesteckt hast. Diese Riesenböller vergißt man nicht so leicht! Falls die Verwaltung aber beschließt, alle Mädels zur Identifizierung antreten zu lassen, will ich jedenfalls dabei sein.« Junior legte Zoo einen Arm um die Schultern und flüsterte: »Sie zieht bei mir ein.« Zoo stöhnte. »Ich war schon länger auf der Suche nach was Festem«, fuhr Junior fort. »Sie macht mich heiß, Mann. Und wir verstehen uns gut.« »Junior, du denkst mit deinem Schwanz…« ; »Ach, leck mich doch«, gab Junior zuckersüß zurück. Zoo schüttelte bloß den Kopf. Mit leicht zitternden Händen legte Sylvia Cronin die Aufnahmen von Ruth vorsichtig in die Mappe zurück. »Sie machen noch mehr, ja? Eine ganze Serie vielleicht?« »Gern.« Die Krankenschwester war da. Sie überprüfte Ruths Schläuche, ihre Venenkanülen, die Tropfflaschen und die Auswertungen der Überwachungsmaschinen. Ruth bekam wegen einer Bronchitis Antibiotika-Infusionen. Raschelnd wie der kalte Wind vor den vereisten Fensterscheiben strich ihr Atem durch den Schlauch. Eins ihrer Augen war geschlossen, das andere halb geöffnet. Anstelle des Krankenhaus-Flügelhemds trug sie einen Schlafanzug und Hausschuhe aus Flanell. Mit dem pflegeleichteren Kurzhaarschnitt wirkte sie erheblich jünger. Sie trug keine Ohrringe. Die Löcher in ihren Ohrläppchen waren fast zugewachsen. Manchmal bewegte sich ihr Mund, als versuche sie etwas zu sagen. Manchmal stöhnte sie. Manchmal weinte sie auch, in einem stum-
men Tränenstrom oder mit hörbarem Schluchzen. Laut Ärzteschaft handelte es sich dabei vermutlich nur um unwillkürliche Aktivität der Elektronen in ihrem Gehirn, die nicht mehr bedeutete als ein gelegentliches Zucken ihrer Gliedmaßen und Augenlider oder das Drehen ihres Kopfes von einer Seite auf die andere. Kissy hatte Ruth bislang weder lachen gehört noch lächeln gesehen. Lachen oder Lächeln waren wahrscheinlich ebenso zufällige Erscheinungen wie Weinen und Stöhnen. Oder auch nicht. Je länger Ruth sich in diesem Zustand befand, desto rätselhafter kam er Kissy vor. Das mußte das Fegefeuer sein – weder Himmel noch Hölle, weder Leben noch Tod. Kissy beobachtete nur, erwartete nichts, hatte jedoch großes Interesse an diesem Übergangsstadium, in dem Ruth sich befand, an der unvorhersehbaren Richtung, in die es sich entwickeln würde, sowie an dem unvorhersehbaren Ausmaß, in dem es das tat. Junior hatte noch nie mit einer Frau zusammengelebt – mit einer Frau, die ganz für ihn da war. Abgesehen von einem Gefühl größerer Reife, dem Bewußtsein, in eine neue Phase seines Daseins als Mann eingetreten zu sein, war es ein Kick, eine Frau zu haben, die auf ihn wartete, eine Frau, zu der er heimkam. Sollte sie einmal nicht da sein, konnte er sich auf ihre Rückkehr freuen. Es gab Hinweise auf ihre Anwesenheit. Spuren. Der Kram im Badezimmer; das eine oder andere sonderbare Kleidungsstück; das Bettzeug, das nach ihr roch. Ihre Bücher, ihre Musik, der Computer, der auf der Küchentheke stand. Überall Fotos, die sie zwischen zwei parallel angebrachte Reihen Bildernägel steckte. Massenhaft Polaroidaufnahmen und Rohabzüge, die er in ihrer Unfertigkeit ausgesprochen reizvoll fand. Er sprach mit ihr über die wüstesten Dinge, Dinge, über die er noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Er bekam nicht genug von ihr. Die Stärke seiner Gefühle überraschte ihn selbst, machte ihn nervös, regte ihn an. Wenn das Verliebtheit war, war er nie zuvor verliebt gewesen. Kein Wunder, daß die Leute Loblieder darauf sangen. Sie gingen nicht oft weg, zum Teil, weil sie beide weder viel Zeit noch viel Geld übrig hatten, zum Teil aber auch, weil jeder den anderen weitaus interessanter fand als den Rest der Welt. Ihre Freunde waren von ihrem Zusammenkommen entsetzt. Außerdem hatten die beiden sich vorgenommen, eine zeitlang gewissermaßen unterzutauchen.
Offiziell war auf dem Homo-Schwof zwar nichts passiert – es gab keine Beweise –, doch der Zwischenfall war bereits eine Legende. Eines Sonntagabends hatte sie ihn zum Essen in ihre alte Wohnung geschleppt. Während sie dort Pad Thai aßen, das ihre ehemalige Mitbewohnerin Mary Frances gekocht hatte, konnte er die Leute betrachten, die Kissy ihre Freunde nannte. Allesamt KunstakademieAbkömmlinge wie sie und allesamt von der Sorte Mensch, die ihre benachteiligte Stellung in der Gesellschaft vor sich her trugen wie die Behinderten bei einem Rollstuhlfahrer-Marathon. Ernüchtert grübelte er darüber nach, ob sie vielleicht unter einer Art DianeArbus-Komplex litt und ein unerklärliches Faible für verkrachte Existenzen besaß, was zwangsläufig die Frage aufwarf, welche Form von Abartigkeit sie an ihm anzog. Er kam einfach nicht dahinter, wer zu wem gehörte, und schließlich wurde ihm klar, daß dies wesentlicher Bestandteil ihres SubkulturEthos war: jeder liebte jeden. Sich eindeutig zu einer Person zu bekennen, bedeutete offenbar den Ausschluß aller anderen und war somit unhöflich – oder irgend so ein Quatsch. Außer ihnen gab es nur ein anderes Hetero-Pärchen und einen Hetero-Single, der Rest bestand aus aufgekratzten Schwulen und schrillen Lesben – inklusive Institutsdirektor Latham, der der Genauigkeit halber wohl eher als schriller Schwuler bezeichnet werden mußte. Der vollbärtige, breitbrüstige Latham hatte ein Repertoire an Schwulenwitzen vom Stapel gelassen, bei dem die Insassen jedes Hetero-Umkleideraums vor Neid erblaßt wären. Ihn persönlich hatten sie angegafft, als wäre er ein Gorilla im Zoo und würde sie im nächsten Moment mit Scheiße bewerfen. Er unterdrückte die Regung, genau das zu tun. Dann war da natürlich noch Mary Frances, die Hasen-Nonne. Sie konnte ihn nicht leiden, so viel stand fest. »Faszinierender Haufen«, sagte er auf der Rückfahrt zu Kissy. Er hatte das Fenster hinuntergekurbelt, um frische Luft zu schnappen und wieder er selbst zu sein. Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Im Ernst. Es war mir unmöglich, festzustellen, wer mit wem bumst…« »Eine Eins für deine Grammatik«, gab sie trocken zurück. »Ganz zu schweigen davon, wer dein Lover gewesen sein könnte.« »Weshalb sollte dich das interessieren?«
Er zuckte die Achseln. »Aus rasender Eifersucht selbstverständlich. Entflammt durch dein kleines Bums-Verhältnis Kowanek. Dieser Typ, Gordon«, so hatte der Hetero-Single geheißen, »hat sich benommen, als ob er auch mal was mit dir gehabt hätte.« »Bums-Verhältnis?« Kissy stieß einen leisen Pfiff aus. »Vor einiger Zeit, als mit Ryne gerade wieder Schluß war, haben Gordon und ich uns zusammen eine Retrospektive angesehen. Lauter Zeug von American International, Low-Budget-Horrorfilme und so weiter. Irgendwann sind wir in Autokino-Stimmung gekommen und haben ein bißchen geknutscht, dann aber beschlossen, es dabei zu belassen. Gordon dachte offenbar etwas länger darüber nach und kam zu dem Schluß, sich in mich verliebt zu haben. Aber da war ich bereits wieder mit Ryne zusammen.« Sie drückte seine Hand. »Jetzt sind wir quitt. Ich weiß Bescheid über Diane, du über Ryne – und Gordon zählt nicht. Sei nicht eifersüchtig auf meine Freunde. Im Moment bist du mein Bums-Verhältnis.« »Bu-hums-Ver-hält-nis-für-im-mer«, sang Junior. »Ich bin also doch nicht der einzige Romantiker in diesem Team«, jubilierte Kissy. Zu Hause angekommen, schob Junior seine Hände unter ihren Pullover. »Ich wünschte, ich hätte dich schon in der Highschool gekannt.« »Warum?« »Wir hätten so viel Spaß miteinander gehabt.« Kissy schloß die Augen, leicht amüsiert ob der Absurdität dieser Vorstellung. Er hätte haargenau zu denen gehört, die keinen einzigen Blick oberhalb ihres Pulloverkragens verschwendeten, die kein einziges Wort mit ihr wechselten, das nicht mit ihrem Brustumfang zusammenhing. Sie versuchte sich sie beide sechs Jahre früher vorzustellen, auf dem Friedhof. Junior anstelle von Seth, der damals mit ihr dort gewesen war. Sie hatte sich manchmal gewünscht, sich besser daran erinnern zu können. Nicht nur an ihr gemeinsames erstes Mal, auch an die Vorfreude darauf, endlich die Liebe zu entdecken, die sie dazu getrieben hatte. Ist das alles? Und deshalb wird so viel Theater gemacht? hatte sie ihn damals gefragt. Wieder etwas durch pure Verschwendung ruiniert. Nachdem sie es getan hatten, wurde alles anders. Ihr süßer, lustiger Seth verwandelte sich in einen humorlosen, besitzergreifenden, herrschsüchtigen, fordernden Fremden.
Mit dem permanenten Gefummel, den ständigen Annäherungsversuchen hätte sie sich noch abfinden können, aber die tyrannische Art machte sie krank. So wenig sie sich an dieses erste Mal erinnern konnte, so deutlich standen ihr die Einzelheiten ihrer letzten Begegnung vor Augen. Mit trockenem Mund, wild hämmerndem Herzen hatte sie vor ihm gestanden. Ich bin schwanger, Seth. Sechzig Sekunden blanken Entsetzens, als er ausholte – physisch und verbal – und ihr das Nasenbein brach. Dann lag sie auf ihrem Hintern mitten auf der Friedhofszufahrt, ihrem damaligen Geheimtreffpunkt, während Seth die Wagentür des Cadillacs zuknallte, der seinem Vater gehörte, fluchend und schluchzend zugleich. Unter den durchdrehenden Reifen spritzten Schottersteinchen zur Seite, auf sie – und sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, zum Schutz die Hände zu heben. Juniors Finger malten Muster auf ihre Haut. Sie erinnerten sie an die Fäden eines Fingerspiels, dessen Knoten und Windungen sich in einem magischen Moment einfach in Nichts auflösen konnten. \7[ Er rackerte sich mit dem Rezept auf der Makkaroni-Packung ab; heute war er dran mit Kochen. Sie war spät dran. Machte irgendwo Fotos. Er hatte solchen Bärenhunger, daß er es nicht länger aushielt. Nach dem Essen schenkte er sich ein weiteres Glas roten Supermarktwein ein und steckte den Kopf in die Bücher. Als sie endlich hereinschneite, hatte er einen steifen Nacken und schon wieder Hunger. Er hatte ein Gedeck für sie auf der Küchentheke stehen lassen, daneben stand eine Vase mit einer Rose, ebenfalls aus dem Supermarkt. Sie blieb stehen, um daran zu schnüffeln. »Lust auf Fotos?«, fragte sie und reichte ihm eine Schachtel. »Faß sie an den Ecken an, ja?« »Klar.« Er hatte es oft bei ihr gesehen, wenn sie die Bilder aufhängte. »Das bin ich!«, stellte er mit einem erfreuten Grinsen fest, als er die oberste Aufnahme betrachtete. Beim Anblick des nächsten Fotos erstarb das Grinsen. »Und das ist das andere Mädchen, stimmt’s?« Sie nickte.
Nachdem er den Rest durchgeblättert hatte, klappte er die Schachtel zu. »Möchtest du essen? Dazu vielleicht ein Glas Wein?« »Gern.« Er holte den Auflauf, um ihn aufzuwärmen, stellte den Salat auf die Theke. »Hast du sie besucht?« »Mmmhm.« »Findest du das nicht ein bißchen morbide?« »Überhaupt nicht«, meinte sie unumwunden. »Ich war heute Abend dort und ich will noch mehr Fotos machen.« Endlich zu wissen, wo sie gewesen war, ohne die Erniedrigung auf sich nehmen zu müssen, sie direkt danach zu fragen, machte ihm das Herz etwas leichter. Nicht, daß er es etwa nicht merken würde, beruhigte er sich. Keine Sekunde könnte sie es vor ihm verbergen. Er schenkte ihr Rotwein ein, nahm sich selbst noch ein Glas und lehnte sich gegen die Theke, um ihr beim Essen zuzusehen. Sie futterte wie ein Scheunendrescher; ihrem Appetit schien der Besuch bei dem halb toten Mädchen jedenfalls nicht geschadet zu haben. »Leichenschänderin«, sagte er. Sie gab ein kehliges Lachen von sich und blitzte ihn aus dämonisch funkelnden Augen an. Juniors nächster Mannschaftstrip stand bevor. Sie hätte mitfahren können. Die Studentenzeitung konnte es sich nicht leisten, sie zu den Auswärtsspielen zu schicken, aber die News hatte sie gebeten, einzuspringen, und sich bereit erklärt, die Kosten für Benzin und ein billiges Motelzimmer zu übernehmen und ihr zusätzlich eine kleine Tagespauschale zu zahlen. Sie mußte an diesem speziellen Wochenende allerdings noch eine wichtige Seminararbeit fertig stellen, außerdem wollte sie an ihrem freiwilligen Fotoprojekt weiterarbeiten. Darüber hinaus hatte sie nicht die Absicht, ein TrainingscampGroupie zu werden, ihr Leben um Junior herum einzurichten und dabei die äußerst wahrscheinliche Gefahr zu laufen, sich von irgendeiner Schlampe beschimpfen lassen zu müssen, die es auf ihn abgesehen hatte. Das war sein Problem, nicht ihres. Statt dessen besuchte sie Ruth. Manchmal ließ Mrs. Cronin sie beide allein – vielleicht benutzte sie Kissys Besuche auch als eine Art Atempause. In der Stille des kleinen Zimmers war es unmöglich, die Jämmerlichkeit des Zustands nicht wahrzunehmen, in dem Ruth sich
befand. Die Abgeschiedenheit bot jedoch einen unverhofften Vorteil – es war wie in einem Beichtstuhl. Auf einem Hocker neben dem Bett sitzend, erzählte Kissy Ruth, was ihr zugestoßen war, was sie getan hatte. Einmal ausgesprochen, schien es eine Menge zu sein, und es war vieles dabei, das sehr wenig Sinn für sie ergab. Ruth zeigte keine Reaktion. Ruth gab keine Ratschläge. Sie sog lediglich die Luft ein und stieß sie wieder aus. Ein Marker auf dem Wandkalender neben dem Bett umrahmte ihren Geburtstag am Ende des Monats. Ruths Mutter und ihr Bruder mit seiner Familie hatten vor, eine Party für sie zu geben: Kuchen, Eiscreme, Glückwunschkarten – in der Hoffnung, ihre Liebe möge wie Panflötenklang in die Welten wehen, in denen Ruth sich befand. Sanft drückte Kissy Ruths leblose Hand. Dann stand sie auf, um ihre Kamera zu holen. Die Lücke in Juniors Terminplan um Neujahr herum war groß genug für einen Ausflug nach Kingston, seiner Heimatstadt, die etwa fünf Stunden entfernt an der kanadischen Grenze lag. Sie fuhren mit zwei Autos hin, da Junior seinen Wagen dort lassen wollte. Sein Bruder Mark, der ein Händchen für Elektronik hatte, durfte ihn einen Monat lang haben und im Gegenzug dafür seinen lahmgelegten Verstärker reparieren. Er hatte die gesamte Kindheit in der Kleinstadt verbracht, die sich an einen Seitenarm des St. John River schmiegte. Verschlungene Straßen mit abblätternden Holzhäusern führten zu einem von Granit und roten Ziegelsteinen geprägten Ortskern, in dem immer noch spärlicher Betrieb herrschte, weil es sonst weit und breit nichts gab. Das Städtchen erschien ihr wie ein Bollwerk, weniger gegen Plünderer als gegen die Einsamkeit, gegen die Isolation, die durch das flache, unter Gletschern begrabene Land ringsumher noch verstärkt wurde. »Willkommen am östlichen Arsch der Welt«, sagte Junior, als er ihr in der Einfahrt zum Haus seiner Eltern aus dem Blazer half. Er tarnte die Bemerkung zwar als Scherz, indem er sie mit einer ausholenden, theatralischen Armbewegung unterstrich, aber sein Gesichtsausdruck war der eines Menschen, der soeben erkannte, welchem Schicksal er entronnen war. Das war ihr Verdienst, dachte Kissy. Er sah diese Welt durch ihre Augen, zum ersten Mal. Das
Haus war eine uralte Kiste mit meterhohen Decken, riesigen unbeheizbaren Räumen und Schornsteinen, die noch aus einer Ära vor der Erfindung der Zentralheizung stammten. Früher war es ein Pfarrhaus der Episkopalkirche gewesen, hatte Junior ihr erklärt, bis die Glaubensgemeinschaft zu klein und betagt geworden war, um sowohl für seinen Bestand als auch den der nahe gelegenen Kirche zu sorgen. Sein Großvater mütterlicherseits, ein Bauunternehmer, hatte die ›Pisskopen‹ – wie er sie nannte – in ein schlichtes Fachwerkhaus einen Block weiter umgesiedelt, wo sie ihrer veralteten Art der Gottesverehrung weiterfrönen konnten. Dann hatte er seiner Tochter das Pfarrhaus zum Hochzeitsgeschenk gemacht. Die Hoffnung, daß sein Schwiegersohn es je sehr weit bringen würde, hatte sich in Grenzen gehalten. Der Junge von dem Schnappschuß – Juniors Bruder, wie nicht zu übersehen war – riß die Tür auf, woraufhin ein riesiger Bernhardiner aus dem Haus stürzte und sich auf Junior warf. Die Begrüßung der beiden, der Hund mit den Vorderbeinen gegen Juniors Brust gestemmt, erinnerte an zwei tanzende Bären. Der Bruder hockte mit baumelnden Beinen auf dem Verandageländer und stellte sich vor: »Ich bin Mark.« Seine Brauen schossen in die Höhe. »Du mußt Kissy sein.« Als Nächstes tauchten die herzlich lächelnden Eltern auf. Nachdem Kissy mit Esther und Dunny bekannt gemacht worden war, drängten die beiden sie freundlich, ins Warme zu kommen. Das Erste, was sie bemerkte, waren die tiefen Kratzer in den Bodenbelägen, gleich ob Linoleum oder Holz, als hätte ein ganzes Rudel Riesenhunde sie zerfurcht. Dann polterte die kleine Schwester auf Schlittschuhen zur Küchentür herein, und Kissy wurde klar, daß der Schaden von nur einem Riesenhund und drei Kindern herrührte, die ihre Schlittschuhe auch drinnen tragen durften. »Ich bin Bernie«, sagte das Mädchen. »Und wenn du Bernadette zu mir sagst, versetz ich dir einen Haken, daß du in hohem Bogen rausfliegst!« Lachend willigte Kissy ein. Wie die meisten vierzehnjährigen Mädchen hatte Bernie Clootie ihre volle Größe und körperliche Reife bereits erreicht. Mit dem richtigen Make-up, gestylten Haaren und entsprechenden Klamotten wäre sie leicht für achtzehn oder zwanzig durchgegangen. Ohne
Make-up, mit dem nachlässig geflochtenen Zopf war sie noch die kleine Schwester. Egal wo, es roch wie in einem Umkleideraum. Die höchsten Ansprüche an ihr Mobiliar stellte Familie Clootie ganz ohne Zweifel bezüglich der Widerstandskraft, gefolgt von schmutzabweisenden Eigenschaften und Bequemlichkeit auf den Plätzen zwei und drei; Karomuster folgte an vierter Stelle. An den Wänden hingen ausschließlich Familienfotos. Der Weihnachtsbaum war noch nicht abgebaut. Er hatte Schlagseite und Nadelausfall; die unteren Bereiche waren ihres Schmuckes beraubt – offenbar das Werk zweier fetter, schlitzäugiger Katzen, deren Anführerin ein Stückchen Lametta aus dem Hintern zu hängen schien. Statt in Kingston zu bleiben, fuhren sie in ein Ferienhaus an einem zugefrorenen Teich, weitere zwei Stunden in die Wildnis hinein. Kaum dort angelangt, stürzte der männliche Teil der Clooties samt Bernie los, um die Eisfläche vorzubereiten. Der Hund Mr. Ed, benannt nach dem gleichnamigen sprechenden Pferd, tollte fröhlich zwischen ihnen herum. Junior hatte sich den Hund während seiner High-School-Zeit zugelegt, klärte Esther Clootie Kissy auf, nachdem er Schlappschuss gesehen hatte, einen Eishockeyfilm mit Paul Newman, in dem ein Bernhardiner vorkam. Kissy kannte den Film bereits. Unter Juniors Mannschaftskollegen, die ständig daraus zitierten, war er extrem beliebt. Wenig später stapfte Junior herein und verkündete, er habe ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk für sie. Nachdem sie es ausgepackt hatte, fand sie sich als überraschte Besitzerin nagelneuer Schlittschuhe wieder. Hockeyschlittschuhe, keine für den Eiskunstlauf. Sie mußte sich wohl mit allen anderen auf die Eisfläche begeben – ein Verdacht, der sich bestätigte, als sich auch Esther auf einen Stuhl fallen ließ, um die Schnürsenkel ihrer Schlittschuhe zuzubinden. Kein Wunder, daß Junior darauf bestanden hatte, daß sie lange Unterhosen und eine Schneehose mitnahm. Junior stand im Tor, das Esther und Kissy gegen seinen Vater, Bernie und Mark verteidigen mußten. Das Ganze sollte ein Spaß sein, doch die Blessuren waren nur allzu echt, denn niemand, nicht einmal Esther, hielt sich vornehm zurück. Sie wollten den Puck haben und sie wollten den Puck schlagen. Bernie schlug ebenso gnadenlos zu
wie ihr Bruder Mark. Daß sie eine blutige Anfängerin war, verlieh Kissy lediglich den Status von Frischfleisch. Als sie ins Haus zurückkehrte, sehnte sie sich danach, die schmerzenden, mit Blutergüssen übersäten Glieder ausgiebig in heißes Wasser zu tauchen – und mußte feststellen, daß das Clootie’sche Ferienheim nur einen winzigen provisorischen Warmwasserbereiter neben dem Holzofen hatte. Das Wasser reichte zum Spülen und Händewaschen, nicht aber zum Baden. Die Clooties benutzten eine Sauna, die sie das ›Dampfbad‹ nannten, und sprangen anschließend splitternackt durch ein ins Eis gehauene Loch in das eiskalte Wasser des Teichs. Zu Kissys immenser Erleichterung war in der Sauna immer nur Platz für zwei Personen zur selben Zeit, denn Mark hatte sie seit ihrer Ankunft nicht mehr aus den Augen gelassen. »Machen Sie sich nichts draus«, riet ihr Esther. »Sie sind das einzige Mädchen, das Junior jemals mit nach Hause gebracht hat. Dunny«, wandte sie sich an ihren Mann, »halt Mark von den Büschen fern, damit Kissy und Junior in Ruhe ihr Dampfbad genießen können.« »Ich weiß wirklich nicht, was ich von dieser Nacktbade-Aktion in dem zugefrorenen Teich halten soll«, argwöhnte Kissy. Junior grinste boshaft. Als sie in der Sauna fast zu einer Pfütze zusammengeschmolzen war, schleppte er sie ins Freie, warf sie in das Loch im Eis und tauchte ihr nach. Sobald ihr Körper das Wasser berührte, schien die einzig logische Reaktion, laut aufzuschreien. Die Öffnung befand sich in der Nähe des Ufers; man konnte im Wasser stehen, in dem Eisstückchen trieben. So muß der Olive im Martini zumute sein, dachte sie matt, zitternd vor Kälte und steif wie ein Brett. Am Ufer warteten zu Umhängen umfunktionierte Decken und Mokassins auf sie. Halb erfroren wie sie war, konnte Kissy sich kaum bewegen. Junior wickelte sie ein und trug sie ins Ferienhaus zurück. In der freudigen Erwartung, unabsichtlich entblößtes Fleisch zu Gesicht zu bekommen, lungerte Mark neben dem Ofen herum. Bernie schlich sich von hinten an ihn heran und legte ihm die Hände über die Augen. Er sprang auf, um auf sie loszugehen, aber sie hatte sich längst unter schallendem Gelächter hinter ihrem Vater verschanzt. »Wird’s bald«, knurrte Dunny Clootie und warf seinem Jüngsten ein paar Holzscheite zu. »Fahr die Augäpfel ein und nimm dein
Dampfbad!« Junior ließ Kissy inzwischen auf das Bett rollen, das sie in dem winzigen zweiten Schlafraum des Häuschens miteinander teilen sollten. Es war nicht mehr als eine Kammer, auf der einen Seite durch einen Vorhang vom Wohnraum, auf der anderen durch eine mit Kiefernholzpaneelen verkleidete Wand von Esthers und Dunnys Zimmer getrennt. Mark und Bernie bewohnten den Dachboden, den ein Bücherregal in zwei Bereiche teilte. Die durchgelegene alte Matratze roch nach Rauch und Feuchtigkeit, fühlte sich nach der erzwungenen Einführung in Teichhockey, Dampfbadritual und Eiswasser-Taufe aber geradezu himmlisch an. Junior kletterte ins Bett, um sie zu wärmen – Sex schien unvermeidlich. »Können sie uns hören?«, flüsterte sie. »Wir hören Mom und Dad jedenfalls immer«, flüsterte er zurück. Nach dem Abendessen versammelten sie sich um den Kamin, um verspätete Weihnachtsgeschenke auszutauschen. »Deine Mutter und ich haben dir etwas mitzuteilen«, sagte Dunny plötzlich. »Oh, Scheiße«, brummte Junior. Esthers Blick war gesenkt. Marks Mundwinkel zeigten nach unten. Bernie hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, als wolle sie das, was nun kam, um jeden Preis verhindern. Dunny räusperte sich. »Mark geht im nächsten Herbst aufs College. Mutter und ich haben beschlossen, mit ihm zu gehen.« Juniors Anspannung ließ auf der Stelle nach. »Es gibt keinen Grund mehr für uns, hier zu bleiben«, fuhr Dunny fort. »Würden wir bleiben, würden wir Mark wahrscheinlich nie spielen sehen, genau wie wir dich in den letzten Jahren nur selten gesehen haben. Also vermieten wir das Haus, lassen George Labree den Laden weiterführen und suchen uns was in der Nähe des Colleges. Bernie gefällt der Gedanke, auf eine größere Highschool zu gehen. Ich denke, ich werde mir einen kleinen Laden mieten, einen Ein-Mann-Betrieb aufmachen. Mutter möchte gern ihr Diplom nachholen. Während sie das tut, mußte sie eigentlich im Krankenhaus Teilzeit als Aushilfsschwester arbeiten können.« »Ist ja alles schon perfekt geplant«, stellte Junior erleichtert fest. »Und ich dachte, ihr wollt euch scheiden lassen.« »Junior!« Esther war entsetzt.
»Ich hatte bloß Angst, daß keiner von euch Mark und Bernie haben will und ich sie plötzlich am Hals habe«, grinste Junior. »Die Idee ist gar nicht so schlecht«, meinte Dunny versonnen. »Ich sollte sie im Hinterkopf behalten.« »Dich werden wir auch viel öfter besuchen können, Junior«, warf Esther ein, »wenn der Flughafen von Peltry praktisch vor der Tür liegt. Und ich will endlich mein Diplom. Als Pflegerin habe ich lange genug gearbeitet. Ich weiß, ich kann mehr. Also – was hindert uns noch?« Junior applaudierte, stand auf und gab seiner Mutter einen Kuß. »An dem Tag, an dem es so weit ist, werde ich da sein.« Als sie ihre Sachen in den Wagen packten, um nach Peltry zurückzufahren, gab Junior bekannt, daß er Ed mitnehmen würde – nun, wo er jemanden hatte, der sich um den Hund kümmern konnte, wenn er unterwegs war. Bernie bekam einen Wutanfall; sie ließ sich auch dann nicht besänftigen, als er ihr erklärte, es würde schließlich nur ein paar Monate dauern, bis sie den Hund wiederhatte. Kissy war dagegen. Sie sagte ihm, er könne sich keinesfalls darauf verlassen, daß sie zu Hause bleiben würde, um seinen Hund zu versorgen, und erinnerte ihn daran, wie klein seine Wohnung war. Doch Junior ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Auf der Rückfahrt saß Ed mit im Blazer. Fünf beengte Stunden im Innenraum ihres Wagens überzeugten Kissy von der Richtigkeit ihres Standpunkts. Doch an dem ersten Wochenende, an dem Junior weg mußte, erkannte sie, daß sie keine Angst mehr vor dem Alleinsein zu haben brauchte. Sie hatte Ed bei sich, einen riesigen, warmen, atmenden, furzenden Freund – allzeit froh sie zu sehen, allzeit entzückt über was immer sie ihm zu fressen gab, allzeit versessen auf ein bißchen Kraulen, ein bißchen Unfug, ein kräftiges Tätscheln seines gewaltigen Schädels. Es war schon ein gigantischer Haufen Hund, der da nachts neben ihr auf der Matratze lag. Die Albträume, die sie seit dem Unfall gequält hatten, hörten vollständig auf. Alles, was sie zu ihrem Glück gebraucht hatte, überlegte sie, schien ein verfluchter Hund zu sein. Der Gedanke brachte sie zum Lachen. Eines Tages würde sie Junior erzählen, wie leicht er zu ersetzen war. Die Düsternis zwischen den Bibliotheksregalen wurde durch die Leuchtstoffröhren noch verstärkt, die ihr hochempfindliches Licht
über die Bücherreihen warfen. Kissy war hier immer recht unheimlich zumute, besonders spät abends, aber sie hatte einen Abgabetermin für ein Referat, und die Querverweise bedurften einer dringenden Überarbeitung. Mit einer Liste sämtlicher Buchtitel in der Hand, die sie noch brauchte, ging sie durch die Schluchten zwischen den deckenhohen Bücherbergen. Ein Husten zerstörte ihre Illusion vom Alleinsein. Vorsichtig spähte sie hinter dem Ende eines Regals hervor und sah einen Studenten in einer der Lesenischen sitzen. Ihr Herz setzte kurz aus, als sie ihn erkannte: James Houston. Mit der Arbeitswut eines Dickensschen Schreiberlings fuhrwerkte er mit Stiften, Blättern und riesigen Stapeln dicker Wälzer herum. Er hatte einen Stoppelhaarschnitt und war dermaßen dünn geworden, daß er wie ein büßender Mönch am Ende einer Fastenzeit voll besonders harter Selbstgeißelung aussah. Sie mußte irgendein Geräusch gemacht haben, ein Quietschen ihrer Lederstiefel vielleicht oder ein zu lautes Einatmen, sie wußte es nicht, aber er schaute auf. Seine dunklen Augen musterten sie kurz, dann kehrten sie schuldbewußt zu den Blättern vor ihm zurück. Kurz darauf hob er erneut den Kopf. Seine Pupillen waren geweitet, die Lippen leicht geöffnet, das bißchen Farbe, das er vorher noch gehabt hatte, war restlos verschwunden. Kissy räusperte sich. »Wie geht’s?« Er starrte sie lange stumm an, dann brach er plötzlich in Gelächter aus. Es hatte einen schrillen, irren Klang mit einem rauhen, hysterischen Unterton. Sie empfand den spontanen Wunsch wegzulaufen, riß sich jedoch zusammen und blieb. Das gespenstische Lachen hörte auf, er senkte den Blick und schaute gleich darauf wieder hoch. »Entschuldigung«, murmelte er. »Ist nett, daß du fragst. Ich bin’s nicht mehr gewohnt, daß jemand mit mir spricht.« »Ich bin Kissy…« »Ich weiß, wer du bist. Würdest du jetzt bitte gehen?« Er starrte wieder auf seine Unterlagen, wartete darauf, daß sie ging. Da ihr nichts Besseres einfiel, tat sie, worum er gebeten hatte. In der dritten Februarwoche setzte eine längere Periode angenehm milden Tauwetters ein. Das Licht war filigran und zart. Dank der wärmeren Luft konnte sie Außenaufnahmen machen, ohne die Ka-
mera zwischen den Einsätzen immer wieder zum Aufwärmen unter die Jacke schieben zu müssen. Sie nahm Ed zu einer Fototour über den Campus mit; er war außer sich vor Freude, ohne Leine herumspringen zu dürfen, während sie die Bilder schoß. Nach einer Weile hatten sie sich zu dem Wäldchen vorgearbeitet, in dem sich der Baum mit Diane Greenans Foto befand. Ein Scherzbold hatte es mit Hörnern und einem Schnurrbart verziert. Die Verunstaltung war auf die Plastikhülle geschmiert, so daß das Bild darin unversehrt war. Es wäre ein Kinderspiel, die Hülle zu entfernen und das Foto laminieren zu lassen. Die selbst gemachte Vase war umgekippt, der Boden mit verwelkten Blumen, Blättern und Kiefernnadeln übersät. Kissy löste das Foto vom Stamm und verstaute es in ihrem Rucksack. Als sie das nächste Mal in das Wäldchen kam, machte sie die nun laminierte Aufnahme wieder am alten Platz fest. Das Tauwetter war vergangen und einem unerwarteten Kälteeinbruch gewichen, der wegen der vorherigen trügerischen Frühlingsstimmung besonders schlecht zu ertragen war. Jemand hatte eine neue improvisierte Vase an den Fuß des Baumes gestellt, diesmal eine abgeschnittene Wasserflasche aus Plastik, in der ein unbeholfen gebundener Strauß Rosen steckte. Der Frost hatte sie schwarz werden lassen. Kissy machte einige Schwarz-Weiß-Aufnahmen und überlegte dabei, wie es wohl aussähe, wenn sie die Rosen von Hand nachkolorieren würde. Doch sobald sie die ersten Abzüge in der Hand hielt, wollte sie, daß sie in genau diesem Zustand blieben. Sie veröffentlichte die Aufnahmen in der Campuszeitung, neben einem Artikel über die behelfsmäßige Gedenkstätte. Vollkommen unerwartet griff die News das Thema auf, gefolgt von den hiesigen Sendeanstalten. Daraufhin gaben die Universität und Diane Greenans Familie die Errichtung eines offiziellen Denkmals in dem Wäldchen bekannt, außerdem sprach man von der Einrichtung einer Diane-GreenanStiftung für Begabtenstipendien. Die Gedenkstätte sollte aus einer schlichten Granitplatte bestehen, in die ein von einer Glasscheibe geschütztes Foto Dianes eingelassen sein sollte. Daneben waren eine Messingvase für Blumen sowie eine Parkbank geplant. Die Einweihung wurde auf den Tag der Abschlußfeier im Juni festgesetzt.
Nach einem aufreibenden Halbfinalkampf – vier Verlängerungen mit einem vernichtenden Gegentor in der elften Sekunde der vierten – verloren die Spectres das Endspiel der Landesmeisterschaft. Danach war alles gelaufen. Junior fühlte sich wie ein Spielzeugwurm, der Kopf über Schwanz die Treppe hinuntergepurzelt war, zaghaft zuerst, dann immer schneller, bis er schließlich wie ein zitterndes Häufchen Elend am Fuße der Stufen lag. Es gab das übliche blödsinnige Tamtam danach: Pressekonferenzen, Empfänge, Banketts – die ihn in seinem augenblicklichen Zustand jedoch vollkommen kalt ließen. Er versuchte die Lethargie so gut wie möglich abzuschütteln, aber ein Gefühl der Orientierungslosigkeit blieb. Als Ablenkungsmaßnahme vertiefte er sich in den Unterricht, obwohl es vollkommen egal war, ob er die Kurse schaffte oder nicht, da ihm nur noch drei Punkte zum Abschluß fehlten und er es momentan nicht eilig damit hatte. Wenigstens konnte er so die Zeit totschlagen, das zwanghafte Nachdenken über seine Fehler vertreiben. Im April begann Kissy ein sechswöchiges Praktikum bei der News. Ihre Kurse waren zu Ende, ihre Projektarbeit war eingereicht, einzelne Aufnahmen davon in der Uniinternen Kunstausstellung zu sehen. Plötzlich hatte er mehr Zeit als sie. Seit seinem sechsten Lebensjahr, als sein Vater ihm das erste Paar Schlittschuhe verpaßt und einen Schläger in die Hand gedrückt hatte, wollte er Profi werden. Jetzt war er nur noch Monate von diesem Ziel entfernt und derart von dem Gedanken daran besessen, daß er sich kaum auf etwas anderes konzentrieren konnte. Was war mit Kissy? Realistisch betrachtet hatte er jetzt – und womöglich auch in Zukunft – nicht genug Geld, um für eine Frau zu sorgen. Darüber hinaus war die Eishockeysaison der Profispieler lang und bedeutete viele Wochen fern von zu Hause. »Uns bleibt noch der Sommer«, meinte er eines Sonntagnachmittags, als sie in der Wanne saßen. »Und dann?« »Du fährst ins Trainingslager oder Gott weiß wohin, um Eishockey zu spielen. Ich bleibe hier und arbeite.« Ihr leicht ironischer Unterton brachte ihn durcheinander und ließ ihn die vorsichtigen Formulierungen vergessen, die er sich ausgedacht hatte – die Verhandlungsstrategie, wie er sie weiterhin für sich behalten konnte, ohne sich für eine unvorstellbare Ewigkeit verpflichten zu müssen.
»Ich will nicht, daß wir uns trennen«, platzte er heraus. »Ich will, daß wir zusammenbleiben. Wir könnten heiraten.« Seine Worte fielen in ihr Schweigen wie das Tropfen eines Wasserhahns. Einen richtigen Antrag hatte er ihr nicht gemacht – er hatte ihr lediglich die Möglichkeit unterbreitet. Sie drehte sich um, um ihm in die Augen zu sehen. »Warten wir ab, wie das nächste Jahr wird.« Vernünftiges Mädchen. Viel vernünftiger als er. Er verbarg seine Erleichterung, indem er aggressiv über sie herfiel. Der Lärm, mit dem das Feuer tobte, erstaunte sie. Es klang wie ein gigantischer Sturm, wie eine Urgewalt, die sich über die Stadt erhoben hatte. Noch nie hatte sie ein derart großes Gebäude in Flammen stehen sehen. Die verlassene Spinnerei am Ufer des Dance hatte bereits lichterloh gebrannt, als die erste Meldung kam. Die Hauptstraße führte direkt an dem Gelände vorbei, so daß der Verkehr ein erhebliches Problem darstellte, als die Löschfahrzeuge versuchten in Position zu gehen. Vorbeikommende Autofahrer bremsten ab, um zu gaffen, oder parkten sogar am Straßenrand, um auszusteigen. Kissy probierte mehrere günstig erscheinende Positionen aus, um mit einem Weitwinkelobjektiv das Chaos am Brandort einzufangen. Die Rauchentwicklung war so stark, daß sie husten mußte und sich bald Sorgen um ihre Ausrüstung machte. Da erregte plötzlicher Aufruhr an einem hohen, schmalen Fenster im Erdgeschoß ihre Aufmerksamkeit. Die vernagelten Sperrholzbretter zersplitterten unter der Axt eines Feuerwehrmanns. Wie der feurige Atem eines Drachens quollen augenblicklich Rauch und Stichflammen aus der Bresche hervor, im Zentrum des Infernos zeichneten sich die Umrisse eines weiteren Feuerwehrmanns ab. Kissy hatte bereits mehrmals auf den Auslöser gedrückt, als sie erkannte, daß der Mann einen reglosen Körper schleppte. Wenige Meter von dem Gebäude entfernt fiel er auf die Knie, fast im selben Moment von Kollegen und Sanitätern umringt. Er ließ den Körper von seinen Schultern auf das tote, gelbe, zertrampelte hohe Gras gleiten. Kissy hielt den silberblonden Haarschopf des Opfers im Widerschein des Feuers und das leichenblasse, erschöpfte und mit Ruß verschmierte Gesicht des Feuerwehrmanns fest, das unter der Maske zum Vorschein kam. Sanitäter eilten mit Sauerstoff herbei,
dann wurden Wutgeschrei und Verwünschungen laut. Jemand hatte Mist gebaut – die Sauerstofftanks waren leer. Auf dem Gesicht des Retters spiegelte sich ein Großbrand an Emotionen. Die darin sichtbare Wut und Verzweiflung waren genauso verheerend wie das Feuer, das an dem Gemäuer fraß. Der Mann begann zu schwanken und brach neben dem Opfer zusammen. Sein Kopf fiel auf die Seite. Einer der Sanitäter fühlte besorgt seinen Puls, die übrigen brüllten herum und verfluchten einander wegen des Sauerstoffs. Ein Mann löste sich aus der Gruppe der Feuerwehrmänner und kauerte sich neben dem offenbar in Vergessenheit geratenen Opfer auf den Boden. Dann sah es so aus, als würde er sich auf den bereits besinnungslosen Mann fallen lassen, doch im nächsten Augenblick wurde Kissy klar, daß es sich um eine Mund-zu-Mund-Beatmung handelte. In dem gleißenden Licht einer gewaltigen Explosion im Zentrum des Feuers wurde sichtbar, daß er kein Feuerwehrmann, sondern Polizist war. Seine Tatkraft riß auch die übrigen Helfer aus ihrer Erstarrung, und einer kniete sich neben ihn, um zu helfen. Kissys Kamera dokumentierte, wie das Rettungsteam das Opfer unter unermüdlichen Wiederbelebungsversuchen in einen Krankenwagen verfrachtete. Der Mann, der die Aktion in Gang gebracht hatte, trat zurück. Als sie den Sucher aufsein müdes, abgekämpftes Gesicht einstellte, erkannte sie ihn. Es war Mike Burke. Von dem Blitzlicht ihres Fotoapparats aufgeschreckt, hob er den Kopf und zuckte kurz geblendet zusammen. »Tut mir leid!«, brüllte sie über das Getöse des Feuers hinweg. Er schüttelte den Kopf und spuckte mehrmals auf den Boden, als hätte er einen Käfer oder etwas ähnlich Ekelhaftes im Mund. Dann wandte er sich ab und lief auf die Straße zu. Sie holte ihn schnell ein. »Na, so ein Zufall«, sagte er grinsend. , Kissy zupfte an dem Plastikschild an ihrer Weste. »Ich mache ein Praktikum bei der Zeitung.« »Aha.« Er deutete auf die Straße. »Ich muß wieder an die Arbeit. Eigentlich soll ich die Gaffer aus dem Weg schaffen. Mein Partner kümmert sich um den Verkehr.« Kissy blieb stehen.
Julius Horgan, der Reporter, der sie zum Brandort begleitet hatte, kam angerannt. Der kleine Mann mit dem faßförmigen Leib keuchte vor Anstrengung. »Hast du ein Foto von dem Bullen gemacht?« »Ja.« »Ich brauch noch seinen Bericht.« Schnaufend stolperte er hinter Burke her. Als er später auf dem Weg zur Redaktion hinter dem Lenkrad saß, war Horgan immer noch aufgekratzt. »Irgendwer wird seinen Arsch hinhalten müssen wegen der Sauerstofftanks. Die Stadt könnte schließlich eine Klage an den Hals kriegen. Nicht von dem Schwulen, den sie da rausgezogen haben – der ist doch ein Niemand. Nein, von Kimball, dem Feuerwehrmann. Irgendeinen Kopf will die Gewerkschaft garantiert rollen sehen!« »Haben Sie das Opfer gekannt?« Angesichts der Chance, mit seiner ungeheuren Kenntnis über die Stadt und deren Bewohner Eindruck schinden zu können, mußte Horgan selbstgefällig grinsen. »Donnie Herbert. Hat vermutlich seit dem dreizehnten Lebensjahr keinen Atemzug in nüchternem Zustand mehr getan. Ist jede Sekunde voll bis unter die Hutschnur mit Schnaps und Drogen und streckt den Leuten im Valley den Hintern hin. Deshalb hatten’s die Sanis auch nicht eilig, ihm ’ne Mund-zuMund zu verpassen. Hatten Schiß vor AIDS. Die haben inzwischen alle ’ne Alarmanlage in ihre Ärsche eingebaut. Soviel ich weiß, gibt’s in unserer Stadt jetzt ein halbes Dutzend Fälle, alles Typen, die sich’s woanders geholt haben. Ist wie Herpes – eine echte Geißel der Menschheit. Na ja, eine ordentliche Schreckensmeldung und die Zeitungen gehen weg wie blöd. Tatsache ist, man kriegt’s nur von bestimmten Sachen: dreckigen Spritzen oder Schwänzen im Arsch. Was Junkies und Scheißeschieber fertig macht, kann uns nichts anhaben, was, Süße?« Kissy schälte seine unternehmungslustige Hand von ihrem Knie. Horgan war Anfang vierzig, verheiratet und bekam allmählich eine Glatze. Er war einer von denen, die vor lauter Angst, ihr Leben wäre gelaufen, nach jeder Titte und Arschbacke griffen, die ihnen unter die Hände kam. Es mußte sich bei diesem Verhalten um einen tief verwurzelten männlichen Instinkt handeln, da so viele davon befallen waren: von der schlagartigen, unumstößlichen Erkenntnis, daß alles, was sie gegen den weichenden Haaransatz, den schwellenden Bauch,
die abgekämpfte Ehefrau und Kinder im Teenageralter zu tun brauchten, ein – selbstverständlich – heißer Fick mit einer jungen Frau war. Oder, wie Latham meinte, mit einem jungen Mann. Sie hätte gern ein wenig Verständnis für ihn aufgebracht, aber in erster Linie tat er ihr leid. \8[ »Schon jemand seinen Senf dazugegeben?« Pearce hielt Burke das Titelblatt einer Zeitung unter die Nase. Es zeigte ein über die ganze Seite reichendes Foto Burkes, der den leblosen Donnie Herbert beatmete. Die Zeitung stammte aus dem Münzkasten auf dem Bürgersteig vor dem Polizeirevier. Pearce hatte sie gerade gezogen. Es war der Morgen nach dem Brand und sie kamen früher vom Dienst. Das war nur der Anfang des Gequatsches, das Burke demnächst von Seiten der Kollegen über sich würde ergehen lassen müssen, dennoch grinste er. Es war ihm nicht gelungen, Donnie Wachzuküssen, aber er war schließlich kein Märchenprinz und Donnie ganz bestimmt keine Prinzessin. Eine Schwulenqueen vielleicht. Der Einzige, dem er etwas Gutes getan hatte, war er selbst. Mit den Spitzennoten seines Examens an der Polizeiakademie und dem anerkennenden Vermerk in seiner Akte sollte der Beförderung nichts mehr im Wege stehen, wenn Don Harkness im Juli seinen Abschied nahm. Seine Leute würden begeistert sein. Seine Mutter würde sofort anrufen, wenn sie das sah. Sie würde sich bei der Zeitung einen Abzug besorgen, ihn einrahmen und neben die Bilder und Auszeichnungen des Alten hängen. Sein Alter war mit fünfundzwanzig Sergeant geworden. Aber er hatte auch nicht gleichzeitig die juristische Fakultät besucht. Statt dessen hatte er Frau und Kind gehabt. Und war zu der Zeit noch nicht in die Flasche gefallen. Auch er würde ans Telefon kommen, um zu gratulieren. Und den alten Mann stolz auf sich zu machen, bedeutete Burke wirklich alles. Seit dem nächtlichen Einsatz in Clooties Wohnung hatte er nichts mehr von Kissy gehört. Jetzt, Monate danach, verhalf sie ihm auf die Titelseite, und dann saß sie auch noch am Tresen, als er einen Tag später zu Denny’s ging, um eine Hamburger-mit-Pommes-Mission zu erfüllen.
»He!«, begrüßte er sie. »Sie haben was bei mir gut. Meine Mutter ist ganz hingerissen von dem Bild.« Kissy lachte. »Gern geschehen. Mein Redakteur auch, also haben wir jetzt wohl beide ein paar Steinchen im Brett.« »Dann arbeiten Sie inzwischen bei der Zeitung?« »Es ist nur ein Praktikum.« »Ich finde, Sie machen das hervorragend.« Sie zuckte mit den Schultern. »Danke.« »Wann soll eigentlich die Gerichtsverhandlung in der HoustonSache stattfinden?« »Im Sommer, soviel ich gehört habe. Wird sich wohl noch eine Weile hinziehen.« »Wahrscheinlich.« Die Hocker neben ihr waren besetzt, niemand machte Anstalten aufzustehen. »Wir sehen uns. Viel Glück beim Job.« Sie lächelte warm. Burke fand einen freien Tisch und schlug die Zeitung auf. Er hätte sie auffordern können, ihm Gesellschaft zu leisten, aber am selben Tisch zu sitzen erweckte vielleicht den Eindruck, sie hätten was miteinander. Nebeneinander am Tresen – das konnte purer Zufall sein. Besser, sie waren lediglich Bekannte. Spekulationen das mit dem Foto könnte eine abgekartete Sache gewesen sein, konnte er absolut nicht gebrauchen. Als er wenig später zufällig zu ihr hinübersah, verschwand gerade das letzte Stück Hamburger in ihrem Mund. Sie schob mit dem Finger nach, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. All das, ohne von ihrem Buch aufzuschauen. Ihr Mund glänzte feucht. Burke atmete tief durch, doch schon bald riskierte er den nächsten verstohlenen Blick. Clootie sorgte ab und zu für Gerede. Klar, ein mieser kleiner Dealer, der sogar damit angeben würde, dem Papst Shit zu verkaufen, war wohl die unzuverlässigste Quelle auf Gottes weiter Erde. Bei Clootie ging es meistens um Joints, was nach Burkes Erfahrung bedeutete, er setzte hin und wieder ein bißchen Ganja in Brand. Wie fast alle Studenten. In dem Moment löschte eine überwältigende Erinnerung jeden vernünftigen Gedanken in seinem Kopf aus, und das nicht zum ersten Mal: die Ankunft in Clooties Wohnung, der Anblick ihres Körpers, sekundenlang für sie alle zu sehen. Der Kontrast zwischen dem wei-
ßen Haar auf ihrem Kopf und dem glänzenden schwarzen Pelz zwischen ihren Beinen. Jeder hatte sie angestarrt. Und die Luft in dem Raum, der Geruch nach Schweiß und Sex – ebenso betäubend wie eine Marihuanazigarette. Auch Clootie hatte sich ihnen im Adamskostüm präsentiert. Der Legende nach war das Maskottchenkostüm in der Halloween-Nacht geklaut worden. Für eine Schwarze Messe auf dem Ball in der Kunstakademie – dem Homo-Schwof, wie sie dazu sagten – , bei der Kissy auf dem Altar gelegen und Clootie im Maskottchenkostüm den Dämon gespielt haben sollte. Burke hielt die Geschichte für möglich. Sich der verräterischen Röte auf seiner Brust und in seinem Gesicht deutlich bewußt, war er bei dem Gedanken nicht nur an Kissy, sondern an Kissy mit Clootie mehr als nur ein bißchen erregt. Großer Gott, dachte er, reiß dich bloß zusammen! Mrs. Burkes Goldjunge leidet schließlich nicht an ejaculatio praecox. Diese rothaarige Anwaltsgehilfin, Penny, die letzten Freitag während der Happy Hour im Bird’s mit ihm geflirtet hatte – sie sah eigentlich aus, als könnte sie ein Diktat vertragen. Vorsichtig riskierte er noch einen Blick in Kissys Richtung. Das Rauschen des Wassers ließ darauf schließen, daß Kissy unter der Dusche stand. Auf der Küchentheke lagen mehrere Schwarzweißaufnahmen im Format 20x25, angeordnet wie eine Patience. Ihre Projektarbeit, ihr Beitrag zur Ausstellung der Kunstakademie, die sie hatte mitbringen und ihm zeigen wollen. Junior lehnte seinen Stock an die Theke, warf Maske und Handschuh in den Schaukelstuhl. Es war eins jener Spiele gewesen, die ihn an der Richtigkeit seiner Berufung zweifeln ließen, aber zum Glück handelte es sich nur um eine Freizeitmannschaft, bei der er zum Spaß mitmachte. Die Fotos waren fertig, bereit für den Wechselrahmen. Es war ein seltsames Gefühl, sich selbst darauf abgebildet zu sehen, manchmal nur Teile des eigenen Körpers. Wenn nichts anderes als die Großaufnahmen ausgestellt werden würden, würde er nicht zu erkennen sein – auf den anderen allerdings schon, und die schien sie auch zeigen zu wollen. Das Rauschen hörte auf, dann steckte Kissy den Kopf zur Tür hinaus und meinte, während sie ihre Haare abrubbelte: »Was hältst du davon?« »Tausendmal besser als die Wirklichkeit«, gab er lakonisch zurück.
Sie war nackt, ihre Haut feucht und rosig vom Duschen, aber sie schien sich dessen nicht bewußt zu sein. Ihr Blick wanderte von Junior zu den Fotos. »Sie sind gut. Richtig gut.« »Du hast die Erlaubnis bekommen, sie aufzuhängen.« »Ja.« »Dazu mußtest du sie jemandem zeigen. Herrgott noch mal! Ich kann nicht glauben, daß du das getan hast!« Sie schleuderte das Handtuch von sich wie ein Boxer, der in den Ring steigen will. »Du wußtest doch, daß ich Fotos von dir mache.« »Aber nicht, daß du Abzüge davon machst, geschweige denn, daß dir irgendein Blödmann erlaubt, sie aufzuhängen.« Kissy stolzierte an ihm vorbei auf die Theke zu. Nachdem sie die Aufnahmen in Seidenpapier eingeschlagen und gestapelt hatte, schob sie sie in eine Tragebox. »Du hast das halbe Leben splitternackt oder mit nichts als einem Unterleibsschutz in Umkleideräumen verbracht. Mindestens drei Dutzend Eis-Hockeyspieler, ein halbes Dutzend Coaches, Trainer, Co-Trainer und Dutzende von großkotzigen, spendablen Ehemaligen haben dich im Adamskostüm gesehen…« »Nicht mit einem Ständer!«, fiel Junior ihr ins Wort. »Bleib fair, Kissy, ja? Würde es dir vielleicht gefallen, wenn ich meine Brieftasche raushole und Pornofotos von dir rumzeige?« »Das sind keine Pornofotos. Latham meint, es wären klassische Lebend-Studien.« Latham. Na klar. »Latham ist schwul, der hatte vermutlich selbst ’nen Steifen. Mein Gott – du hast sie Latham gezeigt?« »Er ist mein Studienberater, er mußte sie erst für gut befinden…« »Wenn du diese gottverdammten Fotos ausstellst, ist es mit uns beiden vorbei.« Kissy erstarrte. »Jetzt halt aber die Luft an, Junior, spinnst du?« »Du hast mir einmal erzählt, die ethischen Grundsätze eines Fotografen würden ihm verbieten, die Fotos eines anderen Menschen zu verwerten, ohne daß der Betreffende einverstanden ist.« Ihr zorniger Blick umwölkte sich, dann wandte sie ihn ab. Nach kurzem Schweigen räumte sie ein: »Ja. Das stimmt.« »Du bekommst mein Einverständnis nicht.« »Du willst das nicht für mich tun?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Und es ist auch nicht fair, es von mir zu verlangen.« Sie drehte ihm den Rücken zu und suchte ihre Kleidungsstücke zusammen. Plötzlich brach sie in Tränen aus. »Es sind meine Fotos. Meine Arbeit. Das ist nicht fair!« »Ohne mich würde es sie nicht geben. Kissy – du hast einfach kein Recht, mir das anzutun.« Sie biß sich auf die Lippe und ließ den Kopf hängen. Kissy streckte die Waffen. Er kam sich wie ein Scheißkerl vor. Hätten Brenda und Zoo nicht gerade an dem Wochenende in New Haven geheiratet, an dem die Kunstausstellung begann, hätte er sich einen anderen Grund ausdenken müssen, um nicht in der Stadt zu sein. Kissy behauptete, wegen der vielen Arbeit nicht mitfahren zu können, aber er glaubte, sie hatte einfach keine Lust. Sie war mit seinen Freunden nie richtig warm geworden – genauso wenig wie er mit ihren. Im letzten Moment hätte er sie beinah angefleht, trotzdem mitzukommen, sich Krankzumelden oder eine andere Ausrede zu erfinden und ihn zu begleiten. Doch er hatte es nicht getan. Er hatte sie liebevoll geküßt, ihr gesagt, wie sehr sie ihm fehlen würde, den Kleidersack mit dem geliehenen Smoking auf der Rückbank von Dionnes Wagen verstaut, es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht, sich angeschnallt und sie am Straßenrand zurückgelassen. Seit seiner Weigerung, zwei der Fotos aufhängen zu lassen, hatten sie sich gegenseitig darin übertroffen, nett zueinander zu sein. Sie, indem sie sich alle Mühe gab, nicht wie eine beleidigte Leberwurst auszusehen, er, indem er so tat, als wäre nichts geschehen. Aber die Narbe war da. Ein kalter Fleck. Alles, wovon er Gebrauch gemacht hatte, war sein Recht auf Verweigerung gewesen. Es bestand kein Grund für ihn, sich wie ein selbstsüchtiger Schweinehund zu fühlen. Sie hätte ihn nicht um etwas bitten sollen, das er ihr unmöglich geben konnte. Als er im Wagen saß und an dem Joint zog, den Dionne angesteckt hatte, kaum daß Kissy außer Sichtweite gewesen war, spürte er das Ruckeln des Brückenbodens unter den Rädern plötzlich bis in die Knochen hinein. Er starrte auf den Fluß hinab. Nach einer Weile durchzuckte ihn vollkommen unerwartet das Gefühl zu fallen und er
fuhr zusammen. Es war die altbekannte Empfindung, die jeder von Zeit zu Zeit hatte, wenn er langsam in den Schlaf hinübertrieb. Doch Junior war nicht schläfrig. Im Gegenteil, alles wirkte unglaublich real. Wie in einem 3-D-Film. Die Eindrücke hatten eine solche Intensität, daß es fast unheimlich war. Er konnte das Wasser riechen, er spürte, wie es sich vorwärts schob wie ein riesiges Tier, das sich zusammenkauerte, um im nächsten Moment zum Angriff überzugehen. Er schwitzte: am Haaransatz, unter den Armen, bis in die Arschfalte hinein. Sein Magen fühlte sich an wie ein faules Ei. Der Versuch, die Gedanken zu sammeln, war wie die vergebliche Mühe, ein Puzzle aus lauter pechschwarzen Teilchen zusammenzusetzen, die ihm durch die Finger rannen, finster wie der Fluß. Dann wich die Übelkeit schlagartig dem rasenden Verlangen, das Gesicht zwischen Kissys Beinen zu vergraben, wo schwarzes Haar seine Zähne umfloß. Er kicherte matt, entsetzt über die Erkenntnis, daß er die falsche Richtung erwischt hatte und nicht mehr umkehren konnte. Als sie nach der Eröffnungsfeier nach Hause kam, war niemand dort außer Ed, doch das war eine regelrechte Erleichterung. Kissy fühlte sich vollkommen ausgepumpt. Sie nahm Ed zum Laufen mit. Sieben Kilometer quer durch das Valley, eine lange heiße Dusche, einen Teller Pasta, ein Glas Wein – und sie glaubte allmählich wieder, ein menschliches Wesen zu sein. Mit dem Einschlafen würde es jedenfalls keine Probleme geben. Irgendwann Sonntagnacht polterte Junior die Treppe hinauf. Er riß sich die Kleider vom Leib und kroch am ganzen Leib zitternd neben ihr unter die Decke. Als er sie umklammerte, spürte sie seine Gänsehaut. Es war, als hätte ihn der Kopflose Reiter persönlich nach Hause gejagt. Er sagte weder ›hallo‹ noch ›schön dich zu sehen‹. Genau wie sie. Es war eine Begegnung ohne Worte. Es war eine Kollision. Sie lag auf dem Rücken, eine Hand unter dem Kopf. Er packte ihre Hüften und hob sie ein Stückchen hoch. Während ihre Becken kaum merklich im selben Rhythmus kreisten, beugte er den Kopf über ihre Achselhöhle und ließ seine Zunge darüber gleiten. Dann brachte er sein Gesicht dicht an ihres. Auf seinen Lidern, über der Oberlippe, an seinem Hals glänzte Schweiß. Er leckte sich über die Lippen und suchte ihren Mund. Träge wie eine beschworene Schlange strich seine Zunge um ihre
herum. Wenig später riß er ihren Körper mit einem Schrei von der Matratze und drückte ihn gleich darauf wieder nach unten, während er auf ihr zusammenbrach. Sie folgte der Bewegung mit der Leichtigkeit eines Blattes, das sich im Herbststurm vom Boden erhebt. Er griff nach ihrer Hand und murmelte »Mein Gott, Baby, ich liebe dich!« in ihr feuchtes Haar. Sie streichelte sanft seinen Nacken. »Schhh.« »Sie werden wahrscheinlich nicht lange bei uns sein«, sagte Earl Fisch, der Chefredakteur, »aber Sie können hier solide Grundkenntnisse erwerben.« Was im Klartext Bezahlung auf Anfängerniveau bedeutete. Kissy dankte ihm. Sie konnte sich nicht beklagen. Die Zeitung bot ihr gelegentlich Aushilfsjobs an, hatte ihr die Praktikantenstelle gegeben; die Kritiker hatten ihre Arbeit gelobt. Was sie verdienen würde, mußte gerade so für ihren Lebensunterhalt reichen. Als sie Earls Büro verließ, war sie schrecklich aufgeregt und konnte es kaum erwarten, Junior die gute Neuigkeit mitzuteilen. Er hatte sie die ganze Woche belagert wie ein Rentner, der nicht wußte, wohin mit seiner Zeit. Er redete wie ein Wasserfall: über die Hochzeit von Brenda und Zoo; über die Statue aus purem Eis; über die acht Brautjungfern; über Zoos neunjährigen Neffen, der beim Hochzeitsempfang so viel Hors d’œuvres gegessen hatte, bis er kotzen mußte. Offenbar wollte er sie krampfhaft davon überzeugen, daß er jede Menge Spaß gehabt hatte. Nur auf der Matratze hielt er die Klappe. Die wortlose Leidenschaft von Sonntagnacht wiederholte sich jeden Tag. Kissy machte sich keine großen Gedanken deshalb. Sie wußte, daß er wegen der verweigerten Aufnahmen ein schlechtes Gewissen hatte. Außerdem machte er sich Sorgen darüber, wie es im Sommer weitergehen sollte, ob er im Trainingscamp gut genug sein würde, um in die ProfiLiga aufzusteigen, ob es ihrer Beziehung schaden könnte, wenn er fortging. Sie gab ihm, was er wollte, was er zu brauchen schien. Ihre guten Nachrichten hingegen gingen offenbar einfach an ihm vorbei. Als hätte er wichtigere Dinge im Kopf. Sie war unbestreitbar enttäuscht, außerdem ärgerte sie sich. Sie hatte sich immer über seine Erfolge gefreut.
Als sie am Freitagmorgen aufstand, war sie wund, und das Pinkeln tat weh. Zu viel des Guten, mutmaßte sie. Im weiteren Verlauf des Tages wurde ihr abwechselnd heiß und kalt und sie bekam Halsschmerzen. Sie ließ das Krafttraining und die Schwimmübungen ausfallen, ging nicht zu Dionnes großer Party, seinem letzten monumentalen Saufgelage. Erstaunlicherweise unternahm Junior keinerlei Anstrengungen, sie zum Mitkommen zu bewegen. Er ging allein hin, kam früh und stocknüchtern zurück. Er ließ sich neben ihr auf der Matratze nieder und klappte ein Buch auf, blätterte aber keine einzige Seite um; dafür warf er ihr immer wieder verstohlene Blicke zu. Schließlich knipste er das Licht aus und rollte sich auf seiner Seite zusammen, ohne gute Nacht zu sagen. Als sie nach ein paar Stunden wach wurde, war seine Seite leer. Zwei Uhr dreißig, und durch den Spalt unter der Badezimmertür sickerte der süßliche Geruch von Marihuana herein. Sie war so erledigt, daß sie es fast für Einbildung hielt. Sie schlief wieder ein, und als sie am Morgen aufwachte, ging er gerade zur Tür hinaus. Seine Kumpel und er vertrieben sich das Wochenende mit einem Volleyballturnier. Nach der Arbeit am Samstag machte sie einen Abstecher zum Spielfeld, um ein paar Fotos zu schießen. Junior ignorierte sie. Als sie nach Hause kam, war er schon wieder weg. Nach einer Weile, sie dämmerte eben ein, kehrte er zurück. Sie konnte sich nicht aufraffen, um ihn zu fragen, wo er gewesen war. Statt dessen drehte sie sich auf die Seite und fiel fast augenblicklich in tiefen Schlaf. Das Klirren von zerbrochenem Glas gefolgt von lautstarkem Fluchen weckte sie am nächsten Morgen auf. Obwohl ihr der Schreck noch in allen Gliedern saß, waren ihre Ohren durchaus in der Lage, als Quelle des Desasters das Bad auszumachen. Ed rappelte sich mühsam hoch, trottete hinter ihr her. Im Badezimmer stand Junior, ein Handtuch um die linke Faust gewickelt. Die Spiegeltür des Medizinschränkchens hing nur noch an einem Scharnier. Er packte sie mit der Rechten und riß sie vollends ab. Kissy nahm Ed am Halsband, damit er nicht zu Junior laufen und sich Glassplitter eintreten konnte. »Halb so wild«, meinte Junior. »Nur ein paar Kratzer auf den Fingerknöcheln.«
»Was ist passiert?« Er starrte die freigelegten Regalbretter an. »Der Schließhaken hat geklemmt, war einfach nicht aufzukriegen. Ich wollte das Aspirin rausholen und hab bloß versucht, den Haken von außen los zu klopfen, das ist alles. Ein kleiner Unfall…« Er verstummte, während sein Blick zu der umwickelten Faust wanderte. Kissy streckte die Hände aus, um das Handtuch vorsichtig abzunehmen und die Schnittwunden zu untersuchen, doch er riß seinen Arm weg. »Geh wieder ins Bett«, sagte er. »Ist wirklich nicht so schlimm. Ich kümmere mich schon drum.« Sie tat, was er sagte, und er ihres Wissens auch. Was immer sie sich eingefangen hatte, ihr Körper kämpfte nach wie vor dagegen an. Eine Erkältung war es nicht, jedenfalls hatte sie keinen Schnupfen. Nur ihre Halsdrüsen waren geschwollen, und die abwechselnden Hitzewallungen und Kälteschauer bewiesen, daß etwas im Gange war. Dieses Etwas schien sich auf ihre Blase zu konzentrieren. Sie überlegte, ob sie es sich beim Schwimmen geholt haben konnte. Aus Angst jemanden anzustecken, hielt sie sich vom Schwimmbecken fern. Am Montag hatte sie kein Fieber mehr und ihr Hals fühlte sich halbwegs normal an. Das Wasserlassen war nach wie vor eine abenteuerliche Geschichte. Sie stellte einen schwachen Ausfluß bei sich fest und schloß daraus, daß es sich eventuell um zwei verschiedene Dinge handelte, vielleicht einen gekoppelt mit einer Pilzinfektion. Bisher hatte sie mit Hefepilzen nie Probleme gehabt, aber sie kannte einige Schwimmerinnen, bei denen das der Fall war. Keine hatte je erwähnt, daß es wehtat. Ein Arzt in der Uniklinik, der kaum älter zu sein schien als sie selbst, meinte, er würde sie gern untersuchen, nachdem er ihrer Beschreibung der Symptome aufmerksam gelauscht hatte. Er wirkte ein wenig distanziert, als wäre ihm irgend etwas an ihr unangenehm. Sie überlegte kurz, ob er schwul sein könnte, kam dann aber zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich entweder eigene Probleme hatte oder einfach ein unnahbarer Typ war. Zu ihrem Erstaunen tat die innere Untersuchung weh. Als sie zusammenzuckte, drückte die Sprechstundenhilfe tröstend ihre Hand.
Nachdem sie wieder angezogen war, kam der Arzt mit einer Spritze und einer Ampulle aus dem Nebenraum. Er legte beides auf den Tisch und rang die Hände, als wußte er nicht wohin damit. Dann räusperte er sich. »Haben Sie seit dem Einsetzen der Symptome sexuellen Kontakt gehabt?« Ihre Verblüffung verschlug Kissy einen Moment lang die Sprache. »Soll das heißen, ich habe eine Geschlechtskrankheit?«, platzte sie schließlich heraus. Der Arzt räusperte sich noch einmal. »Eine übertragbare Infektion der Sexualorgane, wie man das heutzutage nennt. Ja, es wäre möglich.« »Ich lebe mit jemandem zusammen. Er ist der Einzige, mit dem – wie soll ich…« »Ich vermute, Sie haben Gonorrhö, Miss Mellors.« Sie fühlte sich sekundenlang wie betäubt. Der Arzt zog einen Stift aus seiner Brusttasche und fixierte sein Klemmbrett. »Genau wissen wir es erst in achtundvierzig Stunden, aber ich werde Sie jetzt schon behandeln. Das Gesetz verlangt, daß ich die Erkrankung melde. Ich werde den Bericht noch zurückhalten, bis die Testergebnisse da sind. Nennen Sie mir alle Personen, mit denen Sie in jüngster Zeit sexuell verkehrt haben.« »Junior«, würgte Kissy mit staubtrockenem Mund hervor. »Clootie.« Mit flinker Hand schrieb der Arzt den Namen auf. »Das buchstabiert man T-O-T«, fügte sie hinzu. Er lachte nicht. »Ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze. Würden Sie bitte die Hüfte freimachen?« Der Einstich tat höllisch weh. Kissy zuckte vor Schmerz zusammen. »Entschuldigung«, murmelte der Arzt. Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Kein angenehmer Job, den Leuten zu sagen, sie hätten den Tripper erwischt. »Sie sollten Ihre sexuellen Aktivitäten einstellen, bis die Testergebnisse wieder negativ sind, oder ein Kondom benutzen…« Sie lachte verächtlich. »So etwas kann auch den nettesten Menschen passieren, Miss Mellors. In gewisser Weise haben Sie sogar Glück. Bei vielen Frauen verursacht die Gonorrhö keinerlei Symptome. Sie bleiben unbehan-
delt, der Erreger läßt die Eileiter verkleben und dann sind sie unfruchtbar. Sie sind rechtzeitig gekommen. Ich kann zwar nicht dafür garantieren, daß kein Schaden angerichtet worden ist, aber Sie haben ihn zumindest erheblich reduziert.« Mit zitternden Fingern knöpfte Kissy ihre Levi’s zu. »Das ist mir ein echter Trost, Doc.« Er gab ihr einige Tabletten, ein Informationsschreiben, eine Nummer, unter der sie das Testergebnis erfragen konnte, und bat sie, einen neuen Termin auszumachen. »Junior war hier, stimmt’s? Als ich zur Tür reinkam, wußten Sie bereits Bescheid, weil er bei Ihnen gewesen ist, ein Test gemacht wurde und er Ihnen meinen Namen gegeben hat. Sie wissen, daß der Test positiv ausfallen wird.« Der Arzt lief rot an. »Miss Mellors…« »Der Mistkerl hätte es mir sagen müssen und hat’s nicht getan. Was hatten Sie vor? Mich in gnädiger Unwissenheit steril werden lassen?« »Es verstößt gegen das Berufsethos, mit Ihnen über einen anderen Patienten zu sprechen.« Er blinzelte heftig. »In Fällen von übertragbarer Infektion der Sexualorgane verlangt ein positives Testergebnis die Mitbehandlung des Partners. Wenn wir tatsächlich Ihren Namen hätten, hätten wir Sie in Kürze verständigt…« »Oh, danke vielmals.« Kissy griff nach ihrer Kameratasche. »Ein weiterer echter Trost.« Sein Glück, daß der feige Mistkerl nicht zu Hause war. Wenn doch, hätte er jetzt dort eine klaffende Wunde, wo sich normalerweise sein Schwanz befand. Vermutlich hatte er sich irgendwo verschanzt und qualmte stinkendes Zeug, um seine Nerven zu beruhigen. Sie brauchte eine Stunde, um ihre Sachen in den Blazer zu laden. Alles bis auf die Stereoanlage und ihre CDs. Die CDs waren mit seinen vermischt, und sie hatte nicht vor, sie jetzt auszusortieren. Sie wollte so schnell wie möglich weg. Ed lief ihr jaulend zwischen den Beinen herum, als spürte er ganz genau, daß sie ging. Ihr Magen war ein großer, harter Klumpen. Sie mußte sich ständig die Augen wischen. Breaking up is hard to do. O ja. Ihre gesamte Kindheit war ein einziger langer Umzug von einem Militärstützpunkt zum nächsten gewesen, so rasch aufeinander, daß
sie häufig nicht einmal die Koffer ausgepackt hatten. Ob Goose Bay, Huntsville oder Fargo – egal welches Klima, die deprimierenden Schuhschachtelwohnungen glichen sich wie ein Ei dem andern. Sie, die Schulen, die Krankenhäuser, alles schien nach demselben linoleumfaden Grundriß gebaut. Sieben oder acht Monate hatten sie damals in Peltry gewohnt, als der große Krach vom Zaun gebrochen war. Eines schönen Abends beim Essen sprach ihr Vater plötzlich von einem neuen Auftrag, der den nächsten Umzug bedeuten würde. Sie hatte zum ersten Mal ihre Periode und dachte nur daran, wie viel schwerer es mit jedem Mal wurde, neue Freunde zu finden. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Als ihr Vater sie daraufhin aufzog und eine Heulsuse nannte, rastete ihr Bruder Kevin aus. Wäre ihre Mutter nicht dazwischengegangen, hätte es eine regelrechte Schlägerei gegeben. Kevin war zu der Zeit siebzehn und stand mit seinem Vater ohnehin schon auf Kriegsfuß. Später im Schlafzimmer hatten ihre Eltern einen schlimmen Streit, der damit endete, daß ihr Vater Türen knallend das Haus verließ, um im Offiziersklub einen zu heben. Rückblickend besaß das Ganze eine betäubende Logik. Ihre Mutter, so vermutete sie, hatte die ständige Umzieherei ebenso satt wie ihr Bruder und sie – und ihr Vater seine Frau und die Kinder. Innerhalb weniger Wochen war die Trennung vollzogen. Eine Frau und zwei Kinder im Stich zu lassen, tat einer Karriere beim Militär keinen Abbruch mehr. Mary Frances hatte ihr Hausfrauendasein inzwischen an den Nagel gehängt und war bis zum Examen bei Latham untergekommen. Aber er wohnte in einem großen Haus und genoß den Ruf, ein gastfreundlicher Mensch zu sein. Kissy fiel nichts anderes ein, wohin sie gehen konnte. Latham war im Garten und mähte den Rasen. Überrascht kniff er die Augen zusammen, als er Kissy aus dem Blazer steigen sah. »Kissy!« Er registrierte ihren Blick, ihre schlaffe Körperhaltung. Sie hatte eigentlich geglaubt, schon absolut am Ende zu sein, doch plötzlich strömten erneut Tränen über ihr Gesicht. Ihr T-Shirt war schon ganz naß. »Das Schwein«, sagte Latham mit ausgebreiteten Armen. »Was hat er getan?« Sie ließ sich von ihm umarmen. »Ich muß ein paar Tage irgendwo bleiben. Nur bis ich etwas anderes gefunden habe.«
»Aber sicher. Schön, daß du da bist. Mary Frances wird ganz aus dem Häuschen sein. Vielleicht kannst du sie aus meiner Küche schleppen…« »Es wird nicht lange dauern, bis ich woanders…« »Kommt gar nicht in Frage. Oh, mein Gott! Du bist doch nicht etwa…« Er erschauerte theatralisch. »Nein.« Er stieß einen gewaltigen Seufzer der Erleichterung aus. Kissy atmete tief durch. Nun, mit einem Dach über dem Kopf, fühlte sie sich ein wenig sicherer. Über dem Garten schwebte der schwere Duft von Flieder. Mary Frances zappelte wie ein Deckel auf einem Topf mit kochendem Wasser. Sie dampfte förmlich vor Freude darüber, Kissy etwas Trost spenden zu können. »Ich will nicht darüber reden«, sagte Kissy, fügte dann aber hinzu, um ihre Worte abzuschwächen: »Jedenfalls nicht im Moment.« »Das verstehe ich doch«, versicherte Mary Frances sofort. Latham drängte ihr ein Glas Wein auf. »Ein Beruhigungsmittel von Mutter Natur.« Dann führte er sie auf ihr Zimmer. Dort angekommen, rauschte er geschäftig wie ein Gastwirt an ihr vorbei, um das Fenster aufzureißen. »Wehe, du rührst eine Tasche an. Das werde ich übernehmen.« Doch sie mußte die Sachen durchsehen, die sie panikartig in den Blazer geworfen hatte, um das herauszusuchen, was sie am nötigsten brauchte. Der Rest konnte warten. Nachdem sie ihren Rucksack und die Kameraausrüstung ins Gästezimmer getragen hatte, warf sie sich auf das Bett. Latham gluckste zufrieden. Eine Weile später erklangen seine Schritte im Flur, gefolgt von einem sachten Klopfen. Sein Kopf erschien in der Tür. »Wie fühlst du dich?« »Prima.« »Tatsächlich?« Er hatte ein Tablett dabei. Noch mehr Wein, eine Tasse Bouillon und Sauerteigbrot, dazu eine Vase mit Flieder und orangefarbenen Tulpen mit Blüten von der Größe eines Kognakschwenkers. Nachdem er eine Serviette über ihre Beine gebreitet hatte, stellte er das Tablett darauf ab. »Ein kleiner Kraftspender,
Schätzchen. Nicht, daß du uns noch vom Fleisch fällst.« Geschmeidig setzte er sich neben ihr in den Lotossitz. »Wenn du darüber reden willst…« »Nein danke, Mami. Es ist alles in Ordnung.« Latham kicherte, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und ging wieder. Kissy schloß sich im Bad ein, duschte eine Viertelstunde lang und fühlte sich immer noch schmutzig. Wieder im Gästezimmer, holte sie das Infoblatt aus ihrem Rucksack, las es sorgfältig durch und steckte es schließlich zurück, um es irgendwo auf dem Campus unerkannt in den Müll zu werfen. Sie legte sich aufs Bett und strich über ihren Bauch, als könnten ihre Finger das Toben der Erreger darin ertasten. Sie war mit Keimen verseucht, die Junior in sie hineingepumpt hatte. In ihren Hals, in ihre Fortpflanzungsorgane. Sie waren in ihre Blase gewandert, in die Nieren, ins Gehirn – in jede Zelle ihres Körpers, mühelos vorangetragen vom unermüdlichen Strom ihres Bluts. Vielleicht waren ihre Eileiter bereits verklebt. Vielleicht war sie jetzt unfruchtbar, konnte nie mehr ein Baby bekommen. Jegliche Gedanken, die sie sich bisher über Babys gemacht hatte, hatten sich darauf bezogen, wie man sie tunlichst vermied. Obwohl sie nicht sicher war, jemals ein Kind haben zu wollen, ärgerte sie sich darüber, daß Junior ihr diese spezielle Variante ihrer Zukunft eventuell verbaut hatte. Sie fühlte sich ausgenutzt und beraubt und plötzlich flossen die Tränen von neuem. Auch das Weinen tat ihr weh. Schnell stand sie auf, um einen Waschlappen mit kaltem Wasser zu tränken und auf ihre schmerzenden Augen zu pressen. Sie mußte diesem Elend ein Ende bereiten. In einer Woche war die Abschlußfeier. Wenn sie bis dahin weiterheulte, würde sie noch aussehen wie Yoda nach einer Mammutsauftour. Sie füllte ihre Lungen mit dem honigsüßen Fliederduft, der durch das offene Fenster strömte, und begann jede einzelne Blüte im Verbund der schwankenden Dolden bis ins kleinste Detail zu visualisieren. Als sie sich konzentrierte, spürte sie deutlich das ruckartige Hämmern ihres Herzens, die Enge in der Brust, den Knoten im Magen, der ihren Mut sinken ließ.
\9[ Im selben Moment, in dem er sich endlich dazu durchgerungen hatte, es ihr zu erzählen, hätte er eigentlich wissen müssen, daß es zu spät war. Als Ed ihn an der Tür hörte, begann er aufgeregt zu bellen – was bedeutete, daß er allein war. Juniors Magen krampfte sich zusammen, teils aus Erleichterung, teils aus Panik. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes um festzustellen, daß außer der Stereoanlage und den CDs ihr gesamter Kram verschwunden war, ohne Zweifel in größter Eile zusammengepackt. Ed schaute ihn mit vorwurfsvoller Trauermiene an. Er warf einen Blick ins Bad, nur um sicherzugehen. Zahnbürste, Shampoo, Make-up, das Zeug, das sie sich immer in die Haare schmierte, die zerlumpten Handtücher – nicht mal ein verirrter Tampon war noch da. Er hätte gern irgendwo gegen getreten, aber es gab nichts außer den wenigen Möbelstücken oder Ed, und Ed hatte es nicht verdient, getreten zu werden. Eine Fensterscheibe zum Eintreten hätte er vermutlich auftreiben können, aber was er wirklich wollte, war, den Mond vom Himmel reißen. Dionne mit seinem Scheißjoint, den sie sich unbedingt hatten reinziehen müssen – Scheißdionne mit seinen Scheißnutten auf Zoos Junggesellenparty. »Nutten sind super«, hatte Dionne gesagt, »mit Nutten macht’s Riesenspaß. Das Leben ist kurz, Mann, eines Tages wachst du auf und bist fünfzig. Willst du dich dann in den Arsch beißen, weil du so viel verpaßt hast?« Er war high gewesen und hatte das alles ganz plausibel gefunden. Kissy und er waren schließlich nicht verheiratet, sie besaß nicht die Alleinrechte an seinem Schwanz. Er war geil. Er fühlte sich eingeengt. Er brauchte ein bißchen Abwechslung, um sich zu beweisen, daß er nicht auf sie angewiesen war. Außerdem dachte er: Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Dionne, Scheißdionne. Das Arschloch war zu Hause. Unrasiert und leicht verkatert öffnete er Junior die Tür. »Hi« Juniors Faust krachte mitten in sein Gesicht. Blutüberströmt taumelte Dionne zurück.
Junior marschierte an ihm vorbei auf den Kühlschrank zu, in dem sicherlich so etwas wie Bier zu finden war. »So’n Scheiß!«, kreischte Dionne und torkelte hinter ihm her. »Wie geht’s deinem Schwanz, Arschloch?«, zischte Junior. »Oder bist du zu blöd, um was zu merken?« Dionne verteilte mit dem Unterarm das Blut über sein Gesicht, die andere Hand griff nach seinem Schritt. »Ist dir etwa ’n Bazillus den Arsch raufgekrochen?« »Den Schwanz! Und zwar der Tripper, den mir die beschissene Nutte angehängt hat. Du hast sie auch gebumst, also muß es dich auch erwischt haben.« »Tripper?« Dionne runzelte die Stirn. »Sicher?« »Das Testergebnis in der Klinik war positiv.« Nachdenklich seine Geschlechtsteile quetschend ging Dionne zum Spülbecken und starrte den Wasserhahn an, bis ihm der Grund seiner Mission wieder einfiel. Er ließ Wasser laufen, hielt einen Lappen darunter und wischte sich damit die Nase ab. »So’n Scheiß«, wiederholte er. »Woher weiß man das man’s hat?« »Fühlt sich an, als ob du Rasierklingen pissen würdest.« Dionne warf den Lappen ins Spülbecken, öffnete den Reißverschluß seiner Hose und zielte auf den Abfluß. Nachdem er einen mickrigen Strahl zustande gebracht hatte, packte er sein bestes Stück mit weisem Nicken wieder ein. »Stimmt. Ich schätze, es piekst ein bißchen.« Seine Miene hellte sich auf. »Dann krieg ich Penicillin und die Sache ist gegessen, oder? Ist doch klasse.« Nun, da das Problem gelöst war, konnte er sich wieder auf Junior konzentrieren. »Mensch, mir sind schon Tote unter die Augen gekommen, die haben besser ausgesehen als du. Hat’s dich so schlimm erwischt?« »Hast du noch Gras?« Dionne holte ein Bier aus dem Kühlschrank und machte es auf. »Wir hatten ’ne Party, weißt du noch? Hat sich alles in Rauch aufgelöst, Goldstück. Was ist denn los?« Zusammengekrümmt, als hätte er eine Bauchverletzung, schlich Junior zum nächsten Stuhl. »Kissy hat mich verlassen.« Die Worte kamen ihm viel schwerer über die Lippen, als er gedacht hatte. Dionne mußte die Information erst verdauen, dann platzte er heraus: »Wenn schon. Zum Teufel mit ihr.«
Juniors Augen wurden feucht. Dionne ließ sich auf den Stuhl neben ihm plumpsen. »Sei froh, daß du sie los bist, Kumpel. Weiber nutzen sich ab, Mann. Und ausnutzen tun sie einen auch, wenn man sie läßt.« Er zuckte in weltverdrossener Resignation mit den Schultern und fühlte sich unvermittelt zu den trostspendenden Worten bewegt: »Auf der Erde wimmelt’s von Muschis. Zu dumm, daß sie alle an irgend ’ner Schlampe dranhängen.« Doch Junior war nicht in Stimmung für philosophische Ergüsse. »Ich brauch was, um mich zu besaufen.« »Hört sich gut an.« Dionne kratzte sich erst hinterm Ohr, dann am Schritt. »Wie viel kannst du anlegen?« Junior leerte Geldbörse und Jackentaschen und begann zu zählen. Dionne ebenfalls. »Was ist dir lieber? Versaufen oder verrauchen?«, fragte Dionne. »Versaufen. Hält länger an.« Dionne grinste. »Wir hören erst auf, wenn sie uns in den Knast schleppen.« Die Tür schien zu schwanken, als Junior die Hand nach ihr ausstreckte. Auf der anderen Seite bellte Ed wie ein Wahnsinniger. Seit Kissys Abgang war der Hund in der Wohnung eingesperrt. Drei Tage. Drei Nächte. Junior hatte den Verdacht, daß das Tier sich nicht anders fühlte als er selbst. Von den Toten auferstanden. Angeschimmelt. Wacklig auf den Beinen. Verwirrt. Und sein Körpergeruch war vermutlich auch nicht besonders angenehm. Vermutlich stank er wie ein halb abgenagter Knochen, den Ed gerade ausgegraben hatte. »Ist ja gut«, murmelte Junior, doch das durchdringende Gebell hörte nicht auf. Sobald er mit einer Hand mühsam den Knauf umfaßt hatte, zielte die andere mit dem Schlüssel. Junior brauchte mehrere Anläufe, bevor das Ding endlich im Schlüsselloch verschwand. Das nächste, was er mitbekam, waren eine unsanfte Landung im Flur und Ed, der über ihn hinweg ins Treppenhaus sprang. Dionne, der sich neben der Tür zusammengekauert hatte, um für den Fall eines Sturzes dem Erdboden näher zu sein, lachte wie ein Irrer.
Hintereinander krochen sie in die Wohnung, doch schon bald schien es ratsamer zu sein, aufzustehen. Der Boden war übersät mit Eds Haufen und Pinkelpfützen. »Mein Gott«, schimpfte Dionne, »ist das ekelhaft! Eds Darm muß so groß sein wie der Eisenhower Tunnel!« Junior holte eine Mülltüte sowie einige Zeitungen und versuchte sauberzumachen. Er fand Eimer und Wischmob, schüttete eine Ladung Mr. Clean ins Wasser und begann den Mob herumzuschieben. Ed stand unterdessen vor der offenen Wohnungstür im Treppenhaus und las ihm knurrend und bellend die Leviten wie ein zänkisches Weib. Plötzlich verlor Junior das Gleichgewicht. Sein Fuß stieß gegen den Eimer und warf ihn um. Der Mob glitt ihm aus der Hand, als er auf dem Hintern landete und durch den Hundekot rutschte. Dionne, der ihm aufzuhelfen versuchte, geriet ebenfalls ins Taumeln und fiel auf den Rücken. Junior kam aus eigener Kraft auf die Füße und begann in Skateboardmanier durch die Suppe aus Kot, Urin und Seifenwasser zu schlittern, die den Boden bedeckte. Jauchzend schloß Dionne sich ihm an. Sie hörten erst auf, als sie vor Anstrengung hochrote Köpfe hatten. »So’n Scheiß.« Dionne umklammerte keuchend seine Knie. »Laß uns die Stereoanlage verscheuern und Shit dafür kaufen.« Er fing an, die Kabel aus den Rückseiten der Lautsprecher zu reißen. Es dauerte zehn Minuten, bis sie die einzelnen Teile durchs Treppenhaus und in Dionnes Wagen geschafft hatten. Auf den untersten Stufen rutschte Junior aus, so daß der zweite Lautsprecher unsanft auf den Boden krachte. Als sie ihn wieder aufhoben, gab er ein ominöses Rappeln von sich. »Der ist hinüber«, bemerkte Junior genervt. »Mack wird’s schon nicht merken.« »E-ed!«, brüllte Junior. Der Hund kam um die Ecke gerast und hätte Junior beinah ein zweites Mal umgerannt. Dann sprang er mit Riesensätzen davon. »Das Eingesperrtsein hat ihn wohl um den Verstand gebracht. Großer Gott!« Dionne erstarrte in Ehrfurcht. »Er tut’s schon wieder! Sieh dir das an. Der ist riesiger als dein Kopf! Dein Hund bringt größere Scheißhaufen zustande als du, Clootie!«
Junior rief Ed noch einmal. Diesmal gelang es ihm, das Tier neben die Anlage in den hinteren Teil des Wagens zu bugsieren. »Der wischt sich den Hintern am Verstärker ab«, sagte Dionne. »Na ja – Mack wird’s schon nicht merken.« Mit dem Geld finanzierten sie den Besuch bei einem Kerl, den sie kannten. Auf dem Rückweg hielten sie an einem 7-Eleven, um Bier zu kaufen. Da Juniors Wohnung näher lag, fuhren sie zu ihm. Dort angekommen, füllten sie Eds Freßnapf mit Bier. Der Geruch machte sie so durstig, daß sie sich auf die Knie fallen ließen und die Flüssigkeit gemeinsam mit dem Hund aufschlabberten. Ed, der das Ganze für ein Spiel zu halten schien, stieß von Zeit zu Zeit ein begeistertes Bellen aus. Junior und Dionne stimmten ein. Anschließend schoben sie einen Joint hinterher und spülten mit Bier nach. Am nächsten Morgen war kein Bier mehr da. Sie rauchten eine letzte fette Tüte und machten einen Wettbewerb daraus, wer seine Zunge am weitesten in einen leeren Flaschenhals stecken konnte. Wie gewöhnlich gewann Junior, doch diesmal schien es seine ohnehin schlechte Laune nur zu verschlimmern. Er schleuderte die Flasche gegen die Wand. Der Knall klang derart gut, daß Dionne seinem Beispiel folgte. Es war höchste Zeit, für Nachschub zu sorgen. Sie sammelten die Pfandflaschen ein, Junior packte den Rest des Stoffs in eine Tüte und – für den Fall, daß jemand einbrechen und das Zeug klauen würde – versenkte sie in seiner Hosentasche. Dann warfen sie eine Münze, um zu ermitteln, wer fuhr. Die Wahl fiel auf Junior. Sie merkten weder, daß die Wohnungstür nicht ins Schloß gefallen war, noch daß der Hund hinter ihnen herlief. Dionne warf die Plastiktüte mit den leeren Flaschen auf den Rücksitz, Junior setzte sich ans Steuer und legte den Rückwärtsgang ein. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, ertönte erst irgendwo in ihrem Rücken Eds Gebell, dann gab es einen Ruck. Einen richtig heftigen Rums, als wäre eine Ladung Müllsäcke aus der Heckklappe gerutscht und der Wagen rückwärts hinein gefahren. Junior hatte Schwierigkeiten, die Tür aufzubekommen, der Wagen rollte immer noch. Dionnes Hand suchte den Schalthebel und brachte ihn genau in dem Moment in Parkposition, als die Fahrertür aufsprang und Junior hinausfiel. Bebend kam der Wagen zum Stehen. Junior kroch nach Ed schreiend auf dem Boden herum.
Wenig später hielt er ihn in den Armen. Eds Zunge hing schlaff aus dem Maul, der allgegenwärtige Sabber war rosa gefärbt, die Augen so tot wie schales Bier. »O Mann!«, stöhnte Dionne. Junior versuchte aufzustehen, versuchte den Hund hochzuheben, doch er wog beinah so viel wie er selbst. »Wir müssen ihn zum Tierarzt bringen«, schluchzte er. Dionne half Junior, Ed in den Wagen zu schaffen – ein ebenso schwieriges Unterfangen wie der Versuch, ein sperriges Sofa eine Wendeltreppe hinaufzuschleppen. Dann setzte Dionne sich ans Steuer, Junior blieb hinten bei dem Hund. Dionne drückte das Gaspedal durch und der Wagen schoß los. Sie nahmen die Kurven auf zwei Reifen, rote Ampeln beachteten sie nicht. Vier von ihnen hatten sie bereits hinter sich gelassen, ehe Dionne klar wurde, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, wo sich ein Tierarzt oder eine Tierklinik befand. Er bremste scharf ab, stieg aus und ging zu Junior, der mit dem Hund im Arm auf der Ladefläche lag. Eds Körper war schlaff, und als Junior sich aufrichtete, um Dionne anzuschauen, fiel sein Kopf leblos auf seine Brust. Für Dionne war offensichtlich, daß Ed sein Bier jetzt im Köterhimmel schlabberte. »Junior, er ist tot. Der Hund ist verdammt noch mal mausetot!« »Nein!«, heulte Junior auf. »Beeil dich! Der Tierarzt kann ihn retten!« Dionne stand einfach nur da. Junior flennte. Junior hatte in den letzten Tagen des Öfteren geflennt und Dionne war das Geflenne allmählich leid. »Du hättest besser aufpassen müssen!« Plötzlich packte ihn kalter Zorn. »Scheiße, Arschloch, du hast Ed umgebracht! Du hast deinen eigenen Hund umgebracht!« Das Gesicht in Eds blutgetränktem Fell vergraben, begann Junior noch heftiger zu schluchzen. Dionne stieg wieder ein. Er hatte keine Ahnung, wo er hinfahren sollte, aber eins war ihm sonnenklar: von Junior-Scheißtyp-Clootie und seinem gottverdammten toten Köter hatte er die Nase gestrichen voll. Die Schlampe war voll auf dem richtigen Dampfer gewesen, den winselnden, tripperverseuchten Blödmann in den Wind zu schießen. Er fuhr langsamer, um sich zu orientieren. Er brauchte einen Plan. Er zerrte am Rückspiegel, um Junior besser sehen zu können.
Der Spinner hatte sich inzwischen hingesetzt, kraulte dem toten Hund das Fell und quasselte auf ihn ein. Vermutlich flehte er ihn an, von den Toten aufzuerstehen oder ihm zu vergeben oder irgendeinen anderen verrückten Scheiß in der Art. Dionne hatte die Kreuzung schon fast überquert, als ihm das Schild PELTRY DAILY NEWS an dem rosafarbenen, mit Stuck verbrämten Eckgebäude auffiel, an dem er gerade vorbeigekommen war. Rechter Hand lang das Bürgerzentrum, ein bemerkenswert häßlicher Bau, der wie ein aus grellbunt aufgemotzten Spielkarten zusammengesetztes Kartenhaus aussah. Davor stand die zehn Meter hohe Statue eines sagenumwobenen Holzfällers namens Peter Gallouse. Er besaß frappierende Ähnlichkeit mit Charles Manson und tobte durch die Albträume vieler Kinder der Stadt. An den hiesigen Oberschulen ging das Gerücht um, er verwandle sich an Halloween in einen Killerclown, doch wer diese Mutation selbst miterlebt haben wollte, gab letztendlich zu, das Gerede diene hauptsächlich der Abschreckung. Das Interessante am News-Gebäude, fiel Dionne wieder ein, war der Umstand, daß Juniors Schlampe dort arbeitete. Er wendete und fuhr zurück. Der Mitarbeiterparkplatz befand sich direkt neben dem Haus. Er klapperte die Fahrzeugreihen eine nach der anderen ab, bis er ihren Blazer entdeckt hatte. Dann stellte er sich dahinter und stieg aus. »Los, Blödmann«, sagte er zu Junior. »Nimm deinen verfluchten toten Köter, den du selbst auf dem Gewissen hast, und schaff deinen dämlichen Arsch aus meinem Wagen. Die Karre von deiner Schlampe steht direkt vor deiner Nase.« Junior erhob keine Einwände. Daß er der Mörder seines Hundes war, entsprach nun mal der Wahrheit. Schlagartig begriff er Dionnes Gedankengang. Ed hatte so manche glückliche Stunde in dem Blazer verbracht. Selbst Kissy würde einsehen, daß der Wagen für Eds letztes Geleit mehr als passend war. Und der Anblick seiner sterblichen Überreste würde sie bestimmt dazu bewegen, Mitleid mit Junior zu haben. In dem gemeinsamen Schmerz über Eds Tod würden sie eine tragische Wiedervereinigung erleben. Er schob Ed ans Ende der Ladefläche und sprang hinab. »Hast du noch die Schlüssel von der Mistkarre?«, fragte Dionne. Junior klopfte seine Taschen ab. Nicht dabei.
Dionne verdrehte in lang geübter Verzweiflung die Augen. Er zog ein Radkreuz unter dem Sitz hervor und zertrümmerte erst die Heckscheibe des Blazers, dann das Fenster auf der Fahrerseite. Dabei empfand er solche Befriedigung, daß er sich getrieben fühlte, auch noch die Scheinwerfer einzuschlagen und ein paarmal kräftig auf die Haube zu hauen. Ein Werbetexter, der soeben von der Arbeit kam, rief ihnen einige aufgebrachte Worte zu. Als ihm jedoch dämmerte, daß er es mit zwei stämmigen jungen Raufbolden zu tun bekommen würde, tauchte er schleunigst in seinem Toyota unter. Junior und Dionne bemerkten ihn kaum. Gemeinsam verfrachteten sie Ed in den Blazer, dann stieg Junior ein und riß das Zündkabel heraus. Auf der Suche nach einem passenden Gegenstand zum Freilegen der Drähte erinnerte er sich plötzlich an den ganzen Mist, den Kissy in ihrem Handschuhfach aufbewahrte. Kaum hatte er auf den Knopf gedrückt, sprang das Fach auf und spuckte seinen gesamten Inhalt aus. Unter all den Karten und anderem Zeug befand sich, wie erwartet, ein kleines Schweizer Armeemesser. Dionne steckte den Kopf zum Fenster hinein. »Du machst das völlig falsch, Mann. So wird das nichts.« Die Zündung heulte auf wie ein Applaus für die New York Bronx. Junior zeigte Dionne den erhobenen Mittelfinger. »He, Melone«, zerschnitt Julius Horgans Stimme die Finsternis in der Dunkelkammer. »Ihr Freund nimmt Ihre Karre auseinander.« Sein gehässiges Lachen verriet Kissy, daß er sie nicht auf den Arm nahm. Sie warf die Filmspule, die sie gerade umwickeln wollte, in eine Dose, legte einen Deckel darauf und lief zum nächsten Fenster mit Blick auf den Parkplatz. Auf diese Idee waren auch andere gekommen; sie mußte sich regelrecht durchkämpfen. Dionne lehnte sich durch die zertrümmerte Scheibe auf der Fahrerseite, Junior beugte sich über das Lenkrad. Kissy befand sich zwei Stockwerke über ihnen und ihr Blickwinkel ließ einiges zu wünschen übrig, doch was sie deutlich erkennen konnte, waren die Glassplitter der Scheinwerfer, die vorne und hinten wie unnützer Samen auf unfruchtbarem Boden neben dem Wagen lagen. »Die schließen ihn kurz«, erklang eine hilfsbereite Stimme. »Jemand muß 911 anrufen!«
Die Heckscheibe war nicht mehr vorhanden. Durch das Loch erkannte Kissy Eds massigen Körper. Das Tier kauerte sich angstvoll zusammen, als wäre ihm vollkommen klar, welchen Blödsinn die beiden bauten. Sie hatte genug gesehen. Wie eine aufgescheuchte Wachtel schoß sie aus der Menge der Gaffer, stürzte die Treppe hinunter und auf den Parkplatz hinaus. Die Luft war vom Geheul herannahender Sirenen aufgeladen wie mit Ozon kurz vor einem Blitzschlag. Kissy stellte sich auf die Zehenspitzen. »Junior, du Vollidiot, was machst du da?«, brüllte sie fassungslos. Doch er fuhr bereits davon. Beim Klang ihrer Stimme drehte Dionne sich um. Sie rannte zu ihm. »Was hat er vor?« Dionne zuckte die Achseln. »Warum haut Junior mit meinem Wagen ab?« »Weil ich ihn in meinem nicht mehr haben wollte.« Dionne sprach jedes Wort überdeutlich aus. »Er ist eine verdammte Heulsuse.« Die Sirenen übertönten jetzt den Straßenlärm. Es dauerte nur noch Sekunden, dann versperrten zwei Streifenwagen die beiden Parkplatzzufahrten. Durch ihre Arbeit bei der Zeitung kannte Kissy inzwischen alle hiesigen Cops, wenn nicht mit Namen, so wenigstens vom Sehen. Und jeder von ihnen kannte sie. Einige von ihnen, überlegte sie bitter, hatten sie schon einmal nackt gesehen. Am Vertrautesten waren ihr jedoch die Gesichter von Pearce und Burke. Kaum hatte sie die beiden ausgemacht, überließ sie Dionne seinem Schicksal. Mike Burke kurbelte das Fenster hinunter und steckte den Kopf hinaus. »Junior hat meinen Wagen geklaut«, erklärte sie atemlos. Dann sagte sie ihm das Kennzeichen, das er sorgfältig notierte. Anschließend gab er Pearce den Block, der bereits über Funk Kontakt zum Fahrdienstleiter aufgenommen hatte. »Er muß ziemlich viel getrunken haben«, sagte Kissy. »In welche Richtung ist er gefahren?« »Zur Mainstreet Richtung Norden.« Pearce warf den Rückwärtsgang ein und sie brausten los.
Für eine Weile war es aufregend wie eine Achterbahnfahrt – Sirenen, zuckendes Blaulicht, rasende Geschwindigkeit – , doch dann ebbte der Adrenalinstoß ab. Junior dämmerte, daß er eventuell eine Dummheit beging. Das Sirenengeheul hatte ihn in Panik versetzt. Er war nur noch von dem Gedanken besessen gewesen, noch schneller zu fahren, noch riskanter. Dann sah er das Schild und alles schien plötzlich zu passen. Mit einem Mal wußte er, was zu tun war. Er stieg aufs Gas, als beabsichtige er, schnurgerade über die Kreuzung zu fahren, bog aber im letzten Moment scharf links ab. Jetzt befand er sich auf der Mid-DanceBrücke, das Sirenengeheul schoß hinter ihm an der Abzweigung vorbei. Erst nach einigen Metern bemerkte er den Schutzzaun zu beiden Seiten des mittleren Brückenbogens. Er gab erneut Gas, riß das Lenkrad nach links und raste über die Gegenfahrbahn darauf zu. Während die Bremsen und Reifen des Gegenverkehrs einem Härtetest unterzogen wurden, prallte der Blazer frontal gegen das Geländer unterhalb der Drahtbespannung. Junior schlug mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe, die sich wie von Zauberhand in ein feinmaschiges grünes Netz aus Glas verwandelte und nach innen sackte. Der Hundekadaver rutschte gegen die Lehne der Rückbank. Benommen und mit blutender Stirn griff Junior nach der Tür und plumpste auf den gepflasterten Brückenboden. Der Blazer hatte eine brauchbare Lücke zwischen Geländer und Zaun gerissen. Die Zeit wurde allmählich knapp, denn die Cops hatten inzwischen umgedreht. Blut lief ihm in die Augen. Er wischte es mit dem Handrücken fort und taumelte zum hinteren Ende des Wagens. Verkehr aus beiden Richtungen umschwirrte ihn; überall Reifenquietschen, überall fluchende Fahrer, die ihm den Mittelfinger zeigten. Ed schien schwerer geworden zu sein. Junior stolperte, stürzte, ließ ihn fallen. Im Knien hatte er den Hund besser im Griff, so daß er ihn nach und nach auf die Lücke zuschieben konnte. Seine Ohren schmerzten vom Heulen der Sirenen, das immer näher kam. Mit einer letzten, übermenschlichen Kraftanstrengung hievte er Ed auf das Geländer, quetschte ihn durch die Lücke hindurch. Dann ließ er ihn los, und Ed verschwand, um in den glatten, dunklen Fluten des Flusses die letzte Ruhe zu finden. Die Sirenen hatten ihn erreicht.
Das Loch im Zaun war wie der Schlund eines Ungeheuers, die scharfen Ecken des ausgefransten Randes schnappten nach ihm wie spitze Zähne, als er sich entschlossen hineinwarf. Mit einem Gefühl tiefer Erleichterung machte er sich für das nachtschwarze Wasser bereit. Da packte ihn plötzlich jemand an den Knien, anschließend an den Hüften und zog ihn unsanft zurück. Ein muskulöser, in Blau gehüllter Unterarm hart wie ein Stemmeisen legte sich unter sein Kinn. Instinktiv wußte Junior, daß er bei dem geringsten Versuch, Widerstand zu leisten, erwürgt werden würde. Seine Glieder gaben nach. Dann war der Cop über ihm, ein Knie auf seiner linken Niere, eine Hand in seinem Haar. »Na, Junior?«, ertönte eine Stimme. »Spaß gehabt?« Junior begann zu lachen. Der Cop riß seinen Kopf an den Haaren zurück und knallte sein Gesicht auf das Pflaster. Kissy beobachtete, wie zwei ihr bekannte Gestalten in Uniform – Schmidling und Feathers – Dionne festnahmen. Er schien nicht zu begreifen, wodurch er sich ihren Unmut zugezogen hatte. Horgan und fast alle anderen, die sich im Zeitungsgebäude aufhielten, kamen heraus, um zu gaffen. Obwohl die Frühschicht zu Ende war, wollte offenbar niemand nach Hause gehen. Das einlaufende Personal für die Spätschicht schloß sich der neugierigen Menge an. Man schien sich prächtig zu amüsieren. Gutmütiges Hohngelächter brach aus, als die Übertragungswagen der ortsansässigen Sendeanstalten mit ihren riesigen Antennen vor dem Haus eintrafen. Horgan schoß wie der Blitz auf die Föhnfrisuren hinter den Minicams zu und stellte sich ihnen hilfreich zur Seite. Kissy trat den Rückzug an. Sie verschwand in der Dunkelkammer, um den Film zu entwickeln, den sie vorhin herausgesucht hatte. Es half ihr, sich konzentrieren zu müssen. Nach einer Weile tauchten Schmidling und Feathers auf, um ihre Aussage aufzunehmen. »Was ist mit Junior?«, wollte sie wissen. Die beiden wechselten einen Blick. »Hat auf der Mid-Dance angehalten«, sagte Feathers. »Wollte offenbar mit Ihrem Wagen in den Fluß fahren, scheiterte aber an dem Schutzzaun. Den Hund hat er trotzdem runtergeworfen.«
»Was?« Sie begriff kein Wort. »Der Hund. Der Bernhardiner. Er hat ihn von der Brücke geworfen.« Kissy packte Schmidlings Unterarm. »Warum? Das verstehe ich nicht.« »Geht mir genauso«, sagte Schmidling. »Sie sollten sich besser setzen. Alles in Ordnung?« Feathers schob ihr einen Stuhl in die Kniekehlen. »Setzen Sie sich. Lassen Sie den Kopf einfach runterhängen.« »Was hat das alles zu bedeuten?« Tränen schossen ihr in die Augen. »Geht es Ed gut?« »Es war ein Sturz aus fünfzig Metern Höhe, Miss«, sagte Feathers. Kissy blinzelte die Tränen zurück. »Ich muß mit Junior reden.« »Wir fahren Sie aufs Revier«, schlug Schmidling vor. »Dann können Sie dort Ihre Aussage machen und vielleicht rauskriegen, was passiert ist.« Junior war noch nicht da. Man hatte ihn ins Krankenhaus gebracht, um einen Bluttest machen und seine Verletzungen untersuchen zu lassen, die – laut Feathers und Schmidling – nicht besonders ernst waren. Sie brachte lediglich in Erfahrung, was die Cops Dionne mühsam aus der Nase gezogen hatten. Junior und Dionne hatten offenbar ein mehrtägiges Saufgelage hinter sich. »Sie hatten genügend leere Flaschen im Wagen, um ihre eigene Recycling-Anlage aufmachen zu können«, meinte Feathers. Daß Ed bereits tot gewesen war, als Junior ihn von der Brücke stieß, war eine große Erleichterung für sie. Weniger tröstlich fand sie Dionnes Behauptung, Junior selbst hätte den Hund getötet, wenn auch durch einen Unfall. Wenn sie Junior hätten springen lassen, überlegte sie, hatte er mühelos überlebt. Er wäre im Fluß herumgepaddelt wie in einer großen Badewanne, anschließend mit sauberen Ohren und leichtem Herzen hinausgestiegen und in die nächstbeste Kneipe gegangen. Sie hätte ihm am liebsten einen solchen Arschtritt versetzt, daß er einmal um den Erdball flog. Man ließ sie lange in dem Büro warten, in das Schmidling und Feathers sie geführt hatten. Offenbar handelte es sich um Chief Cobbs höchstpersönliches Büro. Man wollte ihr wohl bevorzugte
Behandlung zukommen lassen. Vielleicht lag es an ihrer Verbindung zur News. Wahrscheinlich aber war Junior der ausschlaggebende Faktor; sein Name und sein Gesicht in den Sportseiten. Plötzlich klopfte es. Mike Burke steckte vorsichtig den Kopf in den Raum. »Na, alles in Ordnung?« Sie schenkte ihm ein mattes Grinsen. Er machte die Tür wieder zu. Sie hörte ihn leise mit jemandem sprechen, gefolgt von gedämpftem Gelächter. Kurz darauf klopfte er noch einmal und kam mit Kaffee in der Hand herein. »Junior ist okay«, sagte er. »Ich meine, in physischer Hinsicht. Er hat ein paar blaue Flecken und eine Schnittwunde auf der Stirn. Und einen Haufen Probleme natürlich, genau wie sein Kumpel Dionne.« »Zum Teufel mit den beiden!« Burke schien ihr Zorn nicht zu überraschen. »Ich wäre auch ganz schön sauer. Ich fürchte, Ihr Wagen hat einen Totalschaden. Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?« »Was ich weiß, schon. Aber viel ist es nicht.« »Macht nichts. Wollen Sie Junior sehen, nachdem Sie Ihre Aussage gemacht haben?« Kissy schüttelte den Kopf. Sie hatte ihre Meinung geändert; wenn sie ihm jetzt über den Weg lief, würde sie ihm vermutlich an die Gurgel gehen. »Möchten Sie jemanden für ihn anrufen?« »Nein. Das kann er selbst.« Burke schaute sie forschend an. Sie fühlte sich unwohl unter seinem durchdringenden Blick und heftete ihre Augen auf den Kaffeebecher in ihrer Hand. Nachdem sie mit ihrer Aussage fertig war – die nichts als pure Fakten enthielt, den Grund für die Trennung von Junior hatte sie Burke wohlweislich verschwiegen –, erkundigte er sich, wie sie nach Hause kommen würde. »Taxi.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Telefon. \ 10 [ Da eine der beiden Fahrspuren in östlicher Richtung gesperrt war, kroch der Verkehr förmlich über den Fluß. »Hab den Funk angehabt«, verkündete der Taxifahrer. »Sie kennen doch Junior Clootie? Den Tormann?«
»Nein«, sagte Kissy. »Nie von ihm gehört.« Neugierig betrachtete der Mann sie im Rückspiegel. »Ich dachte, Sie sind vielleicht seine Freundin. Hab Sie oft bei den Spielen gesehen. Fotos schießen. Solche Haare wie Ihre vergißt man nicht so schnell. Irgendwer hat mir erzählt, Sie wären sein Mädchen…« »Sehe ich so bescheuert aus?« Zentimeter für Zentimeter schlichen sie über die Brücke. Unter ihnen im Wasser machte sich eine Reihe von Männern in Neoprenanzügen zu schaffen. Sie zerrten an etwas, das wie eine 100 Kilogramm schwere tote Chrysantheme aussah. »O Mann«, sagte der Fahrer. »Sehen Sie sich das an!« Ed tauchte aus den Fluten auf, tropfend wie ein monströser Mob, und wurde langsam auf das unterste Brückendeck gehievt. Kissy erschauerte, ließ sich zurückfallen und richtete den Blick starr geradeaus. »Die haben gesagt, er hätte seinen Hund von der Brücke geschmissen«, fuhr der Fahrer fort. »Was glauben Sie, warum er so was getan hat? Sind Sie sicher nicht seine Freun…« »Nein, ich bin nicht seine gottverdammte Freundin! Ich kann Eishockey nicht ausstehen! Junior Clootie kann mich mal!« Der Fahrer war gekränkt. »He, Sie brauchen nicht gleich so ’nen Ton anzuschlagen, Lady. Ich wollte mich bloß ein bißchen unterhalten.« Sie krochen an ihrem Blazer vorbei. Kissy beugte sich vor, um ihn besser sehen zu können. »Hast du so was schon erlebt!«, staunte der Fahrer. »Hoffentlich ist der versichert.« Versichert oder nicht, sie würde jedenfalls viele Tage lang auf die Großzügigkeit anderer angewiesen sein. Sie würde sich Lathams oder Mary Frances’ Wagen ausleihen müssen, um die Wohnungssuche fortsetzen zu können. Die ihr entstandenen Unannehmlichkeiten waren zwar nicht annähernd so schlimm wie Eds Tod, aber im Gegensatz zu ihm mußte sie damit leben. Und für wie lange, war nicht abzusehen. Um elf Uhr abends lag sie zusammengerollt auf Lathams Couch, die Füße in seinem Schoß, und schaute fern. Nachdem er ihr bereits eine Fußmassage gegeben hatte, bemalte er jetzt ihre Zehen. Mary Frances saß auf dem Boden. Der Großteil des Berichts war derart
demütigend, daß sie am liebsten nur zwischen den Fingern hindurchgespäht hätte; wie damals als kleines Mädchen, als die Nachrichten über Vietnam im Fernsehen kamen. Einmal war kurz zu sehen, wie sie vor dem News-Gebäude in einem blauweißen Streifenwagen verschwand. Sie wirkte schuldig – wie jeder, der in dieser Form von Rampenlicht stand, das die Dinge nur schwarz und weiß erscheinen ließ. Wie immer war es befremdlich, sich selbst zu sehen, aus der Distanz und vermutlich so, wie alle anderen sie sahen. Und wie immer, wenn sie Fotos von sich betrachtete, überkam sie das seltsame Gefühl, nicht real zu sein, nicht identisch mit der Frau auf dem Zelluloid, als wäre das Bild realer als seine Personifizierung in Fleisch und Blut. Daß Junior ins Gefängnis wandern würde, hielt sie eher für unwahrscheinlich. Es handelte sich um sein erstes Strafdelikt – gut, mehrere erste Strafdelikte, aber erwischt worden war er vorher noch nie, das wußte sie genau. Wie oft mochte er früher mit dem Gesetz aneinander geraten sein, damals in Kingston oder während seiner vier Jahre an der Universität? Waren die Vorfälle begraben und vergessen worden wie bei Katzen, die ihre Exkremente kurzerhand mit Erde zuschütteten? Von Bullen, Coaches und Administratoren vertuscht? Immerhin ging es um Junior Clootie. Vielleicht entpuppte sich der Staatsanwalt als Spectres-Fan – und die Geschworenen und der Richter auch. Es kostete viel Kraft, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten. Der seidige Flaum des Plüschsofas erinnerte sie an die Stelle hinter Eds Ohren, an der er so gern gekrault worden war, und die verräterische Tränenflut drohte von neuem aufzuwallen. Armer alter Ed, ohne einen einzigen bösartigen Knochen im Leib! Tief in ihrem Bauch tobte ein Kampf, der Menstruationskrämpfen glich. Wie viel Schuld daran den Krieg der Mikroben gegen die Antibiotika traf, die Juniors Hinterlassenschaft aus ihrem Körper vertreiben sollten, und in welchem Ausmaß es sich dabei um handfestes Elend handelte, konnte sie nicht sagen. Nachdem Mary Frances sie am nächsten Morgen vor der News abgesetzt hatte, wurde sie von Earl Fish erwartet. Er schob sie in sein Büro, wo er ihr einen Kaffee in die Hand drückte, sich nach ihrem
Befinden erkundigte und ihr sein Bedauern ausdrückte. Ein netter Mann, der Chefredakteur. »Sie haben, zumindest was mich betrifft, selbstverständlich jedes Recht auf Wahrung Ihrer Privatsphäre. Nur sprechen Sie bitte nicht mit den anderen Medien darüber.« Kissy lachte. »Und falls Sie beschließen sollten, eine Erklärung abzugeben, wenden Sie sich an mich. Ich bringe Sie dann mit einer der Redakteurinnen zusammen.« »Danke.« »Sie können es natürlich auch mir erzählen – nur so viel Sie möchten –, ohne daß mitgeschnitten wird. Uns sozusagen mit Insidertips versorgen.« Das war eine Riesenchance für sie. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Ja, ich verstehe«, sagte Fish. »Dann also viel Glück. Wenn ich irgendwie helfen kann…« Sie bedankte sich noch einmal und machte sich an die Arbeit. Die Dunkelkammer schützte sie zwar vor der Neugier ihrer Kollegen, aber Junior entkam sie nicht einmal dort. Die Spätschicht hatte die Filmstreifen, die für das Titelblatt verwendet worden waren, im Trocknerkasten hängen lassen. Kissy ging sie prüfend durch. Junior, du Mistkerl, dachte sie, während sie ein Negativ von Ed betrachtete, der eben aus dem Wasser gezogen wurde, wie gern würde ich dich rückwärts über den Haufen fahren und deinen Kadaver eigenhändig von der Brücke stoßen. Junior saß in dem altertümlichen Friseurstuhl in der elterlichen Küche in Kingston. Während er ihn recht unsanft rasierte, stieß Dunny unablässig die gedämpfte Drohung aus, ihm gleich die Kehle durchzuschneiden. »Ich geb dir Brief und Siegel drauf, Bürschchen, diesmal kommst du mir nicht ungeschoren davon. Du hast Mist gebaut, also wirst du auch dafür geradestehen. Setz dich vernünftig hin, Herrgott noch mal, ich schneide dir jetzt die Haare. Du wirst diesen dämlichen Ring aus dem Ohr nehmen und wie ein Pfadfinder aussehen, bis die Angelegenheit geregelt ist.« Sein Vater hatte die Kaution bezahlt und ihn nach Hause chauffiert. Junior war während der gesamten Fahrt in miserabler Verfassung
gewesen. Einmal hatte er gefroren, dann wieder geschwitzt, mehrmals mußten sie anhalten, weil ihm kotzübel war. Drei Stunden nordwestlich von Peltry hatten sie eine Pinkelpause eingelegt, und Junior hatte derart starke Schmerzen gehabt, daß er laut aufschrie. »Was hast du?«, fragte Dunny. »Das Penicillin vergessen«, knurrte Junior. Die Schachtel lag noch in seiner Wohnung. Er wußte nicht mehr, ob er vor der Abfahrt eine Tablette genommen hatte; so wie er sich fühlte, offensichtlich nicht. Erstaunt bohrte sein Vater nach: »Warum, zum Teufel, brauchst du Penicillin?« »Weil ich’s wie besagter Herr getrieben hab«, gab Junior verdrossen zurück. Dunny dachte eine Weile über die kryptische Bemerkung seines Sohnes nach, dann spuckte er angewidert auf den Boden und erkundigte sich aufgebracht, was Junior eigentlich glaube, wofür es Gummis gab. Nachdem sie eine Weile weitergefahren waren, hatte Dunny gewisse Schlüsse gezogen. »Sie hat dich verlassen, weil du dir irgendwo den Tripper geholt hast.« »Ich habe sie angesteckt«, sagte Junior kleinlaut. Sein Vater stöhnte auf. »Das darf doch nicht wahr sein!« Fünf Minuten später drosch er unvermittelt auf das Lenkrad ein. »Das Mädchen hat mir gefallen!« Wütend funkelte er Junior an. »War’s das etwa wert, du Hengst?« Dann äußerte er sich erst wieder, als sie die Stadtgrenze von Kingston erreicht hatten. »Du solltest besser zu Doc Hansen gehen und dir ein neues Rezept besorgen. In Vietnam habe ich auch welche kennen gelernt, die den Tripper hatten. Sie wollten’s nicht ernst nehmen, und dann haben sie fast ein ganzes Jahr gebraucht, um ihn wieder loszuwerden. So was nimmt man nicht auf die leichte Schulter, Junior. Aber wenn ich’s mir recht überlege, wär’s vielleicht gar nicht so schlecht, wenn du jetzt keine Kinder mehr zeugen könntest.« Und nun saß er hier, im Haus seiner Eltern, im Friseurstuhl seines Vaters, und fühlte sich noch kein bißchen besser. Automatisch reichte ihm sein Vater den Spiegel, damit er den neuen Haarschnitt begutachten konnte. Er sah aus wie ein verflixter Pfadfinder mit einem ausgewachsenen Kater und einem Ring im Ohr.
»Du hast Mist gebaut«, wiederholte sein Vater. »Das wird dich einiges kosten. Alles, womit ich mich auskannte, als ich vom Wehrdienst kam, war – abgesehen davon, wie man Menschen um die Ecke bringt – das, was mein alter Herr mir beigebracht hat: Haare schneiden. Du brauchst keine Haare zu schneiden, du kannst was Besseres tun. Vielleicht verdienst du dabei sogar noch eine Stange Geld. Ich glaube nicht, daß der Blödsinn, den du angestellt hast, dir jetzt alles vermasseln wird, aber du kannst dir so etwas nicht noch mal leisten – das ist dir doch klar?« Tränen liefen an Juniors Wangen hinab und in seinen Hemdkragen hinein. »Na schön«, sagte sein Vater. »Dann ist es ja gut.« Abends rief der Rechtsanwalt an, den Dunny beauftragt hatte. »Die junge Frau hat von einer Anzeige wegen Autodiebstahls abgesehen. Dann ist da noch die Beschuldigung bezüglich illegalen Drogenhandels, die in Ihrem Fall offenkundig unzutreffend ist. Und so lautet der Deal: Sie bekennen sich schuldig, was das Fahren unter Alkoholeinwirkung und einfachen Drogenbesitz betrifft, und akzeptieren die üblichen Strafen und Bewährungsauflagen, plus Beratung und Sozialstundenableistung. Außerdem müssen Sie ein halbes Jahr auf den Führerschein verzichten.« Vor Erleichterung brach Junior abermals in Tränen aus. Spenser Lobel mußte informiert werden, sein Agent. Doch sobald Junior ihn am Telefon hatte und vorsichtig erklärte, er sei geringfügig mit dem Gesetz aneinander geraten, wollte Lobel nicht mehr mit ihm, sondern mit Dunny sprechen. »Unsinn«, wiederholte sein Vater hartnäckig in die Sprechmuschel, »Unsinn. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Er ist nicht vorbestraft, er wandert nicht ins Kittchen.« Anschließend war Lobel doch bereit, mit Junior zu sprechen. »Es ist schließlich kein Weltuntergang. Aber in Zukunft hast du dein Leben gefälligst im Griff, capisce?!« Junior capiscete. Er hatte immer getan, was getan werden mußte. Diesmal hatte er sich eine ordentlich tiefe Grube gegraben. Jetzt galt es, hinauszusteigen und sie mit Erde zu füllen. Indem er erstens Doc Hansen anrief, um sich eine neue Ladung Penicillin zu beschaffen, zweitens Kissy. Heute nicht mehr, dazu schmerzte sein Kopf zu sehr, außerdem würde sie vermutlich nicht allzu erfreut über den Anruf
sein. Morgen. Oder übermorgen. Wenn sein Gehirn wieder hinreichend funktionierte, um so etwas wie eine Strategie auf die Beine zu stellen. »Für dich«, flüsterte Latham, eine Hand über die Sprechmuschel gelegt. »Der Unsägliche.« Es war fast Zeit, zu den Abschlußfeierlichkeiten aufzubrechen. Kissy nahm den Hörer, um ihn auf die Gabel zu knallen. Latham fing ihre Hand ab. »Er sagt, es geht um den Blazer.« Also hob sie den Hörer doch an ihr Ohr und sagte ruhig: »Hallo, Arschloch.« »Es tut mir so leid…« »Das sollte es auch. Ich bin sozusagen schon aus der Tür. Sag, was du zu sagen hast, und zwar schnell.« »Ich werde sämtliche Reparaturen am Blazer bezahlen«, versprach Junior hastig. »Sobald ich genug Geld habe. Und die Stereoanlage natürlich auch.« »Friß Scheiße und stirb, Junior.« Kissy legte auf. Mrs. Cronin hatte versprochen, sich nach den Feierlichkeiten mit ihr für eine Privatbesichtigung der immer noch laufenden Kunstausstellung zu treffen. Auch Kissys Mutter Caitlin war gekommen, um der Abschlußfeier beizuwohnen, und wollte sich ihnen mit Noah, Kissys vierjährigem Halbbruder, anschließen. Als sie mit ihm und ihrer Mutter in der Galerie eintraf, wimmelte es dort von frisch gebackenen Akademikern und Besuchern. Da Caitlin und Noah ein recht einsames Leben führten, machte die Menschenmenge sie nervös. Noah hing den Großteil der Zeit am Bein seiner Mutter. Während Kissy die Reaktionen der Besucher auf die Ausstellungsstücke studierte, stach ihr plötzlich ein vertrautes Profil ins Auge. Wie häufig, wenn Menschen den Blick eines anderen auf sich spüren, drehte auch Mike Burke den Kopf und schaute sie an. Er lächelte, winkte, konzentrierte sich dann wieder auf ihre Fotos. Sie sah ihn zum ersten Mal in Zivil. Er wirkte wie ein x-beliebiger Student, allerdings im Abschlußsemester oder auch im Referendariat. Mrs. Cronin rief vom Eingang her ihren Namen. Nach dem Mittagessen gingen sie gemeinsam zu der Einweihungszeremonie von Diane Greenans Gedenkstätte in das Kiefernwäld-
chen. Mit ihrer Mutter, Noah und Mrs. Cronin als Beistand konnte Kissy die kurze Sequenz von Gebeten und Gedenksprüchen ertragen. Zum Abschluß spielte ein Dudelsackspieler eine wunderschöne Version von ›Amazing Grace‹. Mrs. Cronin drückte Kissys Hand und ließ sie nicht mehr los. Neben ihnen, auf dem Arm seiner Mutter, sang Noah die bekannte Hymne leise mit. Weiter hinten, im dunklen Schatten der Kiefern, erspähte Kissy James Houston. Wie ein Mörder, der auf der Beerdigung seines Opfers herumlungerte, schaute er mit einer Sonnenbrille auf der Nase heimlich zu. Wieder ein Brief von Junior. Ungeöffnet warf Kissy ihn in den Müll. Ihre neue Behausung befand sich im vierten Stock einer Mietskaserne ohne Fahrstuhl, in einer noch lausigeren Gegend als Juniors. Aber sie war billig, dank der ausrangierten Möbelstücke diverser Vormieter teilmöbliert, außerdem konnte sie sofort einziehen. Junior hatte die Reparatur ihres Wagens in der Tat ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt, doch als der Blazer endlich aus der Werkstatt kam, hatte er Dellen und Kratzer, die vorher noch nicht da gewesen waren. Sie übernahm die zweite Spätschicht: von dreiundzwanzig Uhr bis sieben Uhr früh. Zusätzlich schrieb sie sich für einen weiterführenden Kurs ein, der zweimal die Woche um neunzehn Uhr stattfand. Da sie nun zu den Studenten gehörte, die bereits einen akademischen Grad in der Tasche hatten, besaß sie freien Zugang zu sämtlichen Sporteinrichtungen der Universität. Im Gegenzug für Fotoarbeiten, die sie sporadisch für ihn erledigte, schoß Latham ihr das dafür erforderliche Kleingeld vor. Sie schlief bis zwei oder drei Uhr nachmittags, um vor den Kursen noch zum Training zu gehen. Es machte ihr nichts aus, daß ihr Leben aus wenig anderem bestand. Im Moment war sie am liebsten allein. Mary Frances hatte sich mit ihrem Vater nach Europa verzogen, der Großteil ihrer ehemaligen Kommilitonen war auf und davon, um sich in den Ernst des Lebens zu stürzen. Eines Morgens, sie saß nach der Arbeit zum Frühstücken im Denny’s, schneite Mike Burke herein und setzte sich auf den freien Hokker neben sie. Er trug eine Sonnenbrille zum Schutz gegen das zu helle, zu frühe Licht und war in Zivil. Der Haaransatz in seinem Nacken war feucht. Kommt wohl auch gerade vom Dienst, überlegte
sie, während sie sein Erscheinen mit einem schwachen Lächeln zur Kenntnis nahm. Er bewegte Hals und Schultern durch, als wäre beides ein wenig steif, und beugte sich anschließend zu ihr vor. »Na, alles in Ordnung?« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich kann nie sofort nach Hause gehen und schlafen«, meinte er. »Ich mag das Morgenlicht.« Er grinste. »Kann ich mir vorstellen.« Die Kellnerin brachte ihm Kaffee. Er schielte auf Kissys Frühstück und bestellte das gleiche. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, meinte er, mit seinem Löffel herumspielend: »Ihre Fotos haben mir gefallen.« Sie nahm es als aufwertende Abwandlung der Floskel ›interessante‹ oder ›nette Bilder‹. Burke war unter ihren Kollegen bei der Zeitung hoch angesehen. Reporter, Fotografen, Redakteure – sie alle waren offiziell unparteiisch und mußten von Berufs wegen eine ausgesprochen zynische Art der Berichterstattung an den Tag legen. Kissy glaubte allerdings, daß sie die Männer an der Front, die das Ziel ihrer Attacken waren – den Ganoven, den Sportler, den Cop, den Politiker – , insgeheim verehrten. Mike Burke sei clever, hieß es in ihren Reihen, er würde es noch weit bringen, habe jede Menge Ehrgeiz – was in ihren Augen jedoch mehr einem Fehler denn einer Tugend gleichkam, da es nach Machtgier roch. Nach Macht zu streben empfanden sie als antidemokratisch; über wie viel Macht sie selbst verfügten, schien ihnen hingegen nicht klar zu sein. Nichtsdestotrotz konnten sie mit Mike Burke weitaus mehr anfangen als mit dem klassischen Streifenbullen. Burke war nicht nur ein gut aussehender junger Bursche mit gehobenem Wortschatz und College-Abschluß, in seiner Freizeit besuchte er obendrein die juristische Fakultät. Er besaß genau das, was sie ›die Glaubwürdigkeit der Straße‹ nannten. »Wie ich höre, haben die Islanders Junior an Denver verkauft«, sagte er. »Wissen Sie, ob das vielleicht damit zusammenhängt, daß er hier bis zum Hals im Schlamassel steckt?« »Nein. Ich weiß auch nicht mehr als in der Zeitung steht.« Burke schaute sie von der Seite her an. »Ich habe nur meine Arbeit getan, als ich ihn festnahm, das ist Ihnen hoffentlich klar.« Er lächel-
te sein aufrichtiges, kluges Lächeln und berührte ganz leicht mit den Fingerspitzen ihr Knie. »Zum Teufel mit ihm«, sagte Kissy. »Und mit Ryne Kowanek auch.« Er reagierte auf ihre Erinnerung daran, daß er bereits zwei ihrer Liebhaber festgenommen hatte, mit einem übertrieben feierlichen »Stets zu Ihren Diensten, Ma’am« und schob seine Sonnenbrille ein Stückchen hinunter, damit sie den Schalk in seinen Augen sehen konnte. »Sind Sie einberufen worden?« »Einberufen?« Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob er sie bekehren wolle. »In den Zeugenstand. Ich dachte«, er zögerte kurz, schüttelte seine Bedenken dann aber ab, »ich dachte, man hätte Sie vielleicht vorgeladen, um im Fall Houston auszusagen.« »Hab ich schon getan. Letzten Herbst, nach dem Unfall.« Burke gab der Kellnerin einen Wink mit seiner Tasse. Kissy spülte den Rest ihres eigenen Kaffees hinunter und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. Als sie nach der Rechnung greifen wollte, bedeckte Burke den Zettel schnell mit seiner Hand. Sie zog ihn unter seinen Fingern hervor. »Trotzdem danke.« Über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg genoß Burke die Aussicht, als Kissy ging. Er hatte gelogen, was ihre Fotos betraf. In Wirklichkeit fand er sie abscheulich. Sie hatte ihn gezwungen, Junior Clootie mit ihren Augen zu sehen, einen Einblick in die Intimität ihrer Beziehung zu bekommen. Die starke Erotik, die die Bilder ausstrahlten und im Katalog ihres Studienberaters so ausgiebig diskutiert wurde, war längst nicht alles. Sie besaßen eine seltsam verspielte Unbeschwertheit, die sich in leuchtenden Augen oder einer bebenden Oberlippe niederschlug, die kurz vor einem Lachanfall zu stehen schien. Sie hatte ihm das Gefühl gegeben, selbst nie mit etwas anderem als einem blinden Auge gesehen worden zu sein. Und wenn ihn nie jemand dabei gesehen hatte, wenn er hungrig, durstig, müde, erregt oder ausgepumpt war, dann mußte er wohl das Leben eines roboterhaften Zombies geführt haben.
Sicher – von ihm hatte sie auch eine Aufnahme gemacht, ihn zum Helden aufsteigen lassen, ihm zu einer lobenden Notiz in seiner Akte verholfen. Und dieses Foto hatten wahrscheinlich einige tausend Leute mehr gesehen als in der Kunstausstellung gewesen waren. Er starrte auf seine Tasse hinunter und hatte plötzlich diesen Song über Wolken im Kaffee im Kopf; über den Kerl, der so eitel war, daß er annahm, der Song handle von ihm. Auch Burke war eitel, er machte keinen Hehl daraus. Er wollte, daß man sein Gesicht, seinen Namen kannte. Die Vorstellung, Kissy würde ebenso intime Fotos von ihm wie von Clootie machen, besaß zwar ihren eigenen Reiz, aber er würde nicht wollen, daß sie sie der gesamten Menschheit präsentierte. Kein Wunder, daß der Tormann ausgerastet war; sie konnte von Glück reden, daß er seine Wut nicht an ihr ausgelassen hatte. Burke sann über seine Eitelkeit nach, über seinen Stolz, seinen Ehrgeiz. Er war nicht mehr zur Beichte gegangen seit… seit der Firmung. Die Ironie dieser Tatsache ließ ihn verächtlich schnauben. Inzwischen hörte er Beichten am laufenden Band. Es war ein schmutziger Job. Keiner wußte das besser oder fühlte den Rostfraß an seiner Seele deutlicher als er. Der Einzige, der es jemals wirklich begriffen hatte, war sein alter Herr, mittlerweile mit Invalidenrente im Ruhestand nach fünfundzwanzig Jahren als Cop. Der Job hätte Dan Burke beinah das Leben gekostet. Er hatte ihn erst in den Alkohol und von dort zu den Anonymen Alkoholikern getrieben; ironischerweise zu spät, um für den Job noch zu retten gewesen zu sein. Wenigstens hatte er ein paar andere Seelen gerettet. Die Zeit, die sein Vater einst auf dem Barhocker verbracht hatte, verbrachte er nun auf den Treffen der AA. Es gab eine Menge Cops in Peltry, die ihren nüchternen Zustand und bisweilen auch ihre Karriere Dan Burkes Zwölf-Schritte-Programm verdankten, das sie zu den AA geführt hatte. »Dieses Buch, das deine Mutter da gerade liest«, hatte der alte Mann verächtlich gemeint, den Blick auf die erkaltenden Kohlen im Gartengrill geheftet, »›Weshalb guten Menschen schlimme Dinge widerfahren‹ – das hätte ich schreiben können. Und auf viel weniger Seiten. An zwei Dingen liegt’s: Pech oder schlechte Akteure. Wenn dein Kind krank wird und stirbt, ist das Pech – genau wie wenn du von einem Laster überrollt wirst. Gott hat nichts damit zu tun. Wir müssen alle sterben, wie oder wann ist Gott vollkommen egal. Es ist
nicht mehr als ein Zufallsprodukt kosmischer Fehlplanung. Wenn dein Kind aber von einem Laster überfahren wird und der Fahrer ein Säufer ist, der den Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer abgeben mußte, hast du ebenfalls Pech, aber diesmal kommt der Lastfahrer als schlechter Akteur hinzu. Es ist sein Hobby, sich vollaufen zu lassen und dann hinters Steuer zu setzen. Verstehst du? Dein schlechter Akteur geht nicht etwa angeln oder baut Vogelhäuser oder sammelt Baseball-Karten. Wenn er sich ein Hobby zulegt, muß es ein übles sein. Er fährt besoffen durch die Gegend oder verscheuert Drogen oder bricht irgendwo ein, vielleicht treibt er’s auch mit kleinen Kindern. Der Kinderschänder ist der schlimmste von allen. Er wird sein Hobby nicht aufgeben, bis jemand ihn dazu zwingt. So jemand wie ein Cop. Gegen Pech können wir Cops nichts tun. Der Job eines Cops ist es, die gottverdammten schlechten Akteure mit den beschissenen Hobbys hinter Schloß und Riegel zu bringen. Und wir werden dafür nicht einmal besonders geliebt, weil die Menschen tief in ihrem Innern spüren, daß sie den Mumm für diesen Job nie hätten. So wie ich es sehe, sollten wir das, was wir tun müssen, auch wirklich tun. Ich habe keine schlaflosen Nächte wegen der eventuellen Rechte irgendeines elenden Kinderschänders. In dem Moment, in dem er mit diesem speziellen Hobby begann, hat das Arschloch für mich jegliche Rechte verwirkt. Heutzutage ist das System dank miserabler Anwälte und Weicheier im Richtergewand so marode, daß die einzige Strafe, die Arschloch bekommt, vermutlich in der kurzen Haftzeit besteht, die er den Cops zu verdanken hat. Danach hat er auf einmal mehr Rechte als seine Opfer. Falls ich jemals ein Buch schreiben sollte, wird es ›Wenn aus schlechten Menschen plötzlich gute werden‹ heißen.« Burke hatte sich keinerlei Illusionen hingegeben, als er in die Uniform gestiegen war. Dank seiner höheren Schulbildung kannte er sich mit den Theorien bestens aus. Er wußte, was die Theoretiker über seinen Vater und sogar über ihn selbst sagen würden. Auch er glaubte, ein Buch schreiben zu können, ein Buch über die schlechten Dinge, die gute Menschen tun mußten, um andere gute Menschen zu beschützen. Sein Buch würde davon handeln, wie einem im Lauf der Arbeit klar wurde, daß es keine guten Menschen gab, nur die Schwachen und die Unschuldigen und die Arschlöcher, die Jagd auf sie machten. Manchmal wollte man die Schwachen und die Unschuldi-
gen am liebsten schütteln und ihnen zubrüllen, sie sollten sich endlich zusammenreißen, endlich der Realität stellen. Die Wut fraß sich bis in die Gedärme hinein, brannte in sämtlichen Adern, und wenn sie einen nicht umbrachte, machte sie einen stark. Durch sie bekam man den Röntgenblick, konnte andere bis auf die Knochen durchleuchten. Man wurde ein guter Akteur, indem man seine Rolle spielte und vor den anderen den Riß im eigenen Innern verbarg. Die eigenen geringfügigen Sünden, der Neid und der Egoismus, die monatliche Sauftour, der gelegentliche Steife beim Anblick eines knackigen Arschs – all das lieferte einem eine quälende Ahnung davon, wie ein Arschloch zu seinem Hobby kam. Man mußte in Versuchung geraten und fallen, in Versuchung geraten und nicht fallen, um wirklich zu verstehen, daß auch Arschlöcher die Wahl hatten. Jeder hatte die Wahl. Die Kellnerin stellte ihm einen Teller gebratenes Irgendwas vor die Nase. Warum hatte er nur unbedingt das Gleiche essen wollen wie sie. War ihm denn nicht aufgefallen, daß die Eier wie Beton aussahen? »Das habe ich nicht bestellt«, sagte er zu der Frau. Sie sah ihn empört an. »Bringen Sie mir Haferschleim.« Sie nahm den Teller vom Tisch und stolzierte davon, wobei ihr in die Jahre gekommener Satteltaschenarsch vor Entrüstung bebte. Kissy hatte ein Trinkgeld von zwei Dollar auf dem Tisch liegen lassen, mindestens vierzig Prozent des Rechnungsbetrags. Albern im Grunde, aber er sollte wohl besser mitziehen. Die Kellnerin konnte eine potentielle Wählerin sein, der eines Tages sein Name auf einem Stimmzettel ins Auge stach. \ 11 [ Seit dem Unfall hatte Kissy sich zunehmend dem bequemen Irrglauben hingegeben, daß die Angelegenheit mit einer inoffiziellen Absprache erledigt sein, es nicht zum Prozeß kommen und James Houston nur eine milde Strafe erhalten würde. Als sie eine amtliche Vorladung erhielt, aufgrund der sie Mitte Juli vor Gericht gegen James Houston aussagen sollte, wurde sie im ersten Moment von Panik
erfaßt. Dann sagte sie sich, dazu bestehe nicht der geringste Grund. Sie würde ihre Aussage machen und die Geschichte wäre endlich erledigt. Doch zum ersten Mal seit Monaten hatte sie wieder den Albtraum. Es war Ruth, die mit blicklosen Augen zu ihr empor starrte. Ruths Zustand erlebte eine subtile Wandlung, leider jedoch in eine Richtung, die die weitere Tendenz der Entwicklung nur zu deutlich werden ließ. Trotz künstlicher Ernährung hatte sie seit dem Unfall ein Viertel ihres Gewichts verloren. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Trotz regelmäßiger physikalischer Therapie wurden ihre Gliedmaßen allmählich steif. Ihr Körper lernte stillzuhalten und er lernte es gut. In eiszeitlich langsamer Mutation ging er in einen Zustand lebender Mumifikation über. Kissy wußte nie genau, ob sie beim nächsten Mal erneut den Mut aufbringen würde, Ruth zu besuchen. Es wurde immer schwieriger, emotionale Distanz zu halten. Sie hatte die Absicht gehabt, als Zeugin zu fungieren, als Beobachterin, die festhielt, was von Ruths Leben übrig geblieben war. Doch nun spürte sie mit jedem Mal mehr, wie grausam der Unfall gewesen war – auf gewisse Weise sadistisch, beinah blasphemisch. Manchmal hätte sie das lebende Mahnmal, das Ruth für sie geworden war, am liebsten zerschmettert, um den sinnlosen Knoten aufzutrennen, der Ruth mit dem Leben verband. Um irgendwie die Freigabe ihres letzen Atemzugs zu erreichen. Doch sie kehrte regelmäßig zurück, als handle es sich um eine Art religiöses Amt. Als sie einmal in der Nähe des geöffneten Fensters saß und ein leichter Sommerwind durch die feinen Härchen auf ihren und Ruths Armen fuhr, ging ihr durch den Kopf, daß Ruths Zimmer in seiner fundamentalen Stille einer Kirche glich. Die Kirche der Ruth. Wo immer du hingehest, werde auch ich hingehen, rezitierte sie in Gedanken. Nur konnte niemand sagen, auf welchem Weg Ruth sich befand. Am Freitag vor Prozeßbeginn verständigte sie ihr Anrufbeantworter, der Termin sei auf Anfang August verschoben. Dunny hatte im Stadtzentrum einen Laden für sein Friseurgeschäft gemietet, ganz in der Nähe des Polizeireviers, der Hauptfeuerwache, des Gerichtsgebäudes und des Gefängnisses. Die Miete war niedrig, der Bedarf an Kurzhaarschnitten zuverlässig konstant. Esther hatte
mit ihren Kursen begonnen. Die Clootie-Brüder verbrachten den Sommer wie gewöhnlich in verschiedenen Trainingscamps, wo sie entweder bezahlt wurden, um jüngere Spieler zu unterrichten, oder aber für den Unterricht bei älteren Spielern zahlen mußten. Auf dem Weg zum nächsten Aufenthaltsort kamen sie regelmäßig in die Stadt, um einige Tage in dem Haus zu verbringen, in dem ihre Eltern nun wohnten. Manchmal gingen sie zum Campus, um die Sporteinrichtungen oder die Eishalle zu nutzen, entweder zu ihrem Privatvergnügen oder weil das Eishockeyprogramm der Universität ihre Anwesenheit erforderlich machte. Die Buße für Juniors Sünden bestand aus weitaus mehr als dem Heben, Schleppen und Schwitzen beim Laden des Leihbusses, den sein Vater für den Umzug nach Peltry besorgt hatte. In dieser Zeit dämmerte ihm allmählich, daß seine Mutter – die ihm eine schwere und schmutzige Hausarbeit nach der anderen aufbrummte – ebenso die Nase von ihm voll hatte wie seine Schwester Bernie. Bernie hatte ihm regelrecht den Krieg erklärt. Aus Angst, sie könnte sein Essen mit Abführmitteln versetzt haben, brachte er kaum einen Bissen hinunter. An das gelegentliche ungeduldige Verhalten seiner Mutter ihm gegenüber war er gewöhnt, aber daß sie einen tieferen Groll gegen ihn hegte, hatte er noch nie erlebt. Die Ablehnung einer dritten Frau jedoch war mehr, als er ertragen konnte. Kissy nahm seine Anrufe nicht entgegen und antwortete nicht auf die Briefe, die er mühsam zu Papier brachte. Er wußte, er sollte eigentlich zu ihr gehen, doch zum ersten Mal hatte er vor etwas Angst. Angst, daß sie ihm nicht verzeihen würde. Denn dann wäre sie für immer aus seinem Leben verschwunden. Ihre tägliche Abwesenheit war schon schlimm genug. Ed fehlte ihm auf eine Weise, wie es nie der Fall gewesen war, als er noch auf dem College und der Hund in Kingston gewesen war. Das Wissen, Ed niemals wiederzusehen, hatte etwas entsetzlich Endgültiges, genau wie das Schuldbewußtsein, daß er selbst ihn getötet hatte, wenn auch unabsichtlich. Was hatte der Hund nur verbrochen, um das zu verdienen, was ihm von Junior angetan worden war? Kein Wunder, daß Bernie ihn haßte. Er konnte es ihr nicht einmal verdenken. Obwohl die Natur ihn mit robuster Gesundheit beschenkt hatte, mit herkulischer Kondition, mit den Reflexen eines Raubtiers, mit Ju-
gend, mit einem äußeren Erscheinungsbild, das seinem angeborenen Narzißmus entgegenkam, und mit einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit, die ihm wenig Anlaß zur Knauserigkeit gab – worum also hätte er, abgesehen von ein paar materiellen Gütern vielleicht, irgend jemanden auf der ganzen Welt beneiden sollen? – , fiel er in eine tiefe Depression und verfügte nur über wenige Modelle der Gegenwehr. Er tat das, was er immer getan hatte. Die spärlichen Stunden, die er nicht in den Trainingscamps verbrachte, überbrückte er mit Volleyball, Basketball, Baseball, Golf – mit Bällen jeglicher Form und Erscheinung, nur nicht mit denen, die ihm wirklich gut tun würden. Doch die rasante Abfolge der diversen Zerstreuungsmaßnahmen pumpte ihn auch so genügend aus, um schlafen zu können. Meistens jedenfalls. Er hatte sich nie dagegen gesträubt, den Sommer über kostendekkend arbeiten zu gehen, aber in diesem Jahr wurden die Barschecks aus den Camps an Dunny geschickt, und sein Vater war es auch, der für etwaige Campkosten aufkam. Er selbst erhielt lediglich ein mageres Taschengeld und befand sich infolgedessen in chronischer Geldnot. Kein Geld in der Tasche zum Vertrinken, geschweige denn, um ein Mädchen auszuführen. Nach den Spielen gab er sich alle Mühe, nicht hinzusehen, wenn die anderen tranken, dennoch konnte er das Bier riechen, es förmlich auf der Zunge schmecken. Außerdem waren da die Dunstschwaden der Grasjoints, die aufstiegen, wenn die Sonne unterging und die noch ausstehenden Spiele bekannt gegeben wurden. Das alles machte ihn durstig und unruhig, weckte seinen Hass auf den Arzt, der ihm jeglichen Alkoholgenuß verboten hatte, bis die Testergebnisse negativ sein würden. Es war absurd: bumsen konnte er, solange er einen Gummi benutzte, aber trinken durfte er nicht, weil es die Wirkung der Antibiotika schmälerte. Seine Maßlosigkeit in der letzten Zeit war auch genau der Grund, weshalb er den Tripper immer noch am Hals hatte. Wenn er sich einmal nicht mit Gedanken an eine Versöhnung mit Kissy herumquälte, quälte ihn sein bevorstehender Verkauf. Spenser Lobel beharrte darauf, die Sache wäre seit langem geplant gewesen. Es bestand zwar kein offizieller Zusammenhang, doch hatte sich seine Abberufung verdächtig kurz nach dem ›Großen Schlamassel‹ ereignet. Wie viel Blödsinn ihm sein Agent auch erzählen mochte,
Tatsache war, daß Junior in Zukunft keine Glanzauftritte in einer höheren Spielklasse mehr haben würde und statt dessen zu einem unbedeutenden Club in einen Teil des Landes ins Exil geschickt wurde, in dem Eis- und Rasenhockey um die Gunst der Bevölkerung miteinander im Wettstreit lagen. Westlich von Chicago, südlich von Minnesota. Abgesehen von dem spießbürgerlichen Quadrat genau im Landeszentrum, wo sich die Footballfans im Winter auch für Basketball ereiferten – High-School-Basketball obendrein – , war es eine typische Football-Gegend. Hätte er eine Wahl gehabt, wäre er lieber noch nach Kanada gegangen und als verdammter Yankee beschimpft worden. In Quebec zu spielen und eine Tonne ›Merde Franco‹ fressen zu müssen, weil er die Sünde begangen hatte, kein Frosch zu sein, wäre immer noch besser als das. Am schlimmsten aber war die plötzliche Nähe zu seinem Bruder Mark, der sich in den vergangenen vier Jahren in erträglicher Entfernung von ihm befunden hatte. Jetzt hatte er Mark praktisch ununterbrochen vor der Nase und sein Bruder versuchte haargenau so zu sein wie er. Er konnte ihn nicht davon abhalten, sich an seine Mannschaftskollegen heranzumachen. Schön, seine ehemaligen Kollegen, aber es waren nach wie vor seine Kumpel, und in der nächsten Saison würden sie die Mannschaftskollegen seines Bruders sein. Der kleine Mistkerl infiltrierte sein Leben, hing in den Sporteinrichtungen der Uni herum, mischte sogar bei seinen Spielen mit. Und er besaß nicht nur einen gültigen Führerschein, er fuhr auch noch mit dem Wagen herum, der vor gar nicht langer Zeit Junior gehört hatte. Dionne kehrte für einige Blockseminare, die er zur Qualifikation für sein Abschlußjahr brauchte, den Sommer über an die Universität zurück. Wie nicht anders zu erwarten, fand eine riesige Fete statt. Junior hatte die Infektion mittlerweile überwunden, also genehmigte er sich ein oder zwei Biere. Ein Mädchen namens Page, ein kompaktes kleines Gerät im Paula-Abdul-Stil, begann ihn mit Fick-michBewegungen zu traktieren. Eine Zeit lang gab er sich den erheiternden Überlegungen hin, ob er ihre Brüste nun frech oder unverschämt fand. Dann schoß ihm durch den Kopf, daß Kissy es garantiert herauskriegen würde, wenn er Page mit zu sich nach Hause nahm. Irgend jemand, beispielsweise sein selbstherrlicher Bruder Mark, würde es für seine Pflicht halten, sie davon in Kenntnis zu setzen. Mit Bitterkeit stellte Junior fest, daß die Leute wesentlich weniger Wert
darauf legten, Kissy mitzuteilen, daß er mit keiner anderen Frau geschlafen hatte, als ihr vom Gegenteil zu berichten. Er war sich vollkommen darüber im Klaren, daß Kissy ihm einen Seitensprung niemals verziehen hätte, auch wenn sie nicht von ihm angesteckt worden wäre. So war sie eben, und wenn er genau darüber nachdachte, wollte er sie auch nicht anders haben. Die Sorte Frau, der es egal war, ob er sich mit anderen Weibern herumtrieb, trieb sich vermutlich selbst herum oder hatte es zumindest im Sinn. Er wollte, daß Kissy zu der Kategorie Frauen gehörte, die nicht hinter seinem Rükken mit anderen Männern ins Bett stieg. Und auf keinen Fall wollte er herausfinden, daß sie es bereits getan hatte. Gleichzeitig wußte er aber auch nicht, wie er sie zurückgewinnen könnte, und selbst wenn er es gewußt hätte, war ihm nach wie vor schleierhaft, wie er sie und seine Karriere unter einen Hut bringen sollte. Beim bloßen Gedanken daran bekam er Kopfschmerzen und Magendrücken. Weshalb nur war das Leben so kompliziert? Als Bestrafung für den Mord an Ed erklärte er Page, sie zeige seiner Ansicht nach Frühsymptome von Alkoholismus, und setzte anschließend Dionne darüber in Kenntnis, er sei ein degenerierter Vollidiot, der sein – Juniors – Leben ruiniert habe und sich zum Teufel scheren könne. Dionne schaute ihn mit gerunzelter Stirn verblüfft an und forderte ihn auf, ihm einen zu blasen. Ohne sich zu einer Antwort herabzulassen, machte Junior sich davon, beinahe nüchtern und so tugendhaft wie frisch gefallener Schnee, um in die elterliche Wohnung zurückzukehren. Dort hatte seine Schwester, die mittlerweile den gleichen Haarschnitt trug wie Kissy und sich das eine Ohr noch öfter hatte durchstechen lassen als sie, seine Bettdecke drastisch gekürzt und die Klopapierrolle im Bad mit Hilfe eines versteckten Teppichmessers in ein Folterinstrument verwandelt. Er ließ sie so wie sie war, um seinem Vater das Vergnügen zu gönnen. Am nächsten Morgen wurde er zu seiner heimlichen Genugtuung von Dunnys Gebrüll aufgeweckt. Lautstarkes Fluchen übertönte die Wasserspülung des WCs, dann ging die Badezimmertür auf und ein aufgebrachtes »Bernadette!« schallte durchs Haus. Der Sommer in Maine begann eigentlich erst dann, wenn er im Grunde schon wieder vorüber war. Als der nahende Herbst die Sommerabende nach und nach kühler werden ließ, hatte Junior das
Gefühl, eine Hand im Kreuz zu haben, die ihn schob und schob und schob, bis er allmählich das Gleichgewicht verlor. Nicht mehr lang, und er mußte fort. Seine Träume handelten ausschließlich von Kissy, von dem starken Bedürfnis, in Kontakt mit ihr zu treten, mit ihr zu sprechen, ihr eine wichtige Botschaft überbringen zu müssen, aber er wurde unerbittlich von ihr ferngehalten – von einem tosenden schwarzen Fluß, auf dessen einziger Brücke ein tropfnasser Ed Wache stand. Obwohl sein Kopf in einem seltsamen Winkel herunterhing, war der Hund nach wie vor in der Lage, die Zähne zu fletschen und ihn wütend anzubellen. Für Juniors Geschmack hatte die Phase, in der sich sein Leben momentan befand, eine viel zu starke Ähnlichkeit mit der Zeit, als er sechs Jahre alt gewesen war und die Atwood-Jungs die Gürtelschlaufen seiner Hose an der Zugleine des Fahnenmastes vor der Kingstoner Feuerwache festgemacht hatten, um ihn hinaufzuziehen. Die anfängliche Aufregung, die Faszination beim Anblick Kingstons, das tief unter ihm lag, waren schlagartig verschwunden, als er sah, wie die Atwoods im Wahnsinnstempo auf ihren Fahrrädern um die Ecke bogen, und ihm langsam klar wurde, daß sie keineswegs die Absicht hatten, ihn wieder herunterzuholen. Ende Juli wurde Kissy zur Frühschicht eingeteilt. Sie schlenderte über den Jahrmarkt, die Attraktion des gesamten Landkreises, fotografierte die Kinder auf dem Hauptweg, die Pferde auf der Rennbahn, die Besucher, die auf Ballonfahrt gehen wollten. Eines Morgens stand sie noch vor Tagesanbruch auf, um sich selbst in die Lüfte tragen zu lassen. Von der Gondel aus bot sich ihr ein atemberaubender Blick auf Peltry, die Brücken über den Dance, die gesamte Länge der Hornpipe und das Valley hinab. Der Ballonführer fragte nach ihrer Telefonnummer. ›Garrett‹ – wie der in sein Jackett eingestickte Schriftzug verriet – war Anfang dreißig und hatte dort, wo vor kurzem noch ein Ehering gewesen war, einen hellen Streifen am Ringfinger. Er hatte Lachfältchen in den Augenwinkeln, einen zurückweichenden Haaransatz und einen bescheidenen Schnurrbart, der ihm ein gutmütiges Aussehen verlieh. Er war nicht der erste Mann seit der Trennung von Junior, der Interesse an ihr zeigte, aber normalerweise beschlich sie bei diesen Gelegenheiten immer ein ungutes Gefühl. Wie bei Zoo, der – er war
in die Stadt gekommen, um ein paar Möbelstücke von Brenda abzuholen – mit einem Sechserpack Bier bewaffnet und einer tiefen Besorgtheit um ihren Seelenzustand bei ihr aufgetaucht war, die sich in Windeseile zu eindeutigen Annäherungsversuchen ausgewachsen hatte. Sie war in schallendes Gelächter ausgebrochen. Er hatte es mit einem Achselzucken abgetan und sich wieder getrollt. Am Abend setzte sie sich noch einmal zu Garrett in den Ballon, um die Lichterketten des Jahrmarkts zu fotografieren, die auf dem Boden, wo die fehlenden Glühbirnen herausragten wie dunkle Zahnlükken, ausgesprochen schäbig wirkten, aus der Luft aber großartig aussahen. Außerdem stand das allabendliche Feuerwerk bevor, dessen Raketen dann auch wenig später in atemberaubenden Leuchtblumen vor dem kreisrunden Gesicht des Mondes explodierten. Sie schwebten bereits wieder kurz über dem Boden, und Kissy hatte den Sucher der Kamera auf das ihr zugewandte Ende des Hauptgangs gerichtet, als sie plötzlich einen jungen Mann ins Blickfeld bekam, der einem Mädchen aus der Riesenkrake half. Fast reflexartig drückte sie ab, als sie Junior erkannte. Das Mädchen fiel ihm lachend um den Hals, woraufhin er ihr tief in die Augen blickte und sie in die Schatten neben dem Karussell zog, um sie zu küssen. Nur daß es nicht Junior war, wie Kissy beinah im selben Moment klar wurde, sondern sein Bruder Mark. Das leicht unheimliche Gefühl, das sie bei dieser Erkenntnis beschlich, war nicht die einzige Reaktion auf den Vorfall. Plötzlich geschah etwas, das sie bis ins Innerste durchdrang und zutiefst erschütterte. Sie wollte Junior zurück. Sie wollte seinen Arm um sich spüren, seinen Körper, an den sie sich in den wabernden Schatten schmiegte, seinen Mund, der sich auf ihren legte. Das Klopfen riß sie augenblicklich aus dem Schlaf. Ohne ihn gesehen zu haben, und ohne sagen zu können weshalb, wußte sie sofort, daß er es war. Als hätte ihre momentane Sehnsucht nach ihm ihn ihr geradewegs ins Haus geliefert. Einen Moment lang fühlte sie sich ebenso bewegungsunfähig wie in ihren Albträumen, aber sie hatte keine Angst. Lediglich Unsicherheit, was ihre Reaktion betraf. »Kissy«, ertönte es auf der anderen Seite der Tür. Es klang wie ein Flehen.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn vor sich, die Finger gegen das Holz gestemmt, eine Hälfte seines Gesichts an den Türstock gepreßt, während ihr alberner, kindischer Name mit unausweichlicher Vertrautheit von seinen Lippen ins Leere fiel. Sie setzte sich langsam auf und umfaßte ihre Knie. Wegen der Hitze hatte sie nackt geschlafen. »Kissy«, sagte er noch einmal. Sie griff nach einem Paar Boxershorts und einem T-Shirt. Nachdem sie die kleine Lampe neben dem Bett angeknipst hatte, ging sie zur Tür, um den Riegel zur Seite zu schieben und die Kette zu lösen. Dann spähte sie durch einen Spalt hinaus. »Kissy!«, wiederholte er strahlend. Er roch nach Bier und Rauch, seine Augen waren leicht gerötet. »Ich hätte jemanden bei mir haben können«, sagte sie. Er versuchte zu grinsen, doch es gelang ihm nur schlecht. »Den Kerl bring ich um!« Seine Stimme bebte. Sie machte die Tür sperrangelweit auf, um ihn hineinsehen zu lassen. »Ich weiß, daß er weg ist.« Junior schob sich leicht schwankend in den Türrahmen vor. »Wer war das?« »Meine Sache. Bist du betrunken?« »Ein bißchen.« Er starrte auf die Matratze. Sie hatte nur unter einem Laken geschlafen, das jetzt auf der linken Seite zurückgeschlagen war. Das darunter liegende Bettuch war bloß leicht eingedrückt – wie er es oft gesehen hatte, wenn sie vor ihm ins Bett gegangen war. Er schnüffelte. »Arschloch!« Kissy verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab nicht mit ihm geschlafen. Noch nicht.« Was er natürlich längst wußte. Er benahm sich nur deshalb so idiotisch, weil er einen sitzen hatte und sich darüber ärgerte, daß sie mit jemandem ausgegangen war. Unaufgefordert trat er ein und machte die Tür hinter sich zu. »Ich hab gesehen, wie er weggefahren ist«, sagte er kleinlaut und angriffslustig zugleich. »Nicht daß du jetzt glaubst, ich hätte dir nachspioniert oder so. Ich wollte dich einfach nur sehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Mr. Muschimann machte nicht gerade den Eindruck, als hätte er gerade eine Nummer geschoben. Ich bin nach
Hause gegangen und dann wieder zurückgekommen. Ich mußte dich unbedingt sehen.« »Du hast mich gesehen. Jetzt kannst du wieder gehen.« »Ich fahre morgen ab.« Es kam nicht überraschend. Es war Zeit. »Kissy, ich kann die Stadt nicht in dem Wissen verlassen, daß du mich haßt.« »Ich hasse dich nicht«, gab sie zurück, obwohl sie schlagartig vor Wut zitterte. »Ich liebe dich, Kissy. Ich will das alles nicht. Ich will nicht ohne dich sein.« »Das wäre sowieso passiert. Mein Gott, Junior, du hast mir den Tripper anhängt! Und du bist zu feige gewesen, es mir zu sagen. Wann hattest du das eigentlich vor? In zehn Jahren, wenn ich ein Kind haben möchte und plötzlich feststelle, daß ich wegen einer unbehandelten Gonorrhö unfruchtbar bin?« »Ich wollte es dir ja sagen, aber da warst du schon weg. Du hast mir nie die Chance gegeben…« »Du hattest die Chance, mich anzustecken, und du hast sie genutzt.« »Ich hab’s doch nicht absichtlich getan. Es ist einfach passiert…« »Wie man sich eine Erkältung holt, oder was?« »Ich wollte dir nicht wehtun. Ich war high! Zoo feierte seine Junggesellenparty und plötzlich war da diese Nutte…« »Halt die Klappe, Junior, du machst es nur noch schlimmer! Weißt du eigentlich, was für ein Gefühl das ist, den Tripper mit dir und einer öffentlichen Bumsmaschine zu teilen?« Er hielt tatsächlich die Klappe. Aber er schaute sie mit der gleichen elenden Niedergeschlagenheit an, die sie immer in Eds Augen gesehen hatte, wenn er irgendeine Hundesünde begangen hatte. In Juniors Blick bündelte sich seine gesamte Sehnsucht nach ihr. »Sieh mich nicht so an, Junior«, murmelte Kissy und suchte unsicher mit einer bloßen Fußsohle nach festerem Halt. Entzückt und berauscht nahm er sie derart plötzlich in seine Arme, daß sie nicht schnell genug zurückweichen konnte. Als er sie zu küssen versuchte, riß sie, über so viel Kühnheit völlig entgeistert, seinen Kopf an den Haaren zurück. Er preßte sich an sie. Mit geschlossenen Augen atmete sie den Duft seiner Haut, seiner
Haare ein. Wie schon auf dem Jahrmarkt amüsierte und entsetzte sie die unvermittelte Heftigkeit ihres Verlangens. Sie hörte sein Gebrabbel kaum, wie sehr er sie liebe, wie treu er ihr seit der Trennung gewesen sei, wie sehr sie ihm immer noch fehle. Binnen Sekunden landeten sie auf der Matratze. Die kleine Lampe warf eine wabernde Amöbe aus Licht an die Decke. Blaß und substanzlos starrte sie auf die beiden hinab. Plötzlich war ein Gesicht zwischen Kissys Beinen; Juniors Gesicht, Juniors Nase, seine Lippen, seine Zunge. Sie kam gewaltig, und als sie anschließend nach Atem ringend dalag, kroch er über sie und bedeckte ihren Körper mit zärtlichen, hingebungsvollen Küssen. Dann zerrte er an seinen Shorts und führte ihre Hand an sein Glied. »Hör auf«, schrie Kissy. »Warum? Es war doch toll…« »Ach, sei still«, keuchte sie unter Tränen. Heftiges Schluchzen schüttelte ihren Körper. Das Ausmaß der salzigen Flut, die aus ihr herausströmte, als wäre unvermutet ein Damm gebrochen, überraschte sie selbst. Junior hielt sie in seinem Schoß, wiegte sie sanft, sprach beruhigend auf sie ein. Er küßte ihre Augen und begann ihr Gesicht abzulecken wie eine Katze, die ihr Junges putzt. Die rauhe Haut seiner Zunge kitzelte ihren Hals, so daß sie kichern mußte. Sie war so müde – mit einem Mal schien alles lustig zu sein, sogar wenn Junior wieder an seinen Shorts herumgefummelt und ihre Hand auf seinen Ständer gelegt hätte. »Junior, hör mir zu – ich nehme die Pille nicht mehr seitdem wir auseinander sind.« »Ich zieh ihn raus«, sagte er wie aus der Pistole geschossen und begann zu lachen. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor…« »Bitte!« Er umfaßte ihre Brüste und rieb seine Nase an ihrem Ohr. »Bitte, Kissy, ich liebe dich, es wird schon nichts passieren…« Sie schloß die Augen. Er legte eine Hand auf ihr Schambein und sie preßte sich rhythmisch dagegen. Er ließ nicht locker, verstärkte den Druck, raunte, schwor, berührte sie auf eine Art und Weise, die sie vollkommen hilflos werden ließ, die sie fast um den Verstand brachte, wie er sehr genau wußte. Das ist doch bescheuert, sagte sie sich, wie bescheuert kann man eigentlich noch sein? – aber sie hielt
ihn nicht auf. Ihr kopfloses Verlangen war ihr selbst unbegreiflich. Sie verschränkte die Beine hinter seinem Rücken und sog seine Zunge in ihren Mund. Sie gehörte wieder ihm, unwiderruflich, total. Er wollte für immer in ihr bleiben und natürlich auch in ihr kommen, sich nicht in letzter Sekunde aus ihr zurückziehen – und plötzlich war es passiert, ganz unvermutet, ohne jede Vorwarnung. Zu spät versuchte Kissy, sich von ihm loszureißen. Sie überschüttete ihn mit bitterlichen Verwünschungen, doch ihr Zorn war fast augenblicklich verraucht und hinterließ nur ein Gefühl hilfloser Panik. Dann waren sie wieder voneinander getrennt, atmeten beide schwer, starrten sich über die Matratze hinweg wortlos an. Kissy rollte sich auf den Boden und wankte ins Bad. Als sie wenig später zurückkam, schaute sie mit düsterem, unglücklichem Blick auf ihn hinab. In stummem Flehen streckte er die Hände nach ihr aus. Langsam und zögernd sank sie ihm entgegen. Er zog sie ganz hinunter, kuschelte sich an sie, die Brust an ihrem Rükken, und rieb seine Nase an ihrem feuchten Haaransatz. Ihr Körper zitterte wie Espenlaub. Er legte eine Hand über ihre, die das Kissen umklammert hielt, mit der anderen bedeckte er besitzergreifend ihre Scham. »Ich liebe dich«, wiederholte er zum x-ten Mal. Ihre Brust zuckte. »Nein, tust du nicht. Du bist ein Lügner, Junior. Ich hasse dich.« »Ich konnte nichts dagegen tun – es ist so lange her. Es wird schon nichts passiert sein.« Sie sagte nichts mehr. Sie würde drüber wegkommen, da war er ganz sicher. Bestimmt war sie auch wütend auf sich selbst, weil sie nicht imstande gewesen war, nein zu sagen, aber sie wollte ihn immer noch genauso sehr, wie er sie wollte. Ihre Gier war der beste Beweis dafür, daß es in der Zwischenzeit keinen anderen gegeben hatte. Sie waren zusammen, weil es so sein sollte. Er war erfüllt von seiner Liebe zu ihr. Bald war alles wieder gut, sie würde schon sehen. Vogelgezwitscher weckte sie auf. Daß eine Horde Piepmätze den Baum vor ihrem kleinen Fenster bevölkerte, gehörte zu den ange-
nehmeren Aspekten ihrer neuen Umgebung. Um welche Sorte Vögel es sich dabei handelte, wußte sie nicht. Sie konnte eine Krähe von einem Rotkehlchen, einen Papagei von einem Huhn unterscheiden, aber das war’s dann auch. Ein Mangel, den zu beheben sie sogar schon so weit fortgeschritten war, daß sie sich die Taschenbuchausgabe eines ornithologischen Bestimmungsbuches zugelegt hatte. Doch die Sonnenaufgangsidylle kam ihr trügerisch vor, egal welche Vögel da auf den Ästen saßen und den neuen Tag begrüßten. Sofern sie noch schwimmen und trainieren wollte, mußte sie jetzt aufstehen, aber die Wärme von Juniors Körper war verführerisch, so daß sie sich noch einmal an ihn kuschelte; nur für einen Moment. Es war ein unglaublich vertrautes, ausgesprochen schönes Gefühl, neben ihm aufzuwachen. Noch halb im Schlaf, preßte er seinen Unterleib an ihren Hintern, hart wie ein Brecheisen, und sie erwiderte den wohlbekannten Druck. Zum letzten Mal, sagte sie sich, und drehte sich zu ihm um. Als es vorbei war, rollte sie sich hastig von der Matratze, um im Bad zu verschwinden. Nicht, daß sie jetzt noch etwas anderes hätte tun können als pinkeln, wie schon am Abend zuvor. Sie war verrückt, eine gottverdammte Närrin, die alles verdiente, was immer nun geschah. Auf keinen Fall würde sie einen Blick in ihren Kalender werfen und sich zu erinnern versuchen, wann sie die letzte Periode gehabt hatte, um ihre fruchtbaren Tage zu bestimmen. Sie schlüpfte in frische Sachen und stellte die Kaffeemaschine an. Dem Plätschern zufolge leerte Junior im Bad seine Blase. Wenig später kam er splitternackt in die Küche, in einer Hand seine Kleidungsstücke, in der anderen seine Turnschuhe. Gähnend ließ er die Schuhe auf den Boden plumpsen, stieg in seine Shorts und zog sich einen Stuhl unter den Hintern. »Deine Version von einem Weckruf fand ich schon immer toll«, grinste er. Kissy nahm die Kanne aus der Maschine und stellte einen Becher direkt unter das Tropfrohr. Als er voll war, ersetzte sie ihn durch einen zweiten, füllte diesen aus der Kanne auf und schob ihn Junior hin. Er versenkte seine Füße in den Turnschuhen. »Die Drovers schikken ihre Hauptkandidaten normalerweise zum Reifen nach Allentown. Wir wollen alle zusammen hinfahren, die ganze Familie. Ein-
mal quer durchs Land, ohne jeden Streß, mit Zwischenstops, wo’s uns gerade gefällt. Komm doch mit, Kissy. Meine Leute wären begeistert, und wenn ich den Vertrag in der Tasche habe, können wir beide, nur du und ich, ein bißchen durch die Gegend gondeln – wie in den Flitterwochen. Was hältst du davon?« »Und was ist mit meinem Job?« »Es ist ein mieser Job. Miese Jobs gibt’s wie Sand am Meer.« Sie stellte die Kanne in die Maschine zurück. »Vielleicht mag ich ja meinen miesen Job.« »Und was ist mit letzter Nacht? Mit heute Morgen?« »Es ist einfach passiert«, erwiderte sie ironisch. »Es hat nicht das Geringste zu bedeuten, Junior.« Er starrte sie an. »Das verstehe ich nicht.« Seine Zunge fuhr über seine Lippen, dann fragte er ungläubig mit heiserer Stimme: »Bist du in den Mistkerl verknallt, mit dem du gestern Abend unterwegs warst?« »Nein.« Juniors Anspannung fiel von ihm ab, als hätte jemand in seinem Innern einen Draht durchtrennt. »Was ist es dann?« »Junior…« Er preßte trotzig die Lippen zusammen. »Okay, ich hab Scheiße gebaut, aber vorbei ist vorbei. Wir lieben uns immer noch.« »Es hat sich nichts geändert.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und goß den Rest ihres Kaffees in den Ausguß. »Ich gehe jetzt schwimmen. Wenn du willst, setze ich dich zu Hause ab. Dann sagen wir uns Lebwohl.« Junior war wie vom Donner gerührt. Als sie sich wieder umdrehte, starrte er sie aus überfließenden Augen an. »So kannst du nicht mit mir umspringen.« Kissy packte ihre Sporttasche und ihren Schlüsselbund. »Ich bin nicht dein Eigentum, Junior. Wenn du mitfahren willst, setz deinen Hintern in Bewegung.« Sie wartete an der Tür, um endlich abzuschließen zu können. Er folgte ihr die Treppe hinunter zum Blazer, der an der Bordsteinkante stand. »Noch vor einer halben Stunde bin ich davon aufgewacht, daß du an meinem Schwanz gelutscht hast, Kissy…« »Pure Gewohnheit, Junior«, höhnte sie aus dem schlechten Gewissen heraus, nicht stark geblieben zu sein.
»Gewohnheit?« Mit seinem Dreitagebart und den leicht geröteten Augen, die in Tränen schwammen, sah Junior nach wie vor ein wenig betrunken aus. Bei der Vorstellung, daß Schwanzlutschen für sie einfach eine Angewohnheit war wie beispielsweise Zigarettenrauchen, fühlte er sich derart benommen, als wäre er noch völlig betrunken. »Du hast mir den Tripper angehängt«, preßte Kissy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Den du dir bei einer Hure geholt hast.« Beides Tatsachen, die ihm weder neu waren noch momentan weiter diskutiert werden sollten. Vor Angst wie erstarrt stand er neben ihr, als sie die Fahrertür aufschloß, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. »Was ist jetzt?«, fragte sie. »Fährst du mit?« Als sie sich wieder dem Wagen zuwandte, packte er ihre Schultern und drehte sie gewaltsam zu sich um. Kissy holte tief Luft, dann rammte sie ihm so heftig sie konnte ein Knie zwischen die Beine. Er ließ sie schlagartig los, sackte auf die Bordsteinkante, kippte zur Seite und übergab sich. Kissy sprang in den Wagen, ließ mit zitternden Händen den Motor an und legte ruckartig den Gang ein. Junior hob den Kopf und bekam eine Ladung Abgase in den Mund. Ein paar Minuten später hatte er sich zur nächsten Straßenecke geschleppt, wo er bei dem Versuch, sich festzuhalten, mit einer Schulter gegen den Laternenpfahl prallte. Mühsam gewann er das Gleichgewicht zurück und schlurfte weiter. Er war noch nicht sehr weit gekommen, als plötzlich ein Streifenwagen erst hinter ihm, dann neben ihm herzukriechen begann. »Guten Morgen, Junior«, strahlte Officer Hilfreich ihn an. »Na, alles in Ordnung?« Junior war absolut nicht nach Plaudern zumute. Er stand einfach stumm da, als die Bullenkiste anhielt, und Officer Hilfreich samt Partner – ein gewisser Sergeant Preston oder so ähnlich – ausstiegen, um sich ein bißchen die Zeit mit ihm zu vertreiben. »Einen zu viel gekippt?«, erkundigte Sergeant Preston sich besorgt. Junior schüttelte den Kopf.
»Sie scheinen etwas wacklig auf den Beinen zu sein«, bemerkte Officer Hilfreich. »Außerdem ist es ziemlich früh. Sie tragen doch wohl keine Zeitungen aus?« Endlich brachte Junior genügend Speichel zusammen, um sprechen zu können. »Nein. Ich bin auf dem Weg nach Hause.« Sergeant Preston griff sich seinen Ellbogen. »Ich mach Ihnen einen Vorschlag, Junior. Wir gehen zum Wagen, überprüfen, ob Sie sauber sind, und wenn das der Fall ist, bringen wir Sie heim. Ein besseres Angebot kriegen Sie heute bestimmt nicht.« Junior fand nicht, daß er die Wahl hatte. Er stützte die Hände auf die Kühlerhaube, spreizte wie befohlen die Beine und Officer Hilfreich begann ihn mit recht intimen Berührungen zu traktieren. Als er zusammenzuckte, weil der Bulle ihm zwischen den Beinen hinaufstrich, lachten die beiden amüsiert. »Junior, was haben Sie nur getrieben?«, fragte Hilfreich in leicht vorwurfsvollem Ton. »Gar nichts«, gab Junior gedämpft zurück. Sie waren tatsächlich so nett, ihm auf den Rücksitz zu helfen. »Also, Junior«, meinte Hilfreich, als sie langsam durch die stillen Straßen rollten, »haben Sie gestern Abend vergessen, welcher Weg nach Hause führt?« Preston mußte über den kleinen Scherz seines Partners herzhaft lachen. »Scheint so«, räumte Junior ein. »Und das ganz in Kissy Mellors Nähe, wenn mich nicht alles täuscht. Üble Gegend hier, abgesehen von dem Block, in dem sie wohnt«, fuhr Hilfreich fort. »War das nicht auch sie, die vor fünf bis zehn Minuten in ihrem Blazer um die Ecke gerauscht ist? Wir hätten sie anhalten können, sie ist mindestens fünfzehn Sachen zu schnell gefahren, aber die Straßen sind leer und wir hatten gerade eine Pause gemacht, außerdem dachten wir, sie wäre vielleicht einfach spät dran. Also haben wir ein Auge zugedrückt.« »Nett von Ihnen«, brummte Junior. »Sie haben sie doch nicht belästigt, oder?«, fragte Sergeant Preston unvermittelt, als wäre ihm der Gedanke soeben gekommen. »So dumm würden Sie nicht sein, stimmt’s?« »Klar würde er«, mischte Officer Hilfreich sich ein. »Juniors Gehirn schaltet manchmal einfach ab. Er besäuft sich, killt seinen Hund,
klaut den Wagen seiner Freundin, fährt ihn zu Schrott und schmeißt den toten Hund von der Brücke. Ein paar Bier, ein paar Pillen, ein paar Züge Gras – und man kann sich darauf verlassen, daß Junior aufsehenerregend dumme Dinge tut.« »Ich verlasse heute die Stadt«, sagte Junior. »Ich wollte mich verabschieden.« »Und deshalb wollten Sie sie auf dem Weg zur Arbeit abfangen?«, half Officer Hilfreich seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Junior gab keine Antwort. Sie hatten kein Recht, ihm all diese Fragen zu stellen. Er versuchte nur, heil nach Hause zu kommen. Sein Magen rebellierte immer noch, seine Hoden taten fürchterlich weh. Vorsichtig bedeckte er sie mit den Händen und machte die Augen zu. »Antworten Sie dem Herrn«, sagte Sergeant Preston scharf. »Könnte sein, Junior, daß Sie die Stadt heute sonst nicht mehr verlassen.« Junior bleckte die Zähne. »Ich bin über Nacht bei ihr geblieben. Heute Morgen hatten wir Streit. Kennen Sie das nicht? Aufwachen, gleich schlechte Laune haben und Krach kriegen? Passiert doch jedem mal.« »Aber nicht so, daß ich meine Eier festhalten muß«, gab Preston zurück. »Haben Sie der Armen zu feuchten Träumen verholfen?« Jetzt war es Hilfreich, der lachte. Der Streifenwagen fuhr an den Straßenrand. »He, Junior«, meinte Preston kumpelhaft, »nichts für ungut, ja? Aber die Leute sollen schließlich nicht denken, daß Sie eine Sonderbehandlung kriegen, oder?« Mit einem Lächeln, das scheinbar aus tiefstem Herzen kam, hielt er Junior die Wagentür auf. Dann streckte er einen Arm aus, drückte Junior fest die Hand und klopfte ihm auf den Rücken. »Alles Gute, Sohn.« Wie aus dem Nichts tauchte Hilfreich neben seinem Partner auf, ebenfalls mit ausgestreckter Hand. Junior betrachtete sie zweifelnd und kam schließlich widerstrebend zu dem Schluß, sich in diesem Fall verstellen zu müssen. Er war nicht nur auf Bewährung, irgendwann wollte er sicher auch wieder in Peltry wohnen. Dunny stand in der Haustür. Die Cops winkten ihm zu – ein fröhlicher Gruß, den er nach kurzem Zögern erwiderte. Junior schleppte sich mühsam an ihm vorbei und ließ sich vorsichtig auf den nächstbesten Küchenstuhl fallen. Dunny füllte einen Becher mit Kaffee und stellte ihn vor seinem Sohn auf den Tisch.
»Wirklich schön, wenn der Tag damit beginnt, dich aus einem Streifenwagen steigen zu sehen. Als du gestern Abend nicht nach Hause gekommen bist, habe ich zu deiner Mutter gesagt, wahrscheinlich hat er einen zu viel getrunken und schläft klugerweise bei Dionne. Erzähl mir bloß nicht, du hast in der Ausnüchterungszelle übernachtet!« Juniors studierte den öligen Glanz auf seinem Kaffee. »Es war nur eine Art Taxiservice von den Bullen. Ich war bei Kissy. Sie ließ mich bleiben, aber heute Morgen hatten wir Streit. Sie ist immer noch sauer wegen der alten Geschichte.« »Du solltest sie in Ruhe lassen. Manche alten Geschichten kann man nicht mehr ausbügeln, Junior. Das weißt du.« »Sie ist wichtig für mich, Dad.« Dunny schüttelte seufzend den Kopf. »Du hast eine Verabredung Zweieinhalbtausend Kilometer von hier, das ist auch wichtig für dich. Wenn dir wirklich etwas daran liegt, mußt du dich dahinter klemmen. Verlier nicht dein Ziel aus den Augen. Du hast nur diese eine Chance, Karriere zu machen. Laß deinen Schwanz nicht über dein Leben bestimmen, Junior.« Esther, die soeben in die Küche kam, hörte den letzten Satz mit. »Dunny, schreib das auf. Und für Junior und Mark werde ich ein Spruchband machen, das diese Worte trägt. Tut mir leid, daß ich eurem Vater-Sohn-Gespräch ein Ende machen muß, aber wir haben einen langen Tag vor uns.« Sie füllte ein Glas mit Wasser, holte ein Fläschchen Aspirin aus dem Schrank und gab beides Junior. »Pack deine Sachen fertig, Junior. In einer Stunde will ich aus dem Haus sein. Und du, Dunny, lauf nach oben und sieh nach, ob Bernie und Mark sich nicht einfach wieder umgedreht haben und in Tiefschlafgefallen sind.« \ 12 [ Nachdem der routinemäßig eingelegte Widerspruch gegen die Anklage abgewiesen worden war, wurde James Houston Jr. wegen Totschlags und schweren tätlichen Angriffs vor Gericht gestellt. Im Lauf der Woche, in der die Geschworenen einberufen wurden, wärmte die News die Einzelheiten des Unfalls mit einer Titelserie wieder auf. Laut dem Bericht war Houston ein Einzelkind. Seine Mutter war
Kunstreiterin und züchtete Pferde, sein Vater war Kinderarzt. Nachdem der Vater erfahren hatte, daß sein Sohn in einen Unfall mit tödlichem Ausgang verwickelt war, hatte er einen schweren Herzinfarkt erlitten und sich einer Notoperation unterziehen müssen, bei der ein Bypass gelegt wurde. Houstons Großvater väterlicherseits, ein Neurochirurg von einigem Rang, hatte einen Treuhandfonds für die medizinische Ausbildung seines Enkels eingerichtet. Als Student, der sich vom ersten Semester an auf eine akademische Laufbahn in einem Spezialfach festgelegt hatte, schien Houston dem Wunsch seines Großvaters, in Medizin Karriere zu machen, voll und ganz zu entsprechen. Auch in der Zeit, als er sich nach der Kautionsstellung auf freiem Fuß befand, hatte er dieses Ziel unbeirrt weiterverfolgt und das Kursprogramm, das an der Sowerwine auf das Medizinstudium vorbereitete, Summa cum laude beendet. Zwölf Tage vor Prozeßbeginn bekam Ruth Prashker eine akute Lungenentzündung. Als sie nicht mehr imstande war, aus eigener Kraft zu atmen, wurde sie eilends zur künstlichen Beatmung ins Krankenhaus gebracht. Ruths Vater reichte bei Gericht ein Gesuch um die offizielle Erlaubnis ein, das Atemgerät abschalten und weitere lebenserhaltende Maßnahmen verbieten zu lassen. Anfänglich waren Mrs. Prashker, Mrs. Cronin und die Krankenhausverwaltung gegen die erbetene Verfügung. Doch dann fand die Familie unter dem Einfluß von Ruths Bruder Dan zusammen und machte einen Gesinnungswechsel durch; Mrs. Prashker und Mrs. Cronin wichen von ihrem Standpunkt ab. Die Krankenhausverwaltung ersuchte das Gericht um die Ernennung eines neutralen Vormunds. Dem wurde stattgegeben, wodurch die Prashkers und Mrs. Cronin jegliches Mitbestimmungsrecht bezüglich der Pflegemaßnahmen sowie Ruths Zukunft verloren. Somit oblag Ruth nun vollständig der Verfügungsgewalt der Institutionen. In der Zeitungsredaktion wurde viel darüber gesprochen, daß Houstons Anwälte – sofern das Gericht dem Gesuch stattgäbe – sich darauf würden einstellen müssen, erneut Widerspruch einzulegen. Falls Ruth Prashker starb, lautete die Anklage nicht mehr auf Totschlag in einem, sondern in zwei Fällen. In der Nacht vor Beginn der Zeugenvernehmungen wälzte Kissy sich ruhelos im Bett. Offenbar stand ihre Periode vor der Tür. Die Erleichterung, die sie beim ersten Zwicken empfand, machte ihr noch deutlicher, wie dumm es gewesen war, sich mit Junior einzulas-
sen. Sie vermißte ihn nicht. Es lag nur an den Hormonen, daß sie feuchte Träume hatte, daß sie einsam und weinerlich war. Im Grunde wollte sie kein Kind. Nicht jetzt. Und sie wollte auch keine weitere Abtreibung. Zum Teil, weil es Geld kosten würde, das sie nicht besaß. Sie warf einen Blick in den Gerichtssaal. Sowohl Mrs. Cronin und Ruths Eltern – zumindest im Hinblick auf Ruths Zukunft glücklich wiedervereint – als auch die Greenans waren anwesend, doch beide Familien gingen sich aus dem Weg. Nach dem Austausch einiger höflicher Begrüßungsfloskeln nahmen sie in gegenüberliegenden Enklaven Platz. Die Prashkers hatten sich fast ein Jahr gequält, bis sie zu dem Entschluß gekommen waren, daß ihre Tochter sterben durfte. Mit der Überzeugung, daß Diane wesentlich besser dran war als Ruth, konnten sie den Greenans schwerlich eine Stütze sein. Die altmodischen, deckenhohen Fenster des Gerichtssaals standen zum Lüften offen. Der Rasen in dem dahinter liegenden Minipark, in dem die Gerichtsangestellten im Schatten dicht belaubter alter Ahornbäume ihre Lunchpakete verzehrten, miteinander flirteten und plauderten, war satt und grün, grellrote und pinkfarbene Begonien leuchteten in den schmalen Blumenrabatten am Rand. Der Angeklagte, in einen viel zu großen dunklen Anzug gesteckt, hatte seine Krawatte derart fest gebunden, daß sie wie eine Aderpresse aussah. Seine Hände zitterten leicht, und er schien nicht gewillt, den Blick von den Papieren zu wenden, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lagen. Erst als seine Anwälte sich neben ihn setzten, hob er kurz den Kopf und entdeckte dabei Kissy, die vor dem Eingang herumschlich. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, soweit das bei einem so blassen Menschen überhaupt möglich war. Sie überlegte, weshalb er sich nicht einfach schuldig bekannte und wie Junior den besten Deal akzeptierte, den er bekommen konnte. Es würde garantiert niemand hinten im Gerichtssaal aufstehen und sich selbst des Verbrechens bezichtigen, wie es in Seifenopern häufig der Fall war. Das Verfahren wurde mit den üblichen Vorreden eröffnet. Der erste Zeuge der Anklage war der frisch gebackene Sergeant Michael Burke.
In steinernem Triumph erhoben sich die Berge im Dunst eines nachmittäglichen Regenschauers am Horizont. Junior, gezwungenermaßen auf den Beifahrersitz verbannt, während Dunny fuhr, richtete sich auf. Wie ein Mondgebirge ragten die Rockys von der Ebene in den Himmel hinein. Esther beugte sich auf dem Rücksitz vor und drückte seinen Arm. »Unglaublich!« »Wir sind nicht mehr in Kansas«, verkündete Dunny. »Ich mußte dreitausend Kilometer fahren, um das sagen zu können.« Da Juniors Führerschein eingezogen war, hatte er seinen Vater nicht abgelöst, sondern viel geschlafen, während Mark und Bernie herum stritten, Gameboy spielten oder Comic-Hefte lasen. Jedes Mal wenn sie hinter ihm saß, versetzte Bernie ihm durch die Rückenlehne des Beifahrersitzes hindurch einen ordentlichen Tritt in die Nierengegend, bis er schließlich explodierte. »Gott im Himmel, such dir endlich jemand, der’s dir ordentlich besorgt, du zickige kleine prämenstruelle Mistkröte!«, brüllte er sie an. Schlagartig waren alle vor Fassungslosigkeit verstummt. Nach einer Weile meinte Bernie: »Hört sich an, als ob du erst mal selbst deinen Rat befolgen solltest, du…« »Es reicht!«, fiel Dunny ihr ins Wort. »Hört sofort auf damit, alle beide! Entschuldigt euch auf der Stelle bei eurer Mutter!« Pflichtschuldig brummelten sie die verlangten Entschuldigungen vor sich hin. »Und jetzt Klappe halten, verstanden?«, setzte Dunny abschließend hinzu. Mark kniff Bernie, Bernie rammte Mark den Ellbogen in die Rippen, doch das war das Ende des Spektakels. Die drei Tage bis zu seinem Eintrittstermin ins Rekrutencamp schlug er als gewöhnlicher Tourist tot. Sie gingen in den Zoo, besuchten die Coors Fabrik in Golden, fuhren nach Colorado Springs, um auf den Pike’s Peak zu steigen, von wo aus es schien, als habe er einen Blick bis zurück zum Mississippi. Zum ersten Mal wurde ihm klar, was für ein gottverdammt langer Weg nach Hause es war. Am letzten Abend im Kreis seiner Familie kam Spenser Lobel eingeflogen. Man traf sich zum Dinner in einem preiswerten Restaurant, das diese Erkenntnis noch untermauerte. Bernie warf sich in Schale, und
sein Agent begann tatsächlich mit ihr zu flirten, bis er die wütenden Blicke auffing, die Dunny und Junior Clootie ihm zuwarfen. Nach dem Einchecken im Camp stellte Junior zu seiner Überraschung fest, daß er das Zimmer mit dem Red-Bloc-Apoll teilte, der zuletzt auf der Bühne des Skinner’s kräftig aus der Rolle gefallen war. Der Junge hatte sich dem steten Strom abtrünniger Athleten aus Osteuropa angeschlossen. Froh über die harten Devisen, die die Sportler regelmäßig an ihre Familien schickten, hatten sich die entsprechenden Regierungen mittlerweile eine andere Taktik zugelegt. Gerüchten zufolge sollten die in finanzieller Hinsicht arg gebeutelten kommunistischen Regime sogar aktiv am Verkauf der Athleten an den Höchstbietenden beteiligt sein. Der Name des Burschen war Evgenny Bezymyanny, doch die Medien hatte ihn wegen seines durchschlagenden Erfolgs bei den weiblichen Fans ›Elvis‹ getauft. Es war in der Tat unmöglich, ihn nicht zu mögen. Der junge Russe war so naiv, so entzückt von dem Rummel, der seinetwegen veranstaltet wurde, daß es ihm einfach niemand übel nehmen konnte. Auch er erkannte Junior wieder, erinnerte sich sogar an dessen Spitznamen ›Hooter‹. Es war wie das Zusammenwohnen mit Mark, nur daß Mark ein unglaubliches Schwein war und ›Elvis‹, aufgewachsen in den militärähnlichen Sportlerkasernen des Ostens, einen bemerkenswerten Hang zur Ordnung besaß. Seine Koje blieb ohnehin weitgehend unbenutzt; er tourte lieber durch die Betten der hiesigen Puck-Häschen. Junior beneidete ihn bis zu einem gewissen Grad, aber er ärgerte sich auch, daß ihm der Junge das Gefühl gab, mit seinen zweiundzwanzig Jahren zum alten Eisen zu gehören. Außerdem fühlte er selbst sich unter den gegebenen Umständen veranlaßt, wie ein Mönch zu leben. Seinen Mitbewohner ›Elvis‹ zu nennen, fand Junior zu kitschig, also versuchte er, Evgenny zu sagen, was sich bei ihm wie Eugenie anhörte. Das wiederum klang nach einem Typen namens Eugene, der seine Tochter mit diesem Namen bedacht hatte, weil er keinen Sohn hatte, der Eugene Jr. heißen konnte. Mit nicht unbeträchtlichem Spott nannte er den Russen in Anlehnung an einen gewissen Song schließlich ›Der Kommissar‹. »Hoot«, gab der Junge daraufhin zu bedenken, »›Der Kommissar‹ ist kein russischer Ausdruck. Dort heißt das man Chur-man.«
»Ich weiß. Hör dir den Song erst mal an. Der Sänger ist Deutscher, deshalb sagt er es auch auf Deutsch, obwohl er eigentlich einen russischen Arschtreter meint. In Wirklichkeit singt er über Kokain, aber seine Metapher für Kokain ist in diesem Fall ein arschtretender russischer Kommissar«, klärte Junior ihn auf. »Ist das wahr?«, fragte der Junge verblüfft. Junior verriet ihm nicht, daß er so seine Zweifel hatte. Das ganze Jahr 1982 hatte er sich den Song immer wieder angehört und über dieser Frage gebrütet. Vielleicht war ›Der Kommissar‹ ein Kokaindealer, vielleicht auch ein Mitglied des Rauschgiftdezernats. Doch seine vorherige Interpretation war genauso gut möglich. Plötzlich nannten ihn alle ›Der Kommissar‹, und Junior dämmerte, daß er sich den Namen künftig jedes Mal würde anhören müssen, wenn der verflixte Russe ein Tor machte. Er führte die Abkürzung D. K. ein, ließ aus dieser ›Deker‹ werden, und ein Deke – eine Finte – war natürlich etwas, das dem Russen gefiel. Genau das war das Problem: Ihm gefiel einfach alles. Er war absolut unkritisch. Aufgewachsen als Kommunist, mutmaßte Junior, war es kein Wunder, daß es ihm an Wertmaßstäben mangelte. Junior kannte die meisten Mitanfänger – Eishockey für Jungs, die gerade von der Schule kamen, betraf, wie jedes andere Spezialgebiet auch, einen beständig schrumpfenden Personenkreis – , und von den wenigen, die er nicht kannte, hatte er zumindest schon gehört. Die neuen Neulinge rivalisierten nicht nur mit den übrigen Neulingen, sie waren außerdem besessen davon, ihren Namen ganz oben auf der Liste wiederzufinden. Junior beispielsweise hatte ein gut etabliertes Paar vor sich, das viel Gewinn abzuwerfen versprach, sich einer erfreulich robusten körperlichen Verfassung erfreute und mit reichen Familien gesegnet war; plus einige Torhüter aus der Droversinternen Zuchtfarm, deren Einstufung von grün hinter den Ohren über vielversprechend bis gehbehindert reichte. Außerdem war natürlich jeder andere Torhüter ebenfalls ein potentieller Rivale, egal ob untere oder obere Spielklasse, da die Drovers seinen Arsch jederzeit mit einem einzigen Telefonanruf weiterverkaufen konnten – wie die Islanders es getan hatten. Die alte Geschichte: Wollte er irgendwo Fuß fassen, mußte er den beseitigen, der sich bereits dort befand. Nach einer Woche Trainingslager teilte man ihm mit, er käme zu den Dry River
Dinosaurs, Montana, dem Allerletzten im Kreis der Zweitlegisten, die an die Drovers angeschlossen waren. »Was habe ich falsch gemacht?«, platzte er verzweifelt heraus. Gar nichts, versicherte man ihm. Niemand stelle sein Talent in Frage, aber man wolle ihn nicht verheizen. Die Taktik bestehe darin, ihn langsam aufzubauen, so daß er sich eine professionelle Spielweise aneignen könne, ohne dem starken Erfolgsdruck ausgesetzt zu sein, der ihn auf dem Großen Teich erwarten würde. Junior verstand das, er hatte sogar damit gerechnet, aber – um Himmels willen – Dry River? Der Schock über die Nachricht machte ihm klar, wie sehr er sich darauf verlassen hatte, zu den Tommyknockers nach Allentown zu kommen. Das war nicht nur der beste der den Drovers angegliederten Clubs, er spielte zudem in der East Coast Hockey League, was bedeutete, daß er ab und zu nach Hause fahren könnte; und seine Leute hätten wenigstens die Chance, eins seiner Spiele zu sehen. Außerdem legte Dry River seine Hoffnungen, Kissy wiederzusehen, für Monate auf Eis. Es war, als würde ihm eine Tür vor der Nase zugeschlagen. Er schaffte es, sich bis nach der Händeschüttelei zusammenzureißen, verschwand dann, den Schweiß aus den Augen blinzelnd, im Waschraum und übergab sich. »Hast du dir den Magen verdorben, Hooter?«, fragte Deker besorgt. »Morgendliche Übelkeit«, brummte Junior zurück und stolperte hinaus. Wenig später verkündete Spenser Lobel fröhlich am Telefon, das Ergebnis entspräche haargenau seinen Erwartungen. In Junior keimte allmählich der Verdacht, ihm könne absolut nichts geschehen, das Lobel nicht vorher gewußt, geschweige denn geplant hätte. Im Büro erhielt er das Busticket und den Hinweis, er könne ein Zimmer im Devil’s Backbone Motel nehmen, das nicht weit vom Sportgelände entfernt liege; der Dry River Ice Arena, Heimat der Dry River Dinosaurs. Er stieg nicht allein in den Bus. Auch Deker hatte denselben Bestimmungsort, außerdem ein großer, unförmiger Bursche aus Moosejaw, Saskatchewan. Er erinnerte Junior an Dionne – Dionne mit etwas geringerem Hirnschaden und umgänglicherem Temperament. Selbstverständlich nannten alle ihn Moosejaw, die Elchbacke. Moosejaw hatte das Glück, relativ nah an seinem Heimatort zu sein. Sie saßen miteinander im Greyhound, als wäre es ein
Mannschaftsbus, und unterhielten sich bald angeregt über Geld, über ihre Agenten, darüber, was die Zuweisung für ihre weiteren Pläne zu bedeuten hatte. Zumindest für die Dauer der Fahrt konnten sie ein wenig abschalten. Die Entscheidungen waren gefallen – sie konnten nichts anderes tun, als mit ihnen zu leben, bis sie wieder Eis unter den Kufen hatten und damit eine neue Chance, ihr Können zu beweisen. Die Spiele hatten Junior schon an viele Orte geführt, nicht immer an schöne, aber Dry River entpuppte sich bereits auf den ersten Blick als wahre Katastrophe. Die bevorzugten Baumaterialien schienen Zementblöcke, ausgetrocknetes Holz und Preßspanplatten zu sein. Auf der staubigen Main Street fehlte nur noch ein Paar sich duellierende Revolverhelden. Aus dem Busfenster konnte er das Flußbett sehen, ein schmales Band voller Felsblöcke, Geröll, Sand und verrosteten Gebrauchsgegenständen, das sich durch die Stadt schlängelte. Aus den drei niedrigen Brücken, die den nicht vorhandenen Fluß überspannten, schloß er, daß der Lauf zumindest einmal im Jahr Wasser führen mußte. Oder einmal im Jahrzehnt; das Kaff hieß sicher nicht Dry River, weil das Flußbett allzu oft naß war. Obwohl es sich nicht um eine reguläre Haltestelle handelte, ließ der Busfahrer sie vor dem Motel am Rande der Stadt aussteigen. Von dem heruntergekommenen Parkplatz aus konnte Junior nichts erkennen, das einem Eishockeystadion glich. Das Wesen an der Empfangstheke, ein Stück Strandgut in den Achtzigern von undefinierbarem Geschlecht, stellte ein entzücktes Grinsen zur Schau und erklärte den neuen Bewohnern, das Stadion befände sich auf der anderen Seite der Stadt, einen Fußmarsch von viereinhalb Kilometern entfernt. Ohne öffentliche Verkehrsanbindung. Selbstverständlich könnten sie sich in das vor dem Gebäude stehende Taxiwrack quetschen oder, wie Junior dem gutgläubigen Deker in einem Anflug von Sadismus ins Ohr flüsterte, die weltberühmte Dry River Metro benutzen. Zusammen mit den Präriehunden. Sofern die Ortsansässigen sie nicht alle gefressen hätten. Junior wußte nicht genau, was Präriehunde waren – außer Geschmeiß –, und es war ihm egal. Sein Einzelzimmer, wie alle Räume des Motels, ermutigte zu regelmäßiger Wiederkehr – ungefähr einmal im halben Jahr. Im Bad befanden sich ein WC mit zerbrochener Brille sowie eine schwarzschimmelige Dusche, deren fleckige Wanne den Verdacht nahe legte,
daß jemand sie als Schlachthaus benutzt hatte. Als Junior versuchte, die Wasserhähne des Waschbeckens aufzudrehen, hielt er plötzlich die Knöpfe in der Hand. Im Abfluß der Dusche empfing ihn ein klebriges Haarbüschel, unter der Toilettenbrille grinsten ihn kleine krause Löckchen an. Das Bett hatte Schlagseite, die Decke war mit diversen mysteriösen Substanzen gesprenkelt, darunter offenbar Blut. Behutsam schlug Junior Decke und Bettlaken zurück, um nach etwaigem Ungeziefer Ausschau zu halten. Er war ziemlich sicher, daß dort etwas herumhopste, und zog kurz in Betracht, Hosenbeine, Ärmel und Kragen mit Klebeband zu verschließen, befand diese Mühe jedoch als vergeblich. Irgend etwas würde nachts in sein Ohr kriechen und in seinem Gehirn Eier ablegen. Oder an seinem Schwanz hoch krabbeln. Er hatte die flüchtige Vision von Würmern, die um seine Hoden wuselten. Ein schmieriges Minifenster gab den Blick auf den Parkplatz frei, der mit zerbrochenen Flaschen, zerfetzten Schlüpfern und herrenlosen Auspuffrohren übersät war. Das Telefon, dessen Plastikgehäuse mehrere Risse aufwies, stand auf dem Nachttisch, neben ihm ein mit der Unterlage verschraubter Radiowecker, auf dem die falsche Uhrzeit blinkte. Junior warf einen Blick ins Telefonbuch. Keinerlei Clooties, nicht die Spur irgendwelcher verloren gegangener Verwandte, auch war niemand so umsichtig gewesen, seinen Namen als überraschendes Willkommensgeschenk eintragen zu lassen. Abends machte er sich auf den Weg zur nächsten Tankstelle, um eine Karte der USA zu kaufen. Die Entfernung zwischen Maine und Montana war unfaßbar groß. Das Land schien unter dem Gewicht der unzähligen Kilometer in der Mitte einzuknicken. Es war verrückt gewesen, sich auf einen Deal einzulassen, der ihn so weit von zu Hause wegbrachte. Mit dem Flugzeug seien es drei Stunden von Denver nach Boston, hatte Lobel gesagt; in fünf Stunden könnte er in Peltry sein. Klar. Keine Angst, Baby, ich komm nicht in deinem Mund. Der Scheck ist schon mit der Post unterwegs. Gebt mir eure Stimme: ich habe einen Geheimplan zur Beendigung des Krieges. Es tut nur eine Sekunde lang weh. Das hier war nicht Denver! Es war Scheiß-Dry-Piss-River, Montana, und es waren auch nicht drei Stunden bis Boston. Es waren schätzungsweise zehn verfluchte Lichtjahre von Boston bis zur falschen Seite des beschissenen Monds.
Er brauchte Kissys Nummer nicht im Adreßbuch nachzuschlagen, er wußte sie auswendig. In dreitausend Kilometern Entfernung läutete ihr Telefon. Er wartete, bis der Anrufbeantworter ansprang, bis ihre aufgezeichnete Stimme ihn aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Nach dem Piep konnte er sich im ersten Moment nicht erinnern, was er ihr hatte sagen wollen. »Kissy«, brachte er schließlich heraus, »ich bin in Montana.« Dann verlor er die Beherrschung. Wie blind tastete er nach der Gabel, um die Verbindung zu unterbrechen. Die Verteidigung versuchte Zweifel am Tatbestand zu wecken, indem sie einen Sachverständigen fragte, ob die Verletzungen der Opfer nicht auch daher rühren könnten, daß ein anderes Fahrzeug, ein Blazer Baujahr 1984, gefahren von Kristen Mellors, die jungen Frauen zuerst erfaßt hatte und sie möglicherweise erst durch diesen Aufprall vor Houstons Wagen geschleudert worden waren. Doch das völlige Fehlen jeglicher Beschädigung an der Karosserie des Blazers, die das Auftreffen eines Körpers unweigerlich verursachen mußte, sprach Bände, genau wie die Schwarzweißfotos des Sachverständigen, die den bedenklich verbeulten T-Bird zeigten. James Houston Jr. wurde von dem Senioranwalt einer bekannten hiesigen Kanzlei vertreten. Unterstützt wurde er von einer Juniorpartnerin, die die Zeugenbefragungen vornahm. Von einem anderen Sachverständigen ließ sie bestätigen, daß Diane Greenan und Ruth Prashker unter dem Einfluß von Rauschmitteln wie Alkohol und Kokain gestanden hatten, und daß Diane Greenan zur Zeit des Unfall sogar eine geringe Menge Kokain bei sich trug. Kissy mußte draußen vor dem Gerichtssaal warten, während die Frau, die James Houston Jr. am Steuer hatte trinken sehen, ihre Aussage machte, und wurde dann aufgerufen. Sie hatte ihre Geschichte nun schon so oft heruntergerattert, daß sie sie im Schlaf aufsagen konnte. Das, so hoffte sie, war endlich das letzte Mal. Als sie vom Zeugenstand aus in die Menge sah, begegnete ihr Mrs. Cronins ermutigender Blick. Mit ruhiger Stimme sprach sie den Eid. Anschließend nahm sie einen Schluck Wasser und begann mit ihrer Aussage. Es gab ohnehin nicht viel zu berichten: An einem gewissen Abend im vergangenen
Jahr war sie zu einer gewissen Zeit die College Avenue hinuntergefahren… Unvermittelt sah sie Diane und Ruth, ihren Danse macabre im Scheinwerferlicht, wieder vor sich und mußte schlucken. Ihre Stimme begann zu zittern. Sie grub die Fingernägel in die Handflächen und erzählte dem Gericht von den Lichtern des anderen Wagens, die in ihrem Rückspiegel aufgetaucht waren, vom plötzlichen Erscheinen des T-Birds rechts neben ihr, von den Körpern der beiden Mädchen, die durch die Luft flogen, und dem Beben ihres Wagens, als Ruth beim Fallen gegen den Reifen geprallt war. An diesem Punkt weinte sie hemmungslos, und der Richter fragte fürsorglich nach, ob sie eine Pause brauche. Sie verschwand in der Damentoilette, um sich das Gesicht zu waschen. Sylvia Cronin, die ihr nachgegangen war, bot ihr eine Aspirintablette an. Dankbar nahm Kissy sie an. »Sie machen das großartig«, versicherte Mrs. Cronin und nahm sie fest in den Arm. Kissy staunte, wie sehr es ihr half. Der Staatsanwalt führte sie durch den Rest der Geschichte – wie sie James Houston hinter dem Lenkrad hatte sitzen sehen, selbst ausgestiegen und zu ihm gegangen war, den Alkohol an ihm gerochen hatte. Die Verteidigung eröffnete mit der aggressiven Frage: »Sie hätten die beiden jungen Frauen beinah selbst überfahren, nicht wahr?« Während Kissy mit einem schlichten Ja antwortete, wurde ihr deutlich bewußt, daß die Strategie der Verteidigung, einen weiblichen Vertreter ins Rennen zu schicken, um die ebenfalls weiblichen Opfer in Mißkredit zu bringen, auch auf sie selbst anwendbar war. »Lassen Sie uns noch einmal auf Ihre Beschreibung dessen zurückkommen, wie die Mädchen sich verhalten haben.« Die Anwältin ließ sie in knappen Sätzen wiederholen, was sie bereits gesagt hatte: daß die Opfer direkt vor den T-Bird gesprungen, beziehungsweise getaumelt waren, um ihrem Wagen auszuweichen. »Haben Sie Diane Greenan oder Ruth Prashker gekannt?« Ehe sie antworten konnte, erhob der Staatsanwalt Einspruch wegen Irrelevanz. Die Anwältin entgegnete, die Relevanz würde sich im weiteren Verlauf zeigen. Der Richter, der einen gelangweilten Eindruck machte, lehnte den Einspruch ab.
»Diane Greenan kannte ich flüchtig«, sagte Kissy. »Wir haben das erste Jahr im selben Wohnheim verbracht, aber wir waren nur Bekannte, keine Freundinnen.« »Und Ruth Prashker haben Sie ebenfalls gekannt?« »Wie bitte?« »Ruth Prashker, kannten Sie sie auch?« »Nein.« »Besuchen Sie sie gelegentlich?« »Ja.« »Aus welchem Grund?« Einen Moment lang war Kissys Kopf vollkommen leer. Dann begriff sie. Die Frau wollte, daß sie zugab, sich schuldig zu fühlen. »Zuerst war es nur eine Eingebung«, erklärte sie. »Dann lernte ich ihre Familie kennen. Ihre Großmutter bat mich, wiederzukommen. Es schien mir angemessen zu sein.« »Was meinen Sie damit – angemessen?« »Nun, wenn ich an Ruths Stelle wäre, würde ich mich gern… respektiert fühlen. Ich würde wollen, daß man mich wie einen ganz normalen Menschen behandelt. Hätte ich den Sicherheitsgurt nicht angelegt, wäre ich vielleicht durch die Windschutzscheibe geschossen und selbst verletzt worden. Ich habe diese Straße an genau dieser Stelle schon oft überquert. Bei einer dieser Gelegenheiten hätte es ebenso gut mich treffen können und dann wäre ich jetzt im selben Zustand wie Ruth. Es könnte jedem passieren.« »Ruth Prashker war zur Zeit des Unfalls nachweislich angetrunken. Haben Sie die College Avenue an dieser Stelle jemals in nachweislich angetrunkenem Zustand überquert, Miss Mellors?« »Nein.« »Sind Sie jemals gefahren, während Sie unter dem Einfluß von Rauschmitteln standen?« Der Staatsanwalt erhob erneut Einspruch und diesmal gab der Richter seinem Antrag statt. »Haben Sie jemals illegal rechts überholt?« Wieder ein Einspruch, dem stattgegeben wurde. Kissy war plötzlich erschöpft. Sie merkte, daß es sich bei der Spannung in ihren Eingeweiden um einen Periodenkrampf handelte. Zwischen den Beinen spürte sie eine Nässe, die sich durch ihre Unterwäsche kämpfen und den Jeansrock durchtränken würde, wenn sie
nicht bald etwas unternahm. Sie wollte das Ganze endlich hinter sich haben, jetzt und für alle Zeit. »Sie wollen von mir hören, daß ich mich schuldig fühle, weil ich Ruth und Diane beinah selbst angefahren hätte«, platzte sie heraus. »Tatsache ist, daß der T-Bird plötzlich neben mir war, wo er nicht hingehörte, und daß der T-Bird sie angefahren hat.« Der Richter wies die Geschworenen an, ihren Ausbruch sowie den letzten Teil ihrer Aussage zu ignorieren, dann erteilte er der Anwältin einen Verweis. Kissy begegnete James Houstons Blick. Er wich ihren Augen nicht aus und lächelte schließlich, so flüchtig und schwach, daß es eine optische Täuschung gewesen zu sein schien. »Ich bin in Montana…« Juniors Stimme auf dem Anrufbeantworter brach, dann wurde die Verbindung unterbrochen. »Gut«, knurrte Kissy. »Bleib bloß da.« Am folgenden Tag zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Zwanzig Minuten später wurde James Houston Jr. in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen. Sein abgekämpftes Gesicht zeigte keinerlei Überraschung. Kissy fragte sich, ob dieses Rätsel jemals gelüftet werden würde. Es waren weder die Greenans noch die Prashkers noch Kissy Mellors gewesen, die Houston gezwungen hatten, dieses Gerichtsverfahren bis zum bitteren Ende durchzustehen, sondern er selbst. Der Richter erklärte die Kautionsvereinbarung für unwirksam, schickte Houston statt dessen ins Gefängnis und legte den Termin zur Festsetzung des Strafmaßes auf den Tag genau in drei Wochen fest. Houstons Anwältin bat um neuerliche Gewährung einer Kautionsvereinbarung bis zur Urteilsverkündung. Sie wies das Gericht darauf hin, ihr Mandant habe die Kautionsauflagen bis zur Verhandlung fast ein Jahr lang eingehalten und damit wohl deutlich unter Beweis gestellt, daß keinerlei Fluchtgefahr bestehe. Außerdem habe er sich während der Voruntersuchungen nicht nur voll und ganz der Autorität des Gerichts gebeugt und ein tadelloses Leben geführt, er sei obendrein mittellos und ohne Pass – den habe er dem Gericht gegeben. Der Richter widerrief den Kautionswiderruf und ersuchte dann zur Festlegung des Strafmaßes um die Protokolle der einzelnen Zeugenaussagen.
Kissy kritzelte gedankenlos auf ihrem Notizblock herum, als sich der Gerichtssaal leerte, und schaute nur einmal kurz auf, als Mrs. Cronin im Vorbeigehen ihre Schulter drückte. Den Fernsehteams vor dem Gerichtsgebäude ging sie erfolgreich aus dem Weg. Momentan gab es nichts mehr zu tun und sie kam sich mit einem Mal bemerkenswert nutzlos vor. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, zu Ruth zu gehen, doch im Grunde hatte sie keine Lust, dort auf die Prashkers zu stoßen, ja nicht einmal auf Sylvia Cronin. Welche Botschaft hätte sie Ruth mitzubringen? Wir haben ihn, Ruth, wir haben den Mistkerl zur Strecke gebracht? Am Nachmittag fuhr sie zur News, setzte sich an den Computer und holte sich Houstons Daten auf den Bildschirm. Die einzige dort angegebene Adresse lautete Crossroads Farm, eine Pflanzenplantage, auf der er jeden Sommer seit Beginn seines Studiums gearbeitet hatte. Es war tatsächlich eine Farm, wie zu erwarten in entlegener Gegend. Das Haupthaus war in einen Verkaufsraum und Lagerflächen umfunktioniert worden. Aufgrund der niedrigen Dächer und vielen kleinen Anbauten wirkte die Anlage seltsam geduckt und beengt. Obwohl die Proportionen zweifellos auf die im neunzehnten Jahrhundert bestandene Notwendigkeit, mit Holzöfen zu heizen, zurückzuführen waren, hatten sie heute jeglichen Sinn und Zweck verloren. Die Winkel stimmten nicht mehr, und die Dächer waren leicht eingesunken, als hätte die Zeit selbst sie niedergedrückt. Kissy mußte unwillkürlich an das Haus denken, das ihre Mutter gemietet hatte, nachdem ihr Vater fortgegangen war. Die Böden unter den durchgetretenen Teppichen hatten sich zu gefährlichen Gewässern verzogen, die Treppenstufen knarrten und gaben unter jedem Schritt bedrohlich nach, die Fenster schielten aus rissigen, vorgewölbten Mauern hervor. Aus den Bodendielen, Treppengeländern und Deckenbalken ragten immer wieder Nägel und Holzsplitter hervor, die sich wie die Klauen eines bösartigen, ausgehungerten Wesens in Hände, Füße und Kleidung bohrten. Im Hof standen in langen Reihen angeordnete Kübel mit Grünpflanzen, Sträuchern und Schößlingen aller erdenklichen Art. Auf dem Schild an der Eingangstür stand GESCHLOSSEN. Ein schwarzer, angeketteter Labrador bellte ihr Mitleid erregend entgegen. Er war
alt, um die Schnauze herum weiß und ziemlich fett. Kissy sprach freundlich auf ihn ein, und schon bald hatte er jegliche Feindseligkeit verloren, wie sein begeistertes Schwanzwedeln verriet. Als Kissy sich ihm vorsichtig näherte, ließ er sich sogar den Hals von ihr kraulen und versenkte schließlich seine Schnauze in ihrem Schritt. Lachend schob sie ihn weg. Die Kameratasche über der Schulter, schlenderte sie langsam zwischen den Grünpflanzen und Blumen auf der Vorderseite entlang, verschwand dann mit wachsendem Mut hinter dem Haus. Wie sich herausstellte, war es auf einer Anhöhe erbaut. Die Vorderfront befand sich auf einer Linie mit der Straße, aber auf der Rückseite fiel der Boden sanft ab, so daß der Keller zum Erdgeschoß wurde. Sie folgte einem breiten, sorgfältig geebneten und gekiesten Weg zu einem Pferdestall, der in auffallend besserem Zustand war als das Haus, und einer Koppel, auf der mehrere Pferde in der Sonne dösten und träge mit dem Schweif die Fliegen vertrieben. Dahinter entdeckte sie etliche Nebengebäude und Schuppen, einen Kräutergarten und zwei große Gemüsebeete. Der Duft von Tomaten stieg ihr in die Nase – und der Geruch von Bier. »Wir haben geschlossen«, sagte James Houston irgendwo aus dem Hintergrund. \ 13 [ Sie fuhr herum. Er stand auf der Rückseite des Hauses, vor einer offenen, grün angestrichenen Tür mit einem Fenster in der oberen Hälfte. Das Fliegengitter in seinem Rücken war geschlossen. In den Blumenbeeten unter den niedrigen Fenstern blühten weiße Chrysanthemen und weiße Kletterrosen. Ein Fahrrad mit Zehngangschaltung hing an der Steinmauer, von unten durch abbröckelnde Steinkeile gestützt. Auf einem winzigen Rasenfleckchen döste ein verrotteter alter Rattanschaukelstuhl im Schatten eines Ahornbaums, daneben thronten ein voller Bierkasten und eine Flasche Jim Beam. Zwischen einigen leeren Bierflaschen lag ein lädierter Strohhut mit der Öffnung nach oben im weichen Gras. Das späte Tageslicht übergoß die Szenerie in allen erdenklichen Goldtönen, warf nach Osten geneigte Schatten in die Welt.
Seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen. Krawatte und Jackett hatte er abgelegt und das Hemd aufgeknöpft, aber die Anzughose, die schwarzen Socken und auf Hochglanz polierten Schuhe aus feinem braunem Leder trug er immer noch. Seine Haare hingen ihm wirr in die Stirn, auf den Wangenknochen lag ein durchscheinender roter Schimmer. Es war das erste Mal, daß sie überhaupt so etwas wie Farbe in seinem Gesicht entdeckte. »Was willst du?« »Ich dachte, du könntest vielleicht Gesellschaft brauchen.« »Wie Ruth, hm?« Die Bemerkung triefte vor Spott. »Zu freundlich von dir.« Er trat ein paar Schritte vor und begann zu wanken. Abrupt ließ er sich in den Schaukelstuhl plumpsen. »Willst du ein Bier?«, erkundigte er sich, während er die Schnürsenkel aufband. Kissy bediente sich aus dem Kasten. Der erste Schluck der goldenen Flüssigkeit rann angenehm kühl ihre Kehle hinab. Erst in dem Moment, als sich das Bier in ihrem Mund befand, wurde ihr klar, wie sehr sie sich nach seinem kalten, herben Geschmack gesehnt hatte. »Danke«, sagte sie, »James.« Er hob den Kopf und schnitt eine Grimasse. »Jimmy, bitte. James Houston Jr. ist der nichtsnutzige, besoffene Schweinehund, der das arme Mädchen und ihre Freundin über den Haufen gefahren hat.« Er entledigte sich seiner Socken und Schuhe, wackelte mit den Zehen und griff nach einer bereits geöffneten Flasche Bier. »Lust auf Tomaten? Sind gut dieses Jahr. Hab mindestens eine Tonne davon. Liesel läßt mich aus Therapiezwecken ihren Garten bepflanzen. Sie ist auch sehr nett, läßt mich den ganzen Sommer hier wohnen. Mich und Groucho, den da drüben an der Kette – hat er dir die Hand geleckt? Wir sind so eine Art Nachtwächter. Die Aufpasser.« Er hievte sich aus dem Schaukelstuhl, pickte den Strohhut aus dem Gras, stülpte ihn über seinen Kopf und marschierte auf die Gemüsebeete zu. Mit der Bierflasche in der Hand ging Kissy ihm nach. Zwischen den Tomatenstöcken zog er sein Hemd aus und band die Ärmel auf dem Rücken zusammen, so daß er eine improvisierte Schürze hatte. Darunter trug er ein Baumwollunterhemd, bei dem es sich offenbar um seine normale Arbeitskleidung handelte, da die etlichen Stunden Sonneneinstrahlung jeden Tag seine Umrisse in seine Haut gebrannt hatten. An den Stellen, an denen sie bloßlag – an
Armen, Hals und Nacken – , war sie mit einer scheinbar glatten, nahtlosen Bräune überzogen, doch bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, daß es sich um feines Narbengewebe handelte. Es hatte eine mattwarme sepiaähnliche Farbe, nur etwas dunkler, wodurch die unversehrte Haut in seinem Gesicht ein seltsam nacktes Aussehen bekam. Kissy nahm einen Schluck aus ihrer Flasche. Er streckte ihr eine tiefrote, unglaublich runde Tomate hin. Ehe sie hineinbiß, rieb sie sie vorsichtig an ihrem Rock ab. Die sonnenwarme Frucht schmeckte voll und süß und war so saftig, daß sie ein paar Tröpfchen von ihrem Kinn wischen mußte. Er lachte. Während er langsam an den Tomatenstöcken entlang schlenderte, die schönsten Früchte abpflückte, in seine Schürze gab und ihr dabei immer wieder verstohlene Blicke zuwarf, beobachtete sie das Licht auf seinem Kopf, auf seinem Gesicht, auf seinen Händen. Präliminarien für Fotos, die sie nie machen würde. Die Sonnenbrille verwandelte seine Augen in zwei schwarze, tiefe Höhlen, die Krempe des Strohhuts beschattete die obere Hälfte seines Gesichts und lenkte dadurch die Aufmerksamkeit auf Mund, Kinn und Kieferpartie. Er hatte die Muskulatur eines körperlich arbeitenden Menschen, aber nicht den schweren Körperbau, der Junior so solide wie eine Wand wirken ließ. Obschon mit Schwielen überzogen, besaß er die schmalen, langgliedrigen Hände eines Musikers – ein Musiker mit derart kurzgeschnittenen, sauberen Nägeln, daß sie angesichts der Schmutzarbeit, die er Tag für Tag machte, auf außerordentliche Pingeligkeit schließen ließen. Als in dem Hemd kein Platz mehr für weitere Tomaten war, nahm er es ab, band es zusammen und scheuchte Kissy mit gespielter Feudalherrengeste zu seinem Schnapslager zurück. »Ich denke, ich werde dieses Hemd wohl doch noch mal anziehen. Sollte besser eine Tüte holen.« Er schnappte sich seine Bierflasche und verschwand im Haus. Kissy stellte ihre, die inzwischen leer war, in den Kasten zurück, nahm sich eine neue und machte sie auf. Es hatte wirklich fantastisch geschmeckt in der Hitze. Er erschien mit einer braunen Supermarkttüte, die er rituell zusammenfaltete. Das Ergebnis kannte sie aus dem Handarbeitsunterricht – man nannte es Spanische Kiste. Vorsichtig legte er die Tomaten hinein.
»Hier. Nettsein muß schließlich belohnt werden.« Kissy bedankte sich. Er nahm den Strohhut ab und warf ihn achtlos auf den Boden. »Warum bist du wirklich gekommen? Wegen der Tomaten jedenfalls nicht. Wolltest du für die Zeitung ein Foto von mir machen? Vom Schwerverbrecher, der über seinen Schuldspruch nachsinnt?« »Ich hab dir schon gesagt, warum. Ich dachte, du könntest vielleicht Gesellschaft brauchen.« Er saß im Schneidersitz vor ihr im Gras, hielt sich mit beiden Händen an der Jim-Beam-Flasche fest und blinzelte zu ihr hoch. »Ach ja, hab ich vergessen…« Nach einem tiefen Zug aus der Whiskeyflasche stopfte er sie zwischen seine Beine und spülte mit Bier nach. »Da wäre schon etwas, das du für mich tun kannst.« Ein wölfisches Grinsen glitt über sein Gesicht. »Zieh das T-Shirt aus und zeig mir deine Titten.« Kissy bekam ihren Schluck Bier in den falschen Hals und hustete. Es bereitete ihm offensichtlich ein Mordsvergnügen, sie derart erschreckt zu haben. »Nun mach dir mal nicht ins Hemd, Süße. Man hat mich wegen Totschlags verurteilt, nicht wegen Vergewaltigung.« Sie starrte ihn fassungslos an und unterdrückte mühsam den Impuls, ihre Flasche über seinem Kopf auszuleeren. »Sag bloß nicht, ich hab dich beleidigt! Ich denke, du bist Künstlerin. Gehört das nicht zu eurem Kodex – nur keine falsche Scham, was den menschlichen Körper betrifft? Du hast diese Fotos von deinem Freund aufgehängt, dem Torhüter… Was ist schon dabei? Ich hab dir meine Tomaten gezeigt, jetzt zeigst du mir deine. Gib dem armen Schwein etwas, woran er sich erinnern kann, wenn er im Knast sitzt.« Er mußte schon eine Weile getrunken haben, als sie aus heiterem Himmel aufgetaucht war. Wahrscheinlich hielt er es für sein Recht, sich wie ein Arsch zu benehmen. Kissy nahm an, daß er im Grunde gar nicht so scharf darauf war, ihre Titten zu sehen, sondern vielmehr versuchte, ihr die Stimmung zu vermiesen und sie von hier zu vertreiben, damit er ungestört in seinem Elend baden konnte. Unter den gegebenen Umständen mußte man schon ein Heiliger sein, um noch ein gewisses Wohlwollen an den Tag zu legen, und ein Heiliger war er garantiert nicht. Was ihr sein Verhalten zwar verständlich machte, jedoch nichts an dem Gefühl änderte, wieder einmal die Zielscheibe
eines Kerls zu sein, der eine sexuelle Offensive startete. Die gleiche Neugier und der gleiche Trotz wie anfangs bei Junior trieben sie dazu, auf Jimmy Houstons Bluff einzusteigen. Sie kauerte sich hin und griff zwischen seine Beine. Er zuckte zurück, als sie ihm die Whiskeyflasche wegnahm. Dann lachte er. Die Flüssigkeit brannte in ihrem Mund, brannte in Kehle und Magen, als sie sie hinunterschluckte. Zum Kühlen nahm sie einen kräftigen Schluck Bier hinterher. Die Mischung löste ein starkes Hitzegefühl aus – so stark, daß sie den Eindruck hatte, aus sämtlichen Poren zu dampfen. Seelenruhig streifte sie ihr T-Shirt über den Kopf. Er brach in schallendes Gelächter aus, die Flasche in seiner Hand blieb auf halbem Weg stehen. Dann ließ er sich, nach Luft schnappend, auf den Rücken fallen und bekam den nächsten Lachkrampf. Sie schüttelte das T-Shirt aus, drehte es wieder auf rechts und machte Anstalten, es wieder anzuziehen. »Nein«, sagte er heiser. Ohne sich von der Flasche zu trennen, rappelte er sich mühsam hoch. Die Augen hinter den dunklen Brillengläsern klebten an ihren Brüsten. Langsam ging er um sie herum, blieb eine Weile stehen, um ihren nackten Rücken zu betrachten, und tauchte anschließend auf der anderen Seite wieder vor ihr auf. Ihre Brustwarzen verhärteten sich unter der sonnenwarmen Brise. Er streckte eine zitternde Hand aus, um sie zu berühren. Obwohl sie die Bewegung sah und er nur ganz leicht über ihre Brustwarzen strich, fuhr sie unwillkürlich zusammen. Er zeichnete den Warzenhof mit der Fingerspitze nach, wölbte dann eine Hand um die Brust, wie um sie zu wiegen. Mit der anderen Hand spreizte er ihren Ellbogen ab und streichelte vorsichtig das Haar in ihrer Achselhöhle. Anschließend schnupperte er an seinen Fingern. Aus dem Winkel, in dem sie zu ihm stand, sah sie, wie sich die Lider hinter der Sonnenbrille schlossen, damit er sich besser auf den Geruch konzentrieren konnte. Erst jetzt ließ er ihre Brust los, nahm ihre Hand, entwand ihr das T-Shirt und warf es ins Gras. Dann trat er ein paar Schritte zurück und sank wieder in den Schneidersitz. »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern den Rest von dir sehen. In diesem wundervollen Licht.« Hätte er das Licht nicht erwähnt, hätte sie vermutlich ihr T-Shirt geschnappt und wäre gegangen. Oder auch nicht. Sie hatte keine Ahnung. Der Whiskey schien in jeden Winkel ihres Gehirns gedrun-
gen zu sein, weniger durch den Blutstrom dorthin gelangt als vielmehr durch bloßes Einatmen der Alkoholdämpfe aus dem offenen Flaschenhals. Sie war neugierig. Mit dem, was sich hier abspielte, hatte sie absolut nicht gerechnet. Sie setzte sich in den Schaukelstuhl, um die Stiefel auszuziehen, stand wieder auf, löste den Verschluß ihres Gürtels und zog ihn durch die Gürtelschlaufen. »Warte!«, sagte er. »Dreh dich um.« Sie wandte ihm den Rücken zu. Ohne Hast, aber auch ohne jegliche Scheu, schob sie die Daumen in den Bund ihres Minirocks und streifte ihn langsam über die Hüften. Mit einem sanften Geräusch fiel er auf ihre Füße; sie stieg hinaus und blieb reglos stehen. »Hervorragend. Jetzt dreh dich langsam zu mir um.« Seine dunklen Brillengläser leuchteten, sein Gesicht war stark gerötet, als hätte man ihm soeben eine Bluttransfusion gegeben. Er stellte die Flasche weg und streckte ihr seine Hände entgegen. Sich hinkniend legte Kissy ihre Hände hinein. Er zog sie neben sich ins Gras. Lange Zeit beschränkten sie sich auf Zungen und Lippen, als wären sie in die orale Phase zurückgekehrt. Er glitt mit seiner Zunge über ihre Achselhöhlen, kehrte anschließend zu ihren Brustwarzen zurück. Sie spürte seine Erektion, öffnete seinen Reißverschluß und begann ihn zu streicheln, sein Glied sanft zu massieren. Nach einer Weile kroch sie über ihn und benutzte ihren Mund, bis er plötzlich aufstöhnte und ihren Kopf zur Seite schob. Sein Gesicht war hochrot und verschwitzt, sein Atem ging schwer und unregelmäßig. Er packte ihre Oberarme und drückte sie rücklings auf den Boden. Helles Licht strömte über seine Schultern und blendete sie, so daß sie die Augen halb schloß. Plötzlich drang er in sie ein, unerwartet und heftig. Ohne es zu wollen, stieß sie einen Schmerzensschrei aus, und als er den Widerstand ihres Tampons spürte, zog er sich ruckartig aus ihr zurück. »Tut mir leid«, murmelte sie nach dem Bändchen tastend. »Du hast mich total überrumpelt.« Jimmy brach in lüsternes Gelächter aus, rollte sich über ihr Bein und warf sich genauso heftig auf sie wie beim ersten Mal. Dann packte er ihre Hüften und drang tief in sie ein. Es tat weh, denn sie war noch nicht so weit; ihre trockene, heiße Vagina gab dem unermüdlichen Stoßen seines Penis nur widerstrebend nach. Er begann
sie mit einer brutalen Wildheit zu vögeln, die sie nicht erwidern konnte. Sie fühlte sich wie ein Beobachter, war nicht bei der Sache, dachte an das erste Mal mit Seth, als sie von Drogen und Alkohol derart benebelt gewesen war, daß sie nicht wußte, wie ihr geschah. Die Berührung seines feuchtheißen Gesichts riß sie aus ihrer Lethargie, als er ihr seine Zunge in den Mund schob und kam. Er machte keinerlei Anstalten, sich aus ihrem Körper zurückzuziehen. Sie dämmerte vor sich hin. Der Sonnenstand war auf die Höhe der Baumwipfel gesunken, die Schatten wurden zunehmend lang. Die Pferde standen in der Koppel wie schwarze, versteinerte Gestalten, als hätte die Sonne sie zu Schlacke verbrannt. Endlich löste er sich von ihr und setzte sich auf. Die Sonnenbrille trug er immer noch. Den Blick auf eine imaginäre Gefechtslinie am Horizont gerichtet, rieb er nachdenklich seine Nasenspitze und genehmigte sich einen geräuschvollen Schluck Jim Beam. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich es kann. Sonst gab es da gewisse Probleme…« Er lächelte sie ironisch an. »Hab ich etwa Probleme gehabt?« Sein Blick wanderte erst an seinem, dann an ihrem Körper hinab. Beide waren blutverschmiert. Sie sahen aus wie Verwundete, wie siamesische Zwillinge, die am Schritt zusammengewachsen gewesen und brutal auseinander gerissen worden waren. »Das war ein schmutziger Fick, was? Du möchtest bestimmt reingehen und duschen.« Er streifte die Hose, die er die ganze Zeit über angehabt hatte, ab und hob sie auf. »Grasflecken und Blut – in der Reinigung werden sie denken, ich wäre losgezogen, um Jungfrauen zu vergewaltigen.« Ja, so sieht es aus, dachte Kissy. Wie ein Bild aus der Mythologie oder eine pervertierte Tarotkarte. Ein bis aufs Unterhemd nackter Mann, dessen Oberschenkel an den Innenseiten von den blutigen Hoden und dem schrumpfenden, blutigen Penis rotgefärbt waren, stand über einer nackten Frau, die mit ebenfalls blutverschmierten Schenkeln im Gras lag. Eine Frau mit androgynem Gesicht, kurz geschorenem, nahezu weißem Haar, aber von voll aufgeblühter weiblicher Gestalt. Er, mit ebenfalls kurzen, fast bis auf die Kopfhaut abrasierten Haaren und zwei dunklen, runden Glasscheiben, die seine Augen verbargen, bleich wie der Tod am ganzen Körper und im Gesicht, nur an den Armen von der Sonne zu Sepiahaut verbrannt. Welche Geschichte mochte dieses Bild erzählen, wofür mochte es ste-
hen? Sie kam nicht dahinter, hatte keine Kraft, darüber nachzudenken. Der Luftzug rief eine unangenehme Empfindung auf ihren Schamlippen hervor, so als würde er sie versengen. Sie fühlte sich in der Tat verwundet, tief in ihrem Innern zerfetzt. Als wäre jemand gewaltsam in ihren Körper eingebrochen. Fast glaubte sie, ihr wie rasend pochendes Herz in den Händen zu halten. Sie zog die Beine an und rollte sich zusammen. Einige Zeit später beugte er sich über sie, streifte dabei ihre Haut mit einem groben Stoff. Sie schlug die Augen auf; er hielt ihr einen Bademantel hin. Teilnahmslos ließ sie sich von ihm hoch helfen und auf die grüne Tür zuschieben. Nach dem hellen Licht draußen kam ihr das Haus wie eine finstere Höhle vor. Von der Dunkelheit vorübergehend wie geblendet, blieb sie erst einmal im Türrahmen stehen, um ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Sie hörte das Rauschen der Dusche, die er für sie angestellt hatte. Durch die schmalen, hohen Fenster und die Glasscheibe in der Tür fielen goldene Schwaden in den Raum, doch sie enthüllten nicht viel. Die Umrisse, die sie in Licht tauchten, waren zu verschwommen und ergaben keinerlei Sinn. Es mußte einmal ein Keller gewesen sein, denn es roch nach feuchtem Gestein und Wurzelgemüse – aber es lag auch ein schwacher Duft von Astern und Gänsedisteln in der Luft. Er führte sie auf das Geräusch des laufenden Wassers zu und öffnete die Tür zu einem hellen, weiß gefliesten Bad. An den Innen- und Außenwänden der relativ breiten Duschkabine waren Stangen befestigt, als würde sie von einem Menschen benutzt, der keinen besonders sicheren Stand hatte. »Liesel hat Multiple Sklerose«, klärte er sie auf. »Manchmal braucht sie einen Rollstuhl, dann kommt sie wieder mit einer oder zwei Krücken aus. Sie hat den Keller ausgebaut, um darin zu wohnen, aber später sind ihre Eltern zu ihr gezogen und es wurde zu eng. Das Geschäft nimmt den restlichen Teil des Hauses ein, außerdem ist es mit all den Ecken, Winkeln, schmalen Türen und Fluren sowieso ungeeignet. Sie leben jetzt in einem Bauernhaus etwa einen Kilometer von hier entfernt. Alle Zimmer dort sind im Erdgeschoß und speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten – und ihren Eltern kommt das auch sehr entgegen.« Er benahm sich wie ein Immobilienmakler,
der ihr das Haus andrehen wollte. Die belanglosen Worte sprudelten über seine Lippen, als wäre nicht das Geringste geschehen. Angesichts des auffallend zweckmäßigen Inventars schien die geräumige Dusche geradezu für Hedonisten gemacht. Sie stand unter dem laufenden Wasser und beobachtete, wie sich rosafarbene Rinnsale über die weißen Fliesen ergossen. Er stieg zu ihr, seifte einen Waschlappen ein und begann auf befremdlich vertraute Weise ihren Rücken abzureiben. Junior hatte das auch immer getan. Erst jetzt merkte sie, wie schmutzig sie geworden war; unzählige abgerissene Grashalme glitten an ihren Beinen hinab. »Dein Rücken ist wunderschön. Ich hab noch nie so deutlich ausgeprägte Muskeln bei einer Frau gesehen.« James ließ von ihr ab. Er drehte sie um, seifte den Waschlappen noch einmal ein und strich über ihre Brüste, ihren Bauch und zum Schluß zwischen ihre Beine. Sie zuckte zusammen. »War ziemlich übel für dich da draußen, was?«, meinte er, während er sich selbst zu waschen begann. Die derbe Selbstzufriedenheit in seinem Ton wurde von tiefer Scham überlagert. Ihr Schweigen verunsicherte ihn. Anstatt ihm die Antwort zu geben, welche auch immer er zu hören hoffte, bekam er überhaupt keine. Sie war nach wie vor viel zu verwirrt wegen der Dinge, die sie mit sich hatte machen lassen. Er schien fertig zu sein, denn er reichte ihr plötzlich Seife und Waschlappen, stieg aus der Kabine und zog den Vorhang hinter sich zu. Nach einer Weile griff sie nach dem Shampoo, wusch sich die Haare und stand anschließend einfach nur da, bis das Wasser kaltgelaufen war. Als sie aus dem Badezimmer kam, hatte er Licht gemacht, um das Zwielicht zu vertreiben. Liesels ehemalige Unterkunft bestand aus einem einzigen großen Raum, von dem lediglich das Bad abging. An der Stirnseite befand sich eine niedrige, rollstuhlgerechte Küchenzeile im Stil einer Schiffskombüse. Auf einer der Arbeitsflächen stand ein zur Blumenvase umfunktionierter abgeschnittener Milchbehälter aus Plastik mit rosafarbenen Astern, blauen Zichorien und goldenen Gänsedisteln. Stuhl und Schreibtisch, Bücherregal, Sofa und Fernsehgerät, Bett und Kommode, Trainingsbank und Hanteln – jedes Grüppchen schwebte wie eine Bedürfnisinsel in dem teppichlosen, qualitativ erstklassigen, pflegeleichten und für Rollstuhlreifen gera-
dezu prädestinierten Linoleummeer. Das dunkle Eichenholz der Möbelstücke und sogar das klare Leder-und-Chrom-Design der Trainingsbank samt daneben liegender Eisenhanteln verstärkten den Gesamteindruck einer Mönchszelle. Das Fehlen jeglichen persönlichen Krimskrams, die unausgepackten Bücherkartons, der aufgeklappte Koffer auf dem Bett verrieten, daß der derzeitige Bewohner nicht auf einen längeren Aufenthalt hier, sondern im Gefängnis eingestellt war. Während sie sein warmes Duschwasser verbraucht hatte, hatte er frische Shorts angezogen, Hemd und Anzug sorgfältig zusammengelegt auf dem Wäschesack deponiert und ihre Sachen von draußen hereingeholt. Hübsch gefaltet lagen sie auf der nackten Matratze, die Stiefel standen ordentlich neben dem Bett. Auch der Whiskey und das Bier befanden sich wieder im Haus. Wortlos bot er ihr davon an. Sie schüttelte den Kopf; es wurde Zeit, nach Hause zu fahren. Verlegen kratzte er sich an einer Augenbraue und machte schließlich eine diffuse Handbewegung in Richtung Garten. »Brauchst du den… den…« »Den Stöpsel?«, vollendete sie den Satz bewußt brutal. »Nein. Meine Kameratasche.« Mit hochroten Wangen stolperte er hinaus. Nach allem, was er mit ihr getrieben hatte, brachte sie seine Verlegenheit angesichts ihrer Periode um so mehr in Rage. Am liebsten hätte sie ihm hinterhergebrüllt, daß es Blut war, mehr nicht, das gleiche Zeug, das durch seine Adern rann, nur daß es bei ihm zur Hälfte aus Alkohol bestand. Daß man es abwaschen konnte, ob es nun aus einer Schnittwunde am Finger oder einer Möse lief. Welche Fehler Junior sonst auch haben mochte, was Menstruationsblut betraf, hatte er nie auch nur ein Fünkchen männliche Prüderie an den Tag gelegt. Mühsam unterdrückte sie die gehässige Bemerkung, daß Männer genauso sehr schwitzten, bluteten, spritzten, tröpfelten und eine mindestens ebenso große Menge Körperflüssigkeit verschossen wie Frauen. In der Tasche befand sich eine mit Tampons gefüllte Plastikdose. Sie spürte bereits, wie die Flüssigkeit in die Hinterseite seines Bademantels sickerte. Es war ihr egal. Ihr stetig wachsender Unmut ihm gegenüber wurde noch vervielfacht durch diese blöden verstohlenen Blicke, die er ihr ständig zuwarf. Sie nahm ihr T-Shirt, ließ den Bademantel bis zur Hüfte hinabgleiten und zog es über den Kopf. Dann
streifte sie den Bademantel ganz ab, hob das linke Bein, stellte den Fuß auf den Bettrahmen und versuchte einen frischen Tampon einzuführen, aber es tat zu sehr weh. Wütend schleuderte sie ihn auf den Boden, schob die Beine in den Rock und zog ihre Stiefel an. »Gehst du?«, fragte er. Eigentlich klang es eher wie ein panisches Keuchen. Sein Adamsapfel hüpfte wild auf und ab. »Ich hab dir wehgetan. Mir tat er auch weh, du weißt schon, dieser Tampon da. Ich kam mir so blöd vor, und ich hatte Angst, daß ich schlapp machen würde, und das hat mich geärgert. Ich wollte es dir heimzahlen. Du warst ja gar nicht scharf auf mich, du hast mich bloß gelassen. Und ich wollte es unbedingt. Ich kam mir plötzlich vor wie Groucho, wenn er durchdreht, weil irgendwo eine läufige Hündin rumrennt. Du hast das ganz genau gewußt. Du hättest nicht herkommen dürfen. Ich hab dich nicht drum gebeten.« Er griff nach der Whiskeyflasche. »Tut mir leid.« Er nahm einen tiefen Schluck und leckte sich über die Lippen. »Tut mir leid, daß ich dir wehgetan habe. Bitte geh noch nicht.« Er schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Wie sein Blick ging auch er langsam zu Boden, sackte in sich zusammen und landete schließlich wie ein jämmerliches Häufchen Elend auf den Knien. »Bleib noch ein bißchen. Ich kann wirklich Gesellschaft brauchen.« Seine Stimme bebte. »Ich will nicht allein sein. Ich tu dir auch bestimmt nicht mehr weh. Ich versprech’s.« Er zitterte jetzt am ganzen Körper. Kissy saß auf der Bettkante und zögerte. Ihr Ärger verflog. Hätte es sich um eine Seifenoper oder um einen Spielfilm gehandelt, hätte sie ihm eine Ohrfeige versetzt und ihm gesagt, er solle mit dem verdammten Selbstmitleid aufhören. Eine schlichte, aber drastische Maßnahme, hatte sie immer geglaubt, auf das wenigste reduziert und grausam zugleich. Statt dessen schlug ihr Mutter-Teresa-Syndrom wieder durch. »Vielleicht solltest du etwas essen«, schlug sie vor. Seine Hände schraubten sich noch fester um den Flaschenhals. »Ich brauch bloß was zu trinken, okay? Kannst dich gern anschließen.« »Ich hab keine Lust, betrunken zu sein.« »Kannst du ruhig. Ich laß dich in Ruhe, rühr mich nicht mehr vom Fleck. Hab inzwischen eine Kunst draus gemacht. Kann so lange am selben Ort sitzen bleiben, wie ich will. Tage. Nächte. Bitte!« Er
drückte eine zitternde Hand auf seine Augen. »Du willst, daß ich bettle? Ich tu’s. Hab sowieso nichts mehr zu verlieren.« Sie hatte keine Ahnung, was sie tun konnte, sie war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt etwas tun wollte. Während sie hin und her schwankte, ließ sie den Blick durch den Raum wandern, als könne er ihr die Antwort geben. Am Fußende des Bettes stand ein Bücherkarton. Die Titel erregten ihre Aufmerksamkeit, und sie ging hinüber, um sie genauer zu betrachten. Ob Roman oder Sachbuch, Hardcover oder Paperback, alle handelten vom Leben im Gefängnis. Seine Stimme ließ sie zusammenfahren. »Im selben Moment, als ich den Aufprall spürte, war mir klar, daß ich ins Gefängnis muß.« Sie hob den Kopf, aber er starrte in den Flaschenhals. »Ich bin dazu erzogen worden, an Bücher zu glauben. Ich wette, ich könnte eine wissenschaftliche Abhandlung, ach was, vier oder fünf Abhandlungen über Gefängnisse schreiben.« Endlich sah er sie an. »Weißt du, was ich weiß?« Sie schüttelte den Kopf. Er grinste freudlos. »All die beschissenen Bücher werden mir kein bißchen helfen!« Er deutete mit dem Kopf auf Trainingsbank und Hanteln. »Ich konnte mich nicht überwinden, in einen öffentlichen Kraftraum zu gehen. Deshalb hab ich heimlich Abendkurse in Kampfsport und Selbstverteidigung belegt. Bemitleidenswert, was?« Es gab keine Antwort, die ihm geholfen hätte. Er stellte auch keine Fragen, um hilfreiche Antworten zu erhalten. Er wollte keine Hilfe. Er war sich der Hingabe, mit der er sein Elend umarmte, deutlicher bewußt, als es ihr in einem vergleichbaren Dilemma gelungen wäre. »Du wirst noch eine Weile hier sein.« Sie klappte den Koffer zu und zog ihn von der Matratze. »Komm schon, du mußt das Bett beziehen.« Hinter sich hörte sie, wie er mühsam auf die Beine kam. Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit. Die Reservebettwäsche bestand aus cremefarbenem Drillich mit königsblauen Streifen. Im ganzen Raum waren keinerlei Blumenmuster zu entdecken, ausschließlich dezente, wohlgeordnete geometrische Formen. Zwei Wände waren cremefarben getüncht, zwei andere mit einer weißen Tapete mit blaßgelben Nadelstreifen bedeckt. Genau der richtige Hintergrund für Blumen und Zimmerpflanzen, dachte Kissy. Liesel hatte sich einen Raum vorgestellt, in dem grüne Topfpflanzen und bunte Schnittblumen leuchteten, doch alles, was es gab, war eine
einzige primitive Vase mit aus irgendeinem Gebüsch gezerrten Wildblumen darin. Seine Bewegungen wirkten eingerostet. »Ich hab versucht, mich ans Alleinsein zu gewöhnen. Eigentlich fand ich, daß es ganz gut klappt.« Sie reichte ihm einen Kopfkissenbezug, den er eine Zeit lang anstarrte, ehe er nach dem Kissen griff. »Anfangs war ich richtig froh, allein zu sein. Ich meine, ich war froh, daß ich mich von Erin getrennt hatte. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, irgendwen um mich zu haben.« Kissy, die wollte, daß er die Hälfte der Arbeit übernahm, wartete, bis er sie eingeholt hatte. In dem Zustand, in dem er sich befand, war es ein Leichtes für ihn, andere alles Mögliche für sich tun zu lassen. Je mehr er selbst tat, desto weniger Zeit hatte er, sich zu bedauern. Er stopfte das Kissen in den Bezug und schüttelte es auf. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist – Leute wie Erin und meine Eltern, die regelrecht durch mich hindurchsehen, weil sie mir nicht in die Augen schauen können, oder Leute wie du und Liesel, die mir in die Augen schauen und auf mich einreden und nett zu mir sind, als wäre ich tatsächlich noch ein menschliches Wesen für sie.« »Du lebst«, erwiderte Kissy. »Du hast jemanden umgebracht und steckst bis zum Hals in der Scheiße. Wenn du gewollt hättest, könntest du tot sein, aber du bist es nicht, also hast du dich offenbar entschlossen, lieber zu leben und bis zum Hals in der Scheiße zu stekken.« Er nickte. »Du erinnerst mich sehr an Liesel. Sie hält viel von der Theorie, daß ein Todesurteil ein wunderbares Mittel ist, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. In ihrem Fall die MS. Ihre Lebenserwartung ist möglicherweise nicht einmal wesentlich verkürzt, aber überall lauern Schlaglöcher. Bei mir ist es ähnlich – zehn Jahre vermutlich, kein Todesurteil, aber ein einziges riesengroßes beschissenes Schlagloch. Ich hab furchtbare Angst.« Er griff nach der Flasche. »Seitdem die beiden Mädchen mir vor die Scheinwerfer gesprungen sind, hab ich keine ruhige Minute mehr.« »Ich auch nicht«, sagte Kissy. Er fuhr herum und starrte sie an. Sie spürte plötzlich die Feuchtigkeit im Schritt ihres Slips und registrierte ein schwaches Tröpfeln. Als sie an ihrem Körper hinunterschaute, entdeckte sie an der Innenseite eines Schenkels eine dünne Blutspur, die fast bis zum Knie reichte.
Er stieß ein kehliges, gequältes Grunzen aus und eilte ins Bad, um kurz darauf mit einem Frotteewaschlappen zu erscheinen, den er zu einer provisorischen Binde zusammengefaltet hatte. Sie schob ihren Rock hoch, um ihn einzulegen. Mit knallrotem Gesicht drehte er sich hastig um. Es war seltsam tröstlich, zwischen die sauberen, kühlen Laken zu schlüpfen, als sie todmüde ins frisch gemachte Bett kroch. Eine Erinnerung an die Kindheit. Ihre Müdigkeit entsprang ebenso sehr einer Depression wie körperlicher Erschöpfung, aber die Erkenntnis allein änderte auch nichts daran. Zögernd ließ er sich auf der Bettkante nieder. »Meinst du, du kommst wieder in Ordnung?« Sie lächelte bestätigend und berührte leicht seine Hand. Sofort schlossen sich seine Finger um ihre – gierig, verzweifelt. »Ich hab verdient, was passiert ist und was noch passieren wird, und will mich auch gar nicht davor drücken«, sagte er, »aber ich weiß einfach nicht, wie ich’s schaffen soll. Ich hab das Gefühl, ich bau nur Mist.« »Du hast ununterbrochen getrunken«, versuchte sie ihm klar zu machen, bezweifelte allerdings im selben Moment, daß er ihre Worte begreifen würde. »Ich wette, du hast seit Ewigkeiten nicht richtig gegessen oder geschlafen. Es wäre wahrscheinlich keine schlechte Idee, wenn du deinem Körper noch etwas anderes zuführen könntest als Alkohol und dich ein bißchen ausruhst. Gönn deinem Nervensystem eine Pause.« »Ein wohlgenährter, gut ausgeruhter, nüchterner Schwerverbrecher«, meinte er trocken. »Liesel sagt das Gleiche. Putz deine Ohren und iß zum Frühstück deinen Haferbrei.« »Mach, was du willst.« Sie befreite ihre Hand. »Was du bekommst, hast du dir selbst so gemacht.« »Wo hast du das denn her? Von einem Teebeutel?« Abrupt setzte sie sich auf und schwang die Beine vom Bett. Er stellte hastig die Flasche weg und packte ihr Handgelenk. Sie schüttelte ihn ab. »Geh nicht! Ich hab’s nicht so gemeint. Es ist schon fast ein Reflex bei mir geworden, mich wie ein Idiot aufzuführen. Bitte! Ich möchte
dich eine Weile festhalten. Einfach nur halten. Das brauch ich jetzt mehr als alles andere.« Bei seinen letzten Worten hatte er einen Arm um ihre Hüfte gelegt. Sie schloß die Augen und ließ zu, daß er sie an sich zog. Er tat exakt, was er gesagt hatte, er hielt sie einfach nur fest. Wie am Abend des Unfalls verströmte er auch jetzt einen starken Alkoholgeruch. Er drang ihm aus allen Poren, besudelte den feinen Seifenduft seines Duschbads. Sie verspürte plötzlich den starken Wunsch, ihn zu fotografieren. Ihn in einen Rahmen zu sperren, den Kampf in seinem Innern auf Zelluloid zu bannen, während er versuchte, Herr seines widersprüchlichen Schicksals zu sein. Schuldbewußtsein und Reue, Selbstzerstörung und Furcht führten Krieg gegen seinen Selbsterhaltungstrieb, türmten sich in ihm auf wie die gespaltenen Elektronen in einem Atomreaktor. Diese gewaltigen Energien waren es, die sie anhand von Licht und Schatten sichtbar machen wollte, um einen emotionalen Gegenpol zu den Fotos von Ruth zu schaffen. Aber vorher brauchte sie unbedingt seine Einwilligung. Ihre Beine waren ineinander verschlungen. Sie nahm ihn ganz fest in den Arm. Wie eine Haltemaschine kam sie sich vor. Er erschauerte, klammerte sich ebenso heftig an sie, wie sie sich an ihn. Seine Kunst ließ ihn offenbar im Stich. Während er unruhig hin und her lief, flehte er sie mit verwaschener Stimme an, am nächsten Tag wiederzukommen, wenn sie schon nicht über Nacht bleiben wollte. Nach längerem Zögern versprach sie es ihm. Doch als sie endlich im Blazer saß, zählte sie im Stillen auf, was die letzten Stunden sie gekostet hatten. Zu Hause wartete ein Haufen Arbeit, der liegen geblieben war. Der Haufen würde noch größer werden, wenn sie morgen wieder zu ihm fuhr. Es galt also, ihre Arbeit abzuwägen gegen einen Kreuzzug, den sie vielleicht nicht einmal erfolgreich zu Ende bringen konnte. Der dicke grobe Stoff des Frotteewaschlappens zwischen ihren Beinen rief ihr in Erinnerung, daß sie keinerlei Verhütungsmaßnahmen ergriffen hatte. Gegen Ende der Periode standen die Chancen zwar gut, nicht fruchtbar zu sein, aber ein Risiko blieb ein Risiko, wie gering auch immer. Mit Junior hatte sie ein größeres Risiko auf sich genommen und war trotzdem nicht schwanger geworden. Viel-
leicht hatte die Gonorrhö ihre Eileiter tatsächlich bereits verklebt. Wenn sie es weiterhin darauf ankommen ließ, würde sie die Antwort garantiert früher oder später erhalten. Und wenn schon. Dann würde sie es eben loswerden, um die häßliche alte Formulierung zu benutzen, die nur so triefte vor Schuldzuweisung und Verdammnis. Oder auch nicht. Sie hatte keine Ahnung. Sie war nicht mehr sie selbst. Brutal wischte sie sich die plötzlich hervorquellenden Tränen aus den Augen. So ein Mist. Ihre Augen würden morgen fürchterlich aussehen. Die Nachrichtenanzeige ihres Anrufbeantworters blinkte, als sie die Wohnung betrat. Sie drückte auf den Wiedergabeknopf und setzte sich hin, um ihre Stiefel auszuziehen. Mrs. Cronins Stimme sagte: »Liebe Kissy, ich hätte gern ein paar Abzüge Ihrer Fotos von Ruth, als eine Art Familienstellungnahme hinsichtlich der Urteilsfindung des Gerichts. Wenn Sie bitte so nett wären, sich bald bei mir zu melden…« Sie schleuderte die Stiefel quer durch den Raum. Diese Bitte konnte sie Mrs. Cronin unmöglich abschlagen und gleichzeitig verlangen, Ruth weiterhin besuchen zu dürfen. Im Grunde war von Anfang an klar gewesen, daß das Projekt erst mit Ruths unausweichlichem Tod beendet war. Sie wußte, was sie mit diesen Fotos getan hätte. Sofern der Richter kein vollkommen gefühlloser Mensch war, würden sie einschlagen wie eine Bombe. Sylvia Cronin wußte das auch, sonst hätte sie nicht gefragt. Nachdem sie versucht hatte, den nächsten heißen Tränenstrom zu stoppen, ließ Kissy sich erschöpft auf die Matratze fallen. ›Matthias, Markus, Lukas und Johannes, segnet mein Bett, denn sonst keiner kann es.‹ Dann fiel ihr noch ein: ›Vier Engel, vier Engel an meinem Bett…‹ Den Rest bekam sie nicht mehr zusammen. Bilder von Ruth blendeten alles andere aus. \ 14 [ »Es ist wieder so weit, Süßer«, gab der Trainer die Ankunft seines neuen Bewährungshelfers bekannt. Buhrufe erschütterten den Umkleideraum. Die Zuständigkeit für Juniors Bewährungszeit war von Peltry nach Denver, von dort nach Dry River verlegt worden. Das große Los
hatte ein Mr. Horace gezogen, denn dafür, daß er Junior gelegentlich ohne Vorankündigung auf Drogenmißbrauch hin testen und die Resultate nach Peltry faxen mußte, hatte er nicht nur freien Zutritt zu dessen Privatgemach im Devil’s Backbone Motel, sondern auch zum Umkleideraum, den gesamten Trainingseinrichtungen sowie zu allen Spielen der Dinosaurs. Er gehörte quasi dazu und war obendrein glücklicherweise ein Fan, so daß ihn das Prestige, welches er dank seines vertraulichen Umgangs mit dem Team in den hiesigen Kreisen genoß, geradezu beglückte. Mr. Horace schwenkte sein Urintest-Köfferchen und gemeinsam begaben sie sich zum WC. Junior hatte keine andere Wahl, als die unerwünschten Weissagungen des Mannes hinsichtlich der kommenden Saison zu ertragen. Daß der Arzt wegen des Trippers einen Abstrich hatte machen müssen, war peinlich gewesen – und schmerzhaft –, im Prinzip aber nicht schlimmer als eine Untersuchung der Prostata. Doch das hier war erniedrigend und machte ihn unnötig nervös. Er verabscheute es, auf dem Prüfstand zu stehen, irgendwelchen anonymen, aber mächtigen Instanzen ausgeliefert zu sein. An der Fahnenstange hatte er wenigstens einen interessanten Ausblick gehabt. Jetzt kam es ihm so vor, als hätte es ihn in den hintersten Winkel einer schlechteren, tristeren Welt verschlagen. Er vermißte seine alten Mannschaftskollegen, und das nicht nur wegen des Vergnügens, es mit bekannten Faktoren zu tun zu haben. Sie hätten es mit dem gleichen Grölen quittiert, daß man ihm eine Flasche zum Hineinpissen in die Hand gedrückt hatte, aber jeder einzelne von ihnen wäre auf der Stelle bereit gewesen, ihm irgendwie eine saubere Probe unterzuschieben. Deker oder Moosejaw vielleicht auch, sofern einer von ihnen auf die Idee gekommen wäre, aber Deker litt unter Kulturverschiebung und Moosejaw war vollkommen neu, daß man Cannabis, geschweige denn Amphetamine, für Drogen halten konnte. »Du spinnst doch«, regte er sich auf. »Niemand kann dich wegen ein paar Gras- oder Speedmolekülen in den Knast stecken! Ich meine, das bißchen schnappst du doch schon im Fahrstuhl auf, wenn du mit ’nem Haufen Rastafaris zusammengepfercht bist.« »So viele Rastafaris gibt’s in Moosejaw?«, fragte Junior verblüfft. Moosejaw bedachte ihn mit einem angewiderten Blick. »Was soll ein Rastafari ausgerechnet in Moosejaw? Ich bin mal in Toronto Aufzug gefahren, in irgend ’nem Hotel, und ein Stockwerk nach mir
steigt plötzlich ’ne Band ein. Nichts als Dreadlocks, Goldzähne und so knallrote Augen, daß ich schon gedacht hab, ich bin in einem Vampirfilm gelandet. Als wir in der Halle ankamen, war ich absolut stoned. Vom bloßen Riechen der Typen.« »Dann nehme ich ab jetzt wohl besser die Treppe«, sagte Junior. Aber Moosejaw stand auf der Leitung. »Hä?« Der Puck änderte im allgemeinen Getümmel die Richtung und schlitterte, mal von diesem, mal von jenem Stock gestoßen, im Zickzackkurs auf ihn zu. Deker glitt als Verteidiger um ihn herum. Moosejaw und der junge Russe krachten genau in dem Moment ineinander, als das Geschoß durch den Stock des Stürmers nach vorn katapultiert wurde. Junior war bereit, erwartete den Puck, fing ihn diesmal mit der Stockspitze ab und gab an Deker weiter, der ihn über die Mittellinie brachte. Junior beobachtete, wie der verbissene Kampf sich langsam auf DeLekkerbek zu bewegte. Lek, ein dreiunddreißigjähriger Torhüter aus der unteren Spielklasse, war ein sanfter Kerl, der allmählich eine Glatze bekam und die Armesündermiene eines Oberschullehrers hatte, der anscheinend nicht anders konnte, als seinen Hemdenschoß immer wieder im Reißverschluß seiner Hose einzuklemmen. Bestenfalls konnte man ihn als Langweiler, schlimmstenfalls als – der Gerüchteküche zufolge – zu oft verkatert bezeichnen. In Juniors Gegenwart wirkte er immer leicht pikiert, aber ob er nun sein eigenes oder Juniors Auftreten, am Ende gar Juniors Person unzulänglich fand, war unmöglich zu sagen. Jetzt fing Leks Verteidigung den Pass ab und gab ihn in Juniors Richtung zurück. Junior hatte sich nie konzentrierter und sicherer gefühlt. Ob kerzengerade auf zwei Beinen, auf dem Hintern, auf den Knien, auf der einen oder der anderen Seite, auf dem Bauch, dem Rücken, mit der Stirn – er beherrschte seinen Job. Notfalls sogar im Kopfstand. Mit der gleichen Hingabe, mit der sich ein Moslem gen Mekka neigte, nahm er den Puck ins Visier, übte sich im Torhüter-Kamasutra, bewachte in geduckter Haltung das Netz. Das Team schwärmte aus, wie immer, wenn klar wurde, wer das Rennen machen würde und wer nicht. Wild entschlossen, die erste Gelegenheit zu nutzen, um aus Dry River herauszukommen, verbrachte Junior viele lange Tage mit harter Arbeit, feilte an seiner Kondition, an Schnelligkeit und Geschick-
lichkeit. Es gab zwar auch hier gelegentlich heitere Momente, doch den Großteil der Zeit hatte er das Gefühl, im Exil zu sein – ein Exil, das er sich im Allgemeinen, wenn nicht sogar im Besonderen, selbst ausgesucht hatte. Auf dem Nachttisch in seinem Zimmer lag das Buch Gideon, und auch er schaute wie alle anderen Durchreisenden manchmal hinein, einfach nur deshalb, weil es da war. Er dachte an den Song über die Flüsse von Babylon und wandelte ihn im Sinne seiner persönlichen Situation ein wenig ab: By the Dry River in Montana, there we sat down, yeah, we wept, when we remembered. Aus dem Buch Junior, Vers eins, Kapitel eins. Woran genau er sich erinnerte – in einem anderen Land, an einem anderen Fluß –, verdrängte er. Der Vorschlag, nach dem Spiel ein Bier trinken zu gehen, kam nicht von ihm. Er ging nur mit, als Lek, Moosejaw und Deker zum Rockie’s aufbrachen, dem Lieblingsladen des Clubs, weil er sich nicht absondern wollte. Das Rockie’s unterschied sich vom Bird’s in nahezu jeder Hinsicht. Es war dunkel in dem schuhkartonförmigen Raum, fast schon unheimlich, und ziemlich eng. Von der antiken Mahagonibar abgesehen, deren Oberfläche im Lauf der Zeit fast so glatt und zart geworden war wie die Innenseiten der Oberschenkel einer Frau, bestand das Mobiliar aus bewußt unbearbeitetem, fast schon verletzungsschwangerem Holz. Über der Bar hing ein miserables Gemälde aus dem neunzehnten Jahrhundert, auf dem ein plumper, schamhafter weiblicher Akt zu sehen war. Der Barkeeper nannte ihn ›Die Nackige‹, und zwar in einem Ton, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, daß jemand sich einen Spaß daraus gemacht hatte, das Bild dort aufzuhängen. Die Jukebox enthielt ausschließlich Country-Musik, die zu vier Fünfteln aus den deprimierenden Litaneien verkrachter Existenzen zu bestehen schien, die entweder in ihr Whiskeyglas gefallen waren, gerade eine Frau oder einen Hund verloren hatten oder gar unter einer Kombination aller drei Varianten litten. Gemeinsam waren dem Bird’s und dem Rockie’s die geschickt angebrachten Fernseher, die man von jedem Platz aus im Blickfeld hatte. Es handelte sich unmißverständlich um einen Ort, an dem Männer tranken und dabei Sportsendungen ansahen. Obwohl es noch früh war, lungerten bereits ein paar Mädchen herum, entweder weil sie in der letzten Saison eine Verabredung getroffen hatten, oder um die Neuzugänge zu begutachten.
Nachdem Junior Lek eine Cola bestellen hörte, beschloß er schnell, seinem Beispiel zu folgen. Auf keinen Fall sollte der Vereinsleitung zu Ohren kommen, daß er draußen Alkohol trank und Lek nicht. In seinem Zimmer konnte er sich jederzeit ein oder zwei heimliche Bierchen genehmigen. Technisch gesehen stellte es bereits eine Verletzung der Bewährungsauflagen dar, sich überhaupt in einer Bar aufzuhalten, geschweige denn Alkohol zu konsumieren, aber kein Richter der Welt ging ernsthaft davon aus, daß man wie ein Mönch lebte, niemals unter Leute ging und ein völliges Abstinenzlerdasein fristete. Was der Richter wirklich erreichen wollte, war, daß er sich wenigstens ein halbes Jahr lang nicht vollaufen ließ und wieder ein öffentliches Ärgernis darstellte; um zu beweisen, daß er etwas gelernt hatte – was Junior absolut einsah. Die wirkliche Strafe bestand im Verlust seines Führerscheins. In dieser Hinsicht war die Bewährungsfrist ein riesiger, dämlicher Regelhaufen, der es den Cops jederzeit ermöglichte, ihm einen Tritt in den Hintern zu versetzen, wenn ihnen sein blödes Gesicht nicht gefiel. Er kaute auf den Eiswürfeln aus seiner Cola herum und sperrte Augen und Ohren auf, so weit es nur ging. Die Typen hier waren allesamt Aasfresser, Hyänen auf der Jagd nach dem, was die Löwen übrig gelassen hatten. Sie hatten Angst, in die Falle zu geraten, die untere Spielklasse hieß; jeder von ihnen war unsicher und wurde von Selbstzweifeln geplagt. Sie fanden es zwar extrem aufregend, überhaupt Profispieler zu sein, geschweige denn vielleicht einmal das ›Große Eis‹ unter den Kufen zu spüren, doch keiner wollte lange in einer Mannschaft bleiben, die die Einheimischen, wie Junior mittlerweile herausgefunden hatte, die Sores – die Nervtöter – nannten. Die Gerüchteküche sprudelte über vor Indiskretionen, als die einlaufenden Spieler sich darüber unterhielten, wer am Ende war, wer bessere Karten hatte denn je, welche Agenten gefeuert, welche angeheuert worden waren, wer frisch geheiratet oder den Laufpaß bekommen hatte und was wohl in Kürze passieren würde. Alles davon konnte nützlich sein. »Die Reiche gesehen?«, erkundigte sich einer der anderen, ein Bursche namens Kiamos, bei Lek, der wortlos den Kopf schüttelte und plötzlich voll und ganz von etwas in seiner Cola gefesselt zu sein schien. Kiamos zuckte mit den Schultern und ging weiter. Leks Reaktion, die ahnen ließ, daß er nicht die geringste Lust hatte, als Ex-
perte bezüglich des Aufenthaltsorts der Reichen betrachtet zu werden, machte Junior neugierig, außerdem interessierte ihn der Ausdruck an sich. Die Reiche. »Wer ist denn die Reiche?«, wagte er einen direkten Vorstoß. Lek räusperte sich. »Wenn du sie siehst, wirst du es wissen.« Dann mußte er unbedingt einen Witz am Nebentisch loswerden. Deker und Moosejaw hatten Junior bereits vergessen und flirteten mit ein paar Mädchen. Ihm fiel ein, daß Kissy immer spöttisch ein Wort daraus gemacht hatte: Einpaarmädchen. Bei der bloßen Vorstellung, einer von seinen Teamkameraden zu sein, hatte sie jedes Mal verächtlich die Oberlippe gekräuselt. Als er ihr zu erklären versuchte, daß es erstens notwendig war und zweitens Spaß machte, hatte sie mit der Zunge eine Backentasche ausgebeult und ihre zusammengerollte Hand in einer simulierten Schwanzlutschaktion vor ihrem Mund auf und ab bewegt – was ihn so sehr zum Lachen gebracht hatte, daß er zu keinem vernünftigen Gespräch mehr in der Lage gewesen war. Er schloß sich dem allgemeinen Tisch-Hopping an und arbeitete sich zu Kiamos vor. »Erzähl mir von der Reichen. Warum macht sie Lek so zu schaffen?« Grinsend vertraute Kiamos ihm an: »Die Jungs hier nennen sie die wilde Hummel. Muß mindestens einsfünfundachtzig sein; außer im Zirkus hast du bestimmt noch nie ’ne Muschi so hoch überm Boden gesehen. Monette Daniels. Ihr Alter hielt ›Monette‹ wohl für das Femininum von ›Money‹. Ihm gehört das halbe Universum. Eigentlich kommt sie aus Denver, aber ihre beste Freundin wohnt hier, und deshalb machen sie ein paarmal in der Saison die hiesigen Clubs unsicher. Alle nennen sie Mony – von Moanie, also Stöhnen. Vielleicht tut sie’s, keine Ahnung. So nah bin ich ihr nie gekommen. Noch nicht. Oder sie nennen sie die Reiche, nur damit’s keiner vergißt. Jedenfalls hat Mony Lek das Herz gebrochen.« Er lachte. »Was bedeutet, sie hat ihn vier oder fünf Monate zappeln lassen, bis er einmal seinen Schwanz naß machen durfte, und ihn dann abserviert. Sie ist ’n Knaller. Die Sorte Weib, die Nacht für Nacht nackt in einem Brunnen tanzt. Ihre Freundin Diane hat zwar nicht ihr Treuhandvermögen und sieht auch nicht so gut aus, dafür kann sie das Schwarze aus ’nem Puck raussaugen.« Kiamos leckte sich die Lippen und trank sein Bier in einem Zug aus.
Junior erschauerte. Diane. Die Freundin der Reichen hieß Diane. Warum mußte der Name nur so häufig sein? Er bedankte sich für die Auskunft und machte sich auf die Suche nach seinen Kumpels. Deker war bereits verschwunden, Moosejaw soeben im Begriff, sich mit einem Mädchen aus dem Staub zu machen. Lek fing am anderen Ende der Bar seinen Blick auf und deutete auf die Tür. Er hatte nicht nur einen verrosteten Pickup, der Junior eine bequeme Rückkehr ins Motel verhieß, sondern auch die entsprechende Fahrerlaubnis. Es schien das Beste, auf sein großzügiges Angebot einzugehen. »Wo bist du gewesen?« Jimmy saß draußen in der sommerdurchtränkten Dunkelheit – ein Sommer so kurz, aber kostbar, daß es einer Sünde gleichgekommen wäre, nicht dankbar für jede Sekunde zu sein – und triefte vor Selbstmitleid. »Ich habe auf dich gewartet.« Nach ihrem langen und anstrengenden Tag kostete es sie einige Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. »Ich mußte länger arbeiten. So was kommt vor.« Er folgte ihr ins Haus. »Ich mußte ständig an letzte Nacht denken. Den ganzen Tag.« Sie nahm ein Bier aus dem Kühlschrank. Immerhin hatte er sich hinreichend von den Gedanken an letzte Nacht befreien können, um seinen Alkoholvorrat aufzufüllen. Er stellte sich hinter sie und nahm sie in den Arm. Seine Hände wanderten unter ihr T-Shirt. Sie schloß die Augen und lehnte die Stirn an die kühle Emailleoberfläche des Kühlschranks. Er knabberte an ihrem Ohr. Sein Atem roch stark nach Schnaps. Als er ihr eine Hand zwischen die Beine schob und über dem Stoff ihrer Levi’s zu reiben begann, preßte sie sich rhythmisch dagegen. Er stieß ihr seine Knie von hinten in die Beine, zwang sie so auf den Boden, zog ihre Hose hinunter und knöpfte seine eigene auf. Sie blutete immer noch ein bißchen, aber er schien seine Pingeligkeit überwunden zu haben. Die Hände auf den Boden gestützt, ließ sie sich im Knien von ihm nehmen. Er überschüttete sie mit Obszönitäten; sie nahm es als Teil des Ganzen hin. Als sie aus dem Bad zurückkehrte, lag er nach wie vor auf dem Boden, den obersten Knopf seiner Levi’s noch offen und den Jim Beam in der Hand. »Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen«, sagte sie. »Gibt es hier zufällig auch etwas zu essen?«
Er zuckte mit den Schultern. Sie spähte in sämtliche Schränke und noch einmal in den Kühlschrank. Obwohl er angenommen hatte, direkt nach der Gerichtsverhandlung ins Gefängnis zu müssen, waren stapelweise Lebensmittel vorhanden. Er hatte zweifellos damit gerechnet, daß Liesel sich darum kümmern würde, genau wie um die Wäsche. Wahrscheinlich war sogar sie es gewesen, die den Vorrat angelegt hatte; die ihn womöglich Löffel für Löffel füttern mußte. Die augenscheinliche Bereitschaft der Frau, ihn zu bemuttern, weckte Kissys Neugier. Es gab keinerlei Anzeichen oder Spuren einer sexuellen Beziehung zwischen den beiden. Vielleicht empfand Liesel es als Befreiung, in ihrer eigenen Abhängigkeit auch einmal etwas für andere tun zu können. Kissy entdeckte einen Laib Brot und ein Stück Speck und schickte Jimmy Tomaten und Kopfsalat aus dem Garten holen. Er verzog sich, kam wenig später zurück und beobachtete wortlos, wie sie Küchentücher zwischen die einzelnen Speckschichten legte, das Ganze in eine hitzebeständige Form gab und in die Mikrowelle schob. »Ich wußte gar nicht, daß man Speck so zubereiten kann«, meinte er schließlich. Sie nahm die Tomaten, wusch sie ab und schnitt sie in hauchdünne Scheiben. Er schaute fasziniert zu. Alkohol ließ eine Menge Dinge interessant erscheinen, die es im Grunde nicht waren. Während der Speck kroß wurde, toastete sie das Brot. Dann machte sie einige Sandwiches zurecht. Er bestaunte immer noch das Wunderwerk auf seinem Teller, als sie ihres bereits aufgegessen hatte. Sie schnitt sein Sandwich in zwei Hälften und nahm eine davon. An diesem Punkt beschloß er hastig, die andere zu essen. »Willst du noch eins?« Er nickte mit vollem Mund. Sie wiederholte die Prozedur. Während er aß, packte sie das Geschirr in die Spülmaschine und leerte ihr Bier. Als Krönung einer nahezu schlaflosen Nacht und eines anstrengenden Tages machte die Kombination aus Bier, Essen und Sex sie hundemüde. Sie setzte sich auf die Bettkante, um ihre Stiefel abzustreifen. Er hatte einen weiteren Bücherkarton geöffnet. Diesmal waren die Titel ausschließlich medizinischer Natur; bei den meisten ging es um Krankenpflege.
»Ich hab ein paar Krankenpflegekurse belegt«, sagte er über ihre Schulter hinweg. Da die Müdigkeit sie mittlerweile niederdrückte, als hätte die Schwerkraft plötzlich auf unerklärliche Weise zugenommen, war ihr vollkommen entgangen, daß er hinter ihr stand. Nervös an der Flasche hantierend, ließ er sich neben ihr nieder. »Ich hatte Angst, du würdest nicht wiederkommen.« Eigentlich hätte sie ihm von Ruths Fotos und Mrs. Cronins Bitte erzählen sollen. Aber nicht heute Abend; er war viel zu betrunken. Und so gerne sie ihn auch fotografiert hätte, selbst das mußte warten, bis sich eine günstige Gelegenheit gepaart mit Nüchternheit seinerseits ergab. Die Flasche schwappte leicht über, als er sie abstellte. Dann landeten seine Turnschuhe mit einem sanften Plumps auf dem Boden. Sie spürte, wie er sich neben ihr ausstreckte. Er wickelte sich um ihren Körper und murmelte: »Geh heute Nacht nicht weg. Bleib bei mir. Ich werd auch lieb zu dir sein.« Um der fast allabendlichen Partywut Dekers und Moosejaws zu entgehen, ging Junior ins Kino, um die Zeit totzuschlagen. Es gab nur ein Filmtheater in Dry River, den Dry River Cineplex, und als er dort zum ersten Mal hingefunden hatte, stand Lek in der Schlange vor ihm am Kartenschalter. Bei ihrer dritten oder vierten Begegnung vor der Kasse gab Lek schließlich zu, daß auch er einen Bogen um die Besäufnisse machte. Es schien nur logisch, daß sie sich zusammen die Filme ansahen, und so entstand eine seltsame Art von Freundschaft. Jeder von ihnen schien etwas Schlimmes erlebt zu haben, das er hinter sich lassen wollte, das aber nach wie vor im Raum stand. Nachdem sie sich das gesamte Filmangebot angesehen hatten, teilten sie sich die Kosten für einen gebrauchten Videorecorder, liehen einen Videofilm aus und warfen eine Münze, um zu bestimmen, wo sie ihn sich ansehen wollten. Der Zufall entschied sich für Lek. Junior brachte als Gastgeschenk einen Sechserpack Bier mit. Lek erbleichte, als er ihn sah, und konfrontierte Junior mit einem überraschenden Geständnis: Er habe erkannt, Alkoholiker zu sein, und gehe mehrmals die Woche zu den AA, manchmal mittags, manchmal am frühen Abend vor der Kinovorstellung. Er sei nun schon seit vier
Monaten trocken, erzählte er Junior, für ihn die längste Zeit ohne Alkohol seit seinem elften Lebensjahr. »Tu dir keinen Zwang an und trink ruhig, macht mir nichts aus«, forderte Lek ihn auf. Doch noch während er es sagte, begann er derart zu schwitzen, daß Junior das Angebot für eine heroische Geste halten mußte, die Leks guten Umgangsformen entsprang. Außerdem fragte er sich, ob das Bewußtsein, Junior könne im Gegensatz zu ihm ganz nach Belieben trinken oder auch nicht, Leks Situation nicht noch verschlimmerte. Jedenfalls schien das Geständnis ihn entspannt zu haben. Wie sich herausstellte, waren die AA die Quelle der Aphorismen, mit denen er seine Gespräche würzte, und die an Stoßstange und Heckklappe seines Wagens klebten. Diese Erkenntnis traf Junior mit der Macht der berühmten Glühbirne in den Gedankenblasen von Comicfiguren, und die ganzen ›Lebe Dein Leben Jeden Tag Neu‹-Sticker ergaben plötzlich einen Sinn. Junior kam sich ziemlich dämlich vor, weil er nicht selbst draufgekommen war. Es verblüffte ihn nicht nur, wie viele bekehrte Trinker es offenbar auf der Welt gab, er empfand sogar einen Anflug von Paranoia bei der Entdeckung, daß der Geheimbund der AA sogar die hintersten Winkel von Nirgendwo infiltriert hatte. Alle ein oder zwei Wochen verbrachten Lek und er ein paar Stunden mit den anderen im Rockie’s. Eine Strapaze für Lek, aber er erklärte beharrlich, die Welt sei voll von Alkohol und er müsse lernen, damit zu leben. Es sei äußerst wichtig, sich bei dem Versuch, nüchtern zu bleiben, nicht von der Menschheit abzuschotten. Nachdem Junior sich vergewissert hatte, daß Lek bei seinem Vorsatz blieb, konnte er sich in Ruhe zwei oder drei Biere genehmigen. An Dekers Geburtstag saßen wieder einmal alle im Rockie’s und ließen sich vollaufen – bis auf Lek, der sich eisern an seine Cola hielt –, als plötzlich jemand einen Pfiff ausstieß, zu klatschen begann und allgemeiner Tumult ausbrach. In der Tür stand die Reiche, eine Geburtstagstorte mit brennenden Kerzen in der Hand. Junior wußte sofort, wer sie war. Wie Kiamos gesagt hatte, war sie für eine Frau erstaunlich groß. Die Proportionen stimmten zwar, aber ihre langen Knochen waren mit zu viel Fleisch bestückt, als daß sie Model hätte sein können. Ihr Körper war keineswegs plump, eher geschmeidig, aber ›schön‹ im herkömmlichen Sinn konnte man sie kaum nennen. Ihre Haut war derb, ihr Gesicht kräftig und markant, einen Hauch zu
maskulin, die Nase an zwei Stellen leicht gekrümmt. Aber sie benutzte den Trick der Models, sich wie jemand zu bewegen, der sich seiner Schönheit absolut bewußt ist, schritt mit dem Selbstvertrauen einer Turnerin durch die Welt. Junior schätzte sie auf zwei, drei Jahre älter als sich selbst, vielleicht sogar an die dreißig. Sie befand sich in Begleitung einer anderen Frau, vermutlich ihre Freundin Diane. Diese Diane war genauso blond wie Diane Greenan, etwa genauso groß und genauso gebaut, damit hörten die Gemeinsamkeiten aber auch auf. Diese Diane hatte genug Haare für zwei Models auf dem Kopf und trug so viel Make-up, daß man unmöglich sagen konnte, wie das Gesicht darunter aussah – was den Verdacht nahe legte, sie wolle eben dies verhindern. Sie hatte sich auf eine Art gekleidet, die ihren dünnen Körper eindeutig betonen sollte, obwohl er – von den Brüsten einmal abgesehen – auffallend schlaff war. Sie sah aus wie eine unvollständig aufgeblasene Plastikpuppe, bei der alle Luft sich aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet an der einen Stelle gesammelt hatte. Die Jungs begrüßten sie mit einem aufrichtigen, von Herzen kommenden Enthusiasmus, dem Junior nicht zum ersten Mal begegnete: von Zeit zu Zeit wurde eine Mannschaftshure derart beliebt, daß sie fast zu einer Art Maskottchen avancierte. »Wo ist das Geburtstagskind?«, kreischte die Reiche. Deker wurde zu ihr durchgereicht und ließ auf der Stelle sein bewährtes Casanova-Lächeln erblühen. Zu seiner Verwunderung verdrehte sie die Augen. »Du meine Güte, der ist ja noch ein Ba-biiihh!« Diese Bemerkung rief allgemeines Gelächter und beifälliges Pfeifen hervor und Deker wurde tatsächlich rot. Die Reiche umarmte ihn und gab ihm einen dicken, schwesterlichen Kuß auf den Mund, woraufhin er ein paar russische Worte hervorstotterte. Sie legte die Torte in seine Hände und wandte sich wieder von ihm ab, offenbar auf der Suche nach jemand bestimmtem. Sofort hatte ihr scheinbar ziellos umherschweifender Blick Lek und Junior an der Bar entdeckt. Mit wackelndem Zeigefinger segelte sie herbei und verkündete in leicht herausforderndem Ton: »Ich bin Mony.« Junior nahm an, daß der wie auch immer geartete Unterhaltungswert ihres Namens sich bereits seit längerem abgenutzt hatte. Lek räusperte sich und stellte ihr Junior vor. Die Art und Weise, wie Lek und die Reiche sich an-
schauten, verriet Junior, daß er einer zu viel war, also machte er sich aus dem Staub. Später sah er die beiden mit ineinander verschlungenen Händen an einem der hintersten Tische sitzen. Sie glotzten sich zwar nicht ununterbrochen tief in die Augen, aber Lek sah ungewohnt glücklich aus, genau wie sie. Junior hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Einerseits weil er sich für die beiden freute, andererseits war er aber auch ein bißchen neidisch auf Lek. Das alte Elend stieg wieder in ihm hoch; er fühlte sich einsam, war wütend und deprimiert. Eine Frau mußte her – eine, die den Bann endlich brach. Sein Blick wanderte nacheinander zu jedem weiblichen Wesen, das sich in dem Laden aufhielt, doch sie hatten alle einen entscheidenden Fehler: sie waren nicht Kissy. Wie lächerlich. Er konnte sich und sein Gejammer allmählich selbst nicht mehr ertragen. Glücklicherweise nahm Moosejaw, der zu viel Bier getankt hatte, um seinen erbärmlichen Zustand zu bemerken, ihn mit zum Motel. Diesmal ließ die Reiche sich nicht lange bitten. Sie verbrachte die Nacht bei Lek in dem Zimmer gleich neben Juniors. Seiner Zählung zufolge brachten sie es auf dreimal. Sie stöhnte nicht nur, sie redete außerdem viel – was Kissy und er auch immer getan hatten. Als er mit dem Frühstück fertig war, kamen sie ins Motelrestaurant geschneit. Sie sahen genauso aus, wie er sich fühlte: als hätten sie sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen. Nachdem sie sich zu ihm gesetzt hatten, gab er Lek den Sportteil der Lokalzeitung und tauschte mit der Reichen ein intimes Lächeln, wie es zwei alte Eheleute nicht besser hinbekommen hätten. Als Lek zum Büffet gegangen war, vertraute sie ihm überraschend an: »Er ist eigentlich gar kein Alkoholiker. Er benutzt es nur als eine Art Zauberformel, mit der er alles gerade biegen kann.« Junior war derart perplex, daß ihm nichts darauf einfiel. Er hatte Lek natürlich geglaubt, als der sagte, er sei Alkoholiker. Aber sie schlief mit dem Mann, also kannte sie ihn wahrscheinlich besser als er. Vielleicht sogar besser als Lek sich selbst. Als er noch mit Kissy zusammengelebt hatte, war es ihm mit ihr oft so ergangen. Manchmal war sie ihm regelrecht unheimlich gewesen. Abgesehen von dem Augenblick, als sie ihm den Laufpaß gegeben hatte, hatte ihn sein Gefühl sie betreffend immer getäuscht – aber das war eine Sache, mit
der er sich im Moment absolut nicht herumschlagen wollte. Lek kam zurück und weder die Reiche noch er sprachen das Thema noch einmal an. Dann machte sie sich auf den Weg, was Lek nichts auszumachen schien. Es schien ihm nicht einmal etwas auszumachen, daß er abgesehen vom Training so gut wie nie im Netz stand. Junior, der sich weiter hinausgewagt hatte als jemals zuvor, ließ gefährlich viel Platz zwischen sich und dem Tor. Er schoß vor, um den Puck in die Gegenrichtung zu schlagen, um herannahende Gegner an die Bande, gegen die Rückseite des Netzes, gegen andere Spieler zu drängen. Einige Male gelang es ihm erstaunlich gut zu parieren; ohne zu sehen, was er tat, fing er auf ungewohnten Positionen den Puck ab, holte ihn aus der Luft, stoppte ihn scheinbar zufällig auf dem Eis. Und das, während die restlichen Sores wahrhaft heroische Anstrengungen unternahmen, zur falschen Zeit am falschen Ort die falschen Maßnahmen zu ergreifen. Mit Ausnahme von Deker. An den meisten Abenden mußte Junior ganz allein auf das Tor aufpassen, während diejenigen, die eigentlich zu seiner Verteidigung bestimmt waren, verzweifelt darum kämpften, ihre Positionen zu behalten. Manchmal schien es ihre gesamte Konzentration zu erfordern, sich auf den Kufen zu halten und gleichzeitig nicht den Stock zu verlieren. Er sah Linien zusammenbrechen und sich ineinander verheddern, Verteidiger ruinöse Strafstöße provozieren und Deker den Zusammenhalt seiner Halswirbel riskieren, indem er unermüdlich den Hals reckte, um jemand zu finden, der seinen Pass annehmen könnte. Moosejaw spielte genauso miserabel wie alle andern, wenn er zur Entschuldigung auch wenigstens ein überdehntes Kreuzband anzuführen hatte. Sie verloren öfter, als sie gewannen, die Spiele endeten häufiger mit einem Unentschieden als mit einem Sieg, und wenn den Sores doch einmal ein Sieg gelang, war er eher slapstickartigen Idioteneinlagen auf dem Eis zu verdanken. Niemand war glücklich mit der Situation, aber für Junior, der sich noch nie während einer ganzen Saison auf der Verliererspur befunden hatte, war der Frust kaum zu ertragen. Zu allem Überfluß plagten ihn immer wieder Erkältungen und eine hartnäckige Blasenentzündung, wahrscheinlich weil seine Ausrüstung zwischen den Spielen nie richtig trocknen konnte. Die Auswärtsspiele nahmen albtraumhafte Dimensionen an. Er hatte jedes Mal das Gefühl, mit tränenden
Augen, einer laufenden Nase, ununterbrochenen Unterleibs- und Rückenschmerzen aufzuwachen und nicht zu wissen, wo er sich befand. Doch er war mit seinen Leiden nicht allein. Verletzungen, Krankheiten, Antriebslosigkeit und allgemeine Frustration trieben in der gesamten Mannschaft ihr Unwesen. Als kurz nacheinander drei Frauen behaupteten, von Deker ein Kind zu erwarten, fiel Junior schlagartig auf, daß er den Russen nie auch nur ein einziges Kondom hatte kaufen, ausleihen oder erbetteln sehen – was sonst jeder tat. Da waren sie also: Wynona aus Denver, Terrianne aus Dry River und Lisa aus Gormly, Nevada, mit der Deker sich erinnerte, sieben oder acht leidenschaftliche Minuten im Außenklo eines Busbahnhofs verbracht zu haben, nachdem er sie beim Kaugummikaufen am Zeitungsstand kennen gelernt hatte. Sie mußten ihn davon abhalten, seine gesamten Ersparnisse auf der Stelle zu dritteln und den Frauen nach Hause zu schicken. Einen Anwalt dafür zu bezahlen, daß er zumindest ein paar Bluttests in die Wege leitete, verschlang bereits solche Summen, daß Deker sich die Wohnung im Ort, die er mit einigen anderen teilte, nicht mehr leisten konnte und ins Devil’s Backbone Motel zurückkehren mußte. Die Vorstellung, Vater zu werden, versetzte ihn in helle Aufregung. »Es werden lauter Männer sein«, prophezeite er. »Meine Spermien sind alle Jungs.« So wie er von den Pornofilmen im Kabelprogramm des Motels und der immer gleich bleibenden Diät während der Fahrten zu den Auswärtsspielen abwechselnd Durchfall oder Verstopfung bekam, fand Junior auch die Angebote für ein sexuelles Abenteuer während des Herumreisens so reizlos, nahezu fad, wie in Dry River selbst. Vielleicht lag es an ihm, denn er fühlte sich wie eine Spielzeugfigur in einer Plastikkugel, umgeben von einer dünnen Haut, durch die die Außenwelt seltsam trübe aussah, zugleich aber einen Schutz vor… – er wußte es selbst nicht – bedeutete. An der Sowerwine hatte er genügend Psychologiekurse belegt, um den Verdacht zu haben, daß er sich selbst bestrafte, selbst dann, wenn er seinen Gelüsten freien Lauf ließ. Von irgendeinem Mädchen einen geblasen zu kriegen – im Auto, im Garderobenraum einer Bar, ganz, ganz hinten im Bus – rangierte auf der Wichtigkeitsskala in etwa auf gleicher Höhe mit dem Trinken von ein paar Flaschen Bier; genau so viele Flaschen, wie
erforderlich waren, um von der Aussicht aufs Blasen überhaupt angetörnt zu werden. Nichts davon stillte den in der Kissy-Zeit entstandenen Appetit auf mehr. Schlimmer noch: Er hatte das Gefühl, zunehmend an Boden zu verlieren. Wenigstens ging es bald für ein vorweihnachtliches Heimspiel und die anschließenden Feiertage nach Hause; mickrige vier Tage bloß, aber immerhin Weihnachten. Als sie auf der Rückfahrt vom letzten Auswärtsspiel vor der Weihnachtspause noch eine Stunde von Dry River entfernt waren, machte sich unvermutet freudige Erregung breit. Doch schon beim ersten Blick auf den Ort erlebte jeder einen jähen Abfall des Hochgefühls, einen ruckartigen Schock im Gedärm, als stürze der Bus eine Klippe hinab. Dry River war während ihrer Abwesenheit noch trostloser geworden. Jede jämmerliche Holzlatte, jeder trübselige Betonklotz zuckte, wimmerte und klagte wie ein wahnsinniger Prophet in der Wildnis. Das Heulen des Windes klang ihnen in den Ohren wie ein Echo ihrer eigenen Verzweiflung. Der Sturm hatte das Motelschild heruntergerissen, Schindeln vom Dach gefegt und einige Fensterscheiben eingedrückt. Die niedrigen, lang gezogenen Stuckmauern des Gebäudes schienen Blasen geworfen zu haben. Unversehens mußte Junior an einen Mann denken, den er einmal unabsichtlich angepinkelt hatte. Er hatte im Gebüsch vor einer Bushaltestelle in Nebraska gehockt, deren sanitäre Anlagen allesamt verstopft gewesen waren. Ob es sich nun um einen Obdachlosen, einen Geisteskranken oder einen Penner handelte – vermutlich alles drei –, der arme Kerl trug jedenfalls nur Lumpen auf dem Leib, die seine dreckverkrustete, entzündete Haut den Elementen preisgaben. Die einzige Dusche, die ihm seit offenbar langer Zeit zuteil geworden war, bestand aus dem goldenen Regen aus Juniors Schwanz. Junior hatte ihm zur Besänftigung ein eingetrocknetes Sandwich und eine Dose Mineralwasser aus dem businternen Kühlfach geholt, aber der Bursche wollte Geld. Als Junior nicht darauf eingegangen war, hatte er ihn mit wilden Flüchen belegt. Sobald er allerdings verschwinden wollte, hatte der Typ einen anderen Ton angeschlagen und ihn förmlich angefleht, sich wenigstens für Geld einen blasen zu lassen.
Die Erinnerung brachte Junior vorübergehend dazu, für alles dankbar zu sein, was ihm beschert wurde. Kaum hatte er jedoch das Motel erblickt, fühlte er sich wie jemand, der einen Hügel hinauffährt und nach der Kuppe plötzlich keine Straße vorfindet. Er hatte sich darauf gefreut, nach Hause zu kommen – jetzt war er da und freute sich nicht die Spur. Es lag weniger an der Schäbigkeit seiner Unterkunft als an der Tatsache, daß niemand dort war. Niemand erwartete ihn. Jetzt nicht und früher nicht. Nicht ein einziges Mal. Das Fossil vom Empfang hatte ihm Zuvorkommenderweise seine Post gebracht, einen ganzen Pappkarton voll, der direkt hinter der Tür stand. Was keine Zeitungen waren – vorwiegend solche aus der alten Heimat mit den Sportseiten voller Lobhudelei auf seinen verräterischen kleinen Bruder, der offenbar vollauf damit beschäftigt war, den Spectres zu einer Anwärterschaft auf den Ligistenersten und damit zu einem neuen Antritt bei irgendwelchen Landesmeisterschaften zu verhelfen –, war Schrott. Lustlos blätterte er die an den allzeit geschätzten ›Anwohner‹ adressierten Reklamezettel durch. Vielleicht sollte er seinen Namen ändern, Anwohner Clootie werden. Keine Nachricht, kein Brief, keine Postkarte, nicht einmal ein verdammter Weihnachtsgruß von Kissy. Er sortierte die Zeitungen aus, stapelte sie auf dem Tisch und ging sie dann eine nach der anderen durch, Seite für Seite auf der Suche nach einer bestimmten Quellenangabe. Seine Ruhe und Entschlossenheit erstaunten ihn selbst. Er blätterte die nächste Seite um und starrte auf ein Foto mit einer winzigen Bildunterschrift, die tatsächlich die Form von Kissys Namen besaß. Ihm stockte der Atem in der Brust wie bei einem heftigen Schmerz. Abrupt sprang er auf und warf den Tisch mit einem Tritt um. Irgendwann später stand er mitten im Zimmer und merkte, daß er es zu Kleinholz gemacht hatte: den Tisch durchs Fenster geworfen, die Türen aus den Angeln gerissen, die Wände durch Tritte und Fausthiebe mit Löchern gezeichnet, die Möbelstücke in ihre Einzelteile zerlegt. Es sah aus, als hätte sich der Sturm, dem schon das Motelschild zum Opfer gefallen war, in seinem Zimmer verfangen und keinen Weg mehr hinaus gefunden. Er hörte Applaus, und als sein Blick allmählich wieder klarer wurde, sah er seine Mannschaftskol-
legen – diejenigen, die sich nicht sonst wo eine Wohnung teilten – hinter der zerborstenen Fensterscheibe stehen. »Ganze Arbeit!«, brüllte Moosejaw. Deker schob zwei Finger in den Mund und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. DeLekkerbek, die Reiche und Diane II klatschten immer noch. Der elegante alte Rolls-Royce Silver Shadow der Reichen kauerte hinter ihnen, als wäre er vor Juniors Wutanfall in Deckung gegangen. Junior taumelte ins Bad, um sich vor ihnen in Sicherheit zu bringen. Seine Finger taten fürchterlich weh, und als er nachschaute, sah er, daß fast alle Nägel fehlten. Die blutigen Streifen an den Wänden fielen ihm ein, dort, wo er offenbar die Farbe heruntergekratzt hatte. Er warf einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken, um sein Gesicht zu betrachten. Ihm gefiel gar nicht, was er sah. Seine Faust krachte mitten hinein. \ 15 [ Ohne Erfolgsmeldung nach Hause zu fahren hieß ungefähr das Gleiche, wie dort mit einem Eingeständnis des persönlichen Scheiterns zu erscheinen. Von den vier freien Tagen würden zwei bereits für den Hin- und Rückflug draufgehen. Die billigere Busfahrt nähme mehr Zeit in Anspruch, als ihm überhaupt zur Verfügung stand, aber selbst wenn er eine ganze Woche gehabt hätte, hätte sich nichts an seinem Entschluß geändert. Allein die Vorstellung, achtundvierzig Stunden in einer Stadt mit Kissy zu verbringen, schmerzte viel zu sehr. Seine Hände zitterten bei dem Gedanken. Er befürchtete, sie womöglich umzubringen, wenn er ihr so nahe kam. Bestimmt hatte sie mittlerweile einen Neuen. Diesen Spinner, den Ballonführer, oder sie war am Ende gar zu dem bescheuerten Drummer zurückgegangen. Dem Blödmann hätte er wirklich den Garaus machen sollen, als er die Gelegenheit dazu hatte. Sich eine Ausrede für seine Leute einfallen zu lassen war nicht weiter schwer. Er erzählte ihnen einfach, er wolle das Geld sparen. Natürlich habe er Verständnis, daß sie nicht zu ihm kommen könnten, so randvoll wie Marks Terminkalender nun einmal sei. Er stornierte die Flugreservierung und schickte die Weihnachtsgeschenke, die er während der Fahrten von Spielort zu Spielort erstanden hatte, nach
Hause. Ein mit Türkisen besetztes Bolo-Tie für Dunny, Ketten und Ohrringe mit Türkisblüten für Esther und Bernie, handgearbeitete Leder-Stiefel für Mark. Im selben Laden, in dem er den Türkisschmuck gekauft hatte, hatte ihn eine dritte Kette magisch angezogen: zwischen langen, aufgezogenen Silberröhrchen steckte jeweils ein Türkisbrocken, der Anhänger bestand aus einer silbernen Bärentatze mit einem blutroten Stein. Man hatte ihm gesagt, was für ein Stein es war, aber es war ihm wieder entfallen. Er packte die Kette ein, versicherte das Päckchen gegen Diebstahl und schickte es ihr. Sollte sie die Kette doch für ihren neuen Lover tragen und sich darüber totlachen, was für ein dämlicher Tropf ihr Verflossener war. Nachdem das erledigt war, mußte er sich überlegen, wie er Weihnachten verbringen wollte. Außer mit der Instandsetzung seines Motelzimmers. In Ordnung bringen oder zahlen, hatte der Geschäftsführer gemeint. Junior hatte inzwischen die Fenster vernagelt, ansonsten aber nicht mehr getan, als die Glasscherben zu beseitigen. Im Grunde wollte er nur saufen. Gleich nach dem letzten Spiel damit anfangen, sich bis zum Anschlag vollaufen lassen und so bleiben, bis der weißhaarige Dicke den letzten Schornstein hinaufgekrabbelt und zum Nordpol zurückgekehrt war. Doch nach dem letzten Spiel tuckerte draußen vor dem Stadion der Silver Shadow im Leerlauf vor sich hin. Am Steuer saß die Reiche, neben ihr lümmelte sich Lek auf dem Beifahrersitz, aus dem heruntergekurbelten Fenster hinter ihm hängte Diane II ihr Gesicht heraus. Sie grinsten ihm entgegen, als wüßten sie mehr als er. »Laß uns aus diesem Wahnsinnskaff verschwinden, Hoot«, sagte Lek. Die Reiche öffnete den Kofferraum und Junior warf seine Sporttasche hinein. Trotz des Gepäcks, das die beiden Frauen mitschleppten, und Leks Tasche war noch genügend Platz. Junior widerstand der Abgeschiedenheit verheißenden Anziehungskraft des Kofferraums und setzte sich neben Diane II auf die Rückbank. Dann fuhren sie los, wie er annahm nach Denver, wo die Reiche seines Wissens eine Wohnung besaß. Die Reiche verlangte etwas zu trinken. Diane II holte eine Flasche Champagner und dazu passende Flöten aus dem mit Eisstücken gefüllten Kühlfach zu ihren Füßen. Sich offenbar nicht mehr daran erinnernd, daß Lek Alkoholiker war, schenkte sie ihm ein Glas ein.
Er winkte lachend ab, aber seine Heiterkeit wirkte gezwungen. Diane II verstrickte sich über die Maßen in Entschuldigungen, woraufhin die Reiche ihr riet, lieber die Klappe zu halten. Schuldbewußt in sich zusammengesackt, stürzte Diane II eine Riesenmenge Champagner hinunter, um möglichst schnell über ihren Fauxpas hinwegzukommen. Wirklich schade für Lek, dachte Junior, denn die Flüssigkeit in den eisverkrusteten Flöten schmeckte wie Nektar direkt aus dem Feenland. Er hatte noch nicht oft Champagner getrunken, aber das hier war eindeutig erstklassige Qualität. Träge lehnte er sich zurück, um voll und ganz auszukosten, daß er in einem Rolls-Royce Silver Shadow gen Colorado rollte, in der Hand ein Glas Roederer Crystal, dem er ein angenehmes Prickeln im Bauch verdankte. Im Rückspiegel fing er den Blick der Reichen auf und wurde sich plötzlich seines albernen Gesichtsausdrucks bewußt. Sie grinste ihm augenzwinkernd zu, und er wußte, daß es in Ordnung war. Er sollte ruhig eine Weile in dem Gefühl schwelgen. Nach dreistündiger Fahrt hatten sie gegen zwei Uhr morgens die Stadtgrenze von Denver erreicht. Junior war mittlerweile klar, weshalb Diane II’s Brüste so seltsam hervorstanden. Implantate. Es fühlte sich merkwürdig an, sie zu berühren, so als nähme er seinen eigenen Steifen in die Hand. Außerdem hatte er herausgefunden, wie einem Puck eventuell zumute war, wenn Diane II das Schwarze aus ihm heraussaugte. Seit einer Stunde schlief sie, den Kopf in seinem Schoß. Als sie durch die menschenleeren Straßen rollten, fühlten sie sich, als gehöre ihnen die Stadt, als gehöre ihnen die ganze Welt. Junior hatte bislang nur in Spielfilmen gesehen, wie jemand beim Einchecken ins Hotel Champagner bestellte. Sämtliche Angestellte des exklusiven Etablissements sprachen mit Akzent, überwiegend einem französischen, was seiner Einschätzung nach der Abgrenzung gegen die 7-Elevens diente, deren Mitarbeiter ebenfalls einen Akzent hatten, allerdings einen aus Pakistan, Mexiko oder Sri Lanka. Der Geschäftsführer persönlich begleitete sie zu einem Privatlift, der ausschließlich zu dem über zwei Etagen reichenden Penthouse der Reichen fuhr. Von oben hatte man aus jeder Richtung einen atemberaubenden Blick auf die Stadt, bei dem einem der Magen hüpfte, als säße man in der Achterbahn.
Die Reiche hatte Leks Tasche in ihr Zimmer gebracht. Diane II zeigte Junior die übrigen Räume und ließ durchblicken, er könne seine Gepäck dort abstellen, wo sie für gewöhnlich schlief. Aus leicht angesäuselter Vorsicht heraus verpaßte er absichtlich sein Stichwort. Er hatte nicht die geringste Lust, ihr Betthäschen zu sein, geschweige denn ihr Freund, und sah nicht ein, weshalb ein bißchen Vergnügen auf dem Rücksitz ihn dazu verpflichten sollte – besonders wenn es genügend unbesetzte Schlafzimmer gab. Er war ganz und gar nicht sicher, auch nur ein einziges Mal neben ihr aufwachen zu wollen. Der nächste Stop ihrer Rundreise waren der zur Wohnung gehörende Pool und das daneben liegende Jacuzzi-Becken, in das mindestens ein halbes Dutzend Leute paßten. Es entsprach haargenau einem seiner Wunschträume, sollte er tatsächlich einmal zu Geld kommen. Der Champagner traf im selben Moment ein, als Lek und die Reiche leicht zerknautscht und ein wenig außer Atem aus ihrem Schlafzimmer kamen. Die Frauen fingen an, sich aus den Klamotten zu schälen, und innerhalb weniger Minuten lümmelten sich alle splitternackt im Jacuzzi. Die Eigenart heißen Wassers, Frauenhaut weich und rosig zu machen, hatte etwas an sich, das Junior in Hochstimmung versetzte. Lek schien diese Vorliebe zu teilen. Junior fragte sich im Stillen, ob sie vielleicht auf einen munteren Vierer zusteuerten. Diane II kuschelte sich an ihn. Falls er einen Herzanfall bekäme und zu ertrinken drohte, schoß ihm durch den Kopf, mußte er sich bloß an ihr festklammern, und ihre Titten würden sie beide über Wasser halten. Der Dampf über den wogenden Wassermassen weichte ihre Make-up-Schichten auf und brachte sie zum Verlaufen. Er widerstand dem Impuls, ihren Kopf unter Wasser zu drücken, um herauszufinden, wie ihr Gesicht ungeschminkt aussah, wenn sie zum Luftschnappen wieder auftauchen mußte. Mit einem Anflug von Panik zog er flüchtig in Betracht, daß sie Diane Greenan dann vielleicht wirklich stark ähneln würde, und hatte kurz das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Unmöglich, beruhigte er sich schnell; wenn es so wäre, mußte sie sich nicht diese Unmengen braunes Zeug ins Gesicht schmieren. Die Reiche strich mit einem Finger über einen Bluterguß an Leks Unterarm. »Wenn ich Verlegerin wäre«, meinte sie dabei, »würde
ich einen Kalender mit nackten Eishockey- und Footballspielern herausbringen und ihn ›Männer und ihre Blessuren‹ nennen.« Alle lachten. Diane II grapschte unter Wasser nach seinem Schwanz. Er gab vor, es nicht zu bemerken. Es brauchte erheblich mehr Alkohol, um den Wunsch in ihm zu wecken, mit ihr zu vögeln. Mit der Reichen schon, mit der hätte er es gern getan. »Wie wär’s mit Musik?«, schlug er vor. Diane II war sofort Feuer und Flamme und machte sich auf den Weg. Wenig später quengelte Madonna aus den Boxen an der Wand, sie wolle ihr Baby behalten. Lek und die Reiche hörten nicht zu; sie küßten sich. Junior überlegte, was sie jetzt wohl von ihm erwarteten – sollte er vielleicht selbst Hand an sich legen, um nicht aus dem Rahmen zu fallen? Diane II löste sein Problem, indem sie mit einem Spiegel voll bereits vorbereiteter Lines zurückkehrte. Er steckte seine Nase mitten hinein. Der helle Wahn. Die Frauen folgten seinem Beispiel. Lek drehte den Kopf weg, als täten die drei anderen etwas Peinliches, stieg aus dem Becken, nahm seine Sachen und ging. Juniors Herz hämmerte im Stechschritt. Benommen schloß er die Augen. »Puuh«, meinte die Reiche und schniefte ein paarmal. »Ist manchmal ganz schön anstrengend, sich mit jemandem amüsieren zu wollen, der sich für einen Alkoholiker hält.« »Warum gehst du ihm nicht nach?«, fragte Diane II. »Ach, scheiß drauf!«, erwiderte die Reiche, woraufhin die beiden Frauen in wieherndes, von Schnauben und Schniefen unterbrochenes Gelächter ausbrachen. »Ja, scheiß drauf!«, wiederholte sie, und das Lachen nahm hysterische Ausmaße an. Das Auf und Nieder der Wassermassen war beängstigend, erweckte den Eindruck, als würde das gesamte Gebäude schwanken. Junior öffnete sicherheitshalber die Augen. Diane II kletterte soeben aus dem Becken, fing seinen Blick auf, zwinkerte ihm zu und stiefelte davon. Die Reiche spritze ihm spielerisch Wasser ins Gesicht. Er spritzte zurück, woraufhin sie mit einem ausgelassenen Quietschen aufsprang und sich auf ihn warf. Er packte sie und hielt sie fest; so ein Riesenweib! Er mußte an die Worte seiner Mutter denken, seine Augen
seien mal wieder größer gewesen als sein Magen, wenn er sich mehr auf den Teller geschaufelt hatte, als er verputzen konnte. Der Schnee hatte die Reiche gesprächig gemacht. »Letzte Woche war ich auf den französischen Antillen. Einmal nach dem Abendessen ging ich zum Pool und setzte mich an den Rand. Ich zog die Schuhe aus und den Rock hoch, um meine Füße im Wasser baumeln zu lassen. Nach einer Weile fiel mir ein Insekt im Wasser auf, eine Motte oder so. Ich dachte zuerst, sie würde ertrinken, aber dann merkte ich, daß sie sich alle paar Sekunden ein Stückchen über die Wasseroberfläche schob. Sie machte dabei ein lautes Geräusch, so ähnlich wie eine schnurrende Katze. Sie ritt auf dem Wasser, ließ die Flügel herunterklatschen, hob ab, fiel zurück und hob wieder ab. Dann entdeckte ich, daß sie direkt über einer Unterwasserlampe hockte. Diese Motte dachte – können Motten das überhaupt? –, egal, sie benahm sich jedenfalls, als hielte sie die Lampe für den Mond.« Sie lachte zufrieden. »Die muß doch total durchgedreht sein, als sie versucht hat zu kapieren, warum der Himmel plötzlich ganz dick und naß geworden ist.« Auch ihre Brüste trieben im Wasser wie untergegangene Monde, dachte Junior, und dann: Mein Gott, bin ich durchgedreht. Mit breitem Grinsen ließ sie sich unter die Wasseroberfläche sinken und schob seine Beine auseinander. Die undeutliche Silhouette ihres Kopfes zeichnete sich zwischen ihnen ab. Sie begann an ihm zu knabbern wie ein winzig kleines Fischchen, dann an seinem Schwanz zu saugen. Er schnappte nach Luft. Sie gab ihn wieder frei und tauchte auf. Wasser rann über ihr Gesicht. Sie drückte sich an ihn, er legte einen Arm um ihren Körper und nahm eine ihrer Titten in die Hand. Langsam strich er mit dem Daumen über die Brustwarze. Es war geradezu unheimlich: Ihre Brust fühlte sich wie sein erigierter Penis an. Die Haut war verschiebbar und glatt, der Kern darunter hart wie ein Brett. Sie schwang ein Bein über ihn und schob ihn in sich hinein. Er schloß die Augen, als sie auf ihm zu reiten begann. Im Hintergrund sang das Material Girl mit beinah greifbarer Schwermut. Er hätte seinem Schwanz ruhig vertrauen können, es war wirklich, was er gebraucht hatte. Fast so gut wie mit Kissy, so schien es jeden-
falls. Doch gleich danach fühlte er sich hundsmiserabel. Der Wastreibst-du-da-bloß-Blues. Sie merkte es. »Was ist los, Baby? Was hast du?« Er gestand ihr, daß es der erste richtige Sex seit der letzten Nacht mit Kissy gewesen war – einen geblasen zu kriegen zählte nicht, besonders nicht in jüngster Zeit. Sofort war ihre Neugier geweckt und sie wollte die ganze Geschichte hören. Während er erzählte, trieben sie träge im Wasser. Junior hatte mittlerweile das Gefühl, seine Haut problemlos abstreifen zu können. Dann sähe er aus wie der Gläserne Mensch im Anatomie-Unterricht: rohes rotes Muskelfleisch, bloße Augäpfel. Anwohner Clootie. »Kissy!«, meinte sie. »Und ich dachte immer, mein Name wäre albern.« Sie setzten sich auf den Beckenrand, um sich den Rest des Pulvers auf dem Spiegel zu Gemüte zu führen. Anschließend machten sie sich auf, Lek und Diane II zu suchen. Sie fanden die beiden im Schlafzimmer der Reichen. Lek leckte soeben Kokain von Diane II’s Brustspitzen, was sie mit ausgelassenem Glucksen quittierte. Lek grinste und stieß ein rauhes Lachen aus. Seine Augen waren rot und verschwollen, als hätte er geweint. Die Reiche beugte sich über ihn und drückte ihren Mund auf seine Lippen. Gierig erwiderte er den Kuß. Dann machten sich die Frauen gemeinsam über ihn her. Die Reiche streichelte seine Knie und rutschte an ihm hoch, um an seinem Schwanz zu saugen. Diane II setzte sich auf sein Gesicht. Junior schaute eine Weile in einem Zustand distanzierter Erregung zu, dann griff er nach Telefonhörer und Speisekarte des Zimmerservice und kündigte an, in Kürze Unmengen von Essen bestellen zu wollen. Als er sich bei den dreien erkundigte, was sie gern hätten, unterbrachen sie ihre Aktivitäten gerade lange genug, um ihn aufzufordern, sich zu verpissen. Gelassen erklärte er, in diesem Fall wohl für sie mit aussuchen zu müssen, und fuhr fort, durch die Menüs zu stolpern. Dabei gab er vor, die Namen der Gerichte nicht richtig lesen zu können, so daß jedes einzelne einen sexuellen Beiklang erhielt. Als sie das hörten, brachen die anderen ihr Spielchen ab und streckten sich lachend auf dem Bett aus. Der Mann, der die Bestellung entgegenzunehmen versuchte, schien ungerührt, als fände er sich nicht zum ersten Mal mit derartigem Benehmen konfrontiert.
Die Luft wurde plötzlich heiß, dick und feucht, der Mond war nicht mehr weit entfernt. Er konnte spüren, wie seine Hitze ihn versengte, und erkannte mit überwältigender Klarheit, daß der Mond zwar selbst kein Licht erzeugte, es lediglich reflektierte, sein gigantischer bleicher Augapfel das reflektierte Licht aber derart verstärkte, daß es einen tatsächlich verbrennen konnte. Sein Geist war eine unendliche gleißend helle Ebene, deren Anblick ihn beinahe erblinden ließ. Vorsichtig schlug er ein Auge auf. Obwohl das Licht, das er nun sah, lange nicht an das Leuchten aus seinem Traum herankam, zuckte er erschrocken zusammen. Sein Kopf schmerzte vor Anstrengung, den Traum festzuhalten. Schließlich rappelte er sich hoch und tastete sich mühsam zur Toilette vor. Die Reiche lag immer noch ausgestreckt auf dem Bett, als er wieder herauskam, neben sich Diane II. Er war ziemlich sicher, Diane II nicht gevögelt zu haben. Dieses Gefühl, daß es ihm Unglück bringen würde, ausgesprochen übel wäre für sein Karma, hatte sich trotz der Unmengen von Alkohol und Kokain gehalten. Er wühlte seine Shorts hervor und machte sich auf die Suche nach etwas Hochprozentigem, um seinen Kater zu vertreiben. Lek saß nackt auf einem Hocker an der Wohnzimmerbar, den Oberkörper über eine Kristallglaskaraffe mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gebeugt. Auf einem Silberplättchen an der silbernen Kette um ihren Hals stand Wodka. Es gab noch zwei weitere Karaffen. Die mit der Aufschrift Whiskey war bis auf ein paar Tropfen leer. In der anderen, Scotch, befanden sich noch wenige Fingerbreit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Obwohl kein Mangel an Gläsern bestand, nuckelte Lek den Wodka direkt aus der Karaffe, also verfuhr Junior ebenso mit dem Scotch. Nachdem er sich einen ordentlichen Schluck genehmigt hatte, setzte er sich auf den Barhocker neben Lek. Als er vorsichtig zu ihm hinüberschielte, schaute Lek ihn an und stieß eine Art Grunzen aus. Eine Zeit lang saßen sie schweigend da. Lek bearbeitete den Wodka, Junior leerte den Scotch. Vor dem geistigen Auge in Juniors schmerzendem Kopf erschien ein Bild: ein Schild an einer Silberkette über dem Schritt einer Frau, auf dem Muschi stand. Vielleicht auch Möse. Oder Haariger Leckerbissen. Er spielte kurz mit dem Gedanken, Lek davon zu erzählen, schreckte angesichts dessen offenkundiger Griesgrämigkeit jedoch davor zurück.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte Lek plötzlich. Junior grübelte eine Weile darüber nach. »Wir haben noch nicht ganz Weihnachten, oder? Ich glaube, heute ist Heiligabend.« »Stimmt«, meinte Lek. Dann brach er unvermittelt in Tränen aus. »Scheiß drauf! Trotzdem fröhliche Scheißweihnachten. Ich kann auch an Scheißheiligabend fröhliche Scheißweihnachten sagen, wenn mir verdammt noch mal danach ist.« Damit torkelte er aus dem Zimmer. Eine Minute später fing das Poltern und Brüllen im Schlafzimmer der Reichen an. Erst hörte man Lek, dann sie, dann beide. Diane II kam durch den Flur gestürzt, streifte im Laufen hastig ein T-Shirt und einen Slip über. Ihr echtes Gesicht lugte unter dem schmelzenden Make-up hervor. Wie sie am Ende des Prozesses aussehen würde, war unmöglich vorauszusehen. Als sie Junior erblickte, bremste sie ihr Tempo. »Meine Güte!« Sie rollte viel sagend die Augen. Ganz offensichtlich war sie froh, auf jemanden zu stoßen, der seine Sinne noch halbwegs beisammen hatte. Junior reichte ihr den Wodka. Sie starrte ihn einen Moment lang an und kippte schließlich einen großen Schluck hinunter. Dabei legte sie den Kopf so weit in den Nacken, daß Junior einen Hauch von Interesse zu empfinden begann. Das Getöse im Zimmer der Reichen ebbte ab und ein komplett angekleideter Lek trat heraus. Nur seine Stiefel hielt er noch in einer Hand, die andere umklammerte seine Tasche. Ohne einen weiteren Blick an Junior und Diane II zu verschwenden, riß er die Tür des Privatlifts auf und verschwand. »Meine Güte«, wiederholte Diane II in gekränktem Ton. Die Reiche ließ sich nicht blicken. Junior hielt es für besser, nachzusehen, ob Lek sie womöglich erwürgt hatte. Als er ins Zimmer schaute, saß sie rauchend auf der Bettkante. Sie wirkte verkatert und sah zum ersten Mal so alt aus, wie sie war. »Lek ist weg«, sagte Junior. Wütend zog sie an ihrer Kippe und stieß den Rauch durch die Nase wieder aus. »Ich sollte besser auch verschwinden«, fuhr Junior fort. Sie starrte zu ihm empor. In ihren Augen brodelte etwas, das sehr an wachsenden Zorn erinnerte.
»Vielleicht kann ich ihm helfen, sich abzukühlen«, faselte er weiter. Sie schnippte ihm die Zigarette entgegen. Er fing sie in der Luft auf und drückte sie im Aschenbecher aus. »Bis dann.« Er drehte sich um und ging. Der Portier hatte gesehen, in welche Richtung Lek verschwunden war. Junior bezweifelte sehr, ihn zu finden, doch es stellte sich als überraschend einfach heraus. Er brauchte lediglich einen Blick in das Fenster der ersten Bar zu werfen, an der er vorbeikam. Lek saß am Tresen, einen Drink in der Hand. Um halb drei Uhr mittags war der Laden bis auf ihn menschenleer. Junior ging hinein, stellte seine Tasche neben Leks Tasche und setzte sich auf den Hocker neben seinem Hocker. Er bestellte ein Bier. Nachdem der Barkeeper das Glas vor ihm abgestellt hatte, schaute er Lek an. »Fröhliche Scheißweihnachten.« Lek blieb einen Moment lang stumm, seufzte dann, wischte sich über die nassen Augen und meinte: »Fröhliche Scheißweihnachten.« Die Basketballturniere der Highschools begannen Mitte Februar und sollten gegen Ende der ersten Märzwoche abgeschlossen sein, sofern kein Schneesturm dazwischenkam. Eines Abends nach einem Spiel in der A-Klasse, das im überdachten Auditorium des Bürgerzentrums stattgefunden hatte, packte Kissy draußen vor den Umkleideräumen ihre Ausrüstung ein. Sie hatte noch einige Abschlußfotos gemacht: von der Verlierermannschaft, die sich unter Tränen umarmte, von den Gewinnern, die ihrem Coach Cidre über den Kopf gossen. Zusätzlich zu ihrer eigenen Kameratasche hatte sie ein großes Objektiv der Zeitung dabei. Es war ziemlich sperrig und klatschte gegen ihren Oberschenkel. Über die Nebentreppe hinter dem Presseausgang gelangte sie zu einer Seitentür, die in das Haupttreppenhaus führte. Als sie sich dem allgemeinen Besucherstrom anschloß, merkte sie, wie schlüpfrig die Stufen durch den geschmolzenen Schnee geworden waren. Sie beglückwünschte sich gerade, ihre mit Schaffell gefütterten Stiefel angezogen zu haben, deren Profilsohle ihr einen zumindest halbwegs sicheren Tritt verschafften, da rutschten ihre Füße auch schon unter ihr weg. Normalerweise hätte sie reflexartig die Arme ausgestreckt, aber die umklammerten ihre Kameratasche
und das teure Zeitungsobjektiv. Instinktiv versuchte sie sich auf der Suche nach Halt zum Geländer zu drehen. Ihr Bauch zog sich zusammen und die Umgebung verschwamm vor ihren Augen, als das grelle Licht der Deckenlampen sie blendete. Dann waren plötzlich Arme um ihren Körper. Jemand fing sie in letzter Sekunde auf. Sie prallte so heftig gegen ihren Retter, daß ihr die Strickmütze über die Augen rutschte, aber sie brauchte auch nichts zu sehen, um zu wissen, daß es sich um einen Mann handelte. Deutlich spürte sie seinen muskulösen Unterarm unter ihren Brüsten, als er sie auf die Beine stellte. Mühsam schob sie die Mütze zurück. Sie starrte in das geschockte Gesicht von Mike Burke. Er war in Uniform, also als Ordnungshüter eingesetzt. Die meisten Polizisten liebten Turniereinsätze; sie konnten sich die Spiele ansehen und gleichzeitig Überstunden machen. Unangenehm wurde es nur dann, wenn man draußen aufgrund schlechten Wetters den Verkehr regeln mußte. »Alles in Ordnung?« In seiner Stimme lag mehr Besorgnis als ihr lieb war. Er schien zu fürchten, sie könne gleich wieder hinfallen, denn er ließ sie nur widerstrebend los. Sie räusperte sich. »Ja. Vielen Dank.« »Sie sind schwanger!«, platzte er heraus und wurde im selben Moment rot, weil er merkte, wie dämlich die Bemerkung war. Ihr war dieser Umstand zweifellos bekannt. Verlegen suchte er nach Worten. »Wann haben Sie geheiratet?« »Gar nicht.« Das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch. Fast bedauerte sie ihn. Aber nur fast, denn noch mehr verabscheute sie das gönnerhafte Mitleid, das sich sofort in seine Überraschung schlich. Es war schlimmer für sie als mit einem A auf der Brust herumlaufen zu müssen. »Ich muß die Filme zurückbringen.« Er war immer noch die Besorgtheit in Person. »Ich könnte veranlassen, daß jemand Sie fährt.« »Nein danke. Ich hab’s bis hierher geschafft, ich komme auch wieder auf die andere Straßenseite zurück.« Während er ihr nachschaute dachte Mike Burke unwillkürlich an Lachse, die sich zum Laichen stromaufwärts kämpften. Sie wäre beinah hingefallen, aber er war derjenige, den es umgehauen hatte.
Im selben Moment, als er sie festgehalten hatte und ihm der gerundete Bauch aufgefallen war, der sich wie ein kleiner Basketball gegen seinen Unterarm preßte, war er aus dem Gleichgewicht geraten. Wann immer er sie gesehen hatte, ob im Gerichtssaal oder wo sonst sie sich über den Weg gelaufen waren, er hatte nicht das Geringste bemerkt. Ihr Gesicht war etwas voller geworden, das schon, aber sie hatte es erfolgreich geschafft, den schwellenden Bauch den ganzen Winter über unter ausgebeulten Sweatshirts zu verbergen. Jetzt war er überaus froh, daß sie sein warmes Lächeln kein einziges Mal erwidert hatte. Was er am wenigstens brauchte, war eine Frau, die ihr uneheliches Kind unter Dach und Fach bringen wollte. Er begann unweigerlich zu spekulieren, wer der Vater sein könnte, und erinnerte sich, daß er Clootie direkt vor seiner Abreise in der Nähe ihrer Wohnung aufgelesen hatte. Pearce würde es lustig finden, daß Clootie in jener Nacht möglicherweise seine Visitenkarte dort hinterlassen hatte. Burke hätte eher damit gerechnet, daß Kissy sich ohne zu zögern einer ungewollten Schwangerschaft entledigen würde, doch dieses Jetzt-erst-recht-Verhalten entsprach genau dem, was sie schon früher an den Tag gelegt hatte. Gerade wenn man dachte, man sei endlich schlau aus ihr geworden, machte sie einem einen Strich durch die Rechnung. Auf ihrem Bildschirm klebte ein Zettel mit der Aufforderung, im Büro des Chefs zu erscheinen. Earl Fish lief nervös auf und ab, als sie eintrat. Er rückte ihr einen Stuhl zurecht und tätschelte abwesend ihre Schulter, was ihr bestätigte, daß es nun zu der längst erwarteten Konfrontation kommen würde. »Wir sind lange genug um den heißen Brei herumgeschlichen. Sie bekommen ein Kind.« Er klang müde. Kissy zuckte mit den Schultern. »Die Zeitung ist keinerlei Verpflichtungen für den Fall einer Mutterschaft eingegangen. Deshalb dachte ich, es spiele keine Rolle, ob ich schwanger bin oder nicht.« »Wir bieten unseren weiblichen Angestellten, die das Probejahr hinter sich haben, an, unbezahlten Urlaub zu nehmen – was auf Sie nicht zutrifft«, parierte Earl. »Ihnen bleiben lediglich ein paar Tage angehäufter Krankenurlaub, um das Baby zur Welt zu bringen, dann müssen Sie wieder arbeiten, oder Sie werden gefeuert. Auch wenn es für Sie keine Rolle spielt: mit Gleichgültigkeit hat das nichts zu tun.«
»Stimmt«, pflichtete sie ihm bei. »Ich würde es eher Feindseligkeit nennen.« Sie bedauerte die Bemerkung im selben Moment, als sie ihr entschlüpfte. Auf diese Weise erreichte sie nichts. Sie brauchte den Job. Wenn es sein mußte, würde sie sogar darum betteln. »Ist auch egal. Ich beklage mich ja gar nicht, ich akzeptiere die Situation, wie sie ist. Ich kann das allein regeln.« Er warf sich in seinen Stuhl, der hörbar protestierte. »Soweit ich weiß, sind Sie neulich Abend im Auditorium gestürzt.« Sie fragte sich, wer wohl geschwatzt hatte. Nicht, daß es von Bedeutung war. Wenn nicht das, würde es etwas anderes sein. »Ich habe mir nichts gebrochen.« »Dem Himmel sei Dank!« »Schwangere stürzen ständig. Ich habe schon von Frauen gehört, die absichtlich die Treppe herunterfallen, um eine Fehlgeburt auszulösen, leider ohne Erfolg.« »Was Sie nicht sagen!« Er schnitt ein Gesicht. »Tatsache ist, daß Sie zunehmend unbeholfener werden. Sie haben schwere, teure Geräte dabei. Von einer möglichen Beschädigung der Ausrüstung einmal ganz abgesehen, könnten Sie sich selbst verletzen. Sie nehmen dieses Risiko für sich und Ihren… Fötus vielleicht in Kauf – aber ich kann nicht zulassen, daß Sie Risiken eingehen, die mir womöglich eine Klage von Seiten der Gewerkschaft einbringen.« »Ich habe nicht vor, die Zeitung zu verklagen«, erwiderte Kissy. »Ich brauche diesen Job, Mr. Fish.« Seine Lippen kräuselten sich. »Sie brauchen einen Job. Sie könnten zum Beispiel am Schreibtisch arbeiten.« »Ich könnte auch Vollzeit im Labor sein.« Er schüttelte den Kopf. »Die Anwälte halten es für zu riskant, den Chemikalien ausgesetzt zu sein.« »In meiner eigenen Dunkelkammer bin ich genau den gleichen Chemikalien ausgesetzt.« »Aber das ist Ihre Entscheidung, nicht etwas, das laut Vertrag zu Ihrer Arbeit gehört. Ich weiß, Sie möchten auf gar keinen Fall im Vertrieb arbeiten…« Im Vertrieb! Die Zeitung versorgte einen mit einem Schreibtisch und einem Telefon, und dann durfte man sich wie der Teufel auf Provisionsbasis abrackern. Soweit sie informiert war, rangierte der durchschnittliche Provisionsverdienst in etwa auf gleicher Höhe mit
dem Mindestlohn. Was bedeutete, ein paar Wochen ernährte man sich von Tiefkühl-Hamburgern mit, ein paar Wochen von TiefkühlHamburgern ohne Belag. Sie blinzelte die unversehens aufsteigenden Tränen weg. »Lieber fahre ich Pizza aus.« »Nur sind wir leider nicht im Pizzageschäft. Ich versuche bloß, einen Weg zu finden, wie ich Sie weiterbeschäftigen kann. Kommen Sie mir ein bißchen entgegen, ja?« »Ich weiß das wirklich zu schätzen, Mr. Fish.« Wie sie so mit ihrem Bauch auf dem Schoß dasaß, fühlte sie sich erheblich schwangerer als im Stehen. »Aber ich begreife nicht, weshalb ich nicht einfach weiter fotografieren kann. Es ist überhaupt kein Problem für mich, meine eigene Ausrüstung zu tragen. Ich bin bloß schwanger, Mr. Fish, nicht behindert. Ich bin kräftig. Ich gehe immer noch schwimmen. Ich kann das Gleiche tun wie ein Mann.« Angesichts seiner unentschlossenen Miene kam ihr der Gedanke, vielleicht doch ein Druckmittel gefunden zu haben. Wenn er befürchtete, sich eine Gewerkschaftsklage einzuhandeln, falls sie sich verletzen oder eine Schwangerschaftskomplikation auftreten sollte, mußte er genauso in Betracht ziehen, daß männliche Kollegen nicht schwanger werden konnten. Sie gehen zu lassen oder zum Innendienst zu verdonnern könnte ihm als Geschlechterdiskriminierung ausgelegt werden. Er seufzte. »Das Beste, was ich tun kann, ist, Sie bis zum Ende des siebten Monats als freie Fotografin weitermachen zu lassen. Sie halten sich von sämtlichen Unfallschauplätzen fern! Sie übernehmen die Rotarier-Lunchs und die Wohltätigkeitsveranstaltungen – alles hübsch drinnen, ruhig und gesetzt. Das Labor ist ab sofort für Sie gestorben. Falls Sie nach dem siebten Monat immer noch bis zum Ende der Schwangerschaft durcharbeiten wollen, müssen Sie in den Innendienst wechseln und tun, was immer ich für Sie auftreiben kann. Und das gegen entsprechende Bezahlung.« Er wußte, sie hatte keine Wahl. Nach kurzem Schweigen brachte er ein Lächeln zustande. »Was haben Sie jetzt vor, Kissy?« Er wollte nicht wissen, ob sie sein Angebot akzeptierte. Sanft und voll ehrlicher Sorge, die seine kantigen Gesichtszüge weicher erscheinen ließ, stellte er ihr die wesentliche Frage überhaupt. Direkter konnte er die Tatsache nicht ansprechen,
daß sie unverheiratet war und diesen Status offensichtlich nicht zu ändern gedachte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie ruhig. »Um Himmels willen!« Seine Stimme bebte vor Entrüstung. »Finden Sie nicht, Sie sollten sich langsam Gedanken darüber machen?« »Mir bleiben noch dreieinhalb Monate.« Vielleicht. Vielleicht auch nur drei oder zweieinhalb. Doch das konnte Earl Fish unmöglich wissen. Die Anspannung fiel von ihm ab. Resigniert schüttelte er den Kopf. »Es ist Ihr Leben. Ich habe zweifellos kein Recht, mich einzumischen. Aber wenn Sie darüber sprechen möchten, höre ich gerne zu. Falls Sie das Gefühl haben, es könnte helfen.« Von dem Stuhl hochzukommen war viel umständlicher als ihr lieb war. »Danke. Mir geht’s ausgezeichnet.« »Wirklich?« Sie nickte und verließ sein Büro, doch der tiefe Seufzer in ihrem Rücken verriet, daß er ihr nicht glaubte. Earl mußte seine Arbeit tun, die Interessen des Unternehmens wahren, aber er meinte es gut. Sie konnte ihm die verknöcherte Politik der Zeitung, was Schwangerschaft betraf, nicht persönlich ankreiden. Der Vorstand hatte sämtliche Vorstöße der Gewerkschaft erfolgreich niedergekämpft, die in solch revolutionäre Neuerungen wie bezahlten Mutterschaftsurlaub oder Versicherungsschutz im Falle einer Schwangerschaft hätten ausufern können. Es gab in der Tat nur sehr wenige Arbeitgeber, die Derartiges anboten, und niemand bot überhaupt etwas an, wenn man bereits bei der Einstellung schwanger war. Ihre Periode hatte auf sich warten lassen. Die Brüste waren druckempfindlich geworden, sie hatte sich wie aufgebläht gefühlt, ab und zu einen leichten Krampf gehabt. Dann war ihr jeden Morgen schlecht geworden. Weder Lebensmittelvergiftungen noch ein Darmvirus verursachten geschwollene Brüste oder ein Ausbleiben der Periode. Sie hatte einen Test gekauft und das Ergebnisfeld war blau geworden. Nur ein provisorischer Schwangerschaftstest aus der Drogerie, hatte sie sich eingeredet. Kein Grund zur Panik. Die Beschwerden machten ohnehin jegliches Nachdenken unmöglich. Die Übelkeit beschränkte sich nicht auf den Vormittag; sie dauerte den ganzen Tag. Völlig ohne Appetit, verlor sie einiges an Gewicht und fühlte sich wie unter Diät – seltsam losgelöst. Sie hatte
absolut kein Interesse mehr an Sex und blickte mit einem ihr unbegreiflichen Widerwillen auf ihr früheres Benehmen zurück. Sie war einsam, hätte sich gern in den Arm nehmen und knuddeln lassen, doch allein der Gedanke an Geschlechtsverkehr stieß sie ab. Nach und nach begann ihr Körper sich zu verändern. Die Berührungsempfindlichkeit ihrer Brüste ließ nach, verschwand aber nicht ganz. Nachdem die Übelkeit abgeklungen war, holte sie den Gewichtsverlust rasch wieder auf und legte in Windeseile um einiges zu. Ihre Taille wurde breiter, ihr Bauch rundete sich leicht. Ihr Gesicht war morgens aufgequollen, besonders um die Augen herum, und sie mußte ständig aufs Klo. Sie hatte früh damit angefangen, ihren Körper zu fotografieren, wozu sie den Selbstauslöser benutzte. Wenn sie die Schwangerschaft tatsächlich abbrach, hatte sie auf diese Weise zumindest eine Dokumentation ihrer körperlichen Entwicklung bis zum betreffenden Zeitpunkt. So waren die Wochen verstrichen, und schließlich befand sie sich im zweiten Schwangerschaftsdrittel, in dem ein Abbruch ein zunehmend riskantes und kompliziertes Unterfangen darstellte. An irgendeinem nebelhaften Punkt hatte sie schließlich ganz aufgehört, an Abtreibung zu denken. Der Wandlungsprozeß, den ihre Fotografien durchlebten, faszinierte sie sehr. Es war, als entwickle sich ihr Körper auf die gleiche Weise wie ein Negativ. Sie wollte den Vorgang nicht unterbrechen. Geregelt war nichts. Sie hatte weder eine Ahnung, ob sie das Baby behalten würde, noch wie sie es durchbringen sollte. Wer würde sich um das Kind kümmern, während sie zur Arbeit ging? Sie wußte nicht einmal genau, wer der Vater war. Bis zum ersten Arztbesuch hatte sie Jimmy Houston dafür gehalten. Nach der Untersuchung teilte ihr der Gynäkologe jedoch mit, die Empfängnis habe eher im August als im September stattgefunden. Eine Blutung im ersten Monat sei nichts Ungewöhnliches und würde häufig mit der Periode verwechselt. Die Periode, die sie während der Gerichtsverhandlung bekommen hatte, war mit einer Woche Verspätung eingetroffen und schon von daher verdächtig gewesen. Folglich kam auch Junior in Frage. Die Vorstellung war deprimierend und ohne Bluttest unmöglich zu entkräften. Sie sperrte den Gedanken in denselben symbolischen Schrank, in dem sich bereits die Frage befand, wie sie sich und das Kind durchbringen sollte. Wie ihr Bauch wölbte sich auch der Schrank unter
seiner Last allmählich nach außen, drohte er aufzubrechen und seinen Inhalt in ihren Kopf zu ergießen. Drei Monate blieben ihr allerdings noch. Oder zweieinhalb. Oder zwei. Sie mußte selbst über ihre Unentschlossenheit lachen, sie konnte nicht anders. \ 16 [ Ruth atmete wieder aus eigener Kraft, doch noch bevor das der Fall gewesen war, hatte man sie in die Obhut ihrer Großmutter zurücküberführt, begleitet von der richterlichen Anordnung, im Notfall dürfe erneut zu technischen Mitteln gegriffen werden. Während der unzähligen Stunden, die sie bei Ruth verbrachte, hatte Kissy längst nicht immer das Auge am Sucher. Wie Mrs. Cronin las sie Ruth vor – meistens aus der Zeitung, als wäre das Zitieren kurzlebiger Zeiterscheinungen ein Ersatz dafür, sie selbst zu erleben. Mrs. Cronin hatte ihr einmal erzählt, Ruth interessiere sich nicht für Sport, aber Kissy ließ auch den Sportteil nicht aus. Manchmal stieß sie dabei auf einen Bericht über Juniors Vorankommen, und diese Neuigkeiten mit Ruth zu teilen erlaubte ihr, eine gewisse Wehmut bei dem Gedanken an ihn zu empfinden. Wie Ruths Mutter half Kissy bei der Pflege des leblosen Körpers, bürstete das Haar, schnitt die Fingernägel, rieb Lotion in die schlaffe Haut. Sie brachte einen Kassettenrecorder und eine Kassette mit der leichten Musik von Vivaldi mit; manchmal ließ sie auch Reggae laufen, warme, leichte Klänge voller Lebensfreude. Sie erzählte Ruth die Anekdoten, die sie im Lauf des Tages hörte – in der News, in den Coffeeshops, im Gerichtssaal und bei den Treffen des Spießertums, denen sie neuerdings beiwohnen durfte. Zuerst fand sie es seltsam, doch dann kam sie zu dem Schluß, daß sie genau das Gleiche getan hätte, würde sich Mary Frances an Ruths Stelle befinden. Eines Abends – sie hatte gerade Ruth und ihre Großmutter im Sucher, um den Kontrast zwischen der lebhaften Miene der älteren Frau und dem schlaffen, emotionslosen Gesicht ihrer Enkelin festzuhalten – spürte Kissy die erste richtige Kontraktion. Ihr Bauch schnürte sich so heftig zusammen, daß sie beinah die Kamera fallen ließ. »Geht es Ihnen nicht gut?« Mrs. Cronin war sofort an ihrer Seite. »Setzen Sie sich.«
Sich unwillkürlich dem autoritären Tonfall der Älteren beugend, ließ Kissy sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Die Kontraktion hielt an, bis sie fast keine Luft mehr bekam, dann entspannte sich ihr Bauch wieder. Mrs. Cronin nahm ihr die Kamera aus der Hand und Kissy legte behutsam die gespreizten Finger auf ihren gewölbten Leib. Eine wellenartige Bewegung unter ihren Fingerspitzen verriet, daß das Baby sich drehte, offenbar als Reaktion auf die Berührung. Es war schon seit Wochen aktiv. Kissy betrachtete es inzwischen als eine Art Parasit, der ihren Körper für seine Zwecke benutzte. Sie kam sich vor wie ein Luftballon, in dessen Innern sich ein fremdartiges Wesen festgesetzt hatte, nur daß sie wie kein zweiter Ballon gegen die Schwerkraft ankämpfen mußte. Nur beim Schwimmen ebbte das Gefühl, ein unförmiger Fleischkloß zu sein, ein wenig ab – und nur dann empfand sie noch ein kleines bißchen Sinnlichkeit. »Da geschieht etwas«, bemerkte Mrs. Cronin besorgt. »Es ist nur eine Kontraktion. Alles in Ordnung.« Die Ältere atmete hörbar ungeduldig ein und verschränkte die Arme unter dem formlosen Busen. »Nichts ist in Ordnung.« Wütend funkelte sie Kissy an, anscheinend kurz davor, mit dem Fuß aufzustampfen. »Wissen Sie eigentlich, daß Sie Ihre Schwangerschaft mir gegenüber mit keinem Wort erwähnt haben? Sie werden einfach nur immer dicker und schweigsamer. Ich habe mich sogar schon gefragt, ob Sie zu den Mädchen gehören, die sich einreden, überhaupt nicht schwanger zu sein, und das Baby dann in die Mülltonne werfen. Eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen – so schwach sind Sie nicht! Ich vermute, Sie wollen lediglich alle anderen ausschließen. Warum tun Sie das, Kissy? Hat man Ihnen in der Vergangenheit derart übel mitgespielt? Oder ist es eine Art Rachekoller, weil der Vater des Kindes Sie sitzen gelassen hat?« »Niemand hat mich sitzen gelassen.« Kissy hievte sich aus dem Stuhl. »Ich habe mich bloß noch nicht entschieden, das ist alles.« »Natürlich haben Sie sich entschieden. Sie haben der Schwangerschaft kein Ende gemacht.« Kissy griff nach ihrer Kamera. »Stimmt. Diese Entscheidung habe ich getroffen. Ich weiß wirklich nicht, was ihr alle von mir wollt! Eine offizielle Bekanntmachung hielt ich für unnötig. Es ist nur ein Baby, Sylvia. Täglich kommen Millionen davon zur Welt. Das wird
auch bei meinem so sein, und ob ich es nun behalten oder abgeben werde, das Leben aller anderen geht weiter – egal was ich tue.« »Nun lassen Sie endlich dieses blöde Ding los!« Mrs. Cronin nahm die Kamera erneut aus Kissys Händen. »Das ist ja schon eine richtige Sucht!« Widerstrebend gab Kissy nach. Die Ältere zog sie neben Ruths Bett. Gemeinsam schauten sie auf den leblosen Körper hinab. »Ich erinnere mich gut an die Zeit, als meine Tochter mit Ruth schwanger war. Ich erinnere mich gut an Ruth als kleines Kind.« Mrs. Cronin drückte die schlaffe Hand ihrer Enkelin und preßte sie an ihre Lippen. Dann legte sie sie auf Kissys Bauch. »Und jetzt hören Sie mir einmal gut zu, Sie halsstarriges, widerspenstiges junges Ding. Da stehen Sie hier fest auf Ihren beiden Füßen vor mir und tragen ein neues Leben in Ihrem Körper. Ich bin eine alte Frau, die von ihrem Leben mehr hinter sich hat als ihr noch bevorsteht, und ich sage Ihnen, Sie sollten jede einzelne Sekunde dieser Zeit ganz bewußt wahrnehmen und genießen. Aber was sehe ich? Ihr Gesicht klebt ununterbrochen hinter der Kamera und bis auf einen kleinen rechteckigen Ausblick auf die Welt laufen sie mit Scheuklappen herum. Am liebsten würde ich Ihnen einen Tritt in Ihr störrisches Hinterteil versetzen!« Kissy lachte laut auf. Mrs. Cronin lächelte. »Sie erwarten ein Baby, Herzchen. Sie erschaffen ein neues menschliches Wesen. Schon möglich, daß Millionen Frauen das tun, aber Sie tun es gewiß nicht millionenmal! Bitte versuchen Sie doch, dieser Erfahrung mehr Bedeutung beizumessen, als wäre es bloß eine lästige Warze unter Ihrem Fuß.« Ihr Schimpfen machte Kissy seltsam froh. Es lag nicht nur an Sylvia Cronins momentanem Aussehen – wie ein aufgebrachter kleiner Vogel, der auf einem Ast auf und nieder hüpfte und wütend auf sie herunterkrächzte – oder an der Tatsache, daß sie Ruths Großmutter offensichtlich am Herzen lag. Die alte Dame hatte ihr mit einer Leidenschaft die Leviten gelesen, die von einer nach wie vor ungetrübten Vitalität zeugte. Mrs. Cronins Worte waren wie ein unverblümter Schnappschuß von Kissy, aufgenommen aus einem bisher unbekannten Blickwinkel, der sie zwang, ihre Situation neu zu überdenken.
Im Augenblick war sie der Ansicht, Babys nicht einmal besonders zu mögen – sabbernde, rotznasige, lecke kleine Affen, wie es schien. »Und was ist, wenn ich’s nicht kann?«, platzte sie heraus. Zu ihrer Verwunderung brach Sylvia Cronin in lautes Gelächter aus. »Darüber habe ich mir damals auch den Kopf zerbrochen«, räumte sie ein. »Aber das gibt sich. Haben Sie erst einmal drei Monate als Mama geschafft, sind Sie die größte Expertin der Welt. Sie dürfen nur nicht vergessen, sich genauso gut um sich selbst zu kümmern wie um das Baby, und daß Dreck sich abwaschen läßt, dann wird es problemlos klappen. Falls Sie es behalten werden, natürlich. Und das bringt uns auf eine viel wichtigere Frage. Wie wollen Sie die finanzielle Seite regeln, Kissy? Haben Sie überhaupt Geld?« Mrs. Cronins Direktheit traf Kissy vollkommen unvorbereitet. Ihre hilflose Miene sprach Bände. Die alte Dame seufzte. »Das dachte ich mir. Ich sehe schon, wir müssen miteinander reden.« Kissy hatte eigentlich angenommen, dies sei soeben geschehen. Aber sie wußte, was Mrs. Cronin meinte. Die Frau war Lehrerin gewesen. Sie würde wissen wollen, wer der Vater sei, weshalb er sie nicht unterstütze, ob sie ihre Mutter über die Situation informiert habe. Und anders als Earl Fish würde Mrs. Cronin Antworten erhalten. Nicht weil sie dreißig Jahre unterrichtet hatte, oder weil sie eine alte Frau war, sondern weil es für Kissy allmählich höchste Zeit wurde, sich mit dem Problem zu beschäftigen. Auf der Kinoleinwand versuchte eine nervöse Blondine im Teenageralter, die gerade die Sorte Haus betrat, um das jeder empfindsame Mensch mit Horrorfilmerfahrung einen riesengroßen Bogen machen würde, sich Mut zuzusprechen, indem sie laut sagte: »Ruhig bleiben, Kristen!« Das Publikum, inklusive Junior, Lek und dem Großteil der Dinosaurs, sprach den Satz mit ihr, im selben angespannten Ton. Das Programm des Dry River Cineplex wechselte nicht allzu oft. Ein Film wie Nightmare on Elm Street, Teil 4 war für den Geschäftsführer ein Traum, denn er füllte ihm wochenlang das Haus, wenn die Kinogänger Abend für Abend unaufhaltsam wiederkehrten wie Freddy Krüger selbst. Der Film war zum Kultobjekt avanciert, zu
einer Art Ritual, an dem das Publikum teilnahm, indem es alle Dialoge und den gesamten Handlungsablauf verinnerlicht hatte, so daß jede Einzelheit mit Spannung erwartet und minutiös ausgekostet wurde. Neben Junior sog Lek durch einen Strohhalm Wodka aus dem Pappbecher, dessen ursprünglichen Inhalt – ein am Getränkestand gekauftes Seven-Up – er in der Herrentoilette ausgekippt und durch die klare Flüssigkeit aus der Flasche in seiner Jackentasche ersetzt hatte. Nach der Flucht aus dem Penthouse der Reichen am Heiligen Abend waren Lek und er durch Denvers Bars gezogen und zu irgendeiner Vorstadtfete eingeladen worden – zumindest glaubte Junior, daß es sich um eine Einladung gehandelt hatte – , wo sie in irgendeinem Wohnzimmer unter dem Weihnachtsbaum im Vollrausch die Besinnung verloren hatten. Aufgeweckt worden waren sie durch Eierflip-Fontänen, abgefeuert von einer Horde erboster Kinder mit Wasserpistolen, die nicht verzeihen konnten, daß Lek und Junior ihre Spielzeuge vor ihnen ausgepackt und getestet hatten. Es war ein endlos langer Trip per Anhalter zurück nach Dry River gewesen, auf dem sie obendrein ihre Sporttaschen verloren hatten. Endlich dort angekommen, mußte Junior sich erst einmal dem Chaos in seinem Motelzimmer stellen. Die Elfen des Weihnachtsmanns hatten in seiner Abwesenheit nicht das Geringste repariert. Jeder einzelne lästige Handgriff – das Ersetzen der Holzbretter im Fenster durch Glas, das Kitten der Wandlöcher, das anschließende Streichen – erinnerte ihn daran, wie dämlich sein Tobsuchtsanfall gewesen war. Während er Spachtel und Malerpinsel schwang, akzeptierte er allmählich, daß außer ihm niemand sonst die Schuld daran traf. Falls Lek etwas von der Reichen gehört hatte, so erwähnte er es Junior gegenüber mit keinem Wort. Er konzentrierte sich voll und ganz auf die Sauferei. Junior, der mittlerweile wieder ernsthaft trainierte, trank seit Weihnachten nicht mehr als die üblichen ein oder zwei Flaschen Bier. In den letzten drei Monaten hatten sie sich angewöhnt, einmal pro Woche ins Kino zu gehen, um sich Elm Street, Teil 4 anzusehen, entweder in Dry River oder wo der Film sonst gerade lief. Die Faszination, die der Film auf Junior ausübte, wurzelte zum Teil im Vornamen der Hauptdarstellerin – Kristen –, auch wenn sie Diane Greenan weitaus ähnlicher sah als Kissy.
Vom Ächzen, Stöhnen und Lachen des Publikums begleitet, pißte ein Hund namens Jason auf der Leinwand einen gigantischen Feuerstrahl. »Auch ich hatte einmal eine Pisse wie diese!«, rief Junior in den Saal. Das Lachen steigerte sich zu einem Crescendo, und er mußte sich ducken, um dem nicht überraschenden Popcornhagel auszuweichen. Diese spezielle Zeremonie war seit dem Tag, als er den Satz zum ersten Mal von sich gegeben hatte, fest im Zuschauerdrehbuch verankert. Der Flammenwerfer aus Hundepisse öffnete Freddys Grab auf dem Schrottplatz. Die verstreut herumliegenden Knochen und angefaulten Gewebefetzen rotteten sich zusammen, und wenig später hetzte Freddy einen todgeweihten Teenager durch die Reihen der Autowracks, die selbst zum Leben erwachten, bis der Junge schließlich von einem pulsierenden Schrottberg gestoppt wurde. »Ihr hättet mich verbrennen sollen!«, donnerte Freddy. »Ich bin nicht tot!« Wie alle anderen fiel Lek in sein Brüllen ein und lehnte sich anschließend grinsend zurück, ausgesprochen zufrieden mit seiner Art und Weise, den Text vorzutragen. Nicht nur Junior und er, die meisten von ihnen verbrachten Stunde um Stunde damit, den Film auseinander zu nehmen – im Bus, im Umkleideraum, beim Essen. Lek sprach davon, sich eine Schutzmaske anfertigen zu lassen, die wie Freddy aussah. Allein bei der Vorstellung jagten Junior eiskalte Schauer über den Rücken. Zum Glück trank Lek solche Mengen, daß er jeden Abend die Besinnung verlor. So konnte er unmöglich wissen, daß Junior, sein Zimmerkumpan während der Auswärtstrips, von Albträumen geplagt wurde. Von Freddy-Albträumen! Zu oft Herrscher deiner Träume gesehen, nahm Junior an, und tat es damit ab. Freddy hatte es auf Teenager abgesehen, vor allem auf Mädchen im Nachthemd. Junior kam weder in Frage was sein Alter, noch was sein Geschlecht betraf, außerdem lief er nicht im Nachthemd herum. Und wie jeder geistig gesunde Konsument eines Horrorfilms war er selbstverständlich der Meinung, sollte er jemals Freddy oder Jason gegenüberstehen, käme er als Einziger mit dem Leben davon. »Leuchte mal her!«, sagte er unisono mit Kristens Freund. »Da ist niemand gestorben.« Wie immer weckte der Satz in ihm den unwiderstehlichen Wunsch, aufzustehen und zu gehen. Aber er rührte sich
nicht vom Fleck. Er blieb sitzen und dachte, wenn er einer von diesen Teenies wäre, hätte er eher gestern als heute dem verfluchten Kaff Springwood den Rücken gekehrt. Egal wie viele Tricks es gab, die Freundin loszuwerden, man brauchte mehr als fünfzig davon, um dasselbe mit einem Monster fertig zu bringen. Straight out the back, Jack. Nach den Feiertagen spielten die Sores überraschend harmonisch zusammen und schafften es sogar in die Play-off-Runde, scheiterten dann aber im Finale. Während Junior und seine Deckung recht gute Arbeit leisteten, erwiesen sich Moosejaw und die Angreifer als unfähig, den schlimmen Verlust von Deker auszugleichen, der zehn Tage zuvor nach Denver abkommandiert worden war. Wenigstens war es nicht wieder eine Saison der Niederlagen geworden und er selbst hatte hervorragend gespielt. Zum Trost gestattete er sich weitaus mehr als ein oder zwei Biere. Am folgenden Tag packte er übel verkatert seine Sachen und stieg gemeinsam mit den anderen, die sich in ähnlicher Verfassung befanden, auf unsicheren Beinen in einen Bus nach Denver. Dort hatten sie Anschluß nach Osten. Als er in einem Coffeeshop am Busbahnhof von Chicago auf den nächsten Bus wartete, erhielt er die Nachricht, sich im Hauptbüro der Drovers zu melden. Die Drovers, deren Play-off-Runde bevorstand, hatten einen Torhüter ans Sterbebett seiner Mutter schicken müssen, den anderen plagte eine vergrößerte Milz, und ihre Wahl des Ersatzmanns aus der unteren Spielklasse war auf einen Burschen namens Junior Clootie gefallen. »Ich bin auf dem Weg nach Edmonton«, informierte er Dunny von einer Telefonzelle am Flughafen O’Hare aus, während er darauf wartete, einchecken zu können. »Man hat mich für die Play-off-Runde aufgestellt.« »Wir kommen!« Dunnys Stimme dröhnte in seinen Ohren. »Machen uns sofort auf die Socken!« Zwei Stunden später saß Junior in einem Flieger nach Alberta. Am Gepäck-Karussell empfing ihn Deker mit einem lautstarken »Hoot!« Er war Hand in Hand mit der Reichen, neben ihnen stand in Funktion der Hofdame Diane II. Junior grinste und gab der Reichen einen Kuß, den sie fröhlich erwiderte.
»Ist Deker nicht etwas jung für dich?«, flüsterte er ihr zu. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte anzüglich. »Darauf kannst du wetten. Wir haben nur auf dich gewartet. Jetzt ist die Party komplett.« Junior schaute verstohlen zu Deker hin, der ihn anstrahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Ich muß arbeiten, Mony. Meine Leute kommen her. Vielleicht wenn alles vorbei ist…« Die Reiche knabberte an seinem Ohrläppchen und gab ihm noch einen Kuß. »Wenn dir nach ein bißchen Ablenkung ist, brauchst du bloß anzurufen.« Junior vertiefte sich ganz in die Vorbereitungen auf die Play-offSpiele. Die Trainer registrierten seine Leistungen mit Erleichterung. Er fühlte sich selbst enorm erleichtert, daß er doch noch einiges zu bieten hatte. Wochenlang hatte er von seiner ausgezeichneten Kondition, seiner beträchtlichen physischen Kraft und dem guten Zusammenspiel seiner Muskeln gezehrt, alles Faktoren, die er seinem Elternhaus verdankte und auch der Tatsache, daß er Zeit seines Lebens geschuftet hatte wie ein Schlittenhund. Vielleicht war er momentan wirklich nicht mehr als ein Schlittenhund, der von Instinkten gesteuert in seinem Geschirr rebellierte. Das Gefühl, auf dem Prüfstand zu stehen, herauszufinden, inwieweit er sein Bewußtsein vollständig auf das eines Torhüters reduzieren konnte, versetzte ihn in eine Art selbstgeißlerischen Rauschzustand. Er konnte sich absolut nicht vorstellen, daß jemals der Tag kommen könnte, an dem er es nicht mehr aufregend finden, sich vielleicht sogar wünschen würde, lieber woanders zu sein. Und dann stand er tatsächlich auf dem Großen Eis, auf dem sagenumwobenen Großen Teich, um vor der größten Zuschauermenge seiner gesamten Laufbahn in der Play-off-Runde sein Debüt in der oberen Spielklasse zu geben. Beim ›Star-Spangeld Banner‹ kämpfte er mit den Tränen, bei ›Oh Canada‹ hätte er beinah gekotzt. Die Oilers witterten Frischfleisch und nahmen ihn rücksichtslos in die Mangel. Na und? brummte er immer wieder vor sich hin. Na und? Das da draußen war schließlich nur Wayne Gretzky. Es war fast eine Befreiung, als Gretzky der Große den Puck in einem Winkel um ihn herum bugsierte, und Junior sein erstes Tor einstrich. Er griff nach
den Pfosten, um sich zu zentrieren, und machte sich auf ein langes Spiel und eine kurze Serie gefaßt. Draußen erwarteten ihn seine Leute. Mark klopfte ihm in einer derben Demonstration seiner Zuneigung brutal auf den Rücken und schlug ihn übermütig ins Gesicht. Bernie umarmte ihn sogar, ein erstes sichtbares Zeichen ihrer positiven Gefühle ihm gegenüber seit Eds Tod und dem Bruch mit Kissy. Dunny schien kurz vor einem Tränenausbruch. Esther drückte ihn enthusiastisch an sich, küßte ihn auf beide Wangen und betupfte dann hastig ihre Augen mit einem Taschentuch. Junior lieh sich das Taschentuch aus, um über seine eigenen, plötzlich feuchten Augen zu wischen, und schließlich landete es für einen gewaltigen, inbrünstigen Schnäuzer bei Dunny. Junior verfrachtete sie eilig in seinen Mietwagen, um sie in ihr Hotel zu fahren. Er hatte den Führerschein zurück und fühlte sich wie damals mit sechzehn, als er ihm gerade erst ausgestellt worden war. Es war zwar kein Luxushotel, geschweige denn mit dem Penthouse der Reichen in Denver zu vergleichen, aber es war doch deutlich besser als das Devil’s Backbone. Junior hatte sich ebenfalls dort eingemietet, zum einen aus Bequemlichkeit, zum anderen, weil er die Feierei umgehen wollte. Er traute sich nicht; er konnte an nichts anderes denken, als jederzeit einsatzbereit zu sein. Mark zappelte und lärmte am laufenden Band; er war völlig aus dem Häuschen wegen des Spiels und des herannahenden Abends, für den er zusammen mit Deker einige Einladungen in die Stadt bekommen hatte. Obwohl seine Leute ihn zum Mitgehen drängten, lehnte Junior ab. Sie hatten eine lange Fahrt auf sich genommen, um ihn zu sehen – sie kamen nicht nur aus Peltry, sondern aus Kingston – , und Jahre darauf gewartet, diesen Höhepunkt mitzuerleben. Nur seine Eltern konnten die tiefe Befriedigung wirklich teilen, die er empfand, weil er sein Ziel, in der New Hockey League zu spielen, erreicht hatte – wenn auch nur für kurze Zeit. Kissy vielleicht noch. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er den Wunsch, sie anzurufen, ihre Stimme zu hören, herauszufinden, ob sie sich für ihn freuen konnte. Als sein Bruder aufbrach, spürte er deutlich Esthers und Dunnys Erleichterung beim Anblick seiner Kehrseite. Junior war ihr Verhalten sonnenklar; er selbst hatte Mark unerträglich anstrengend gefunden, seit er zwei Jahre alt geworden war. Wenn sein Bruder mit De-
ker die Stadt unsicher machte, landete er ja vielleicht in der Wohnung der Reichen und wurde von Diane II zu Tode gelutscht. Vielleicht verlief er sich auch und fand nicht mehr den Weg zurück. Oder er geriet an Teufelsanbeter und wurde im Zuge eines Rituals geopfert. Die vier mußten nicht lange beraten, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß sie lieber im Hotel bleiben und sich vom Zimmerservice das Essen ins Zimmer seiner Eltern bringen lassen wollten. Sie alle hatten das Bedürfnis, bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit seit langem unter sich zu sein. »Hast dich prima gemacht«, wiederholte Dunny, nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten. »Ich denke, beim nächsten Mal könntest du gewinnen.« »Stell mich Deker vor, Junior!«, bettelte Bernie. An dem Tag, an dem Deker sich einer Geschlechtsumwandlung unterzöge, versprach er seiner Schwester und sich selbst. Bernie warf sich auf das Doppelbett und schmollte ein Weilchen, griff dann nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Sie suchte so lange, bis sie auf eine Sportsendung stieß. In Erwartung möglicher Ausschnitte des Spiels verfolgten sie alle gespannt die Berichte. Nur Dunny warf heimliche Blicke auf Juniors Kopf. Junior wußte, daß er um den unvermeidlichen Haarschnitt nicht herumkommen würde, trotzdem genoß er Dunnys inneren Kampf, nicht augenblicklich zu dem Haarschneidebesteck in seinem Koffer zu stürzen. Er überlegte, ob er seinen Vater vielleicht dazu bringen könnte, ihm eine etwas ausgefallenere Frisur zu verpassen, wenn er es geschickt anstellte. In dem Moment wurde tatsächlich einen kurzer Ausschnitt des Spiels gezeigt, in dem Junior auftauchte. Kaum war er vorbei, schoß Dunny von seinem Sessel hoch und machte sich fieberhaft auf die Suche nach seinem Handwerkszeug. Esther und Junior grinsten sich an. Junior stand auf, um einen Stuhl mit gerader Rückenlehne an einer gut beleuchteten Stelle zu plazieren. Anschließend nahm er die Krawatte ab und knöpfte sein Hemd auf. »Ich hätte dich sowieso darum gebeten«, erklärte er. »Ihr Burschen seht alle aus«, meinte sein Vater, »als hättet ihr’s auf Jane Fonda abgesehen – in diesem Film… na, wie hieß er noch – Klute? So wie euch die Zotteln in den verschwitzten Nacken hängen,
ist’s ein Wunder, daß ihr keine Pickel und Eiterbeulen habt. Hat denn keiner von euch Zeit für einen anständigen Haarschnitt?« »Du warst ganz verrückt nach dem Film«, zog Junior ihn auf. »Bist ein bißchen scharf gewesen auf Fonda, stimmt’s?« »So ein Blödsinn!«, protestierte sein Vater. Junior hatte sich bis aufs Unterhemd ausgezogen und wartete geduldig. »Kurz, aber fransig, okay? So ein kleines bißchen stachlig vielleicht…« Esther richtete sich kerzengerade auf. »Junior, da ist noch etwas, worüber ich mit dir sprechen muß…« Bernie schaltete den Fernseher ab und warf die Fernbedienung achtlos zur Seite. Ihren zusammengepreßten Lippen und halb zugekniffenen Augen nach wußte sie, was nun kam. Dunnys Schere und Kamm blieben auf halbem Weg in der Luft stehen. »Das geht uns nichts an, Mutter.« Worum es auch gehen mochte, der Trotz im Gesicht seiner Mutter und der warnende Ton seines Vaters verrieten Junior, daß sie das Thema schon eine Weile diskutiert haben mußten – wahrscheinlich während der gesamten Fahrt nach Edmonton. »Vergangene Woche haben wir Kissy gesehen«, sagte seine Mutter. Dunny seufzte. Schere und Kamm nahmen ihren Tanz wieder auf. »Im Kino«, schaltete Bernie sich ein. Soweit nichts Weltbewegendes. »Sie ist schwanger«, ließ Esther endlich die Katze aus dem Sack. Das Wort hing in der Luft wie ein Ballon. Junior war im ersten Moment wie betäubt. Dunny klopfte ungehalten mit den Fingerknöcheln gegen seinen Hinterkopf. »Meine Güte, Esther, ich hab dir doch gesagt, du bringst ihn noch ganz durcheinander! Außerdem sollten wir das nicht vor Bernie besprechen…« »Bernie weiß, wo die Babys herkommen, Dunny«, versetzte Esther schroff. Bernie schenkte Junior ein wissendes Lächeln. Esthers Kinn tat einen vorwurfsvollen Ruck in Juniors Richtung. »Ich kann euch beide nicht zum Heiraten zwingen, aber falls das Baby wirklich von dir sein sollte, mußt du es zumindest als dein Kind anerkennen und für seinen Unterhalt sorgen. Du weißt, daß du
nur ein Wort zu sagen brauchst. Es mag dir vielleicht nicht gefallen, Junior, aber wenn dieses Kind mein Enkel ist, will ich seine Großmutter sein. Ich will es besuchen und im Arm halten können. Auf keinen Fall soll es in dem Bewußtsein aufwachsen, seinen Großeltern wäre piepegal, was mit ihm…« »Du weißt doch gar nicht, ob das Kind von Junior ist«, fiel Dunny ihr unwillig ins Wort. »Warte erst einmal ab, bis du es gesehen hast.« Die Zimmerbeleuchtung verschwamm vor Juniors Augen. Er klappte sie zu, massierte seinen Nasenrücken und atmete tief durch. Nachdem er nichts mehr von Kissy gehört hatte, war er davon ausgegangen, sie hätten noch einmal Glück gehabt. Das Klappern der Schere in der plötzlichen Stille rief bizarre Gedanken an Kastration in ihm wach. »Junior!«, sagte seine Mutter scharf. Erschrocken riß er die Augen auf. Esther saß kerzengerade da, die Hände gouvernantenhaft auf dem Schoß gefaltet. »Ich hatte keine Ahnung«, meinte er lahm. »Sie hat mir nichts davon erzählt.« »Jedenfalls ist sie so rund wie eine Tonne.« »Mir kam sie gar nicht so dick vor«, schaltete sich sein Vater ein. »Dunny Clootie, ich hab schon so manche schwangere Frau gesehen!«, rief Esther empört. »Sie ist hundertprozentig in den letzten drei Monaten.« Sie sprang hoch und baute sich vor Junior auf. »Kannst du mir versichern, daß du als Vater dieses Kindes unmöglich in Frage kommst?« »Er kommt bestimmt nicht in Frage«, sagte Dunny. »Ich versuche es dir schon die ganze Zeit klar zu machen. Er war seit September nicht mehr zu Hause und getrennt haben sich die beiden Monate vor seiner Abreise. Außerdem wußte er nichts davon, sonst hätte er es uns erzählt. Weshalb wohl, glaubst du, hat sie es ihm verschwiegen? Weil es nicht von ihm ist, natürlich.« »Möglich wäre es schon«, sagte Junior langsam. »Ich hab’s gewußt«, rief Esther triumphierend. »Für dich spielt es im Grunde überhaupt keine Rolle, ob es sein Kind ist, nicht wahr?«, stellte Dunny ernüchtert fest. »Keine allzu große«, gab Esther zu. »Glaub mir, Mom, ich find’s raus«, versprach Junior. Esther strahlte. »Fein!«
»Sie kauft schon Babyklamotten ein«, sagte Dunny. »Sieht deine Exfreundin mit dickem Bauch rumlaufen, und das Erste, was sie tut, ist, zu Sears rennen und die Kreditkarte strapazieren, als wäre sie der einzige Gast auf der Baby-Begrüßungsparty.« »Ich werde doch wohl ein paar Geschenke überreichen dürfen«, protestierte Esther milde und begann fröhlich zu lachen, als hätte sie Dunny bei einem Spiel übertrumpft, das nur sie beide kannten. Bernie glitt vom Bett. »Du bist so ein Blödmann, Junior, ich könnt’s verstehen, wenn Kissy dich gar nicht heiraten will!« Es war eine immense Erleichterung, daß der Zimmerservice genau in dem Augenblick an die Tür klopfte. Durch die Neuigkeiten stark abgelenkt, kämpfte Junior sich eher schlecht als recht durch die Tischkonversation. Seine Eltern hatten vermutlich Verständnis dafür. Bernie sprach kein Wort mit ihm, bedachte ihn nur gelegentlich mit einem beißend verachtungsvollen Blick, den sie wahrscheinlich stundenlang geübt hatte. Kissys Geheimniskrämerei war ihm absolut unbegreiflich. Worauf wartete sie? Auf ein besseres Angebot? Sie konnte doch nicht ernsthaft geglaubt haben, daß er es niemals erfahren hätte, daß er nie wieder nach Hause gefahren wäre, sie nie wieder ausfindig gemacht und gemerkt hätte, daß da plötzlich ein Baby war. Junior hatte Schwangeren bislang keine große Beachtung geschenkt. Er konnte sich Kissy zwar mit gerundetem Bauch und schwereren Brüsten vorstellen, aber was war mit dem Rest von ihr? Schwollen manchmal nicht auch die Fesseln an? Und wenn sie nun einen breiten Hintern bekommen hatte? Die Kissy in seiner Vorstellung sah plötzlich wie ein unförmiges Stehaufmännchen aus. Sobald es einigermaßen vertretbar war, ließ er seine Eltern und Bernie allein. In seinem Zimmer marschierte er schnurstracks zum Telefon, um Kissys Nummer zu wählen. In Anbetracht der Zeitverschiebung war es viel zu spät für einen Anruf, doch er nahm keine Rücksicht darauf, sie eventuell aus dem Bett zu holen. Seiner Ansicht nach wurde es höchste Zeit, daß jemand sie ordentlich wachrüttelte. Ein derartiger Triumph blieb ihm allerdings versagt: Kein Anschluß unter dieser Nummer, ertönte eine mechanische Stimme. Ohne das Telefon aus den Augen zu lassen, ließ er sich auf die Bettkante sinken. Er könnte bei der Auskunft die Nummer ihrer Mutter erfragen. Die wahrscheinlich wußte, wo Kissy zu erreichen war, ihm
aber vermutlich nichts wesentlich Neues zu sagen hätte. Kissy und ihre Mutter standen sich nicht besonders nah. Was er von Caitlin eventuell erfahren könnte, war allerdings die unangenehme Tatsache, daß Kissy in der Zwischenzeit jemand anderen geheiratet hatte. Vielleicht war das Kind gar nicht von ihm. Aber er wußte, daß sie ein Risiko auf sich genommen hatten, und er wußte auch über Kissys schlechte Erfahrungen in dieser Hinsicht Bescheid. Er könnte sich natürlich einreden, er sei der Einzige, der sie veranlassen würde, ein solches Risiko einzugehen. Weil sie ihn liebte. Aber genauso gut konnte sie mit diesem albernen Schnurrbartheini ins Bett gestiegen oder zu Kowanek zurückgegangen sein. Sie konnte sich mit der gesamten zeugungsfähigen männlichen Bevölkerung Peltrys eingelassen haben! Inklusive seinem Bruder. Es war nie besonders schwer gewesen, sie rumzukriegen, weder beim ersten noch bei den weiteren Malen. Wieder einmal drehte sich ihm der Magen um bei dem Gedanken, daß eine Frau, die so viel Spaß daran fand wie Kissy Mellors, gewiß nicht all die Monate das Leben einer Nonne geführt hatte. Er schwang die Beine aufs Bett, legte einen Arm unter den Kopf und starrte zur Decke hinauf. Dann rollte er sich auf die Seite, um die Nummer der Reichen zu wählen. Diane II nahm den Hörer ab, im Hintergrund hörte er Partylärm. Falls er sich nicht irrte, lief am anderen Ende der Leitung ›Der Kommissar‹ Sha sha wuh oh oh. Deker besaß also mittlerweile ein eigenes Exemplar. Als Junior nach der Reichen fragte, seufzte Diane II theatralisch auf, ging aber los, um sie an den Apparat zu holen. »Dein Bruder ist hier. Er ist genau wie du, nur vier Jahre jünger«, hörte er ihre Stimme sagen. »Komm her«, erwiderte er knapp. »Warum sollte ich?«, neckte sie ihn. »Weil ich dich will.« Sie lachte erfreut. »Na, wenn das so ist…« Es gefiel ihm, Macht über sie zu haben, sie von Deker – und seinem Bruder – abkommandieren zu können. Der Champagner, den er gleich darauf bestellte, traf noch vor ihr ein. Obwohl er sein Limit nach den beiden Gläsern mit seinen Eltern bereits überschritten hatte, trank er noch eins. In seinen Augen war das Zeug ohnehin nicht mehr als Ginger Ale für Erwachsene. Eine Nase würde er sich auf keinen Fall genehmigen, falls sie was dabei haben sollte. Als es dann
tatsächlich so war, beschloß er, diesen Vorsatz um ein bis zwei Lines zu erweitern. Nachdem er ihn in die Tat umgesetzt hatte und das Blut durch sein Adern schoß, wünschte er, sie hätte doch mehr mit Ganja am Hut. Der Push machte ihn redselig und ließ ihn ein weiteres Versprechen brechen, das er sich gegeben hatte: kein Wort über Kissy zu sagen. »Meine Freundin kriegt ein Kind.« Die Reiche lachte und drückte wie zur Gratulation seinen Schwanz. Er fragte sie, ob er besser wäre als Deker, woraufhin sie wieder lachte und meinte, es sei schon komisch, aber exakt in dem Moment, als er angerufen habe, hätte sie sich genau das gewünscht, weil der Junge so fürchterlich grün hinter den Ohren sei. Es war genau, was er hören wollte. Später, als Mony ihre obligatorische Zigarette danach genoß, kam er noch einmal auf das Thema zurück. Diese Angewohnheit von ihr wurde ihm immer verhaßter. Sie war eigentlich kein ausgesprochener Nikotinsüchtel, keine Kettenraucherin, konnte offenbar aber nicht vögeln, ohne es hinterher mit einer Marlboro entsprechend zu feiern. Der Zigarettenrauch bohrte sich ihm schmerzhaft in Augen und Brust. »Es ist vielleicht gar nicht von mir«, sagte er. Mony schnaubte. »Meine Güte, was soll das jetzt werden? Eine verdammte Seifenoper? Ich kann nicht glauben, daß du dir überhaupt den Kopf darüber zerbrichst. Wenn sie’s nicht haben will, soll sie’s abtreiben. Wenn doch, ist es ihre Sache.« Ihm wurde auf der Stelle klar, daß er besser den Mund gehalten hätte. Sie war gekommen, um sich anzutörnen und gevögelt zu werden, nicht um sich sein Gejammer wegen einer anderen Frau anzuhören. Schön. Sollte sie kriegen, wonach ihr der Sinn stand. Nachdem der Rausch nachgelassen hatte, war er zwar hundemüde, aber nicht besonders erpicht auf Schlaf. Er wurde von einer Unruhe geplagt, die zweifellos als Gratiszugabe des Kokains einzuordnen war. Keine noch so große Menge Schnee, Feuerwasser oder Eierkraulen hinderte ihn daran, Nacht für Nacht davon zu träumen, wie er im Tor stand. Manchmal hatten diese Träume eine euphorisierende Wirkung, was in letzter Zeit jedoch immer seltener vorkam. Ab und zu war es Freddy, der versuchte, den Puck an ihm vorbei zu schieben. Als Junior schließlich doch die Augen zufielen, schlief er
schlecht und wachte in den frühen Morgenstunden mit einer schmerzenden, randvollen Blase wieder auf. Diesmal hatte er nicht vom Netz, sondern von Kissy geträumt. Sie hatte splitternackt vor ihm gestanden und ihm ein Neugeborenes unter die Nase gehalten. An das Geschlecht des Kindes konnte er sich nicht erinnern. Als er die Hände nach dem Baby ausstrecken wollte, schien es sich aufzulösen, so daß er es nicht zu fassen bekam. Und dann war ihm noch während des Traums klar geworden, daß dieses Baby Kissy war; Kissy als Neugeborenes, mit schlohweißem Haar und Ringen in den Ohren. Ihr rundes, wächsernes Gesicht trieb vor seinem Kopf hin und her. Sie lächelte ihn traurig an, und er sah, daß ihr Mund voll fauliger, spitzer Zähne war. \ 17 [ Da Junior zu spät in Boston eintraf, um die letzte Nahverkehrsmaschine nach Peltry zu erwischen, beschloß er, mit dem Wagen zu fahren. Er hatte sowohl in der vergangenen Nacht als auch während des Flugs von einem Ende des Landes zum anderen kein Auge zugetan und war zu angespannt, um einen Sinn darin zu sehen, in einem Motel zu bleiben, wenn er mit dem Auto zu Hause sein konnte, noch bevor am nächsten Morgen der erste Flieger ging. Nach der Landung dauerte es eine geschlagene Stunde, bis er einen Wagen gemietet und sein Gepäck beisammen hatte, so daß es beinah Mitternacht war, als er aus Logan Airport herauskam. Wenn er das Tempolimit einhielt und den dünnen Verkehr der frühen Morgenstunden berücksichtigte, brauchte er für die Strecke etwa viereinhalb Stunden. Obwohl wenig später Monstertrucks mit zwanzig bis dreißig Sachen zu viel an ihm vorbeidonnerten, biß er die Zähne zusammen und hielt sich seinem frisch zurückgewonnenen Führerschein zuliebe eisern an die gesetzlich zugelassene Höchstgeschwindigkeit. Die Fahrt, genau wie der vorangegangene Flug, verschaffte dem Gedankenkarussell in seinem müden, verwirrten Kopf erneut Gelegenheit, sich zu drehen wie das Laufrad in einem Hamsterkäfig, während er das Radio voll aufgedreht hatte, um wach zu bleiben. Nicht ganz unerwartet war er im letzten Spiel kläglich gescheitert. Die Oilers hatten vermutlich den nächsten Stanley Cup im Visier gehabt, Wayne Gretzky seine x-te Conn-Smythe-Trophy. Während
sich die in die Defensive gedrängten Drovers immer ungeschickter angestellt hatten, war er so unbeweglich gewesen wie ein straff gespanntes Trommelfell, erschöpft und zerstreut, und hatte eines der schlechtesten Spiele seiner gesamten Laufbahn geliefert. Er konnte natürlich den Aufputschmitteln – von Moosejaw als ›echte Hämmer‹ gepriesen –, die er genommen hatte, um die Katerstimmung infolge seiner nächtlichen Ausschweifungen mit der Reichen zu kompensieren, die Schuld daran geben. Er rief sie an; sie kam in sein Hotelzimmer; sie rammelten wie die Kaninchen, und noch vor Morgengrauen schlüpfte sie lautlos hinaus – ein Muster, das seit der ersten Nacht unverändert blieb. Junior wußte nicht, wie genau es zu diesem Ablauf gekommen war, aber sie hatte mitgespielt, als wäre es auch in ihrem Sinne gewesen. Seine Leute – besonders Bernie, deren Blicke sich wie Pfeile in seinen Rücken bohrten – hatten zweifellos mitbekommen, daß irgend etwas vor sich ging, auch wenn er nicht mit seinem Bruder in die Stadt fuhr und brav im Hotel blieb. Er sprach nicht darüber. Esther und Dunny wurden von Tag zu Tag schweigsamer, ihre Lippen schmaler. Da er ihnen keine Frau vorgestellt hatte, nahmen sie vermutlich an, er ließe sich Huren ins Hotelzimmer kommen. Die Anwesenheit der Reichen war ebenso schlecht zu erklären wie die Anwesenheit einer Nutte, und noch mehr schreckte er davor zurück, es vor sich selbst zu rechtfertigen, denn dann hätte er zugeben müssen, daß es eine Reaktion auf die Neuigkeiten von Kissy war. Abgesehen davon würde ihn sein glanzvoller Auftritt auf dem Eis, wie er befürchtete, noch eine ganze Weile verfolgen. Ehe er im Flugzeug zu schlafen versucht hatte und auch hier kläglich gescheitert war, hatte er verschiedene Zeitungen durchgeblättert und die Kritiken gelesen. Der freundlichste Kommentar lautete, es sei schon ein starkes Stück, wenn ein Nachwuchs-Club von einem Anfänger im Tor und einem neunzehnjährigen russischen Überläufer das Wunder erwarte, Wayne Gretzky und die Oilers mit Grant Fuhr im Netz zu besiegen. Darüber hinaus wurde spekuliert, die Drovers – auf der Suche nach einem oder zwei guten Verteidigern – hätten Junior Clootie bereits zur Versteigerung freigegeben. Vor Wochen schon wären die Utah Pioneers an ihm interessiert gewesen und seien es eventuell immer noch. Die Pioneers hatten eine Fohlenmannschaft in Baptistville, Kentucky, was für Junior nicht gerade nach Eishokkeygebiet klang. Es hörte sich viel eher so an, als bestünden die
Hauptsportarten dort aus Schlangenschmuggel, Lynchjustiz und Inzest, und als schwämme das einzige Eis, das man dort finden konnte, in Form nackter weiblicher Torsos in den Drinks im Gemeindesaal der Kriegsveteranen. Auch der Club selbst entsprach nicht gerade seiner Traumvorstellung, obwohl er den Verdacht hatte, daß Salt Lake – vielleicht sogar Dry River – verglichen mit Baptistville das reinste Paradies an Frohsinn und Zerstreuungen war. Wie die Drovers waren auch die Pioneers ein Nachwuchs-Club, der sich in seiner besten Saison den letzten Platz in der Spielklasse ebenso erbittert erkämpft hatte wie ein Penner das letzte trockene Fleckchen unter der Fußgängerbrücke. Junior tröstete sich mit dem Gedanken, daß Zeitungskolumnen sich ebenso oft irrten, wie sie zutrafen. Wahrscheinlich war das alles dummes Zeug und selbst die Pioneers wollten ihn nicht mehr haben. Diesen Bereich seines Lebens hatte er momentan nicht mehr in der Hand. Es war kurz vor fünf Uhr morgens, als sich die Umrisse von Peltry im Nebel über dem Fluß abzeichneten, der derart angestiegen war, daß er bis an die Uferbefestigung heranreichte. Die Stadt erschien ihm wie eine blasse Vision, nicht wie ein wirklicher Ort, sondern wie das Land der Toten, in dem selbst der Granit und die roten Ziegelsteine, die uralten Ulmen, Ahornbäume und Kiefern nichts waren als geisterhafte Schatten, wo sich die Brücke über etwas weitaus Schwärzeres, Abgründigeres und Entzweienderes spannte als bloße Wasserfluten. Wenn er dort hineinfiel, verlor er bestimmt das Gedächtnis und krabbelte wieder heraus, um sein altes Leben weiterzuleben. Er würde durch die Straßen spazieren und die frische Luft einatmen, Kurse besuchen, durchs Valley laufen, trainieren und großartige Spiele für die Sowerwine liefern. Essen und trinken, schlafen und pissen, sich rasieren und duschen und sich um seine Wäsche kümmern. Er würde Kissy begegnen, sie umarmen und küssen und Liebe mit ihr machen. Und in keiner Sekunde daran denken oder auch nur wissen, daß keiner von ihnen beiden mehr am Leben war. Als er die Mid-Dance-Brücke überquerte, spürte er, wie sie sich dem enormen Gewicht der Wassermassen entgegenstemmte, die an ihren Pfeilern zerrten. Der Dance führte ein Hochwasser, wie Junior es noch nie erlebt hatte. Die schimmernde, gerippte Oberfläche erin-
nerte ihn an den Rücken eines unermeßlich großen Alligators. Flußaufwärts mußte er längst über die Ufer getreten sein. Der Schutzzaun war dort, wo er ihn demoliert hatte, wieder repariert worden, wies an den Bruchstellen allerdings Rostspuren auf. Plötzlich schnürte sich seine Kehle zusammen, vor Kummer wegen Ed, vor Kummer wegen sich selbst. Mit unsichtbaren Geisterfingern trommelte der Regen gegen das Fenster seines Zimmers, als er aufwachte; ein unheimlicher Kontrast zu der Stille im restlichen Haus. Laut Radiowecker war es elf Uhr. Dunny stand längst im Geschäft, Esther und Bernie waren in ihren Kursen. Er fühlte sich in die Tage zurückversetzt, als er wegen einer Bronchitis zu Hause geblieben war, das einzige Mal in seiner Kindheit, daß er den Unterricht wegen Krankheit versäumt hatte. Die Zeit schien ihren eigenen Gesetzen zu folgen. Obwohl er schon seit sechs Uhr im Bett lag, hatte er das Gefühl, gerade erst die Augen zugemacht zu haben. Doch nun war er wach, hellwach, spürte lediglich einen leichten Druck hinter der Stirn. Es war keine leichte Aufgabe, nach einer ausgiebigen Dusche und einer sorgfältigen Rasur frische Sachen zum Anziehen zu finden. Seit einer Woche schon bediente er sich aus seinem Wäschesack, und alles darin entsprach mittlerweile voll und ganz dem, was er die Kanadier ›Stinkezeug‹ hatte nennen hören. Obwohl er absolut sicher war, eine in Würde gealterte Levi’s in der Schublade zurückgelassen zu haben, fand er dort nichts als Shorts und gut durchgelüftete T-Shirts; offensichtlich hatte sein Bruder sie sich unter den Nagel gerissen. Er probierte eine von Dunnys Khakihosen an, aber sie war in den Beinen zu kurz, im Bund hingegen zu weit. Ob es zu früh dafür war oder nicht, er würde sich wohl oder übel mit Shorts begnügen müssen. Zum Schluß fischte er ein Paar Socken aus dem Korb mit frisch gewaschener Wäsche, die Dunny gehörten. Kaum war er halbwegs vernünftig angezogen, hatte sich in seinen Achselhöhlen wieder nervöser Schweiß gesammelt, und er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Es war schlimmer, als es noch einmal mit Gretzky aufzunehmen. Der Regen war schwach, aber beständig und kalt. Junior, der jämmerlich fror, drehte die Heizung in seinem Mietwagen auf. Dasselbe alte Peltry, dachte er, während er sich dem dahinschleichenden Verkehrsstrom anschloß. Als wäre er nie fort gewesen. Die Begegnung
mit Dry River und Denver, mit all den abgelegenen, tristen Kleinstädten im Westen, strukturlos aneinandergereiht auf mehr als eintausend Kilometern schnurgerader, gottverlassener Landstraße, schien nicht länger gedauert zu haben als höchstens einen Augenschlag. Wenn der Dance zu Beginn des Frühjahrs das Eis verschluckte und unter Schneeschmelze und Regenwasser anschwoll, wenn das verwelkte Laub, der Unrat und die Fäkalien auftauten und eine neue Pflanzengeneration keimte, knospte und blühte, roch es in Peltry, als hätte sich die Erde aufgetan. Als er auf dem Weg ins Stadtzentrum die Hornpipe überquerte, sah Junior, daß sich die schwarzen Wassermassen fast auf gleicher Höhe mit den zementierten Dämmen befanden, die deren Mündung in den Fluß seitlich begrenzten. Ein beträchtlicher Anteil der Bürgerschaft verfolgte das Schauspiel, darunter auch eine Reihe von Cops und Feuerwehrleuten in leuchtend gelber Regenkluft. Überall standen Einsatzfahrzeuge. Man wappnete sich für den Notfall, bereitete sich darauf vor, die Innenstadt zu evakuieren. Da Peltry sich von dem in einer Senke gelegenen Stadtzentrum aus nach oben erstreckte, sammelte sich das manchmal über die Ufer tretende Wasser der Pipe regelmäßig in den wenigen Blocks der Innenstadt oder in der engen Schlucht des Valleys. Kissys Blazer stand auf dem Parkplatz der News. In den Zeitungen, die seine Mutter ihm nach wie vor zugeschickt hatte, war ihr Name immer seltener aufgetaucht, zum letzten Mal vor etwa zwei Wochen. Es war fast Mittag, und wenn sie noch dort arbeitete, würde sie das Gebäude höchstwahrscheinlich verlassen, um irgendwo etwas zu essen, um sich eine Mahlzeit ins Haus zu holen oder auch nur, um einen Blick auf die Pipe zu werfen. Falls er sie nicht mit ihren Kollegen herauskommen sehen sollte, hatte er die Absicht, selbst hineinzugehen und sie zu suchen. Gerade als er aufgeben und sein Glück drinnen versuchen wollte, trat sie durch die Seitentür ins Freie. Sie hatte eine Strickmütze auf dem Kopf und sah müde aus. Ihr Gesicht war ein wenig voller als sonst, und an ihrer Schwangerschaft bestand nicht der geringste Zweifel – auch nicht für noch so unerfahrene oder mit Dummheit geschlagene Augen. Obwohl er darauf vorbereitet gewesen war, traf ihn der Anblick ihres veränderten Körpers wie ein Schock. Die
Wirklichkeit war weitaus schlimmer, als er gedacht hatte. Keine Frage. Sie war rund wie eine Tonne. Ohne sich dessen bewußt zu sein, öffnete Junior die Wagentür und lief auf sie zu. Eine Hupe gellte ihm wütend hinterher, Reifen quietschten und verspritzten das Wasser auf der nassen Fahrbahn in sämtliche Richtungen, als er, ohne nach rechts oder links zu sehen, über die Straße rannte. Nur wenige Zentimeter vor seinen Beinen kam eine Stoßstange zum Stehen und ein rot angelaufenes Gesicht brüllte ihm Verwünschungen nach. Er registrierte den Aufruhr kaum, aber Kissy wirbelte herum, um seine Ursache zu ergründen. Ihre Augen weiteten sich und sie trat unwillkürlich zurück. Mit langen Schritten eilte er zu ihr hin. »Alles in Ordnung?«, fragte er atemlos. »Was willst du?«, schrie sie. Die Sorge um sie hatte vorübergehend das Ziel seiner Mission aus seinem Gehirn verdrängt. »Dich. Das Baby. Was sonst.« »Es ist nicht vor dir.« »Was?« Sie zog ihren Schlüsselbund hervor und schloß mit zitternden Fingern die Wagentür auf. »Kissy…« Mit dem zusätzlichen Gewicht an ihrer Vorderseite war es mühselig, in den Blazer zu steigen, doch sie schaffte es und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Dann ließ sie den Motor an und flüchtete im Zickzack – wie eine Taube, die von einem Rotzbengel gejagt wurde – vom Parkplatz. Das von ihren Reifen aufgeworfene Spritzwasser machte Junior von oben bis unten naß. Eine Weile stand er wie angewurzelt da, während das Wasser von ihm hinabtropfte, und schaute ihr blinzelnd nach, doch schließlich setzte er sich in Bewegung und trottete mit quietschenden Turnschuhen auf seinen Leihwagen zu. Diesmal war ihm vollkommen bewußt, daß er nicht geguckt hatte, ehe er auf die Straße gegangen war, aber es kümmerte ihn nicht. Und wie es im Leben nun einmal zuging, kam er ausgerechnet jetzt ohne Zwischenfall auf die andere Seite. In einer Wasserpfütze sitzend, die stetig an Umfang zunahm, fuhr er ziellos durch die Straßen. »Es ist nicht von dir«, hatte sie gesagt. Er sollte erleichtert sein. Er war erleichtert. Ihn störte bloß, daß sie sich folglich von jemand anderem hatte bumsen lassen. Eine Vorstel-
lung, die seine Hände zittern, seine Eingeweide schmerzen ließ. Er hatte das Gefühl, in einer Pfütze eiskalter Pisse zu sitzen. Während er sich da draußen den Arsch aufgerissen hatte, hatte sie ihren einem anderen Typen hingestreckt. Am liebsten hätte er das Gaspedal in Grund und Boden getreten. Einsatzwagen, Umleitungsschilder und gelbes Polizeiband blokkierten die Zufahrt zum Valley. Junior nahm einen Umweg über eine Reihe von Seitenstraßen, schlich sich in eine Ausfahrt der Autobahn ein und hatte von der Überführung aus einen grandiosen Blick auf die Pipe. Die zornigen Wassermassen hatten ganze Bäume entwurzelt und mit sich gerissen. Auch der kräftigste und ausdauerndste Schwimmer würde binnen Sekunden in den tosenden Fluten versinken. Sogar Kissy. Ein lautes Hupen riß ihn aus seiner Versunkenheit. Er merkte plötzlich, daß er etwa auf halber Höhe der College Avenue stehen geblieben war, und hielt es für einen Wink des Schicksals. Ein bißchen Krafttraining täte ihm sicherlich gut, und während er trainierte, konnte er die nassen Klamotten in den hauseigenen Trockner werfen. Es gab ihm Auftrieb, als er beim Betreten der Universitätsturnhalle für einigen Aufruhr sorgte und freudig begrüßt wurde. Er lieh sich beim Trainer eine Turnhose und machte sich an sein übliches Routineprogramm. Auf dem Rückweg stieß er auf ein paar Jungs, die Basketball spielten; er spielte eine Stunde lang mit. Um vier Uhr nachmittags war er physisch wieder voll auf dem Damm, was ihm jedes Mal das Gefühl bescherte, selbst das Unmögliche schaffen zu können. Irgendeine Begleiterscheinung des Schwitzens schien seine grauen Zellen erstaunlich gut auf Trab zu bringen. Esther saß über ihre Bücher gebeugt am Küchentisch. An ihrem Kinn prangte ein Tintenfleck. »Mom«, sagte Junior, »ich habe Kissy getroffen. Sie behauptet, das Kind sei nicht von mir.« Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte sie derart enttäuscht, daß er einen Schritt vortrat, um sie in den Arm zu nehmen, doch sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. In der Luft hing der Duft von frisch gebügelter Wäsche, ein trockener, sauberer Geruch, durch den er sich um so schmutziger und nas-
ser fühlte. Auf der untersten Stufe der Hintertreppe stand der volle Wäschekorb, daneben lehnte das Bügelbrett. »Danke, daß du meine Sachen gemacht hast«, sagte er. »In Zukunft bringst du sie in eine Wäscherei Junior. Du bist zu alt, um deine Schmutzwäsche bei mir abzuladen. Erst dachte ich, ich könnte froh sein, einen gesunden Sohn zu haben, um dessen Wäsche ich mich kümmern darf, aber im gleichen Moment wurde mir klar, was für eine dumme Ziege ich bin.« Esther war furchtbar sauer auf ihn. Na großartig. »Tut mir leid mit der Wäsche, Mom. Ich hab nicht dran gedacht.« »Du bist inzwischen alt genug, um wenigstens versuchsweise erst einmal deinen Kopf einzuschalten, Junior.« Er merkte, daß er den Boden voll tropfte. Kalt war ihm auch. Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und schleppte sich die Treppe hinauf, um zu duschen. Oben angekommen, drehte er um, ging wieder hinunter und nahm den Wäschekorb mit. Sie schenkte ihm nicht einen Blick. Als er unter der Dusche stand und zusah, wie das schmutzige Wasser um den Abfluß herumwirbelte, mußte er an den Anblick des Flusses denken. Wie eine Alligatorhaut. »Alligatortorte, Alligatortorte…«, krächzte er leise vor sich, während er sich zu schrubben begann. Es war seltsam tröstlich, das alte Kinderlied zu singen. Die Strophe mit dem Alligatoreintopf ließ er zugunsten derjenigen aus, die er immer am liebsten gemocht hatte: »Alligatorsuppe, Alligatorsuppe…« Er beobachtete, wie seine Alligatorsuppe sich mit dem Wasser im Abfluß vermischte. Bernie hatte ihm ein Geschenk aufs Kopfkissen gelegt – ein Abführzäpfchen in Alufolie. Als Junior kurz darauf zwischen den Laken lag, wurde ihm zum ersten Mal an diesem Tag richtig warm. Er döste ein. Ein gedämpftes Streitgespräch seiner Eltern weckte ihn wieder auf. Die Federkernmatratze ihres Bettes quietschte, als sie sich hinlegten, dann ging das Licht aus. Und plötzlich hörte er laut und deutlich die aufgebrachte Stimme seiner Mutter sagen: »Na und? Dann hat er eben eine große Karriere vor sich! Die viele Arbeit, die vielen Opfer – trotzdem ist er ein nichtsnutziger Kerl. Ein Kerl, der eine große Karriere vor sich hat, und der nichts taugt.«
Dunny antwortete entrüstet genug, um ebenfalls vernehmbar zu sein: »Aber das Mädchen sagt doch, es ist nicht von ihm!« »Er ist ein solcher Idiot, daß sie ihn gar nicht mehr will, begreifst du das denn nicht? Hättest du ihn etwa gern zum Schwiegersohn?« Dunnys Schweigen sprach Bände. Die Flutwelle kam im Morgengrauen. Aufgeschreckt durch das Fußtrappeln seiner Leute, deren Tag bereits begonnen hatte, stand er auf, um sich den Schaden anzusehen. Die Pipe war in der Innenstadt über die Ufer getreten, und das Wasser stand jetzt in seichten, vom Morgenlicht silbrig angestrahlten Lachen so friedlich und makellos wie Eis in den Straßen. Der Himmel hing tief, der Nebel über dem Wasser ging nahtlos in die unterste Wolkenschicht über, so daß Himmel und Erde nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren und das Chaos vor der Schöpfung wiederhergestellt schien. Der Dunst, der über dem Wasser schwebte, sah aus, als tanzten verlorene Seelen darin. Der Anblick erinnerte ihn an seine Träume der vergangenen Nacht: Träume vom Ertrinken, Träume mit sexuellem Inhalt, Träume von einer wunderschönen Kissy mit angeschwollenem Leib, mit der er sich in Wassermassen wälzte, denen keiner von ihnen sich zu widersetzen imstande war. Junior kehrte nach Hause zurück, um sich Frühstück zu machen. Kissy wohnte bei Mrs. Cronin, Ruth Prashkers Großmutter, in der James Street – wie Esther ihm noch am Flughafen unter die Nase gerieben hatte. Diese Nachricht hatte ihn ebenso erstaunt wie die Information, daß auch Ruth sich dort aufhielt, die nach wie vor im Koma lag. Seine Mutter hatte ihm den rechtlichen Hintergrund erläutert. Die Neuigkeiten beunruhigten ihn sehr; Kissy war offenbar noch immer nicht geheilt von ihrer Obsession bezüglich Ruth, die er von Anfang an recht ungesund gefunden hatte. Gegen Mittag riß die Wolkendecke auf. Juniors Zeitplan war aus den Fugen geraten, da er Bernies Lieblingskuchen gebacken hatte, eine Biskuitrolle. Er spielte kurz mit dem Gedanken, sie mit einer Schokoglasur zu überziehen, die mit Abführpillen garniert war, beschloß dann aber, das Friedensangebot nicht zu verderben. Er machte sich auf den Weg zur News, nur um zu erfahren, daß Kissy nicht dort war.
Man sagte ihm, sie sei in den Park am Fluß gegangen. Der Park am Fluß war ein winziger Grünstreifen am Zusammenfluß von Hornpipe und Dance, der wegen seiner geringen Größe als Bauland nicht in Frage kam. Die Stadt hatte ein paar Bänke und Pflanzenkübel, einen Mülleimer sowie ein derart unauffälliges Schild mit der Aufschrift Charlie Howard Park dort aufstellen lassen, daß man den Namen sofort wieder vergaß. So hieß er bei allen einfach ›Der Park am Fluß‹. Kissy saß auf einer Bank, den Blick unverwandt auf den Dance gerichtet. Junior hatte mit einem Mal das Gefühl, zu unvorbereitet zu sein. Er schlüpfte in eine Drogerie in der Ladenzeile gegenüber. Während er dort herumstand, so tat, als könne er sich nicht zwischen einer Packung Big Red oder Dentyne-Kaugummi entscheiden, und sich unterdessen den Kopf darüber zerbrach, wie er sich ihr nähern könnte, ohne gleich eine Faust ins Gesicht zu bekommen, blieb sein Blick plötzlich an einer billigen Automatikkamera hängen. Batterien und Filme lagen direkt daneben. Kissy hatte das Gefühl, in dem leuchtend gelben Regenmantel und den dazu passenden gelben Gummistiefeln wie ein Gummientchen auszusehen. Sie saugte jede Einzelheit der Szenerie gierig in sich auf. Die von schmutzig braunem Schaum und Unrat gekrönten Fluten der Pipe, die sich mit wildem Getöse in den breiteren Dance stürzten, faszinierten sie. Die räuberischen Wogen zerrten am Uferdamm, schlugen brutal gegen die Felsen, rissen alles, was sich ihnen in den Weg stellte, gnadenlos mit. Das Wasser war wie ein gigantischer Organismus, der in graubraunen Hautfalten Äste und Zweige, Ungeziefer und Würmer, einen Abfallhaufen aus zu Kleinholz gemachten Haushaltsgeräten, einen Stiefel, einen Hut, orangefarbene, blaue, schwarze und grüne Plastikfetzen, zersplitterte Holzbohlen und Bruchstücke von Dachschindeln mit sich trug. Da waren Eisbrocken, entwurzelte Bäume, ineinander verkrallte Äste, die wie schlecht gebündelte schwarze Knochenpakete aussahen, und anderes typisches Treibgut – von den Fluten ans Ufer geworfen und zurückgelassen wie Müll. Es stank wie aus einem offenen Grab, als die Sonne mit einem ersten vorsichtigen Glitzern ein diamantenes Netz über das Wasser warf. Überall sah man kreischende Möwen, ganz aus dem Häuschen wegen der überraschenden Fundstücke. Obwohl Kissy
warm angezogen war, spürte sie den eisigen Hauch der naßkalten Luft. Dennoch war alles genau so, wie es sein sollte. Es störte sie nicht einmal, daß sie keine Kamera dabeihatte. Ein Klicken veranlaßte sie, den Blick vom Fluß loszureißen. Vor ihr stand Junior. Die Augen hinter einem Fotoapparat verborgen, machte er eine Aufnahme von ihr. Vertauschte die Rollen. Sie als Gummiente vor diesem surrealen Hintergrund aus Verwüstung und unbändiger Naturgewalt. Sie mußte laut lachen. Dann stand sie schwerfällig auf und flatterte mit den Armen. »Quak!« Sie stampfte in den Pfützen herum. »Quak!« Das Stampfen war offenbar zu heftig gewesen, denn sie spürte plötzlich eine Kontraktion und mußte sich setzen. Junior verstaute die Kamera in seiner Jackentasche – diesmal war er angemessener gekleidet – , ließ sich neben ihr auf die Bank fallen und legte einen Arm um ihre Schultern. »Alles okay?« Kissy nickte, woraufhin er ihre Schulter sanft drückte. Sie lehnte sich an seine solide Brust, er nahm ihre Hand. Es war ein gutes Gefühl, ein stimmiger Moment. Schweigend betrachteten sie den Fluß, wandten die Blicke nur ganz selten ab, um sich in die Augen zu sehen. »Du hast mir gefehlt«, sagte Junior schließlich mit stockender Stimme. Vermutlich erwartete er jetzt, etwas Ähnliches zu hören, aber den Gefallen tat sie ihm nicht. Auch wenn es zutraf. Natürlich. Nach all den Monaten war ihr lodernder Zorn nur noch erkaltete Asche. Das Einzige, was sie noch aufbringen konnte, war leichter Ärger, der ebenso ihr selbst galt wie ihm. Nur die Verwirrung war nach wie vor da. Sie spürte seinen Brustkorb weit werden, als er tief und genüßlich einatmete. »Hier ist mehr Feuchtigkeit in der Luft, als ich im letzten halben Jahr abgekriegt habe.« Er lachte froh. »Es gibt keinen schöneren Flecken auf der ganzen Welt, nicht wahr?« Die Möwen, offenbar absolut seiner Meinung, kreischten bestätigend auf. Sie sammelte ihre Kraft, um sich von der Bank hochzustemmen. »Ich muß wieder zur Arbeit.«
Mit der Leichtigkeit eines Tänzers fiel er in ihren Bewegungsablauf ein, stützte sie und stellte sie hin. Sie füllte seine Arme vollkommen aus und mußte, wie so oft, über ihren veränderten Körper lachen. Er küßte sie. Sie hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlte, Lippen auf ihren Lippen zu spüren, und Junior war schon immer ein guter Küsser gewesen. Ironischerweise hatte sich das alte Verlangen ausgerechnet in den letzten Wochen mit eiserner Macht zurückgemeldet. Es war beinah unheimlich, mit welcher Intensität sie die Kontraktionen empfand. Ihr Uterus übte, bereitete sich auf den Gewaltakt vor, das Baby ans Licht der Welt zu befördern. Sie verspürte den flüchtigen Impuls, ihm davon zu erzählen, stellte sich dann aber mühsam auf die Zehenspitzen, um ihn noch einmal zu küssen. Wieder mußte sie über die eigene Kühnheit und Unbeholfenheit lachen, bis der Kuß intensiver wurde und eine gewaltige Kontraktion Junior, der eine Hand auf ihrem Bauch hatte, mitten aus dem Geschehen riß. »Wow!«, sagte er ehrfurchtsvoll. Sie schob seine Hände weg. »Ich muß jetzt wirklich zurück.« Und pinkeln, aber das behielt sie für sich. Ich mach mir gleich in die Hose. »Ich bring dich hin.« Es waren nur drei Blocks, und es half wirklich sehr, daß sie die Fingernägel in seine Hand bohren konnte. Er begriff instinktiv, daß es dringend war, auch ohne Erklärung, aber er warf ihr immer wieder besorgte Blicke zu. »Sehen wir uns heute Abend?«, fragte er sie. »Ich lade dich zum Essen ein…« Abwesend schüttelte sie den Kopf. »Hast du Angst, daß du schwach wirst?« »Das steht wohl kaum zur Debatte«, schoß sie zurück und rief dann über die Schulter, »James Street 22, neunzehn Uhr«, als sie durch die Tür stürmte, die er ihr aufhielt. \ 18 [ Kissy streckte mit skeptischer Miene den Kopf zu Mrs. Cronins Haustür hinaus. Ihre Hände wanderten zu den gegenüberliegenden Ellbogen, dann lächelte sie, immer noch nachdenklich. Sie verkörperte das absolute Gegenteil der typischen Vorort-Gebärmaschine aus den Fünfzigerjahren mit Glockenmantel und Donna-Reed-Frisur.
Vermutlich war sie die erste hochschwangere Frau mit einem Ohr voller Stecker und gebleichten Haarfransen, die Peltry je gesehen hatte. Auch ihr Outfit ließ nichts zu wünschen übrig: moosgrüne Latzhose, T-Shirt aus stahlblauer Spitze und silberfarbene, knöchelhohe Turnschuhe. Eine weißhaarige alte Dame, die ihm als Mrs. Cronin vorgestellt wurde, erschien in der Eingangshalle. Junior und sie identifizierten einander sofort als geborene Widersacher. Sie war ihr Leben lang Lehrerin gewesen, besaß den Scharfblick eines Adlers, den Gehörsinn einer Fledermaus und die Nase eines Spürhunds, was sie zum natürlichen Feind jedes aufsässigen kleinen Jungen machte – eine Spezies, die sie auf Anhieb erkannte, auch wenn der Betreffende inzwischen erwachsen war. Junior fühlte sich augenblicklich schuldig, ob er nun etwas verbrochen hatte oder nicht, und spürte ein unangenehmes Kribbeln über seine Fingerknöchel geistern. Für alte, das Lineal schwingende Hexen wie sie – garantiert hatte man sie in der Schule entweder kurz mit Cronin oder aber mit einem ehrfürchtigen Old Lady Cronin ansprechen müssen –, waren die Finger eines Jungen der perfekte, gesellschaftlich gebilligte Ersatz für seinen steifen kleinen Piephahn. Sie betrachtete ihn mit kühlem, ironischem Blick, lauerte darauf, daß er die Nerven verlor und damit seine Schuld eingestand. Honigfarbenes Parkett, ein Perserteppich und diverse Antiquitäten verliehen dem Foyer unaufdringliche Eleganz und verrieten, daß es hier keine Kinder gab, daß es sich um das Heim eines kultivierten Menschen mit konservativem Geschmack und nicht unbeträchtlichen finanziellen Mitteln handelte. Als Mrs. Cronin seinen Rosenstrauß davontrug, um ihn ins Wasser zu stellen, stieg ihm ein leicht antiseptischer Geruch in die Nase, der ihm Ruth Prashkers Anwesenheit hinter einer der geschlossenen Türen, in einem dieser geschmackvoll eingerichteten Räume mit hoher Decke in Erinnerung rief. Er verspürte nicht den geringsten Wunsch, tiefer in diese Behausung einzudringen. Deutlich erleichtert folgte er Kissy durch die Haustür ins Freie und hörte sie hinter sich ins Schloß fallen. »Hübsch hier«, sagte er trotzdem. »Sylvia ist unglaublich nett zu mir gewesen«, erwiderte Kissy. »Sie weigert sich, Geld zu nehmen. Statt dessen soll ich ihr bei Ruth helfen, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was sie für mich tut.«
Im Gegensatz zu ihm, dachte Junior. »Du siehst gut aus«, sagte er, weil es der Wahrheit entsprach. »Schwimmst du noch?« »Ja, aber nicht mehr lange.« »Es muß seltsam sein, mit Ruth unter einem Dach zu leben.« »Ich fühle mich ihr inzwischen sehr nah. Es ist eine der faszinierendsten Erfahrungen, die ich jemals gemacht habe.« Dank der zwanghaften Neugier einer Wanderratte war es Kissy möglich, so gut wie alles faszinierend zu finden, erinnerte er sich. Alles, das sich irgendwie in einen Rahmen quetschen ließ. Zum Glück hatten sie es nicht allzu weit – nichts in Peltry war allzu weit voneinander entfernt – , so daß er das Gespräch über Ruth Prashkers starke Faszination nicht vertiefen mußte. Er hatte einen Tisch bei Matty’s reserviert, dem besten Restaurant in der ganzen Stadt. Während des Studiums war ihr Geldbeutel für das Lokal zu klein gewesen, doch der Oberkellner erkannte ihn trotzdem – vielleicht hatte ihn auch nur der Name auf der Reservierungsliste hellhörig gemacht – und überschlug sich förmlich vor Zuvorkommenheit. Kissy schien sich darüber zu amüsieren. Junior wurde plötzlich bewußt, daß er sich in Begleitung einer hochschwangeren Frau befand, daß die Leute sie anstarrten, ihn ebenfalls erkannten und im Stillen ihre Schlüsse zogen. Es war ihm nicht im Geringsten peinlich, aber es machte ihm klar, daß Kissy eine Menge hatte ertragen müssen. Wie oft mochte sie auf diese Weise angeglotzt worden sein, seitdem ihr Zustand offensichtlich war, ohne Ehering, ohne Ehemann? Während er Händchen haltend mit ihr zum Tisch ging, fühlte er sich stark mit ihr verbunden und erstaunlich verantwortlich für ihr Wohlergehen. Sie hatte diesen enormen Bauch, und er war kein Highschool-Romeo mehr, sondern ein fürsorglicher Mann, der sich, zumindest für den Augenblick, in nichts von einem frisch gebackenen Ehemann unterschied. Noch bevor sie die Speisekarte aufgeschlagen hatten, kam Matty höchstpersönlich aus der Küche geeilt. Obwohl Junior ihm nur ein einziges Mal in seiner Funktion als Universitätsmäzen begegnet war und Kissy ihn lediglich flüchtig von diversen Veranstaltungen bei der Handelskammer oder im Rotarierclub kannte, begrüßte er sie wie zwei lang vermißte Kinder. »Na, was haben wir denn da!«, rief er entzückt und tätschelte ihren Bauch.
»Na, und da erst!«, gab sie zurück und tätschelte seinen. Mattys Bauch war nicht annähernd so dick wie ihrer – bei ihm handelte es sich bloß um die üblichen der Trägheit erwachsenen Schwimmreifen eines Mannes im mittleren Alter –, dennoch klang sein Kichern gezwungen. Er versetzte Juniors Schulter einen liebevollen Knuff und meinte: »Sie hätten auf mich hören sollen, mein Junge! Ich sagte Ihnen doch, wenn Sie schon nicht brav sein können, passen Sie wenigstens auf…« Junior tat die Bemerkung mit einem Lachen ab, in der Hoffnung, der Mann möge endlich verschwinden. Ihm fiel nichts Besseres ein. Für Kissy war die Situation schon peinlich genug, er brauchte die Vaterschaft nicht auch noch in aller Öffentlichkeit zu leugnen. Nachdem Matty sie wieder verlassen hatte, beugte Kissy sich zu ihm vor. »Wir hätten zu Denny’s gehen sollen.« »Tut mir leid.« Sie zuckte mit den Schultern. »Schon gut. Ich hab mich dran gewöhnt, daß die Leute Vermutungen über meinen Bauch anstellen.« In dem Moment schlenderte Julius Horgan von der Bar her auf sie zu, im Schlepptau den Sportredakteur der News. »Es stimmt also, daß Sie wieder da sind«, sagte Rex Mortensen, der Redakteur. Es gab eine weitere Runde Händeschütteln und dummes Gewäsch zu erdulden, aber Mortensen konnte sich wenigstens verkneifen, Junior öffentlich zu beglückwünschen, weil er Kissy geschwängert hatte. Junior war den überschwenglichen Umgang mit Fans und Medien gewohnt und konnte die Klischees bezüglich seiner Anfängersaison mühelos entkräften. Horgan bemerkte er kaum, doch Kissy fand dessen anzügliches Grinsen fast ebenso schlimm, als hätte er sie begrapscht. »Und, alter Knabe«, sagte Horgan, nachdem Mortensen ein letztes Mal Juniors Hand geschüttelt hatte und sich zum Gehen wandte, »haben Sie die Absicht, eine ehrbare Frau aus unserer Kissy zu machen?« »Entschuldigen Sie uns jetzt. Tut mir leid, daß wir Sie gestört haben«, meinte Mortensen hastig, legte eine Hand auf Horgans Arm und zog ihn mit sich. s »He, Julie!«, rief Kissy den beiden nach.
Als Horgan sich nach ihr umdrehte, zeigte sie ihm einen Vogel. Mortensen, der die unhöfliche Geste mitbekommen hatte, schob Horgan schnell in Richtung Bar. Ein belustigtes Murmeln ging durch den Raum und auch entrüstetes Schnauben und verständnisloses Kopfschütteln seitens einiger Stammgäste. »Arschloch«, flüsterte Kissy. Junior entschuldigte sich noch einmal, aber sie schüttelte lachend den Kopf. Voller Anteilnahme, da sie ausschließlich von Quälgeistern umgeben zu sein schien, drückte er ihre Hand. Sie fragte ihn, wie es ihm während seiner Abwesenheit ergangen sei. Nach der Hälfte der Vorspeise hatte ihre Unterhaltung dieselbe Form angenommen wie früher: Sie sprangen zwischen den unterschiedlichsten Themen hin und her, wobei jeder die angefangenen Sätze des anderen vollendete. Junior merkte, daß er seinen Blick nicht von ihr losreißen konnte und auf dem besten Wege war, sich erneut in sie zu verlieben. »Jetzt weißt du, was ich so gemacht habe. Und wie war’s bei dir?«, wollte er wissen. Sie erzählte ihm ein paar Banalitäten in Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Fotografin für die News, sprach dann von den Seminaren an der Universität. Es war wie bei einem ersten Rendezvous, dachte er, bei dem alle persönlichen Dinge diskret ausgespart wurden. »Es war nicht leicht für dich, stimmt’s?«, fragte er unvermittelt. Kissy begnügte sich eine Zeit lang damit, schweigend Nudeln um ihre Gabel zu wickeln. Schließlich sagte sie: »Ich schaffe das schon. Ich hab gute Freunde…« »Mich zum Beispiel. Jedenfalls wäre ich gern einer davon.« »Das ist schön.« Sie legte die Gabel aus der Hand. »Ich schätze, deswegen sind wir hier. Weil wir versuchen, Freunde zu sein…« »Ich liebe dich.« Kissy zerknüllte ihre Serviette. Die Leute am Nebentisch schauten neugierig herüber. »Wir hatten eine schöne Zeit, eine wundervolle Zeit«, sagte Junior schnell, da er fürchtete, sie würde jeden Moment aufstehen und davonstürzen. Ihr Kinn begann zu zucken. Sie hob den Blick und schaute ihn blinzelnd an. »Ich möchte jetzt gern nach Hause.«
Es war unmöglich, beim Aufstehen eine gute Figur zu machen. Wieder war Junior zur Stelle, wie schon am Fluß, um ihren Ellbogen zu stützen, der ihr half. »Ich kümmere mich um die Rechnung«, sagte er gedämpft. Sie verschwand in der Damentoilette, wo sie ohnehin hinmußte, wo sie ihrem Gefühl nach dauernd war. Dort konnte sie allein sein und Ruhe finden, wenn auch nur in der Kabine. Sie sperrte die Außenwelt aus und versuchte sich zu sammeln. Sie redeten erst wieder, als sie in seinem gemieteten Ford saßen. »Von wem ist es?«, fragte Junior abrupt. »Von diesem Hewes?« Garrett Hewes hatte sie fast vergessen. Nachdem ihr Bauch langsam begonnen hatte, sichtbar zu werden, war ihre Freundschaft zu einem verlegenen Nicken geschrumpft, das er ihr gegenüber an den Tag legte, wenn sie sich zufällig über den Weg liefen. »Großer Gott, nein!« »Ich wußte gar nicht, daß Gott auch zu den Kandidaten gehört«, sagte er scherzhaft. Völlig überrumpelt, mußte Kissy gegen ihren Willen grinsen, doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. Sie konnte selbst nicht sagen, warum sie nicht wollte, daß er von Jimmy Houston erfuhr. Niemand sollte von ihm erfahren. Es war ihr Geheimnis. Und ihr Kind. »Ich weiß nicht, wer der Vater ist.« Er zuckte zusammen. Überlegte ein bißchen und fand die Tür, die sie offen gelassen hatte. »Also könnte ich es sein.« »Nein! Vollkommen unmöglich. Es war so ein Typ. Ein Typ, den ich irgendwo aufgegabelt hatte. Ich weiß nicht mal mehr, wie er heißt. Ich war betrunken.« Kissys Gesicht glühte; sie wußte, daß sie rot geworden war. Aufmerksam studierte er ihre Züge im Schein der Straßenbeleuchtung und dann sah sie die Veränderung in seinem Gesicht. Die Weigerung, ihre Lüge zu schlucken; die Verärgerung, daß sie ihm einen solchen Bären aufbinden wollte; die Betroffenheit darüber, daß sie ihn überhaupt anlog. Er wirkte mit einem Mal härter und erwachsener. »Ich habe mich noch gar nicht definitiv dafür entschieden, es zu behalten«, fuhr sie mit stockender Stimme fort.
Sie waren mittlerweile in die James Street eingebogen. Er lenkte den Wagen mit einem Ruck an den Straßenrand und griff hinter ihrem Rücken nach der Türverriegelung, um den Knopf hinunterzuschieben. »Du wirst mein Kind auf gar keinen Fall weggeben wie einen ausrangierten Mantel! Ich bring dich vor Gericht, Kissy. Ich nehme mir einen Anwalt und beantrage selbst das Sorgerecht, wenn du es nicht willst…« »Du Mistkerl!«, kreischte sie. »Das Kind ist nicht von dir. Du hast überhaupt kein Recht…« »Das läßt sich leicht feststellen«, erwiderte Junior gelassen. »Ein Bluttest und die Sache ist geklärt.« Einen Moment lang starrten sie einander wütend an. Kissy sah es deutlich vor sich: die erste Vaterschaftsklage in der Geschichte des Profisports, die der vermeintliche Vater gegen die unwillige Mutter anstrengte statt andersherum. Und ausgerechnet Junior Clootie, der einen Präzedenzfall ins Rollen brachte. Doch die Vorstellung, das Baby abgeben zu müssen – selbst an Junior, sofern er der Vater war – , half ihr bei der Entscheidung. Sie würde es behalten. Das Einzige, wozu er sie zwingen konnte, war der Bluttest, und falls der positiv ausfiel, würde sie ihm ein gewisses Besuchsrecht einräumen müssen. Viel Gebrauch davon konnte er ohnehin nicht machen. Dazu war er viel zu oft unterwegs. Daß sie möglichst schnell aussteigen wollte, war durch den hitzigen Streit fast in Vergessenheit geraten. »Wie willst du dich überhaupt um ein Baby kümmern? Willst du’s auf der Bank festbinden oder auf dem Tor festschnallen, während du auf dem Eis bist?« Die Frage schien ihn zu treffen, doch statt lange nachzudenken, ging er in die Offensive. »Und du? Wie willst du dich um ein Baby kümmern?« »Ich kann für mich selbst sorgen, also…« »So wie jetzt gerade? Sylvia Cronin sorgt für dich – aber das ist ein anderes Thema. Ein Kind großzuziehen ist kein Sonntagsspaziergang. Du wirst Hilfe brauchen.« »Eine Menge Frauen ziehen ihre Kinder allein groß.« »Weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Und es ist falsch. Diese Kinder brauchen einen Vater.« »Ein Haufen Kinder wünschen sich, die Väter los zu sein, die sie am Hals haben.«
»Aber einen guten Vater hätten sie deshalb trotzdem gern. Herrgott noch mal, Kissy, ich möchte diesem Kind wirklich ein richtiger Vater sein.« Noch während er den letzten Satz aussprach, wußte er, daß es ihm absolut ernst damit war, daß es für ihn nicht mehr den geringsten Zweifel gab. »Klar. Die Hälfte des Jahres wirst du zwar nicht da sein, aber du kannst dem Kind ja Videobänder von deinen Spielen schicken und ich zeige ihm dann, wer von den Typen sein Vater ist.« »Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, und das nicht schlecht, außerdem könnt ihr mitkommen, das Baby und du.« »Und meine Karriere kann ich in den Wind schreiben.« »Blödsinn. Du wirst keinen beschissenen Niedriglohnjob mehr annehmen und die richtige Arbeit nachts um zwei im Badezimmer machen müssen.« »Ich will nicht von irgendeinem Kerl abhängig sein.« »Was ist schlimm daran, wenn ein Kerl seine talentierte Ehefrau unterstützt, die zufälligerweise einen miserabel bezahlten Beruf hat? Wie viele Männer gibt es, die ihr Studium nur mit Hilfe ihrer Frau schaffen?« Ihnen wurde zur selben Zeit klar, daß ihre aufgebrachten Stimmen in Schreien übergegangen waren. Sie schwiegen einen kurzen Augenblick. Jeder schaute aus dem Fenster auf seiner Seite, um die Fassung zurückzugewinnen. Kissy vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Junior, erst drohst du damit, mich vor Gericht zu bringen, dann sprichst du von uns beiden als potentiellem Ehepaar.« Junior gab keine Antwort. In seinem Gesicht arbeitete es. »Na schön«, sagte er schließlich. »Wenn du schon nicht heiraten willst, laß mich wenigstens meinen Namen auf die Geburtsurkunde setzen, dich finanziell unterstützen und für das Baby da sein.« Sie stöhnte leise. Sanft zog er ihre Hände weg. »Alles in Ordnung?« »Ja.« Er rückte zu ihr herüber und legte die gespreizten Finger auf ihren Bauch. Das Baby bewegte sich, als reagiere es auf die Berührung. Junior stieß einen leisen, beifälligen Pfiff aus, lachte gedämpft, nahm Kissys Hand und küßte die Handfläche. Sie schloß die Augen und ließ sich von ihm halten. Er war an diesem Tag mehrmals stark ins Schwitzen geraten und hatte den dünnen
Salzfilm auf seiner Haut selbst mit einer Dusche nicht beseitigen können. Seine Hand wanderte von ihrem Bauch zu ihrem Hinterkopf, um ihn sanft gegen seine Schulter zu drücken. Sie hörte seinen Herzschlag. Erst zog sich ihre Kehle zusammen, dann ihr Bauch. Als sie die Augen wieder aufschlug, starrte er sie mit dunklem, brennendem Blick an. Seine Lippen bewegten sich auf ihre zu. Hastig befreite sie sich aus der Umarmung. »Ich kann nicht mehr klar denken. Ich bin hundemüde…« »Okay.« Junior seufzte. »Ich bin ja hier. Wir müssen das nicht heute Abend besprechen. Ich komme morgen wieder vorbei, einverstanden?« Er half ihr aus dem Wagen, brachte sie zur Tür, gab ihr einen leichten Kuß und wartete, bis sie im Haus verschwunden war. In der Einfahrt stand Mrs. Prashkers Wagen. Sylvia und ihre Tochter waren mit Ruths allabendlicher Pflegeprozedur beschäftigt. Kissy ging in die Küche und stellte den Wasserkessel auf den Herd, um Tee für sie drei zu kochen. Sie hatte so grandiosen Mist gebaut, dachte sie währenddessen, wahrscheinlich lag sie auf ganzer Linie falsch. Und wenn es tatsächlich sein Kind war? Ob Junior nun irgendwelche Rechte auf ein von ihm gezeugtes Kind hatte oder nicht – hatte das Kind ein Recht darauf, seinen Vater zu kennen, wie unzuverlässig er auch sein mochte? Hatte das Kind ein Recht darauf, überhaupt einen Vater zu haben? Die Angelegenheit war wohl längst noch nicht zu Ende gedacht. Sie saßen mit ihren Teetassen in der Hand im Salon und erkundigten sich nach Kissys Tagesverlauf und Befinden. Mrs. Prashker nahm offenbar an, sie sei in der Uni gewesen. Vielleicht hatte Mrs. Cronin gefunden, es gehe niemanden etwas an, wenn Kissy sich mit einem Verflossenen traf. Ruths Mutter und auch ihr Bruder Dan hatten Kissys Anwesenheit in Mrs. Cronins Haus mit einer gewissen Skepsis gegenübergestanden. Dann berichteten sie von ihrem eigenen Tagesablauf, der sich wie immer hauptsächlich um Ruth gedreht hatte. Ruths Aktivitäten waren sehr begrenzt, für ihre Mutter und Großmutter aber von größter Bedeutung. Jeder Tag bestand aus einer strikt vorgeschriebenen Routine, die dazu diente, den Tonus untätiger Muskeln, die Beweglichkeit untätiger Gelenke und die Unversehrtheit der Haut aufrechtzuerhalten, die unter Ruths Inkontinenz und
völliger Inaktivität litt. Ganze Haarsträhnen fielen ihr aus, wenn der Kopf nicht oft genug gedreht wurde, und da sie nicht selbst in der Lage war, Zähne und Zahnfleisch zu pflegen, mußte jemand anders sie mit Zahnseide bearbeiten und bürsten, damit sie keine Karies, keinen Soor, keinen Zahnfleischschwund bekam. Die Nahrungszufuhr mußte gesteuert, die Ausscheidung überwacht werden. Eine Abnahme der Urinmenge konnte ein Anzeichen für zu wenig Flüssigkeitszufuhr, einen Nierenstein, einen Blaseninfekt oder zu hohen Blutdruck sein. Die Nahrung, die ihr intravenös zugeführt wurde, erhielt sie zu einem festgelegten Zeitpunkt, so daß der Stuhlgang nachts stattfand. Wenn nicht, wuchs die Sorge, sie könnte unter Verstopfung oder Darmverschlingung leiden. Die Unbeweglichkeit machte Ruth zu einem zerbrechlichen Wesen; ihre Betreuer versuchten jeden Aspekt ihres Daseins zu deuten wie ein Seher seine Vorahnungen. Da Kissy den Tee gebracht hatte, bestand Sylvia darauf, das Tablett in die Küche zurück zu tragen. Während sie ihr Strickzeug zusammenpackte, fragte Mrs. Prashker: »Wie geht es Ihnen? Arbeiten Sie noch?« Kissy grinste. »Darauf können Sie wetten!« »All die schweren Geräte. Warten Sie nur, bis Sie die und auch noch das Baby unter einen Hut kriegen müssen.« Sie lief dunkelrot an. »Entschuldigen Sie. Ich mische mich da in Dinge ein, die mich nichts angehen. Sie wollen das Baby sowieso zur Adoption freigeben, richtig?« »Nein. Ich werde es behalten.« »Jetzt komme ich mir noch dümmer vor.« Sie warf einen Blick auf Ruth. »Ich werde mich hüten, Ihnen gute Ratschläge zu erteilen. Das überlasse ich lieber meiner Mutter, sie ist darin wesentlich besser als ich.« Ihr Lächeln wirkte verkniffen. Sie knöpfte den Mantel zu und schlug den Kragen hoch. »Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, daß bestimmt alles gut gehen wird, auch wenn Sie sich das jetzt nicht vorstellen können. Und wo ich schon einmal dabei bin, meine Nase in Ihr Privatleben zu stecken, möchte ich gleich hinzufügen, wie sehr ich Sie dafür bewundere, daß Sie nicht abgetrieben haben.« Wieder flog ihr Blick zu Ruth. »Da stehe ich hier und rede und habe gleichzeitig bei Gericht das Gesuch eingereicht, Ruth sterben lassen zu dürfen.« Die dunklen Augen, die denen ihrer Mutter
und ihrer Tochter so sehr glichen, kehrten zu Kissy zurück. »Aber das ist nicht dasselbe, oder?« »Nein«, bestätigte Kissy. »Es ist nicht dasselbe.« Das abrupte Nicken, mit dem Mrs. Prashker sich verabschiedete, ließ vermuten, daß sie ihren eigenen Worten keinen allzu großen Glauben schenkte. »Ich gehe nach oben«, rief Sylvia von der Tür her. »Gute Nacht, Herzchen.« Kissy suchte ihre Ausrüstung zusammen und setzte sich anschließend erst einmal hin. Sie fing nie sofort mit dem Knipsen an, denn es war wichtig, vorher mit Ruth zu sprechen, außerdem mußte sie neuerdings immer erst wieder zu Atem kommen. Sie beschrieb Ruth das Wetter und erzählte ihr einige Tagesereignisse. Die ganze Zeit über war ihr deutlich bewußt, daß sie möglicherweise ein Kind des Mannes unter dem Herzen trug, der Ruth in diesen jämmerlichen Zustand versetzt hatte. »Hast du deine Mutter gehört?«, fragte sie. »Sie ist nicht glücklich über ihre Bitte, dich gehen lassen zu dürfen. Sie weiß, daß du nicht mehr gesund werden kannst, aber sie hofft trotzdem darauf. Sie will nicht, daß die Möglichkeit eines Wunders gänzlich zunichte gemacht wird. Es ist eine schwere Entscheidung. Wenn du jetzt nicht in diesem Zustand wärst, müßtest du vielleicht eines Tages eine solche Entscheidung für sie treffen. Wesentlich mehr Menschen müssen das für ihre Eltern entscheiden als für ihre Kinder.« Ruth zeigte wie immer keinerlei Reaktion. Kein Flattern der Augenlider, kein Zucken, nicht einmal ein Glucksen in den Plastikschläuchen. Von Zeit zu Zeit wurde sie umgelagert, wurde ihr Gesicht in eine andere Richtung gedreht. Im Moment hatte sie Kissy drei Viertel ihres Profils zugewandt und hätte sie auch dann nicht ansehen können, wenn ihre Augen geöffnet gewesen wären. Aus ihrem kurzen Jungenhaarschnitt ragte ein verletzlich wirkendes Ohr hervor. Ihre Haut war marmorweiß, durchscheinend und von Adern durchzogen, die Hand auf dem Laken mutete wie die Erfindung eines Minimalisten an. Kissy legte ihre eigene Hand darüber. »Junior ist wieder da.« Eine Kontraktion packte ihren Leib mit eisernem Griff. Ihr Gynäkologe war nach wie vor unentschlossen. Manchmal sagte er, vor
dem errechneten Termin, dann wieder danach. Im Grunde spielte es keine Rolle. Jimmy Houston würde erst wieder aus dem Gefängnis kommen, wenn das Kind bereits halb erwachsen war, und Junior konnte auch nicht täglich verfügbar sein, um ihr zu helfen, das Kind großzuziehen. Heiratete sie ihn, bedeutete das ein endloses Karussell aus Abschied, Wegsein, Wiederkehr. Sie wäre einsam, er wäre einsam, und jedes Mal wenn er zurückkäme – so wie jetzt –, würde sie ihn heftig begehren, und jedes Mal hätte sie Angst davor, sich irgendwelche Keime einzufangen, die er sich bei einer Hure oder einem Groupie geholt hatte. Und dann würde sie sich dafür hassen, daß sie so schwach gewesen war, sich noch einmal mit ihm einzulassen. Nichtsdestotrotz wollte sie ihn, zudem war es nicht leicht allein mit einem Kind – das wußte sie wohl am besten. Immerhin war sie diejenige gewesen, die die morgendliche Übelkeit, die schmerzenden Brüste, die Unterleibskrämpfe, das von einem unangenehmen Ziehen begleitete Dehnen der Bänder in ihrem Becken, die schlaflosen Nächte und die Tyrannei ihrer Blase hatte ertragen müssen. Die verächtlichen Blicken ausgesetzt gewesen war, Blicken von Leuten, die dachten, ihr Bauch sei ein Beweis für ihre geistige Unzurechnungsfähigkeit, so daß sie keinerlei Hemmungen mehr hatten, ihr dies auch zu sagen. Junior war genauso, wenn nicht schlimmer – und obendrein besaß er auch noch die fragwürdige Berechtigung, ihr seinen Willen aufzuzwingen, bloß weil er eventuell derjenige war, dem sie diesen Zustand verdankte. Sie stemmte sich aus dem Sessel. Ruths magere Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Ihre Mutter hatte ihre Beine nach der Krankengymnastik leicht angewinkelt und auf die Seite gelegt. Der Hüftknochen bohrte sich in ihre Haut und das darüber liegende Laken. Unterhalb der Senke zwischen ihrem untersten Rippenbogen und dem Lendenbereich wölbte sich ihr Schambein auf seltsam traurige Weise hervor. Aus dem Schlauch, der ihre Atmung regulierte, war ein schwaches Gurgeln zu vernehmen – wie aus einer Speicheldrainage beim Zahnarzt, die in die Luft geraten war –, dann wurde es wieder still. Was immer in Kissys Leben geschah, Ruths Dämmerzustand ging weiter, als hätte eine böse Fee sie mit einem hundertjährigen Schlaf belegt. Ruth kannte höchstwahrscheinlich weder Sehnsüchte noch
Schmerzen, doch wer konnte sich dessen absolut sicher sein? Niemand konnte mit Bestimmtheit ausschließen, daß sie nicht doch sah und hörte, was um sie herum vorging, daß sie über ihre Lage nicht doch vollkommen im Bilde war. Führte sie in ihren Träumen oder auf irgendeiner anderen Ebene ein richtiges Leben? Vielleicht befand sie sich in einer Sonderform von Uterus und wartete darauf, in einer anderen Welt wiedergeboren zu werden. In der Hoffnung, sie könne ihr ein klareres und eindeutigeres Bild von Ruth verschaffen, griff Kissy nach der Kamera. »Ach, Sie sind’s«, empfing ihn Mrs. Cronin am folgenden Abend, die Hand auf der Türklinke, als spiele sie mit dem Gedanken, Junior die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »Sie ist schon nach oben gegangen.« Ihr Blick glitt vielsagend zu der Treppe in ihrem Rücken und auch Junior schaute die Stufen hinauf. »Es fällt ihr von Tag zu Tag schwerer.« »Ich gehe hoch«, erbot er sich, als bestünde auch nur die leiseste Chance, Mrs. Cronin wolle Kissy holen gehen. »Sie erwartet mich.« Ohne der alten Dame Zeit zum Reagieren zu lassen, tauchte er unter ihr weg und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Im ersten Stock hörte er über sich die Bässe von Kissys Ghettoblaster und setzte daraufhin seinen Aufstieg fort. Genauso effektiv wie Brotkrumen, dachte er, auch wenn man sich im zweiten Stock beileibe nicht verlaufen konnte. Es schien sich um einen ausgebauten Dachboden zu handeln. Die Tür war angelehnt. Kissy blickte von ihrem Buch hoch, als er vorsichtig hineinspähte. Sie lag im Bett und hatte im warmen Lichtkreis der Lampe, die auf dem Nachttisch stand, gelesen. Ihr Gesicht hellte sich auf. Sie nahm die Kopfhörer ab und ließ das Buch auf die Tagesdecke fallen. Junior beugte sich über sie, um ihr einen so ausgiebigen Begrüßungskuß zu geben, daß sie kichern mußte. Die Musik im Kopfhörer war verstummt. Junior sprang auf und begann in ihren Kassetten herumzukramen. Er stieß auf ein Tape, dessen handgeschriebener Auflistung der Stücke nach es sich um LiveAufnahmen einiger Bostoner Bands handelte. Er schob es in das Kassettenfach, spulte bis zum Anfang zurück und drückte auf PLAY. Wenig später gaben die Needs ein düsteres, treibendes Stück voller Zahlenmystik zum Besten, das wie der kleine Bruder von ›96 Tears‹
klang. Kissy lachte. Junior kroch auf allen vieren über das Bett, das daraufhin bedrohlich zu schwanken begann, und ließ sich schließlich neben ihr auf den Rücken fallen. »Das Zusammenleben mit dir hat mir gefehlt – das Schlafen im selben Bett«, eröffnete er ihr. »Ich bin noch nie so glücklich gewesen.« Sie gab zwar ein verächtliches Schnauben von sich, doch ihre Augen leuchteten verdächtig auf. Junior streifte die Schuhe ab, streckte sich wieder neben ihr aus und kuschelte sich an ihren Rücken – die einzige Position, in der er sie im Arm halten konnte, ohne ihrem gewölbten Leib zu nahe zu rücken. Sie seufzte. Er scheute davor zurück, ihren Bauch zu berühren; es schien sicherer zu sein, die Hand auf ihre Hüfte zu legen. Schweigend lauschten sie der Musik, bis die Kassette zu Ende war. Junior stützte sich auf dem Ellbogen ab, schaute zu ihr hinunter und sah, daß sie eingeschlafen war. Er griff über ihren Körper hinweg nach der Lampe und knipste sie aus. Wie mehrmals in jeder Nacht weckte ihre Blase sie zuverlässig irgendwann auf. Es war schön, in seinem Arm zu liegen. Vorsichtig kroch sie aus dem Bett und wenig später wieder hinein, ohne daß er es gemerkt zu haben schien. Als sie das nächste Mal pinkeln mußte, begann es bereits zu dämmern. Sie lag genauso an ihn gekuschelt da wie früher, spürte wie früher deutlich seinen Steifen an ihrem Körper. Es war angenehm und lästig zugleich. Wieder schlüpfte sie hinaus. Als sie zurückkam, war er wach. »Sieh dir das an«, murmelte er, nahm ihre Hand, legte sie auf sein Glied und versuchte sie zu küssen. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite. »Laß uns zärtlich sein«, bat er in drängendem Ton. »Nein.« »Wir müssen ja nicht bumsen…« »Nein!« Für die Anwendung von Alternativen war es acht Monate zu spät. Junior rollte sich seufzend von ihr weg. Kurz darauf stand er auf, um seine Turnschuhe zu suchen. Ehe er ging, gab er ihr einen leichten Kuß aufs Ohr. Er schlich die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus und sog die frische Morgenluft in seine Lungen wie ein Ertrinkender. Ein Zeitungs-
junge kam ihm entgegen. Er war dick und langsam und schwabbelte beim Gehen wie Götterspeise. Junior streckte eine Hand aus, um die zusammengerollte News in Empfang zu nehmen. Das Dickerchen blinzelte ihn unsicher an. »Mensch – Sie sind doch Junior Clootie!«, sagte er. »Kann ich ein Autogramm haben?« Junior deutete auf seine ausgestreckte Hand und der Junge brachte einen gründlich angekauten Bleistiftstummel aus den Tiefen seiner Jackentasche zum Vorschein. Junior schrieb seinen Namen in eine Ecke der Titelseite, riß sie ab und reichte sie ihm. »Danke.« Dickerchen starrte den Fetzen fassungslos an. »Wohnen Sie hier?« »Nein.« »Stimmt. Das ist die Hütte von Old Lady Cronin. Sie war die allererste Lehrerin von meinem Dad. Ihre Enkelin hängt an ’ner Hechelmaschine, und dann wohnt da noch so eine…« Vielsagend formte er mit den Armen einen Bauch, der nur wenige Zentimeter dicker war als sein eigener. »Meine Freundin«, sagte Junior. Der Junge wieherte vergnügt. »Hat sich wohl jemand am Keuschheitsgürtel zu schaffen gemacht, wie?« »Verzieh dich«, fuhr Junior ihn an. In dem Moment öffnete sich die Haustür und Sylvia Cronin schob erstaunt ihren Kopf hinaus. »Was machen Sie denn hier? Ist das meine Zeitung?« Junior drückte ihr die News in die Hand. »Ich wollte gerade gehen. Bin gestern Abend eingenickt.« Der Zeitungsjunge machte große Augen, dann verbeulte ein lüsternes Grinsen sein schwammiges Gesicht. Mrs. Cronins Mund wurde schmal wie eine Aderpresse. »Mach, daß du wegkommst«, sagte sie zu dem Zeitungsjungen, der gehorsam und überraschend schnell davon schwabbelte. Ihr Blick bohrte sich in Juniors. »Das gilt auch für Sie!« Die Tür fiel vor seiner Nase ins Schloß. Sylvia saß Zeitungslesend am Tisch. Sie hatte Kaffee gemacht, Melonenscheiben geschnitten und Haferbrei gekocht.
»Gott, riecht das gut!«, sagte Kissy, während sie Haferbrei in eine Schüssel schaufelte. Sylvia faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. »Ich habe Ihren Freund getroffen, als er vorhin aus dem Haus ging.« »Oh, das tut mir leid. Er ist eingeschlafen.« »Ich dachte, er wäre längst fort. Nächstes Mal schaue ich besser nach, wer so alles draußen parkt.« »Es wird nicht wieder vorkommen.« »Kissy, es macht mir nichts aus, daß er über Nacht geblieben ist – ich meine, das geht mich wirklich nichts an, schließlich sind Sie erwachsen.« In Sylvias Augen blitzte es. »Jetzt habe ich Sie schokkiert.« »Nicht die Spur«, grinste Kissy über ihren Haferbrei hinweg. »Ich gehe nicht davon aus, daß er hier einziehen wird, oder daß ich künftig jeden Morgen über junge Rüpel steigen muß. Das ist doch der Bursche, mit dem Sie zusammengelebt haben, der, der den Hund getötet hat, nicht wahr? Ich würde nur gern wissen, warum er überhaupt hierher kommt.« »Er will mich heiraten, sagt er.« Sylvia nickte. »Das dachte ich mir schon. Ihr beide seid über das Ausgehstadium längst hinaus. Er will also das Richtige tun.« »Das Kind ist nicht von ihm, Sylvia.« Diese Information mußte Sylvia Cronin erst einmal verdauen. Nach einer Weile meinte sie: »Nun, Sie sind ihm offensichtlich wichtiger als dieses winzige Detail, das mit Sicherheit die meisten Männer vergraulen würde.« »Ich weiß.« »Ich bin sehr froh darüber, daß Sie hier sind, Herzchen. Und ich wäre auch sehr froh darüber, einen Knirps hier zu haben. Für mich gehören Sie mittlerweile zur Familie. Ich möchte nur, daß Sie das wissen, egal wie Ihre Entscheidung ausfällt.« \ 19 [ Junior hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, als er erneut auf Mrs. Cronins Fußmatte stand. Wieder erschien Old Lady Cronin höchstpersönlich in der Tür. Bloß eine alte Frau, fünfundfünfzig Kilo eingetrocknete Muschi, die vermutlich jedes Mal tropfte, wenn sie
niesen mußte – nichts, vor dem man Angst zu haben brauchte. »Guten Abend«, piepste er. Sie lächelte. Typisch, dachte er und hustete, um seinen Verdruß zu überspielen. »Kissy ist oben.« Etwas geschah mit ihrem Mund; er begann sonderbar zu zucken. Dann lachte sie ihm ins Gesicht. »Sie werden hinaufgehen müssen.« Er nickte mit aller Würde, die er aufbringen konnte, und gab sich Mühe, nicht zu stolpern, als er beim Treppensteigen ihren Blick in seinem Rücken spürte. »Du schon wieder!«, lautete die Begrüßung, kaum daß sie ihn erblickte, doch sie lächelte dabei. Sie trug wieder eine Latzhose, diesmal aus Jeansstoff, darunter ein weißes Henley-Shirt. Die Gelassenheit in Person, durchstöberte er ihre Musikbestände. »Ich hab mir heute ein Auto gekauft. Einen gebrauchten Saab. Der Verkäufer hat einen Kindersitz reingestellt.« »Was du nicht sagst.« Sie wirkte vergnügt. Er legte Abbey Road ein und stellte auf REPEAT, damit das erste Stück – das wichtige – am Ende des Albums wiederholt werden würde. Nachdem Kissy Buch und Kopfhörer beiseite gelegt hatte, rieb sie müde ihren Nacken. Auf der Kommode stand eine Flasche Körperlotion. Er steckte sie im Vorbeigehen ein, setzte sich auf die Bettkante und nahm Kissys Schultern. Sie wußte, was kommen würde, und sträubte sich nicht. Er begann ihren Nacken zu kneten. Wie immer konzentrierten sich ihre Verspannungen dort. Seine Finger wanderten an ihrem Hinterkopf hoch zu den Schläfen, dann zum Gesicht. Ein Aufschrei der Gitarre, ein eindringliches Flehen, Lennons Flehen, und Kissy erschauerte, als er mit dem Finger die Umrisse ihres Mundes nachzeichnete und anschließend mit der Handfläche an ihrer Kehle hinunterstrich. Er öffnete die obersten Knöpfe ihres Hemdes, schob seine Hand hinein und zupfte am Rand ihres BHs. Die Brustwarzen darunter waren hart und fest. »Junior«, flüsterte sie, »tu mir das nicht an.« Er legte seinen Mund auf ihre Lippen. Ihre Zunge erzählte ihm etwas anderes, und zwar genau das, was er hören wollte.
Ihre Brüste waren erwartungsgemäß viel schwerer, die Brustwarzen größer und dunkler als sonst. Blaue Adern durchzogen die milchweiße Haut, so daß sie wie zu Leben erwachter Marmor aussah. Zwischen Brüsten und Buschwerk wölbte sich wie ein glatter Cabochon ihr Bauch. Plötzlich sah er Kissy wie die den Fluten entstiegene Venus in der aufgeklappten Muschel stehen, bis auf die weißen Socken an ihren Füßen splitternackt. Der Anblick ihres Körpers erregte ihn sehr, rührte ihn aber auch und weckte seine Zurückhaltung. Frauenkörper hatten schon immer verletzlich auf ihn gewirkt, sogar Kissys, so muskulös er war. An den Brüsten und zwischen den Beinen war eine Frau trotz allem empfindlich und verwundbar. Die Anwesenheit des Babys in ihrem Leib machte sie noch zerbrechlicher. Sie erschien ihm kostbar wie ein Fabergé-Ei, um das jeder russische Zar ihn beneidet hätte. Mochte sie lügen, so viel sie wollte, dies war sein Werk, und sie hatte nichts unternommen, um es zu zerstören. Was an sich schon bedeutsam war, richtig? Und seine Berührung genoß sie auch, sie wand sich regelrecht unter seinen Händen vor Wohlbehagen. Als er ihren Bauch eincremte, begann das Baby sich zu bewegen. Zarte Wellen und Grübchen formten sich unter der Haut. Auf ›Golden Slumber‹ folgte ›Carry That Weight‹ mit der beunruhigenden Warnung Boy, you’re going to carry that weight. Dann kam ›The End‹ mit dem einleitenden Satz Oh yeah all right. McCartney hörte sich seltsam nach Eric Carmen an. »Stop«, keuchte Kissy und fügte dann mit etwas festerer Stimme hinzu: »Das können wir nicht tun.« Junior, der auf einen Ellbogen gestützt neben ihr lag und gerade seine Hose aufknöpfen wollte, fragte erhitzt und ungläubig: »Wieso nicht?« Und kurz darauf besorgt: »Geht’s dir nicht gut?« »Ich bin nicht besonders scharf auf den nächsten Tripper, danke der Nachfrage.« Er zuckte zusammen. Aus den Boxen dröhnte der Schlußteil von ›Her Majesty‹, den er noch nie hatte leiden können, aber das Timing war sowieso im Eimer. Er rollte sich vom Bett, um das Gerät abzuschalten. »Herrgott noch mal, es war doch nichts«, meinte er entnervt. Sie schaute ihn bloß mit diesem Röntgenblick an, den Frauen immer dann an den Tag legen, wenn sie ein männliches Wesen der Treulosigkeit verdächtigen.
Er verwarf den Impuls, sich herauszuwinden. Gab er zu viele Affären zu, würde sie ihn für hoffnungslos promiskuitiv halten, gestand er nur eine, käme sie am Ende noch auf den Gedanken, diese Frau wäre ihm tatsächlich wichtig gewesen. »Du warst mit anderen Typen zusammen. Ich hatte ein paar Mädchen. Es war nichts Ernstes, Kissy…« »Genau das meine ich. Nichts Ernstes.« »Ich bin sauber, Kissy. Ich hab aufgepaßt.« Abrupt drehte sie das Gesicht von ihm weg, die mit einem Mal brennenden Augen fest zusammengepreßt. Es tat immer noch weh, an diese Mauer in seinem Leben zu stoßen. Sie konnte nicht anders, als sich die Szenen vorzustellen. Nichts von Bedeutung, würde er sagen. Nur ein profanes Hineinstecken seines Schwanzes in den Mund einer fremden Frau, deren Namen er entweder nie gewußt oder, falls doch, sofort wieder vergessen hatte, ein kurzer Schuß – und das war’s. Die Frau spuckte seinen Samen aus oder sie schluckte ihn runter, je nach Geschmack, und beide gingen wieder getrennte Wege. Er empfand vermutlich eine gewisse Erleichterung oder Befriedigung, die er sich in Eigenarbeit nicht verschaffen konnte, sie vertraute das Ereignis ihrem Tagebuch an, schmierte es an die Wand einer Toilettenkabine oder protzte damit vor ihren Freundinnen herum: Ich hab ihm einen geblasen, dem Torhüter. Ein Autogramm hat echt nicht gereicht, mußte unbedingt noch an seinem Schwanz lutschen und einen Mundvoll von seiner Soße abkriegen. Wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihm erzählte, sie hätte es sich zum Hobby gemacht, fremde Männer auf die Art zu bedienen? Oder sich welche für anonymen Cunnilingus herauszupicken? Sicher gab es genügend Männer und auch Frauen, die darauf ebenso scharf waren wie Männer offenbar auf Fellatio. »Du hast mich verlassen«, sagte Junior, »du wolltest mich nicht mehr haben. Bestrafe mich nicht dafür, daß ich ehrlich zu dir bin.« Ehrlichkeit war nicht das Problem. Aber wenn sie ihrer beider Missetaten gegeneinander aufrechnete, waren sie ungefähr quitt. Wie konnte sie die Frauen verurteilen, die mit ihm ins Bett gegangen waren? Sie gehörte schließlich dazu. Sie hatte alles mit ihm getan, was er vielleicht auch mit ihnen getan hatte, und am Anfang war er für sie ebenfalls ein Fremder gewesen. Außerdem war da die Sache
mit Jimmy Houston. Sie drehte sich langsam zu ihm um und ließ sich von ihm küssen. Er stellte die Musik wieder an, kroch ins Bett und kuschelte sich zu McCartneys shu shu an ihren Rücken. Eine plötzliche Hitzewallung bescherte Kissy eine weitere Kontraktion. Junior zog sie nach hinten, um ihren harten Bauch zu streicheln. Als der sich wieder entspannt hatte, schob er die Hand zwischen ihre Beine. »Nicht«, flüsterte sie. »Nicht ohne Kondom.« Er atmete scharf ein. »Ich hab keins. Bitte, Kissy! Es ist eine Ewigkeit her, ich halt’s einfach nicht mehr aus. Mach es mir doch nicht so schwer. Ich schwör dir, ich hab nichts!« Er küßte ihren Nacken. »Und schwängern kann ich dich garantiert nicht.« Seine Hand lag immer noch auf ihr, seine Finger tasteten und kosten. »Bitte!« Sie stöhnte. Er schob einen Finger in sie hinein und legte den Daumen dahinter. Erschauernd versuchte sie sich loszumachen, aber er hielt sie fest. Ihr Atem ging schneller. Er ließ nicht locker. Dann zog er sie unvermittelt auf die Knie und glitt mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung in sie hinein. Sie stieß einen Schrei aus. Seine Bewegungen waren sanft. Es war so leicht, einfach loszulassen, in seinen Rhythmus einzufallen. Er seufzte dicht an ihrem Ohr. Sie schloß die Augen. Sein Herzschlag und seine Atmung kamen allmählich wieder zur Ruhe. Kissy hatte das Gefühl, unter einem Schlafmittel zu stehen; sie war hundemüde. Als sie das nächste Mal halbwegs klar war, mußte es dem Druck ihrer Blase nach etwa drei Uhr morgens sein. Verstohlen befreite sie sich aus seiner Umarmung – genau genommen handelte es sich vielmehr um einen Knäuel, zu dem sich ihre Arme und Beine verheddert hatten – , um ins Bad zu gehen. Auf dem Rückweg schlüpfte sie in ein Nachthemd, weil sie fror. In dem unheimlichen Dunkel, das sie umgab, war sie froh über ihr gutes Nachtsehvermögen. Sie setzte sich auf die Bettkante und betrachtete ihn. Sie hoffte plötzlich, das Kind wäre wirklich von ihm und hätte seine Ohren; sie würde sie so hingebungsvoll abschlecken wie eine Katzenmutter. Sie kroch zu ihm unter die Decke und strich sacht mit der Zungenspitze über die Umrisse seines Ohrs. Er bewegte sich, wurde langsam wach und streckte eine Hand nach ihr aus. Vorsichtig schob sie ihre Zungenspitze in seinen Gehörgang und ließ sie wie ein
Kolibri hinein und hinaus schnellen. Er seufzte. Sie spürte das Kitzeln seiner Wimpern an ihrer Haut und hob den Kopf, um zu sehen, wie er die Augen aufschlug und seinen Blick auf ihr Gesicht einstellte. Seine Hand umfaßte ihren Hinterkopf, dann zog er sie zu sich hinunter. Das Nachthemd machte ihm großen Spaß. Begeistert schob er es hin und her, um einzelne Teile ihres Körpers bloßzulegen. Als sie fertig waren, zog er es wieder ganz nach unten und drapierte es ehrfurchtsvoll um ihre Knöchel. Sie kuschelte sich in seine Arme. »Das ändert überhaupt nichts.« Er ließ sich ihre Worte einen Moment durch den Kopf gehen, brummte verdrossen »Scheiße!« und packte dann ihr Kinn, so daß sie gezwungen war, ihn anzusehen. »Hör auf damit, Kissy. Ein für alle Mal! Du hast lange genug deine Spielchen mit mir getrieben. Ich habe mich entschuldigt. Und ich habe meine Strafe abgesessen.« Sie starrten sich zornig an und schließlich ließ er sie los. Als Kissy sich aufsetzte, sah sie ihre schemenhaften Silhouetten im Spiegel der Ankleidekommode. Ihr Haar stand zu allen Seiten vom Kopf ab, genau wie seins. Die glatte Oberfläche des Spiegels erinnerte sie an einen ruhig daliegenden Teich, den scheinbar nichts in seiner Friedlichkeit stören konnte. Er knipste die Leselampe an, woraufhin ihre Spiegelbilder mit einem Schlag Wirklichkeit wurden. »Es wird keine Probleme mehr geben«, sagte er. »Das verspreche ich dir.« Während sie sich in der darauffolgenden Stille unverwandt anstarrten, geisterte der Widerhall seiner Worte durch ihren Kopf. Es wird keine Probleme mehr geben. Das verspreche ich dir. Sie hörte es nicht zum ersten Mal, auch nicht von ihm. »Bevor ich mich darauf einlassen kann, muß ich dir etwas sagen«, begann sie. Bei dieser Formulierung wurde ihm unweigerlich unwohl. Er wollte im Grunde nicht wissen, was sie zu sagen hatte, aber sie ließ ihm keine Wahl. »Es gab keinen One-Night-Stand. Ich war nach deiner Abreise eine Zeit lang mit jemandem zusammen. Das Kind kann genauso gut von ihm sein wie von dir.« Junior war froh, daß es nichts Schlimmeres war. Er hatte sich lange genug mit der Vorstellung von ihr und einem anderen Kerl abgequält und aus Angst, wohin das führen mochte, nicht die geringste Lust,
den Gedanken weiterzuspinnen. »Geschehen ist geschehen. Es ist mir egal.« Kissy atmete tief durch. »Und wenn es nicht klappt? Wenn ich mit deiner Art zu leben nicht klarkomme?« »Kein Problem«, sagte er hastig. »Wenn du gehen möchtest, brauchst du es nur zu sagen.« Sein Blick enthielt die stumme Bitte, nicht zu protestieren, ihn nicht an sein Benehmen zu erinnern, als sie sich schon einmal von ihm getrennt hatte, und das aus gutem Grund. Die Vergangenheit loszulassen und einen neuen Versuch zu starten fühlte sich an, als rasten sie derart schnell über die Autobahn, um beim geringsten Anlaß von der Straße getragen und in die Luft geschleudert zu werden. Sie waren beide blaß und verschwitzt. »Also gut«, willigte Kissy ein. Sie hatte immer noch das Bild des still daliegenden Teiches vor sich. Jetzt waren es Kieselsteinchen, die die Wasserhaut teilten und unter ihr verschwanden. Und plötzlich sah sie einen Babysitz langsam durch die Wassermassen auf den Boden zuschweben. Die Oberfläche kehrte in ihren reglosen Zustand zurück, und sie entdeckte darin das perfekt reflektierte Abbild des Monds. Liebevoll, unerreichbar und dumm lächelte er auf sie hinab. Obwohl die Einladung relativ kurzfristig erfolgte, war keiner von Juniors Mannschaftskollegen zu dieser Zeit im Jahr auf Grund von Notoperationen am Gehirn oder physikalischer Spezialexperimente unabkömmlich, und Gast auf seiner Hochzeit zu sein stellte eine hervorragende Ausrede dar, um Golf spielen, Hummer essen und auf seine Kosten Witze reißen zu dürfen. Junior und sein Bruder Mark mußten einige Male zum Flughafen fahren, um die derzeitigen und ehemaligen Kumpel abzuholen. Deker und Moosejaw waren die letzten. Tapfer schleppten sie ihre Golftaschen und ihr Gepäck, als sie aus dem Anschlußflieger von Boston stiegen, wo sie sich zur Anreise getroffen hatten. Deker, gefolgt von einer Gruppe Highschool-Basketballer, die soeben aus dem Trainingscamp der Amateur Athletic Union kamen, ließ die Taschen fallen, packte Juniors Kinn und küßte ihn leidenschaftlich auf den Mund, woraufhin die anderen beiden einen gespielt hysterischen Anfall bekamen.
Moosejaw ließ Junior in einer bärenartigen Umklammerung verschwinden und verpaßte ihm in Anlehnung an Deker ebenfalls einen schmatzenden Kuß. Aus den Reihen der AAU-Camper wurden Beifall und schrille Pfiffe laut. »Noch nie einen von denen gesehen«, sagte Mark vernehmlich. Sobald sie ihre Golftaschen auf dem Dach festgebunden und sich in den Saab gequetscht hatten, kurbelten die Besucher die Fenster hinunter, um sich Peltry anzusehen. »Was hab ich dir gesagt, Moose?«, meinte Deker. »Das hier ist nicht Dry Hole, Montana. Seit Denver versuche ich ihm schon klar zu machen, daß es hier aussieht wie in der Ukraine, Junior. Bloß daß man für den Hummer nicht anstehen muß, überall Klopapier kaufen kann und die Musik ein bißchen heftiger ist.« »Kissy wäre gern mitgekommen, aber sie mußte zum Frauenarzt«, erklärte Junior. »Schafft sie’s noch bis zur Hochzeit?«, wollte Moosejaw wissen. »Wenn’s sein muß, tragen wir sie hin.« Junior grinste. »Vielleicht seid ihr nicht nur zur Hochzeit hier, sondern auch zur Geburt.« »Schwindeln kommt wesentlich billiger.« Dekers tiefsinnige Bemerkung entsprang zweifellos den rechtlichen und finanziellen Begleiterscheinungen einer ständig wachsenden Anzahl von Vaterschaftsklagen. Manche stammten noch aus seiner Zeit in der UdSSR, als er Unzucht mit Minderjährigen getrieben hatte – falls es so etwas im ehemaligen sozialistischen Paradies überhaupt gab. Deker dämmerte allmählich, daß er es sich nicht leisten konnte, jede Klägerin auszuzahlen, und daß manch eine von ihnen vielleicht nur eine Abstauberin war. Die Begeisterung, mit der er seinen Samen bislang unter die Leute gebracht hatte, schien, wenn auch nicht vollständig versiegt, so doch merklich abgeklungen zu sein. »Wahnsinn!« Deker schnappte nach Luft. »Ist das der Golfplatz?« Auf Juniors Bestätigung folgte ein ausgedehntes, ehrfurchtsvolles Schweigen, während dem die Gäste lange Hälse machten. Dann begannen sie wie auf Kommando zu heulen und zu kreischen und sich gegenseitig wie verrückt auf die Schultern zu klopfen. Er schleppte sie vom Wagen direkt zu einem kleinen Stärkungstrunk ins Clubhaus, ehe es zum Vierer auf den Platz hinausging. Der Coach und die anderen waren längst draußen. Manche hatten bereits
sechsunddreißig Löcher gespielt, manche gerade mal achtzehn. Ein Tag auf dem Grün war Junior als ausgezeichnete Möglichkeit erschienen, die Warterei auf die Hochzeit ein wenig abzukürzen. Die Organisation hatten seine Mutter und Old Lady Cronin in die Hand genommen. Sein Haarschnitt war fertig, seine Klamotten lagen bereit, also hatte er nichts anderes zu tun, als die Gäste zu beglücken, sich ab und an blicken zu lassen und zu hoffen, daß Kissy keine Wehen bekam. Die Kontraktionen stellten sich jetzt immer häufiger ein. Die Junggesellenparty hatte Dionne schmeißen wollen, doch Junior hatte ihn erfolgreich gebremst und Coach Stannick darum gebeten. Der Coach hatte sich geschmeichelt gefühlt. Die Runde aus Juniors derzeitigen Mannschaftskollegen und den Spectres, mit denen er früher gespielt hatte, gab Stannick die Chance, ein wenig in nostalgischem Gedenken an vergangene Zeiten und Festivitäten zu schwelgen. Zwar würde das Ereignis auf diese Weise entfernt an Sportlerbanketts erinnern und unweigerlich seine unflätigen Momente haben, doch wenigstens gäbe es keine Stripperinnen, Huren und Pornovideos zu sehen, was bei Dionne zweifellos auf dem Programm gestanden hätte, und das Doperauchen würde diskret über die Bühne gehen. Mochte Dionne sich voll dröhnen, so viel er wollte, Junior war fest entschlossen, ohne Kater, ohne Polizeieskorte und ohne Tripper auf seiner Hochzeit zu erscheinen. Während sie darauf warteten, daß Moosejaw und Deker den Ball vom Tee schlugen, legte Deker plötzlich seinen Arm um Juniors Schultern. »Eine Frau machst du glücklich«, sagte er nachdenklich, »aber so viele andere sind traurig deshalb. Eine davon ist Monette. Sie hat mich angerufen und nach deiner Telefonnummer gefragt.« »Du hast sie ihr hoffentlich nicht gegeben!«, entgegnete Junior entsetzt. Deker lachte. »Für wie blöd hältst du mich!« Mitfühlend tätschelte er Juniors Arm. »Wenn sie bei dir anruft, hat sie die Nummer nicht von mir.« Dann wechselte er das Thema. »Ich freue mich schon drauf, Bernie wiederzusehen. Dafür, daß sie deine kleine Schwester ist, ist sie eine ganz schön scharfe Nummer.« »Sie ist erst fünfzehn…«
Deker runzelte die Stirn. »Fünfzehn ist doch goldrichtig. Ich verstehe das nicht. Nur in Amerika sind alle der Meinung, daß man mit fünfzehn zu jung für die Liebe ist.« »Besser, du schließt dich dieser Meinung an. Halt dich verdammt noch mal von ihr fern.« Er wußte sofort, daß seine Reaktion zu heftig gewesen war. »Manchmal liegt es einfach nicht in meiner Hand, Junior«, flötete Deker. Junior beobachtete, wie der dämliche, verlogene, geile Arsch zum Tee schlenderte und einen herrlichen Abschlag hinlegte. Er angelte einen original Titleist-Schläger aus seiner Tasche und unterzog ihn einer eingehenden Inspektion. Deker ging hinter den anderen her am Fairway entlang, zweifellos ganz in Gedanken an seinen nächsten Schlag. Junior setzte den Ball aufs Tee. Die anderen drehten sich um, um zuzusehen. Grinsend winkte er ihnen zu. Nach einem schnellen, verstohlenen Blick zum Fairway holte er zu einem gewaltigen Schlag aus. Eine halbe Sekunde später hörte er Moosejaws Schrei – doch es war Deker, der, die Hände auf seinen Schritt gepreßt, auf dem Rasen zusammenbrach. Junior setzte eine besorgt-erschrockene Miene auf und murmelte: »Du sollst deine Kameraden niemals im Stich lassen«, während er auf den verletzten Deker zueilte. »Eine Monette hat angerufen«, verkündete Esther, als er vom Golfplatz nach Hause kam. Sie bügelte, mit wahrhaft religiösem Eifer diesmal; es roch ein wenig angesengt. Auf dem Bügelbrett lag sein cremefarbener, direkt aus New York eingeflogener Paul-StuartAnzug, den sie für ihn geändert hatte: die Taille enger gemacht, die Hosenbeine umgenäht, die Ärmel ausgelassen. Kissy würde er an diesem Abend nicht mehr treffen, er hatte seine Junggesellenparty. Braut und Bräutigam durften sich traditionsgemäß vor der Hochzeit nicht sehen, ein Brauch, den vermutlich die Frauen erfunden hatten, um von den Männern ungestört herumfuhrwerken zu können. »Ach«, gab er zurück und kam sich vor wie ein Esel. »Sie behauptet, eine ehemalige Freundin von dir zu sein.« Das Bügeleisen krachte auf den Stoff. »Sie wünscht dir alles Gute. Ich habe ihr gesagt, sie soll nicht wieder anrufen. So ein Luder.«
»Danke, Mom«, sagte Junior kleinlaut. »Manchmal bist du wirklich ein unglaublicher Esel!« Das Bügeleisen stieg in die Luft. »Aber Gott sei Dank weiß Kissy das und will dich trotzdem heiraten. Und ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, daß du es noch einmal vermasselst, Mr. Großkotz. Sie und dieses Kind sind deine beste Chance, dich endlich wie ein Mann zu benehmen. Du hast deinen Spaß gehabt. Du bist alt genug, um das Sagen über deinen Piephahn zu haben statt anders herum.« Erbarmungslos knallte das Eisen herunter. »Du hast ja Recht, Mom«, pflichtete Junior ihr hastig bei. Angesichts ihres grimmigen Gesichtsausdrucks wagte er nicht einmal daran zu denken, was das Bügeleisen alles anrichten konnte, sofern er ihr auch nur den geringsten Anlaß zum Streiten gab. Albtraumhafte Bilder von bügeleisenförmigen Aussparungen in seiner kostbaren Leinenhose, durch die auf dem Weg durch die Kirchenbänke seine Boxershorts hindurchblitzten, geisterten an seinem inneren Auge vorbei. Vorsichtig schlängelte er sich hinter ihr durch. »Ich sollte jetzt duschen.« Sie schnupperte vernehmlich. »›Sollte‹ ist genau das richtige Wort.« »TORHÜTER HEIRATET NEWS-FOTOGRAFIN.« Die zu der Schlagzeile gehörende Aufnahme zeigte das frisch getraute Paar beim Verlassen der Campus-Kapelle. Kissys Weiß bestand nicht aus konventionellem Satin, besetzt mit Spitze, sondern aus einem indischen Sari, unter dem sie Leggins trug, außerdem fehlte der klassische Schleier. Clootie in seinem weißen Leinenanzug über dem offenen weißen Hemd und der weißen Fliege, die er in die Brusttasche des ebenfalls offenen Jacketts gestopft hatte, sah aus, als hätte er soeben die erste Heilige Kommunion absolviert. Beide, Braut und Bräutigam, trugen knöchelhohe weiße Turnschuhe. Die Braut habe sich selbst zum Altar geführt, stand in der Zeitung, Trauzeuge des Bräutigams sei dessen Bruder Mark, Trauzeugin der Braut seine Schwester Bernie gewesen. Außer dem Bruder des Bräutigams und einigen anderen derzeitigen und ehemaligen Spectres, hätten sich eine Reihe Eishockeyprofis unter den Hochzeitsgästen befunden, darunter der russische Überläufer Evgenny Bezymyanny, alias ›Der Kommissar‹, alias Deker. Der Hochzeitsempfang werde im Haus der Braut abgehalten.
Unter Verwendung des euphemistischen Ausdrucks ›Collegeliebe‹ wärmte die Zeitung die sattsam bekannte Geschichte des Pärchens auf. Der Abbruch der Beziehung, rief die News jedem in Erinnerung, dem dieses Detail möglicherweise entfallen war, sei für Clooties Saufgelage verantwortlich gewesen, das ihn veranlaßt hatte, erst aus Versehen den eigenen Hund zu töten und anschließend nach wilder Verfolgungsjagd hinter Schloß und Riegel zu landen. Des Weiteren wies die Zeitung den Leser daraufhin, daß Clooties Eishockeykarriere vermutlich ein jähes Ende aufgrund des Zwischenfalls gefunden hätte, wären die Instanzen der Justiz nicht überaus entgegenkommend gewesen. Die letzte Zeile des Artikels lautete: »Das Paar erwartet jeden Moment sein erstes Kind.« Schnaubend knallte Burke die Zeitung auf seinen Schreibtisch. Vermutlich sollte er sich jetzt für Kissy freuen, da Clootie ihrem Kind einen ehelichen Status verschaffte. Wahrscheinlich war es sogar ausgesprochen clever von ihr, einen Kerl zu heiraten, bei dem sich die Scheidung wenigstens lohnte. Die Leute waren so unglaublich naiv. Er beschloß, Pearce suchen zu gehen und herauszufinden, ob genügend Geld vorhanden war, um eine bürointerne Wette zu der Frage zu starten, wie lange die Ehe wohl halten würden. Junior sah auf das winzige runde Gesicht hinab, dessen Augen, Nase und Mund nicht viel ausgeprägter waren als die eines Lebkuchenmanns – ungebacken natürlich, wie blasser weicher Teig auf dem Backpapier –, und umspannte den kleinen Kopf mit seiner Hand. Blinzelnd und mit gummiartigen Mundbewegungen, als versuche sie ihm etwas zu sagen, schnappte seine kleine Tochter nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihre winzigen Hände griffen ungezielt ins Leere. Sie war unglaublich real und wirkte doch noch nicht ganz wie ein Mensch. Das winzige, pulsierende Leben in seiner Hand versetzte Junior in Begeisterung und machte ihm gleichzeitig Angst. Da preßte sie plötzlich die Lippen zusammen und verzog sie tatsächlich zu einem kaum merklichen, ironischen Lächeln. Ganz bestimmt, sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Gelächter ausbrechen. Junior stieß ein lautes, entzücktes Lachen aus, woraufhin ein kleiner Arm ruckartig in die Luft schnellte und eine winzige Hand sich wie zur Begrüßung zur Faust ballte. »Zeigen Sie sie ihrer Mom«, sagte eine Stimme.
Kissy fühlte sich wie eine leere Hülse. Sie war erschöpft und vollkommen ausgepumpt, dazu über und über mit Schweiß und Blut bedeckt. Sie hatte geschuftet wie ein Tier, sich fast bis zum Schluß auf den Beinen gehalten und sich dabei zunächst an ihn gelehnt, die geballten Fäuste gegen seine Brust gepreßt, dann hemmungslos auf ihn eingedroschen. Ihn hatte das Ganze an die linkischen Handgemenge auf dem Eis erinnert, bei denen die Oberkörper zweier Spieler verbissen miteinander rangen, während die Beine ihre unteren Hälften in entgegengesetzte Richtungen zogen. Er hatte nicht das Geringste zu ihrem Kampf beitragen können. Es war ganz allein Kissy gewesen, die das Baby aus ihrem Leib hatte befördern und die Qualen erdulden müssen – und nicht einmal sie hatte nennenswerten Einfluß auf das gehabt, was mit ihrem Körper geschah. Brutal, gewaltsam, gnadenlos – wie ein wildes Tier hatte sich das Kind seinen Weg ans Licht der Welt gebahnt. Fast automatisch hatte sich ihm der Vergleich mit dem Brustkorbsprenger aus dem Film Alien aufgedrängt. Die Lider über Kissys glasigen Augen flatterten leicht. Eine Krankenschwester half ihm, das Baby auf ihre Brust zu legen. »Hallo, Mom!«, dröhnte sie dabei mit fester, lauter Jetzt-stell-dichnicht-so-an-Stimme. »Sie haben ein Mädchen!« Man hatte es ihr schon einmal gesagt, aber sie war vollkommen apathisch gewesen. Sie war müde, sie fror – sie zitterte – , als Junior ihr das Kind in den Arm legte. Es war winzig klein und wog beinah nichts und sie fühlte sich nicht besonders mit ihm verbunden. Es interessierte sie nicht einmal sehr. Alles, was sie wollte, war endlich schlafen, aber da war dieses Baby – viel zu klein und viel zu ruhig, um all diesen Ärger verursacht zu haben. Sein Kopf war mit dicken schwarzen Haaren bedeckt, die von zwei asymmetrischen Wirbeln ausgingen, der eine am Hinterkopf, der andere über der Stirn. Die winzigen Hände ballten sich zusammen, die kleinen Gliedmaßen zuckten von Zeit zu Zeit. Die Haut war fleckig und wie mit Wachs überzogen. Mit einem Ohr stimmte etwas nicht. Kissy faßte es behutsam an. Es war nach innen geklappt. Vorsichtig spreizte sie es ab, doch als sie wieder losließ, schnellte es in seine Ausgangsposition zurück. Sie fragte sich, ob es vielleicht gebrochen sei und wieder repariert werden könne. Es war das schwerste Stück Arbeit gewesen, das sie in ihrem Leben geleistet hatte. Gefangen in einem Meer aus intensivem Schmerz und
unbeschreiblicher Anstrengung, hatte sie sich irgendwie betrogen gefühlt. Keiner hatte auch nur mit einem Wort erwähnt, daß es sie so viel kosten würde. Das Klappohr-Baby war ihr egal, genau wie die Tatsache, daß sie keinerlei Muttergefühle dafür empfand. Sie wollte nur noch in Ruhe gelassen werden und schlafen. Ihre Augen fielen zu. Mühsam kämpfte sie sich aus einem Schlaf, der sich über sie gesenkt hatte wie ein Sargdeckel aus Glas. Staubiges Sommerlicht strömte durch die Fensterwand in das Krankenzimmer hinein. Sie hatte das Gefühl, durch ein Aquarium zu treiben. Das gleißend helle Licht versengte ihre Lungenflügel, die Gedanken in ihrem Kopf waren wie glitschige Fischchen, die sie nicht zu fassen bekam. Als sie zum ersten Mal zu sich gekommen war, hatte Junior schlafend in einem Sessel gehangen. Der Sonnenschein hatte ein Viertel seines Gesichts unkenntlich gemacht und über den Rest scharfe Schatten geworfen, so daß seine Bartstoppeln, Wimpern und Augenbrauen wie mit Gold übergossen gewesen waren. Während sie langsam an die Oberfläche ihres Bewußtseins stieg, rechnete sie halb damit, sein Gesicht an derselben Stelle wiederzufinden, so unbekümmert und losgelöst wie ein Stern am Firmament. Jemand betrat den Raum. Das schien hier üblich zu sein, meistens klopften sie nicht einmal an. Sie kamen herein und hantierten herum – leerten den Mülleimer, wischten die Toilette ab, inspizierten sie oder das Baby. Manchmal kam Besuch, manchmal kam Junior. Er ging jedes Mal schnurstracks zum Kinderbett, um dessen Inhalt zu betrachten wie ein kleiner Junge das Schaufenster einer Tierhandlung, das voller Kätzchen war. Doch diesmal beugte sich nicht Junior über den länglichen Kasten. Kissy blinzelte, rieb sich die Augen und stützte sich mit klopfendem Herzen auf den Ellbogen ab. Es war ihre Mutter. »Mom!« Cait hob den Blick. »Sie ist entzückend.« Kissy glitt vom Bett, um nach dem Baby zu sehen. Es lag auf dem Bauch und schlief wie ein Murmeltier. Das Ohr war völlig normal, wie schon die ganze Zeit. Es hatte sich lediglich auf dem Weg durch den Geburtskanal verklemmt. Das Neugeborene war eindeutig weiblich. Es gehörte zu den wenigen Säuglingen, deren Geschlecht man
erkennen konnte, auch ohne die Windel zu öffnen. Es hatte wunderschön geformte Hände mit langen Fingern. Das Gesicht war nicht verquollen, der Körper feingliedrig und zart. Die Haut hatte keine Flecken mehr und war auch nicht mit dem Ausschlag und den Pikkelchen bedeckt, die Kissy bei den anderen Babys auf der Entbindungsstation aufgefallen waren. Sie nahm die Kleine hoch. Dicke Löckchen kräuselten sich auf ihrem Kopf. Esther Clootie meinte, genauso hätte Junior als Kind ausgesehen. Kissy hatte bereits die ersten Fotos gemacht und eins davon an ihren Vater geschickt, obwohl er in keinster Weise auf die Bekanntgabe ihrer Heiratsabsichten geantwortet hatte. Dem damaligen Brief hatte sie ein Bild von sich und Junior beigelegt. »Dynah«, gurrte sie sanft. »Nach Juniors Mannschaft?«, fragte Caitlin amüsiert. »Nein. Ich finde den Namen einfach schön.« »Sie sieht genauso aus wie du.« Kissy nahm das Baby mit ins Bett. Ihre Brüste taten weh. Sie hoffte, Dynah würde bald aufwachen und sich ein weiteres Mal im Milchsaugen üben. Bisher klappte es für keine von ihnen beiden besonders gut. Kissy war wund, Dynah hungrig. Jetzt wurde sie unruhig. Kissy knöpfte ihren Still-BH auf. Cait sank in einen Sessel, um zuzuschauen. »Ich wußte nicht recht, was ich davon halten soll, plötzlich Oma zu sein.« Dynahs Mund suchte Kissys Brustwarze. Kurz darauf stieß sie ein schwaches Wimmern aus und packte zu. Kissy zuckte zusammen. »Wie fühlt Noah sich denn so als Onkel?« »Mit fünf Jahren?« Cait lachte. »Er findet es furchtbar lustig.« Noah fand nahezu alles lustig. Er war sehr gescheit und besaß die Selbstgenügsamkeit eines Kindes, das von seiner viel beschäftigten, ihn aber dennoch vergötternden Mutter oft vernachlässigt wurde. »Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen«, fuhr Cait fort. »Du warst schon so früh ganz auf dich gestellt, und ich mußte immer wieder denken, wenn ich Noah damals nicht bekommen hätte…« »Du wolltest ihn doch. Und er ist ein großartiger Bursche. Es stimmt, die Tatsache, daß du auf eigene Faust ein Kind gekriegt und großgezogen hast, hatte einen gewissen Einfluß auf mich, aber jetzt bin ich nicht mehr allein, Mom. Ich habe geheiratet.« »In letzter Sekunde.« Cait lachte.
Kissy sah ihrer Mutter in die Augen. Noah war von einem wesentlich jüngeren Mann, der sich längst aus dem Staub gemacht hatte. Kissy hatte den Eindruck, daß die Scheidung von ihrem Vater Caitlin dazu verholfen hatte, sie selbst zu werden, und dieses Selbst entsprach einer vollkommen anderen Frau als Ken Mellors Eheweib. Sie war sowohl in künstlerischer als auch in persönlicher Hinsicht regelrecht aufgeblüht. »Du räumst uns keine allzu großen Chancen ein, was?« Ihre Mutter lächelte. »Ich weiß, daß du es nicht tust, und ich nehme an, zum Teil sind dein Vater und ich daran schuld. Ich kann verstehen, was du an ihm findest, Baby« – sie mußte selbst über das Kosewort lachen – »und ich verstehe auch die Probleme, die damit verbunden sind.« Sie zuckte mit den Achseln. »Alles, was du tun kannst, ist, dein Blatt auszuspielen. Du hast ein entzückendes Baby, egal was geschieht.« \ 20 [ Daß Bernie schluchzend in ihren Armen lag, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Für Bernie war sie eine Art Große-SchwesterErsatz. Indem sie das Mädchen tröstete, tröstete Kissy im Grunde genommen ihr eigenes gekränktes, panisches, fünfzehn Jahre altes Ich. »Es ist nicht das Ende der Welt, Schatz«, murmelte sie besänftigend, während sie Bernie über die Haare strich und ihr, wie bei Dynah, die Kopfhaut massierte. Draußen tuckerte ein Motorboot über den See, begleitet vom Kreischen und Geschrei Wasserski laufender Kinder. Kissy, die mit Bernie auf dem Schoß in einem Schaukelstuhl saß, warf einen Blick auf den Laufstall an ihrer Seite. Mit dem ungläubigen Staunen eines Säuglings starrte Dynah zu dem Mobile aus Märchenfiguren empor, das Caitlin aus leuchtend bunten Stoffetzen für sie gemacht hatte. »Ist es wohl«, flüsterte Bernie. Ein Hartwerden von Kissys Brüsten kündigte an, daß der Milchfluß begann. Sanft tätschelte sie Bernies Schultern und versetzte ihr einen aufmunternden Stoß. Schniefend richtete sich das Mädchen auf. »Du hältst mich bestimmt für total bescheuert.«
Kissy lachte. »Ausgerechnet ich? Ich sitze schließlich im Glashaus, meine Süße.« »Ausweichen!«, brüllte Junior den fünf glücklosen SommerlagerSpielern zu, die hilflos über das Parkett rutschten. Das Problem war ein Mädchen namens Fiona, die als Einzige echtes Talent bewies, dafür aber weniger Selbstvertrauen als alle zusammen besaß. Sie warf ihre wild rudernden Arme einem schwerfälligen Jungen ins Gesicht, was der Gegenmannschaft einen Punkt einbrachte. Während die anderen ziellos herumirrten, rutschte Fiona aus und landete unsanft auf dem Hintern. Die gegnerische Flanke fing den Ball ab und erkämpfte sich ein Rebound. »Mist!«, zischte Junior. Er formte mit den Händen ein T, doch im selben Moment fiel ihm ein, daß er keine Auszeit mehr nehmen konnte. Der Schiedsrichter wirbelte herum und erteilte ihm einen Verweis wegen Regelverstoß. Nachdem die Gegenmannschaft vier Punkte Vorsprung hatte und nur noch achtzehn Sekunden zu spielen waren, gab es für diese Horde Unglücksraben keinerlei Hoffnungen auf ein Wunder mehr. Der Shooter verschenkte ein paar Gratispunkte, achtzehn entmutigende Sekunden schlichen dahin, dann war es vorbei. »Meine Schuld«, erklärte Junior seiner Mannschaft. Aus lauter Erleichterung, daß das Spiel endlich zu Ende war und sie nicht gerade in verheerendem Ausmaß verloren hatten, waren die Spieler weitaus weniger enttäuscht als er. Die kleinen Idioten hielten ihn immer noch für Gott. Er verdrängte die eigene Niedergeschlagenheit und zählte so viele positive Dinge auf, wie ihm nur einfallen wollten, quatschte lauter dummes Zeug. Dann ging er ins Büro, um weitere sechs Stunden auf seinem Sozialstundenkonto zu streichen. Über den Sommer hatten sie ein kleines Dreizimmer-Ferienhaus an einem See vierzig Minuten entfernt von Peltry gemietet. Für ihn bedeutete das eine Menge Fahrerei, aber die Ruhe und die angenehm kühle Luft waren den Aufwand wert. Kissy lag mit Dynah auf dem Bauch auf der Bettcouch, die auf der überdachten Veranda stand, und schlief. Das Baby sah Kissy so ähnlich, daß es beinah geklont zu sein schien. Mutter und Kind legten sich häufig zusammen hin, als hätten
sie sich immer noch nicht ganz von den Strapazen der Geburt erholt. Schlafen, aufwachen, stillen, baden, wieder schlafen. Seine Mutter hatte ihm versichert, genau so solle es sein. Eine Woche lang hatten sie Kissys Mutter und ihren Halbbruder Noah bei sich gehabt. Mit der ziemlich unkonventionellen Caitlin war leicht auszukommen gewesen, außerdem hatte sie ihm eine beruhigende Prognose hinsichtlich Kissys späteren Aussehens geliefert. Der Junge hatte sich als genau das entpuppt, was man von ihm zu sein erwartete: ein kleiner Irrer. Um ihm zu etwas mehr Ausgeglichenheit zu verhelfen, hatte Junior ihn zur Sowerwine mitgenommen und zum ersten Mal in seinem Leben mit Schlittschuhen an den Füßen aufs Eis gestellt. Noah hatte dermaßen großen Enthusiasmus an den Tag gelegt, daß Junior überzeugt war, ihn davon abgehalten zu haben, in zwei oder drei Jahren die klassische Laufbahn eines Serienkillers einzuschlagen. Er schlich zum Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen. Seine Ambitionen für den Abend waren bescheiden und rein häuslicher Natur: mit Dynah auf der Veranda sitzen, vielleicht noch ein oder zwei Bierchen trinken und dabei das Handballspiel im Radio hören. Sie schien es zu mögen, mit dem Bauch nach unten über seinem Oberschenkel zu hängen. Später dann vielleicht noch ein bißchen privaten Spaß mit Kissy. Mitten in diesen Gedanken entdeckte er unter dem Verschluß der vordersten Bierdose einen Zettel. »Spenser zurückrufen«, stand darauf, mit der Telefonnummer seines Agenten, die er längst auswendig wußte. Mit dem Bier in der Hand ging er zu Telefon. Es läutete nur einmal. »Na, mein Junge?«, sagte Spenser herzlich. »Endlich meldest du dich.« »Was liegt an?«, fragte Junior. »Du! Sie haben Mickelson verkauft. Was hältst du davon, der Mann in Denver zu sein?« Junior holte tief Luft. »Und die Bezahlung?« »Zweihundertfünfundzwanzig plus Spesen. Ein guter Deal.« Besser ein Außenseiterclub als der, bei dem er in der vergangenen Saison gelandet war. Wenn er das Angebot ausschlug, würde er sich gegen Mindestlohn in Dry River wiederfinden – oder in Allentown. Aussichten, die ihn nicht gerade reizten.
»Ich möchte wirklich nicht undankbar sein«, sagte er, »aber ich habe inzwischen Frau und Kind…« »Wie Gott und die Welt«, erwiderte sein Agent. »Frau und Kind ist fantastisch. Das Management mag Frauen und Kinder. Sind gut für die Motivation. Leistung ist alles, hey.« Eine verschlafen blinzelnde Kissy erschien mit dem Baby auf dem Arm in der Wohnzimmertür. Junior streckte die Hand nach ihr aus, hängte ein und legte einen Arm um sie, nachdem sie zu ihm gekommen war. »Denver. Zweifünfundzwanzig.« Ihre Augen wurden groß. Er packte sie und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuß, dann sprach er mit ihr das Pro und Contra durch. Die Contras hatten sie bereits hinter sich. Nickend legte Kissy ihm Dynah in den Arm, um Makkaronisalat und Eistee aus dem Kühlschrank zu holen. »Eins geht schon«, sagte Junior, während er für sie auch ein Bier herausnahm. Ihre Mutter hatte behauptet, ein Bier täte ihr sogar gut, und auch Esther war Caitlins Meinung gewesen, aber Kissy zögerte trotzdem. Für jemanden, der vor kurzem nicht einmal sicher gewesen war, ob er das Baby behalten wollte, war sie eine äußerst gewissenhafte Mutter. Sie war so sehr auf Dynah konzentriert, daß nur wenig Energie für andere Dinge blieb. Oder andere Menschen. Menschen wie ihn. »Du mußt ja nicht austrinken. Nur ein Schlückchen zum Feiern.« Er wußte, daß sie Peltry nicht verlassen wollte, aber es war die Chance seines Lebens, außerdem strahlte sie ihn an, nahm widerspruchslos das Bier entgegen, lachte und ließ sich von ihm umarmen. Eigentlich sollte es Champagner sein, dachte er, änderte dann aber seine Meinung. Nein, genau so war es goldrichtig. Den Mund voller Nudeln, fragte er erstaunt: »Ist das Moms Makkaronisalat?« »Ihr Rezept. Bernie hat ihn gemacht. Sie ist heute ziemlich lang hier gewesen.« Kissy schob den Salat auf ihrem Teller herum und nahm ihn schließlich mit einem sonderbar ironischen Blick ins Visier. »Es gibt da etwas, das du wissen solltest. Sie ist schwanger.« Junior hustete den Inhalt seines Mundes auf den Teller. »Mom?«
»Natürlich nicht. Sie ist im Wechsel, ich dachte, das wüßtest du. Bernie ist schwanger. Der Golfball konnte deinen Kumpel offenbar nicht ausreichend bremsen.« »Deker? Komm schon, Kissy, das ist unmöglich! Seine Eier haben wie Pflaumen ausgesehen. Er mußte das ganze Wochenende Eispakkungen drauflegen.« »Wohl doch nicht das ganze.« »Ich glaub’s einfach nicht!« Junior stöhnte. »Bernie und schwanger? Ist sie sicher? Meine Güte, sie ist doch noch ein Kind! Es muß jemand anders gewesen sein.« Kissy zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst… Jedenfalls ist sie schwanger.« »Und sie behauptet, von Deker? Keine Chance, Baby, er kann’s nicht gewesen sein! Was bringt sie dazu, so was zu sagen? Wer immer es war, ich bring den Kerl um. Die Kosten für die Ausschabung übernehme ich selbstverständlich. Mom und Dad brauchen nichts davon zu erfahren.« »Sie ist wild entschlossen, es zu bekommen, Junior…« »Ach, Scheiße, das ist doch verrückt! Sie ist viel zu jung, um ein Kind…« Er brach ab. »Mom wird durchdrehen, weil wir sie auf die Idee gebracht haben.« Wieder zuckte Kissy mit den Schultern. »Womöglich liegt sie damit gar nicht so falsch.« »Ach komm, das ist doch ein Unterschied. Schließlich sind wir keine Teenager mehr. Weiß Bernie über dich Bescheid? Ich meine damals, als du fünfzehn warst…« »Nein, natürlich nicht.« »Mann. So ein Mist.« Es wäre eine prima Gelegenheit gewesen, und jetzt war alles den Bach hinunter, einfach so. Sechs Wochen, hatte der Arzt ihnen geraten. Dynah war mittlerweile sieben Wochen alt und er hatte eigentlich keinen Grund zur Klage. Kissy hatte sich seiner angenommen, wenn er liebestoll geworden war, und ihn glücklich gemacht, obwohl für sie selbst nicht mehr als ein bißchen Knutschen und Knuddeln dabei rausgesprungen war. Die Neuigkeit seines Agenten hätte den idealen Vortakt zu einem wohlverdienten, altmodischen ehelichen Geschlechtsakt abgegeben. Und jetzt brütete Kissy appetitlos über ihrem Abendessen, das wichtig war, um das Baby zu stillen; beide regten sie sich über Bernie und
irgend jemands Steifen auf, der die Wurzel allen Übels war; beide dachten daran, daß Bernie gerade erst auf die sechzehn zuging, beide dachten an Kissys Geschichte. Alles zusammen sorgte dafür, daß auch bei ihm die Luft raus war. Er stand auf und ging zu ihr, um ihren Nacken zu massieren. Wie immer spürte er, wie sie sich entspannte, sich ihm vertrauensvoll hingab. Nach einer Weile schaute sie lächelnd zu ihm hoch und sie gaben sich einen zärtlichen Kuß. Sie sagte: »Iß deine Nudeln.« Er nahm ihre Gabel, wickelte ihre Finger darum und erwiderte: »Ich esse, wenn du ißt«, was sie zum Lachen brachte. Im Grunde war alles in Ordnung. Das mit Bernie würden sie schon irgendwie in den Griff kriegen. Die Vorstellung, daß seine kleine Schwester schwanger war, war nur ein ziemlicher Schock. Er nahm ihr das Bier aus der Hand und beschloß im selben Moment, sich am Riemen zu reißen. Gelegentlich gestattete er sich die eine oder andere sexuelle Fantasie. Es half gegen die Nervosität. Er hatte Angst, daß das Baby sie verändert haben könnte. Ihm war die Geburt schon brutal genug vorgekommen und er hatte schließlich nur zugesehen. Er war nicht einmal sicher, ob er vor dem entscheidenden Stoß nicht plötzlich schlappmachen würde. Er warf ihr so lange verstohlene Blicke zu, bis sie ihn erwischte. Sie mußten beide kichern. Ihre Augen waren wie der See, wenn der Wind seine Oberfläche kräuselte und das Sonnenlicht darauf wie tanzende Diamantsplitter aussah. Es gab nichts Schöneres als die Liebe, dachte Junior; er war so verdammt glücklich. Sogar das Chaos mit Bernie schien kein unlösbares Problem mehr zu sein. »Hallo Eugenie«, begrüßte er Deker, der es sich bereits mit einigen Mädchen in der Hotelbar bequem gemacht hatte. Junior, erst vor ungefähr einer halben Stunde nach dreitägiger Marathonfahrt mit dem Saab eingetroffen, hatte sonst noch keine Menschenseele gesehen. »Hallo Hoot!«, krähte der Russe fröhlich zurück. Bis zu seinem Anblick war Juniors Stimmung geradezu euphorisch gewesen – endlich von der Straße runter und voller Vorfreude auf die kommende Saison. In diesem Jahr war alles anders, besser, und das nicht zuletzt, weil Kissy mitkam. Zwar mußte er auf dem freien Platz erst einmal sein Können beweisen, aber er war schon ganz heiß auf
den Kampfund das Gefühl von Eis unter den Kufen, das ihn an Wellenreiten erinnerte und unglaubliche Kräfte in ihm weckten. Es gab nicht viel, was so befriedigend war. »Das Bier geht auf meine Kappe«, verkündete Deker. »Na, vielleicht noch ein bißchen mehr«, meinte Junior, während er ihm einen bleischweren Arm um die Schultern legte. »Bernie läßt grüßen.« Deker lachte. Ein Lachen, das Junior nicht zum ersten Mal hörte. Der Arsch war ausgesprochen zufrieden mit sich, kein Zweifel. Junior wies mit dem Kopf auf die Herrentoilette. »Komm mit für kleine Jungs, ich muß dir was zeigen.« Er hielt sich die Handknöchel vor die Nase und schniefte. Dekers Augen begannen schlagartig zu leuchten. Er versprach seinen Verehrerinnen, in Kürze zurück zu sein, trabte hinter Junior her und sagte: »Mony wartet schon sehnsüchtig auf dich.« »Aber ich nicht auf sie.« Junior schob Deker durch die Tür, die sich mit asthmatischem Keuchen hinter ihnen schloß. Außer ihnen waren noch zwei weitere Typen da: Einer strullte ins Urinbecken, der andere hockte in einer der Kabinen. Wieder legte Junior dem Russen freundschaftlich einen Arm um die Schultern, als wolle er ihm ein Geheimnis zuflüstern oder ihm eine staubige Phiole mit am Verschluß befestigtem Löffelchen zustecken. »Bernie bekommt einen Jungen«, wisperte er vertraulich, woraufhin Deker große Augen machte und entzückt die Mundwinkel hob. Im selben Moment wurde Juniors Arm zur eisernen Klammer um Dekers Hals, dann stieß er dem Russen seine Faust ins Gesicht. Dekers Reflexe waren ebenso gut ausgebildet wie Juniors, doch der Schock, den ihm der unerwartete Armschlüssel über seiner Luftröhre versetzt hatte, zusammen mit der Tatsache, daß Junior einfach am längeren Hebel saß, ließ ihn reglos erstarren und auch den zweiten und dritten Hieb widerstandslos über sich ergehen. Zur Krönung stieß Junior ihm noch ein Knie zwischen die Beine, und Deker machte mit einem schwachen, gurgelnden Protestlaut in seinen Armen schlapp. Das alles geschah so schnell, daß der Typ am Urinbecken nicht mehr herausbekam als ein verdattertes: »He…« Junior ließ Deker fallen. »Ich habe gelogen. Sie weiß nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, aber dich wird’s jedenfalls eine Million Mäuse kosten und vielleicht sogar eine kleine Operation an
deinen Geschlechtsteilen, wenn ich noch etwas länger darüber nachdenke.« Verbissen an seinem Reißverschluß fummelnd, machte der Typ vom Urinbecken sich hastig davon. Sein Kollege in der Kabine war sehr still. Deker lag zusammengekrümmt auf dem Boden, die Hände zwischen die Beine gepreßt. Junior ging hinaus. Seine Knöchel brannten wie Feuer. Mittlerweile waren vier weitere Mitglieder seines Teams eingetroffen, darunter auch Moosejaw, und kümmerten sich einstweilen um Dekers Mädchen. Junior bestellte an der Bar ein Bier und behielt die Toilettentür im Auge. Schließlich kam Deker mit aschfahlem Gesicht und schlotternden Gliedern heraus. Die Mädchen schnappten entsetzt nach Luft und eilten ihm zu Hilfe. »Was zum Teufel…?«, fragte Moosejaw verblüfft. Dekers Anblick war eine Katastrophe: die Augen verschwollen, die Nase über das ganze Gesicht verteilt, die Lippen aufgeplatzt. Was von seinen Augen noch sichtbar war, verriet Angst, Schmerz und Fassungslosigkeit. Als er Junior an der Bar entdeckte, blieb er wie erstarrt stehen. »Einen doppelten Brandy für meinen Freund«, sagte Junior zum Barkeeper, der seinen Blick nicht von Deker losreißen konnte. »Scheint über den eigenen Schwanz gestolpert und mit dem Kopf ins Urinbecken geknallt zu sein.« Moosejaws Augen wanderten zu Juniors Knöcheln. »Wußte gar nicht, daß du jetzt Urinbecken heißt.« Junior lachte nicht. Genauso wenig wie Moosejaw, der Deker hastig hinausbrachte. Deker lag mit einem Eisbeutel auf dem Gesicht auf seinem Bett und sagte zu Junior, ohne ihn wegzunehmen: »Ich tue, was du von mir verlangst, wenn der Bluttest stimmt.« Wegen des Eisbeutels und der Schwellungen waren seine Worte kaum zu verstehen. »Es ist überhaupt nicht nötig, so gemein zu mir zu sein. Ab sofort sind wir keine Freunde mehr, Hoot. Und jetzt hau ab.« Dieser Tonfall des zu Unrecht Gekränkten brachte Junior erneut auf die Palme. Im Grunde war er nur vorbeigekommen, um Deker zu sagen, daß sie ihre Differenzen untereinander regeln mußten und sie
nicht auf dem Rücken der Mannschaft austragen konnten. »Wenn du mein Freund gewesen wärst, hättest du deine Finger von meiner Schwester gelassen. Eigentlich sollte ich dich anzeigen, sie ist nämlich noch minderjährig, du Scheißkerl.« »He, he«, schaltete sich Moosejaw ein, »mach mal halblang, Hoot.« »Wir müssen zusammen aufs Eis«, fuhr Junior unbeirrt fort. »Ich will nicht, daß unser privater Mist uns dazwischenfunkt. Du regelst die geschäftliche Seite der Angelegenheit und ich laß dich in Ruhe.« Schweigen. »Er hat Recht«, sagte Moosejaw zu Deker. »Der private Mist darf da wirklich nicht reinfunken. Denk an Kiamos – der hat drei Jahre lang mit demselben Typen auf dem Eis gestanden, der ihm die Frau weggeschnappt hat, und zwar danach. In derselben gottverdammten Linie auch noch.« »Ja ja«, brummte Deker. Er hob den Eisbeutel an, linste zu Junior hoch und meinte mit hörbar verletztem Ehrgefühl: »Eines Tages müßt ihr mir erklären, warum es in Ordnung ist, wenn Hoot jemanden schwängert, aber ein Staatsverbrechen, wenn ich es tu.« »Ich hab’s dir schon mal gesagt, Arschloch…« »Vergiß es«, sagte Moosejaw, während er Junior zur Tür schob. »Das Kind ist bereits in den Brunnen geplumpst. Geh und nimm eine Dusche.« Junior flog nach Peltry, um Kissy, Dynah, Bernie und den Blazer abzuholen. Das in zartbunte Farben getauchte Laub schimmerte feucht im Morgennebel; der Herbst lag in der Luft. Kissy, die ihre Augen starr auf den Fluß gerichtet hielt, war sich dennoch Juniors prüfender Blicke bewußt. Er konnte seine Hochstimmung nur schwer verbergen. Sie hatte Angst, daß alles weg sein könnte, wenn sie sich umsah. Im Nebel verschwunden. Über die Brücke zu fahren weckte jedes Mal Erinnerungen an Ed. Gestern war er noch munter bellend und schwanzwedelnd durch die Gegend gelaufen, heute gab es ihn nicht mehr. Von zurückhaltenden Plänen bezüglich Weihnachten abgesehen, hatte Kissy keine Ahnung, wann sie zurückkommen würde. Es war naiv zu glauben, daß sich während ihrer Abwesenheit lediglich die Farbe der Blätter und die Jahreszeiten ändern sollten. Aus Peltry wegzugehen, dem Ort, an
dem sie den bisher größten Teil ihres Lebens verbracht hatte, machte ihr mehr aus, als sie zugeben wollte, besonders Junior gegenüber. Sie war aufgeregt und nervös, und als sie über die Mid-Dance-Brücke rollten, hatte sich in ihren Achseln scharfer Schweiß gesammelt. Während Junior seine Position bei den Drovers ausgebaut hatte, war sie wieder unterwegs gewesen, um Fotos zu schießen. Mit Dynah im Snuggli vor dem Bauch mußte sie dabei das Gewicht ihrer Ausrüstung berücksichtigen. Statt der normal schweren Hasselblad, die sie sonst benutzte, nahm sie die leichtere, kleinere 35-mmMinolta mit. Das und die Notwendigkeit, sich auf das Nötigste zu beschränken, hatten zur Folge, daß sie plötzlich wieder auf ihre Anfänge zurückgeworfen war. Die Resultate waren nicht nur zufrieden stellend, sie waren phänomenal. Ihre gesamte Konzentration wurde neu gebündelt – eindeutig Dynahs Verdienst. Die Erfahrung von Schwangerschaft, Geburt und dem Dasein als Mutter, der sanfte Druck des warmen kleinen Körpers an ihrem, das alles war Dynahs Geschenk an sie. Bei Kissys letztem Besuch, der nur wenige Tage zurücklag, hatte Ruth unter einem schweren Blaseninfekt gelitten. Es schien ziemlich fragwürdig, ob sie noch lange so würde weitermachen können, dennoch zeigten die Richter sich ebenso unentschlossen wie Ruths Zustand selbst. Es betrübte Kissy, ihr Projekt unvollendet zu lassen, aber vielleicht fehlte auch gar nicht mehr viel oder es sollte eben einfach nicht sein. Sie befand sich in einer alles akzeptierenden Stimmung, nahm das Leben so, wie es kam. Diese Stillhormone verwandelten sie noch in willfähriges Mus. Sie riß ihren Blick los von dem Fluß, von der Skyline von Peltry und studierte Juniors Profil. Seit seiner Rückkehr war er spitz wie ein Matrose. Sie mußte gegen den Verdacht ankämpfen, daß er ihr Theater vorspielte, um zu beweisen, daß er nicht fremdgegangen war, sie nicht wieder anstecken konnte. Das nagende Mißtrauen war wie ein Wurm in ihrem Herzen, der an ihrem gegenwärtigen Leben fraß. Sie fand ihn nach wie vor lustig und einfallsreich, schätzte ihn, liebte ihn, begehrte ihn und wußte genau, daß er Dynah ein liebevoller, geduldiger Vater war. Aber wenn er ihr sagte, er liebe sie, konnte sie ihm nicht glauben.
Das Haus, das Junior für sie aufgetan hatte, lag in einer etwas heruntergekommenen Mittelschichtgegend in einer Kleinstadt nordwestlich von Denver. Es war noch mit den viktorianischen Möbeln der Besitzerin vollgestopft, einer betagten Klavierlehrerin, die fast sechzig Jahre dort gewohnt hatte. Die einzelnen Räume befanden sich nicht auf gleichen Ebenen, sondern schlängelten sich um Ecken und Kurven durchs ganze Haus. Die Küche hatte einen Emaillespülstein, und es gab keine Dusche, nur eine Wanne mit Klauenfüßen im Bad. Zum Mobiliar zählte auch ein uralter einäugiger Kater, für dessen Versorgung es zehn Dollar Mietnachlaß gab. Die Lehrerstochter konnte sich weder dazu durchringen, den Haushalt ihrer Mutter aufzulösen noch das Haus zu verkaufen – vielleicht wollte irgendwann einmal eins ihrer erwachsenen Kinder dort einziehen –, noch hatte sie selbst Platz für die Möbel. Da auch sie Katzen hatte, bereitete ihr das weitere Wohlergehen des guten Samson einige Kopfschmerzen. Der alte Kater war derart räudig und von Arthrose zerfressen, daß er mehr tot als lebendig erschien. Es erleichterte sie sehr, ein nettes junges Paar mit Kind gefunden zu haben, das bereit war, das Haus für ein oder zwei Jahre samt Inventar zu mieten. In einem Raum im rückwärtigen Teil des Erdgeschoßes hatte die Mutter geschlafen, nachdem ihr das Treppensteigen zu viel geworden war. Bernie erwärmte sich auf Anhieb für das Zimmer. Sie blieb während des Erkundungsgangs durch das Haus zurück, um neugierig in den Schrank und aus den Fenstern zu spähen. Als sie durch die schiefen Zimmer des buckligen Häuschens stapften, begann Kissy plötzlich zu lachen. »Wer immer das hier gebaut hat, muß sternhagelvoll gewesen sein.« Gerade als Junior, der vor ihr ging, sie über die Schulter hinweg angrinsen wollte, sprang ihm der Kater zwischen den Beinen hindurch. Während er Halt suchend nach dem Geländer griff, verfluchte er das Tier lautstark. Samson legte die Ohren an, fauchte und machte sich mit einem Tempo und einer Geschmeidigkeit davon, die in krassem Gegensatz zu seinem Alter und seiner scheinbaren Klapprigkeit standen. Oben wie unten, überall gab es Winkel und Erker und winzige Fenster, die teilweise sogar Buntglasscheiben hatten. Waren erst einmal die Katzenhaare mit dem altertümlichen Electrolux der Lehrerin weggesaugt und die Möbel kräftig geschrubbt, würde das Haus mehr
als wohnlich sein, dachte Kissy. Schon jetzt brach sich das Licht an den seltsamen Ecken auf eine Art, die überaus faszinierend war. Im obersten Stock kauerte ein riesiges Messingbett direkt unter dem Dachstuhl. Juniors Finger strichen zärtlich über den geschwungenen Metallrahmen. »Was meinst du – würde Fesseln uns wohl Spaß machen?« Ob sie nun gerade in der Weltgeschichte herumreisten oder nicht, Kissy wußte mittlerweile, daß die Häufigkeit, mit der die Mitglieder eines Clubs untereinander soziale Kontakte pflegten, weitgehend dem persönlichen Geschmack entsprang. Das Leben mit Junior hatte ihr die Gemeinsamkeiten in den Beziehungsmustern von Juniors Mannschaftskollegen und denen einer Soldatenfamilie vor Augen geführt. Manche Spieler arbeiteten zusammen, behielten ansonsten jedoch immer eine gewisse Distanz zueinander. Andere schienen die Uniform nie wirklich abzulegen – sie aßen, tranken und atmeten ausschließlich als Mannschaftsmitglied. Sie erkannte schnell, daß manche Profisportler – wie auch die Angehörigen des Militärs – und ihre Familien, sofern sie welche hatten, sich möglichst nie zu sehr an einen Ort oder einen bestimmten Freundeskreis banden. Andere konnten für die Dauer ihrer Anwesenheit einige oberflächliche Freundschaften aufbauen. Einer Hand voll Glücklichen gelang es tatsächlich, Freunde fürs Leben zu finden, was vielleicht sogar deren Familien einschloß. Es gab eine Reihe von Einführungsveranstaltungen, bei denen sie Gelegenheit hatte, alle anderen Spieler samt eventuellem Anhang sowie einige Verbandsmitglieder kennen zu lernen, doch darüber hinaus hatte sie als Ehefrau mit einem Säugling guten Grund, zu Hause zu bleiben, was sie auch tat. Bernie mußte selbstverständlich noch zur Schule gehen – auf ihren Wunsch hatten sie sich für eine Ordensschule entschieden, an der ausschließlich Mädchen unterrichtet wurden –, stellte für den Rest der Zeit aber eine ausgesprochen angenehme Gesellschaft dar, war geradezu versessen auf Babysitten und half im Haushalt mit. Zu Kissys Verwunderung und stiller Freude schien Junior lieber zu Hause bei ihnen zu sein. »Warum lädst du nicht mal ein paar von deinen Freunden ein?«, schlug sie ihm eines Abends gegen Ende des Trainingscamps vor.
Bei diesen Aussichten hellte sich seine Miene auf. »Du hättest nichts dagegen? Und Deker?« Deker und er spielten problemlos zusammen. Sie sprachen sogar miteinander. Deker behauptete, in Bernie verliebt zu sein und durchaus Interesse an ihrem Wohlergehen wie auch an ihrem Kind zu haben – wenn es wirklich seins war. Bevor sie Bernie mit nach Denver genommen hatten, hatten sie in einem Dreiergespräch geklärt, wie sie damit zurecht kommen würde, Deker über den Weg zu laufen. »Ich bin ja nicht mal in den Typen verknallt«, hatte Bernie gesagt. »Ich war einfach nur bescheuert. Drei-Bier-zu-viel-bescheuert.« Sie meinte, sie wäre nicht scharf darauf, ihn wiederzusehen, aber wenn es sich nicht vermeiden ließe, käme sie schon damit klar. Sie wolle kein Geld von ihm und würde auf den blöden Bluttest pfeifen. Doch als sie hörte, daß Junior ihn verprügelt hatte, wurde sie sauer. Und Dekers Anrufe setzten ihr eindeutig zu. »Was würdest du denn tun?«, fragte sie Kissy verzweifelt. »Ich bin nicht du«, gab Kissy zurück. Da sie auch einmal fünfzehn gewesen war, nahm sie an, daß das, was Bernie bewegte, eine Mischung aus Glücksfantasien, Berechnung und widersprüchlichen Wünschen war. »Wenn du alt genug bist, um Mutter zu sein, mußt du auch die Verantwortung für alles andere übernehmen, was damit zusammenhängt.« In Zukunft nahm Bernie Dekers Anrufe nicht mehr entgegen. »Macht ruhig«, sagte sie zu dem Einfall, ein Fest zu geben. »Wir müssen ihn nicht einladen«, meinte Junior. »Wir sollten kein Problem draus machen. Schließlich arbeitet ihr zusammen.« Nachts kühlte es inzwischen rapide ab, aber die Nachmittage waren immer noch sehr heiß, und so fand die Feier in ihrem kleinen Garten statt. Schon wieder ein Dejâ-vu Erlebnis, dachte Kissy; als sähe sie die Spectres auf ihrem Rasen sitzen. Lediglich das Altersspektrum war weiter gefaßt, außerdem waren auch ein paar Mädchen da. Sie selbst zählte zu einer Hand voll anwesender Ehefrauen, obwohl weitaus mehr als eine Hand voll Männer irgendwo verheiratet waren und einige von ihnen von ihren eigenen Kindern erzählten, während sie Dynah bewunderten. Bernie hielt sich in ihrer Rolle als Mamas Un-
terstützung im Hintergrund. Dennoch wußte natürlich jeder, wer sie war, daß Junior Deker ihretwegen verprügelt hatte und daß sie ein Kind bekam – obwohl man nichts davon merkte, und sie wie eine ganz normale Fünfzehnjährige aussah. Nach ein paar Flaschen Bier löste sich die Befangenheit, die ihre augenscheinliche Jugend hervorgerufen hatte, in Windeseile auf. DeLekkerbek, der Tormann, von dem Junior Kissy ein bißchen erzählt hatte, kam schon betrunken an und ließ sich weiter vollaufen. Alle wirkten erleichtert, als er endlich unter das Klavier kroch und einschlief. Es gab jede Menge Kopfschütteln seinetwegen; jeder wußte – genau wie er selbst – , daß er auf der Abschußliste stand. Die Gäste waren schon im Aufbruch, als Deker erschien. Bernie hatte Dynah schon vor einiger Zeit ins Bett gebracht und sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Vermutlich lag sie halb schlafend auf Kissys und Juniors Bett. Obwohl Mitternacht längst vorbei war, wirkte Deker verdächtig aufgekratzt. Kokain, schätzte Kissy angesichts seiner Ruhelosigkeit und der Art, wie er ständig an seiner Nase rieb. Die beiden Frauen in seiner Begleitung übertrafen ihn noch. Vor lauter Gekicher brachten sie kaum ein Wort heraus. Deker stellte die große als Monette Daniels vor, die andere als Diane Salterton. Zwei wie sie fand man auf jeder Highschool: Sie steckten ständig zusammen, lästerten über alles und jeden, stachelten sich gegenseitig zu noch schlimmerer Hohlköpfigkeit auf. Die Große fixierte Kissy mit Gorgonenblick aus ihren dick getuschten Augen und verzog erheitert-schockiert das Gesicht, wodurch der Schellack darauf zarte Risse bekam, ehe sie den Blick auf Junior heftete. Junior, der reichlich mehr als drei Bier intus hatte, funkelte Deker zornig an und ignorierte die beiden so gründlich, daß er genauso gut ein Geständnis hätte ablegen können. Kissy überlegte einen Moment und grub dann aus dem schmelzenden Eis in der Kühlbox die letzten Bierdosen aus. Während die Frauen um Junior, der wie eine Maus in der Falle aussah, und den Vollidioten Deker herumscharwenzelten, begann sie die Dosen hinter dem Rücken zu schütteln. Nach einer Weile marschierte sie auf das Grüppchen zu, eine Dose einladend in jeder Hand. »Gute Nacht.« Sie sprengte mit den Daumen den Dosenverschluß und beobachtete herzlich lächelnd, wie die beiden Frauen quiekend versuchten, der Biergischt zu entfliehen. Deker nahm es als Scherz.
Kissy überließ Junior das Bier und ging hinein. Dynah lag friedlich schlafend im Bett. Bernie stützte sich auf die Ellbogen und rieb ihre Augen. »Du hast Deker verpaßt«, sagte Kissy. Bernie gähnte. »Der hätte mir gerade noch gefehlt.« Im Moment sah sie wesentlich jünger als fünfzehn aus. Kissy zerzauste ihr Haar. »Ich nehme alles zurück, Schatz. Ich denke, der Kerl ist eine Katastrophe.« Bernie schaute blinzelnd zu ihr hoch; ihre Augen füllten sich mit Tränen. Schnell setzte Kissy sich hin, um sie in den Arm zu nehmen. Das Mädchen heulte sich kräftig aus. Etwas Ähnliches geschah durchschnittlich einmal pro Woche, was man bei einer Fünfzehnjährigen, die schwanger und dreitausend Kilometer weit weg von zu Hause war, wahrscheinlich nicht anders erwarten konnte. Schließlich putzte Bernie sich die Nase, ließ sich ein letztes Mal drücken und tappte nach unten in ihr eigenes Bett. Die letzten Wagentüren schlugen zu, die letzten Motoren heulten auf. Es war still draußen, so still, daß Kissy das Rauschen und Plätschern hören konnte, als Junior seine Blase im Gebüsch neben dem Haus entleerte. Dann fiel die Fliegentür hinter ihm ins Schloß. Er warf den protestierenden Kater hinaus und polterte anschließend im Erdgeschoß herum. Es schien ihm einfach unmöglich zu sein, seinen Weg durchs Haus zu machen, ohne sich Kopf, Knie, Ellbogen oder Zehen zu stoßen – oder auf Samson zu treten, der bei ihm bald nur noch ›Das Drecksvieh‹ hieß. Kein Zweifel, der Kater haßte ihn; er stieg ihm mit unverhüllter Boshaftigkeit nach. Dynah, die kriechend und krabbelnd versuchte, das Mysterium des aufrechten Gangs zu ergründen, fand zunächst riesigen Gefallen daran, sich die ein oder zwei Stufen zwischen den einzelnen Räumen hinabrollen zu lassen, dann, sie auf allen vieren hinaufzuklettern. Sie betrachtete den Kater naturgemäß als besonders faszinierende Variation eines Stofftiers. So gemein Samson zu Junior war, so geduldig ließ er Dynahs gelegentliches Zwicken und Umklammern über sich ergehen. Junior wurde von grauenhaften Albträumen geplagt, in denen der Kater in Dynahs Bettchen sprang und sie erstickte. Mehrfach wies er Kissy daraufhin, daß Katzen im Schmutz wühlende Raubtiere
seien, bei denen sich der Mensch nach einem Kratzer eine Blutvergiftung oder sogar die Katzenseuche holen könne. Täglich untersuchte er das Baby auf Kratzspuren, doch obwohl er keine fand, änderte das an seiner Paranoia nicht das Geringste. Türen wurden zugeschlagen, die Verriegelung des Hintereingangs schnappte ein, dann hörte sie seine schweren Schritte im Treppenhaus. Als er ins Zimmer kam, mied er ihren Blick. »Reizende Leute«, sagte sie. Junior streifte unsanft seine Schuhe ab. »Lag nicht an mir, ich hab sie nicht eingeladen. Sie haben Lek mitgenommen. War nicht leicht, ihn in den Wagen zu kriegen, aber wenigstens ist er jetzt weg.« Kissy stopfte sich die Kissen in den Rücken. »Du hast mit diesen Frauen gefeiert.« So wie sie das Wort ›feiern‹ benutzte, als Codewort, klang es furchtbar sarkastisch. »Es ist keine gute Idee, das ausgerechnet jetzt aufs Tapet zu bringen«, sagte Junior müde. »Ich hab ordentlich getankt, Baby. Ich will nur noch schlafen.« »Du kannst verheiratet sein oder du kannst dich scheiden lassen«, erwiderte Kissy. »Was ich ganz bestimmt nicht sein werde, ist die betrogene Ehefrau.« Er ließ sich auf die Bettkante sinken und schaute sie endlich an. »Ich bin verheiratet. Seitdem wir uns das Eheversprechen gegeben haben, bin ich mit keiner anderen zusammengewesen.« Es war an ihr, ihm zu glauben oder auch nicht. Von einer Woge heftiger Übelkeit erfaßt, drehte sie ihm den Rücken zu. Willkommen im Leben. So würde es also sein. Hinterher war man immer klüger. \ 21 [ »Ist Hoot da?«, fragte die Frauenstimme am Telefon gedehnt. »Nein.« Das höhnische Gelächter am anderen Ende der Leitung echote in Kissys Ohren, als sie den Hörer auflegte. Sofort klingelte es wieder. »Sagen Sie ihm, er soll mich anrufen. Meine Nummer hat er.« »Ich auch«, gab Kissy zurück und hängte zum zweiten Mal ein. Sie kritzelte auf einen Zettel: ›Frau hat angerufen. Sagt, du hättest ihre Nummer.‹ Anschließend schlug sie die Gelben Seiten auf und legte den Zettel bei der Branche ›Anwälte‹ ein.
Bernie schaute erst das Telefonbuch, dann sie neugierig an. »Alles in Ordnung?« »Bloß eine alte Freundin von Junior. Mach dir keine Gedanken.« Bernie nahm Dynah hoch und wirbelte sie durch die Luft. Das Baby quietschte vor Vergnügen. Sie nahm die Kleine zum Spielen mit nach draußen. »Tut mir leid«, sagte Junior, als er nach Hause kam. Er zerknüllte den Zettel und warf ihn weg. Kissy warf einen Blick durchs Küchenfenster in den Hof, wo Bernie Dynah in eine Babyschaukel gesetzt hatte, konzentrierte sich dann wieder ganz auf den Salat. Sie schüttelte die feuchten Kopfsalatblätter ab und warf sie, in kleine Stücke gerissen, in eine Schüssel. »Ich werde unsere Telefonnummer ändern lassen. Entweder du sagst deinen Kumpels, sie sollen sie ihr nicht geben, oder du gibst sie ihnen nicht. Wenn sie noch mal anruft, gehe ich.« Er starrte sie von der Küchentür aus fassungslos an. »Großer Gott – ich hab doch keinen Einfluß darauf, was irgend so ein blödes Miststück tut!« Kissys einzige Antwort bestand in dem sarkastischen Hackgeräusch ihres Messers, während es eine Gurke zerlegte. Er nahm eine Bierflasche aus dem Kühlschrank, machte sie auf und begann gierig zu trinken. »Das ist nicht fair.« »Stimmt.« Die Gurkenscheiben plumpsten in die Schüssel. »Es ist nicht fair, daß ich die Anrufe von irgendeinem blöden Miststück annehmen muß, auf dem du rumgehüpft bist, und es ist nicht fair, daß ich mich gegen Gonorrhö behandeln lassen mußte, weil du eine Nutte gebumst hast.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Sie hörte die Wagentür zufallen und wartete darauf, daß der Motor ansprang, der Gang eingelegt wurde, die Reifen quietschten – aber es blieb still. Statt dessen ging erst die Wagentür, dann die Haustür auf, Schritte hallten durch den Flur und er stand wieder in der Küche, das Bier noch in der Hand. »Mir tut das Ganze wirklich leid. Kein Wunder, daß du sauer bist. Ich versprech dir zu tun, was ich kann, damit es keine Probleme mehr gibt. Aber früher oder später mußt du deine Wut überwinden, Kissy, sonst bricht es uns das Genick.«
Mit zitternder Hand legte sie das Messer weg. Bernie stand mit Dynah auf der Hüfte in der Hintertür. Das Baby gluckste und streckte seine Ärmchen nach Junior aus. Bernie schaute ängstlich zwischen Kissy und Junior hin und her. Junior durchquerte die Küche, um ihr das Baby abzunehmen. Dynah grinste ihr feuchtes, zahnloses Babygrinsen. Auf ihrer Unterlippe glänzte ein Spuckeklecks. Kissy streifte ihn mit dem Finger ab und saugte ihn auf wie Tau. Irgendwann würde das Miststück schon die Lust verlieren und nicht mehr anrufen, dachte er, wenn keine Reaktion von ihm kam. Kissy gegenüber verlor er kein Wort mehr darüber. Statt dessen spürte er Deker auf, der in seinem Porsche vor dem Trainingsgelände saß, und stieg hastig ein. »Mony terrorisiert am Telefon meine Frau«, erklärte er ohne Umschweife. Dekers fröhlicher Gesichtsausdruck schwand. Angst umwölkte seinen Blick. Neuerdings war es ihm sehr wichtig, auf Juniors Seite zu stehen. Nicht etwa weil er fürchtete, wieder geschlagen zu werden – ein Eishockeyspieler, der Angst vor Prügel hatte, konnte gleich einpacken. Aber physische Einschüchterung war eine Sprache, die er automatisch verstand. Er nahm Junior überaus ernst, weil er wußte, daß Junior sich gerade noch so weit beherrscht hatte, ihn nicht umzubringen. Zudem gab es da noch die politische Seite der Angelegenheit, die zwangsläufig gleichbedeutend mit der monetären war. Jeder im Club hatte Riesenantennen dafür, wie Deker zu Junior Clootie stand. »Falls du irgendwelchen Einfluß auf sie hast«, sagte Junior, »überzeug sie davon, daß das nicht komisch ist. Sie muß damit aufhören.« »Na klar«, pflichtete der Russe ihm eifrig bei. »Könnte bloß sein, daß sie nicht auf mich hört. Sie hat ihren eigenen Kopf.« Junior fiel nichts mehr ein, was er noch tun konnte. Er stieg aus dem Wagen und klopfte aufs Dach. »Danke.« Deker hängte den Kopf aus dem Fenster. »Wie geht’s Bernie?« Junior schaute ihn an. Der altbekannte Zorn machte sich in ihm breit. Wahrscheinlich könnte er Deker halb totschlagen und es würde sich nicht das Geringste ändern. Für ihn wäre es lediglich der Preis für sein Eingeständnis, der Preis für seine männliche Natur, oder wie immer er es nennen mochte. Junior rief sich in Erinnerung zurück,
daß Deker im Grunde noch ein Kind war, knapp zwanzig Jahre alt erst. »Schwanger«, sagte er. »Sie fühlt sich immer noch schwanger.« Deker nickte verständnisvoll. »Sie will nicht mit mir reden, Hoot. Ich versuche wirklich, das Richtige zu tun. Moose hat mir einiges klar gemacht. Bernie ist deine Schwester, ich respektiere sie sehr. Sie ist ein nettes Mädchen.« »Herrgott noch mal, Deker, wie hast du’s bloß geschafft, sie zu vögeln, bei der Verfassung, in der du warst?«, brach es aus Junior heraus. Deker lachte, klimperte ein wenig mit den Wimpern und errötete schwach – in einem neuerlichen Eingeständnis seiner Schuld und voller Stolz, noch zum Bumsen imstande gewesen zu sein, obwohl er einen Golfball auf die Eier gekriegt hatte. »Ach«, meinte er bescheiden, »Bernie war wahnsinnig spitz, Hoot, es lag nicht nur an mir…« »Es war dein Schwanz«, stellte Junior fest. Im Gehen wurde ihm plötzlich bewußt, daß er schon ganz wie Kissy klang. Als er am nächsten Tag aus dem Trainingsgelände kam, stand der Wagen des reichen Miststücks neben seinem. Sie saß hinter dem Steuer, neben sich Diane II. Beide hockten rauchend und lachend da, wie zwei Ehefrauen oder Freundinnen, die vollkommen legitim auf irgendwelche Typen warteten. Junior konnte es nicht fassen. Er fluchte, marschierte zu ihrem Silverbird und klopfte ans Fenster. Sie drehte die Scheibe herunter. »Was machst du hier?«, fragte er barsch. »Auf dich warten«, gab sie zurück. In Hör- und Sehweite des halben Clubs. »Das ist doch Schwachsinn«, sagte er. »Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Und hör auf, bei mir anzurufen.« »Kissy wird das sicher gefallen.« Sie machte ein schmatzendes Kußgeräusch. Diane II lachte. Er ließ sie stehen, schloß mit zitternden Fingern seinen Wagen auf und warf seine Sporttasche hinein. Als er einen vorsichtigen Blick über das Dach des Saab warf, war sie immer noch da. Schenkte ihm ein zärtliches Lächeln, machte sich lustig über ihn. Sie tat es mit
voller Absicht, es gehörte zu ihrem Plan. Ihm brach der Angstschweiß aus und sie hatte ihren Spaß daran. »Sie ist eine Psychopathin«, sagte er zu Kissy. Es war das Letzte, worüber er mit ihr sprechen wollte, aber er wußte nicht mehr weiter. »Sie genießt es, mich nervös und dich wütend zu machen.« Er fühlte sich wie einer, der in eine Wolke Stechmücken lief; alles, was ihm blieb, war, wie verrückt mit den Armen um sich zu schlagen. »Vielleicht hat sie ja morgen schon die Nase voll und sucht sich ein anderes Hobby«, stürzte er sich auf einen tröstlicheren Gedanken. Kissy hörte schweigend zu. Sie saßen auf der Veranda im Hinterhof und sahen Dynah zu, die hinter dem alten Kater herwankte. Das Tier benahm sich in einer Art zweitem Katzenfrühling ausgelassen und kokett. Bernie war in der Fahrschule. Alles perfekt, abgesehen von jenem einen, kleinen Problem, und dieser Umstand ließ ihn sich noch aufgebrachter und hilfloser fühlen. »Vielleicht«, sagte Kissy nach einer Weile und ließ es dabei bewenden. Schon bald wurde sie eines Besseren belehrt. Sie bekam Briefe und Polaroidaufnahmen von der Reichen, und es war nur zu offensichtlich, daß Monette Daniels tatsächlich eine Psychopathin war, die keinerlei Ermunterung von seiten Juniors benötigte. Eine Spinnerin war eben eine Spinnerin. Man konnte schlecht von ihm erwarten, eine Spinnerin zur Besinnung zu bringen. Jeder war ein potentieller Kandidat dafür, einem solchen Menschen zum Opfer zu fallen. Sein einziger Fehler bestand darin, sich überhaupt erst mit ihr eingelassen zu haben. Auf Übelkeit erregende Weise versorgte sie Kissy in ihren Briefen mit zusammengereimten wie auch realen Details. »Wer hat behauptet, das Briefschreiben sei eine in Vergessenheit geratene Kunst?«, meinte sie hämisch. »Das Brauchtum lebt und hat in Irrenhausen eine neue Blütezeit erreicht.« Der Mittelstürmer der Minnesotas drängte Junior gegen das Netz, während der Rechtsaußen den Puck hineinschlug. Zu Juniors Verwunderung wurde das Spiel nicht unterbrochen und das Tor zählte. Er verlor die Nerven, riß seine Handschuhe herunter und sprang den Stürmer von hinten an. Einen Hieb auf das Ohr des Mistkerls konnte er gerade noch landen, ehe ihn jemand wegzog und er sich mitten in einer wüsten Rauferei wiederfand. An den Mittelstürmer kam er
nicht mehr heran – den hatten bereits die beiden Verteidiger in der Zange. Der Tormann der Minnesotas raste über das Eis auf das Getümmel zu. Junior schoß heraus, um ihn an der blauen Linie abzufangen und gegen die Bande zu schmettern. Er bückte sich, nahm ihn mit einer Schulter auf die Hörner und hievte ihn über die Bande zur Spielerbank der Drovers, wo ihn ein anderer Drover in Empfang nahm, um ihm den Rest zu geben. Irgendwer warf sich auf Junior. Blind vor Zorn holte er aus. Es passierte ihm nicht oft, vom Platz gestellt zu werden, und er war stocksauer, als er auf dem Weg zum Laufsteg an Damien St. Louis vorbeiglitt, seinem Ersatzmann. Dieses Spiel, das zweite von insgesamt fünf Auswärtsspielen, fand in Minneapolis statt. Einem Kerl hatte er zu einem Hattrick verholfen, einem Nachwuchs-Aß sogar zu zwei. Und das letzte Drittel war erst zur Hälfte gespielt. Der unbeherrschte Angriff auf den Mittelstürmer hatte seine Wurzeln mindestens ebenso sehr in einem tiefen Frust gehabt wie in der Blindheit des Schiedsrichters. Ein Frust, der weit über das Spiel hinausging. Mit einem Auge auf dem Monitor, während er die Ausrüstung ablegte, mußte er hilflos mit ansehen, wie Damien St. Louis gleich zu Beginn ein weiteres Tor kassierte. Dieses Spiel ging den Bach hinunter und es war seine Schuld. Er hatte es nicht geschafft, sich eine bessere Verteidigungsstrategie einfallen zu lassen, als rausgeschleudert zu werden. Ihm brummte der Schädel angesichts des eigenen Versagens. Wie viel schlechter mußte er noch sein, bis sie ihn in die Verbannung schickten? Die Vorstellung, Kissy am Telefon sagen zu müssen, sie solle ihre Sachen für Dry River packen, machte ihn krank. Bezeichnenderweise ließen ihn die anderen in Ruhe, nachdem das Spiel vorüber war. Wie bei einer Beerdigung, dachte er; im Umkleideraum fand die Totenwache statt, der Tote war er. Daß sie es vermieden, ihm in die Augen zu schauen, erinnerte ihn an die unzähligen Male, bei denen er jedem Blickkontakt mit einem armen Hund aus dem Weg gegangen war, der bis zu den Ohren in der Scheiße saß. Es brachte Unheil, einen Toten anzusehen. Im Bus setzte sich Deker auf den freien Platz neben ihm und streckte ihm einen Flachmann hin. Old Jock, ekelhaft und billig. Junior kippte einen Mund voll hinunter. Das Zeug brannte sich in seine Schleimhäute ein und trieb ihm das Wasser in die Augen. Beim
Aussteigen war Deker wieder da, schob ihn am Ellbogen in die Bar. Die meisten anderen schlugen ebenfalls diese Richtung ein. Nur eins, schwor er sich, wirklich nur eins. Um höflich zu sein, um dazuzugehören, um eine schlechte Nacht zu vergessen. Ein paar Stunden später, der Schwur lautete mittlerweile ›nur noch eins‹, stand Diane II plötzlich vor ihm. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß sie da war. Keiner hatte ihm was gesagt und gesehen hatte er sie auch nicht. Ihre Anwesenheit beunruhigte ihn extrem; wo sie war, war bestimmt auch die Reiche. Nervös blickte er sich um, und da saß sie – auf einen Barhocker gequetscht, gierig nach Sensationen. Diane II packte seinen Arm. Ihr rot angelaufenes Gesicht verriet, wie betrunken sie war. In der Hand hielt sie ein Bier. »Arschkriecher!«, meinte sie laut und deutlich. Junior konnte nur lachen. Ausgerechnet sie mußte das sagen. »Arschkriecher! Schlimmer als ’ne schwanzlutschende Tunte.« Sie spuckte ihn an und leerte ihr Bierglas über seinem Schoß. Reflexartig kippte er ihr sein Bier ins Gesicht. Diane II heulte entrüstet auf und Junior befand sich zum zweiten Mal an diesem Tag mitten in einer Rauferei. Überall Schubsen und Stoßen, Klatschen und Schreien und Fluchen und Gebrüll, blindlings ins Blaue hinein. Er duckte sich und tauchte seitlich weg. Endlich an der Peripherie angelangt, versperrte ihm ein Muskelpaket den Weg. »Hallo Arschloch«, sagte das Muskelpaket und begann auf ihn einzudreschen. Junior machte einen Scherensprung und schickte den Kerl mit einem Tritt ins Land der Träume. Dann schoß ihm durch den Kopf, daß er wie ein Rausschmeißer aussah. Ein weiteres Paar muskelbepackte Arme nahm ihn von hinten in den Schwitzkasten. Stinkender Atem umwehte zischend seine Ohren, als sein Gegner knurrte: »Reg dich ab, Arschloch. War mir ein Vergnügen, mit deiner blöden Fresse den Boden zu polieren.« Junior erwartete, in Kürze wie Müll in der Gosse zu landen. Statt dessen schubste der zweite Rausschmeißer ihn in den Garderobenraum, aus dem ihn nach einer Weile die Bullen befreiten.
Er mußte zugeben, daß er sie kannte. Sie war wieder gegangen und hatte den Bullen erzählt, sie sei eine Freundin von ihm. Er wußte, er sollte die Klappe halten, sollte warten, bis ein Anwalt kam. Wenigstens war er klar genug gewesen, dieses Nur-einen-Anruf-Gelaber zu nutzen, indem er Ed Toth, den Manager, bat, ihn gegen Kaution rauszuholen. Doch während er wartete, wollten sie seine Version der Geschichte hören. So drückten sie sich aus, und er dachte, scheiß drauf, er hatte ein Recht, es ihnen zu sagen. Er brauchte sich bloß an die Wahrheit zu halten. »Sie ist ein Groupie, ein Freak. Ich war damals noch allein«, erzählte er den Bullen, die zwar mitfühlende Mienen aufsetzten, aber immer gemeinere Fragen stellten. Dann schneite Ed herein, einen Anwalt im Schlepptau, und der Anwalt forderte ihn auf, die Klappe zu halten, was er gerne tat. Sie schafften ihn von dort weg. Sobald er in seinem Hotelzimmer war, rief er Kissy an. »Baby…«, begann er, doch ehe er dazu kam, seine sorgfältig überarbeitete Schilderung der Ereignisse an den Mann zu bringen, machte Dynah ganz in der Nähe des Telefons einen Aufstand. »Es ist ein Uhr morgens«, sagte Kissy erschöpft. »Bleib dran.« Er hörte das Rascheln der Bettdecke, gefolgt von Kissys Stimme, die beruhigend auf Dynah einsprach, das Gurren des Babys, dann Stille. Es bekam die Brust, das glückliche Kind. »Alles in Ordnung bei dir?« Ihre Aufmerksamkeit galt wieder ihm. »Ich hatte ein paar Probleme.« »So?« Von einem wirklich kalten Planeten ohne Sauerstoff in irgendeinem sehr, sehr unfreundlichen Sonnensystem drang das eine Wort an sein Ohr. »Ich hab nicht angefangen. Keine Angst, wir sorgen schon dafür, daß die Anschuldigungen fallen gelassen werden.« Das weit entfernte Schweigen nahm die Dimension von Lichtjahren an. »Kissy?« »Ich werde hier sein, wenn du kommst«, sagte sie, als hätte das jemals in Zweifel gestanden. »Laß uns dann darüber sprechen.« Drei Auswärtsspiele noch, anschließend ein letztes Heimspiel vor der Weihnachtspause. Als es endlich nach Denver zurückgehen sollte, waren die Wetterverhältnisse so schlecht, daß der gesamte Flugverkehr lahm lag. Aus ein paar Drinks wurde einer nach dem anderen,
nur um die Langeweile und den Streß zu bekämpfen, um die Scheiße zu vergessen, durch die ihn die Medien seit dem Zwischenfall in der Bar waten ließen. Aber das machte nichts. Die Gangway in Stapleton war derart lang, daß sie ihn in jeder Hinsicht ernüchterte, und den Rest besorgte das schwierige Unterfangen, den Saab sicher durch den Graupel zu bringen. Jeglicher Alkohol, der sich eventuell noch in seinem System befand, wurde gnadenlos ausgeschwitzt. Viel Energie ging auch beim Fluchen drauf, das in erster Linie seiner eigenen Person galt, da er nicht so weise gewesen war, sich einen Wagen mit Vierradantrieb anzuschaffen, wie jeder andere Mensch in Colorado. Er holte sich einen Kaffee zum Mitnehmen an einem Imbiß, goß die Hälfte aus dem Fenster und füllte mit zwei Schnapsfläschchen auf, die er im Flugzeug eingesteckt hatte. Es half gegen die Kopfschmerzen und den Druck auf der Brust. Er umschiffte mit dem Saab Kissys Blazer, mit dem Bernie offensichtlich Parallelparken geübt hatte. Von einer gefrorenen Graupelschicht überzogen stand er auf halber Höhe der Einfahrt ordentlich am Rand. Drecksvieh schoß aus den Schatten, als er die Haustür aufschließen wollte. Er schürzte verächtlich die Lippen und fauchte das Tier giftig an. Der Kater zischte zurück, sprang an ihm vorbei ins Haus und verschwand. Das Erdgeschoß war in fast vollständige Dunkelheit getaucht. Wie aus dem Nichts tauchte Drecksvieh plötzlich zwischen seinen Beinen auf, er stolperte, fluchte, und schon war das Vieh wieder weg. »Junior?« Bernie stand im Lichtschein, der aus ihrem Zimmer drang. Das Flanellnachthemd verhüllte zwar ihren voller gewordenen Körper, nicht aber ihr erschrockenes Gesicht. »Keine Panik«, sagte er schnell. »Bin bloß auf Drecksvieh getreten.« »Bist du betrunken, Junior?« »Geh wieder schlafen, Süße.« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange. Die Arme unter dem Busen verschränkt, zog sie sich widerwillig zurück, die Skepsis in Person. Oben brannte die Leselampe. Kissy wartete auf ihn, ein zugeklapptes Taschenbuch neben sich auf dem Bett. Dynah maulte leise im Halbschlaf. »Tut mir leid. Drecksvieh, wie immer.« Er sah nach dem Baby, aber Dynah schlief wieder fest. Dann setzte er sich auf die Bettkante.
»Sie waren beide da. Die Psychotante hat zugesehen, ihre beknackte Freundin hat das Ganze ins Rollen gebracht.« Kissy hörte ihm schweigend zu und machte dabei ein Gesicht, als spreche er von etwas, das sich in einem Motelzimmer zugetragen hatte. Er war, gelinde gesagt, verärgert. »Guck mich nicht so an.« »Woher soll ich wissen, was sich wirklich abgespielt hat?« Es war kein Vorwurf, lediglich eine Feststellung. »Es gab mal eine Zeit, da hat es dir gefallen, daß sie da waren. Soviel ich weiß, sind sie immer da. Und diesmal bist du also in eine Bar gegangen, und sie sind auch dort gewesen und du hast dich vollaufen lassen. Du bist in eine Prügelei verwickelt worden und bei den Bullen gelandet. Mehr weiß ich nicht.« »Muß man daraus denn unbedingt so ein Riesending machen? Es wird nicht wieder vorkommen. Das Maß ist voll.« Er nahm ihre Hand, aber sie war schlaff, wie tot. »Ich geh jetzt in die Wanne. Kommst du mit?« »Nein.« Kissy schloß die Augen. Ihre Wimpern schimmerten feucht. »Ich hab keine Lust auf stumpfsinniges Gebumse.« Es dauerte eine Weile, bis die Worte zu ihm durchgedrungen waren. Plötzlich hatte er das Gefühl zu fallen, die Sicherheitsleine riß… Alles, was er hatte sagen wollen, blieb unter seinem Brustbein stekken, ballte sich zusammen, bohrte sich in sein Fleisch, fraß ihn von innen her auf. Stumpfsinniges Gebumse. Das ganze Gekrieche und Gewinsel, das er an den Tag gelegt hatte – wer war wohl schuld an dem Stumpfsinn? »Stumpfsinniges Gebumse?«, schrie er. »Das kommt im Wörterbuch gleich hinter Ehe, stimmt’s?« Er stürmte die Treppe hinunter ins Freie und pumpte mit heftigen Atemzügen die eisige Nachtluft in sich hinein. Wie Splitter bohrte sich die Kälte in seine Lunge, als hätte er die verdammten Sterne samt ihren scharfen Kanten eingesaugt. Der Himmel über den Bergen begann zu schwanken. Das schiefe kleine Haus wich vor ihm zurück und plötzlich saß er auf dem gefrorenen Boden. Er rappelte sich wieder hoch, schleppte sich zu seinem Wagen, stieg ein und rammte mit ziellosen Fingern den Schlüssel ins Zündschloß. Er trat das Gaspedal durch, aber die Handbremse war noch angezogen und der Schaltknüppel im Leerlauf, so daß der Motor in ohnmächtigem Zorn aufheulte und vereister Schotter unter den Reifen wegspritzte.
Kissy stand barfuß in der Haustür, die Arme um ihren zitternden Körper geschlungen. Die Umrisse ihres Schlafanzugs zeichneten sich scharf vor dem Flurlicht ab, ihr Kopf schien wie von einem Heiligenschein umgeben. Neben ihr war Bernie, das Gesicht kreidebleich. »Was tust du da?«, kreischte Kissy. »Du kannst in dem Zustand nicht fahren!« »Junior, mach keinen Blödsinn!«, jaulte Bernie. Er machte die Handbremse los, fuhrwerkte mit der protestierenden Gangschaltung herum, bis er den Rückwärtsgang fand, schoß zurück und hatte plötzlich keine Kontrolle mehr über den Wagen. Er schien unter ihm wegzurutschen wie Sand, den eine Welle mitriß, und stieß gegen etwas Hartes. Während sein Oberkörper zum Geräusch von berstendem Glas und dumpf aufprallenden Schädelknochen nach vorn geschleudert und seine Halswirbelsäule gestaucht wurde, fiel ihm der Blazer ein. Dann sank er halb bewußtlos und in der sicheren Überzeugung zurück, etwas wirklich Stumpfsinniges getan zu haben, bloß weil er wieder einmal rot gesehen hatte. Und plötzlich sah er tatsächlich Rot. Es lief ihm in die Augen und über die Finger, als er verblüfft auf sie hinunterstarrte. Zu allem Überfluß hatte er sich auch noch in die Hose gepißt. Er hatte die heiße Körperflüssigkeit genauso wenig daran hindern können, aus ihm herauszuströmen, wie seinen Kopf, gegen die Windschutzscheibe zu knallen. Jetzt lag er auf dem Boden, in den Armen von Kissy, während Bernie ihn hysterisch verfluchte. Irgendwie mußte er die Wagentür aufgekriegt und die beiden im Hinausfallen mit sich gerissen haben. Ein paar Meter weiter standen Leute, vom Lärm aufgescheuchte Nachbarn offenbar. In der Ferne hörte er verschwommenes Sirenengeheul, das langsam näher kam. Schleudertrauma, meinte der Notarzt, legte ihm eine Halsmanschette an und faselte etwas von ein paar Stichen für die Platzwunde an seiner Stirn und einer Gehirnquetschung oder Gehirnerschütterung, weshalb er die Nacht im Krankenhaus verbringen müsse. Er versuchte ihnen klar zu machen, daß er auf dem Eis schon wesentlich üblere Verletzungen eingesteckt hatte, doch sie behandelten ihn wie irgendeinen besoffenen Penner. Die Bullen sahen wie Cowboys aus. Sie rochen sogar nach Kuhscheiße, wie er fand. Vielleicht war die Gehirnerschütterung daran schuld. Vielleicht war es auch das Aroma der Katzenscheiße, die er
Drecksvieh im ganzen Hof hatte verteilen sehen – ein bißchen von dem sandigen Boden wegkratzen, einen reinsetzen, wieder zuscharren, ganz oberflächlich bloß, nur nicht zu viel Mühe aufwenden, sich dann zurückplumpsen lassen und das alte Arschloch lecken, o Mann, dieser Thunfisch war schon beim ersten Mal nicht zu verachten. Und sein Baby spielte mit dem verfluchten Vieh in diesem verdammten, scheißeverminten Hof. Wäre lustig, wenn Kühe Kuhfladen vergraben würden. Oder Bullen Bullenscheiße. Vielleicht sollte er auch was vergraben, und zwar das beschissene Drecksvieh. Ganz tief. Und die Psychotante und ihre beknackte Freundin gleich mit. Einer der Bullen wollte wissen, ob er was getrunken hätte. »Nicht genug«, murmelte er undeutlich. Er sagte die Wahrheit. Er war so nüchtern wie die Luft schneidend klar; sie fraß sich schmerzhaft durch seinen Kopf, durch seine verbeulte Nase und gereizten Lungenflügel – und er verabscheute das Gefühl. Er kam sich vor wie eine mit Glassplittern gefüllte Gans. Das Klingeln des Telefons riß Kissy aus einem wirren Traum. Sie hob blinzelnd den Kopf. Drei Uhr morgens, sagte die Uhr. Dynah sabberte ihre Achselhöhle voll. Vorsichtig befreite sie sich von dem Baby und nahm beim dritten Läuten ab. »Kissy…«, sagte er mit erstickter Stimme. Sie schloß die Augen. »Kissy, es tut mir leid…« Sie ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Während er in der Notaufnahme zurückgeblieben war, hatte sie durch die Tiefgarage die Flucht vor der Presse ergriffen und sich, Dynah und Bernie von einem Taxi nach Hause bringen lassen. Dann hatte sie lange schlaflos im Bett gelegen, den Kopf voller zorniger Gedanken, die einander jagten wie Tiger, unablässig um denselben Baum herum, bis sie schließlich zu einer grauen Masse verschmolzen waren und sie endlich einschlafen konnte. Als Nächstes wurde sie von Dynah geweckt, oder besser gesagt von der Tatsache, daß Dynah durchnäßt und das Bett feucht war. Sie stand auf, zog erst das Baby, dann sich aus, zum Schluß das Bett ab. Die schlimmen Ereignisse des vergangenen Abends hatten Dynah offenbar nichts ausgemacht. Sie fand es toll, mit Mami in der Badewanne zu sitzen. Nachdem Kissy warme, trockene Sachen angezo-
gen, Kaffee gekocht und Toast geröstet hatte, breitete sich eine wundersame innere Ruhe in ihr aus. Bernie kam aus ihrem Zimmer gekrochen, nahm sie schweigend in den Arm und setzte sich zusammengesunken an den Tisch. »Und wie geht’s jetzt weiter?« »Über Weihnachten fahren wir nach Hause, soweit ich weiß«, erwiderte Kissy. »Ich denke, ich werde dort bleiben.« Bernie nickte, einen Anflug von Erleichterung in ihrem Blick. Sie vermißte ihre Familie mehr, als sie je zugegeben hätte. Ohne die geringste Spur von Besorgnis beobachtete Kissy, wie ein Taxi am Straßenrand hielt und Junior auf den Gehweg entließ. Unrasiert, in den Klamotten vom vergangenen Tag, mit einem Verband um den Kopf und der Halsmanschette schleppte er sich vorsichtig auf die Hintertür zu. Dynah jauchzte ihm vom Hochstuhl aus glücklich entgegen und hämmerte mit ihrem Löffel und ihrem Keks auf ihr Tablett. Er grinste und gab ihr einen Kuß auf den Kopf. Bernie auch. »Mach nur so weiter, Brüderchen«, meinte Bernie sarkastisch, warf Kissy einen vielsagenden Blick zu und stand auf. »Ich zieh mich jetzt an.« Kissy wartete, bis die Tür sich fest hinter ihr geschlossen hatte. Es war schmerzhaft, ihn anzusehen, schmerzhaft, wieder verletzt zu sein. Er holte sich einen Kaffee und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, den Becher mit beiden Händen umklammernd, als wären sie kalt. »Mir ist nichts weiter passiert.« Er schaute erst in den Becher, dann zaghaft zu ihr. »Wirklich, es tut mir leid.« Er räusperte sich. »Es war ein Unfall.« Sie ließ zu, daß er ihre Hand nahm und ihre Handfläche und Finger massierte. »Ich liebe dich.« Sie seufzte. »Ich liebe dich auch, Junior.« Sein Körper entspannte sich erleichtert. »Ich werde schon früher nach Hause fahren«, fuhr sie fort. »Sobald ich die Reservierungen storniert habe.« Sein Lächeln fror ein, seine Finger ließen von ihren ab. »Ich komme nicht mehr zurück.« »Ich verstehe nicht«, sagte er kleinlaut, aber sie wußte, daß er sehr wohl begriff. Sie machte ihre Hand von ihm los. »Ich kann nicht mehr mit dir leben.«
»Wegen gestern Abend? Es war ein Unfall…« »Ja, ich weiß. Es ist immer ein Unfall.« Seine Augen wurden rot und feucht. »Ich habe doch zugegeben, daß es ein Fehler war. Manchmal baut man eben Mist. So was passiert jedem…« »Dir passiert’s ständig. Ich will diese Art Leben nicht, für die du dich entschieden hast, Junior.« Er starrte sie lange stumm an. Dann räusperte er sich wieder und preßte die Augen zusammen. »Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich hatte zu viel getrunken, und dann hat mich einfach umgehauen, was du gesagt hast.« Sie schaute ihn immer noch mit diesem verletzten Ausdruck an, der wie ein Tritt in den Hintern war. »Kissy, wir haben erst vor sieben Monaten geheiratet, du gibst uns keine richtige Chance…« Er griff nach ihrer Hand, aber sie riß sie weg, ging zum Spülbecken und sah aus dem Fenster, die Arme fest unter der Brust verschränkt. »Jetzt kannst du nicht klar denken«, sagte er. »Du bist nicht in der Verfassung, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Was ist mit Dynah?« »Was soll mit ihr sein?« »Sie braucht einen Vater!« »Du kannst so viel Vater für sie sein, wie du magst.« »Wenn sie bei dir ist und ich bin hier? Das ist doch lächerlich.« »Es liegt nur an dir, wo du bist.« Einen Moment lang war er sprachlos, dann sprang er abrupt auf. »Ist es das, was du willst? Daß ich mit dem Spielen aufhöre?« »Ja«, gab sie zu, aber im selben Moment war ihr klar, daß sie es unmöglich von ihm verlangen konnte. »Nein. Nein!« Nur daß er ohnehin früher oder später würde aufhören müssen, und warum sollte ihr Leben ruiniert werden, während sie darauf warteten, daß eine Verletzung oder das Alter seiner gottverdammten Karriere ein Ende setzte? »Ja!«, schrie sie. »Ja!« Ihre Verwirrung war katastrophal. Vielleicht lag es auch nur daran, daß die Trennungslösung seine Vorstellungskraft bei weitem überstieg. Angespannt fuhr er sich mit der Hand über den Mund. »Nein, das kannst du nicht von mir verlangen. Ich habe zu hart daran gearbeitet, um so weit zu kommen. Es ist alles, was ich kann. Schließlich muß irgendwo Geld herkommen. Von deinen Fotos können wir nicht
leben. Ich würde nie von dir verlangen, mit dem Fotografieren aufzuhören. Ich käme überhaupt nicht auf die Idee!« Sie preßte die Stirn gegen die Fensterscheibe und schloß die Augen. »Es ist doch nicht für immer«, fuhr er hartnäckig fort. »Irgendwann ist es vorbei und dann können wir ein normaleres Leben führen. Aber ich brauche dich hier bei mir, Kissy, ich hab mir doch solche Mühe gegeben… Womit hab ich denn bloß verdient, daß du mich verlassen willst…« Seine Stimme brach und der Stuhl gab ein Quietschen von sich. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn darauf zusammensinken und das Gesicht kummervoll und resigniert in den Händen vergraben. Sie zwang sich, sich in Bewegung zu setzten, und berührte leicht seine Schulter. Er fuhr herum und preßte den Kopf gegen ihre Brust. Sie strich ihm über das Haar. Nach einer Weile machte sie sich so sanft wie möglich von ihm los, um noch etwas Toast zu rösten und Grapefruitstücke zu schneiden. Anschließend stellte sie beides vor ihm auf den Tisch. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen mit fieberhafter Besessenheit, starrte sein Frühstück einen Augenblick an und schlang es dann hinunter. Bis auf den letzten Krümel. Kissy selbst brachte nur mit Mühe etwas hinunter. Sie gab Dynah noch eine Kruste zum Kauen und ein Stückchen Banane und beobachtete die Schweinerei, die das Baby damit veranstaltete. »Ich mach sie sauber«, erbot sich Junior. Als sie nach oben ging, nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte, lag Dynah im Bettchen und schlug mit einem Schlüsselring aus Plastik gegen die Gitterstäbe. Junior rasierte sich im Bad – in mühseliger Kleinarbeit um die Manschette herum. Im Spiegel begegnete sie seinem Blick. Sie streifte ihre Sachen ab und stieg in die Wanne. Er rasierte sich zu Ende, wischte sich mit einem Handtuch über das Gesicht, kletterte hinter sie, stützte das Kinn auf ihre Schulter, schlang seine Arme um ihren Körper. Seufzend lehnte sie sich zurück. Da die Medien über Juniors Kollision mit dem Wagen seiner Frau auf dem eigenen Grundstück berichtet hatten, beeilte Kissy sich, Esther anzurufen, um ihr mitzuteilen, daß es ihr, dem Baby und Bernie gut ging, daß Junior die Sache überleben würde. Während er mit Dynah auf dem Bett spielte – sie kletterte auf ihm herum wie auf
einem Gebirgskamm –, hörte Junior dem Telefongespräch zu. Sie erzählte seiner Mutter, sie, Dynah und Bernie kämen schon eher zurück. Nach dem ersten Schreck, der ihn veranlaßte, sich auf den Ellbogen abzustützen und zu ihr herüberzuschauen, kam er zu der Einsicht, daß es durchaus Sinn machte, sie und das Baby aus der Stadt zu schaffen. Und Bernie hatte furchtbares Heimweh, das war längst kein Geheimnis mehr. Kissy verabschiedete sich von Esther und rief Bernie an den Apparat. Dann fing sie an zu packen. Nach einer Weile fiel ihm auf, daß sie sämtliche Schubladen der Babykommode leerte, all ihre Sachen einpackte. Es brachte ihn vollkommen durcheinander. Sie hatten miteinander gebadet, waren miteinander ins Bett gegangen – hieß das nicht, daß wieder alles in Ordnung war? »Was machst du da?« »Den Blazer für die Rückfahrt packen.« Sie sah ihn nicht einmal an. Als hätte sie vor, in den Supermarkt zu gehen. »Jetzt nimm doch nicht so viel Zeug mit! Herrgott noch mal, die Kiste hat eine lockere Stoßstange und einer der Scheinwerfer ist kaputt.« Sie schien ihn nicht zu hören. Entweder war sie plötzlich taub und blind oder er war plötzlich unsichtbar und hatte die Stimme verloren. Er sprang vom Bett und knallte die Tür hinter sich zu. Anderthalb Stunden später kam er zurück, ein Sechserpack Bier vorübergehend in seinem Körper, und bettelte um Vergebung. Rutschte auf Knien vor ihr herum. Sie sagte bloß »Hör auf damit, Junior«, packte weiter und fing schließlich an, die Taschen zum Auto zu schleppen. Rasend vor Wut half er ihr dabei, packte alles, was ihm unter die Augen kam – Lampen, Polsterschonbezüge, Dinge, die eigentlich zum Haus gehörten – , und warf es in den Kofferraum des ächzenden Blazers. »Hier, nimm das auch noch mit«, sagte er bei jedem Teil. Das Telefon läutete. Es war jemand von der Denver Post, dem Junior den guten Rat gab, sich zum Teufel zu scheren. Es läutete wieder und er schickte den Typen von der Rocky Mountain News gleich hinterher. Dann verließ er das Haus, kehrte mit einem umfangreichen Biervorrat zurück und verlegte sich auf die Ignoriertaktik. Er setzte sich vor den Fernseher, schmollte, trank. Sobald eine Dose leer war, drückte er sie zusammen und schleuderte sie gegen den Bildschirm,
bis sie sich davor auftürmten. Sein Blick klebte an den Zeichentrickfiguren, aber er hatte nicht den leisesten Schimmer, worum es ging. Bernie kam ins Wohnzimmer und kickte mit verschränkten Armen träge die leeren Dosen herum, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Schließlich brüllte sie ihn an: »Warum bist du bloß so ein gottverdammtes Arschloch?« »Ist mein Karma«, versuchte er es mit Sarkasmus und brach zu seinem Entsetzen in Tränen aus. Auch Bernie fing an zu heulen. Sie warf ihm eine Kleenexschachtel in den Schoß und stürzte hinaus. Ed Toth rief an, um ihm zu erzählen, die Presse habe sich bei ihm darüber beschwert, daß unter Junior Clooties Rufnummer jemand den Leuten sagen würde, sie sollten sich zum Teufel scheren. Junior meinte, sie müßten die falsche Nummer haben, weil bei ihm kein einziger Anruf gewesen sei und nun wisse er endlich weshalb. Das Schweigen am anderen Ende verriet, daß Toth verdammt gut über Juniors Herauswindungsversuche Bescheid wußte. Er machte den vorsichtigen Vorschlag, einfach »Kein Kommentar« zu sagen, falls zufälligerweise doch jemand anrufen sollte. Dann meinte er, falls die Medizinmänner Junior grünes Licht geben würden, sähen Coach Gerrard und er keinen Grund, weshalb er nicht in zwei Tagen wieder im Tor stehen sollte. »Ganz meine Meinung«, pflichtete Junior ihm bei und rülpste laut. »Wie geht’s denn so?«, erkundigte sich Toth. »Beschissen. Aber spielen kann ich trotzdem. Es ist das Einzige, was ich kann – stimmt’s, Kissy? Bernie? Du hast sicher auch eine Meinung dazu, oder, Bernie?« Sie ignorierten ihn beide. »Trinken Sie?« »Nur Coca Cola. Davon muß ich immer Bäuerchen machen.« Der Manager seufzte. »Ich habe keine Lust, Sie noch mal aus dem Kittchen zu holen, Clootie. Wird allmählich langweilig…« »Ach Quatsch«, fiel Junior ihm ins Wort. »Für niemanden ist es so langweilig wie für mich, Ed.« Er hängte ein, starrte das Telefon einen Moment an und riß die Schnur mit einem ordentlichen Ruck aus der Buchse. Dann zerdrückte er die nächste leere Bierdose und zielte damit auf den Fernseher.
Es war fast Mittag, als er am folgenden Tag aus dem Bett fand. Er duschte, ging in die Küche, hob Dynah aus dem Hochstuhl und preßte seine Wange gegen ihre. »Es ist Wahnsinn, allein mit einem Baby einmal quer durchs Land zu fahren«, sagte er zu Kissy. »Nehmt ein Flugzeug. Ihr fliegt los, sobald ihr fertig seid, und ich komme später mit dem Blazer nach.« Der Vorschlag klang vernünftig. Und es war eine Geste, die sie nicht mißverstehen konnte. Nicht, daß er etwa resigniert hätte. Junior gab niemals auf, zumindest nicht für lange. Er versuchte einen Weg zu finden, irgendeinen Weg, um sie zufrieden zu stellen. »Einverstanden«, sagte sie. Er setzte Dynah in den Stuhl zurück. »Ihr geht nicht, bevor ich zurück bin, ja?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir bleiben das Spiel über noch hier.« Ein schwaches Lächeln kratzte zaghaft an seinem bekümmerten Gesicht. Es war eine Geste zum Ausgleich für sein Angebot, den Blazer nach Peltry zu bringen. \ 22 [ »Daddy ist da«, sagte Kissy zu Dynah, die ihr ein dümmliches Grinsen schenkte. Sie ließ den Vorhang los, an dem sie schon viel zu oft gezerrt hatte, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Mit dem Baby auf dem Arm eilte sie zur Tür. Junior kam über den Fußweg zum Haus seiner Eltern gestapft. Der Seesack, den er über die Schulter geworfen hatte, war oben offen; Weihnachtsgeschenke schauten heraus. Er lachte, als er Dynah und sie in der Tür stehen sah. Das Baby hüpfte vor Aufregung fast von ihrem Arm. Er legt einen Arm um Kissys Taille, schob Frau und Kind aus der feuchtkalten Luft ins Haus, ließ den Seesack fallen und drückte beide fest an sich. »Der Auspuff ist abgefallen«, erklärte er Kissy und gab ihr einen Kuß; sie erwiderte ihn. Beide waren unsicher. Sie mußten über die eigene Unbeholfenheit lachen und probierten es noch einmal. Jetzt war das Ergebnis voller Verheißungen. »Du hast sicher Hunger«, sagte Kissy, während sie sich aus seinen Armen befreite und auf diese Weise sozusagen das Thema wechselte.
Dynah saß beim Essen auf seinem Schoß. Sie steckte die Finger erst in das Essen auf seinem Teller, dann in seinen Mund, um den Verbleib der Kartoffeln zu erkunden. Er erzählte Kissy von Keilriemen und Auspuff, danach ging ihm der Gesprächsstoff aus. Während er Dynahs Kinn mit einer Serviette abwischte, schaute er Kissy tunlichst nicht an. »Tut mir leid, daß es so spät geworden ist. Wahrscheinlich wärst du lieber längst im Bett.« Sie hatten nicht darüber gesprochen, wo er wohnen sollte. Kissy und Dynah hatten das zweite Schlafzimmer in Beschlag genommen, Bernie die Couch, Mark schlief auf einer Matratze im Flur, solange das Studentenwohnheim geschlossen war. »Du kannst hier bleiben«, sagte sie. »Bist du sicher? Ich kann auch in ein Motel gehen…« »Ich bin sicher.« Sie streckte Dynah ihre Hände entgegen und das Baby wollte sofort zu ihr. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Kind, deshalb hatte sie sein Nach-Luft-Schnappen vielleicht nicht gehört. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach zwölf; es war Weihnachten. »Ja, was hat uns der Weihnachtsmann denn da mitgebracht«, empfing Dunny Junior und Dynah am Weihnachtsmorgen. Junior übergab Dynah an Esther, die sie eifrig in Empfang nahm. »Kissy kommt gleich runter«, erklärte er, schenkte sich Kaffee ein und setzte sich an den Tisch, um zuzusehen, wie seine Leute um das Baby herumsprangen. Bernie sang beim Waffelbacken Fetzen von Weihnachtsliedern. Sich kratzend und gähnend kam Mark in die Küche, nur mit seiner Unterhose bekleidet, auf der Suche nach Kaffee. Er richtete den Zeigefinger wie eine Pistole auf Junior und formte mit den Lippen ein hohles »Plopp«. Dann fragte er lässig: »Schon gemerkt, daß das Kind genauso aussieht wie ich?« Junior zeigte ihm eine andere Art, den Finger auf jemand zu richten. »Ab unter die Dusche!«, befahl Dunny. Mark gehorchte mit jener absichtlichen Lahmheit, die deutlich machte, daß er es nur tat, weil ihm ohnehin danach war, nicht etwa weil sein Vater es von ihm verlangte.
Dynah stieß völlig unerwartet ihre Beinchen in Esthers Oberschenkel und schimpfte Dunny und Mark mit empörtem Gebrabbel aus. Dunny räusperte sich. »Kissy sagt, sie bleibt nach den Feiertagen in Peltry. Wir finden das toll, denn so können wir das Baby viel öfter sehen.« »Es ist nur eine räumliche Trennung«, sagte Junior. »Wir haben nicht vor, uns scheiden zu lassen oder so.« Zum Zeichen, daß sie – wenn auch nicht ganz – begriffen hatten, nickten seine Eltern unisono. »Es wird nicht lang dauern, eine Wohnung für sie zu finden. Außerdem möchte sie wieder arbeiten, wenigstens halbtags…« Esther und Dunny füllten die plötzliche Pause mit eifrigen Beteuerungen, Kissy zu helfen und während seiner Abwesenheit ein Auge auf sie zu haben. Er bedankte sich und wußte nicht, was er noch sagen sollte. Dunny sprang auf. »Du mußt unbedingt einen Blick auf Winston werfen, Junior. Er ist hinten.« Seufzend trennte Esther sich von dem Baby. »Ich muß den Truthahn in den Ofen schieben. Pass auf, daß der Hund dem Kind keine Angst einjagt, Dunny.« Im Garten bewunderten Junior, Dunny und Dynah den langbeinigen Black Retriever Welpen. Dynah zappelte aufgeregt auf Juniors Arm herum, was Winston mit Begeisterung zur Kenntnis nahm. Wie alle Hunde hatte er sogleich erkannt, daß es sich bei Menschenbabys nur um eine Sonderform von Welpen handelte. »Hat es was mit dieser dummen Geschichte zu tun? Mit dieser Frau in der Bar? In den Zeitungen stand, sie wäre eine Freundin von dir gewesen, du wärst nach Hause gefahren und hättest dir den Schädel an der Windschutzscheibe eingeschlagen.« »Das Ganze ist ein Mißverständnis…« »Deine Mutter ist nicht hier«, fiel Dunny ihm ins Wort. »Hör auf, mir irgendwelchen Blödsinn zu erzählen.« »Es war ein Unfall. Ich hab dir schon gesagt, daß ich zu viel getrunken hatte. Ich hab die Kontrolle über den Wagen verloren, das ist alles.« »Und diese Frau?« »Sie war sternhagelvoll. Ich war auch nicht mehr ganz nüchtern, aber sie hat angefangen.«
»Stehst du unter Drogen? Nimmst du vielleicht diese verfluchten Steroide?« »Nein, ich nehme keine Ster…« »Du benimmst dich aber so! Irgendwo stand, daß man blöd davon wird. Vielleicht bist du ja auch schon so auf die Welt gekommen, wie andere mit einem Hirnschaden, oder du hast dir den Schädel zu oft auf dem Eis angehauen. Um Himmels willen Junior – du mußt das endlich in den Griff kriegen, sonst ist dein Leben bald nur noch ein Haufen Dreck!« »Schon gut, schon gut. Ich hab dich verstanden, Dad.« Das Gejammer war natürlich nur ein Beweis dafür, wie aufgeregt sein alter Herr war. Die Meckerei seines Vaters weckte in ihm den Verdacht, daß es vielleicht wesentlich schlechter um ihn stand, als er dachte. Vielleicht lief er tatsächlich mit einer Art Loch im Hirn rum. Dynah rammte ihm glucksend einen Finger in die Nase. Reflexartig schossen im Tränen in die Augen. Er lachte, um sie nicht merken zu lassen, daß sie ihm wehgetan hatte, aber er spürte deutlich das Blutrinnsal, das sich seinen Weg von seiner Nase zur Oberlippe bahnte. Sie hatte auch ein besonderes Talent dafür, ihn in die Eier zu treten. Kam ganz nach ihrer Mutter. Zu seinem Entsetzen wurde ihm klar, daß er am Rande eines Tränenausbruchs stand. »Ich muß mich waschen, sonst blute ich das Hemd voll.« Hastig reichte er Dynah an Dunny weiter, um im nächstbesten Bad zu verschwinden. Ruth wirkte unverändert. Da sie sie seit August nicht mehr gesehen hatte, traf Kissy die Erkenntnis, daß Ruths frühere Verfassung ihr Normalzustand geworden war, wie ein Schlag. Der verwitternde, immer steifer werdende Körper, die Knochen, die so dicht unter der Haut lagen, daß sie jeden Augenblick durchzubrechen drohten, die schlaffen Brüste auf dem vorstehenden Brustkorb, die gelben, nichts sehenden Augen – das war Ruth, die wirkliche Ruth, die einzige Ruth. Sylvia Cronin hatte im September einen leichten Schlaganfall erlitten. Sie trug eine Klappe über einem Auge und sprach etwas undeutlich und schwerfällig, als sie Kissy an der Haustür empfing. Trotz des Stocks, der sich jederzeit in ihrer Reichweite befand, konnte sie sich nur mühsam bewegen. Aufgrund ihrer Erkrankung, die sie Kissy
gegenüber in ihren Briefen mit keinem Wort erwähnt hatte, war sie gezwungen gewesen, Krankenschwestern für Ruths Betreuung einzustellen. »Machen Sie schnell noch ein paar Fotos von mir, Kissy«, schnaubte sie wütend. »Bevor ich sabbernd an einem Wust von Schläuchen hänge.« Mrs. Prashker brachte Kissy auf den neuesten Stand, was Ruths Befinden sowie die Haltung des Gerichts zu dem Gesuch, sie sterben lassen zu dürfen, betraf. In beiden Fällen hatte sich im Wesentlichen nichts geändert. Kissy hätte ebenso gut erst gestern oder gar nicht weggefahren sein können. Dann erkundigte sich Mrs. Prashker höflich nach ihr und dem Baby. Verlegen gab sie zu, den Namen des Kindes vergessen zu haben. Kissy zeigte ihr eine Polaroidaufnahme. Mrs. Prashkers Urteil war das typische Urteil einer Frau. Sie fand Dynah genauso schön, entzückend und ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, wie man es von ihr selbst kurz nach der Geburt behauptet hatte. Nachdem Ruths Mutter gegangen war, sagte Kissy beiläufig zu Sylvia: »Wir bleiben hier, Dynah und ich.« Sylvia, die in einem Schaukelstuhl saß, zupfte an ihrer Augenklappe. »Würden Sie gern wieder bei mir wohnen? Ich fände es großartig.« Es war ein verlockendes Angebot. Und ein Rückschritt. »Sie haben schon so viel für mich getan. Ich möchte Ihre Hilfsbereitschaft nicht noch mehr strapazieren. Außerdem haben Sie keine Ahnung, wie munter Dynah ist…« »O doch, mein Kind, das habe ich. Denken Sie darüber nach.« Als Kissy bereits fast draußen war, steckte Mrs. Cronin ihr etwas zu. Unter der Leselampe im Blazer studierte Kissy das Foto eines weiblichen Säuglings, der auf dem Schoß einer zwei Jahrzehnte jüngeren Sylvia lag. Ruth war ein fast glatzköpfiges Baby mit ein paar wenigen blonden Härchen, einem vollmondförmigen Gesicht und wulstigen Oberschenkeln gewesen. Nicht wie Dynah. Überhaupt nicht wie Dynah. Es gab keine Vollzeitstelle für sie bei der News. Das Beste, was sie herausschinden konnte, war ein Vertrag als freie Mitarbeiterin. Sie sollte die Heimspiele der Spectres dokumentieren. Die Auswärtsspie-
le standen nicht zur Debatte. Unterwegs einen Babysitter zu finden, wäre so gut wie ausgeschlossen, und sie konnte wohl kaum ein Spiel mit einem Baby vor dem Bauch knipsen. Dynah schien mittlerweile ohnehin nur noch aus Beinen zu bestehen und hielt keine Sekunde lang still. Weit und breit gab es nichts außer Billiglohn-Jobs ohne Sozialleistungen, und davon konnte sie unmöglich Miete und Lebensmittel bezahlen, geschweige denn sich einen Babysitter leisten oder die Zusatzkurse für den Magister der Darstellenden Kunst finanzieren. Latham würde ihr vermutlich einen Job als Laborassistentin an der Sowerwine anbieten. Während sie auf den Magister hinarbeitete, gelang es ihr vielleicht, sich eine Stelle als Lehrassistentin zu erkämpfen. Der Stundenlohn eines Lehrassistenten war etwas höher als der, den ein Laborassistent bekam, aber er reichte immer noch nicht aus, und Sozialleistungen gab es auch in diesem Fall nicht. Solange sie mit Junior verheiratet war, waren Dynah und sie natürlich bei ihm mitversichert, so daß dieser Aspekt ihrer finanziellen Situation momentan nicht so bedeutsam war wie in dem Augenblick, wenn sie tatsächlich wieder auf sich allein gestellt wäre. Junior bestritt hartnäckig, daß es jemals der Fall sein könnte. Sie stritten ständig deshalb. Er betrachtete die Unterhaltszahlungen für sie und Dynah als einen Test hinsichtlich seiner persönlichen Reife und als Bekenntnis seiner anhaltenden Liebe und seines Pflichtgefühls. So bewundernswert seine Absichten auch sein mochten – und seine Großzügigkeit zweifellos war – , sie befürchtete, durch die Annahme seiner Unterstützung seiner Hoffnung auf eine Versöhnung unrechtmäßig Futter zu geben. Die Frustration, Wut und Abneigung, die sie bei dem Gedanken empfand, daß sie es aus eigener Kraft unmöglich schaffen konnte, wurde noch durch die erniedrigende Erkenntnis verstärkt, auf seine Zahlungen hinsichtlich Miete, Lebenshaltungskosten und Studienfinanzierung angewiesen zu sein. Sie konnte nur mit dieser Vorstellung leben, indem sie sich schwor, es ihm irgendwann zurückzuzahlen. Wenn sie das Studium im Januar wieder aufnahm, konnte sie in vier Semestern fertig sein. Fand ihre Reihe über Ruth den Beifall des Dissertationsgremiums, würde sie den Magistertitel bei der Winterverleihung in zwei Jahren in Händen halten. Außerdem war der Campus, anders als die Zeitung oder irgendeins der hiesigen Foto-
studios oder -labors, extrem babyfreundlich eingestellt. Sie konnte Dynah mitnehmen, wann immer sie wollte, und das war nahezu ständig der Fall. Obwohl sie ihren ersten akademischen Grad erst vor achtzehn Monaten erhalten hatte, erschien es ihr wie eine Zeitreise, an die Uni zurückzukehren. Der Campus wirkte ein wenig schäbiger und seltsamerweise kleiner, als besuche sie einen Ort aus ihrer Kindheit, strahlte jedoch nach wie vor würdevolle Klarheit aus. Sie war natürlich diejenige, die sich verändert hatte. Sie war, wenn auch unwesentlich, älter als das Gros der Studenten, und ihre Kommilitonen kamen ihr unreif vor. Im Gegenzug war sie für die Leute, wie beinah jeder, der nicht zu ihrer direkten Peergroup gehörte, so gut wie unsichtbar. Sie begann genau zu der Zeit, als das Januartauwetter einsetzte. Eine Woche lang war die Luft wie himmlischer Nektar, süß wie der Frühling, der noch in weiter Ferne lag. Während sich der schmutzige Schnee und die aufeinander getürmten Eisschichten unter ihren Füßen oder den Reifen des Blazers in Matsch verwandelten, vom Regen weggespült wurden oder einfach verdunsteten, senkte sich der Nebel wie ein Weichzeichner über die Stadt und ließ die Weiden wie poliertes Messing glänzen. Aus einem Impuls heraus bog sie mit Dynah auf dem Rücken in den Pfad ein, der zu dem Wäldchen mit Dianes und Ruths Gedenkstätte führte. Dort angelangt, sank sie dankbar auf die Bank und machte ein paar strategisch gut positionierte Knöpfe auf, um Dynah unter Jacke und Hemd schlüpfen zu lassen. Umgeben von der weichen, kühlen Luft strich sie dem Baby liebevoll über das Haar, während es ihre enormen Milchreserven verschlang. Es war ein Moment, der alles Vorherige wettmachte. Es gab immer noch Grüße an die Verunglückten: Mitgliederabzeichen ihrer Studentenvereinigung; ein winterlicher Moos- und Beeren-Kranz; einige halb abgebrannte Räucherstäbchen in der Vase, die am Gedenkstein befestigt war; eine Plastikbox mit zusammengefalteten Zetteln; eins der Kondome mit Pfefferminzgeschmack, die man gratis in einem Korb an der Anmeldung in der Studentenklinik bekam – ›Jimmies‹ wurden sie neuerdings genannt. Als Dynah satt und sie selbst wieder eingepackt war, stand sie auf, um den Inhalt der Plastikbox zu durchstöbern. Einige der Zettel ent-
hielten einzelne Zeilen aus Gedichten und Nachrufen. Manche waren direkt an Ruth oder Diane gerichtet und trugen eine Unterschrift. Jemand hatte einen laminierten Zeitungsartikel der News hineingelegt, der über den tödlichen Bergunfall eines Studenten im vergangenen Semester berichtete. Außerdem entdeckte sie einen obszönen Cartoon, der in keinerlei Zusammenhang zu stehen schien, sowie diverses Bonbon- und Kaugummipapier. Dynahs Fingerchen ahmten ihre Bewegungen nach, versuchten die Papierfetzen auseinander zu falten. Kissy wurde plötzlich von einem hohlen Gefühl der Verlassenheit übermannt. Doch wer sie verlassen hatte, war ihr nicht richtig klar. Ihre neue Wohnung in der Nähe des University Medical Center bestand aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer und einer Küche und befand sich in einem umgebauten Kutscherhaus hinter einer viktorianischen Villa, die in Arztpraxen umgewandelt worden war. Die Gegend war ruhig und sicher, wenige Blocks entfernt gab es sogar einen kleinen Park, in dem sie bei schönem Wetter mit Dynah spazieren gehen konnte. Obwohl sie wieder bei ihren Eltern wohnte, kam Bernie häufig vorbei, um auf Dynah aufzupassen oder einfach nur, weil sie Gesellschaft haben wollte. Junior rief jeden Tag – manchmal zweimal am Tag – an, angeblich um gegen die Entlohnung eines beruhigenden, dünnen, kleinen »Da!« von Dynah regelmäßig mit dem Baby zu sprechen. Auch wenn sie es nicht sagte, erklärte er Kissy, würde ihr auf diese Weise zumindest der Klang seiner Stimme in Erinnerung gerufen. Manchmal rief er spätabends an, um mit Kissy zu sprechen. Diese Gespräche erstreckten sich von den Widerwärtigkeiten oder Triumphen des Tages bis hin zu ihrem aktuellen Beziehungsstand. Sie spürte seine Abwesenheit nach den Anrufen am stärksten und fragte sich, ob es bei ihm vielleicht auch so war. Juniors Leistungen für die Drovers blieben konstant. Seine Zuverlässigkeit, auch wenn es sich bei einem Spiel um eher kleine Fische handelte, machte ihn zu einem ihrer Stars, aber einen Platz im AllStar-Team zu bekommen, war doch ziemlich unwahrscheinlich. Von den vierundfünfzig Torhütern der Liga konnten nur zwei samt ihren Ersatzmännern bei einem All-Star-Spiel antreten, und so versprach er Kissy bei jedem Anruf, während der Saisonpause zu Hause zu sein.
Junior kam auf sechs Wochen Getrenntsein, sechs weitere Wochen als Drover und noch einmal sechs Wochen Zusammenleben mit Drecksvieh statt mit Frau und Kind, wenn er die Reisen zu den Auswärtsspielen nicht mitzählte. Er wohnte immer noch in dem schiefen, kleinen Haus und ließ sich nach wie vor von Drecksvieh schikanieren, den er mittlerweile in einer Art abergläubischer Demut zu tolerieren gelernt hatte. Indem er das verfluchte Vieh fütterte und regelmäßig sein Klo sauber machte, konnte er vielleicht die Götter besänftigen, die ihm Kissy und Dynah geraubt hatten. Er beauftragte ein Nachbarskind, den Kater während seiner Abwesenheit zu versorgen, aber das kleine Arschgesicht war zu pingelig, um die Katzenstreu zu wechseln. Als er zum ersten Mal nach einer fünftägigen Tour nach Hause kam, hatte Drecksvieh seine Haufen zuerst im Klo, dann wo er gerade ging und stand verteilt. Der Gestank machte das Haus fast unbewohnbar. Fies wie Katzendreck, hatte seine Mutter früher immer gesagt; als er die Schweinerei zu beseitigen versuchte, begriff er die tiefe Wahrheit des Spruchs. Im Vergleich dazu war der Inhalt von Dynahs Windeln wie eine Schachtel Godiva Pralinen. Während er mit einem Eimer voll Mr. Clean und heißem Wasser durchs Haus streifte, stiegen vage Erinnerungen an das Chaos in ihm hoch, das Ed in seiner Wohnung veranstaltet hatte, gefolgt von dem noch größeren Chaos, für das Dionne und er verantwortlich gewesen waren. Zum krönenden Abschluß stand ihm schließlich klar und deutlich das Bild seines verwüsteten Motelzimmers in Dry River vor Augen. Sein ganzes Leben war ein Katzenklo, stellte er verdrossen fest. Junior erklärte Dunny, Kissy würde ihn am Flughafen abholen. Die einzige Reaktion seines Vaters bestand in gleichmäßigen Atemzügen. »Kissy und ich müssen uns einfach mal uneingeschränkt um uns selbst kümmern können«, plapperte er unbedacht weiter. »Wenn du meinst«, entgegnete Dunny. »Paßt nur auf, daß ihr das Baby nicht am Flughafen vergeßt, während ihr euch uneingeschränkt um euch selbst kümmern müßt.« »Danke für den guten Rat, aber Dynah sollte ich auch endlich einmal wiedersehen.« Dunny meinte, damit habe er wahrscheinlich Recht. Es war das seltsamste Gespräch, das er mit seinem alten Herrn geführt hatte, seit Dunny irgendwann zwischen Weihnachten und Neujahr in seine
Pläne eingeweiht worden war, die Verwaltung seiner Finanzen wieder selbst in die Hand zu nehmen. »Bist du sicher?« Sein Vater hatte ihn aus zusammengekniffenen Augen angestarrt, als wisse er nicht genau, wen er vor sich hatte. »Du darfst jetzt nicht unvorsichtig werden. Angesichts einer drohenden Scheidung…« »Es wird keine Scheidung geben. Es ist nur eine vorübergehende Trennung. Ich weiß, wo meine Pflichten sind. Ich werde mich um Kissy und Dynah kümmern.« Er hatte versucht, Dunny zu beruhigen, indem er ihm die Zahlen zeigte, die er ganz allein zusammengebracht hatte. Der einzige Posten, den er wirklich für blödsinnig hielt, waren Ersparnisse; der größte Teil davon würde wahrscheinlich für die ständige Hin- und Herfahrerei draufgehen. Dunny hatte keinerlei hilfreiches Interesse an den Tag gelegt, es sich aber auch nicht verkneifen können, seinen Sohn darauf hinzuweisen, daß er sich auf dünnes Eis begab, wenn er sich auf das zufällige Hoch eines Mal-oben-mal-unten-Vertrags verließ. Er hatte selbstverständlich Recht, doch momentan verdiente Junior entsprechend des Oben und konnte sein Geld unmöglich auf die Bank tragen, während Kissy und Dynah in irgendeiner Bruchbude im Barnyard hausen und sich mit einem Mindestlohn dahinquälen mußten. »Und…«, fragte er Kissy in bewußt lockerem Ton, als sie sich auf dem Rückweg vom Flughafen befanden, »triffst du dich mit jemandem?« Sie lachte verächtlich. »Ich auch nicht«, versicherte er ihr, aber sie schien es nicht zu registrieren. In ihrer neuen Wohnung wimmelte es von Babyspielzeug, Kamerazubehör, Büchern und Kassetten. Zu sehen, daß sie keine Decken und Kissen als eine Art diskreter Hinweis auf dem Sofa gestapelt hatte, erleichterte ihn sehr. Er entdeckte nichts, das nicht eindeutig Kissy oder Dynah gehörte: keine Zigaretten, keinen Aschenbecher, keine angebrochene Weinflasche im Kühlschrank, keinen Männervornamen auf dem Block neben dem Telefon. Unter dem Vorwand, aufs Klo zu müssen, untersuchte er das Bad auf verräterische Klingen und fremde Toilettenartikel. Die Einbauwanne, die zugleich als
Duschkabine fungierte, war zweckmäßig, aber vollkommen unromantisch. Ein verstohlener Blick in die Nachttischschublade enthüllte keine Kondomvorräte. Sehr beruhigend. Er hatte sogar schon überlegt, ob sie sich eventuell mit Frauen traf, was wesentlich schwieriger zu erkennen wäre. Als er sich der Panik bewußt wurde, die hinter dem Gedanken steckte, verwarf er ihn sogleich. Mary Frances wohnte erstens in Chicago, außerdem hatte es sich ihrerseits wohl immer nur um die qualvollen Fantasien einer Novizin gehandelt. Ein Blick auf Kissys jüngste Fotografien würde ihm vermutlich mehr verraten, es sei denn, sie entwickelte ihre Bilder nicht mehr zu Hause. Schließlich hatte sie rund um die Uhr Zugang zur Dunkelkammer der Sowerwine. Ihm wurde ganz schwindlig von dem Geruch, der aus der Küche kam – Zwiebeln, Knoblauch und Gewürze in Weiß-der-Himmel-was –, dem Duft von Dynahs glatter Haut, ihrem Gezappel auf seinem Arm und dem Klang von Kissys Lachen. Obwohl er nie hier mit ihnen gewohnt hatte, hatte er bis nach dem Essen mittlerweile das Gefühl, keinen Tag fort gewesen zu sein. Er fühlte sich wieder verheiratet. Nachdem sie den Abwasch erledigt hatten, badeten sie das Baby. Als er Dynah abtrocknete, rieb er auch das Gummientchen ab, das sie fest umklammert hielt. »Wer Saxophon spielen will«, sagte er eindringlich zu ihr, »muß zuerst die Gummiente weglegen.« Sie schaute ihn mit ernster Miene an, als hätte sie den Ratschlag verstanden. Gemeinsam legten sie das Baby ins Bettchen, das dicht neben der Seite des großen Bettes stand, auf der Kissy für gewöhnlich schlief. Während er im Badezimmer Druck abließ, hörte er Kissy erst im Schlafzimmer rumoren, dann begann sich Janis Joplins Stimme in ›Down on Me‹ aufzureiben. Er ließ die Hose gleich offen und setzte sich auf den Wannenrand, um die Stiefel auszuziehen. Kissy erschien in der Tür. Sie hatte ihren Still-BH im Schlafzimmer gelassen und das Hemd nicht wieder zugeknöpft. Als sie sich über die Wanne beugte, um den Hebel von Baden auf Duschen zu stellen, blitzten ihre Brüste darunter hervor. Er versuchte sie zu packen, aber sie sprang lachend weg. Er holte sie ein und zerrte sie unter die Dusche. Sie hatten beide noch fast alles an. Das Wasser strömte über ihren
Busen, ließ ihr Hemd an der Haut festkleben, den dünnen Stoff durchsichtig werden. Sie ging in die Knie und machte sich über ihn her – genau wie sie es am Telefon versprochen hatte –, während ihr das Wasser über Kopf, Gesicht und Schultern lief. Ihr Mund war zu viel. Er konnte es nicht lange genießen, dem Ansturm des Orgasmus nicht erfolgreich genug widerstehen. Sie wischte sich im Aufstehen über den Mund und verließ rückwärts das Bad, ohne ihren Blick von seinem zu lösen. Er tastete wie blind nach dem Wasserhahn, um ihn abzustellen, dann folgte er ihr. Der Widerstand, den ihr nasses Hemd und der glitschige Stoff ihrer Levis beim Ausziehen leisteten, erregte ihn außerordentlich. Als würde er die Rinde eines Baumes abschälen und darunter eine Frau vorfinden. Sie zitterte, als er sie auf den Bettrand legte, ihre Beine spreizte und sie zu lecken begann. Wenig später hatte sich der Feuchtigkeitsfilm auf ihrer Haut in Schweiß verwandelt, noch ein bißchen später stieß sie einen heftigen Wonneschrei aus. Er bot ihr seinen Mund, und sie leckte ihn gierig ab. Die Art, wie sie mitging, erregte ihn noch mehr. Eine Hand zwischen ihren bebenden Schenkeln, kroch er über sie. Sein Schwanz hatte eigene Pläne gemacht, aber sie reagierte sofort. Lachend stemmte sie ihre Handflächen gegen seine Brust. »Du hast was vergessen!« »Laß uns ein Baby machen«, bettelte er, während er sie leicht anhob und vorwärts drängte. Sie drückte ihn weg und wand sich unter ihm, um die Beine zusammenzupressen und sich aus seiner Belagerung zu befreien. Entweder er ließ sie gehen oder er würde gleich Höllenqualen erleiden. Mit angezogenen Knien starrte sie ihn an. Er atmete ein paarmal tief durch, stand schließlich auf, wühlte in seinem Koffer herum und kam mit einem Gummi zurück. Sie hielt ihm die Hand hin. Er legte es hinein und ließ es sich von ihr überstreifen. Die Berührung hatte zwar auch ihren Reiz, dennoch schloß er den Tränen nahe die Augen, so sehr sehnte er sich nach Kontakt mit ihrer ungeschützten Haut. Sie streichelte ihn, dann holte sie ihn in sich hinein. Er beobachtete, wie ihr Gesicht sich verzerrte, als sie kam. »Du könntest das Semester noch fertig machen«, meinte er, nachdem sie aus dem Bad zurück war. »Von Juni an wärst du nur fünf Monate weg.«
Die Art, wie sie das Nachthemd über ihren feuchten Kopf zerrte, ließ keinen Zweifel aufkommen, daß sein Vorstoß danebengegangen war. »Was ist so fürchterlich daran, noch ein Baby zu haben?« Stöhnend warf sie sich bäuchlings aufs Bett und hämmerte frustriert auf ihr Kissen ein. »Du lebst einfach nicht auf diesem Planeten, Junior Clootie. Du lebst irgendwo auf dem Mond und ernährst dich von Mondschein und Eiskrem-Pops!« Er lachte tief aus dem Bauch. »Klingt lecker. Du bist ja richtig komisch.« »Und du bist verrückt!« »Jetzt werd nicht gleich sauer«, versuchte er sie zu besänftigen. »Du siehst doch selbst, wie schnell Dynah groß wird. Sie ist schon fast kein Baby mehr.« »Junior!« Kissy richtete sich kerzengerade auf und sagte langsam und deutlich, als hätte sie ein kleines Kind vor sich: »Wir haben uns getrennt. Wir leben nicht zusammen. Ganz abgesehen davon, daß es Wahnsinn wäre, noch ein Kind zu bekommen, wenn ich nicht einmal weiß, ob wir verheiratet bleiben sollen, hast du immer gesagt, es hätte dir schrecklich gefehlt, nicht bei mir zu sein, als ich mit Dynah schwanger war. Das wäre diesmal auch nicht anders.« »Ich wäre den ganzen Sommer über hier…« »Bis auf die massenhaften Abstecher ins Trainingscamp. Aber egal – das Baby würde im, na, ungefähr im Oktober kommen, und dann wäre ich wirklich allein.« »Schon gut. Vergiß es.« Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Sie stand auf, um die Haustür abzuschließen und die Lichter auszumachen. Als sie zurückkam, starrte er immer noch an die Decke, einen Arm hinter dem Kopf, und startete den nächsten Versuch. »Seit wir wieder zusammen sind, haben wir Gummis benutzt. Ich fand das in Ordnung, weil ich Mist gebaut und dich angesteckt hatte. Nach Dynahs Geburt war es ein notwendiger Schutz. Aber jetzt sind wir verheiratet und ich bin dir treu, absolut treu, und du zwingst mich immer noch, die Dinger zu benutzen! Das ist nicht mehr fair…« »Ich hab’s oft genug drauf ankommen lassen…« »Bloß weil Schwanz dir besser schmeckt als Gummi.«
»Danke vielmals«, versetzte Kissy. »Ich habe dir einmal vertraut, und was dabei rausgekommen ist, war ein Tripper.« In dem Augenblick schrie Dynah. Kissy lief schnell zu ihrem Bett, um sie hochzunehmen. Sie setzte sich in den Schaukelstuhl und knöpfte ihr Nachthemd auf, damit das Baby trinken konnte. Durch die geöffnete Tür konnten Junior und sie sich sehen. Mit einer Stimme, die wegen des angestrengten Versuchs, ruhig zu bleiben, gepreßt klang, fuhr sie fort: »Du bist dreitausend Kilometer weit weg. Du bist die Hälfte der Zeit unterwegs. Wie kann ich dir glauben, wenn du sagst, du vögelst nicht in der Gegend rum?« »Es wäre jedenfalls verdammt viel einfacher, wenn du mit mir leben würdest!« Junior rollte sich vom Bett, um seine Shorts aufzuheben. »Verdammt viel einfacher für mich, keinen Scheiß zu bauen, und verdammt viel einfacher für dich, mir zu glauben«, sagte er, während er hineinhüpfte. »Das ist doch lächerlich, Kissy.« Den Blick auf einen nackten Mann, der soeben in seine Unterhose stieg, war sie ganz seiner Meinung. Schnell schaute sie auf Dynahs Kopf hinunter, um nicht zu kichern. »Daß ich Gummis benutze, ist noch lange keine Treuegarantie«, meinte Junior. »Es schützt dich nur vor einer möglichen Infektion. Oder mich. Du kannst genauso gut in der Gegend rumvögeln wie ich. Kann ja sein, daß ich’s verdient habe, einmal bestraft zu werden, aber allmählich reicht’s, Kiss.« »So viel also zu deinem Babywunsch«, schoß sie zurück. »Du hast bloß keine Lust mehr auf Gummis. Du kannst von Glück reden, daß du überhaupt ran darfst…« »Quatsch! Du bist genauso scharf drauf wie ich. Für dich spielt es doch gar keine Rolle, ob Gummi oder nicht.« Das Kichern war ihr vergangen. Sie beobachtete das Pulsieren der Fontanelle, während sie über Dynahs seidige Haarrollen strich. Junior ging neben ihr in die Hocke, eine Hand auf ihrem Knie. »Menschen machen Fehler. Du wirst keinen finden, bei dem das nicht so ist. Unser einziges Problem besteht in mangelndem Vertrauen. Laß uns noch mal von vorn anfangen. Den ganzen alten, immer gleichen Krempel über Bord werfen.« Ein demütigender Tränenschwall ergoß sich über Kissys Gesicht. »Ich kann nicht!« Er zuckte zusammen. »Kiss…«
»Ich kann nicht!« Dynah öffnete verschlafen die Augen und sah zu ihrer Mutter hoch. Ihre kleinen Finger gruben sich verängstigt in Kissys Brust. Junior stand auf. Als er Sekunden später zurückkam, hatte er Taschentücher dabei. Dann machte er ihr einen heißen Kakao, den sie, von einer frischen Tränenflut begleitet, entgegennahm. Dynah war wieder fest eingeschlafen. Er hob sie vorsichtig hoch und legte sie in ihr Bett zurück. Kissy konnte offenbar nicht aufhören zu weinen. Nichts, was er sagte oder tat, hatte irgendeinen Einfluß darauf. Er zog sich ins Badezimmer zurück, schloß die Tür hinter sich ab, setzte sich auf den Wannenrand und versuchte die ihm hochkommende Galle niederzukämpfen. Wenn er sie tatsächlich so unglücklich machte, dachte er, war eine Trennung vielleicht wirklich das Beste. Irgend etwas mußte es geben, das er unterließ, das er tun konnte. Er ballte die Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder, x-mal hintereinander, um nicht die verdammte Wohnung auseinander zu nehmen. \ 23 [ Kufen quietschten auf dem Eis wie Fingernägel auf einer Tafel. Junior beobachtete seinen Bruder, der lässig seine Kreise drehte und dabei insgeheim Vorbereitungen traf, ihm einen Puck zwischen die Augen zu donnern. Esther hatte schon immer gern darüber gewitzelt, wie schön es sei, daß ihre beiden Jungs so prächtig miteinander spielen könnten. Ihre Art, damit klarzukommen, daß sie mit Vergnügen Holzlatten auf der Nase des anderen zu zerschmettern versuchten. Mark glitt mit Unschuldsmiene über das Eis, als täte er es nur so zum Spaß. Junior kannte die Gewohnheiten seines Bruder genauso gut wie seine eigenen und war nicht im Mindesten überrascht, als Mark plötzlich seine Blitzattacke machte, einen Puck auf dem äußersten Rand des linken Anspielkreises fallen ließ und gleichzeitig mit einem anderen wie erwartet mit hohem Stock auf ihn zielte, der kleine Mistkerl. Den einen stoppte Junior mit dem Fanghandschuh, den anderen mit seinem Stock. »Blöd gelaufen, was?«, rief er fröhlich über das Eis. Die Typen am gegenüberliegenden Ende der Eisfläche – ausschließlich momentane Spectres, die sich die Zeit mit etwas Extratraining vertrieben – brachen in Gelächter und beifälliges Grölen aus.
Mark traktierte ihn noch eine Weile, sie schlossen sich einem Scrimmage an, dann drehte er noch ein paar Runden auf dem Eis. Auch Mark verlegte sich auf simples Schlittschuhlaufen, und Junior stellte grinsend fest, daß er wohl doch einen gewissen Einfluß auf seinen Bruder hatte. Später in der Umkleide meinte Mark, während er sich nachdenklich an den Eiern kratzte: »Bernie hat Vorwehen. Vielleicht kommt das Baby noch, solange du hier bist. Glaubst du wirklich, es ist von Deker?« »Fallen dir vielleicht noch andere Kandidaten ein?« Mark schüttelte den Kopf. »Irgendwann brech ich dem Kerl das Nasenbein…« »Schon geschehen.« »Ja, aber das war dein Privatvergnügen. Ich will es für mich tun. Stell dir vor – das Schwein ruft alle paar Tage bei uns an und dann quatscht sie stundenlang mit ihm.« »Nein.« Junior war baff. »Doch. Er will sie heiraten, sagt sie. Ma oder Dad hat sie noch nichts davon erzählt. Ich nehme an, sie denkt drüber nach.« »Nur über meine Leiche!« »Hmhm, genauso sehe ich das auch«, grinste Mark. Wieder in Kissys Wohnung, wo das Licht strahlender, die Wärme wohliger war, begrüßte ihn Dynah auf die üblich stürmische Art. Sie stellte ihre kleinen Füße auf seine und ließ sich kichernd im Rückwärtsgang von ihm durch den Flur schleppen. Kissy tauchte gerade eine Fingerspitze ins Dressing, um zu probieren. Er setzte Dynah dicht neben ihr ab und schmachtete sie an, bis sie ihm ihren Finger zum Ablutschen gab. Vinaigrette: Olivenöl, Zitrone, Pfeffer, Salz – nichts Aufregendes im Grunde, das er aber am liebsten von ihrem ganzen Körper geschleckt hatte. Anschließend ließ sie auch Dynah kosten; die entsetzte Grimasse, die das Baby daraufhin zog, brachte sie alle zum Lachen. »Mark sagt, daß Bernie Vorwehen hat.« »Ich weiß. Ich habe mit ihr gesprochen.« »Weißt du auch, daß sie mit Deker übers Heiraten spricht?«
»Nein.« Kissy stürzte sich seufzend in hektische Aktivitäten, stellte scheppernd die Teller auf den Tisch, verspritzte den Eintopf, als sie ihn aus der Kasserolle in eine Terrine gab. Er schnallte das Baby im Hochstuhl fest. »Ich helfe dir.« Schweigend überließ sie ihm die Terrine. Er stellte sie auf den Tisch. Dann reichte sie ihm Vollkornbrot und den Salat und sie setzten sich hin. Er gab Dynah ihren Löffel, damit sie ihn gegen die Holzplatte schlagen konnte, während die zermanschte Kartoffel am Rand seines Teller für sie abkühlen konnte. »Wie kann sie auch nur daran denken, nachdem sie gesehen hat, was aus uns geworden ist?«, fragte Kissy plötzlich. »Wir könnten unsere Probleme lösen. Außerdem bin ich nicht Deker, Kissy.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist diejenige, die unbedingt hier bleiben will.« Er unterbrach sich kurz, um Dynah etwas von der Kartoffel in den Mund zu schieben. »Ich habe überhaupt nicht vor, euch im Stich zu lassen.« »Was macht das für einen Unterschied? Zusammen wären wir trotzdem nicht, auch nicht, wenn wir zusammen leben würden.« Ihr vorwurfsvoll wütender Tonfall veranlaßte ihn, sie anzusehen. Und brachte ihn in Rage. »Es ist ein himmelweiter Unterschied und genau deswegen bin ich hier. Um es dir zu beweisen. Ich bezahle sogar dafür – für die Wohnung, für die Rechnungen, sogar für das bißchen Muschi, wenn ich gerade mal in der Stadt bin…« …… Kissy sprang auf und stolzierte hinaus. »Mist!«, brummte er vor sich hin. Mit dem Baby auf dem Arm ging er ihr nach. Sie hatte sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett geworfen, neuerdings eine ihrer Lieblingsaktionen bei einem Krach. Er setzte sich neben sie und ließ Dynah auf ihrer anderen Seite herunter. Das Baby kroch an ihr hoch, um neugierig an ihren Haaren zu zupfen. Kissy drehte Dynah das Gesicht zu, woraufhin diese selig zu krähen begann. Behutsam berührte er Kissys Knöchel. »War nicht so gemeint. Ich bin furchtbar gern mit euch beiden zusammen.« Er zögerte kurz. »Sogar wenn wir streiten.« Damit hatte sie nicht gerechnet. Für einen kurzen Moment konnte er den Kampf in ihrem Innern sehen, dann war es vorbei, die Tür wieder zu. Er hatte sie tief getroffen und zugleich in die Abgründe
ihres Widerstands geblickt. Sekundenlang schwankte er zwischen Jubel und Entsetzen. Trotz der nagenden Anspannung, der Angst, etwas zu sagen oder zu tun, das erneut in Tränen oder Gegenbeschuldigungen enden würde, wog der Rest ihrer gemeinsamen Zeit die Schwierigkeiten eindeutig auf. Kissy klebte förmlich an ihm. Ein Teil seiner Heimtrips entsprach voll und ganz seinen Wunschvorstellungen. Er gab sich selbst den Rat, nichts Unmögliches zu verlangen. Es entsprach genau dem, was seine Mutter manchmal sagte: Wenn das alles ist, was dir bestimmt sein soll, solltest du besser zufrieden damit sein. Mit der Macht einer Naturgewalt fiel ein Eissturm über Peltry her. Obwohl der Himmel aufklarte, blieben die Temperaturen mehrere Tage lang unter Null. Kissy fotografierte die wie geäderte Kristalle aussehenden Bäume, die Starkstromleitungen, die die Stadt wie verglaste Bänder umschnürten. Zur Mittagszeit glänzte das Eis hart und grell, wurde das Licht langsam weicher und blaß, begann es prismatisch zu leuchten. Dann kam Regen. Er weichte das Eis auf und durchtränkte den Schnee. Kissy wurde von einem Rumpeln geweckt, das wie ein Erdbeben klang, gefolgt von einem Wummern, als würde ein Riese gegen die Bande geschmettert. Langsam dämmerte ihr, daß es sich um eine Lawine regenmaroden Schnees gehandelt hatte, die das Dach hinuntergesegelt war. Zu allem Überfluß läutete auch noch das Telefon. Juniors Stimme verwandelte sich in Marks. Vor Aufregung stotternd versuchte er ihr zu sagen, daß Bernie einen Sohn geboren hatte. Mike Burke erspähte Kissy Mellors hinter der Kamera vor dem Guckloch in der Plexiglasscheibe. Er registrierte den Ehering an ihrem Finger, den sie immer noch trug, obwohl jedermann wußte, daß Clootie und sie sich getrennt hatten. Wären sie rechtskräftig geschieden, hätte er einhundert Mäuse mehr in der Tasche gehabt, aber bis jetzt hatte sie die Scheidung nicht einmal eingereicht – sagte der Anwaltsgehilfe, der auch am Gesamteinsatz beteiligt war. Vielleicht trug sie den Ring aus dem gleichen Grund wie manch andere Frau: um unerwünschten Nachstellungen von vornherein einen Riegel vorzuschieben.
Es ging das Gerücht, Clooties kleine Schwester hätte ein Kind von dem obergeilen Russen gekriegt. Wenn ja, war sie wohl so ziemlich die einzige ledige Mutter im ganzen Land, die es versäumt hatte, eine Vaterschaftsklage gegen den kleinen Scheißer anzustrengen. Die Spectres waren beinah so gut wie zu den Zeiten, als Junior Clootie noch im Tor gestanden hatte. Es hieß, daß sie es auch diesmal wieder bis zu den Play-off-Spielen der Regionalliga schaffen und schwer auf einen weiteren Titel als Landesmeister zusteuern würden. Burke sah keinen Grund, dem zu widersprechen. Clooties Bruder war wirklich eine herausragende Figur. Burke selbst interessierte sich für Eishockey nur am Rande, seine eigentliche Leidenschaft galt dem Basketball. Aber er war mit seinem Chef sowie zwei Begleiterinnen hier, genau die Sorte Einladung, der man sich demutsvoll zu unterwerfen hatte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Kissy Mellors. Sie trug die obligatorische Levi’s und einen dicken Pullover, der die Mordsschwellungen auf ihrer Brust halbwegs unter Dach und Fach hielt. Als sie sich etwas streckte, rutschte der Pullover über ihrem Hintern hoch. Er war noch genauso erstklassig wie vor dem Baby und im Moment sogar faszinierender als die schwere Körperverletzung auf dem Eis. Gegen Ende des zweiten Drittels verließ er seinen Platz, um einen Getränkeautomaten mit Vierteldollarmünzen zu füttern und die daraufhin hervorgerülpste Cola-Dose aufzufangen. Die Security-Leute waren Cops außer Dienst und kannten ihn, so daß er nicht erst die Marke schwenken mußte, um Zugang zu dem abgesperrten Bereich direkt hinter dem Plexiglas zu bekommen, wo die Arena Mannschaft und die Medienfritzen herumwuselten. »Na, wie geht’s?« Er quetschte sich neben sie und hielt ihr die Cola-Dose hin. Mit einem kurzen, zerstreuten Lächeln musterte sie seine Gabe. »Danke. Könnten Sie noch eine Sekunde warten?« »Hätten Sie dann vielleicht eine ganze Minute für mich?« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Vierzehn sogar.« Nachdem sie ihren Krimskrams gesichert hatte, stand sie auf und nahm ihm die Dose ab. Freundschaftlich legte er eine Hand auf ihren Ellbogen. »Wie geht’s denn so? Soviel ich gehört habe, sind Sie und Junior nicht mehr zusammen.«
»Wir leben getrennt.« Ihr Tonfall, die Art, wie sie jeglichen Blickkontakt vermied, ließ keinen Zweifel daran, daß dieses Thema nicht zur Debatte stand. »He – es freut mich riesig, Sie wiederzusehen.« Als Reaktion auf den zarten Annäherungsversuch preßte sie unwillig die Lippen zusammen und parierte mit einem kurzen »Hmhm.« Er machte sich dünn. Sie war mitten in der Arbeit, sie war frisch getrennt. Er war bloß in Aufreißerlaune. Ihre Tagesroutine lastete sie vollkommen aus. Baby, Pool, Baby, Vorlesung, Baby, Arbeit, Baby. Einmal in der Woche fuhr sie zu Ruth, einmal am Tag traf sie sich mit Bernie. Mit fester Hand und vertrauensvoller Zuversicht, daß Bernie es schon schaffen würde, erteilte Esther ihr Gratislektionen in Mutterschaftspraxis. Und Bernie lernte schnell. Sie ließ Deker zwar einige Schnappschüsse zukommen, schickte jedoch eine Menge Babygeschenke zu ihm zurück, als er sich weigerte, ohne vorherigen Bluttest für die Arztkosten aufzukommen. Ihre Balz, sofern es denn eine war, kam zu einem abrupten Stillstand. Dynah war mittlerweile zu schwer, um ständig getragen zu werden, und zu unruhig, als daß es noch ungefährlich gewesen wäre. So wurden ein Sportwagen samt Laufgeschirr und Leine in ihren Ausrüstungsbestand aufgenommen. Als die ersten Zähne durchbrachen, genoß Dynah es sehr, auf der breiten Leine herumzukauen, und schien es auch sonst eher angenehm zu finden, mit Kissys Handgelenk verbunden zu sein. Windeln, Sachen zum Wechseln, Wasserflaschen, Spielzeug und Bücher zum Ablenken und zur Beschäftigung – der Umfang des Babygepäcks nahm von Tag zu Tag zu, bis Kissy sich schließlich wie ein Packesel vorkam. Zudem lenkte das Baby sie durch seine wachsende Mobilität immer mehr ab. Sie rang um Zeit und Energie, manchmal lediglich um genügend Konzentration, ihre Dias zu rahmen, geschweige denn ein Foto machen zu können. In den Semesterferien fuhr sie mit Dynah zu Junior. Einige Tage verbrachten sie zusammen in dem schiefen kleinen Haus, dann gingen sie gemeinsam mit ihm auf Tour. Es gab Stunden, in denen er mit Kraftsport, Training und anderen Teamaktivitäten beschäftigt war. Da sie nichts anderes zu tun hatte, ging Kissy mit Dynah auf Entdeckungsreise, zog mit ihr durch Mu-
seen und Tierparks und was ihr sonst noch ins Auge stach. Sie fand heraus, daß es tatsächlich möglich war, ohne Kochen zu leben. Und während sie auf den Zimmerservice wartete, konnte sie von geöffneten Hotelfenstern oder Hotelbalkonen aus hinunter fotografieren, manchmal auf eine Innenstadt, manchmal auf ein Einkaufszentrum an der Peripherie oder auf eine Autobahn. Auf Hotelparkplätzen ereigneten sich bisweilen die erstaunlichsten Dinge und in den Gebäuden selbst stieß sie massenhaft auf Motive. Außerdem hatten die meisten Hotels einen Swimmingpool, so daß sie Dynah frühmorgens bei Junior lassen und in Seelenruhe ein paar Bahnen ziehen konnte. Es war nicht mehr ausgeschlossen, dieses Leben zu mögen. Sein Leben. Eine lehrreiche Erfahrung war es obendrein, fand sie; neue Erkenntnisse über ihn, neue Erkenntnisse über sich selbst. Da ihre Spritztour sie auch nach Chicago führte, erhielt Kissy Gelegenheit, einen Tag mit Mary Frances zu verbringen. Die Freude über das Wiedersehen wurde leicht gedämpft durch die Spannung, die beim Besuch in der gemeinsamen Wohnung ihrer alten Freundin und deren neuer Lebenspartnerin aufkam. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, um sich eine Fotoausstellung in einer Kunstgalerie anzusehen, begann Mary Frances sich in defensivem Ton zu entschuldigen. »Inga tut sich nicht leicht mit heterosexuellen Frauen, besonders wenn sie verheiratet sind und Kinder haben. Sie ist ziemlich radikal.« Mit gesenktem Blick fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich bin inzwischen auch viel radikaler als früher.« Vielleicht war nicht nur die ehemalige Heimat etwas, das unweigerlichen Veränderungen unterworfen war, sondern auch alte Freunde, überlegte Kissy. Niemand stand still und wartete darauf, daß man wiederkam. Durch die Begegnung mit Mary Frances stark verunsichert, beschloß sie, Nägel mit Köpfen zu machen und gleich auch ihren Vater aufzusuchen, als sie in die Gegend um Washington kamen. Sie mietete einen Wagen, schnallte Dynahs Kindersitz auf der Rückbank fest und machte sich auf den Weg nach Maryland. Die nichts sagende Adresse, die sie bei der Air Force bekommen hatte, entpuppte sich als abgeschieden gelegenes, ausgesprochen schönes großes Haus. In der geschwungenen Auffahrt schmiegte sich das neueste Modell einer Corvette an einen Oldtimer derselben Marke, der so gut erhalten war,
daß er ebenfalls wie frisch aus dem Ausstellungsraum aussah. Mit einer Opulenz solchen Ausmaßes hatte Kissy nicht gerechnet. Falls ihr Vater tatsächlich hier wohnte, mußte er finanziell außerordentlich gut gestellt sein. Sie holte die nach einem neunzigminütigen Nickerchen im Auto noch recht verschlafene Dynah aus dem Sitz, setzte sie auf ihre Hüfte und ging über den gepflasterten Weg auf die breite, getäfelte Haustür zu. Die Frau, die ihr öffnete, war etwa Mitte zwanzig und von den hohen, vollen Brüsten abgesehen ziemlich dünn. Lebendige Intelligenz leuchtete aus ihrem schmalen Gesicht. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie Dynah entdeckte. »Ja bitte?« »Ich suche Ken Mellors«, sagte Kissy. Das Lächeln machte gelinder Überraschung Platz. »Ach so. Ich dachte, Sie hätten sich vielleicht verlaufen.« Sie musterte Kissy und Dynah genauer. Kissys Blick wanderte zu dem Ringfinger der jungen Frau, an dem ein Ehering wie auch ein großer Diamant steckten. Die Frau hatte den Blick bemerkt. »Ich bin Mrs. Mellors«, sagte sie in plötzlich kühlem Ton. »Angela.« Dynah wurde langsam schwer. Sanft stellte Kissy sie auf den Boden und nahm ihre Hand. Angela Mellors betrachtete Dynah mit Argusaugen. Voller Mißtrauen, schoß Kissy durch den Kopf, daß sie ein gemeinsames Kind ihres Mannes und dieser Frau sein könnte, die da auf ihrer Türschwelle stand. Doch der intensive Blick machte auch vor Kissy nicht halt, und welche Ähnlichkeiten sie auch immer bei Dynah entdeckte, bei Kissy fand sie sie ebenfalls. Das Unbehagen in ihren Zügen verwandelte sich in Verwirrung. »Das war meine Mutter auch einmal. Ken ist mein Vater«, klärte Kissy sie auf. »Und das ist meine Tochter Dynah. Ich bin Kissy.« Die junge Frau war wie vom Donner gerührt. Ihr verblüffter Gesichtsausdruck verriet, daß sie nichts von einer Tochter namens Kissy, geschweige denn einer Enkelin gewußt hatte. Und doch bestand nicht der geringste Zweifel daran. Angela Mellors räusperte sich. »Bitte, kommen Sie herein.« Sie führte Kissy durch eine geräumige Eingangshalle an einem Raum vorbei, in dem bewegliche Farbmuster über einen Computer-
monitor glitten. »Meine Arbeit«, erklärte sie automatisch. »Ich entwickle Software.« Meine Stiefmutter, die Software-Entwicklerin, dachte Kissy. Unwillkürlich mußte sie an die Mutter aus dem Spielfilm Kramer gegen Kramer denken, die ihr Kind verlassen hatte, um Karriere als Sportmode-Designerin zu machen. In dem Roman waren ihre Motive nicht als so unausweichlich oder lebensnotwendig dargestellt worden. Irgendwo zwischen Buch und Film mußte jemand beschlossen haben, der gehenden Mutter eine Verständnisheischendere Komponente zu verleihen. Nur in der Welt des Spielfilms konnte eine Karriere als Sportmode-Designerin als persönliche Befreiung gelten. Kissy riß sich zusammen. Sie hatte keinen Grund, auf diese junge Frau böse zu sein. Angela Mellors war nicht weniger durcheinander. Wortlos deutete sie im erlesen möblierten Wohnzimmer auf zwei einander gegenüberstehende Sofas mit marshmallowfarbenem Seidenbezug. Kissy sank vorsichtig auf eines nieder. Dynah krabbelte auf ihren Schoß und klammerte sich an ihr fest, während ihre großen Augen das fremde Terrain sondierten. Angela ging zum Telefon und drückte den Knopf der Haussprechanlage. »Ken, hier ist jemand, der dich sehen möchte. Wir sind im Wohnzimmer.« Sie legte schnell auf. »Dann bin ich also Ihre Stiefmutter«, sagte sie mit einem nervösen kleinen Lachen und ließ sich in sicherer Entfernung von Kissy auf der Sofaecke nieder. »Und Dynahs Stiefgroßmutter«, fügte Kissy hinzu, was Angela Mellors nach Luft schnappen ließ. Großmutter von einer Sekunde auf die andere, und das mit Mitte zwanzig. Dynah begann leise zu quengeln und zerrte an Kissys Jeansjacke. Kissy versuchte sie zu beruhigen, aber die Kleine stemmte sich aus ihrer Umarmung und rutschte von ihrem Schoß. Sich ständig vergewissernd, daß ihre Mutter noch da war, spazierte sie im Zimmer herum. In dem Moment tauchte Kissys Vater auf. Bei ihrem Anblick blieb er wie angewurzelt stehen, während die Neugier in seinem Gesicht einem undefinierbaren Ausdruck wich. Angst vielleicht. Wut. Gereiztheit. Er war natürlich älter geworden, obwohl sie kein einziges graues Haar auf seinem Kopf entdeckte und er so schlank und fit aussah wie eh und je. Das Alter zeigte sich in seiner Haut, in den
netzartigen Fältchen, dem schlaffen Gewebe um die Augen herum und am Hals. Wenn ihre Berechnungen stimmten, mußte er fünfzig sein, und die Ähnlichkeit mit Kevin verblüffte selbst sie. Sie wurde plötzlich wieder zum Teenager, dem sich aus Angst vor dem Vater, vor seinen schneidenden Worten, seiner eiskalten Zurückweisung der Magen zusammenzog. Und sie bebte vor Zorn. Er hatte diese junge Frau geheiratet und sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihr von seiner Exfrau, von seinen Kindern zu erzählen. Womöglich hatte er nach ihrer Mutter noch mehr Frauen geheiratet und sich wieder von ihnen scheiden lassen, ohne die Existenz seiner ersten Familie zu erwähnen. Vielleicht hatte sie sogar Geschwister, von denen sie nichts wußte. »Hallo Daddy«, sagte sie ruhig. »Ich war zufällig in der Stadt, da dachte ich, ich schau mal rein, damit du Dynah kennen lernen kannst. Ich hatte dir Fotos von ihr geschickt…« »Du bist nur hier, um mich in Verlegenheit zu bringen. Auftrag ausgeführt«, erwiderte ihr Vater. »Du kannst wieder gehen.« »Was hab ich dir eigentlich getan?«, schrie Kissy. Angela sprang auf. Ihr Gesicht war vor Aufregung und Verwirrung hochrot. »Du weißt nicht, worum es hier geht«, warnte Ken Mellors seine Frau. »Halt dich da raus.« Angela warf den Kopf zurück, als hätte er sie geschlagen. »Ich denke, jemand sollte mich langsam aufklären«, sagte sie zu Kissy. »Ich habe einen Bruder«, erwiderte Kissy rasch. »Sein Name ist Kevin und meine Mutter heißt Caitlin. Sie ist Textil-Künstlerin, lebt unten an der Ostküste und hat einen kleinen Jungen…« Sie registrierte das kurze, schockierte Flackern im Blick ihres Vaters angesichts dieses speziellen Informationsbrockens mit Genugtuung. »Das reicht«, sagte er scharf. »Ich werde Angela alles erzählen, was sie wissen muß.« »Ich bin mit einem Profi-Eishockeyspieler verheiratet…« Ihr Vater tat ein paar Schritte vorwärts, woraufhin sie instinktiv nach Dynah griff. »Wenn ihr Lust habt, euch heute Abend das Spiel anzusehen, könnte ich zwei Eintrittskarten am Reservierungsschalter zurücklegen lassen«, stieß sie mit brechender Stimme und dem unguten Gefühl
hervor, einen kompletten Narren aus sich zu machen. »Warum bist du nur so ein Mistkerl?«, brüllte sie ihn an. Dynah begann zu wimmern. »Ist schon gut, ist schon gut. Ich wollte dir keine Angst machen«, versuchte sie das Kind zu beruhigen. »Meine Tochter versteht sich bestens auf lachhafte Szenen«, sagte ihr Vater zu Angela. »Das hat sie am Rockzipfel ihrer Mutter gelernt. Ich habe viel zu jung geheiratet. Fünfzehn Jahre habe ich in diese Ehe investiert, bis mir endlich klar geworden ist, daß es ein schwerwiegender Fehler war. Ich habe es hinter mir gelassen…« »Siebzehnjahre«, sagte Kissy. Ohne sie zu beachten, fuhr er an Angela gewandt fort: »Die Kinder waren Teenager damals, fast schon erwachsen…« »Du hättest es mir erzählen sollen!«, platzte Angela heraus. Kissy marschierte mit Dynah auf der Hüfte an ihr vorbei. »Kissy!«, versuchte Angela sie aufzuhalten. »Sie hat erreicht, was sie wollte«, meinte ihr Vater. »Was ich wollte«, sagte Kissy und drehte sich um, »war, dich sehen. Was ich wollte, war, daß du Dynah siehst. Ich bin inzwischen erwachsen. Ich dachte, du wärst es vielleicht auch.« Sie machte auf dem Absatz kehrt, verließ das Haus und ging zu ihrem Mietwagen. Angela kam hinter ihr her. »Kissy – bitte geben Sie mir Ihre Telefonnummer und Ihre Adresse. Ich werde nicht zulassen, daß es auf diese Weise endet.« »Es ist hoffnungslos«, erwiderte Kissy, während sie Dynah im Kindersitz festschnallte. »Vermutlich sollten Sie nicht weiter in ihn dringen. Sie könnten noch mehr unangenehme Überraschungen erleben.« Angela schlang die Arme um ihren Körper, als wäre ihr plötzlich kalt. »Er ist härter zu sich selbst als jeder andere…« Kissy schüttelte den Kopf. »Ja, ich weiß. Er ist ein richtiger Held. Wir waren diejenigen, die ihn im Stich gelassen haben. Deshalb hat er auch nie einen Cent Unterhalt gezahlt, deshalb brauchte ich ein Begabtenstipendium, um aufs College gehen zu können, deshalb hören wir nie etwas von ihm und deshalb hat er unsere Existenz vor Ihnen verheimlicht. Machen Sie sich nicht allzu viel draus. Meine Mutter ist auch keine dumme Frau und sie war ebenfalls mit ihm verheiratet.«
Verletzt wich Angela Mellors vor ihr zurück. »Gehen Sie«, flüsterte sie kaum hörbar. »Was für ein Schwein!«, sagte Junior. Dynah schlief. Er hatte den Whirlpool angeschmissen. Die Suite kostete ihn extra, aber sie war mit einem Schlafraum für Dynah und dem Jacuzzi-Becken ausgestattet, das ihm so gut tat. Es war beinah Mitternacht, das Spiel gespielt und gewonnen. Er fühlte sich körperlich ebenso zerschlagen und lädiert wie Kissy auf der Gemütsebene. »Ich kann einfach nicht glauben, daß er nicht mal mit dir sprechen wollte. Und die neue Gattin kommt frisch vom College, was?« Kissy rieb ihr Gesicht an seiner Schulter. »Es war eine blöde Idee, dort hinzufahren.« »Finde ich nicht. Du konntest ja nicht wissen, was dabei rauskommen würde. Es hätte genauso gut sein können, daß er inzwischen vernünftig geworden ist, oder daß Angela ihm ins Gewissen geredet hat.« »Ich begreife bloß nicht, wie jemand so lieblos sein kann«, murrte Kissy resigniert. Junior begriff es so wenig wie sie. Aber er konnte ihr nicht helfen, auch wenn er dem Mistkerl am liebsten in den Hintern getreten hätte. Er seufzte, tippte ihr zärtlich gegen das Kinn und rieb seine Nase an ihrer. Zur Belohnung bekam er ein kleines, zögerndes Lächeln zu sehen. Am Ende der Saison hatte Junior eine Leistung geliefert, die sein Agent als ›prämienverdächtig‹ bezeichnete. Im Sog einer Gerüchteflut kehrte er nach Peltry zurück: Es hieß, Clubs mit wirklichem Play-off-Potential dächten ernsthaft über ihn nach. Der zaghafte Vorsatz, sich in der Nähe des Campus eine Bleibe zu suchen, löste sich angesichts der Begeisterung, mit der Dynah sich morgens, wenn er aufwachte, auf ihn stürzte, rasch in Wohlgefallen auf. Es schien ihm das Beste zu sein, einfach bei ihnen zu wohnen. Auch wenn er es albern fand, auf dem Sofa schlafen zu müssen, obwohl ihre sexuelle Beziehung zu keiner Zeit ihrer Trennung ausgesetzt worden war. Sie mieteten wieder ein Sommerhaus an einem See, diesmal nur drei Stunden von Peltry entfernt. Kissy füllte Schachtel um Schachtel mit Negativen, von denen sie später Abzüge machen wollte.
Dynah rennt nackt, mit pumpenden Beinchen und kreischend aufgerissenem Mund, in der einen Hand einen Plastikeimer, in der anderen eine Schaufel, von Junior gejagt durchs Haus. Junior liegt faul in der Hängematte und lauscht einem Baseballspiel im Radio, während Dynah wie eine Miniatur von ihm auf einer Decke in seinem Schatten schläft. Dynah in der Luft, nachdem Junior sie im Wasser hochgeworfen hat. Dynah beugt sich mit skeptischer Miene über die frisch gefangenen Fische, die Junior ihr stolz zeigt. Bernie und Casey auf Besuch. Dynah mit kullerrunden Augen wegen Casey. Eines Tages am Strand entdeckte Dynah Juniors Brustwarzen. Er lag auf der Seite und las in einer Zeitschrift, während sie neben ihm im Sand spielte. Nach einer Weile hob sie den Kopf, um aus zusammengekniffenen Augen die Umgebung zu inspizieren. Kissy sah ihren Blick an Juniors Brust hängen bleiben und sorgfältig deren Topographie samt dem Gewirr roter Haare studieren. Dann ging sie schnurstracks auf ihn los. Vorwitzige kleine Finger packten eine Brustwarze. Junior fuhr zusammen und lachte. Dynahs Lippen schnappten zu und sie begann heftig zu saugen. »Au! Hilfe!«, heulte Junior auf. »Aua!« Dynahs Mund saß derart fest, daß er seinen kleinen Finger in ihren Kieferwinkel schieben mußte, um ihn loszubekommen. »He, Süße«, erklärte er ihr, »das ist ein trockener Euter. Da gibt’s nicht mal Magermilch.« Dynah grinste erst, dann begann sie laut zu lachen. Alles, was Daddy sagte, war fürchterlich komisch. »Du meine Güte«, sagte er, während er Dynah an Kissy weiterreichte. Vorsichtig berührte er seine geschundene Brustwarze. »Wie hältst du das bloß aus?« »Meine sind abgehärtet.« »Mama?« Dynah zupfte ungeduldig an Kissy Badeanzug. Stunden später, sie wollten gerade ins Bett, brachte Junior das Thema noch einmal zur Sprache. »Es hat sich angefühlt wie ein Vakuum.« Kissy brauchte nicht weiter nachzufragen.
Er starrte an die Decke, während sie aus ihren Sachen stieg. »Es war seltsam. Erst hat es wehgetan, aber dann hat es sich irgendwie… richtig angefühlt. Gut.« Als sie die Lampe ausschaltete, sah sie in dem kurzen Moment, ehe der Raum in völliger Finsternis lag, daß ihm die Röte in die Wange gestiegen war. Er drehte sich zu ihr um und legte eine Hand auf ihre Hüfte. »Ist das krank? Daß es prickelt, wenn die kleine Tochter an deiner Brust saugt?« Sie strich sacht über seine Brustwarzen. »Du hast es ja nicht darauf angelegt. Es ist so eine Art Reflex. Wie bei einer Prostatauntersuchung, bei der du plötzlich einen Steifen bekommst.« »Ich doch nicht!«, protestierte er empört. Kissy kicherte. Sie kuschelte sich an ihn. »Manchmal werde ich davon… na ja, nicht direkt spitz, aber sehr… sehr sinnlich. Es liegt nicht an ihr, verstehst du? Ich wasche sie, reibe ihren ganzen Körper mit Lotion ein, halte sie im Arm, schnuppere an ihr und küsse sie – aber das hat nichts mit Sexualität zu tun. Sie ist mein Baby, nicht mein Liebhaber. Die stärksten Gefühle, die mir ihr Nuckeln je verschafft hat, sind nichts im Vergleich zu dem, was ich bei dir empfinde.« »Ach, ja?« Er klang ebenso erfreut wie interessiert. »Ich hatte plötzlich den Wunsch, sie zu stillen.« »Still mich!« Sie ließ ihre Zungenspitze über seine Brustwarze gleiten. Ihr wurde schlagartig bewußt, daß Junior und sie nicht länger getrennt waren. An irgendeinem Punkt hatten sie wieder zusammengefunden. Dynah brauchte Junior. Und sie brauchte ihn auch. \ 24 [ »So geht das nicht«, sagte Junior. Sie waren in Saint Louis, der dritten Station im Rahmen einer Serie von Auswärtsspielen. Die dritte Januarwoche war angebrochen. Er saß auf dem geschlossenen Klodeckel neben der Badewanne und hielt Handtücher in der Hand. In der Wanne saß Kissy, Dynah zwischen die Beine geklemmt, während sie ihre Haare mit Shampoo einschäumte. »Keine andere Ehe-
frau folgt der Mannschaft auf Schritt und Tritt. Schon gar nicht mit einer Kamera.« Kissy schob Dynahs Kopf nach hinten und hielt einen Plastikbecher unter den Wasserhahn, um ihre Haare mit klarem Wasser auszuspülen. Dynah verdrehte die Augen und streckte ihrer Mutter die Zunge heraus. »Braves Mädchen«, tröstete Kissy. »Mach die Augen zu, dann brennt’s nicht so.« Dynah kniff verbissen die Augen zusammen und schob den Unterkiefer vor, so daß ihre Milchzähne zum Vorschein kamen, die wie ein Lattenzaun im Zahnfleisch steckten. Kissy streckte eine Hand aus und Junior legte ein Handtuch hinein. Sie wickelte es um Dynahs Kopf und begann vorsichtig zu rubbeln. »Sie haben bloß Angst, daß ich zufällig ein Foto von ihnen und irgendeinem Mädchen mache und ihre Frauen es zu sehen kriegen.« »Klar. Und es ist ihre Privatangelegenheit, Kissy.« »Bis jetzt habe ich noch keinen einzigen Abzug von den Bildern gemacht, geschweige denn, ihn irgendeiner Ehefrau geschickt.« »Manche von ihnen wollen nicht, daß ihre Frauen auch auf die Idee kommen, uns zu begleiten.« »Ist mir doch egal«, sagte Kissy, während sie ihm Dynah reichte. Er sprach von genau den Typen im Team, die ihm vorwarfen, ein Pantoffelheld zu sein. Dabei versuchten manche von ihnen sogar, sich an sie heranzumachen, sobald er ihnen den Rücken kehrte. Er verschwand mit Dynah im Schlafzimmer, um sie fertig abzutrocknen. Als Kissy aus dem Bad kam, hatte er gerade ihre Windel zugemacht. Sie rutschte vom Bett und tapste auf der Suche nach Spielzeug davon. Junior hob die Kamera hoch, die Kissy auf der Kommode hatte liegen lassen, und richtete den Sucher auf sie. Sie war nackt, zog gerade ein T-Shirt über den Kopf. Es reichte ihr bis knapp über den Po, wenn sie still stand. Wenn sie sich bewegte, blitzten Busch oder Backen hervor, je nachdem, ob sie kam oder ging. Sie legte ihre Finger vor die Linse. Er zog die Kamera zurück. »Wenn’s um dich geht, ist wohl alles anders«, versetzte er bissig. Sie warf sich rücklings aufs Bett und spreizte herausfordernd die Beine. Er legte die Kamera weg. »Ich will mich nicht streiten.«
Sie schloß die Augen, setzte sich hin und zog die Knie an. »Dann sag den Jungs, du bist nicht ihr Laufbursche. Sie sollen sich bei mir beschweren, wenn ihnen etwas nicht paßt.« »Sie versuchen nur, diplomatisch zu sein.« »Aha. Und ich dachte, sie hätten dir den guten Rat gegeben, deine Alte zurückzupfeifen. Um ihren Arsch zu retten…« »Wo wir gerade beim Thema sind – falls du mit dem Gedanken spielen solltest, im Umkleideraum aufzutauchen, vergiß es gleich wieder.« »Niemand hat ein Problem damit, wenn ein Fotograf von der Lokalzeitung, von Hockey World oder von Sports Illustrated im Umkleideraum auftaucht. Ich bin genauso sehr Profi wie diese Typen…« »Nur daß diese Typen eben Typen sind«, erklärte er ihr, als sei sie eine Vollidiotin, der dieses Detail bisher entgangen war. »Sie begünstigen dich.« »Und du bist meine Frau.« »Soll heißen, eine Möse an der Leine?« »Könnten wir das bitte sachlich behandeln? Die anderen Frauen finden es bestimmt nicht so toll, wenn du Fotos von ihren Männern in Unterhosen machst.« »Das darf doch nicht wahr sein! Um Himmels willen, Junior…« »Nicht um des Himmels willen.« Er setzte sich neben sie. »Meinetwegen. Ich verlange ja nicht, daß du gar nicht mehr fotografierst. Ich möchte nur, daß du den Jungs ihre Privatsphäre läßt. Bist du es nicht, die immer so viel von der Einwilligung der darzustellenden Person spricht?« »Was ich mache, ist Fotojournalismus, und ihr seid Figuren des öffentlichen Lebens.« »Und du hast eine Sonderstellung und nutzt das schamlos aus.« »Sports Illustrated hat Interesse gezeigt…« »Verflucht, Kissy! Du hast mir nicht gesagt, daß du die Fotos kommerziell nutzen willst!« »Ich dachte, ich könnte vielleicht ein Buch daraus machen.« »Eins schreiben, meinst du?« »Ja, sicher. Fotos samt Text zu den Fotos. Was hältst du davon: Ich sage dir, wie du dein Tor am besten bewachst, und du sagst mir, wie ich meine Arbeit tun soll.« Junior sprang auf und ging wütend auf und ab.
»Immer wenn du im Irrtum bist, kommst du mit diesem Meine-Arbeit-Scheiß und lernst trotzdem nichts draus.« Kissy sprang ebenfalls auf, stellte sich ihm in den Weg und zischte: »Dann hau doch ab, Mr. Eishockey-ist-mein-Leben!« Junior packte die Kamera, öffnete die Rückenklappe und riß den Film heraus. »Du Scheißkerl!«, brüllte Kissy. »Da war Dynah drauf!« Junior lief rot an. »Versteck dich ruhig hinter Dynah…« Mit zitternden Händen entwand Kissy ihm die Kamera und stopfte sie in ihre Fototasche. Dann begann sie Dynahs und ihre Sachen zu packen. »Hör auf.«, sagte Junior. »Das ist doch lächerlich.« Als sie ihre Levi’s vom Boden aufheben wollte, riß er sie ihr aus der Hand. »Du geht nirgendwohin!« Kissy nahm Dynah hoch, die sie mit ängstlichem Blick und zitternder Unterlippe beobachtete. Junior bekam Kissys Schulter zu fassen, woraufhin sie stocksteif stehen blieb. Dynah fing an zu schreien und sprang ihr fast vom Arm. »Laß mich gehen«, stieß Kissy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er deutete auf ihren nackten Hintern und ließ sie los. Sie trat zurück, setzte Dynah auf den Boden, zog sich das T-Shirt über den Kopf, schleuderte es in die Ecke, hob Dynah wieder hoch und steuerte auf die Tür zu. »Großer Gott!«, stöhnte Junior. Als sie die Tür öffnete, stürzte er an ihr vorbei und knallte sie hastig zu. Und wo er nun schon dabei war, schob er auch gleich den Riegel vor und hängte die Kette ein. »Sehr komisch.« Nachdem sie Dynah in das vom Hotel bereitgestellte Kinderbett gelegt hatte, zog sie sich wieder an, etwas ruhiger inzwischen. »Du wirst jetzt nicht gehen«, sagte er. »Nein«, bestätigte sie. »Heute Abend nicht mehr. Morgen.« »Ich will, daß du bleibst.« Seine Stimme zitterte. »Es tut mir leid. Ich hätte den Film nicht rausnehmen sollen.« Sie gab keine Antwort. Frustriert stotterte er weiter: »Du bist einfach absolut unsachlich gewesen.« Im Moment war sie absolut still. Bis auf die Zahnbürste packte sie alles ein, dann stillte sie Dynah, die dabei einschlief. Normalerweise
trug er Dynah in ihr Bettchen zurück, doch er war derart aufgeregt, daß er nur dasitzen und die beiden anstarren konnte. Kissy hielt Dynah im Arm und hatte die Augen geschlossen, als fürchte sie, blind zu werden oder zur Salzsäule zu erstarren oder weiß der Teufel was sonst, wenn sie ihn ansah. Nach einer ganzen Weile machte er das Licht aus und kroch neben ihr und Dynah ins Bett. Schlafen konnte er nicht, genauso wenig wie Kissy. Als er zum letzten Mal auf den Radiowecker schaute, war es 3.57 Uhr. Und er hatte am kommenden Tag ein Spiel. Heftiges Poltern an der Tür ließ ihn hochfahren. Für einen kurzen Augenblick wähnte er sich in seiner alten Wohnung. Draußen im Flur tobte Kowanek; das Adrenalin beschleunigte seinen Herzschlag, seine Hoden zogen sich zusammen, sein ganzer Körper war vor Angst und Wut zum Zerreißen gespannt. »Clootie!«, ertönte die Stimme seines Trainers. »Unten steht der Bus. Wo bleiben Sie denn!« Das Bett war leer, Kissys Koffer, ihre Kameraausrüstung und die Babytasche waren verschwunden. Auf dem Laken und den Kissen zeichneten sich noch die Abdrücke ihrer Körper ab. Da er sich nicht gerührt hatte, klopfte es noch einmal. »Sind Sie da drinnen, Clootie? Wir müssen los.« »Leck mich am Arsch«, schnauzte Junior zurück. Nach kurzem Schweigen erwiderte sein Trainer: »Ganz meinerseits, Hoot.« Junior drehte sich um und drosch auf das Kissen ein. Dann stürzte er aus dem Bett, zog sich hastig an und packte seine Tasche. Als er in die Hotelhalle kam, war der Bus weg. Er sprang in ein Taxi und wies den Fahrer an, ihn schleunigst zu der Sportanlage zu bringen, deren Turnhalle und Eisfläche sie stundenweise benutzen durften. Als sie an dem Bus vorbeikamen, hängten seine Teamkollegen ihre Rüssel aus den Fenstern und schrien sich die Seele aus dem Leib. Er kurbelte die Scheibe hinunter und zeigte ihnen den Mittelfinger. Es war noch nicht genügend Zeit verstrichen, als daß sie schon in dem schiefen kleinen Haus hätte sein können, also hinterließ er ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, um sich noch einmal zu entschuldigen und um Rückruf zu betteln. Er war dankbar, den Tag über beschäftigt zu sein und abends im Tor zu stehen, obwohl er sich
bewußt war, daß alle – Coach, Trainer, Mitspieler – ein Auge auf ihn hatten. Irgendwie wußten sie, daß Kissy sich davongemacht hatte, und nun befürchteten sie, er wäre vielleicht nicht in der Lage, sich zu konzentrieren und seinen Job zu machen. Sie irrten sich. Es war ein Kinderspiel. Er stellte sich einfach vor, der Puck wäre ein Anruf von Kissy, den er sich weigerte entgegenzunehmen. Doch sobald das Spiel vorüber war, rief er wieder an. Nichts – außer seinem eigenen Spruch auf dem Band. Er versuchte es bei seinen Leuten, um herauszufinden, ob sie vielleicht etwas von ihr gehört hatten, ob sie womöglich wieder auf dem Weg nach Osten war. Bernie ging an den Apparat. Sie war gerade aus der Schule zurück und wollte sich mit Casey hinlegen. Er gab vor, Kissy sei nach Colorado zurückgefahren, weil ihr das Herumreisen mit dem Baby zu anstrengend war. »Ich dachte, der Anrufbeantworter ist vielleicht kaputt, und da hat sie sich bei dir oder Ma gemeldet.« »Nein«, sagte Bernie, »hat sie nicht. Was hast du diesmal angestellt, Arschloch?« Um ein Haar hätte er aufgelegt. »Am besten, du nimmst eine Pille Midol, Bernadette. Falls sie sich heute nacht noch bei ihrer Mutter melden sollte, könntest du es bitte an mich weitergeben?« Er gab ihr die Telefonnummer des Hotels und die Durchwahl zu seinem Zimmer. Es klingelte in seinen Ohren, als Bernie den Hörer auf die Gabel knallte. Er rief sogar bei Cait an, obwohl es Kissy nicht ähnlich sah, sich bei ihrer Mutter auszuheulen, geschweige denn, zu Ihr zu rennen. Cait fragte ihn geradeheraus, ob sie sich gestritten hätten, und verfiel einen Moment in Schweigen, als er es zugab. Dann versprach sie mit einem tiefen Seufzer, Kissy dazu zu bewegen, sich bei ihm zu melden, sollte sie bei ihr anrufen. Aber Kissy rief nicht an und auf seinem Anrufbeantworter fand er immer noch nichts als die eigene Stimme vor. Zum Schluß probierte er es bei der Zugehfrau, die während ihrer Abwesenheit die Blumen goß und Drecksvieh zu fressen gab. Sie lief zum Haus hinüber und meldete sich von dort. Kissy scheine dort gewesen zu sein, erklärte sie aufgeregt, ihre und Dynahs Sachen gepackt und sich erneut auf den Weg gemacht zu haben. Der Blazer sei nicht mehr da.
»Ich hoffe, Sie kriegen das wieder hin«, sagte sie. »Das hoffe ich wirklich.« Damit waren sie also schon zwei. Nur leider die falschen zwei. Chicago war leicht zu erreichen. »Klar kannst du über Nacht bleiben«, sagte Mary Frances, nachdem Inga, die an den Apparat gegangen war, den Hörer an sie weitergereicht hatte. Inga war nicht besonders erfreut darüber gewesen, Kissys Stimme zu hören. »Bleib doch gleich ein paar Tage. Ich nehme Urlaub…« »Vielen Dank, aber ich muß morgen leider weiter«, lehnte Kissy ab. Erst nachdem sie sich beim Chinesen etwas zu essen geholt und sich an den Tisch gesetzt hatten, erzählte sie Mary Frances, weshalb sie auf dem Rückweg nach Osten war. Inga musterte sie derart scharf und hörte so genau zu, daß sie kaum zum Essen kam. Daß Kissy ihren Mann verlassen hatte, trug nicht gerade zur Entspannung der Frau bei. Kissy verspürte nicht den geringsten Wunsch, ins Detail zu gehen, vor allem nicht vor Inga, und Mary Frances setzte sie nicht unter Druck. Oder bemutterte sie, was sie vielleicht getan hätte, hätte Inga ihre Aufmerksamkeit Kissy gegenüber nicht konstant mit drohenden Blicken in Schach gehalten. Kissy spielte mit dem Gedanken, in ein Hotel zu gehen, wofür Dynah und ihr mögliches Gequengel eine hervorragende Entschuldigung geliefert hätten, aber die Zeit mit Mary Frances war ihr wichtig, auch wenn sie durch Ingas Anwesenheit etwas Verkrampftes bekam. Ihre langjährige Freundin hatte sich in mancher Hinsicht verändert. Die sichtbarste Veränderung war Inga, doch schien sie auch nicht mehr ganz so pingelig zu sein und strahlte mehr Substanz aus als früher, eine Selbstsicherheit und ein Selbstvertrauen, die dem Wissen entsprangen, wer sie war und wo sie stand – zumindest in dem Ausmaß, wie das einem menschlichen Wesen überhaupt möglich war. Das alte, stillschweigende Einvernehmen zwischen ihnen war jedoch nach wie vor da. Mary Frances hatte ihr näher gestanden als ihre eigene Mutter, und ihr Heim war ein Heim, kein Hotelzimmer. Es strahlte Intimität, Sicherheit und Wärme aus, alles Vorzüge, die auch ihre Freundschaft kennzeichneten.
Sie plante den weiteren Verlauf ihrer Reiseroute ohne Umwege, aber auch ohne Hast. Einmal unterwegs, kühlte ihre hell lodernde Wut rasch ab, nicht nur weil es viel Energie kostete, sie aufrechtzuerhalten, sondern auch weil die Umgebung sie ablenkte. Es gab so viel zu sehen. Dynah war natürlich keine ruhige Reisegenossin und nahm ebenfalls viel Aufmerksamkeit in Anspruch. Wegen Juniors Terminplan blieben ihr noch zehn Tage, bis er die Zeit haben würde, sie aufzuspüren. Das Ziel ihrer Reise war kein Geheimnis, aber so mußte sie sich wenigstens für eine kleine Weile nicht mit ihm abgeben, auch nicht am Telefon. Diesmal würde sie ihm nicht erlauben, bei ihr zu bleiben. Sie würde ihn auch nicht mehr in ihr Bett lassen. Sie war fertig mit ihm. Sie hatte versucht, sein Leben zu teilen, und war doch nicht darin willkommen gewesen, als es wirklich hart auf hart gegangen war. Was für Junior zählte, waren die Jungs, die Mannschaft, der Zusammenhalt – oder wie immer er es nennen mochte. Schließlich bezeichneten sie das Ganze nicht umsonst als Club. Er schien vor einem Rätsel gestanden zu haben, als sie ihm erklären wollte, was für ein Gefühl es war, als eine Art Camp-Anhängsel abgetan zu werden. Wäre sie nicht seine Frau gewesen, sondern irgendein Kerl, hätten sie sich von der Anwesenheit einer Kamera nicht halb so sehr irritieren lassen. Als sie sich eines Abends in einem Hotel mit Kabelanschluß zum Wetterkanal durchzappen wollte, um etwas über die Straßenbedingungen am kommenden Tag zu erfahren, flimmerte plötzlich ein Eishockeyspiel über den Schirm. Obwohl es sich natürlich nicht um Juniors Mannschaft handelte, schoß Dynah zum Fernseher und klopfte wie verrückt an die Scheibe. »Daddy! Daddy!«, schrie sie, ganz aus dem Häuschen. Kissy setzte sich auf den Boden, nahm Dynah auf den Schoß und ließ sie das Treiben der Gestalten auf dem Bildschirm eine Zeit lang verfolgen. Sie hatte Junior erlaubt, Daddy zu werden. Daran war nicht mehr zu rütteln. Sie hielt an, wo es ihr paßte, und fuhr weiter, wann es ihr gefiel – es war genau die Art Reise, von der sie immer geträumt hatte. Sie machte nicht nur Pausen zum Essen oder um auf die Toilette zu gehen, sondern auch um Dynah aus dem Blazer zu holen, damit sie nicht Kilometer um Kilometer gemeinsam in den Wagen gepfercht
waren. Wann das Fotografieren sie packte, überließ sie dem Zufall. Sie weigerte sich, unglücklich zu sein, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, mit welchen Komplikationen es verbunden sein könnte, Junior zu verlassen, oder mit welchen Enttäuschungen, bei ihm zu bleiben – sie ließ die Reise einfach geschehen. Irgendwann würde sie an ihre gemeinsame Bummelfahrt quer durch das Land als an eine der Zeiten in ihrem Leben zurückdenken, in denen sie sich am lebendigsten gefühlt hatte. Dynah und sie schlangen die Kilometer förmlich einen nach dem andern in sich hinein. Es war ein Abschnitt für sich, eine Auszeit – wie im Sommer, wenn die dahinstreichenden Tage sich selbst genügten. Zehn lange Tage hatte Junior keine Ahnung, wo Kissy und Dynah steckten. Irgendwo zwischen Denver und Peltry vermutlich, und wenn sie endlich das Ziel ihrer Reise im Osten erreicht haben würde, wäre vielleicht irgend jemand – eventuell ihre Mutter – so freundlich, ihn davon in Kenntnis zu setzen. Tag für Tag mußte er sich davon abhalten, über Bord zu springen, band er sich im Geiste am Mast fest. Es war kein Geheimnis, daß Kissy sich nicht im Guten aus dem Staub gemacht hatte. Die Jungs, die ihre Anwesenheit zunehmend gestört hatte, glaubten in seinem rotäugigen Jammerzustand die Bestätigung für ihre frühere Pantoffelheld-Hypothese zu finden. Eine andere Fraktion zeigte etwas mehr Mitgefühl, vertrat aber den konventionellen Standpunkt, mit einer Ehefrau im Gepäck gäbe es nichts als Ärger, wofür seine Geschichte wohl der beste Beweis sei. Das kostbare Zusammengehörigkeitsgefühl, das Kissy zerstört hatte, mußte wiederhergestellt werden. Wäre er mit ihnen fortgegangen, um zwei oder drei Bier zu kippen, hätte es ein Anfang sein können. Doch er fühlte sich fast wie erstarrt, paralysiert durch die Furcht, etwas zu tun, das alles noch schlimmer machte. Gab er dem Drang nach, seinen Kummer zu ertränken, geriet er vielleicht wieder in irgendeine Klemme, was Kissy nur darin bestärken würde, ihn verlassen zu haben, und dem Management Grund zu der Annahme verlieh, er habe sein Privatleben nicht im Griff. Als sie ihn während der letzten Saison verlassen hatte, hatte er auf die richtigen Leute mit seinem Gleichmut Eindruck gemacht. Er war nüchtern geblieben und hatte gleichmäßig weitergespielt. Spenser hatte einen Rechtsanwalt
für ihn aufgetrieben, dem es geglückt war, Diane IIs Anwalt dazu zu bringen, ihr ins Gedächtnis zu rufen, daß es haufenweise Typen gab, die nach der Definition, die sie benutzte, als ihre ›Freunde‹ klassifiziert werden konnten. Es hatte Junior eine Menge Selbstdisziplin und viele einsame Stunden gekostet, so weit zu kommen, daß man ihn für zuverlässig hielt. Verflucht wollte er sein, wenn er sich das jetzt kaputtmachen würde. Außerdem konnte er es sich gar nicht leisten. Mit seinem Vertrag wäre es ein für alle Mal aus, falls er wieder in irgendeinen Schlamassel geriet. Nach der Tour würde er dank einer großen Lücke im Terminkalender noch genug Zeit haben, Kissy nach Peltry zu folgen. Er hörte auf, seinen Anrufbeantworter abzufragen. Es waren sowieso keine Nachrichten darauf. Ed Toth und Coach Gerrard erzählte er, er müsse einige wichtige Privatangelegenheiten regeln und das eine oder andere Training deshalb ausfallen lassen; sie waren einverstanden. Nachdem er sich endlich von der Mannschaft losgeeist hatte und in dem erstbesten Flieger Richtung Osten saß, war er emotional vollkommen ausgepumpt. Der Drink, den ihm die Stewardeß anbot, kam äußerst gelegen. Später, beim Umsteigen in ein anderes Flugzeug, stand er sich anscheinend ständig selbst im Weg. Dann war er eben ein bißchen blau und würde es bei seiner Ankunft in Peltry immer noch sein – warum sich deswegen den Kopf zerbrechen? Sie hatte es nicht einmal für nötig gehalten, ihn wissen zu lassen, daß sie gut nach Hause gekommen war – falls sie es war, und das mußte so sein. Zehn beschissene Tage hatte er kein Wort von ihr gehört und in zehn beschissenen Tagen konnte sie einmal quer durchs Land kriechen. Er hatte sich nicht angemeldet, also war auch niemand gekommen, um ihn abzuholen. Als er einen Wagen mieten wollte, weigerte sich der Glatzkopf am Schalter glattweg, und auch der Geschäftsführer wollte ihm keinen geben, bloß weil er ein bißchen angesäuselt war. Freundlich waren sie trotzdem – der Geschäftsführer bot sich sogar an, ihn höchstpersönlich in ein Taxi zu setzen. Aber er setzte sich selbst hinein; so viel hatte er erstens auch wieder nicht getankt, zweitens war der Flughafen der einzige Ort in ganz Peltry, wo es reihenweise Taxis gab. Er ließ den Fahrer vor einem Lebensmittelgeschäft halten, um sich einen Sechserpack Bier zu besorgen. Da sein Zustand ohnehin nicht mehr zu verheimlichen war, konnte er ruhig ganz offensichtlich sein.
Je besoffener, desto besser – falls er Kissy nicht sowieso auf der Stelle wegen ihrer überheblichen, schulmeisterlichen Bestrafungsmasche erwürgen würde, die sie veranlaßt hatte, ihn nicht einmal der Höflichkeit halber wissen zu lassen, daß sie und Dynah – sein einziges Kind – noch unter den Lebenden weilten. Peltry war gefangen im eisigen Griff des tiefsten Winters – auch das vergleichbar mit dem, wohin sich zu begeben er im Begriff war: zu der mannsgroßen Kühltruhe von Kissy Mellors arrogantem, beschissenen Herz. Der ziemlich ramponiert und verdreckt aussehende Blazer stand in der Einfahrt seiner Leute. Wirklich klasse, daß niemand es für nötig gehalten hatte, ihn verdammt noch mal anzurufen und ihm zu verraten, daß seine Frau und sein Kind kein beschissenes Hackfleisch auf irgendeiner Dreckslandstraße in Scheiß Indiana geworden waren. Im Flur traf er Dunny. Er hielt die Zeitung, die er gelesen hatte, noch in der Hand, schaute ihn nur einmal kurz an und sagte: »Du bist betrunken!« Junior zwängte sich an ihm vorbei. »Kissy!«, brüllte er aus Leibeskräften. Irgendwo über ihm erklang das Trappeln kleiner Füße, gefolgt von einer aufgeregt brabbelnden Kinderstimme, dann erschien Dynah auf der obersten Treppenstufe. Sofort war Kissy hinter ihr, um sie hochzunehmen. »Dynah!«, rief er erleichtert. Dynah wand sich wie ein Wurm in Kissys Armen, streckte sehnsüchtig die Händchen aus und schrie zurück: »Daddy!« Esther kam aus dem Elternschlafzimmer, Bernie mit Casey auf der Hüfte aus ihrem. Sie schauten Kissy an, Kissy schaute sie an. Wissend. Resigniert. Wirklich klasse, hätte er gern zu ihr gesagt, wäre seine Zunge nicht wie angewachsen gewesen, mit einer Frau verheiratet zu sein, die einen immer wieder zuverlässig enttäuschte. Die Neonbuchstaben des Bird’s wirkten wesentlich einladender. Junior hatte einige Mühe gehabt, den Taxifahrer zu bezahlen – die Geldscheine hatten sich als seltsam glatt und widerborstig erwiesen – es schließlich aber doch geschafft und betrachtete nun seine Sachen, die der Mann achtlos auf den Gehsteig geworfen hatte. Er ließ sie dort liegen. Vielleicht würde jemand die Tasche klauen und Juniors Mütze genau an dem Tag aufsetzen, an dem seine Eltern ihn in ein
verfluchtes Motel schickten, weil bei ihnen zu Hause kein Platz für ihn war. Im Bird’s war es wundervoll überheizt und verraucht, und alle schienen froh zu sein, ihn zu sehen. Er gab ein paar Autogramme, ehe er darauf bestand, jetzt aber unbedingt ein Bier trinken zu müssen. Das erste ging aufs Haus, dann standen die Leute Schlange, um ihm das nächste zu spendieren. Irgendwann hatte er sich zur Bar durchgekämpft. Ein Kerl sprang vom Hocker, um Platz für ihn zu machen. Drei Kerle weiter saß Officer Hilfreich und beobachtete ihn mit verächtlichem Blick. Junior grinste ihn an, weil er erkannte, daß Hilfreich genauso breit war wie er. Verblüffenderweise tauchte aus irgendeinem nüchternen Zellhaufen am Rande seines Gehirns der Name auf, dem seine Mutter dem Arschloch verpaßt hatte. »He, Burke!«, rief er fröhlich. Officer Hilfreich schob in einer Art Hinterwäldlergruß den Unterkiefer vor und kippte nicht vom Stuhl, so daß er immer noch eine gute Strecke zurückzulegen hatte. In der fälschlichen Annahme, sie zwei wären Freunde, sprangen die Typen zwischen ihnen hastig zur Seite. Der neben Hilfreich bot Junior seinen Barhocker an. Das war einfach zu komisch – also ging Junior darauf ein und versetzte Officer Hilfreich einen freundschaftlichen Knuff in den Bizeps, während er sich neben ihm niederließ. Dann prosteten sie sich mit ihren Bierkrügen zu. »Willkommen zu Hause«, meinte Officer Hilfreich. »Oh, in der Tat.« Junior tätschelte den Tresen. »Mein Zuhause ist heute nacht hier. Ich hab kein gottverdammtes Zuhause mehr. Meine Frau…« Officer Hilfreich hob abwehrend die Hand. »Zeigen Sie’s Ihrer Frau!« »Heute wohl nicht mehr«, gab Junior zurück. Sie mußten beide lachen. »Sie hat Sie wieder mal rausgeschmissen?« »Mit Pauken und Trompeten! Von ihr aus kann ich auf dem beschissenen Bürgersteig schlafen. Verstehen Sie, wovon ich rede?« Officer Hilfreich nickte düster. »Miststück. Sind doch alle gleich. Lassen dich bei jeder Gelegenheit auflaufen.« Junior durchforstete sein Hirn nach ergiebigerem Gesprächsstoff. »He«, meinte er plötzlich, »nennen Sie mir fünf Männer, die in einer
Saison mehr als vierzig Homeruns geschafft und einen Nachnamen mit zehn Buchstaben haben.« »Kluszewski.« Officer Hilfreich nahm einen kontemplativen Schluck, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Tony Conigiliaro. Yaz.« Er grinste triumphierend. »Petrocelli.« »Und?« »Wie – und. Das sind fünf.« »Von wegen. Das sind erst vier. Haben Sie nicht genug Finger, um so weit zählen zu können?« »Wenn Sie unbedingt persönlich werden müssen und bis einundzwanzig zählen wollen«, parierte Burke, »sollten Sie erst mal die Hosen runterlassen.« »Das erinnert mich an den Jamaikaner mit der Tätowierung auf dem Schwanz.« »Was? Hat er ihn sich in Meter einteilen lassen, oder wie? Ach, ich weiß, sein Nachname war zehn Buchstaben lang, und er hat vierzig Homeruns in einer Saison geschafft, stimmt’s?« »Hab noch nie von einem Jamaikaner gehört, der in der obersten Spielklasse Baseball spielt. Ich kenne nur Ewing – aber der spielt Basketball«, sagte Junior, der wieder zum Thema kommen wollte. »Wie wär’s mit ’nem Tipp: Italo-Amerikaner, 1953, hat vierzigmal die Glocken für die Dodgers läuten lassen…« »DiMaggio.« »Die Dodgers, Sie Sportaß! Außerdem hat DiMaggio sieben, nein«, verbesserte er sich, »acht Buchstaben. Sie können wirklich nicht richtig zählen, was?« »Na schön. Wer ist der fünfte?« »Campanella.« »Blödsinn. Campanella war schwarz.« »Sein Vater kam aus Italien.« »Na und? Er war trotzdem schwarz. Was glauben Sie wohl, wie viele Schwarze einen Aufstand machen würden, weil Sie ihn einen Italiener nennen«, sinnierte Burke. »Du hast irgendwas an dir, das einem anderen nicht paßt, und unter gewissen Umständen ist plötzlich alle Solidarität dahin und du wirst gelyncht.« Er winkte dem Barkeeper mit seinem leeren Bierkrug und fügte hinzu: »Die nächste Runde geht auf mich«, um Junior von eventuellen Einwänden abzulenken. »Aus welchem Stall kommen Sie, Clootie, Irland? Jamaika?«
»Schon von meinem Tattoo gehört? Nein, wahrscheinlich fließt irisches Blut in meinen Adern, etwas jedenfalls. Mein Dad meint, französisches, aber das glaube ich eigentlich nicht, in Anbetracht der Tatsache, daß die Franzosen nicht besonders…« Burke schnaubte. »Kennen Sie sich mit irischer Geburtenkontrolle aus?« »Hunger?«, riet Junior, »Pubs? Vorschriften aus England? Eine Bombe im Kinderwagen?« »Nicht übel«, lobte Burke. »Geburtenkontrolle in Irland bedeutet, daß die Männer mit dem Heiraten warten, bis sie fünfzig sind. Dann sterben sie weg, sobald die Familie groß genug ist.« Junior lachte. »Ich muß jetzt los, Partner«, verkündete Officer Hilfreich nach längerem Schweigen. »Soll ich Sie irgendwo absetzen?« »Sie haben ziemlich geladen«, rief Junior ihm ins Gedächtnis. Um vom Hocker zu kommen, mußte Hilfreich sich erst am Tresen, dann an Junior festhalten. »Okay, okay. Ich laß uns verkohlen.« Junior wußte, daß er eigentlich ›abholen‹ hatte sagen wollen, und freute sich diebisch über den Patzer. Hilfreich wankte zum Münzfernsprecher. Das Nächste, was Junior mitbekam, war Hilfreichs Zerren an seinen Jackettaufschlägen. »Los, kommen Sie.« Sie taumelten in die Nacht hinaus, die so frostig war wie Kissys Herz, und stellten sich dorthin, wo Juniors Tasche tatsächlich noch lag. »Der Wagen kommt gleich«, stieß Officer Hilfreich mit klappernden Zähnen hervor. Die Kälte kitzelte Juniors Blase und er mußte plötzlich pinkeln. Gegen die Mauer gelehnt, knöpfte er seinen Hosenschlitz auf. Sein Schwanz versuchte sich vor der Kälte zu verstecken, aber schließlich bekam er ihn doch zu fassen. Auch Officer Hilfreich drehte der Straße den Rücken zu und stellte sich breitbeinig hin. Junior schrieb Kissys Namen auf die Backsteinmauer. Hilfreich lachte. Ein Streifenwagen hielt mit knirschenden Reifen am Straßenrand und wartete mit heulender Sirene und blinkendem Blaulicht, während sie mit vor Kälte und Hast steifen Fingern ihre Hosen zuknöpften. Sergeant Preston stieg aus, um ihnen die hintere Tür zu öffnen. »Ihr Wagen, Gentlemen«, verkündete er in blasiertem Ton.
Officer Hilfreich tauchte mit der Nase voran auf dem Rücksitz unter. Junior mußte erst sein Gepäck in den Kofferraum werfen, ehe er es ihm gleichtun konnte. Sergeant Preston hatte einen neuen Partner, einen Schrank von einem Kerl. Er mußte Kopf und Schultern einziehen, um nicht an das Wagendach zu stoßen, und der Streifenwagen neigte sich unter seinem Gewicht auf die rechte Seite. Grinsend drehte er sich um und reichte Officer Hilfreich die Hand. Junior mußte an Moosejaw denken, der wieder in Kanada war, um einer Karriere in der untersten Spielklasse ins Auge zu blicken. »Hi«, meinte Officer Hilfreich geistreich. Sergeant Preston griff nach dem Lenkrad. »Wo soll’s denn hingehen?« »HoJo’s, was Junior betrifft. Seine Alte hat die Schnauze voll von ihm.« Junior und er fanden die Bemerkung extrem lustig. »Was ist mit Ihnen?«, fragte Sergeant Preston. Officer Hilfreich tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Mit mir? Weshalb sollte Juniors Alte von mir die Schnauze voll haben?« Der war auch nicht schlecht. Junior mußte sich die Tränen aus den Augen wischen. »Wissen Sie noch, wie Sie mich damals auf der Brücke festgenommen haben?«, brachte er mühsam hervor. Officer Hilfreich und Sergeant Preston wurden von nostalgischem Frohsinn gepackt. Prestons neuer Partner zeigte sich etwas standesgemäßer in seiner Erheiterung, ließ sich aber auch nicht lumpen. In Peltry gab es zwei HoJo’s, eins davon nahe dem Polizeirevier in der Innenstadt, und genau dort setzten sie ihn ab. Er fragte sich, ob es etwas zu bedeuten hätte, stieg aus, nahm sein Gepäck auf die Schulter und winkte den Wageninsassen zum Abschied zu. Irgendwas konnte nicht stimmen, dachte er bei sich, wenn die Bullen freundlicher waren als die eigene Frau. Am kommenden Nachmittag stand nur der Blazer vor dem Haus seiner Leute. Er hatte vorher angerufen und die Erlaubnis für einen Besuch eingeholt. Kissy erwartete ihn mit der Begeisterung eines Menschen, der zwei Adventisten des Jüngsten Gerichts vor sich hat –
die Arme unter dem Busen verschränkt, was nie ein gutes Zeichen war. »Hallo Junior«, sagte er. »Wirklich schön, dich zu sehen. Tut mir leid, daß ich mich nicht von unterwegs gemeldet habe, aber du weißt ja, wie das ist, du guckst dir die Gegend an und plötzlich sind zehn Tage vorbei…« Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Haus. Er trat die Tür hinter sich zu. »Das war mies von dir«, rief er ihr nach. In der Küche angelangt, wirbelte sie herum. »Tut mir leid. Es war mies von mir.« So unverhofft ohne Wind, fielen seine Segel zusammen wie ein Kartenhaus. Er hatte natürlich einen Mordskater und hätte am liebsten einfach die Augen zugemacht und sich an Ort und Stelle auf den Boden gelegt, aber dann würde ihm auch nichts anderes übrig bleiben, als sich irgendwann wieder hochzukämpfen und aufzustehen. Also hielt er sich gleich auf den Beinen, auch wenn es recht mühsam war. »Wo ist Dynah?« »Macht ein Mittagsschläfchen.« »Oh.« Es war enttäuschend, sie nicht zu sehen. »Ich fühl mich beschissen.« »So siehst du auch aus.« Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich darauf fallen. »Ich weiß. Ich hab mich wie ein Arschloch benommen. Ich bin ein Arschloch. Damit wären wir sozusagen quitt.« »Einverstanden. Ich komme trotzdem nicht zurück.« Er rieb seinen Nasenrücken. Gerade hatte er sich wieder einigermaßen gefangen, da mußte sie so etwas sagen. Er stand kurz vor der nächsten Explosion. »Du hast kein Vertrauen zu mir, Junior. Du traust mir nicht zu, selbst beurteilen zu können, was im Rahmen meiner Arbeit angemessen ist und was nicht. Und dir geht der Arsch auf Grundeis, weil du Angst hast, die Jungs könnten denken, daß du ein Mädchen lieber… daß du ein Mädchen in ihr gottverdammtes Clubhaus einschleusen willst.« Resigniert warf sie die Hände in die Luft. »Was soll das Gerede überhaupt noch? Wie sagst du immer: Das Maß ist voll.«
»Nein!« Er sprang so heftig auf, daß der Stuhl nach hinten wegkippte. Mühelos fing er ihn ab und schob ihn unter den Tisch zurück. »Wir sind eine Familie, wir gehören zusammen.« »Du hast diese fixe Idee mit dem ›Zusammengehören‹, nicht ich.« Lange Zeit starrte er sie mit trüben Augen an. Er war erledigt. Am Ende. Er hatte nichts mehr in petto. Seine Augen brannten und plötzlich war er blind vor Tränen. Sie verschwand. Er konnte sie nicht mehr sehen. Es war, als ob er ertrinken würde – oder sie – oder sie beide. Er tastete sich zur Hintertür vor, fummelte eine Weile an der Klinke herum, bekam sie endlich auf und schlich hinaus. Ihre Augen waren ein einziges Desaster, ihr ganzes Gesicht war verschwollen. Sie hatte keine Ahnung, warum sie eigentlich weinte. Auf dem gesamten Rückweg hatte sie keine Träne vergossen. Das Einzige, was zu helfen schien, war, Dynah zu stillen. Sie würde das Baby entwöhnen müssen, wenn sie wieder arbeiten gehen wollte. Deine Tage sind gezählt, dachte sie, während sie zärtlich über Dynahs Haare strich, genieße es, Kind. Sie hatten es ohnehin auf eine stolze Zeitspanne gebracht. Nur wenige Babys durften so lange nuckeln wie sie. Esther und Dunny kamen zurück. Sie hatten Casey zu einem Ausflug mitgenommen, damit Bernie sich den Tag einmal allein um die Ohren schlagen konnte. Sie warfen einen besorgten Blick in ihr Zimmer, aber sie wollte nicht darüber reden, also ließen sie sie in Ruhe. Was von Junior vermutlich zu viel erwartet war. Kurz nach dem Abendessen stand er auf der Matte – offenbar klug kalkuliert, denn so stand eine etwaige Einladung zum Essen von vornherein nicht zur Debatte. Er wich ihrem Blick aus. Dynah kreischte hellauf begeistert und marschierte schnurstracks auf ihn zu – genau wie er auf sie. Um sie allein zu lassen, räumte Kissy den Tisch ab und erledigte den Abwasch. Er brachte Dynah in die Badewanne. Als sie später nach oben kam, saßen die beiden nebeneinander auf dem Treppenabsatz. Junior las Dynah aus einem seiner alten Kinderbücher vor; sie lauschte verzückt. Irgendwo unten begann Casey zu quengeln, gefolgt von einem Aufschrei Bernies: »Ma! Ich muß lernen!« »Noch mal!«, befahl Dynah. Kissy holte ihre Kamera. Fotos wie diese hatte sie schon öfter gemacht. Der einzige Unterschied bestand in dem anderen Ort, in den
Veränderungen an Dynah. Junior war derselbe. Sie stellte den Zoom auf Dynah ein, die zu Daddy empor lächelte, sich anschließend wieder den Buchseiten zuwandte, um die Bilder zu betrachten und Daddys Finger zu folgen, der unter den Worten entlang strich. Auf Dynahs Fingerchen, die Juniors breiten Zeigefinger umklammerten. Dann doch auf Junior. Er hob den Kopf und schaute direkt in die Linse, durch die Linse hindurch in ihr erschrockenes Auge hinein. Sie schloß die Objektivklappe wie ihr eigenes Lid und ließ die Kamera sinken. Er hatte aufgehört zu lesen, schaute sie immer noch an. Ungeduldig zerrte Dynah an seinem Hemd. Er konzentrierte sich wieder auf den Text und las mit lauter Stimme weiter. Nach einer Weile machte Dynah schlapp. Kissy streckte die Arme aus und sie kroch hinein. Junior sah ihnen beim Stillen zu, bis Dynah eingeschlafen war, dann legte er sie in das Kinderbett neben dem Ausziehsofa im Wohnzimmer, auf dem Kissy schlief. »Gib mir eine Minute zum Reden«, sagte er. Sie folgte ihm zur Haustür. Angespannt standen sie sich gegenüber. »Ich muß morgen nach Denver zurück. Mir bleibt nichts anderes übrig, aber ich würde lieber hier bleiben. Es wäre schön, wenn ihr mitkommen würdet. Ihr könntet auch in ein oder zwei Wochen nachkommen, falls du noch ein bißchen hier sein willst. Ich finde, wir schulden es Dynah und uns, an der Sache zu arbeiten. Vielleicht sollten wir zu einer Eheberatung gehen oder so. Wir stecken zu tief in der Geschichte drin, streiten uns immer wieder wegen derselben Kleinigkeiten. Ein Außenstehender könnte uns möglicherweise da raushelfen.« »Ich bleibe hier.« Tränen stiegen ihm in die Augen. Er schaute überall hin, nur nicht in ihr Gesicht – wie Dynah, wenn sie wütend auf Kissy war. »Wie sieht’s finanziell bei dir aus?« »Ganz gut.« Kissy hatte kein Geld, das wußten sie beide. Er zog sein Scheckheft aus der Tasche und begann, einen Scheck auszufüllen. »Das ist nur ein kleiner Anfang. Am besten, du richtest dir irgendwo ein Girokonto ein, dann kann ich dir regelmäßig Geld überweisen.« »Ich werde mir einen Job suchen.« »Hör auf mit dem Quatsch«, fuhr er sie unwillig an, obwohl ihm nicht mehr zum Schimpfen zumute war. »Spar dir den Am-
Hungertuch-nagender-Künstler-Scheiß! Deine Fotos werden dadurch nicht besser. Ich werde dich unterstützen. Du kannst nicht mal genügend zusammenkratzen, um einen Babysitter zu bezahlen, geschweige denn die Miete. Bleib zu Hause und kümmere dich um Dynah, solange sie noch klein ist, und beschäftige dich mit deinen Fotos. Verschwende nicht Zeit und Energie damit, Bilder von irgendeinem Opa zu schießen, der den ersten verfluchten Lachs des Jahres am Haken hat. Konzentrier dich auf deine eigenen Motive, entwickle sie in deiner eigenen Dunkelkammer und such dir einen Agenten, der das Zeug unter die Leute bringt.« Alles in ihr sträubte sich angesichts der beiläufigen Art und Weise, mit der er ihr die Organisation ihres Lebens vorschrieb. »Erzähl du mir nicht, was ich tun soll…« »Nimm das verdammte Geld, Kissy. Glaubst du vielleicht, ich will, daß du dich von Katzenfutter ernährst und in einem Loch im Barnyard haust, während ich mit teuren Schlitten durch die Gegend brause und mir den Arsch mit Zehndollarscheinen abwische?« Behutsam schloß er ihre Finger um den Scheck. »Ich weigere mich, dein Feind zu sein.« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich würde dir zwar am liebsten den Hals umdrehen, aber ich weigere mich einfach, dein Feind zu sein.« Er machte einen derart geknickten Eindruck, daß sie unversehens spürte, wie sie weicher wurde; haarfeine Risse bildeten sich in dem Panzer um ihr Herz. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie mit all dem fertig werden sollte, wenn sie keine Feinde sein konnten. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie jemals von ihm loskommen sollte. Seine Reflexe waren zu gut, seine Ausdauer wie eine alles verschlingende, alles erstickende Sturmflut. Er hielt sie im Arm, wiegte sie sacht hin und her, tröstete sie, weigerte sich, ihr Feind zu sein, sagte ihr, wie sehr er sie liebe. Es sollte lange dauern, bis jemand anders sie so tief berühren würde wie er. \ 25 [ Er roch es schon, als er vor der Haustür stand und den Schlüssel ins Schloß steckte. Kaum hatte er einen Fuß in den Flur gesetzt, war der Gestank so bestialisch, daß er ihn förmlich sehen konnte. Er fragte sich flüchtig, wann die Zugehfrau zuletzt da gewesen sein mochte.
Die Erde der Topfpflanze zu seiner Rechten, einer Sansevieria – Kissy liebte diese Pflanze, weil sie praktisch nicht totzukriegen war und einen äußerst plastischen Hintergrund für ihre Fotos abgab – war trocken und krümelig, und auch die Blätter machten einen vollkommen ausgedörrten Eindruck. Der Gestank trieb ihm die Tränen in die Augen. Widerstrebend stieg er die Treppe hinauf. Drecksvieh lag auf dem Bett. Diverse Muskelstränge hatten versagt, als der Kater seinen boshaften Geist aufgegeben hatte und zum Herrn aufgestiegen war, so daß seine sterblichen Überreste in einer dunklen Pfütze seiner eigenen Exkremente ruhten. Die geschwollene Zunge hatte die Kiefer auseinandergezwängt, die kleinen, spitzen Zähne standen wie Stacheln in dem erweiterten Gewebe hervor. Junior schoß wie eine Rakete die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Dort atmete erst einmal kräftig durch. Dann sprang er, zwei Stufen auf einmal nehmend, mit gefüllten Lungen wieder nach oben, packte die gegenüberliegenden Ecken des Bettüberwurfs, legte sie zusammen, stolperte ins Erdgeschoß und durch die Hintertür in den Hof hinaus. Er schlug den Deckel von der Mülltonne, stopfte das Bündel hinein und knallte den Deckel wieder zu. Im Haus stank es immer noch grauenhaft. Er ging nach oben, um sich das Bett anzusehen. Die ekelhafte Suppe war durch die Bettwäsche in die Matratze gesickert. Er riß alles heraus, Bettzeug und Matratze. Der unterschwellige Totengeruch von Drecksvieh hing nach wie vor in der Luft, hartnäckig wie ein Furz des Leibhaftigen höchstpersönlich. Verwünschungen vor sich hin murmelnd, rief er bei der Zugehfrau an. Eine Schwiegertochter teilte ihm mit, die Frau habe einen Schlaganfall gehabt und liege im Krankenhaus. Schwiegertochter behauptete außerdem, keine Ahnung gehabt zu haben, daß Schwiegermutter sich um das Haus kümmern sollte. Er kehrte nach draußen zurück und setzte sich auf die Veranda. Keinesfalls würde er ein drittes Mal hineingehen und sich diesem Gestank aussetzen. Seine innere Uhr tickte noch nach östlicher Zeit, wo es drei Stunden später war. Sechs Uhr abends erst hier, trotzdem war er hundemüde und fror unter dem schneeüberfrachteten Himmelszelt. Er überlegte, woran Drecksvieh wohl gestorben war. Von Dämonen zu Tode gebumst vielleicht. Das Haus jedenfalls war unbewohnbar. Er schloß wieder ab und machte sich auf die Suche nach einem Motel.
Die Möglichkeiten waren begrenzt – HoJo’s oder HoJo’s. Es war ihm egal. Hauptsache, er fand ein Zimmer mit einem Bett, einem Bad und einem Kabelfernseher, den er auch gleich der Gesellschaft wegen einschaltete. Er hatte Glück; auf irgendeinem Kanal, der alte Spielfilme ausstrahlte, Nightmare on Elm Street, Teil eins. Es hatte direkt etwas Tröstliches, Freddy bei seinen Kapriolen zuzuschauen und seinem gackernden Gelächter zu lauschen. Er könnte sich Stoff besorgen und sich in den Schlaf trinken. Er könnte Kissy anrufen, um ihr zu sagen, wo er war, aber vielleicht sollte er das lieber lassen und sich, na, etwa zehn Tage lang nicht melden, damit sie einmal merkte, was für ein Gefühl das war. Er setzte sich aufs Bett und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen – auf der Suche nach etwas, das stabil genug war, um ein Seil auszuhalten. Was er nicht besaß; er würde einen Gürtel nehmen müssen. Leider fehlte dem Raum der obligatorische Balken oder Dekkenhaken, aber das spielte keine Rolle, weil er ohnehin nichts Derartiges tun würde. Zum dritten Mal hatte sie ihm den Laufpaß gegeben. Die Betonung in seinen Gedanken lag auf dritten. Drei Schlagfehler und du bist draußen. Er weigerte sich, es zu glauben. Sie hatte ihn, im übertragenen Sinn, nur nach Dry River zurückgeschickt, das war alles. Er war mittlerweile drei Jahre älter, sie hatten Dynah – und er würde nicht von irgendeiner Brücke springen oder sonst was in der Art veranstalten. Er würde seinen Job erledigen und Dynah der beste Vater sein, der er auf die Entfernung sein konnte. Und darauf warten, daß Kissy sich bei ihm blicken ließ. Am Abend vor seiner Abreise hatte sie ihm erlaubt, bei ihr zu bleiben – Bernie hatte heroisch mit Casey das Ausziehsofa im Wohnzimmer genommen – , und nicht von ihm verlangt, einen Schutz zu benutzen, was doch wohl zu bedeuten hatte, daß sie wieder schwanger von ihm werden wollte. Ein Wunsch, den er ihr nur zu gern erfüllen würde. Und überhaupt – was für eine prächtige Nacht! Gleich morgen früh würde er mit seinem Agenten sprechen und ihn bitten, die Clubs an der Ostküste auszuloten. Es mußte einen Weg zu einem Deal geben, der ihn näher nach Hause brachte. Das Buch steckte in der Tasche an der Rückenlehne seines Vordermanns, vergessen oder zurückgelassen von einem früheren Fluggast.
Junior hatte es bereits beim Hinsetzen und Anschnallen bemerkt, allerdings nur am Rande. Das Flugzeug war in letzter Minute anstelle einer Maschine mit plötzlich aufgetauchten technischen Problemen eingesetzt worden, so daß dem Reinigungstrupp nicht viel Zeit geblieben war. Außerdem hatte er andere Dinge im Kopf: das erste Spiel in einer umfangreicheren Serie; das Stechen im rechten Ellbogen, das hoffentlich nicht auf eine Tendinitis hinwies; das Knirschen in seinem linken Knie; die Sorge, daß eins von beiden sich so verschlimmern würde, daß es Einfluß auf seine Reflexe haben könnte. Nach einer Weile zog er das Buch dennoch hervor, nur um zu sehen, wovon es handelte. Wenn Frauen zu sehr lieben. Er hatte davon gehört. Kurz nach seinem Erscheinen war der Titel bei den Talkshows groß in Mode gekommen, und im weiteren Verlauf hatten sich die Regale der Zeitungskioske nicht mehr retten können vor Wenn Frauen-Büchern: Wenn Frauen Männer lieben, die sie wie Abschaum behandeln; Wenn Frauen Männer lieben, die sich ihre Unterwäsche ausleihen; Wenn Frauen Psychogesabbel lesen – und dergleichen Mist mehr. Ein Titel fehlte noch auf der Liste, überlegte er: Wenn Frauen immer ihren verdammten Kopf durchsetzen müssen. Gewidmet Kissy Mellors. Er schnaubte verächtlich bei dem Gedanken und schlug das Taschenbuch auf, um festzustellen, dank welchem Blödsinn es so beliebt geworden war. ›Wenn Lieben gleichbedeutend mit Leiden ist, lieben wir zu sehr‹, lautete der erste Satz. »O Mann!«, schimpfte er vor sich hin. Sein Platznachbar Jameson – der Grünschnabel, der aus Allentown gekommen war, um in dieselbe Kluft wie er zu steigen und ihm Böses zu wünschen – stand auf. »’tschuldigung, Hoot, ich muß mal pinkeln.« »Wir sind hier nicht im Kindergarten. Du brauchst es nicht extra anzumelden, wenn du raus mußt«, knurrte Junior unwirsch, während er Jameson vorbeiließ. Sein Knie tat weh; es fühlte sich an, als schlage ein rabiates kleines Tier seine nadelspitzen Klauen hinein. Jameson machte ein gekränktes Gesicht, was er hervorragend beherrschte und permanent tat. Er war kein schlechter Kerl, aber er ging Junior auf die Nerven. Im Grunde war er vollkommen harmlos, gesegnet jedoch mit einer nagelneuen Frau, die er durch eine ultrarosarote Brille sah, und die ihn ihrerseits für den Weihnachtsmann,
Jesus Christus und Mel Gibson in einem hielt, dazu ausgestattet mit einem Harten, wie es ihn schöner nicht gab. Am schlimmsten war, daß er drei Jahre jünger war als Junior. Trotzdem kam er relativ langsam in Gang, und bis er endlich herausgefunden hatte, ob er nun in der Tür stehen sollte oder daneben, fungierte er leider nur allzu oft als Portier für ein schnell hindurchflutschendes Gummistück. Als die Maschine zur Landung ansetzte, las Junior immer noch. Er hatte sogar begonnen, bestimmte Textstellen zu unterstreichen. Eine davon – es ging um Kinder aus zerrütteten Familienverhältnissen, die möglicherweise gravierende Schäden davontrugen – machte ihm ernsthaft zu schaffen. Er dachte ununterbrochen an Dynah. »Gutes Buch, Hoot?«, erkundigte sich Jameson, als sie ihr Handgepäck aus den Deckenfächern zerrten. »Und wie«, meinte Junior. »Irgendwann les ich’s dir vor.« Die andern lachten und Jameson machte ein gekränktes Gesicht. »Lesen kann ich selbst…« »Mit einer Hand, was? Die Art Buch ist es nicht, und wenn es so wäre, würde ich mich bestimmt nicht freiwillig anbieten, es ausgerechnet dir vorzulesen«, gab Junior zurück. »Ich mache mir Sorgen«, erklärte er Kissy am Telefon, »daß Dynah unsretwegen krumm draufkommen könnte.« Kissy sagte eine Zeit lang nichts, dann meinte sie: »Sie scheint okay zu sein, Junior.« »Ja, mir auch«, räumte er ein. »Aber was ist mit später, wenn sie erwachsen ist? Wenn sie mit jemand zusammenlebt und es nicht aushält, ihn die ganze Zeit um sich zu haben?« »Vielleicht wird sie ja erwachsen und endet als Lesbe.« »Von mir aus. Dann schafft sie’s eben nicht, die ganze Zeit eine andere Lesbe um sich zu haben. Bitte, Kissy, nimm das jetzt mal ernst, ja?« Kissy seufzte. »Ich weiß nicht, Junior. Dein Vater war die ganze Zeit über da.« »Was hat das denn damit zu tun? Friseure sind nun mal nicht regelmäßig beruflich unterwegs. Ich spreche von Dynah…« »Du sprichst von dir. Du bist derjenige, der jedes halbe Jahr weg ist, und du hast es so gewollt.«
»Ich bin nicht allmächtig, Baby, ich kann die Liga nicht dazu bringen, sämtliche Spiele in Peltry austragen.« »Dieses Thema hatten wir bereits.« Das war richtig. Er ließ es für den Moment gut sein, kam beim nächsten Anruf aber auf das Thema zurück. »Und wenn ich nun aussteigen und unseren Lebensunterhalt mit Haarschneiden verdienen würde, Kissy? Könntest du es überhaupt ertragen, mich ständig um dich zu haben?« »Laß es mich wissen, wenn du so weit bist«, gab sie zurück. Ganz offensichtlich nahm sie ihn nicht ernst. Genau das war der Punkt, dachte er. Sie nahm ihn nicht ernst. Sie hatte ihn sich ausgesucht, weil sie ihn nicht ernst nehmen mußte, weil sie einfach über ihn hinweggehen konnte. »Deine Mutter«, erklärte er beim dritten Anruf, »hat sich nicht mehr um dich gekümmert, seitdem sie und dein Vater sich getrennt hatten. Nach allem, was du so erzählst, ist es davor auch nicht viel anders gewesen. Sie ist voll und ganz mit ihrer Arbeit beschäftigt und vielleicht noch mit Noah – für zehn bis fünfzehn Minuten am Tag. Du hast keine Ahnung, wo sich dein Bruder aufhält, oder ob er überhaupt noch lebt, und dein Vater ist eine völlige Niete, was eure Beziehung betrifft. Würdest du nicht auch sagen, daß du aus zerrütteten Familienverhältnissen kommst?« Kissy lachte. »Klar. Deshalb habe ich mir auch bei einer Nutte den Tripper geholt, dich damit angesteckt, mich anschließend vollaufen lassen, den Blazer geklaut und Ed über den Haufen gefahren…« »Es macht dir Spaß, mich fertig zu machen, das ist es, wovon ich spreche.« Allen guten Vorsätzen zum Trotz verlor er allmählich die Nerven. »Damit du dastehen kannst wie die Rechtschaffenheit in Person und ich wie der größte Schweinehund auf der ganzen Welt. Was ist mit dir, hm? Erst wirst du schwanger mit fünfzehn und dann ein paar Jahre später gleich wieder, obwohl du zu dem Zeitpunkt wirklich alt genug warst…« »Du kannst mich mal, Junior.« »Du mich auch, Kissy, du mich auch. Ich versuche bloß, uns aus diesem ganzen Scheiß rauszuholen…« Sie legte auf.
»Es gibt da ein Buch, das du lesen solltest«, meinte er einige Tage später nach mehreren vorsichtigen, höflich-distanzierten Gesprächen. »Und ich würde dir gern etwas vorschlagen.« »Soso.« »Wir machen zusammen eine Therapie, wenn du willst.« Kurzes Schweigen. Zweifellos zwirbelte sie jetzt die Telefonschnur – das tat sie immer, er hatte es schon oft gesehen. Der verzweifelte Wunsch, sie eine Weile mit eigenen Augen die verdammte Telefonschnur zwirbeln zu sehen, trieb ihm die Tränen in die Augen. »Menschenskinder!«, sagte sie, plötzlich wütend. »Wann? Ich hab keine Zeit, ich bin alleinerziehende Mutter, Junior!« »Bitte. Ich mach’s auf jeden Fall.« Wieder Schweigen, dann: »Ich denke darüber nach, okay?« »Triffst du dich mit jemand?«, fragte er. Diese Frage stellte er dauernd; früher oder später, normalerweise früher. Wenn er anrief, beim Abschied an dem oder dem Flughafen, jeden Tag, jeden nächsten Tag und jeden übernächsten Tag – er stellte sie genauso oft, wie er ihr seine Liebe erklärte. Und gleich anschließend versicherte er ihr, er träfe sich auch mit niemandem, gefolgt von der Frage, ob sie nicht bitte wieder richtig verheiratet sein könnten. Manchmal wurde sie tatsächlich von irgendwem eingeladen, oder jemand versuchte sie ins Bett zu kriegen. Aber was sollte sie veranlassen, sich regelmäßig mit jemandem zu treffen? Wo sollte sie überhaupt die Energie dazu hernehmen? Trotz der voranschreitenden Scheidung war sie nach wie vor eine Eishockey-Ehefrau. Ihre Tage waren damit ausgefüllt, das Kind zu versorgen, zu arbeiten, eine Dachreparatur oder einen Fassadenanstrich in Auftrag zu geben, auf Juniors Anrufe oder ihr nächstes Zusammensein zu warten, ihre Stimmung von den Gerüchten heben zu lassen, Junior stünde auf der Handelsliste – Gerüchte, die nie zu einem Ergebnis führten. Indem er sich unersetzlich gemacht hatte, hatte Junior sich selbst einen Knüppel zwischen die Beine geworfen und erfolgreich verhindert, an einen Club an der Ostküste verkauft zu werden, um öfter zu Hause zu sein. Sie hörte sich um, bekam ein paar Namen und Telefonnummern von Therapeuten zusammen, machte aber nirgends einen Termin aus.
Junior war in Denver fündig geworden. Er ging zweimal die Woche dorthin und nach diesen Besuchen hatten sie am Telefon die heftigsten Streits ihrer Laufbahn. Er quoll über vor Fragen, mit denen er sie torpedierte wie mit einem spitzen Skalpell. Der tiefere Sinn des Ganzen bestand offenbar darin, daß sie seelisch kaputt war und Junior sie wieder in Ordnung bringen würde. Er und seine Therapeutin. Sarah Rupert. Gelegentlich machte sie einen Abstecher in Juniors Welt, schloß sich einem Auswärtstrip an oder besuchte ihn in Colorado. Bei einem seiner Heimspiele lief Sarah Rupert ihr über den Weg. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, daß es sich bei Juniors Therapeutin um eine angenehme Frau mittleren Alters mit einem Ehemann im Schlepptau handelte, der die Ausmaße eines Schwergewichtboxers besaß. Die beiden gaben ein absolut zufrieden wirkendes Paar ab, in etwa wie ein großer Hund und sein Lieblingssofa. Die Meute der Eishockeyprofis war eine Sippschaft für sich, wie jede größere Gruppe mit einem gemeinsamen Hauptinteresse – das Einzige, was sie mit ihrer Kamera hatte einfangen wollen – , aber wie jede Sippschaft bestand sie aus lauter Individuen. Manche von ihnen mochte sie, andere nicht. Manche von ihnen mochten sie, andere nicht. Deker zu mögen, brachte sie einfach nicht fertig. Zum einen waren da seine Geschichte mit Bernie und das zwanghafte Interesse an Casey, sein Übereifer, Anspruch auf den Jungen zu erheben, falls – und nur falls – er sein Sohn sein sollte. Zum anderen hatte auf Anhieb eine gewisse sexuelle Spannung zwischen Deker und ihr bestanden. Er war eine extremere Version von Junior, um einiges narzißtischer, leichtsinniger und gieriger, und kam in seinem Reiz dem, was sie als Sexualobjekt empfand, erschreckend nah. Er begrüßte sie jedes Mal mit der Frage, ob sie und Junior an diesem Tag gerade verheiratet wären oder nicht, als fände er ihre Situation amüsant. Er flirtete mit ihr auf eine Art und Weise, die durchblicken ließ, daß er von ihrer Bereitwilligkeit absolut überzeugt war. Er überschüttete sie unaufgefordert mit intimen Bekenntnissen, unter anderem dem, wie sehr ihm die unablässigen, hartnäckigen Bestürmungen der Frauen schmeichelten, die ein Kind von ihm wollten oder behaupteten, eins von ihm zu haben, und wie sehr er in Bernie verliebt sei – so sehr, daß er sie auf der Stelle heiraten würde, stimmte sie nur endlich dem Bluttest bezüglich Casey zu.
»Menschenskinder!«, entfuhr es ihr einmal, als er sich während einer Auswärtstour in der Cafeteria eines Hotels endlos über die Kosten beklagte, die Töchter verursachten. »Hast du denn noch nie was von Mundarbeit gehört? Von Handarbeit? Von Masturbation?« Zu ihrer Verblüffung lief Deker dunkelrot an, stotterte irgendeine Entschuldigung hervor und verschwand. »Es geht ihm nicht um Sex«, versuchte Junior ihr später zu erläutern. »Es geht darum, Frauen glücklich zu machen, was seiner Meinung nach heißt, sie zu vögeln. Außerdem fühlt er sich seiner DNS gegenüber verpflichtet, das behauptet er jedenfalls. Für ihn sind Mundarbeit, Handarbeit und Wichsen furchtbare Samenverschwendung. Für mich nicht«, fügte er mit einem Grinsen hinzu. »Los ist man das Zeug sowieso, ob man’s nun verwendet oder nicht.« Dann war er an der Reihe, rot zu werden. »Es gibt niemanden außer dir.« Niemanden außer dir. Niemanden. Außer. Dir. Manchmal war sie nichts als Niemand, eine nähere Bestimmung, eine namenlose zweite Person Singular, die keine andere Identität für ihn besaß als das intime Du. Vom überwiegenden Teil seines Lebens ausgeschlossen, einer Welt bestimmt von Leidenschaft, Niederlagen und Triumph, schweißtreibenden jazzigen Riffs zwischen den einzelnen ›Kinderspielen‹ und kurzen Zäsuren, wenn das kratzende Geräusch des Pucks sich wieder von ihm entfernte. Nicht daß er unfähig gewesen wäre, dieses Leben zu teilen; das tat er durchaus, nur nicht mit ihr. Er hatte seine Hand über die Linse ihrer Kamera gelegt, hatte ihr die Sicht auf sein Leben versperrt. Bei dem Gedanken wurde sie erneut wütend auf ihn. Und wozu war das gut? Wozu war es gut, wütend auf Junior zu sein? »Triffst du dich mit jemand?«, war das Erste, was er sie auf dem Rückweg vom Flughafen fragte, als sie sich nach der dritten Trennung wiedersahen. »Na klar. Ich bin jetzt Mitglied in einem Swinger-Club und hab mich erst letzte Nacht von zwanzig Kerlen so richtig durchbumsen lassen.« Er wurde blaß und tat es mit einem Lachen ab. »Ja«, meinte sie ein anderes Mal am Telefon. »Ich muß dir endlich die Wahrheit sagen. Seit Jahren schlafe ich schon in der Gegend rum.
Ich gehe ins Bird’s oder ins Skinner’s, gable irgendeinen Typen auf und besorg’s ihm noch auf dem Parkplatz.« Kurzes Schweigen, dann ein nervöses Kichern an Juniors Ende der Leitung. »Was denkst du denn!«, schrie sie in Detroit, dem einzigen Mal, bei dem sie Dynah zu Hause gelassen hatte, damit sie an Juniors Geburtstag ein bißchen Zeit für sich haben konnten. »Ich hab einen Freund mit einem Ding so groß wie Godzillas, und immer wenn er’s mit mir treibt, denke ich an dich und was für ein schlappschwänziges Arschloch du bist!« Er hatte ihr behutsam die Hand auf den Mund gelegt und »Jetlag!« zu dem Hotelpagen gesagt, der mit Glotzaugen vor ihnen zurückgewichen war. Dann zu ihr: »Schon gut, Baby. Ich mußte einfach fragen.« Sollte er doch. Sie war genauso seine Ehefrau, als würden sie nicht in Scheidung leben. Er zahlte den Großteil der Rechnungen, hatte das kleine, mit Stuck verzierte Haus in der Nähe des Campus und seiner Familie gekauft, das sie ausgesucht hatte – das sie im Grunde genommen an ihn band. Der Geldbetrag, der durch ihre Arbeit hereinkam, war verglichen mit seinem Einkommen verschwindend gering, außerdem gingen die Zahlungen unregelmäßig ein. Er war so sehr ihr Ehemann, wie er es sein wollte – was Verheiratetsein, soweit sie das ihren Erfahrungen nach beurteilen konnte, für die meisten Männer bedeutete. Ob er ›sich mit jemand traf‹, wußte sie nicht. Wie jedes gute Eishockey-Frauchen untersuchte sie seine Hemdkragen nicht auf Lippenstiftspuren, wühlte nicht in seinen Jackentaschen nach Zetteln, Telefonnummern, Restaurantrechnungen oder kostbaren Geschenken. Sie verlangte nicht einmal von ihm, ein Kondom zu benutzen. Zu unterschiedlichsten Zeiten, an unterschiedlichsten Orten und in unterschiedlichsten Stimmungen, aber immer mit einem unterschwelligen Gefühl von Leichtsinnigkeit ging sie mit ihm ins Bett. Sie riskierte eine weitere Schwangerschaft mit allem, was dazugehörte, und konnte sich nicht erklären warum. Manchmal überlegte sie, was sie tun würde, bekäme sie tatsächlich ein Kind. Er würde es großartig finden. Er würde darauf drängen, sofort wieder zu heiraten. Könnte direkt lustig sein, noch eine Hochzeit mit dickem Bauch. Der lebende Beweis: einmal ein Dummkopf, immer ein Dummkopf. Doch vielleicht würde sie auch einfach hinausmarschie-
ren und es abtreiben und die Angelegenheit ihm gegenüber mit keinem Wort erwähnen. Oder sie würde es kriegen und anschließend weggeben – obwohl dies das Einzige wäre, was Junior wirklich aus der Fassung brächte. Er würde sie vor Gericht bringen, wie er es ihr schon damals bei Dynah angedroht hatte. Was verstand er überhaupt unter ›Liebe‹? Nichts was sie tat oder getan hatte, schien den leuchtenden Glanz seiner alles umfassenden Zuneigung zu ihr beeinflussen zu können. Mit liebevoller Ironie strahlte er durch ihr Schlafzimmerfenster auf sie hinab, zufrieden damit, sie anzuschauen, ein selbstherrlicher Voyeur, der in weiter Ferne im Leeren hing. Das zarte, goldene Wispern seiner Liebe legte sich über sie, versickerte in jeder Pore, in jedem Spalt, in jeder Öffnung, sammelte sich in ihrem Schoß. Sie nahm ihn in sich auf – es war das Einzige, worum er bat. Gott wendet sich ab von den Feiglingen, murmelte sie im Schlaf vor sich hin, ohne den Sinn der Worte zu begreifen. Ohne zu begreifen, wie ein angeblicher göttlicher Abscheu mit der Tatsache unter einen Hut zu bringen war, daß mit Junior zu vögeln auf irgendeine rätselhafte, perverse katholische Art und Weise einfach nicht zu zählen schien. Seine Liebe brachte trotz allem keine Früchte hervor. Sie wurde nicht schwanger. Im Herbst desselben Jahres wurde sie rechtskräftig von Junior geschieden. Nicht Burke gewann die Bürowette, sondern die rothaarige Rechtsanwaltsgehilfin, die sich seit mehreren Monaten von Burkes Chef das Diktat geben ließ. Die News veröffentlichte eine Fotoserie Kissys über den Wandel der Jahreszeiten im Valley. In nahezu jeder Aufnahme wurde die natürliche Schönheit der Schlucht durch die Zeugnisse menschlicher Entartung und Lasterhaftigkeit getrübt, was eine hitzige Debatte auf der Leserbriefseite der Zeitung entfachte: War es wirklich nötig gewesen, den Müll und die Papphütten ins Bild zu bringen, die benutzten Kondome, Spritzen und Pfeifen? Im Lauf der Wintermonate antwortete sie mit weiteren Fotos: Strafgefangene im Gefängnisalltag; Jugendliche, die vor dem 7-Eleven in der Nähe der Highschool Koks einkaufen; Straßenkinder und Homosexuelle, die sich nachts in der Innenstadt durch Wagenfenster zu den Fahrern hineinlehnen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen; Junkies, die sich auf einem verlassenen Spielplatz einen Schuß setzen; der mit ihren Spritzen übersäte Boden unter den Klettergerüsten
in der Morgendämmerung; junge Geschäftsmänner in Anzug und Krawatte, die in der Mittagspause in einer Seitengasse einen Joint rauchen; eine Schlägerei vor einer finsteren Spelunke an einem Samstagabend; geschundene Frauen und Kinder im Frauenhaus; eine Gruppe elfjähriger Jungs, die sich in einem Keller vollaufen lassen. Mike Burke studierte die Ergüsse ihrer Kreativität mit weitaus mehr als flüchtigem Interesse. Kissy Mellors neuestes Thema war die häßliche Unterwelt, in der er sich dank seines Jobs bewegte. Er wußte natürlich, woran sie gearbeitet hatte, sogar wo und wann – das war kaum zu verhindern gewesen. Die Qualität ihrer Arbeit beeindruckte ihn. Die Fotos waren erbarmungslos in ihrer Grobkörnigkeit, Blende und Belichtungszeit meisterhaft eingesetzt. Und sie verhalfen ihr auf den Weg nach oben. Von seinen Quellen bei den Medien hatte er erfahren, daß sie Preise damit gewinnen würde, und das nicht nur auf lokaler Ebene. Heimlich nach ihr auf der Suche, fuhr er mehrmals am Campus und an dem Haus vorbei, das sie gekauft hatte. Der mit Stuck aufgedonnerte Altbau befand sich auf einem Eckgrundstück und war von hohen, dunklen Kiefern umgeben, was dem Ganzen etwas Düsteres gab. Auf der Veranda stand Spielzeug herum: ein Dreirad, ein Minitor, Stöcke für Straßenhockey in Kindergröße. Eines Nachmittags entdeckte er sie während eines seiner Streifzüge hinten in ihrem Garten. Sie stand neben der Schaukel eines stabilen Klettergerüsts und schubste ihre kleine Tochter an. Beide steckten zum Schutz gegen die frostige Frühjahrsluft in Jeans und dicken Pullovern. Er stellte seinen Jeep am Straßenrand ab, ging zum Tor und winkte. Sie winkte zurück. »Na, wie geht’s?«, rief er ihr zu. Sie grinste. Ihre Tochter machte auf der Schaukel Verrenkungen, um ihn besser sehen zu können. Bei der Erinnerung an seine erste Begegnung mit der kleinen Person, damals eine basketballgroße, gegen seinen Arm gepreßte Beule im Bauch ihrer Mutter, stieg ein seltsames Gefühl in ihm hoch. Ihm war, als höre er die Zeit mit einem Zischen im Innern eines Staubsaugers von den Ausmaßen des Universums verschwinden. »Hallo, Kleine«, sagte er und beugte sich zu dem Kind hinunter. »Das ist Mr. Burke«, erklärte Kissy ihrer Tochter. »Mike, bitte. Und du bist Dynah, richtig?«
»Ja.« Dynah schaute mit feierlicher Miene zu ihm hoch. »Absolut.« Sie sprang geschickt von der Schaukel und stürzte auf die Rutschbahn zu. Kissy besetzte das frei gewordene Schaukelbrett. Es war zu dicht über dem Boden, so daß sie ihre Beine entweder ausstrecken oder ganz einziehen mußte. Sie entschied sich fürs Ausstrecken. Burke warf einen kurzen Blick auf die Hand, die das Seil umklammerte. Sie trug immer noch ihren Ehering. Clootie hatte einen Vertrag über eine Million Dollar unterschrieben. Ein Feature in Sports Illustrated war dem Geld gefolgt wie die Nacht dem Tag. Der Bericht beschrieb das Ereignis als salomonische Entscheidung, da der Torhüter gezwungen gewesen sei, seinen sattsam bekannten Wunsch, bei einem Ostküstenklub zu spielen, um sich in der Nähe seiner Wahlheimat Peltry zu befinden, zugunsten des Geldes aufzugeben. Was für eine entsetzliche Alternative, dachte Burke sarkastisch. Dennoch sei Clootie die Wahl zwischen Karriere und Privatleben ziemlich schwer gefallen. Er liebe seine Exfrau nach wie vor und wünsche sich nichts sehnlicher, als sie noch einmal zu heiraten. Er treffe keinerlei Verabredungen mit anderen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts, offenbarte er Sports Illustrated und fühle sich weiterhin an sein Gelübde gebunden, obwohl sie rechtskräftig geschieden seien. Kissy hatte jeglichen Kommentar verweigert, aber das Magazin erging sich in Einzelheiten über fortdauernde häusliche Beziehungen. Clootie kehre sooft es gehe zu seiner früheren Frau und ihrer gemeinsamen Tochter zurück, halte sich mit ihnen in ihrem gemeinsamen Haus auf und verbringe den Großteil des Sommers mit ihnen. Für Burke war das purer Blödsinn. Der Mistkerl hatte genau das, was er wollte: einen netten Haufen grüne Scheinchen, eine brandaktuelle Karriere und eine erstklassige Muschi, die zu Hause auf ihn wartete. »Und wann machen Sie endlich ein Foto von einem Kind, das auf dem Rummelplatz Zuckerwatte ißt?«, erkundigte er sich grinsend. Kissy lachte. »Schon geschehen. Von zwei Kindern sogar. Dynah und ihr Cousin Casey.« Er ließ sich auf das zweite Schaukelbrett sinken, streckte steif die Beine aus und bohrte die Hacken in den Schmutz. »Ich habe da ein Problem.« Sie hob fragend die Brauen.
»Sie.« Er bemühte sich um einen neutralen Ton. Sie ließ die Seile los und klemmte die Hände zwischen die Oberschenkel. »Bin ich etwa bei Rot über die Ampel gefahren?« »Sie bewegen sich auf unsicherem Terrain, in der DMZ, der Demilitarisierten Zone, schießen Fotos von Gesetzesbrechern – eines schönen Tages wird irgendein Halunke etwas dagegen haben, daß Sie Ihr Objektiv auf ihn richten.« »Es ist mein Job.« Den jungen Cop bei ihrer ersten Begegnung in der Unfallnacht vor Augen, stellte sie fest, wie sehr er sich verändert hatte. Von Dunny Clootie, der in seinem Friseurladen sämtlichen Tratsch aus dem Gerichtsgebäude zu hören bekam, hatte sie erfahren, daß der ehemalige Cop sich zum leitenden Ermittlungsbeamten des Staatsanwalts gemausert hatte und auf dem besten Wege war, selbst einmal Staatsanwalt zu werden. Den Gerüchten zufolge war sein Auftreten vor Gericht ebenso gnadenlos und unerbittlich wie früher auf der Straße. Das Jungenhafte in seinem Gesicht war einem harten, wölfischen Ausdruck gewichen. »Haben Sie einen Gürtel?«, riß er sie unsanft aus ihren Gedanken. »Tragen Sie irgendwas bei sich?« »Eine Waffe?« Sie lachte. Er nicht. »Jemals einen Selbstverteidigungskurs gemacht?« Sie verdrehte die Augen. Dynah schoß kreischend mit dem Kopf voran die Rutsche hinunter wie ein kleiner Otter. Burke, der damit rechnete, daß sie auf dem Gesicht landen würde, verkrampfte sich, doch sie machte kurz über dem Boden einen Überschlag und kam sicher auf den Füßen auf. Wie eine Katze, die sich in der Luft gedreht hatte. Mußte der Clootie in ihr sein. Sollte Clootie jemals aus dem Flieger fallen, landete er bestimmt auch auf den Füßen. Obendrein vermutlich in einem weichen Polster aus Geld. »Ich will, daß Sie eine tragen«, sagte er zu Kissy. »Kaufen Sie sich eine 22er und lernen Sie damit umzugehen. Ich besorge Ihnen einen Waffenschein.« »Sie machen mir Angst.« »Genau das ist meine Absicht.« Sie schwieg einen Moment und beobachtete Dynah, die erneut die Leiter der Rutschbahn hinaufkletterte. »Und wenn ich nichts dergleichen tue?«
»Dann setze ich eine Horde Bullen auf Sie an, die Ihnen Ihre Motive verjagen wird…« »Einen Dreck werden Sie tun!« Sie sprang auf. Er packte ihr Handgelenk, um sie am Gehen zu hindern. »Warten Sie. Regen Sie sich wieder ab. Ich habe nicht vor, Sie in irgendeiner Weise von Ihren Aktionen abzuhalten, ich möchte nur, daß Sie sich wehren können, sollte es Probleme geben.« Sie starrte auf ihn hinunter. Er ließ sie los. »Na schön«, lenkte sie ein. Er zog eine Karte aus seiner Brieftasche. »Der hier ist nicht ganz so schlimm wie die anderen Ziegelkiller.« »Ziegelkiller?« Er ließ die rechte Handkante auf die linke Handfläche sausen, um das klassische Karate-Bravourstück zu imitieren. Kissy lachte. »Ich kann Sie gern in ein Waffengeschäft begleiten…« »Danke. Das schaffe ich schon allein.« »Nehmen Sie jemand mit, der sich auskennt, damit Sie nicht übers Ohr gehauen werden.« Sie nickte. Während er zusah, wie sie die Karte in der Gesäßtasche versenkte, wünschte er flüchtig, es wäre seine eigene Hand. »Kommen Sie vorbei, sobald Sie eine haben, dann kümmern wir uns um den Waffenschein.« Er zögerte kurz. »Ich finde es toll, was Sie gemacht haben. Die Fotos, meine ich.« Es war sein Ernst. Er war schon an einige intelligente Frauen geraten, Frauen, die gut darin waren, den eigenen Vorteil schnell zu erkennen, und zu diesem Kaliber zählte auch sie. Eine weitere Vertreterin dieser Gattung saß als Anwältin in seinem Büro, bei den anderen handelte es sich um Pflichtverteidigerinnen oder Rechtsbeiständen mit eigener Kanzlei. Eine solche Frau würde am Ende einer Affäre vielleicht in Tränen ausbrechen und ihn einen Schweinehund nennen, aber sie fing nicht an zu heulen, wenn sie einen Fall verlor. Ihr Körper, ihr Aussehen, ihre Vitalität – all das ließ ihn die eigene Männlichkeit bewußter wahrnehmen. Die plötzliche Steigerung seiner sexuellen Wattleistung war überaus belebend, aber er stand nicht unter Druck. Er konnte sie in Ruhe unter die Lupe nehmen, ohne zu irgendwelchen Schritten gezwungen zu sein. Wenn er tatsächlich auf der Suche nach einer Beziehung gewesen wäre – was nicht der Fall
war –, hätte ihn sowieso das kleine Mädchen abgeschreckt. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß alleinerziehende Mütter leicht ablenkbare Geliebte abgaben. Außerdem gehörte sie eindeutig zur eigensinnigen, sprunghaften, fordernden Sorte Frau, die für den klugen Mann besser eine Fantasie blieb als eine Herausforderung wurde. Trotzdem – ein bißchen Sahne im Kaffee konnte nicht schaden. Dynahs enger weißer Rock blieb an Juniors Unterarm hängen, als er sie hochhob, so daß ihre langen Beine bis zur Unterhose entblößt wurden. Kissy streckte eine Hand aus, um den Rock ein Stückchen herunterzuziehen. Es war bewölkt, die Luft aufgeladen und schwül wie kurz vor einem Unwetter. Trotz der Sommerkleidung waren die Trauergäste auf Esther Clooties Beisetzungsfeier verschwitzt. Dynah zappelte unruhig auf Juniors Arm herum und vergrub den Kopf an seiner Schulter. Sie begriff nicht weshalb, dachte Kissy, aber sie wußte, daß jeder traurig war. Sie hatte kurz überlegt, ob sie das Kind einen letzten Blick auf Esther werfen lassen sollte, bevor der Sargdeckel geschlossen wurde, war jedoch zu dem Schluß gekommen, daß der Tod und die Schminke des Bestattungsinstituts das Aussehen ihrer Großmutter vermutlich hinreichend verändert hatten, um Dynah noch mehr zu verwirren. Die Gewißheit, daß ihre Tochter die Frau, die sie so abgöttisch geliebt hatte, aufgrund ihres jungen Alters schon bald vergessen haben würde, ließ Kissy die eigene Trauer um so stärker empfinden. Dunny umklammerte ihre Hand. Die Beisetzung war fast vorüber und seine Selbstbeherrschung bröckelte zunehmend ab. Er gab sich die Schuld an Esthers Tod, weil er angenommen hatte, ihr sei lediglich ein Apfelstück im Hals steckengeblieben; um ihr zu helfen, hatte er den Heimlich-Griff angewandt, bei dem er ihren Kopf soweit wie möglich nach unten drücken mußte. Wenn er ihren Tod dadurch nicht geradewegs verursacht hatte, so redete er sich ein, hatte er ihre Qualen zumindest erheblich verstärkt. Auch die Beteuerungen zweier Ärzte, ein Blutgerinnsel habe Esthers Gehirnarterie verstopft und zu beinah augenblicklichem Todeseintritt geführt, konnten an seiner Überzeugung nichts ändern. Kissy fühlte sich innerlich wie erstarrt, reglos wie ein Blatt an einem Baum in der drückenden Luft. In all der Zeit, die sie selbst Mutter war, hatte Esther ihr weitaus mehr wie eine Mutter zur Seite ge-
standen als Cait. Bei Esther hatte sie Rat gesucht, als Dynah zum ersten Mal Fieber bekam, als Dynah plötzlich verkündete, nichts anderes mehr als Marshmallows essen zu wollen, als Dynah erklärte, sie würde nur noch dann reagieren, wenn man sie mit Chiquita Juanita Juniorita ansprach. Wie Mark stand auch Junior seiner Trauer relativ hilflos gegenüber. Beide waren als Jungen mit Eigenschaften gesegnet gewesen, die ihnen die Bewunderung ihrer Umwelt einbrachten, beiden waren sämtliche Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt worden. Die einzige weibliche Autoritätsperson war ihre Mutter gewesen, machtvoll und gefürchtet, woran sich nichts geändert hatte. Schon früh hatten die Brüder gelernt, ihre Autorität scheinbar zu untergraben, indem sie sie wie ein nicht ernst zu nehmendes, ausgefallenes Schmusetier behandelten und jeden Gehorsam ihr gegenüber als Gefälligkeit tarnten. So schuldbewußt, verärgert und verwirrt sie auch waren, sie beteten ihre Mutter dennoch an und waren erschüttert durch ihren Verlust. Kissy versuchte fair zu sein. Mark war erst einundzwanzig. Die Vaterschaft hatte einiges zu Juniors Reifungsprozeß beigetragen; sein starker Familiensinn war kein leerer Publicity-Quatsch. Obwohl sie geschieden waren – manchmal dachte sie, was nicht gerade für sie sprach, weil sie geschieden waren –, war er Dynah ein sehr liebevoller Vater. Und ihr ein treuer Mann, soviel sie wußte und einige der anderen Eishockey-Frauchen, die mehr oder weniger Freundinnen geworden waren, behaupteten – doch das glaubten sie von ihren eigenen Ehemännern schließlich auch. Junior war der Profi geworden, der er immer hatte sein wollen, nicht nur auf sportlichem Gebiet, sondern auch was seine Einstellung, sein Auftreten und viele andere Dinge betraf, mit denen er niemals gerechnet hätte. Wieder zu Hause, nachdem alle gegangen waren und Dynah im Bett lag, liebten sie sich aus dem instinktiven Bedürfnis heraus, die Nähe des anderen zu spüren. Anschließend heulte er sich bei ihr aus. »Das ist in Ordnung«, erklärte er ihr. »Ich muß mich so fühlen. Es ist sogar gut, daß ich mich so fühle.« Therapiegequatsche, dachte sie. Natürlich war er am Boden zerstört. Niemand erwartete etwas anderes von ihm.
»Ich liebe meine Arbeit«, fuhr er fort. Mit abgespanntem, gequältem Gesicht, die Arme um die Knie geschlungen, kauerte er im Lichtschein der Leselampe, die sie hatten brennen lassen. »Ich wäre unglücklich, wenn ich sie nicht hätte. Das Leben ist zu kurz, um unglücklich zu sein. Es ist mein gutes Recht, Zufriedenheit und Erfüllung zu suchen und mich zu freuen, wenn ich sie finde. Du machst mir ein schlechtes Gewissen deshalb, Kissy.« »Oh.« Sie war verletzt und außerdem wütend, weil er nicht zu wissen oder zu berücksichtigen schien, daß auch sie trauerte. Verärgert drehte sie ihm den Rücken zu. »Und andauernd zeigst du mir die kalte Schulter!« Sie drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Er strich leicht über ihre Kehrseite. »Du hast einen tollen Arsch.« Sie schnaubte ins Bettzeug. »Meine Mutter ist tot, und alles, was du mir zum Trost anzubieten hast, ist dein Arsch – wie üblich. Ein großartiger Weg, mir was vorzuspielen, nicht wahr, Kissy?« Sie stützte sich auf die Ellbogen und warf den Kopf in den Nacken. »Verschon mich mit diesem Scheiß, Junior.« »Vielen Dank, Kissy. Hör dich nur an, du meinst es tatsächlich so.« Er ließ sich auf den Rücken fallen und starrte an die Decke. »Ich habe daran gedacht, deinen Wunsch wahr werden zu lassen. Ich habe gedacht, es wäre vielleicht das Beste für mich, mich endgültig von dir zu trennen. Nicht mehr hierher zu kommen. Dynah könnte ja mich besuchen.« Kissy drosch mit der Faust auf ihr Kissen ein. »Verdammt! Konntest du mir das nicht sagen, bevor du deinen Schwanz naß gemacht hast, du riesengroßes, selbstsüchtiges Arschloch?« Verblüfft schaute er sie an. Auf die Idee schien er noch gar nicht gekommen zu sein. Trotzdem glaubte sie ihm, sich wirklich Gedanken darüber gemacht zu haben. Es mußte ihn schon eine ganze Weile beschäftigen. »Du hast eine Neue«, stellte sie fest. »Nein.« Er klang erschöpft. »Aber wenn, wäre es wesentlich einfacher.« »Mach doch, was du willst.«
Sie stand auf, ging ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Während sie beobachtete, wie das Wasser gegen die Fliesen spritzte, und das Rauschen den neuerlichen Tränenausbruch Juniors ausblendete, fing sie selbst an zu weinen. Die eine Frage, die ihr sofort in den Sinn gekommen war, hatte sie ihm nicht gestellt: Wenn seine Gefühle, wenn sein Glück wichtig war – ihre Bedürfnisse dann nicht auch? Und wenn sie beide ein Recht darauf hatten, wie sah die Lösung aus? Es gab keine andere als das getrennte Leben, das sie bereits führten. Es wäre leichter für ihn, wenn er jemanden hätte, hatte er gesagt, ohne sich der tieferen Bedeutung seiner Worte bewußt zu sein. Er wollte, daß sie in Therapie ging, damit sie gemeinsam voll und ganz in ihm aufgehen konnten. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, daß Esther ihnen aus heiterem Himmel genommen worden war, während Ruth immer noch lebte. Sie veränderte sich natürlich auch, auf eine sehr subtile, aber voranschreitende Art. Immer mehr erinnerte sie an die Märchenfigur, deren Wunsch nach ewigem Leben zwar stattgegeben worden war, die im Lauf der Jahre allerdings auf die Größe einer Heuschrecke zusammenschrumpfte. Eine der Nachwirkungen, die Esthers Tod auf Kissy hatte, bestand darin, daß sie viel Zeit bei Ruth verbrachte. Das Mysterium vom Tod im Leben, vom Leben im Tod nahm sie so sehr gefangen, daß sie beinahe glaubte, nie wieder etwas empfinden zu können. Wenig später erteilte das Gericht seine Einwilligung zur Abschaltung sämtlicher Maschinen, die Ruth Prashkers Leben aufrechterhielten. Mit dem Einverständnis der Familie bereitete Kissy sich darauf vor, Ruths letzte Momente mit der Kamera festzuhalten. Doch als der Atemschlauch entfernt worden war, atmete sie aus eigener Kraft. Sie starb nicht. Nach einer Woche des Wartens und des Debattierens ließen ihre Eltern die Kanüle, über die die künstliche Ernährung erfolgt war, neu legen. Solange Ruth selbstständig atmen konnte, brachten sie es nicht über sich, sie einfach verhungern zu lassen. Die Entdeckung, daß sie doch nicht die Macht hatten, über Leben und Tod der eigenen Tochter zu entscheiden, schien sie enorm zu erleichtern.
\ 26 [ Sie mußte feststellen, daß Schießen ihr gefiel. Es war nicht viel anders, als auf den Auslöser der Kamera zu drücken. Sie hatte den Verdacht, es könnte wesentlich effektiver sein, einem möglichen Angreifer mit der Kamera eins überzuziehen, als die plumpe Selbstverteidigungsmasche anzuwenden, die ihr Burkes Ziegelkiller beigebracht hatte. Doch Burke hatte ihr tatsächlich einen Waffenschein besorgt, also sperrte sie das Ding in ihrem Handschuhfach ein. Ab und zu rief er an, um sich zu erkundigen, was sie so treibe. Anfangs schreckte sie davor zurück, ihm etwas zu erzählen, aber er redete ihr nirgends hinein. Sie fing an, ihm zu vertrauen. Vielleicht war es gar nicht schlecht, wenn jemand darüber im Bilde war, in welchen Ameisenhaufen sie als nächstes mit der Linse ihrer Kamera stechen wollte. Er nahm sie einige Male zu Undercover-Einsätzen mit oder gab ihr Tips, wo sie einen weiteren Ameisenhaufen finden konnte, der seiner Ansicht nach für sie von Interesse war. Auf seine typisch rastlose, durchtriebene Art half er ihrer Karriere auf die Sprünge und ihr war nicht ganz wohl dabei. Dann rief er sie sehr spät eines Nachts an und nannte ihr eine Adresse. Sie packte eine verwirrte und schläfrige Dynah in den Wagen, lieferte sie bei einer ebenso schläfrigen Bernie im Haus der Clooties ab und raste zu dem mit Burke vereinbarten Treffpunkt, wo eine Hausdurchsuchung vorbereitet wurde. Statt einen der Stammfotografen der News zu informieren, hatte er ihr die einmalige Gelegenheit verschafft, bei der größten Drogenrazzia des Jahres anwesend zu sein. Seine Belohnung bestand in einem Foto von ihm auf dem Titelblatt, das ihn unrasiert, gehüllt in eine Lederschürze, die gegen seine langen Beine klatschte, und mit einer Waffe in der Hand zeigte; auf seinem freien Arm kauerte ein zitternder kleiner Jungen, der nur mit einer schmutzigen Unterhose bekleidet war. Burke sah aus wie einem Western entsprungen. Bei dem konfusen Kind handelte es sich um eins von fünf Geschwistern, die den Marihuana anbauenden Eltern vom Staat weggenommen werden sollten. »Meine Mutter findet das Foto fantastisch«, erzählte er ihr am Telefon. »Aber nicht ganz so fantastisch wie mein Boss. Ich schulde Ihnen ein Abendessen. Inklusive Champagner.«
»Nur nicht übertreiben.« Kissy versuchte das unangenehme Gefühl, das sie bei genauerem Nachdenken über ihren stillschweigend durchgeführten Deal beschlich, mit einem Lachen zu überspielen. »Dann also Linguine und roten Itaker-Wein bei Matty’s, einverstanden?« »Einverstanden.« Vermutlich konnte sie ohnehin nichts essen, wenn sie ihr ethisches Dilemma bis dahin nicht für sich geregelt hatte. Eins würde sie ihm mit Sicherheit sagen: Nie wieder! Burke kam zu spät, entschuldigte sich unablässig und wirkte zerstreut. Zweimal stand er auf, um irgendwo anzurufen, einmal, um einen Anruf entgegenzunehmen. In der Zwischenzeit kamen ständig Leute an ihren Tisch, um ihm die Hand zu schütteln. Bei all den Unterbrechungen war es unmöglich, eine Unterhaltung in Gang zu halten. Kissy unterdrückte den Impuls zu verschwinden. »Tut mir leid«, meinte er, als er die Rechnung unterschrieb. »Das war nicht besonders gemütlich, was?« Sie zuckte mit den Achseln. »Mir schmeckt das Essen hier, außerdem mußte ich es nicht kochen. Eigentlich wollte ich mit Ihnen über…« Noch während sie zögerte, ob sie das Wort ›Ethik‹ gebrauchen sollte, fiel ihr auf, daß er nicht zuhörte. Er schaute ihr direkt in die Augen, fixierte sie mit jenem Blick, den Männer immer dann einsetzen, wenn sie mit einer Frau ins Bett gehen wollen. Sie reagierte derart prompt mit einer Art Stromstoß, der durch ihren Körper fuhr, daß sie innerlich grinsen mußte. Er hatte sich doch wohl nicht nur deshalb als ihr Förderer aufgespielt, oder? »…meinen Babysitter sprechen«, schloß sie resigniert lächelnd. Er erwiderte das Lächeln, als hätte er niemals auch nur ansatzweise in diese Richtung gedacht, und stand auf, um ihr hoch zuhelfen. Wieder zu Hause, sah sie nach Dynah und bedankte sich bei Bernie, die annahm, sie sei bei Latham zum Abendessen eingeladen gewesen. Es gefiel ihr gar nicht, Bernie anlügen zu müssen, aber das Mädchen war und blieb Juniors Schwester. Sie mochte zwar bei einem Streit auf Kissys Seite stehen, fand es vermutlich jedoch gar nicht gut, wenn sie sich mit anderen Männern traf. Obwohl sie bei ihrem Vater wohnte, blieb sie häufig über Nacht da. Auf diese Weise kam sie einmal von Zuhause weg und die Kinder hatten ihren Spaß
miteinander. Kissy hatte sogar ein Etagenbett in Dynahs Zimmer gestellt, um Casey vernünftig unterbringen zu können. »Wenn dich das Rauschen des Wassers nicht stört«, sagte sie zu Bernie, »würde ich mich gern in die Wanne legen.« »Nur zu. Ich wollte sowieso noch Letterman zu Ende sehen.« Im Badezimmer drehte Kissy den Hahn für das heiße Wasser auf und gab eine Hand voll Badesalz dazu. Umgeben von dem duftenden Dampf, der aus der Wanne stieg, begann sie sich auszuziehen. Anschließend betrachtete sie sich im Spiegel. Was mochte Mike Burke zu diesem Körper sagen? Wie mochte es sein, mit ihm ins Bett zu gehen? Sie mußte über die eigene Verruchtheit grinsen. Es war Zeit für einen kleinen Überraschungsbesuch bei Junior. Ihn hatte wegen seines Auftritts nach der Beisetzung seiner Mutter ein fürchterlich schlechtes Gewissen geplagt. Alles nicht so gemeint gewesen, hatte er zerknirscht beteuert; Kummer und Schock hätten ihm das Gehirn umnebelt. Ein plötzlicher, unangemeldeter Besuch barg natürlich immer das Risiko, ihn mit einer anderen Frau zu erwischen. Sie war nicht einmal mehr sicher, wie sie darauf reagieren würde. Vielleicht sogar mit Erleichterung. Wenn man jemandem nicht mehr vertrauen konnte, hatte sie für sich herausgefunden, war einem früher oder später egal, was derjenige trieb. Man konnte es sich nicht leisten, nicht gleichgültig zu sein. Man spaltete sich in zwei Hälften, von denen jede ihr eigenes Leben führte, und nahm, was man bekam, solange man es bekam. Später verschwendete man keinen Gedanken mehr daran, machte sich nicht länger Sorgen deshalb. Man stumpfte ab. Jedes beschissene Elend – egal ob klein oder groß – konnte in Normalität übergehen, wenn es nur lange genug anhielt. Langsam ließ sie sich in das dampfende Duftbad gleiten; gab sich ganz der Entspannung hin; war gut zu sich. Junior sprach oft davon, es war eine seiner großen, therapieforcierten Einsichten. Er müsse gut zu sich sein – nicht nur was seinen Körper, auch was seine Seele betraf. Natürlich hatte er ihr den Rat gegeben, seinem Beispiel zu folgen. Sie fand, daß sie es mittlerweile recht annehmbar hinbekam. »Wir treffen uns dort«, sagte Burke. Sie fühlte sich überrumpelt. Im Verlauf eines ihrer sporadischen Telefongespräche hatte sie ihm von ihren Plänen erzählt, am kom-
menden Samstagabend ins Skinner’s zu gehen, um ein paar Fotos zu schießen, und dabei ausschließlich an ihr Projekt gedacht. Sie arbeitete allein. Was sie am wenigsten brauchen konnte, war jemand, der ihr ständig über die Schulter sah. Und daß der verhätschelte Lieblingsspitzel des Staatsanwalts ihr die Leute verscheuchte, wahrlich nicht in ihrem Sinn. »Drogengeschäfte auf dem Klo interessieren mich nicht so sehr«, erklärte sie ihm. »Mir geht es um die Szene dort…« »Kein Problem. Ich will mich bloß mal in dem Laden blicken lassen, damit niemand denkt, mit wär’s egal, was da passiert. Er gehört zu meinem Zuständigkeitsbereich.« Er würde in eigener Sache da sein, redete sie sich ein. Nicht als ihr Begleiter. Sie hatte zu arbeiten, und falls er ihr in die Quere kommen sollte, würde sie ihm den Kopf abreißen. Wenn er sich entsprechend seiner üblichen Vorgehensweise verhielt, sagte er wahrscheinlich ohnehin vorher ab oder tauchte einfach nicht auf, weil ihm etwas dazwischengekommen war. Anfangs behandelte die Klientel sie wie eine typische Partyfotografin, wollte sich für die Kamera in Pose werfen und einen Abzug der Bilder bekommen, doch mit steigendem Alkoholpegel ließ das Interesse an ihr nach. Sie begann gerade zu finden, was sie in dem Laden gesucht hatte, als sie ihn bemerkte. Er saß an der Bar und hob zum Gruß sein Glas. Sie nickte ihm zu, vertiefte sich dann aber wieder in die Arbeit. Einige Zeit später stand sie in dem Gang, der zu den Toiletten führte und reichlich Motive bot: ein knutschendes Pärchen; drei Raucher mit todernsten Mienen, in irgendeine hitzige Debatte verstrickt; ein mit den Armen rudernder, brüllender Volltrunkener, der sein Gesicht förmlich in die Kameralinse bohrte. In der Luft hing der stechende Geruch von Marihuanarauch, der jedes Mal hervorquoll, wenn jemand in eine der Toiletten hineinging oder herauskam. Sie glaubte auch einen unterschwelligen Chemikaliengestank wahrzunehmen; Gerüchten zufolge wurde diese Gegend momentan von Poppers überschwemmt, die überwiegend aus Amylnitrat bestanden. Ihre Sinne waren ein wenig übersensibel – vermutlich ein Resultat des Pots und der Poppers, sofern der Verschwitzte-Turnschuh-Gestank tatsächlich das war, wofür sie ihn hielt.
Burke kam aus der Herrentoilette. Seinem dümmlichen Grinsen nach hatte er inzwischen einige Drinks mehr gekippt und reichlich Gras aus zweiter Hand abgekriegt. Lässig ließ er sich auf den klapprigen Stuhl neben dem Münzfernsprecher fallen. Als sie an ihm vorbeikam, hielt er sie am Handgelenk fest. »Hi. Na, wie geht’s?« Sie schaute auf ihn hinunter, er lächelte zu ihr hoch. Seine Hand legte sich kurz über dem Knie auf die Innenseite ihres Oberschenkels, wo der zerschlissene Stoff ihrer Jeans zum größten Teil aus länglichen Fetzen bestand, und wanderte langsam nach oben. Zentimeter vor ihrem Schritt bremste Kissy sie ab. »Den ganzen Abend habe ich darauf gewartet«, sagte er heiser. »Ich kann mich auch noch an mein erstes Bier erinnern«, brachte sie mühsam hervor. Er lachte. Sie drehte sich um und ging wieder an die Arbeit, mit Schmetterlingen im Bauch und einem Spannungsgefühl in der Lendengegend. Als der Laden zumachte, saß er immer noch an der Bar. Sie schoß ein paar Fotos von der aufräumenden Crew, dann begann sie zusammenzupacken, wozu sie sich mehrmals bücken und vorbeugen mußte. Während der ganzen Zeit spürte sie seine Blicke auf ihrem Körper. »He!« Einladend schwenkte er den Hocker, der neben seinem stand. »Gleich ist Sperrstunde. Genehmigen wir uns noch einen Schlaftrunk.« Dem Barkeeper rief er zu: »Einen Brandy für die Lady, Neil!« »Ich muß noch fahren«, wandte Kissy ein. »Ich kann Sie doch nach Hause bringen.« Kissy schüttelte lachend den Kopf. »Sie sind hier derjenige, der einen Fahrer braucht.« »Was ist jetzt?«, erkundigte sich der Barkeeper. »Nehmen Sie noch einen Brandy und gehen mit ihm nach Hause, oder nicht?« Kissy streckte ihm die Zunge raus und wurde sich im selben Moment bewußt, wie kindisch provokativ das wirken mußte, aber sie war müde und führte ihr Benehmen außerdem auf die Tatsache zurück, daß sie so viel Zeit mit einem Kleinkind verbrachte.
»Sie haben den falschen Kerl erwischt.« Neil knallte einen Kognakschwenker vor Burke auf den Tresen, der ihn an Kissy weiterreichte. »Ihm müssen Sie sie rausstrecken.« Sie schwenkte behutsam das Glas, dann nippte sie vorsichtig an der goldenen Flüssigkeit. »Und? Gehen Sie mit mir nach Hause?«, fragte Burke. Sie brach in schallendes Gelächter aus. Neil schürzte in gespielter Prüderie die Lippen. Plötzlich erinnerte Kissy sich an eine andere Nacht im Skinner’s, die einige Jahre zurücklag. Sie war mit Ryne dort gewesen, und irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte ein betrunkener Neil ihr anvertraut, seine Lieblingsfilme hätten allesamt das Wort ›Cheerleader‹ im Titel. »Nö.« Sie reichte das Glas an Burke zurück. »Wieder ein Triumph der Tugendhaftigkeit«, verkündetet Neil. »Ich allerdings hätte noch gute Chancen, eine Nummer zu schieben, wenn ich endlich meinen Arsch in Bewegung setzen könnte. Würdet ihr zwei also bitte verschwinden und mich den Laden dichtmachen lassen?« Burke stürzte den Brandy mit zwei großen Schlucken hinunter. »Puh!«, entfuhr es dem Barkeeper. »Besser, Sie fahren nicht mehr selbst, Mike. Es würde mir gar nicht gefallen, morgen früh die Zeitung aufzuschlagen und zu erfahren, daß die rechte Hand des Staatsanwalts wegen Trunkenheit am Steuer im Kittchen gelandet ist, nachdem sie sich bei mir jenseits der Schanklizenz hat vollaufen lassen.« »Ich fahre Sie«, ließ Kissy sich von der Tür her vernehmen. Burke grinste Neil über die Schulter hinweg an. Die Stimmung draußen war trübsinnig. Abgesehen von ihrem Blazer und Burkes Jeep standen nur noch die vereinsamt wirkenden Fahrzeuge der Crew und Neils Wagen auf dem Parkplatz. Das Rascheln von welken Blättern hing in der frostigen Luft, der Kies unter ihren Füßen schien härter zu sein, als wäre jegliche darin befindliche Feuchtigkeit auf dem besten Wege, zu Eis zu werden. Als Burke ihr seine Adresse nannte, wurde ihr erst richtig klar, wie dicht er am Valley wohnte, auch wenn sie schon seit längerem gewußt hatte, daß sich seine Wohnung irgendwo auf dieser Seite der Stadt befand. Dank einem unterhalb ihres Kassettenrecorders ange-
brachten Spezialgerät konnte sie mittlerweile in ihrem Wagen Polizeifunk empfangen, den Burke automatisch einschaltete, kaum daß er sich gesetzt hatte. »Ich kann’s nicht fassen, daß Sie immer noch mit dieser alten Kiste rumfahren«, brummte er kopfschüttelnd. Auch Junior hatte bereits mehrmals versucht, den Blazer, durch ein neueres Modell zu ersetzen, aber sie hatte sich nicht dazu überreden lassen. Sie machte sich nicht die Mühe, Burke zu erklären, warum sie so an dem Wagen hing. Er lehnte den Kopf zurück und lauschte mit geschlossenen Augen den sporadischen Verkehrsgeräuschen, die auf der Polizeifrequenz zu hören waren. »Ich will Sie wirklich«, meinte er plötzlich, schlug die Augen auf und fixierte sie wieder mit diesem räuberischen Blick. »Das war kein Scherz.« Sie schaute ihn von der Seite her an. »Sie haben ziemlich viel hartes Zeug getankt heute Nacht.« »Ich will Sie schon seit langem.« Als sollte sie jetzt Punkte für beharrliches Verlangen verteilen! Sein Ton war leicht, sein Blick nach wie vor intensiv. Sie war unschlüssig, wie sie selbst dazu stand. Das kleine Haus versteckte sich am Ende einer langen, gewundenen Zufahrt, die einen der steilsten Hänge des Valleys hinaufführte. Es war ein bewaldeter, abgeschiedener Ort. Automatisch versuchte sie sich vorzustellen, wie der Blick aus einem der Fenster im ersten Stock sein mochte, die sich oberhalb der Baumwipfel befanden und auf die Pipe hinausgingen. »Kommen Sie rein. Genehmigen wir uns noch einen Schlaftrunk.« Sein Lieblingsspruch in dieser Nacht offenbar. Sie wollte keinen Schlaftrunk, aber er hatte die Haustür weit offen gelassen, also stieg sie aus, um sie zu schließen. Was sie von der Türschwelle aus im Innern erkennen konnte, wirkte streng, fast asketisch: ein gefliester Eingangsbereich, der in polierten Holzboden überging. Ihre Neugier führte sie fast wie von selbst den Flur hinunter ins Wohnzimmer. Die Möbel waren entweder Shaker-Stil oder zeitgenössisches Kunsthandwerk, der Bodenbelag bestand aus kleinen Indianerteppichen und handgewebten Brücken. Weiße Wände und geschickte Beleuchtung betonten diverse Bilder und Schwarzweißfotografien.
Sie betrachtete die Werke genauer. Bei den in leuchtenden Farben gemalten abstrakten Bildern handelte es sich um Originale, gemalt von einem wirklich talentierten Menschen, dessen Arbeiten sie zum ersten Mal sah. Die Fotografien stammten teilweise von ihr, erworben bei einer hiesigen Kunstgalerie. Die Entdeckung, daß er sie als Künstlerin respektierte, war überaus schmeichelhaft, und die Tatsache, daß er es mit keinem Wort erwähnt hatte, verstärkte das gute Gefühl noch. Keine Ahnung, was sie von einem ehemaligen Cop erwartet hatte – Handschellen und gerahmte Auszeichnungen an den Wänden wahrscheinlich. Vielleicht auch typischen Junggesellenkram: ungewaschene Socken und Unterhosen, Fitneßgeräte und schmutziges Geschirr. Seine Mutter fand garantiert, die Umgebung bedürfe dringend einer weiblichen Hand, was vermutlich die Art pseudoviktorianisches Zeug bedeutete, das in ihrem Laden stand. »Diese Bilder sind wirklich gut«, bemerkte Kissy. Er schaute von dem Schränkchen hoch, das er soeben aufgesperrt hatte, um eine Flasche Brandy herauszuholen – eine an sich bereits aufschlußreiche Begebenheit. Er verwahrte seine Alkoholvorräte hinter Schloß und Riegel, als hätte er etwa kein Vertrauen zu seiner Putzfrau. »Hmhm. Hab sie gegen ein paar Stangen Zigaretten bei dem Typen eingetauscht, der sie gemalt hat. Mußte ihn vor ungefähr sechs Jahren einbuchten, weil er seine Alte kaltgemacht hatte. Er war so betrunken, daß er sich an nichts mehr erinnern konnte, was in solchen Fällen typisch ist, wie Sie vielleicht wissen. Höchstwahrscheinlich kommt er nächstes Jahr raus.« Er reichte ihr einen Kognakschwenker und schaltete die Stereoanlage ein. Erleichtert erkannte sie ›Red Rain‹ von Peter Gabriel und nicht irgendeine von einem Männermagazin empfohlene Schnulze, um jemanden ins Bett zu kriegen. Dann ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie anscheinend voller Vorurteile steckte. Er legte eine Hand um ihre Taille und begann rhythmisch mit seiner Hüfte gegen ihre zu stoßen. »Den ganzen Abend in einem Tanzschuppen und Sie haben nicht ein einziges Mal getanzt.« »Sie haben doch gar keine Lust zum Tanzen…« »Hab ich wohl, und zwar zum Horizontalen Bop!« Er grinste. Nachdem er sie ein paar Tanzschritte durch den Raum geführt hatte, zog er sie an sich.
Seine Hände glitten über ihren Hintern und dann wieder hinauf zu ihrem Kreuz, um sie an sich zu pressen. Sie spürte seinen Penis hart werden. Sorgfältig ihre Reaktion studierend, fing er an, sich leicht zu bewegen. Sein Blick war herausfordernd. Sie schob eine Hand zwischen ihre Körper, woraufhin er einen langen, zittrigen, triumphierenden Atemzug tat und sie noch fester an sich preßte. Sie schloß die Augen, spürte seinen Daumen auf ihrem Hemd über eine Brustwarze streichen, seine Hand dann unter den Stoff gleiten, unter ihren BH schlüpfen – zu nackter Haut, unbedeckter Warze. Er schob ein Knie zwischen ihre Beine, preßte seinen Mund auf ihre Lippen. Weder roch, noch schmeckte, noch fühlte er sich an wie Junior. Auch berührte er sie nicht so, wie Junior es tat. Das machte nichts, es war in Ordnung. Seine Finger knöpften ihr Hemd auf, klappten es auseinander und schoben es über ihre Schultern, bis ihre Brüste vollständig entblößt waren. Er konnte den Blick nicht mehr von ihnen losreißen. »Allmächtiger!«, sagte er heiser. »Es gibt doch einen Gott!« Die Dachluke über dem Bett umrahmte ein rechteckiges Stück Nachthimmel, ein Stück Unendlichkeit, ein gegenwärtig milchiges, undurchsichtiges Schwarz, in dem der Mond sich hinter dichten Wolken verbarg. Von der Bettkante aus, wo er sich hingesetzt hatte, um die Schuhe abzustreifen, schaute er ihr beim Ausziehen zu. Eine kleine Lampe warf einen sanften Lichtschein auf ihren Körper. Ihre Titten erinnerten ihn an die runden, vollmondförmigen Ausbuchtungen balinesischer oder indischer Tänzerinnen, die er einmal in einem Reisemagazin gesehen hatte. Eine Göttin oder eine heilige Hure vor irgendeinem Tempel, er wußte es nicht mehr. Was ihm im Gedächtnis geblieben war, waren diese Titten, die Stein zu Fleisch werden ließen und – auf den Augenblick übertragen – Fleisch zu Stein. Er war so hart, daß er jede Sekunde zu platzen drohte. »Du solltest besser ein Gummi überziehen«, sagte sie. Worauf sie sich verlassen konnte. In seinem momentanen Zustand hätte er eine Federboa oder ein Saxophon übergestülpt, um endlich seinen Schwanz in sie reinzukriegen. Er legte eine Hand auf ihre Muschi, um die Hitze zu spüren, das Pulsieren wie von einem kleinen, schlagenden Herz. Sie zuckte zusammen, als er zwei Finger einführte, aber er ließ sich nicht beirren, spürte, wie sie sich öffnete, machte eisern weiter, bis er es nicht mehr aushielt, es einfach nicht
mehr aushielt. Er hob ihre Knie und drang tief in sie ein, machte es ihr auf die harte Tour. Er wußte, sie hatte ihren Spaß. Er erkannte es an den schweißigen Schatten unter ihren Augen, an der Art, wie sie ihm ihre Dose entgegenhob und nach mehr verlangte. Mit erweiterten Pupillen, in denen sich die Bettlampe spiegelte, starrte er auf sie hinab. Sie preßte die Beine noch fester um seinen Körper und schrie auf. Es war ein Orgasmus, wie sie ihn sich selbst anscheinend nie verschaffen konnte, unglaublich tief und intensiv. Er zog den Kopf ein und sie spürte das Pulsieren seines eigenen Höhepunkts in sich. Eine Weile blieb er nahezu reglos auf ihr liegen, dann zog er ihn heraus und rutschte ein Stückchen zur Seite, um seinen Kopf auf ihre Brüste zu betten. Sie schloß die Augen. »Ich wußte, daß es toll werden würde«, murmelte er. Wenig später bewegte sich die Matratze und er stieg aus dem Bett. Eine Tür fiel hinter ihm zu, gefolgt vom Klicken eines Lichtschalters, dem Plätschern seines Urinstrahls und dem Rauschen der Wasserspülung. Ihr war plötzlich kalt. Sie griff nach dem Laken und zog es bis zum Kinn hoch. Sie war froh, als sein warmer Körper wieder neben ihr lag. Seine unnachgiebige Härte in ihrem Leib war außerordentlich befriedigend gewesen und zudem eine enorme Erleichterung. Nachdem er den ganzen Abend getrunken hatte, hatte sie halb damit gerechnet, daß er ihn gar nicht erst hochkriegen würde. Sie hielten unter der Decke Händchen. Seine Finger strichen über ihren Ehering. »Niemand kann sich einen Reim drauf machen, was zwischen euch beiden eigentlich gespielt wird«, sagte er. Sie ließ seine Hand los. »Das ist auch nicht nötig. Es geht nur uns etwas an.« »Du bist nicht mehr mit ihm verheiratet…« Als ob sie das nicht wüßte. »Ist es das vielleicht? Ihr habt so eine Art Vereinbarung getroffen?« Sie drehte sich auf die Seite. Ihr Rücken war Hinweis genug, daß er auf verbotenes Gelände geraten war. Er ließ das Thema fallen, gab ihr statt dessen einen Kuß auf den Nacken. Sie küßte ihn auf den Mund, befreite sich aus seinen Armen und schlüpfte aus dem Bett. Er setzte sich auf und sah zu, wie sie sich anzog. »Du bleibst nicht hier?«
»Mein Babysitter rechnet zwar damit, daß es spät wird, aber nicht, daß ich die ganze Nacht wegbleibe.« Sollte er ruhig vermuten, daß es sich bei diesem Babysitter um Juniors Schwester handelte, und seine Schlüsse daraus ziehen. Er schwang die Beine von der Matratze, schlüpfte in eine Hose und leichte Slipper und folgte ihr zu ihrem Wagen, wo er sie mit verheißungsvollen Küssen bearbeitete und wieder ins Bett zu locken versuchte. Im Wegfahren warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Er stand immer noch dort und starrte ihr nach, umspült von dem Lichtschein aus dem Haus. In dieser Beleuchtung wirkte sein Lächeln sarkastisch, sahen seine Züge fast aus wie aus Stein. Sie wünschte, wenigstens so lange bei Mike Burke geblieben zu sein, um zu duschen. So gern sie es jetzt auch getan hätte, es war unmöglich, da Bernie sich unweigerlich wundern würde, weshalb sie um halb vier Uhr morgens den Drang zum Duschen verspürte. Es dauerte eine Weile, bis sie einschlafen konnte. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, was sie Junior antworten sollte, wenn er das nächste Mal wissen wollte, ob sie sich mit jemandem traf. Die Frage ließ sie nicht los. Einmal, sie kam gerade aus der Stadtbücherei, sah sie Burke auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude stehen. Eine Fernsehkamera war auf ihn gerichtet und eine dünne Frau mit einer Flut von Haaren hielt ihm ein Mikro unter die Nase. Ihr Gesicht war Kissy bekannt, aber der Name fiel ihr nicht mehr ein. Eine von diesen Möchtegerntanten der Sendergruppe, die auf ihrem Weg nach Irgendwo verschiedene Sendeanstalten Peltrys durchlaufen mußte. Vor einigen Monaten hatte es Gerede über sie und Burke gegeben, aber vielleicht war das damals auch irgendeine andere dünne junge Frau mit einer Flut von Haaren und einem Mikrofon in der Hand gewesen. Über Burke und die Frauen kursierten immer wieder diverse Gerüchte. Als sie einen Augenblick später im Blazer saß und von dem Büchereiparkplatz in die Straße einbog, kam sie direkt an ihm vorbei. Er schaute sie an, nickte und ging weiter. Er meldete sich nicht mehr bei ihr. Es war ein einmaliges Gastspiel gewesen. Mit großem Interesse nahm sie zur Kenntnis, daß sie keine besondere Traurigkeit deshalb empfand. Ein wenig Verdrossenheit vielleicht, das ungute Gefühl, es ihm zu leicht gemacht zu haben.
Aber keinerlei Verlassenheitsgefühle, keinen Schmerz. Im Gegenteil, es paßte ihr ganz gut in den Kram. Ihre eigenen Beweggründe waren ebenso unedel und von Narzißmus bestimmt gewesen wie seine, entstanden aus einem undefinierbaren Gemisch aus Neugier auf Burke und Unmut gegenüber Junior. Die wichtigste Erkenntnis, die dabei herausgesprungen war, war vermutlich die, daß Männer genau das meinten, wenn sie sagten, es hätte nichts zu bedeuten. Was natürlich Blödsinn war – der Akt an sich stellte immer etwas Bedeutsames dar – , aber ausdrücken wollten sie wohl damit, daß es aus einem Impuls heraus geschehen war und zu keiner neuen emotionalen Bindung auf Kosten einer bereits bestehenden geführt hatte. »Triffst du dich mit jemand?«, fragte Junior tatsächlich eines Tages am Telefon, nachdem er es eine ganze Weile nicht getan hatte. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, ihm alles zu erzählen, hatte dann aber eine bessere Idee. »Tust du’s, Junior?« Er lachte. »Tut mir leid, Baby, ich muß dich enttäuschen. Nein.« Nach weiterem Lachen fügte er hinzu: »Vermutlich kann ich nach meinem Tod Wunder wirken, so sehr führe ich das Leben eines Heiligen«, und dann, ernüchtert: »Manchmal fällt es mir wirklich schwer, aber ich hab festgestellt, daß es geht. Man muß einen anderen Weg finden. Zum Teil ist das Dekers Verdienst. All diese Frauen – es klingt immer wie ein Traum von einer Pornostory, aber die Wirklichkeit ist, daß er Herpes hat und ein Album voller Fotos von kleinen Mädchen, die mit 99,8 prozentiger Wahrscheinlichkeit seine Töchter sind. ›Was meinst du‹, sagt er zu mir, ›Molly ist die Hübscheste, findest du nicht? Halt, ich hab mich vertan – das ist gar nicht Molly, das ist Michele.‹ Dann die Geschichte mit Bernie und Casey. Ich benehme mich Casey gegenüber viel mehr wie ein Vater als er, und schau dir doch an, was für ein Superdaddy ich bin. Im Grunde tut Deker mir leid. Er ruft nie zu Hause an, Kissy, er hat kein Zuhause. Wenn er eine Nachricht kriegt, dann heißt sie, ruf deinen Anwalt zurück, ruf deinen Agenten zurück. Es gibt hier so viele von der Sorte. Kein Leben außer Eishockey. Manche haben eine Freundin hier, eine Ehefrau dort, noch eine Freundin wieder ganz woanders, und du weißt genau, daß keiner besonders viel davon hat. Ich wußte wirklich nicht, wie ich eine Freundin haben und gleichzeitig
mit dir Zusammensein könnte, ohne mir wie ein Schwein vorzukommen. Ich habe dich und Dynah. Ich will euch nicht verlieren.« So wie es aus ihm heraussprudelte, nahm sie an, daß er schon lange auf die Frage gewartet hatte. Es klang, als hätte er versucht, eine Freundin zu haben, mehr als einmal vielleicht. Jedenfalls behauptete er nicht das Gegenteil. Und sie hatte eben auch ihre Geheimnisse. Die Wassermassen schwollen an und nahmen wieder ab und ließen in diesem Jahr eine Leiche zurück. Es handelte sich um eine Frau, die nach einer Trennung in tiefe Depressionen gefallen war und sich in den ersten Dezembertagen in einem Dorf unweit von Peltry in die Pipe gestürzt hatte. Junior war wieder zu Hause. Sie entdeckten eine große viktorianische Villa, die zum Verkauf stand, kauften sie und begannen mit den Renovierungsarbeiten. Er bestand darauf, eine Dunkelkammer einzurichten, außerdem ließen sie auf der einen Seite eine Schwimmhalle für sie, auf der anderen eine kleine Eislaufbahn für ihn anbauen. Sie mieteten noch einmal das Sommerhaus und zogen in Erwägung, es ebenfalls zu kaufen, im nächsten Jahr vielleicht. Bevor die Arbeiten abgeschlossen waren, mußte er ins Trainingscamp. Mark, der keinen Sonderstatus an der Sowerwine mehr hatte, fuhr mit. Dunny traf sich mit einer fünfunddreißigjährigen Frau namens Ida Damrosch, einer geschiedenen Krankenschwester, die mit Esther Kurse besucht hatte. Bernie beobachtete die aufkeimende Beziehung mit ebensolchem Unbehagen wie er ihre sporadischen Verabredungen. Sie kamen zu dem Ergebnis, ein wenig Abstand voneinander könne nicht schaden, und Bernie zog mit Casey vom Haus ihres Vaters in die kleine Wohnung über der Garage der Villa um. Dynah bockte, bekam einen Wutanfall nach dem anderen, weinte im Schlaf, testete sämtliche Regeln bis an die Grenzen der Strapazierbarkeit aus und verweigerte jeglichen Trost – sogar den, Casey nach Lust und Laune herumkommandieren zu können. Auch er war ziemlich durcheinander, zum Teil wegen Dynahs Theater, zum Teil weil er mittlerweile alt genug war, um die Veränderungen in seinem Leben zu begreifen: neue Wohnung, kein Opa mehr bei Mami und ihm, Mark und Junior im Aufbruch. Kissy machte Dynah ihr Verhalten nicht zum Vorwurf; sie selbst fühlte sich auch nicht viel besser. Die plötzliche Nähe zu Bernie und
Casey milderte ihre Einsamkeit nur oberflächlich ab, da Bernies Status als Alleinerziehende ihr ihren eigenen noch deutlicher vor Augen führte. Nach erfolgreichem Abschluß der Highschool stürzte Bernie sich jetzt auf das Ziel, an der Sowerwine eine Ausbildung zur Physiotherapeutin zu absolvieren. Wie schon während der letzten schwierigen Monate auf der Highschool kam sie sich auch diesmal wegen ihrer eingeschränkten Freiheit wesentlich älter vor als ihre Klassenkameraden. Die Jungs, mit denen sie ausging, waren nicht sonderlich begeistert davon, daß sie ein Kind hatte. Kissy registrierte eine explosionsartige Vermehrung der Fältchen in ihren Augenwinkeln, dabei war sie erst sechsundzwanzig. Es lag an dem ständigen Blinzeln durch irgendwelche Sucher. Wahrscheinlich sah sie eines Tages aus wie eine verflixte Schildkröte – oder wie Yoda, mit Augen wie gekochte Eier, die zwischen pochierten Falten steckten. Junior ließ sich große Teile ihrer besten Jahre entgehen – ein Gedanke, der sie zum Kichern brachte. Die Kehrseite der Medaille aber war gar nicht lustig Sie verschenkte ihre besten Jahre an jemand, der nicht da war, um sich darüber zu freuen. Der lieber Eishockey spielte. Zum Teufel mit ihm. Alles Geld der Welt reichte nicht aus, um Zeit zurückzukaufen. Er konnte vielleicht eintausend Pucks aufhalten, aber die Zeit anhalten konnte er nicht. Eines Abends hütete Bernie die Kinder, während Kissy in der School of Fine Arts die Fotos für eine Ausstellung ihrer Projektarbeit aufhängte, eine Serie elegischer, im Platindruckverfahren hergestellter Aufnahmen diverser Örtlichkeiten in Peltry. Ein öffentlicher Basketballplatz, der sich im Lauf der Jahre zu einer stark befahrenen Kreuzung gewandelt hatte, so daß aufgrund der alten Umzäunung der Eindruck eines Käfigs entstand. Der Innenraum einer kleinen Kirche, die in einen Blumenladen umgebaut worden war, wobei die erhalten gebliebene Chorempore und der Altar, die Buntglasfenster und die Holztäfelung einen wunderbaren Hintergrund für einen Dschungel aus üppigen Grünpflanzen und exotischen Blüten abgaben. Das Innere eines engen und überfüllten Sandwich-Shops, wo ein alter Mann mit knotigen Fingern und der Präzision eines Origami-Künstlers weißes Wachspapier um Sandwichpackchen wickelte. Der Schuttberg, den man als Erstes sah, wenn man aus Norden über die Bundesstraße nach Peltry kam, eine riesige Müllhalde, ein gigantisches
Abfallmonument, das die schweren Maschinen, die es in die Form eines Hügels preßten, zwergenhaft klein erscheinen ließ, eine Fahne in Briefmarkengröße klatschte seitlich gegen den gewaltigen Koloß, als würde er demnächst versendet werden wie eine Rechnung, die noch offen war. Der Tanzsaal im ersten Stock eines Altbaus, wo die in Reih und Glied aufgestellten, in Westernkostüme gesteckten Tanzwütigen entweder die typische Leibesfülle des mittleren oder die tiefen Falten des hohen Alters zur Schau stellten. Eine andere Tanzgruppe im selben Gebäude eine Schar kleiner Madchen in Gymnastikanzügen, die liebenswert ungraziös über das abgetretene Parkett flatterten. Die schmale Ziegelsteinfront der ältesten Feuerwache Peltrys, in deren Haupttor anläßlich der Beerdigung eines jungen, an Krebs gestorbenen Feuerwehrmanns traditionsgemäß dessen Helm, Schutzschild und leerer Anzug ausgestellt waren. Ein unsymmetrisches Grabsteinfeld an einem steilen Hang oberhalb der Pipe, über das sich ein Stück Autobahnbrücke wölbte. Ein Mann mit angegrautem Haar, Wartungsmechaniker am Flughafen, der lachend auf einem Stück Pappkarton einen riesigen Wall schmutzigen Schnees von den Rollbahnen hinunterrutschte. Ein in den Korb eines kollabierten Basketballrings gezwängtes, in Turnsachen gekleidetes Mädchen im Teenageralter, deren lange Beine wie die einer Giraffe herabbaumelten, während sie in die Kamera grinste. Ein Ausschnitt der Hornpipe im Winter, die sich durch die Mischung von Wasser und Eis in eine schimmernde, perlmuttfarbene Schlange archaischer Zeiten verwandelt zu haben schien. Der während der Wintermonate trockengelegte und mit Müll übersäte Zierbrunnen in der Innenstadt, auf dessen Rand ein Pärchen in leidenschaftlicher Umarmung saß, während ein verwahrloster, streunender Hund sie von unten her mit wütendem Gebell bedachte. Die Ausstellung war eine Art Vorankündigung ihres Abschlusses als Master of Fine Arts bei der Titelverleihung im kommenden Juni. In dem angenehmen Bewußtsein einmal Zeit für sich zu haben, ging sie anschließend zu Denny’s, um sich einen koffeinfreien Kaffee zu genehmigen und in Seelenruhe die neueste Ausgabe von American Photo durchzublättern. Die Macht der Bilder überwältigte sie mit der altvertrauten Mischung aus Erregung und Abscheu. Diese Macht war etwas, das sie instinktiv begriff. Bei Fotografien handelte es sich nicht nur um eine Reflexion der Realität, der nackten, unwiderlegba-
ren Wahrheit. Irgendwo auf dem Weg durch die Linse und den versiegelten Tunnel der Kamera, beim Entwickeln, Abziehen und neuerdings durch Computermanipulation, machte die Reflexion eine Veränderung durch. Fotografien waren subtile Metaphern, die sich leicht als Truggebilde erweisen konnten und das häufig auch taten, Flickflacks der Wahrheitssplitter, die die Kamera einfing, Irrläufer wie ein fehlgeleitetes Quark. Außerdem gab es so vieles, was auch mit subtilsten Bildern nicht auszudrücken war; Tag für Tag kämpfte sie gegen die Beschränkungen und Grenzen des Mediums an. Völlig in ihre Gedanken versunken, bemerkte sie Mike Burke erst, als er sich auf den Barhocker neben ihrem schwang. Seine Züge waren von Erschöpfung gezeichnet. »Na, wie geht’s?«, fragte sie ihn. Er schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an und strich sich müde mit einer Hand über das Gesicht. »Beschissen.« Die Kellnerin tauchte auf. Ohne einen Blick in die Karte zu werfen, bestellte er zerstreut Kaffee und einen Hamburger-Teller. »Vor ein paar Tagen hätte ich fast bei dir angerufen«, sagte er, während die Kellnerin seine Tasse füllte. Dann griff er nach einer Serviette und begann sie in kleine Fetzen zu reißen. »Mir fällt schon seit längerem auf – bestimmt schon seit einem Jahr –, daß mein Dad alle möglichen Dinge vergißt. Vor ungefähr drei Wochen hat er im Supermarkt eine Packung Kekse eingesteckt und ist dabei erwischt worden. Ich wurde hinzitiert. Er war furchtbar wütend und durcheinander und hat felsenfest behauptet, die verdammten Kekse gehörten ihm, er hätte sie in den Laden mitgebracht. Jeder konnte sehen, daß er nicht klar bei Verstand war. Die Supermarktleitung ließ die Angelegenheit auf sich beruhen. Meine Mutter hat daraufhin zugegeben, daß er Probleme mit dem Gedächtnis hat und von Zeit zu Zeit Weinoder Wutanfälle kriegt. Ich habe im Krankenhaus einige Tests mit ihm machen lassen. Er hat Alzheimer. Und er weiß selbst, was das heißt.« Die Serviette hatte sich in einen Konfettihaufen verwandelt. Abwesend stocherte er mit dem Zeigefinger darin herum. Kissy sagte das Einzige, was ihr einfiel, nämlich daß es ihr leid tue. »Mir auch.« Er beugte sich vor und blies in den Konfettihaufen, bis er über die ganze Theke verteilt war. »Ich mußte ihm seine Waffe abnehmen. Er hatte sie sich in den Mund gesteckt, und als ich sie herauszog, hat sie ihm die Unterlippe aufgerissen. Er hat geheult wie
ein Schloßhund.« Er schaute sie an. »Ich weiß nicht, ob ich das Richtige getan habe.« Kissy schwieg einen Augenblick. »Wer von uns weiß das schon? Du hast getan, was jeder in dem Moment getan hätte.« Er nickte und schien plötzlich den Kaffee vor sich wahrzunehmen. Er trank ihn in einem Zug fast vollständig aus. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?« »Nur zu«, gab sie zurück. »Würdest du ihn für mich fotografieren? Jetzt, bevor es ihm noch schlechter geht? Ich bring dich in sein Haus, dann kannst du’s dort tun. Ich hätte gern eine Aufnahme von ihm vor seinen ganzen Auszeichnungen und Schnappschüssen. Sie soll nicht nur für mich sein, auch für ihn selbst. Etwas, das ihm hilft, seine Identität so lange wie möglich zu bewahren.« »Ja. Natürlich mache ich das.« »Ich zahle dir so viel du willst.« »Nicht nötig. Ich tu’s umsonst.« Er fing nicht an, deshalb mit ihr zu streiten. »Danke.« Die Kellnerin brachte seinen Hamburger-Teller. Er begann schnell und mit Heißhunger zu essen, sagte kein einziges Wort mehr. Ab und zu wischte er mit dem Fingerknöchel Feuchtigkeit aus einem Augenwinkel, anscheinend ohne sich dessen bewußt zu sein. \ 27 [ Der rotbraune Bungalow der Burkes stand zwischen andere bescheidene Behausungen gepfercht in einem der ältesten Stadtviertel Peltrys. Die Häuser lagen derart dicht nebeneinander, daß in die schmalen Streifen dazwischen so gut wie kein Sonnenlicht drang. Die kleinen Räume, vollgestopft mit allem, was sich in fast vierzig Jahren ehelichen Zusammenlebens angehäuft hatte, wirkten düster und deprimierend. Das Resultat unzureichender Beleuchtung, wie Kissy im Stillen registrierte; im ganzen Haus gab es ausschließlich Glühbirnen mit niedriger Wattzahl. Irgend jemand schien von einem ausgeprägten Sparzwang befallen zu sein. Der Kontrast zu Mike Burkes Einrichtungsstil war überwältigend. Sie kam unweigerlich zu dem Schluß, in seinem Geschmack spiegle sich eine Art Flucht vor der erstickenden Atmosphäre im Haus seiner Eltern wider. Seine
Mutter führte sie ins Wohnzimmer, wo sein Vater in einem abgenutzten Lehnstuhl vor dem Fernsehapparat saß. »Mike ist da!«, verkündete Mrs. Burke übertrieben laut. Mr. Burke löste seinen Blick von der Mattscheibe und schaute sie an. »Das sehe ich.« Er schob die Unterlippe vor. »Noch bin ich keine Gelbe Rübe!« Mit wütendem Blick erklärte er Kissy: »Das ist es nämlich, worin ich mich langsam verwandle.« »Nein, tust du nicht«, widersprach Mrs. Burke, als könne sie es ihm ausreden. »Ach, halt die Klappe«, fuhr Mr. Burke sie beleidigt an. Mrs. Burke schenkte Kissy ein verlegenes Lächeln. Die Feindseligkeit seines Vaters tapfer ignorierend, tätschelte Mike beruhigend Mrs. Burkes Arm. »Ich möchte dir eine Freundin von mir vorstellen, Dad, Kissy Mellors.« Mr. Burkes Lippen teilten sich zu einem seltsam starren, freudlosen Lächeln, was Kissy an den verschrumpelten, eingesunkenen Mund einer Mumie erinnerte, die Zähne und Zahnfleisch entblößte – nur daß Mr. Burkes Zähne eindeutig nicht mehr seine eigenen waren. Er schaute sie ohne jedes Interesse an und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm, wo eine Frau in Radlerhose einen Aerobic-Kurs gab. Mrs. Burke erkundigte sich, ob sie Kaffee kochen solle, obwohl der Duft von frischgebrühtem Kaffee bereits durch das Haus wehte. Kissy nahm das Angebot dankend an, woraufhin sie hastig in die Küche entfloh. »Dad«, sagte Mike, »zeig Kissy doch mal deine Auszeichnungen.« Mr. Burkes Blick kehrte zu ihr zurück. Grunzend stemmte er sich aus dem Lehnstuhl. Er war ein großer Mann, etwas über einsachtzig, aber sein Körper wirkte schlaff. So wie seine Kleider von ihm herabhingen, mußte er erst kürzlich zehn bis fünfzehn Pfund abgenommen haben. Hemd und Hose waren allerdings sehr sauber, man hatte ihn sorgfältig rasiert und sein schütteres, graues Haar gekämmt. Seine Füße schlurften nicht über den Boden, und Kissy stellte fest, daß er keine Pantoffeln, sondern auf Hochglanz polierte Lederschuhe trug. Die Auszeichnungen hingen in einem winzigen Raum, bei dem es sich offenkundig um sein privates Reich handelte. Auch hier gab es einen Fernseher – ein etwas älteres Modell als im Wohnzimmer – , ein Sofa sowie einen kleinen Schreibtisch mit integriertem Aktenschrank. Die Ausstattung entsprach dem typischen Stil eines Mannes
von Mitte fünfzig: buntkarierte Sofapolster, buntkarierter Teppichboden, knorrige Kiefertäfelung, ein Bücherregal aus Mahagoni, ein ausgestopfter Fisch zwischen den gerahmten Fotografien und Auszeichnungen an der Wand, ein Kalender mit Badenixen. Obwohl Thanksgiving vor der Tür stand, waren immer noch Miss Juli’s Implantate zu sehen, die jeden Moment ihr Bikinioberteil zu sprengen drohten. »Da sind sie, Mädchen«, meinte Mr. Burke zufrieden. »Gehen Sie ruhig hin.« Bei genauerer Betrachtung der Fotos erkannte Kissy in seinen Zügen wenig Ähnlichkeit mit Mike – er kam, was sein Aussehen betraf, mehr nach seiner Mutter – , wohl aber in Haltung und Temperament. Es gab auch einige Aufnahmen, die ihn mit seinem Sohn zeigten und seinen Stolz auf ihn enthüllten: Mike in seiner Examensrobe; Mike in der ersten Uniform; Mike, der eine Auszeichnung erhielt; Mike mit neuen Streifen; Mike bei einer weiteren Auszeichnung. Mr. Burke stand dicht neben ihr. Sein Atem ging etwas schwer, als seine Augen zwischen den Bilderrahmen hin und her schossen. Auch seine Marke steckte an prominenter Stelle zwischen den übrigen Trophäen seiner Karriere hinter Glas. »Ich war ein richtiger Kampfhahn«, platzte er heraus und warf Mike über die Schulter einen vorwurfsvollen Blick zu. »Jetzt bin ich eine Gelbe Rübe.« »Kissy ist Fotografin«, erklärte Mike, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Sie würde gern ein Bild von dir machen.« Sein Vater runzelte unwillig die Stirn. »Will kein Bild von mir.« »Es geht ganz schnell.« Mike schob ihm den gepolsterten Ledersitz des Schreibtischstuhls hin und sagte zu Kissy: »Ich hol deine Ausrüstung.« Kaum war er verschwunden, ließ Mr. Burke sich abrupt auf den Stuhl fallen. Mit starrem Blick begann er leicht vor und zurück zu schaukeln. Mrs. Burke brachte ein Tablett mit Kaffee und einem Teller mit Papierdeckchen, auf dem einige kunstvoll angeordnete Schokoladenkekse lagen. Als sie das Tablett auf den Schreibtisch stellen wollte, griff er danach. Hastig entriß sie es ihm. »Du machst dich schmutzig«, jammerte sie. »Du kleckerst Schokolade auf dein frisches Hemd.«
»Ich will bloß einen einzigen Keks! Einen einzigen verdammten Keks!« »Bitte sag nicht immer dieses Wort!« Mrs. Burke begann die durcheinander geratenen Kekse neu zu ordnen. Er starrte den Teller weiterhin gierig an, streckte aber nicht mehr die Hand danach aus. Mike kam zurück. Gemeinsam brachten sie ein paar Scheinwerfer an, dann stellte Kissy die Belichtungszeit ein, befestigte die Kamera auf dem Stativ und machte einige Probeaufnahmen. Mr. Burke grinste bei jedem Klicken in die Kamera, wobei er auf dieselbe affenartige Weise wie vorher seine Zähne bleckte. Mike warf Kissy einen besorgten Blick zu. »Bring ihn zum Reden«, murmelte sie leise. Mike nahm sie sofort beim Wort. »Dad, erzähl Kissy doch von damals, als du die Kerle festgenommen hast, die die Highschool auseinander nehmen wollten. Du erinnerst dich…« »Natürlich erinnere ich mich!«, unterbrach ihn sein Vater gereizt und stürzte sich in einen weitschweifigen Bericht über Ereignisse, die sich vor dreißig Jahren zugetragen hatten. Erst ganz zum Schluß erkundigte er sich ängstlich: »Stimmt das auch so?« Zu diesem Zeitpunkt hatte Kissy mehr als eine Aufnahme im Kasten, die garantiert brauchbar war. Und als Mr. Burke zu seinem Sohn aufschaute und seine bange Frage stellte, fing sie auch das ein: seine Verzweiflung, das tiefe Vertrauen, daß sein Sohn ihm die Wahrheit sagen würde, die große Zärtlichkeit, mit der Mike ihn behandelte. Anschließend machte sie eine ausladende Armbewegung, woraufhin Mike seine Mutter schnell hinter den Stuhl bugsierte und sich neben sie stellte. Tröstend legte er seinem Vater eine Hand auf die Schulter, die der alte Mann sofort dankbar ergriff. Und so schloß sich die Klappe über dem letzten feierlichen Familienfoto der Burkes, das später im Bestattungsinstitut neben seiner Bahre stehen sollte. »Kann ich jetzt endlich einen verdammten Keks haben?«, fragte Mr. Burke wehleidig. Kissy reichte ihm den Teller. Er leckte sich die Lippen, nahm gleich zwei, lehnte sich mit einem gewaltigen Seufzer zurück und begann genüßlich daran zu knabbern. Beim Essen fegte er unablässig
imaginäre Krümel von seinem Hemd, ohne den Blick vom Gesicht seiner Frau zu lösen. Als Kissy einpackte, murmelte Mrs. Burke einige kaum hörbare Dankesworte, raffte Kaffee und Kekse zusammen und verschwand. Mike baute die Scheinwerfer ab. Mr. Burke kehrte zum Fernseher ins Wohnzimmer zurück. Kissy blieb kurz auf der Türschwelle stehen, um sich von ihm zu verabschieden. Überrascht winkte er ihr zu. »Na, Mädel, wie geht’s?« Als Dynah im Bett und Bernie mit Casey in ihre Wohnung gegangen war, kam Mike vorbei, um sich die fertigen Abzüge anzusehen. Fast rituell gingen sie einen nach dem anderen durch. »Sie sind großartig«, sagte er schließlich, wischte sich über die feuchten Augen und putzte seine Nase. »Vielen Dank.« »Wie geht es ihm?« »Den Umständen entsprechend. Er ist jeden Tag ein bißchen verwirrter. Man kann nicht mehr mit ihm auf die Straße gehen. Er grapscht nach kleinen Mädchen, macht den Reißverschluß auf, um ihnen seinen Johnny zu zeigen. Gibt sich wieder, meint der Arzt. Momentan löst sich gerade der Teil seines Gehirns auf, der das Sozialverhalten steuert. Er ißt noch ganz gut, auch wenn Mom sich beschwert, daß sie mit Argusaugen über die Kekse wachen muß. Ich hab ihr gesagt, sie soll ihm die blöden Dinger doch lassen, woraufhin sie mir irgendwelchen Mist von erhöhten Blutzuckerwerten erzählt hat. Mir ist der Geduldsfaden gerissen. Ich hab sie angebrüllt, warum sie überhaupt Kekse kauft, wenn es so furchtbar ist, ihm welche abzugeben. Und das mit dem Blutzucker ist doch wirklich egal! Meine Güte, er hat nun mal eine Schwäche für Kekse, seit er nicht mehr trinkt.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal ist er auch vollkommen klar. In gewisser Weise sind diese Momente die schlimmsten. Er will dann mit mir über seine Beerdigung sprechen und wie ich mich danach um meine Mutter kümmern soll.« »Das ist hart.« »Manchmal stelle ich ihn mir als Bettlägerigen vor, der gebadet und gewickelt werden muß wie ein Säugling – und dann denke ich, die Art, wie deine Schwiegermutter gestorben ist, ist wesentlich an-
genehmer. Ich weiß wirklich zu schätzen, was du für mich getan hast, Kissy.« Er nahm ihre Hand und versuchte sie zu küssen. Beide Arme in stummer Abwehr erhoben, trat sie hastig einen Schritt zurück. Dann fing sie an, Seidenpapier zwischen die einzelnen Abzüge zu legen und sie in eine Schachtel zu legen. »Vielleicht hast du Recht«, meinte er nachdenklich. »Vielleicht ist es besser, wenn wir nur Freunde sind.« »Oder was immer.« Einen Augenblick lang hörte man nur das schwache Rascheln von Papier. »Du bist sauer auf mich«, stellte er schließlich fest. »Du hältst mich für einen Schweinehund. Entschuldige, Kissy, aber du bist ein großes Mädchen, du wußtest, was du tust, und du wußtest auch, was ich tat.« »Stimmt«, pflichtete sie ihm bei. »Und ich kann mich dabei fühlen, wie es mir paßt.« Er machte eine ruckartige Bewegung, als wolle er sie noch einmal berühren, einen neuen Versuch starten. »Ich möchte, daß wir Freunde sind.« »Klar«, sagte sie lächelnd. Er ließ es dabei bewenden. Sie sah ihn erst auf der Trauerfeier zu Ehren seines Vaters wieder, kaum einen Monat danach. Mr. Burke hatte noch einen Revolver gehabt, versteckt in den ausgehöhlten Innereien eines Buchs über Schußwaffen. »Er hatte sämtliche Bücher aus dem Regal gezerrt«, vertraute Mike ihr in der Abgeschiedenheit eines Alkovens vor dem Aufbahrungsraum neben der Leichenhalle an, in der es von Cops, Excops und seinen Kollegen vom Gericht wimmelte. »Er hat danach gesucht und muß sich plötzlich erinnert haben, wo er ihn versteckt hatte. Meine Mutter schlief noch. Sie war gewöhnt, daß er zu den unmöglichsten Zeiten aufstand und im Haus herumwanderte. Nachdem er den Revolver gefunden hatte, ging er in die Küche und aß alle Kekse auf. Auf dem Küchentisch lagen drei leere Packungen. Dann schlich er ins Bad und stieg in die Wanne. Dieses Foto, das du von ihm gemacht hast – das von ihm allein vor seinen Auszeichnungen und seiner Marke – , er hat es die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt
und immer wieder angesehen. Er legte es in der Badewanne auf seine Brust, ehe er abdrückte.« Mike wirkte gefaßt. Seine Lider flatterten leicht, während er sprach, aber sie spürte auch einen Anflug von Erleichterung. Er nahm ihre Hand und hielt sie zwischen seinen. »Alles, was ich in meinem Leben getan habe, habe ich für meinen Dad getan. Er war der Einzige, der sich dafür interessiert hat. Für wen soll ich es in Zukunft tun?« Er schaute sie mit unvermittelter Eindringlichkeit an. »Für wen tust du das alles? Deine Arbeit, meine ich?« »In erster Linie für mich selbst. Wegen der Befriedigung, die es mir gibt. Trotzdem verstehe ich, was du meinst. Ich will, daß meine Mutter stolz auf mich ist, ich will ihre Anerkennung.« Kissys Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Was mein Vater von mir hält, ist mir egal. Seine Anerkennung hatte ich nie – und werde ich niemals haben.« Mike schüttelte traurig den Kopf. »Mein Dad war so wichtig für mich. Ich wollte immer sein wie er. Ich habe sogar daran gedacht, in diesem Sommer die Nachwuchsliga zu trainieren, wie er es immer getan hat.« »Junior empfindet für seinen Vater genauso. Er hat ihm Schlittschuhe an die Füße geschnallt, als Junior vier war. Junior hat Dynah Schlittschuhe besorgt, sobald sie laufen konnte. Erst war sie ganz versessen darauf, weil es ihm so viel bedeutet hat. Jetzt ist sie überhaupt versessen darauf. Er nimmt sie mit aufs Eis und läßt sich die Pucks von ihr zuspielen, oder sie steht im Tor und er spielt sie ihr zu. Er prophezeit ihr, irgendwann wäre sie der Knüller der NHL.« Sie mußten beide lachen, bis Kissy sich plötzlich betreten den Mund zuhielt. »Hoppla!« Mike beugte sich so dicht zu ihr vor, daß seine Wange ihr Ohr berührte. »Schon gut. Dad war immer für ein Späßchen zu haben.« Sie wich zurück, um ihre Distanz zu ihm aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, daß er falsche Schlüsse zog, um zu verhindern, daß überhaupt jemand es tat, der sie zusammen sah. Er lächelte ironisch, als wußte er genau, was in ihr vorging. Dennoch nahm er erneut ihre Hand. »Ich mußte die Sauerei beseitigen, ich mußte mich um meinen Dad kümmern, nachdem ich damit fertig war – und ich habe nicht ein einziges Mal geweint. Aber die Trauer sitzt tief in mir drin und manchmal packt sie mich in einem unerwar-
teten Moment. Ich bin zu deiner Ausstellung gegangen und habe all diese Plätze sofort wiedererkannt. Es war, als hätten mir zu jedem Einzelnen davon ein paar Worte auf der Zunge gelegen – und ausgesprochen hast du sie. Ich mußte heulen.« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Er ließ ihre Hand los. »Danke, Kissy. Ich bin dir was schuldig.« »Nein, bist du nicht«, murmelte sie leise. Er kehrte in den Aufbahrungsraum zurück. Sie beobachtete, wie er sich langsam vorarbeitete, sich die Hand schütteln ließ, Beileidsbekundungen entgegennahm, die Fassung bewahrte. Seine Aufgabe in ihrem Leben schien darin zu bestehen, ihr immer wieder vor Augen zu fuhren, wie übertrieben hart sie in ihren Urteilen war, unter welcher Unzulänglichkeit ihr Mitgefühl litt. Burkes Anteil am Vermögen seines Vaters war nicht viel höher als der Preis eines Neuwagens. Seine Mutter ging weiterhin arbeiten, doch ihr Laden warf nicht genug ab. Sie war auf die Zahlungen seitens der Pensionskasse und der Versicherung angewiesen. Er hatte darauf bestanden, daß sie in dem Haus wohnen blieb, damit sie ihre Unabhängigkeit behielt, als wäre ihnen nicht beiden klar gewesen, welche Hölle es ihm bescheren würde, wenn sie zu ihm zog. Sie hatte sämtliche Glühbirnen ausgewechselt, sechzig Watt statt vierzig, und sich gemeinsam mit der gesamten Kleidung seines Dads auch des abgenutzten Lehnstuhls entledigt. Burke hatte die Auszeichnungen, die Fotografien und die Polizeimarke seines Vaters mitgenommen. Er rechnete nicht damit, von dem Rest noch viel zu sehen zu kriegen. Seine Mutter war robust und hatte noch viele Jahre vor sich; das bißchen Geld würde irgendwann verbraucht sein, und dann gab es nur noch das Haus zu erben – nichts Besonderes in einer nicht besonderen Gegend. Sie hatte, das Wort erfüllte ihn mit Abscheu, Verabredungen. Eine dreiundsechzig Jahre alte Frau, die sich mit Männern traf. Er fand es widerlich und mußte noch dazu so tun, als fände er es wirklich wundervoll, daß sie auf ihre alten Tage noch Gesellschaft suchte, obwohl es beileibe nicht Gesellschaft war, wonach ihr der Sinn stand. Sie war scharf auf Schwänze, und die fand sie auch – alte Draufgänger voller Runzeln und Falten und sie selbst mit knallrotem, nuttigen
Lippenstift, gebleichten Haaren und Titten, die bis zum Bauchnabel hingen. Einfach zum Kotzen. Er spielte mit dem Gedanken, Kissy anzurufen. Er hatte es nicht geschafft zuzugeben, daß er in Wirklichkeit mehrmals in ihrer Ausstellung gewesen war, um sich die Fotos anzuschauen, die ihn kontinuierlich verfolgten. Auf irgendeine rätselhafte Art hatte sich ihr Talent, ihre Fähigkeit, einen die Welt durch ihre Augen sehen zu lassen, mit dem starken körperlichen Verlangen vermischt, das sie schon immer bei ihm ausgelöst hatte. Er hatte wohl ein wenig den Kopf verloren. Die zahllosen Tage, die er ausschließlich in der Arbeit oder im Haus seiner Eltern gewesen war, hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Das Grauen angesichts dessen, was mit seinem Vater geschah und wie lange es noch dauern würde. Sein Verstand hatte einfach ausgesetzt. Er hatte das Buch aus dem Bücherregal gezogen, es ausgehöhlt, seine abgelegte Waffe aus den eigenen Zeiten in Uniform hineingetan und es an den ursprünglichen Platz zurückgestellt. Allerdings nicht, ohne es zuvor seinem Vater zu zeigen, sobald der alte Mann endlich einen klaren Moment gehabt hatte. Wortlos hatte er es ihm auf den Schoß gelegt und aufgeklappt. Dieser Ausdruck in den müden alten Augen: abgrundtiefe Dankbarkeit. Eine kleine Entschädigung für den Fehler, den Burke gemacht hatte, indem es ihm gelungen war, den ersten Versuch zu vereiteln. Er hatte einen eigenen Schlüssel. Seine Mutter war an sein Ein- und Ausgehen zu seltsamen Zeiten gewöhnt, spätabends nach der Arbeit etwa, wenn er vorbeischaute, um nach dem alten Herrn zu sehen, um den Heizofen zu überprüfen, um sicherzugehen, daß sein Dad nicht im Pyjama durch die Nachbarschaft lief. Sie war dort, aber irgendwann mußte auch sie schlafen, außerdem schien sie zu begreifen, daß er lieber allein nach dem Rechten sah. Es hatte ihn nicht überrascht, seinen Vater in der Küche vorzufinden, vor sich eine aufgerissene Packung Kekse, deren Inhalt er hastig in sich hineinstopfte. Im Küchenschrank hatte Burke zwei weitere Packungen gefunden und hatte ihn auch diese bis auf den letzten Krümel leeren lassen. Sein Vater hatte verstanden. Nachdem alles aufgegessen war, hatte Burke ihn erst zu dem Bücherregal, dann ins Bad geführt. Er hatte ihm das Foto gegeben, sich auf den geschlossenen Toilettendeckel neben die Wanne gesetzt, es ihn eine Weile be-
trachten lassen und schließlich gesagt: »So, Dad, es ist Zeit«, woraufhin der alte Mann bloß genickt hatte. Burke hatte ihm einen Kuß gegeben, ihm mit dem Revolver geholfen und ein Handtuch zwischen ihnen beiden hochgehalten, damit er keine Spritzer abbekam. Dann hatte er zugesehen, wie es passierte: den Ruck, der durch den Körper seines Vaters ging, das Bersten seines Gesichts. Danach war er geräuschlos hinausgeschlüpft, auf die andere Seite des Blocks gelaufen, wo sein Jeep stand, und nach Hause gefahren, um auf den Anruf zu warten. Das Handtuch hatte er mitgenommen und in seine Waschmaschine gesteckt. Er besaß es immer noch; gewaschen und getrocknet und ordentlich zusammengefaltet lag es hinten in seinem Schrank. Es war also vorbei. Sein Vater war draußen, seine Mutter nicht mehr von einer endlosen Flut Arztrechnungen bedroht. Die Albträume, die ihn quälten, die Pfunde, die er verloren hatte, die Haare, die plötzlich grau geworden waren, die Tatsache, daß er zu viel trank, auch wenn er allein war – dafür hatte wohl jeder Verständnis, immerhin war sein Vater gerade gestorben. Und niemand konnte ihm vorwerfen, daß er die Dinge schleifen ließ. Er arbeitete härter denn je, und wenn er auch nicht gerade Leben in die Bude brachte, gut – alle wußten warum. Butchs Frau Narcissa schaute vorbei, um ihm persönlich ihr Beileid auszudrücken, wofür er ihr persönlich dankte und im Verlauf dieses Prozesses einen tieferen Einblick in die Umschreibung auf einem Knochengerüst herumhüpfen gewann. Knochig war sie in der Tat, und die Implantate auf ihrer Brust standen wie Türknäufe hervor, so daß er alles in allem den Eindruck hatte, mit einer Tür zu bumsen, den Schwanz in ein Schlüsselloch zu rammen. Es fiel ihm nicht leicht, die Erektion zu halten. Sie kniff ihn schmerzhaft in die Brust und kratzte wie der Teufel auf seinem Rücken herum, und er zahlte es ihr heim. Es wurde ein wenig heftig. Sie mochte das. Er wußte, es war nicht sehr klug, die Ehefrau des Chefs zu vögeln – auch wenn sie höllisch vorsichtig waren – , aber wenn er sich ihr verweigerte, schuf er sich vielleicht einen mächtigen Feind. Er war nicht einmal sonderlich interessiert gewesen. Die Art, wie seine Mutter sich aufdonnerte und die Gegend unsicher machte, hatte Sex in ein anderes Licht gerückt, ließ ihn lächerlich, grotesk, ja widerlich erscheinen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, Sklave seines Schwanzes zu sein, wie ihm des-
sen Anfälligkeit für die Machenschaften einer geilen Braut wie Narcissa wieder einmal unter Beweis gestellt hatte. Er hatte vor, den Alkoholkonsum zu drosseln – der seine Arbeit ohnehin nie beeinflußt hatte und lediglich eine Art Selbstmedikation war, um einschlafen zu können, um mit der Trauer fertig zu werden. Er hatte vor, Sport zu treiben und regelmäßiger zu essen, etwas besser auf sich Acht zu geben, dann würde er schon wieder auf die Beine kommen. Trauer war etwas ganz Natürliches, wie man ihm überall versicherte; man mußte sie nur ihren Lauf nehmen lassen. Zweimal im Monat fuhr Kissy zu Ruth. Die Fotos, die dabei entstanden, faszinierten sie. Unverständlicherweise, vielleicht weil sie auf dem Gebiet keinerlei Erfahrung hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, daß Ruth altern würde. Aber sie tat es. Sie war nicht mehr zwanzig, sondern fünfundzwanzig, und so sah sie auch aus. Wie eine Fünfundzwanzigjährige, die mit sechzehn geheiratet hatte, mit neunzehn und drei kleinen Kindern am Bein geschieden worden war und fortan ein ärmliches Dasein fristen, von der Hand in den Mund leben mußte – wahrscheinlich eher von der Faust in den Mund, im wörtlichen Sinn, und dabei vergessen hatte, für Zahnersatz zu sorgen. An Ruths Mund war die Alterung am deutlichsten zu erkennen. Sie hatte bereits bei dem Unfall einige Zähne verloren, denen aufgrund des Traumas bald weitere gefolgt waren. Obwohl man die restlichen sorgfältig pflegte, schien es wenig sinnvoll, die ausgefallenen durch künstliche zu ersetzen, so daß ihr Zahnfleisch geschrumpft war und die verbliebenen Zähne krumm und schief daraus hervorstanden. Andererseits ließ auch Ruths Körper im Rahmen eines ganz normalen Vorgangs das Jugendstadium allmählich hinter sich. Wie ihre Klassenkameradinnen war auch sie kein knackiges junges Mädchen mehr, soeben der Teenagerzeit entwachsen, sondern eine erwachsene Frau, obendrein in schlechter gesundheitlicher Verfassung mit aller dadurch bedingten Beschleunigung, was das Altern betraf. Der Mangel an Lebendigkeit, die Schlaffheit des Gewebes und die Steifheit der Gelenke kamen zweifellos verstärkend hinzu. Sie alterte auf dieselbe Weise, wie es bei Geisteskranken mit Katatonie geschah. Der Wandel, den sie durchmachte, war für ihre Mutter zunehmend schwer zu verkraften. Mrs. Prashker hatte einige Weinkrämpfe sowie
mehrere Wutanfälle erlitten und war nicht mehr in der Lage gewesen, sich an der Pflege ihrer Tochter zu beteiligen. Auf Anraten einer Therapeutin versuchte sie, sich auf andere Aspekte ihres Lebens zu konzentrieren, und hatte für den kommenden Sommer eine lange Campingtour mit ihrem Sohn und seiner Familie geplant. Sylvia Cronin hatte Dynah in das Teeparty-Ritual eingeführt, dessen Zelebrierung sie sich von diesem Augenblick an in regelmäßigen Abständen mit größtem Vergnügen hingaben. Das Ereignis fand entweder in Sylvias antik möbliertem Speisezimmer statt, wo Dynah mit einigen Kissen unter dem Po auf einem der viktorianischen Stühle thronte, oder bei Dynah zu Hause im Wohnzimmer. Es entstanden witzige Fotos, wenn Dynah in ihrem Eishockey-Outfit – ihrer augenblicklichen Alltagskluft, auf deren Sweater Juniors Name und Nummer stand – Tee in den fingerhutgroßen Porzellantassen servierte, die Sylvia ihr geschenkt hatte. Manchmal trug sie sogar ihre Schlittschuhe, mit Schonern allerdings. Hin und wieder durfte Casey an den Feierlichkeiten teilnehmen. Aufgeregt schoß er von einem zum andern, ohne Dynah aus den Augen zu lassen, damit ihm bloß nicht das nächste Stichwort entging. Er war ihr Sklave, und wie jeder Sklavenhalter fühlte Dynah sich durch die schiere Macht, die sie über ihn besaß, dazu getrieben, ihn ständig zu erniedrigen. Sie steckte ihm Schleifen ins Haar und bestand darauf, daß er eine Schürze trug, was grundlegende Voraussetzung für seine Teilnahme an der Teeparty sei. Sie hatte sich selbst die Haare gestutzt, bis sie genauso lang waren wie Kissys und Juniors, doch abgesehen von einem knallroten Lippenstiftbalken benutzte sie Casey als Leinwand. Abstecher zu Bernies oder Kissys Kosmetikkoffern endeten damit, daß er, nicht sie, mit einer Clownsmaske aus Wimperntusche, Rouge und Lippenstift erschien, und es war Casey, der in heimlichen, von Kichern begleiteten Badezimmersitzungen die Haare gebleicht bekam. Er war auch derjenige, der in Spitzenhöschen, Seidentop und den grellen Modeschmuckohrringen, die Dynah bei einem Einkaufsbummel mit Junior für Kissy erstanden hatte, zur Teeparty die Treppe hinuntergeführt wurde. Für Kissy und Junior mochte Mrs. Cronin Sylvia sein, für Dynah war sie Nana geworden. Kissy stellte fasziniert fest, daß sie durch Verwirrtheit, mangelnde Übersicht und blühende Fantasie zu dem
Schluß gekommen war, Mrs. Cronin sei Kissys Großmutter und Ruth Juniors Mutter. Wenn sie nicht gerade arbeitete, sich um Dynah kümmerte, Mutterersatz für Bernie und Casey spielte oder Tochterersatz für Dunny, das Haus vor dem Einstürzen, Abbrennen, Zufrieren oder Verfluchtwerden bewahrte oder Juniors Finanzen regelte, womit er sie während seiner Abwesenheit häufig beauftragte, hatte Kissy häufig das Gefühl, den Kopf kaum über Wasser halten zu können. Sie war dankbar für den familiären Rückhalt, den Dunny, Bernie und Casey ihr gaben, wie auch für Mrs. Cronin in ihrer Funktion als ehrenamtliche Großmutter. Ergab sich die Gelegenheit, Dynah einzupacken und zu Junior zu fahren, ergriff sie sie sofort beim Schopf. Auf diese Weise kam sie in Galerien und Museen und konnte neue Eindrücke gewinnen. Sie nahm sich einen Agenten, der zwar nur für ihren Bundesstaat zuständig war, aber ausgezeichnete Beziehungen zu Galerien in New York und Boston hatte. Ihr hektisches Leben bedeutete nicht, daß sie sich nicht manchmal einsam fühlte. An den zahllosen Abenden, an denen Junior noch einmal anrief, wenn Dynah bereits im Bett lag, war es am schlimmsten. Manchmal versuchte sie sich mit Arbeit abzulenken, doch immer nur arbeiten war selbst für sie unmöglich. Zudem erwies es sich als schlecht für die Ergebnisse. Auch Juniors Spielpausen oder ihre Besuche bei ihm entpuppten sich nicht zwangsläufig als das reine Paradies. Sie brauchten erst eine gewisse Zeit, um wieder warm miteinander zu werden. Die Erwartungen waren unweigerlich viel zu hoch, um erfüllt werden zu können, besonders für ein kleines Mädchen und oft auch für einen erwachsenen Mann, der sich in seiner Vorstellung unablässig ausgemalt hatte, wie perfekt sein Band war – was nicht zutraf – und wie großartig der Sex mit Kissy sein würde, die aber auch gelegentlich erschöpft war, ihre Tage hatte oder einfach von oben genanntem unperfektem Kind abgelenkt wurde. Ihre eigenen Erwartungen konnte sie dem äußeren Rahmen anpassen. Dem Abendessen am Sonntag mit Dunny, Ida, Bernie und Casey, dem Besuch bei Ruth, der Ausstellung ihrer Fotos von Mike Burkes Vater – es gab hinreichend Erinnerungen daran, wohin sündiger Undank führen konnte.
Der Sommer zog ein. Die Baumkronen wurden dichter, die Blätter trieben aus, die phallusförmigen Knospen der Roßkastanien explodierten in weißen Raketen, das eingewachsene, dornige Immergrün erstrahlte in frischem, leuchtendem Grün. Dann Juniors Rückkehr, einige Wochen im Ferienhaus mit Sand in den Laken und einem kleinen Mädchen mit klappernden Zähnen, weil es zu lange im Wasser geblieben war. Mark, der nach Portland verkauft worden war, machte sich dort recht gut und war in der vergangenen Saison sogar für sein Debüt in der oberen Spielklasse einige Wochen an die Caps ausgeliehen worden. Man rechnete damit, daß sein großer Sprung nicht mehr lang auf sich warten ließe. Als Kapitalanlage hatte er in Peltry ein Haus gekauft und Bernie gebeten, es für ihn in Ordnung zu halten. Im August zog sie um und ließ eine untröstliche Dynah zurück, der Casey schrecklich fehlte. Auch Casey vermißte sie sehr. Als er zum ersten Mal zu Besuch kam und sie in ihre vertraute Taktik der Hegemonie zurückfiel, versetzte er ihr einen Hieb auf die Nase. Anschließend bekam er einen hysterischen Anfall und bettelte verzweifelt darum, bei ihr bleiben und in ihrem Zimmer übernachten zu dürfen. Er hasse seine Mommy, Liebe nur Dynah, Kissy, Dynahs Daddy und dieses Haus, nicht das andere, in dem es nicht einmal einen Swimmingpool gäbe. Ohne Bernie und Casey war Kissy noch etwas einsamer, als Junior wieder fuhr. Bei schlechtem Wetter lud sie die beiden oft ein, die Nacht bei ihr zu verbringen, ebenso sehr um ihrer Gesellschaft wie um der tatsächlichen Notwendigkeit willen, die unzähligen Fensterläden dichtzumachen. Da Casey sich im Supermarkt zurzeit unmöglich aufführte – er wollte alles haben, was ihm ins Auge stach –, erledigte Kissy die Einkäufe für Bernie und sich oft allein, während Bernie auf die Kinder aufpaßte. Eines Abends um halb zehn, ein Schneesturm stand bevor, ließ sie die Kinder wieder bei Bernie und fuhr schnell zum Supermarkt, um die Vorräte aufzufüllen. Die Luft dort war fast so eisig wie draußen, nur nicht so frisch. Kissy blieb stehen, um die Birnen zu bewundern. Beim Anblick der prallen, rosigen Früchte tauchten vor ihrem geistigen Auge unweigerlich dünn geschnittene Birnenscheiben in einem Birnensoufflé auf. Es war Ewigkeiten her, daß sie eins gemacht hatte. Sie füllte gerade Birnen in einen Plastikbeutel, als Mike Burke seinen Einkaufswagen in die Obst- und Gemüse-Abteilung schob. Er
hatte graue Strähnen im Haar, die früher nicht da gewesen waren. Wie grau ihre Haare inzwischen sein mochten, konnte sie nicht beurteilen, da sie sie nach wie vor bleichte. Junior hatte sie einmal gefragt, wann die Schamhaare grau werden würden. »Woher soll ich das wissen?«, hatte sie geantwortet. »Du bist mein Alter und du hast noch keine.« »Sieh besser mal nach«, hatte er erwidert. »Der Alte spürt ganz deutlich, wie gerade eins wächst. Und was für ein Mordsexemplar!« Bei der Erinnerung mußte sie grinsen. Als Mike Burke seinen Wagen neben ihren lenkte wie ein Cop, der von seinem Streifenwagen aus mit einem anderen Cop im Streifenwagen ein Schwätzchen halten will, kämpfte sie gegen ein albernes Kichern an. »Na, alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich und brach in schallendes Gelächter aus, unfähig, sich länger zu beherrschen. »Eigentlich schon.« Seine Wangen wurden ein bißchen rot, offenbar weil er glaubte, sie mache sich über ihn lustig. Er beobachtete, wie sie die Plastiktüte zuband. »Aber mir fehlt das Freunde sein.« Er tat ihr leid. »Magst du Birnensoufflé?« »So wie Apfelsoufflé?« »Ja. Nur mit Birnen.« »Noch nie probiert.« »Komm zum Abendessen vorbei – nicht morgen, da sind wir vermutlich eingeschneit, aber übermorgen –, und du hast die Gelegenheit dazu.« Im selben Moment, als sie die Einladung aussprach, faßte sie den Entschluß, eine Art Dinnerparty zu geben. Damit es nicht wie ein Têtê-à-têtê aussah. »In Ordnung. Was soll ich mitbringen?« »Falls du ein Fläschchen meinst, sollten wir uns erst auf Fleisch oder Fisch einigen.« Sie entschieden sich für Lammkoteletts. »Dynah liebt sie.« Kissy lachte. »Sie bestreicht sie mit Minzgelee.« »Lecker!«, sagte Burke. »Du bist doch nicht scharf auf den Kerl?«, zog Bernie sie auf. »Du liebe Zeit, Bernie, wo soll ich die Energie dafür hernehmen?« Kissy legte die Birnen in einen Korb. »Sind die nicht schön?« »Sehen köstlich aus«, bestätigte Bernie. »Aber lenk nicht vom Thema ab. Man braucht nicht viel Energie, um sich hinzulegen und…«
»Verschafft mir das etwa einen Einblick in dein Sexualleben? Wenn ich’s mir recht überlege, möchte ich lieber keine Antwort darauf haben.« Bernie gluckste. Sie nahm eine Birne in die Hand und schwenkte sie am Stengel hin und her. »Welches Sexualleben?« Kissy nahm ihr die Birne ab und legte sie in den Korb zurück. »Du kannst leider keine haben. Ich mache Birnensoufflé.« Sie war ziemlich sicher, nicht scharf auf den Kerl zu sein, jedenfalls nicht mehr. Das einmalige Betterlebnis mit Mike Burke, geschehen aus niederen Motiven heraus, die ihr zusetzten wie ein Voodoo-Nadelkissen, hatte sie immunisiert. Ihn zum Abendessen einzuladen mochte die Erinnerung daran aufleben lassen, mußte aber nicht zwangsläufig zur Wiederholung führen. Sie hatten mittlerweile beide noch ein bißchen mehr mit ihrem eigenen Leben zu tun. Er trainierte wie angekündigt die Nachwuchsliga und wirkte nicht mehr ganz so sehr wie der hartgesottene junge Tyrann, eher etwas ruhiger und bodenständiger – doch vielleicht lag das auch nur an dem grauen Schimmer in seinem Haar. Trotzdem: Beim ersten Anzeichen eines Annäherungsversuchs würde sie ihn mit einem Tritt zur Tür hinaus befördern. Sie saß am Kopfende des Tisches, ein Knie an Burkes Knie, das andere an Lathams. Burke hatte einen von Lathams Kursen absolviert, vor einem Jahrzehnt ungefähr, und war einer der Besten gewesen. Jetzt unterhielten sie sich wie Ebenbürtige. Latham war Bullen wie Burke wohlgesonnen und dankbar, weil sie ihn in Ruhe ließen, solange er diskret blieb und die Kükenjagd auf seinen erlesenen Studentenzirkel beschränkte, der auch das Risiko auf sich nahm, das Dope für ihn zu kaufen. Burke interessierte sich mehr für Bernie Clootie. Sie sah wie eine richtige kleine Wildkatze aus. Nur etwas jung für ihn, bedauerlicherweise. Und er? Er saß am Tisch mit einem schwulen Kunstprofessor und diesem bunt gemischten Haufen angeheirateter Verwandtschaft von Kissy. Angeheirateter Exverwandtschaft eigentlich, denn schließlich war sie von Clootie geschieden, verflixt noch mal, und was verband sie überhaupt mit Dunny Clooties neuer Flamme? Alles was er wollte, war ein bißchen Zeit mit Kissy allein.
Es war die frustrierendste Situation, die er je mit einer Frau erlebt hatte. Sie einmal gehabt zu haben und dann nicht mehr rangelassen zu werden, als hätte der eine Versuch bei ihr gereicht, sich für ein ›Nie wieder!‹ zu entscheiden – nicht gerade schmeichelhaft für ihn. Aber sie hatte deutlich gemacht, daß der Preis dafür, sie weiterhin sehen zu dürfen, darin bestand, so zu tun, als wäre er niemals mit ihr im Bett gewesen. Mehr als Freunde konnten sie nicht sein – sie sagte es ihm zwar nicht direkt ins Gesicht, aber ihre Körpersprache verriet es ihm ebenso wie die Tatsache, daß sie ihn zu sich eingeladen hatte. In ihr Haus, in ihr Familienleben, so beiläufig, als stelle er keinerlei Bedrohung dar. Ein Freund der Familie. Vielleicht hatte sie Mitleid mit ihm. Im Grunde hatte er keine Zeit für sie übrig, dennoch schlug er welche heraus, dennoch sorgte er dafür, daß sie miteinander in Kontakt blieben. Hastig eingestreute Anrufe, ›Na, wie geht’s?‹, ab und zu auch ein ›Hast du Zeit für einen Kaffee?‹ oder ›Wie wär’s mit einem schnellen Lunch?‹. Kam er zufällig an Karten für eine Wohltätigkeitsveranstaltung heran, für irgendein Spiel oder für eine Ausstellung, rief er zuallererst sie an. Sie ließ sich und Dynah von ihm zu den Ice Capades mitnehmen und er trieb sogar eine zusätzliche Eintrittskarte für Bernies Jungen auf. Zu seinem Pech hatte Bernie selbst eine Prüfung. Der kleine Kerl klebte an ihm wie ein Mühlstein mit Kulleraugen, der arme daddyausgehungerte Bastard. Bei Dynah hatte er offenbar auch einen Treffer gelandet, da er aus heiterem Himmel zu einer Teeparty eingeladen wurde. Zum Glück war er an dem Tag verhindert, aber er schickte ihr eine Rosenknospe, was laut Kissy höllischen Eindruck bei ihr hinterließ. Der Rest seiner Einladungen beschränkte sich auf zaghaftes Bitten. Um sie ein bißchen eifersüchtig zu machen, ging er mit einer anderen Frau aus und sorgte dafür, daß Kissy es erfuhr. Es half tatsächlich, einer anderen Frau die Kleider vom Leib zu reißen, egal welcher, und es ihr zu geben – denn in dem Moment wollte er nur das, was er hatte, nicht das, was ihn nicht haben wollte. Dann war die Saison zu Ende – das Einzige, was im Haushalt der Clooties wirklich zählte – und Junior wieder in der Stadt. Burke begann, ernsthaft Golf zu spielen. Er landete einen weiteren Rundumschlag bei Narcissa. Wie straff gespanntes Leder, dachte er bei sich. Im Country Club fiel ihm eine Rettungsschwimmerin auf, ein süßes
achtzehnjähriges Ding. Er flirtete eine Weile mit ihr und legte sie Ende August nach einem Hochzeitsempfang, bei dem sie als Kellnerin gearbeitet hatte, in der Garderobe flach. Als der Sommer vorbei war, beschloß er, Kissy nicht mehr anzurufen, lief ihr aber zwangsläufig über den Weg. Im Denny’s. Sie hatte Dynah dabei, machte einen Ausflug mit dem Kind in die große Welt. Er staunte, wie schnell sie wuchs. ›Wie Unkraut‹ war wirklich keine leere Phrase. Es machte ihm Angst. Die Zeit flog ihm davon. Eigentlich sollte er inzwischen verheiratet sein, eine Familie haben. Sich einzureden, vermutlich längst wieder geschieden zu sein, wie die meisten anderen Polizisten und Anwälte in seinem Bekanntenkreis, war auch kein wirklicher Trost. Süße Achtzehnjährige würden in Zukunft nicht mehr leicht zu finden sein und auf weitere Narcissas war er beileibe nicht scharf. Zudem legte die Wählerschaft, was Junggesellen über vierzig betraf, ein gesundes Mißtrauen an den Tag, während seine Zeit immer knapper wurde, noch eine Frau zu finden. Er hörte auf, die Sportseiten zu lesen und Sportsendungen im Fernsehen anzuschauen, um bloß nicht dem Namen oder dem Gesicht von Junior-Scheiß-Clootie zu begegnen. Der erfolgreich war und reich, der ein wunderschönes kleines Mädchen hatte, dem man beim Wachsen zusehen konnte, sowie eine Exfrau namens Kissy, die jederzeit zur Verfügung stand. Manchmal starrte Burke nachts zum Mond empor und malte sich aus, Clooties Telefonnummer ausfindig zu machen, ihn anzurufen und in den Hörer zu zischen: »Ich hab sie gebumst. Ich hab sie gebumst, deine Frau, und sie hat’s genossen!« Nur leider nicht genug, um ihn ein zweites Mal ranzulassen. Einmal war bei weitem zu wenig. Es paßte ihm nicht, daß sie die Entscheidung getroffen hatte, es bei dem einen Mal zu belassen. Der Gedanke machte ihn krank. \ 28 [ »Heirate mich!«, stieß Burke hervor. Sie waren sich in der School of Fine Arts. Diesmal handelte es sich nicht um eine Ausstellung von ihr, sondern um eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten des Krankenhauses, mit Krawattenzwang und Hunderten potentiellen Spendern. Normalerweise ging Kissy derartigen Ereignissen aus dem Weg, doch es war die School of Fine
Arts, und mit der stand sie ebenso sehr in Verbindung wie er mit dem Gerichtshof. Sie war nicht als seine Begleiterin gekommen – beide waren allein –, aber er hatte ihr den ganzen Abend über nachgestellt und sie schließlich in einer stillen Ecke festgenagelt. Zu dem Zeitpunkt allerdings mit einigen Drinks im Blut. Sie lachte. Nicht dreist, eher wehmütig. Eine Zeit lang taten sie so, als hätte er sie nicht gefragt. Sie machten weiter wie bisher: Na, wie geht’s? Lust auf eine kleine Pause? Zeit für einen Hamburger? Etwa sechs Wochen nach der Wohltätigkeitsveranstaltung brachte sie ihm ein Foto des Gerichtssaals, das sie auf seinen Wunsch als Geburtstagsgeschenk für Butch gemacht hatte, ins Büro. Sie wickelte es aus der Luftpolsterfolie, um es ihm zu zeigen. »In einem antiken Rahmen sähe es bestimmt hübsch aus«, meinte sie. Er nickte zustimmend, dann war es zum zweiten Mal draußen. »Heirate mich!« Sie fuhr zusammen. Er machte einen Schritt auf sie zu, packte sie ungeschickt und preßte seinen Mund auf ihren. Zum einen war er im Vorteil, weil er sie überrascht hatte, zum anderen mochte sie durch die Umgebung ein wenig eingeschüchtert sein, jedenfalls wehrte sie sich nur einen kurzen Moment und ließ den Kuß dann zu. Erwiderte ihn sogar. In dem Augenblick öffnete Butch die Tür. »Oh, Verzeihung«, meinte er nur und zog sie leise wieder zu. Kissy machte sich los. Sie war rot vom Haaransatz bis zu dem Spalt zwischen ihren Brüsten, der unter den geöffneten Knöpfen ihrer Bluse zum Vorschein kam. »Ich meine es ernst, Kissy«, sagte Burke. »Ich möchte, daß du meine Frau wirst.« Sie sah ihn an, als hätte er ihr vorgeschlagen, ein 7-Eleven zu überfallen, und marschierte hinaus. Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und trat gegen die unterste Schublade. »Mist!« Seine Sekretärin spähte verlegen um die Türkante. »Tut mir leid, ich war kurz auf der Toilette. Der Meister will Sie sehen.« Auf Burkes Klopfen hin blickte Butch von dem Papierkram auf seinem Schreibtisch auf und deutete mit dem Kinn auf jenen Stuhl,
auf den er seine Gesprächspartner gewöhnlich verbannte, ehe er ihnen den Kopf abriß und ihn ihnen auf dem Silbertablett servierte. »Halten Sie Ihr Privatleben von diesen Räumen fern. Der Steuerzahler von heute wird fuchsteufelswild, wenn ein Diener des Volkes sich auf seine Kosten mit Weibern amüsiert.« »Jawohl, Sir.« Demütig wie die Hölle angesichts einer Scheinheiligkeit, die zum Himmel schrie. Butch hatte praktisch erfunden, sich auf Kosten des Steuerzahlers flachlegen zu lassen. Sein Boss lehnte sich zurück und musterte ihn mit nachdenklichem Blick. »Sie haben also was mit Clooties Frau…« »Exfrau.« »Passen Sie auf, daß Ihre Weste sauber bleibt, Mike.« Butch reichte ihm eine Akte. »Und hier räumen Sie auch gleich auf.« »Jawohl, Sir.« Klopf dir auf die Schulter, Junge. Gott, war er gut! Butch hatte nicht den leisesten Schimmer. Sag mal, Butch, alter Knabe, mag’s dein Klappergestell von Frau von dir von hinten genauso gern wie von mir? Der Tormann nahm eine geduckte Haltung an und wartete. Das Tor war eine Höhle in seinem Rücken. Er wartete auf das Spiel, auf den Puck, auf das schwarze Loch, das jede Eishockeypartie krönte. Eine Zeit lang verharrte er in diesem kristallklaren Zustand, allein auf der strahlend weißen Ebene, während sich das Spiel, der Puck und die Spieler außerhalb seiner Reichweite bewegten. Bis die Meute plötzlich umkehrte und die Linien auf ihn zuzurasen begannen. Er wartete immer noch, schwindlig vor Nervosität und Anspannung, machte sich bereit, zu implodieren oder zu explodieren, auf den Boden zu fallen oder Kopf zu stehen – je nachdem, welche unmögliche Reaktion der Puck von ihm verlangte. Ein rechter Flügelstürmer scherte aus, schoß vor und durchbrach die Verteidigung. Wie blind fing er den Puck von seinem linken Flügel ab und wurde noch schneller bei seinem Sturm auf das Tor. Plötzlich war ein Verteidiger zur Stelle, um den Angriff zu stoppen. Der Tormann beugte sich vor. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sein Stock Kontakt mit dem Puck, hielt ihn auf, während der Stürmer versuchte, ihn an ihm vorbeizuschlagen. Dann krachte der Stürmer in ihn hinein. Den Bruchteil einer Sekunde später prallte der Verteidiger von hinten gegen den Stürmer und rammte ihm ein Knie in den Rücken. Im darauf folgenden Ge-
rangel der drei Spieler fiel der Stürmer nach hinten und riß den linken Schlittschuh hoch. Während der Verteidiger und der Stürmer sich wieder hoch rappelten, zögerte der Tormann noch. Er hatte einen leichten Ruck an seinem Hals gespürt, als hätte jemand von hinten an seinem Kragen gezerrt. Außerdem war da ein neuer Abstand zum Eis, zu dem langen weißen Feld, begleitet von nie da gewesenen, unbeschreiblichen Empfindungen. Er ließ den Stock fallen und sank langsam, wie zum Gebet, auf die Knie. Tatsächlich, er hob die Hände, streifte den Handschuh ab – faltete sie aber doch nicht zusammen. Sie griffen nach seiner Maske und lösten sie von seinem Kopf, während er nach vorne kippte, nach wie vor langsam, nach wie vor vorsichtig, und in den dunklen Strom fiel, der sich aus seiner Kehle ergoß. Sieben Minuten, überlegte er absurderweise, sieben Minuten bis zum irreparablen Gehirnschaden. Am liebsten wollte er den Kopf heben, um auf die Uhr zu sehen, um zu beobachten, wie sich die Ziffern allmählich auf die Null zu bewegten, wie die sieben Minuten dieser neuen Periode verstrichen, dieses unbekannten Spiels, in das er plötzlich geraten war. Etwas war passiert, etwas war schiefgelaufen. Eine Katastrophe. Kissy hatte das Gefühl, von neuem mit anzusehen, wie der feurige Atem des Drachen den Kondensstreifen spaltete, als die Challenger vom Himmel stürzte und die Stimme aus der Kommandozentrale mit grauenhaft ruhiger Stimme verkündete: »Es hat eine schwerwiegende technische Störung gegeben.« O ja, verdammt noch mal, ja! Und ob es eine schwerwiegende technische Störung gegeben hatte. Junior setzte die Schutzmaske ab, und das dunkle Blut aus seiner verletzten, von einer schwerwiegenden technischen Störung befallenen Hauptschlagader, aufgerissen von der linken Kufe des Flügelstürmers, spritzte auf das schneeweiße Eis. Sie wußte sofort, daß sie diese Szene immer und immer wieder vor sich sehen würde. Sie wartete darauf, daß ihr die Stimme aus der Kommandozentrale bestätigte, was sie sah: einen schwerwiegend gestörten Junior, der langsam in seinem eigenen Blut zusammenklappte. Sie hatte einen Schock. Ihr Herzmuskel war derart verkrampft, daß er wehtat. Ohne es zu bemerken, war sie von der Sofakante gerutscht und kniete nun auf dem Boden, beide Hände gegen die eigene Kehle gepreßt.
Dynah hatte den ersten Teil des Spiels angeschaut, bevor sie mit dem üblichen Versprechen ins Bett gebracht worden war, den Rest am nächsten Tag auf Video sehen zu dürfen. Es war purer Zufall, daß Dynah nicht mehr neben ihr saß, Juniors technische Störung nicht mitbekam. Aber irgendwann würde es geschehen. Irgendwann in den kommenden Jahren würde sie per Video oder gleich auf dem Bildschirm Zeugin sein, wie ihr Daddy mitten auf dem Eis verblutete. Es ging schnell, es dauerte nur wenige Minuten, die Bewußtlosigkeit setzte sogar noch schneller ein. Junior litt unter einer schwerwiegenden Störung und sie konnte nichts dagegen tun. Noch ein paar Minuten mehr, dann war es mit ihm aus. Wieder einmal typisch Junior, ausgefallener und bizarrer als der Durchschnitt, und wieder einmal verließ er sie. Wie eine Pilgerin auf den Stufen der Kathedrale von Sainte Anne de Beaupré rutschte sie auf Knien durch den Raum, warf sich gegen das Schränkchen, auf dem der Fernseher stand, und schaltete ihn aus. Der Bildschirm wurde schwarz. Ein Augenblick und es war vorbei, Junior war verschwunden. Sie hatte die Kommandozentrale zum Schweigen gebracht. Mike Burke mochte einen Juristentitel an der Sowerwine erlangt haben und oben im Gerichtsgebäude in einem Büro direkt neben dem des Staatsanwalts sitzen, doch wenn ihn seine Arbeit zum Polizeirevier führte, hatte er jedes Mal den Eindruck, den Bullenstall nie verlassen zu haben. Er war fast genauso oft hier wie damals, als er noch Uniform trug. Was fehlte, war die enge Beziehung zu seinen Kollegen. Wenn man den Streifendienst hinter sich ließ, wurde einem vielleicht der Respekt entgegengebracht, den sie Veteranen gewöhnlich zukommen ließen, aber man hatte trotzdem etwas verloren. Man kämpfte nicht mehr an der Front, nicht mehr auf dieselbe Weise wie sie. Man arbeitete nicht mehr an der Festigung der Beziehungen, nicht mehr auf dieselbe Weise wie sie. Er war, wo er sein wollte, er bewegte sich in genau die Richtung, in die er wollte, aber besonders wenn er mit seinem ehemaligen Partner Pearce zusammen war, versuchte er immer wieder, ihn zu seinen eigenen Ansichten zu bekehren, ihn dazu zu bringen, seinen Arsch von der Straße zu schaffen, ehe es hinter dem Lenkrad des Streifenwagens allzu bequem wurde. Pearce hörte ihm jedes Mal aufmerk-
sam zu und nickte eifrig, wenn Burke die wundervollen Dinge aufzählte, die sie gemeinsam am Gerichtshof vollbringen könnten, wie etwa im Namen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des American Way über Hochhäuser springen und die Menschheit mit ihren Körpern vor den pfeifenden Kugeln der Bösewichte beschützen. Hätte er Pearce nicht schon den Worten jedes x-beliebigen nach Urin stinkenden Pennbruders, den sie aus Dunkin’ Donuts rausgeschleppt und zu dem Obdachlosenasyl gebracht hatten, wo sie Betrunkene gemeinhin ablieferten, mit derselben Intensität lauschen sehen, wäre er vielleicht sogar auf den Gedanken gekommen, seine Beschwörungsformeln drängen zu ihm durch. Mitten in einem dieser fruchtlosen Missionarsmonologe in der Einsatzzentrale – Pearce lümmelte sich bequem auf seinem Schreibtischstuhl, Burke hatte sich woanders eine Sitzgelegenheit ausgeliehen – stieß der Sergeant vom Dienst plötzlich ein fassungsloses 0 mein Gott! aus. Instinktiv griffen Burke und Pearce gleichzeitig nach dem Revolver in dem Waffengurt, den Pearce auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Für beide bestand automatisch Alarmstufe rot, auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatten, worin überhaupt das Problem bestand. Es gab keine Diskussion; Burke überließ Pearce den Revolver und bewaffnete sich selbst mit dem Pfefferspray, das am selben Gürtel befestigt war. Alles umsonst. Es war der Fernseher unterhalb der Theke, der dem Sergeant einen solchen Schrekken eingejagt hatte. Sämtliche Polizeibeamte der Einsatzzentrale strömten zusammen und beobachteten schweigend und ihr eigenes Adrenalin ausschwitzend, wie der Tormann langsam seinen Lebenssaft verlor. »Das gibt’s doch nicht«, murmelte Burke. Clootie, der Glückspilz, der Mann, der alles hatte, lag da mit aufgeschlitzter Kehle wie ein Opferlamm. Burke packte Pearce am Ellbogen. »Ich fahre zu Kissy. Sie wird Beistand brauchen.« Pearce riß seinen Blick vom Bildschirm los und ein neuer Ausdruck trat in seine Augen. Er wußte, daß Burke es sah, und gab sich keine Mühe, es zu verbergen. Pearce kannte ihn viel zu gut, hatte ihn schon öfter über Kissy sprechen hören, als sie gemeinsam Streife gefahren waren.
Na schön, dachte Burke, ich bin kein Engel, ich hab sie mit meinem Steifen beglückt, warum soll ich jetzt nicht das Richtige tun und für sie da sein? Im Erdgeschoß von Juniors und Kissys Haus brannte Licht. Quer in der Einfahrt stand Dunny Clooties Kombi mit laufendem Motor und aufgerissener Fahrertür. Er hatte zwar die Handbremse angezogen, aber nicht den Gang herausgenommen. Burke stellte den Hebel auf Parken, machte den Motor aus und schloß die Tür, ließ den Schlüssel jedoch im Zündschloß stecken. Aus der ebenfalls offen stehenden Tür des Seiteneingangs, den Dunny benutzt hatte, quollen Licht und Wärme in die eiskalte Nacht. Es war mucksmäuschenstill. Nicht mal der Fernseher lief, wie Burke registrierte, doch dann hörte er die gedämpften Geräusche von unterdrücktem Leid. Er zog die Tür hinter sich zu und ging durch die Küche und den Flur zum Wohnzimmer. Kissy kniete auf dem Fußboden. Sie schaukelte vor und zurück und erstickte fast an ihrem eigenen Rotz. Dunny, der auch schniefte und heulte, hockte neben ihr und hielt sie fest. Seine Haare standen zu Berge, sein Hemd war im Reißverschluß seiner Hose verklemmt. »Jesus, Jesus, Jesus«, stöhnte oder betete er, welches von beidem, war unmöglich festzustellen. Burke nahm Kissy von hinten in den Arm. »Ist ja gut, Schatz, ist ja gut.« Sanft zog er sie hoch. Dunny folgte mehr oder minder automatisch ihrer Bewegung, da er sie offenbar nicht loslassen wollte. »Haben Sie das gesehen?«, stieß er schluchzend hervor. »Haben Sie das gesehen?« Kissy war weiß wie die Wand und zitterte am ganzen Körper. Sie richtete ihren Blick auf Burke, drehte sich zu ihm hin, weg von Dunny. Burke war seelischer Verwüstung bereits öfter begegnet, als er zählen konnte. Er erinnerte sich an Kissys Zustand nach dem Unfall, bei dem das Greenan-Mädchen umgekommen war. Er erinnerte sich an ihren Schock nach der Schlägerei zwischen Clootie und ihrem Exfreund. Diesmal war es anders. Ihr Elend traf auf mehr Resonanz, weil sie sich inzwischen persönlich kannten und die flüchtige Begegnung ihrer Körper das Gefühl des Vertrautseins verstärkte. Diesmal war sie wirklich am Boden, befand sie sich in einem weitaus
aufgelösteren Zustand, als sie ihm je von sich zu sehen gestattet hatte. Sie blickte mit einer Verwundbarkeit zu ihm hoch, durch die sie sich ihm vollkommen auslieferte. »Gibt es hier etwas zu trinken?«, fragte er Dunny. Nur um den Mann zu beschäftigen. Dunny nickte und machte sich sogleich auf den Weg, um zu tun, was erforderlich war, um das Einzige zu tun, was er tun konnte. Wenig später kehrte er mit einer jungfräulichen Flasche Courvoisier zurück, die noch in Folie gewickelt war und an einem roten Geschenkband um den Hals ein Weihnachtskärtchen trug. Burke gab erst Kissy, dann Dunny, dann sich selbst etwas davon. Anschließend packte er Kissy in Decken ein und setzte sie neben Dunny aufs Sofa. Er rief im Polizeirevier an, um Bewachung für das Grundstück zu organisieren; nicht mehr lange, und es würde hier von Reportern nur so wimmeln. Er nahm die Angelegenheit in die Hand. Anrufe mußten erledigt werden: Bernie; Mark; Dunnys Freundin Ida. Juniors Agent meldete sich per Telefon, auch er fassungslos, mit tränenerstickter, stotternder Stimme. Dann rief der Manager des Teams an. Erst da sickerten brauchbare Informationen durch: Junior war, laut jüngsten Berichten, noch am Leben. Burke begann diverse Aktionen in die Wege zu leiten. Er buchte am Flughafen eine Chartermaschine. Er kümmerte sich um einen Wagen und sorgte dafür, daß jemand vom Team sie abholen würde. Als Dunnys Freundin eintraf, schickte er sie mit Kissy nach oben, um das Nötigste einzupacken und Dynah reisefertig zu machen. Er bestellte eine Polizeieskorte für die Fahrt zum Flughafen. Er fing die ersten Reporter an der Haustür ab, erzählte ihnen, was er wußte, und versprach, sie auf dem Laufenden zu halten. Dann ließ er sie von der Straße schaffen, bugsierte Kissy, Dynah und Dunny auf die Rückbank eines Streifenwagens, brachte den Motor und das übliche Spektakel in Gang – ein bißchen Blaulicht und Sirenengeheul für die Elf-Uhr-Nachrichten – und lieferte sie auf der Rollbahn direkt neben dem Flieger ab. Der Inhaber der Chartergesellschaft war persönlich herbeigeeilt, um das Betanken der Maschine zu überwachen. Er erklärte Kissy, das ginge auf seine Rechnung, und brach selbst in Tränen aus. Burke spielte mit dem Gedanken, sie zu begleiten, doch als er sah, daß Dunny sich einigermaßen erholt hatte, hielt er es für besser, die Verantwortung in seine Hände zu legen. Er streifte ganz
leicht mit seinen Lippen Kissys kalten Mund und sie sah ihn erschöpft aus verschwollenen, dunkel umrandeten Augen an. Als der Pilot den Türmechanismus des Learjets betätigte, sah sie ihn immer noch an. Als ob alles wieder gut werden würde, wenn sie nur nie aufhören würde, ihn anzusehen. Wenn sie einfach nur tat, was er wollte. Nach wie vor wütend und zu Tode erschrocken saß sie mit Dunny und Dynah neben Juniors Krankenhausbett und wartete darauf, daß er aufwachte. Der Schnitt, so hatte man ihr mitgeteilt, sei fünfundzwanzig Zentimeter lang, aber gesehen hatte sie ihn noch nicht; er war unter einem breiten Verband um seinen Hals verborgen. Als sie so dasaß und ihn in diesem Zustand der durch die Bewußtlosigkeit herbeigeführten Schlaffheit betrachtete, mußte sie unweigerlich an Ruth denken. Es gab zwar keinen sichtbaren Hinweis darauf, aber sein Herz hatte tatsächlich aufgehört zu schlagen. Für kurze Zeit war er definitiv tot gewesen. Er hatte die Welten gestreift, in denen Ruth sich befand, sie hinter sich gelassen und wahrscheinlich bereits die Pforten der Hölle erreicht, als er von den Ärzten zurückgepfiffen worden war. Blaß sah er aus und irgendwie dünner, als hätte das von ihm verlorene Blut mehr Gewicht und Volumen als das Transfusionsblut, mit dem er wieder aufgefüllt worden war. Die Ärzte waren zuversichtlich, daß sein Gehirn keinen Schaden davongetragen hatte, zumindest keinen merklichen. Zweifellos hatte die Kommandozentrale ihre Hände im Spiel. Sie verschränkte fest ihre Hände, um gegen das unkontrollierte Zittern anzugehen. Ein unglaublicher Zorn hatte sich in ihrer Brust eingenistet, gestoppt nur durch die Notwendigkeit, ruhig und gefaßt zu erscheinen, als hätte sie die Situation im Griff. Dynah zuliebe. Dynah konnte man unmöglich zumuten, einen Vater mit durchgeschnittener Kehle zu haben und eine Mutter, die hysterische Anfälle bekam. Als sie Junior mit einem Krankentransportflugzeug nach Hause brachte, wurden sie von Burke bereits erwartet. Zerstreut drückte sie seine Hand und gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Dynah war quengelig und gereizt, Junior durch die Drogen und vermutlich auch vor Fassungslosigkeit, noch im Reich der Lebenden zu weilen, halb betäubt, Presseleute belagerten sie wie Schmeißfliegen ein
Stück verdorbenes Fleisch. Er ließ ein paar Tage verstreichen, ehe er bei ihr vorbeischaute – zu einer fast unsittlichen Zeit, es war halb elf Uhr abends, und im Haus brannte nur noch wenig Licht. Aber in der Küche war es hell, denn dort hielt Kissy sich auf, nachdem sie ihren Anhang ins Bett verfrachtet hatte. Sie hatte sich in den Schaukelstuhl neben dem kleinen Holzofen gekuschelt und gelesen. Die langstieligen Schwertlilien, die er ihr geschickt hatte, ein grünweißes Bündel purer Lebenskraft, standen auf dem Küchentisch. Sie ließ ihn herein, sie umarmten sich wie alte Freunde – wobei ihm auffiel, daß sie um einiges dünner geworden war –, und sie bot ihm eine Tasse Kaffee an. »Gibt’s auch Bier?«, erkundigte er sich. Sie nickte, brachte ihm eine Flasche und ein Glas, das er ablehnte. »Wie läuft’s?« Kissy zuckte mit den Schultern. »Ganz gut. Dynah ist entzückt, ihren Daddy zu Hause zu haben. Er macht Fortschritte.« Die Pfunde, die sie verloren hatte, ließen sie noch geschaffter wirken, als sie ohnehin aussah. Ruhelos hantierte sie in der Küche herum, nahm etwas in die Hand, stellte es wieder ab. »Ich habe nicht im Traum damit gerechnet, daß er ums Leben kommen könnte«, sagte sie. »Er macht es schon so lange, daß ich vergessen habe, wie gefährlich es ist. Ich kann’s nicht mehr ertragen. Ich hasse Eishockey. Und er kann nicht schnell genug wieder anfangen.« Burke, der sich auf einen schmalen Küchenstuhl gezwängt hatte, schaute sie nachdenklich an. »Risiken sind ein Teil des Lebens, Baby«, meinte er in neutralem Ton. Sie verschränkte die Arme, wie um sich am Auseinanderfallen zu hindern. »Ich hasse sein Leben, ich habe es nie gewollt! Er hat kein Recht dazu, mich in Angst und Schrecken zu versetzen, nur weil er unbedingt seine blöden, gefährlichen Eishockeyspiele spielen muß! Was, wenn Dynah den Unfall mitangesehen hätte? Wenn sie sich für den Rest ihres Lebens mit der Erinnerung herumquälen müßte?« »Ich habe auch einen Großteil meines Lebens einen gefährlichen Job gemacht«, rief Burke ihr in Erinnerung. »Einen nützlichen Job immerhin.« »Schon, aber…« »Das kann man nicht miteinander vergleichen.«
Burkes Schweigen ließ durchblicken, daß er ihr Recht geben mußte. »Der Schock ist noch zu frisch«, sagte er statt dessen. Sie warf sich in den Schaukelstuhl und starrte ihn trotzig an. Er beugte sich zu ihr vor. »Wie stellst du dir deine Zukunft vor, Kissy, sagen wir in zehn, zwanzig Jahren? Es ist auch dein Leben. Wenn es nicht besser wird…« »Ich habe eine Tochter«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich kann hier nicht einfach abhauen, so wie es mein Vater getan hat. Ich habe die Verantwortung für sie, verdammt noch mal. Wir brauchen ein geregeltes Leben. Ich werde sie ganz bestimmt nicht von Pontius nach Pilatus schleppen oder sie von irgendeinem Babysitter großziehen lassen!« »Natürlich nicht«, pflichtete er ihr bei. »Was immer du tust, ich bin für dich da.« Tränen stiegen ihr in die Augen. Dann nickte sie. Burke schaffte es, den Guter-Freund-Modus beizubehalten, doch innerlich jubilierte er. Endlich baute sie auf ihn. Es brauchte nur einen kleinen Schubs, um sie wieder aus dem Gleichgewicht zu bringen. Junior, der zu dieser Jahreszeit selten zu Hause war, verfolgte den Wandel der Wetterverhältnisse vor seinem Fenster, als fände er nur ihm zuliebe statt. Noch nie war er so sehr mit sich im Reinen gewesen. Das Sterben brachte nicht nur wundervolle Klarheit über den Geist, es ließ auch alles in neuem, kostbarem Licht erstrahlen. In jenen besonderen Sekunden, als er die Lache seines eigenen Blutes vor sich hatte größer werden sehen, bevor die Welt erst grau geworden und dann verschwunden war, hatte er keinerlei Zweifel mehr daran gehabt, bald tot zu sein, und ein vollkommen unerwartetes, nie gekanntes Glücksgefühl erlebt. Von tiefer Dankbarkeit erfüllt hatte er auf sein Leben zurückgeblickt, voller Liebe für Kissy, Dynah und seinen Vater, für Bernie, Casey und Mark – er war so glücklich gewesen. Einen Tunnel mit gleißendem Licht an seinem Ende hatte er nicht gesehen, er war auch nicht über seinem Körper geschwebt oder einer bleichen, ätherischen Diane begegnet, die ihm sagte, es sei noch nicht an der Zeit. Was ihn geweckt hatte, war Kissys Stimme an seinem Ohr gewesen, die ihm versicherte, sie alle wären bei ihm und würden auf ihn warten. Sein Hals hatte sich unterhalb des Kehlkop-
fes wie angenäht angefühlt, ähnlich dem Kopf der Vogelscheuche in Der Zauberer von Oz, und fürchterlich gebrannt, als wäre er längere Zeit geknebelt gewesen. Es war ausgesprochen angenehm, in einem Raum voller Treibhausblumen, die ansonsten wahrscheinlich seinen Sargdeckel geziert hätten, im Bett zu liegen und die Glückwunschkarten seiner Fans zu lesen. Er hatte die ganze Zeit Hunger und Kissy kochte für ihn. Dynah behandelte ihn wie ihre Babypuppe und fütterte ihn mit einem der winzigen Löffel, die zu ihrem Teeservice mit den blauen Vergißmeinnichtblümchen gehörten. An ihn gekuschelt lag sie auf seinem Bett und schaute sämtliche Spiele mit ihm an, die sie per Satellit empfangen konnten oder die es auf Video gab. Oder sie schlossen Wetten darüber ab, wer beim nächsten Mal gewinnen würde, wenn sie mit Dunny Wer-hat-den-Ball spielten. Wie zu erwarten, hatte er Albträume. Oft schreckte er schweißgebadet aus dem Schlaf, einmal war es sogar so schlimm, daß er ins Bett gepinkelt hatte. Immer ging es um den Augenblick, als seine Kehle durchtrennt wurde. Die Ärzte nannten es posttraumatisches Streß-Syndrom – das Gehirn hatte einen zu großen Adrenalinstoß bekommen, und die Nachwirkungen dauerten eine Weile an, hielten den hypersensiblen Zustand der Todesfurcht aufrecht, auch wenn die Krise bereits überwunden war. Klar, daß man nicht schlafen konnte, was einen noch mehr zermürbte. Er hatte ein Antidepressivum verschrieben bekommen, von dem er einen trockenen Mund bekam und ständig furzen mußte, aber schlafen konnte wie ein Toter. Und die Fürze machten ein Geräusch, bei dem Dynah sich vor Lachen bog. So gingen die Tage dahin und wurden allmählich länger, während er Schritt für Schritt an Kraft gewann. Kissy verbrachte viel Zeit in ihrer Dunkelkammer und schlief in einem anderen Raum, um ihn nicht zu stören. Eines Abends – er war noch wach, obwohl Dynah längst im Bett war, und die Schlafzimmertür stand offen – hörte er das Klimpern und Klappern, als sie unten die Tür abschloß. Schließlich kam sie die Treppe hinauf. Er stützte sich auf dem Ellbogen ab. »Komm rein und unterhalt dich ein bißchen mit mir«, sagte er, als sie den Kopf ins Zimmer steckte. »Gleich. Ich schau bloß noch mal nach Dynah.«
Entspannt lehnte er sich gegen die Kissen. Sie sah müde aus. Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt. Aber er hatte jetzt schon einen Ständer und es fühlte sich großartig an. Nicht nur der Ständer an sich, auch die Tatsache, überhaupt einen zu haben. Als sie zurückkam, klopfte er einladend mit der flachen Hand auf die Matratze. Sie ließ sich auf der Bettkante nieder. Er strich zärtlich mit seinen Fingerspitzen über ihren Mund, aber als er den Kopf drehte, um sie zu küssen, wandte sie sich von ihm ab. »Was ist?«, fragte er verständnislos. Er begriff nicht. Er hatte geduscht, sich ordentlich rasiert, seine Zähne geputzt. »Hab ich Mundgeruch oder so?« Sie stand auf, holte den Stuhl, der vor dem kleinen Sekretär an der gegenüberliegenden Wand des Raumes stand, und stellte ihn neben das Bett. Dann setzte sie sich darauf, legte die Hände in den Schoß und bemühte sich, seinem Blick standzuhalten. »Was jetzt kommt, fällt mir wirklich schwer«, sagte sie leise. Sein Magen schlug einen Purzelbaum, sein Blutdruck sackte ab. Er bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. »Es gibt jemand Neues in meinem Leben.« Sie sprach die Worte mit äußerster Vorsicht aus, als hätten sie scharfe Kanten, die ihn verletzen könnten. »Ich habe beschlossen, ihn zu heiraten.« Er hatte das Gefühl, einen Tritt gegen die Brust erhalten zu haben, aber der Schock ließ ihn unsinnigerweise in schallendes Gelächter ausbrechen. »Klar!«, brachte er schließlich hervor. »Es muß dir ja verdammt schwer fallen, mich ausgerechnet jetzt in der Scheiße sitzen zu lassen.« Ihre Unterlippe begann zu zittern. Er glaubte es immer noch nicht. Es war so unglaublich grausam, es konnte unmöglich ein Scherz sein, aber die Worte waren aus ihrem Mund gekommen, aus dem Mund seiner Kissy. Und jetzt saß ihm dieses Weib einfach so gegenüber, seine Frau, seine Kissy, die Frau, die er so sehr liebte, daß er sogar im Augenblick seines Todes an sie gedacht hatte. Mühsam krächzte er das eine Wort hervor, das ihm wie ein Felsblock auf der Zunge lag. »Wer?« »Mike Burke.« Er ließ sich in den Kissenberg in seinem Rücken plumpsen. »Mein Gott!«
»Ich habe schon damit angefangen, die Vermögenswerte wieder auf deinen Namen umschreiben zu lassen…« Er setzte sich so abrupt auf, daß ihm schwindlig wurde. »Scheiß auf die Vermögenswerte! Warum schneidest du mir nicht gleich meine verfluchte Kehle durch und machst es diesmal richtig!« Entsetzt fuhr sie zurück, eine Hand auf dem Mund, die Augen voller Tränen. »Die blöden Vermögenswerte sind mir scheißegal!« Seine Stimme war heiser, aber er würde garantiert nicht weinen, er würde verdammt noch mal nicht flennen! »Ich ziehe aus«, fuhr sie im Flüsterton fort, »schon in den nächsten Tagen…« »Dynah nimmst du aber nicht mit.« Sie rang nervös die Hände im Schoß. »Doch, das werde ich, sicher, aber du kannst sie sehen, wann immer du willst.« »Ich will mit ihr unter einem Dach wohnen.« Sie richtete sich auf. »Das ist unmöglich.« »Warum tust du das, zum Teufel noch mal? Bist du in dieses Arschloch verknallt?« »Ja. Bin ich.« Sie log. Ihm mitten ins Gesicht und sich selbst in die Tasche. Sie konnte dieses Arschloch nicht lieben. »Ich glaub dir kein Wort. Nicht in den. Nicht in unseren dämlichen Officer Hilfreich! Du gehst mit ihm ins Bett, stimmt’s?« Sie gab keine Antwort. Starrte ihn einfach nur aus diesen großen Augen an – genau wie Dynah, wenn sie Mist gebaut hatte und dabei erwischt worden war. Zu welcher Erkenntnis hatte er sich noch in den vielen anstrengenden Sitzungen bei Sarah durchgerungen? Sie war ihr eigener Herr, er konnte sie nicht kontrollieren. Scheiß drauf! Er atmete tief durch. »Ich hab dich zu viel allein gelassen, und er ist genau der Typ Schweinehund, der schutzbedürftige Frauen auf zehn Kilometer Entfernung orten kann. Na gut, ich kann das verstehen, ich kann dir verzeihen, Kissy. Ich finde, du schuldest uns wenigstens die Chance, unsere Beziehung wieder auf die Reihe zu kriegen, du schuldest es Dynah…« Allen guten Vorsätzen und jeglicher Anstrengung zum Trotz begann er nun doch zu weinen und die Wut darüber ließ ihn die Beherrschung verlieren. »Sie ist meine Tochter, du kannst sie mir nicht einfach wegnehmen und diesen Blödmann zu ihrem Stiefvater machen…«
Sie war aufgestanden. »Junior«, flüsterte sie so leise, daß er sie kaum verstehen konnte, »ich werde nie mit ansehen müssen, wie Mikes Kehle durchgeschnitten wird.« Dann stürmte sie aus dem Zimmer. Aus ihrem gemeinsamen Leben. Still saß er da und hörte noch einmal jedes einzelne Wort, das sie gesagt hatte. Er betastete den Verband um seinen Hals. »Ich hab’s doch nicht mit Absicht getan«, erklärte er dem Schweigen im Raum. »Es war ein Unfall. Es ist einfach passiert. Es wird nie wieder vorkommen.« Was sie gesagt hatte, war verrückt. Sie war verrückt. Was ihm zugestoßen war, hatte sie um den Verstand gebracht. Was Burkes Verhalten noch schlimmer machte – eine Frau zu überrumpeln, die vorübergehend nicht alle fünf Sinne beisammen hatte. Die Gedanken bestanden darauf, zu Ende gedacht zu werden: wie dieser Schwanzlutscher sie bumste und sie ganz scharf darauf war. Die Frau, die er über alles liebte, die wie ein Teil von ihm war. Er schob die Decke weg und stieg schwankend aus dem Bett. Seine Brust tat furchtbar weh, er bekam nur schlecht Luft. Sein Herz polterte vorwärts wie ein Besoffener im Torkelschritt. Er hatte nichts am Leib außer seiner Schlafanzughose. Er fror und ihm war schlecht, seine Brust tat so höllisch weh, daß er kurz einen Herzanfall in Erwägung zog. Er stöberte einen Bademantel auf und machte sich auf die Suche nach ihr. Sie saß auf dem Boden des Zimmers, in dem sie neuerdings schlief, den Rücken gegen die Wand gelehnt, das Gesicht in den Händen vergraben. Er setzte sich auf die Bettkante, schaute auf ihren gebeugten Nacken und die bebenden Schultern hinab. »So was passiert eben manchmal«, meinte er sanft. »Ich bin nicht gestorben, Kissy.« »Bist du wohl!«, rief sie vorwurfsvoll. »Es war nur mein Herz, das stehen geblieben ist, ich bin zurückgekommen. Ich bin nicht tot, Kissy, und ich werde es auch demnächst nicht sein. Begreifst du denn nicht, daß es einfach keine Garantien gibt? Auch Burke könnte morgen sterben – verdammt, ich hoffe, er tut’s, vielleicht dreh ich ihm sogar selbst den Hals um.« Er rutschte vom Bett und versuchte sie in den Arm zu nehmen. Sie wehrte sich ein bißchen, ließ es dann aber zu. »Baby«, murmelte er verzweifelt, »oh Baby.« Der Bademantel hatte sich geöffnet, so daß ihr Gesicht an seiner haarigen Brust lag, wo sich seine und ihre Tränen mitein-
ander vermischten. Ihre Haut war salzig und naß, als er sie wie blind küßte. »Hat das jetzt irgend etwas geändert?«, wagte er zu fragen, ein nacktes Bein bequem zwischen ihren. Die Art, wie sie ihn ansah, verriet ihm, daß nicht. Er rollte sich auf den Rücken und starrte an die Dekke. »Erzählst du ihm, daß du mit mir geschlafen hast?« Sie kniete sich hin, ohne die Frage zu beantworten. Mit ihrem glasigen, wirren Blick sah sie wirklich fast wie eine Verrückte aus. Er beobachtete, wie sie ihr T-Shirt über den Kopf zog. Unterwäsche oder Jeans ließ sie einfach weg. Am liebsten wäre er gleich noch einmal über sie hergefallen. »Ich habe einen Wirtschaftsprüfer damit beauftragt, die Bücher durchzusehen, damit du weißt, daß alles seine Ordnung hat.« Aha. Die vorbereitete Rede. »Und ich hab dir schon mal gesagt, daß es mir scheißegal ist.« »Ich lasse das Haus auf deinen Namen umschreiben.« »Du hast das Haus von mir bekommen, du hast das Geld von mir bekommen, den Schmuck – das sind Geschenke gewesen, Kissy, man gibt Geschenke nicht zurück, es ist eine Beleidigung.« »Es wird leichter für Dynah, wenn du das Haus behältst und sie dich hier besuchen kann.« »Wie außerordentlich rücksichtsvoll von dir! Es freut mich wirklich, daß du dir wegen Dynah so viel Gedanken machst. Du spinnst doch, Kissy. Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank, du brauchst einen Seelenklempner. Ich sag dir schon seit Jahren, daß du dich mit ein paar Dingen auseinander setzen mußt…« »Ich will sie nicht damit belasten, daß wir ihretwegen streiten.« »Ach, und du meinst, daß du uns auseinander reißt, wird sie nicht belasten? Vergiß bloß nicht, daß sie mein Kind ist, nicht seins.« »Er versteht das.« »Ist mir scheißegal, ob er irgendwas versteht oder nicht!« »Ich bin nicht dein Feind, genauso wenig wie er…« »Falsch, falsch, falsch! Er ist mein Feind und du gehst mit ihm ins Bett.« »Es hat nichts mit dir zu tun, Mike und ich…« »Es hat nichts mit mir zu tun? Ich hör wohl nicht recht!« »Bitte sprich nicht so laut, du weckst Dynah noch auf.«
Wütend packte er seine Schlafanzughose und sprang hinein. »Ich bin gespannt, wie du ihr das erklären willst.« Mit höhnischer Falsettstimme machte er sie nach: »›Mommy mag jetzt Officer Hilfreich und deshalb wird sie von heute an bei ihm leben und Dynah kommt natürlich mit‹ – vergiß es, Kissy.« Je länger er darüber nachdachte, desto wahnsinniger machte es ihn. »Ich will das volle Sorgerecht, ich geh damit vor Gericht. Du und Officer Hilfreich, ihr zwei könnt euch verpissen, und ich zieh Dynah alleine groß.« »Wie denn? Indem du sie die ganze Zeit bei einer Haushälterin läßt oder sie von Hotel zu Hotel schleifst?« Junior setzte sich auf die Bettkante und vergrub den Kopf in den Händen. »Ich hasse dich.« Er wußte, er klang genau wie Dynah, wenn sie beleidigt war, und verstand zum ersten Mal, welchem Ohnmachtsgefühl diese Äußerung entsprang. Kissy verließ den Raum. Nach einer Weile ging er ihr nach. Sie war im Bad und saß auf dem Klo. Pinkelte. Von der Tür aus schaute er ihr zu. »Wär doch lustig, wenn ich dich jetzt geschwängert hätte. Ich hoffe, ich hab’s getan.« Sie stand auf, setzte die Wasserspülung in Gang, stolzierte zur Dusche und drehte sie auf. »Ich hasse dich nicht«, sagte er. »Ich liebe dich. Das weißt du.« Sie trat unter den Wasserstrahl, ohne ihn anzusehen. Mit Inbrunst feuerte er die flinksten und stärksten seiner Samenfäden an, sich auf der Suche nach einem Ei schnellstens ihren Weg Kissys Eileiter hinauf zu bahnen. Sie würde ihn auf keinen Fall verlassen, wenn sie schwanger war, daran hatte er nicht den geringsten Zweifel. Obwohl die Aussichten auf Erfolg eher gering waren, so oft wie sie schon ohne Verhütungsmittel Sex miteinander gehabt hatten. Zumindest er hatte nichts unternommen, und wenn er sich auch vorstellen konnte, daß sie die Pille nahm, fiel ihm kein guter Grund ein, weshalb sie es vor ihm hätte geheim halten sollen. Es sei denn, sie bumste bereits seit längerem in der Gegend rum. Er konnte es immer noch nicht fassen. Er konnte nicht fassen, daß sie es überhaupt mit einem anderen Kerl getrieben hatte, von Officer Hilfreich ganz zu schweigen. Mit zusätzlichen Decken und Bettüberwürfen bewaffnet, legte er sich wieder hin. Er zitterte am ganzen Körper. Da lag man ein paar Tage flach und schon zog es einem den Saft ab. Nicht mal Bumsen
war noch drin, ohne hinterher völlig am Ende zu sein. Er schloß die Augen und krümmte sich vor Kälte wie ein Fötus unter den Decken zusammen. Im Moment hatte er keine Kraft mehr zum Kämpfen, aber aufgeben würde er deshalb noch lange nicht. Sarah hatte mehrfach versucht ihn dazu zu bewegen, das Ende seiner Ehe zu akzeptieren, doch er hatte nicht aufgehört, seinen Gefühlen zu folgen – wie sie es sonst immer predigte – , und seine Gefühle sagten ihm eindeutig, daß Aufgeben der falsche Weg wäre. Sarah hatte ihn im Krankenhaus besucht, und er hatte sie seitdem einmal angerufen, um ihr zu sagen, es ginge ihm ganz gut, er nähme vorübergehend Antidepressiva ein. Er sollte sie auch jetzt anrufen, doch sie würde nur ihre obligatorischen Brotkrumen ausstreuen, dazu gedacht, ihn aus dem Wald heraus zu der Einsicht zu führen, daß Trennung die einzige Lösung war. Nein, er würde um Kissy kämpfen, mit friedlichen und gerechten Mitteln, und auch dann nicht aufgeben, wenn sie sich tatsächlich auf eine Hochzeit mit dem Scheißkerl einließ. Sie litt bloß unter vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit. Er hätte stärker darauf bestehen sollen, daß sie eine Therapie machte, um das bei ihren Eltern abgeguckte Drehbuch ihres Lebens ändern zu können. Es war nicht sein beinah tödlicher Unfall gewesen, der sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte; es war ihre Abwehr gegen die Tatsache, daß Liebe immer das Risiko des Verlusts barg. Er stellte sich vor, Officer Pißnelke am Kragen zu packen und ihm zu eröffnen: »Letzte Nacht war fantastisch. Wir haben es auf einem zwanzigtausend Dollar teuren Orientteppich getrieben und sie ist viermal gekommen. Vielleicht solltest du dir die Idee, Kissy zu heiraten, noch mal durch den Kopf gehen lassen.« Er wäre dazu imstande – nur hätte Kissy dann eine solche Wut auf ihn, daß sie sowieso ausziehen würde. Sie brauchte keinen Freifahrschein von Officer Pißnelke mehr, wenn er ihr genügend auf die Nerven ging, auch nicht in geistig gesundem Zustand. Officer Pißnelke ans Leder zu gehen wurde nichts bringen. Er mußte den instinktiven Wunsch, den Mistkerl windelweich zu prügeln und von der Mid-Dance-Brücke zu werfen, unbedingt unterdrücken. Bei ihm bleiben zu wollen mußte ihre freie Entscheidung sein. Liebe und reifes Verhalten hatten die Scheidung praktisch aufgehoben – bis dieser Blödmann aufgekreuzt war. Er mußte fest daran glauben, daß auch Officer Pißnelke dagegen machtlos war.
\ 29 [ Sich vorzunehmen, nett, vernünftig und gelassen zu bleiben, war einfacher, als es in die Tat umzusetzen. Sie begann die Dunkelkammer auszuräumen und ihren Papierkram einzupacken, und er war kurz davor, in die Luft zu gehen. Alles, woran er denken konnte, war die unglaubliche Energieverschwendung, wenn sie ohnehin alles wieder herschaffen mußte, sobald sie zu ihm zurückkam. Während er ihr auf Schritt und Tritt folgte, mäkelte er an allem herum, was sie tat. »Warum schleppst du das schwere Zeug eigentlich selbst? Bestell dir doch eine Umzugsfirma, Herrgott noch mal!« Mit wütendem Blick wischte sie sich die Hände an ihrer Levi’s ab. »Laß mich in Ruhe, Junior.« Er trollte sich in die Küche, um Tee zu kochen und Toast zu machen, der wie Pappe schmeckte und sich wie Pappe kauen und schlucken ließ. Wenig später kam der Toast wieder hoch. Seit sie es ihm gesagt hatte, konnte er nichts mehr bei sich behalten. Wenn das Kotzen nicht bald aufhörte, verloren die Antidepressiva ihre Wirkung, und was dann? Von all den Hinweisen auf dem säuberlich bedruckten Blatt, das er zusammen mit dem Rezept erhalten hatte, war ihm nur in Erinnerung geblieben, daß ein plötzliches Absetzen des Medikaments verheerende Folgen haben konnte. Womöglich fiel er in katatonische Starre oder er fand sich mit einem Maschinengewehr in der Hand im Einkaufszentrum wieder. Dennoch konnte er sich nicht überwinden, Sarah anzurufen. Es würde nur damit enden, daß er ihr die Ohren voll heulte und schließlich einräumte, sie habe von Anfang an Recht gehabt. Er mußte mit seinem alten Herrn sprechen. Kissy hatte für den folgenden Tag im Haus ein Treffen mit dem Wirtschaftsprüfer arrangiert, um die Finanzen einsehen zu lassen. Er brauchte jemanden, der sich mit den Banalitäten des täglichen Lebens auskannte, und wenn sie es nicht sein konnte, blieb ihm nur eine andere Wahl. Trotzdem war es erniedrigend, Dunny am Telefon sagen zu müssen, daß Kissy ihn wegen eines anderen Kerls verließ. »Was?« Dunny war wie vom Donner gerührt. »Wer?« »Mike Burke.« Junior spuckte den Namen in den Hörer wie einen Schluck saure Milch. »Der Assistent des Staatsanwalts?«
»Er ist ein verfluchtes Arschloch, was spielt es da für eine Rolle, womit er sich durchs Leben stiehlt?« »Schon gut, schon gut, reg dich nicht auf. Ich komme sofort rüber.« Und dann, noch am selben Abend, tauchte Officer Pißnelke höchstpersönlich in seinem Haus auf, um die Gemahlin des Hausherrn zu rauben. Butch McDonoughs Schätzelchen hatte auch gleich einen Riesentransporter dabei, mit dem er die Kostbarkeiten des gestohlenen Eheweibs in die Höhle des Fetten Weißen Wurms verschleppen konnte. Sie befände sich zwar halb im Valley, sei aber malerisch schön und abgeschieden gelegen und so sicher, wie man es sich nur wünschen könne – wie Kissy ihm in der offenen Garage mitteilte, während Officer Pißnelke den Transporter rückwärts einzuparken versuchte. »Officer Pißnelke wohnt in einem Haus?«, fragte Junior erstaunt. »Ich dachte, er lebt in Butch McDonoughs Arschloch.« Kissys Mundwinkel zuckten, aber zu einem Lachen ließ sie sich nicht hinreißen. Nichtsdestotrotz vom leichten Beben ihrer Lippen ermutigt, versetzte er ihr einen Klaps auf den Po. Sie machte einen meterlangen Satz nach vorn, um ihm zu entfliehen. »Bitte nenn ihn nicht so«, bat sie ihn leise. »Es ist so kindisch.« »Okay. Ich werde Arschloch zu ihm sagen.« Er hatte ihr bereits versichert, daß er keinesfalls Arschlochs Hand schütteln würde, und sie mußte es Pißnelke erzählt haben, denn der Hurensohn streckte sie ihm gar nicht erst hin, als er aus dem Transporter stieg und sich seinen Weg zur Garage schleimte. »Na, wie geht’s?«, fragte er statt dessen vollkommen beiläufig, was Junior wie die banalste, idiotischste, unverschämteste Begrüßung erschien, die er je gehört hatte. »Ich bin gerade von den Toten auferstanden«, gab er zurück, »und berste vor Kraft und Energie, außerdem verläßt mich meine Frau wegen irgendeiner dahergelaufenen Pißnelke…« »Hör auf damit«, fiel Kissy ihm ins Wort und stolzierte davon. Pißnelke wartete, bis sie verschwunden war, dann drehte er sich zu Junior um. »Sie haben einen Haufen Geld, Clootie, und können sich vermutlich jede Menge krumme Touren leisten, aber vergessen Sie bloß nicht, daß Sie sich in meiner Stadt befinden. Wenn Sie sich das
nächste Mal die Finger schmutzig machen, gibt es keine faulen Deals mehr.« »Jetzt halten Sie aber die Luft an«, erwiderte Junior kalt. »Niemand unterschreibt einen Vertrag über eine Million Dollar, ohne sich versichern zu lassen, und Versicherungsleute verlieren nun mal nicht gerne Geld. Laut einer Klausel dürften sie mich sogar mitten in der Abendandacht, wenn der Papst mir gerade die heilige Kommunion verabreicht, einem Drogentest unterziehen, sollte ihnen danach zumute sein. Ich führe das Leben eines gottverdammten Waisenknaben, Sie können mir überhaupt nichts!« Pißnelke sah ihn einfach nur an, machte auf dem Absatz kehrt und folgte Kissy ins Haus. In sein Haus. War Pißnelke oft in seinem Haus gewesen, wenn er nicht daheim gewesen war? Hatte Kissy sich von ihm in ihrem Bett bumsen lassen, in der heißen Badewanne, auf einem der Teppiche, die sie zusammen ausgesucht hatten? Dynah hatten sie aus dem Weg geschafft, sie war mit Bernie und Casey bei Mark. Er fuhr hin und genehmigte sich im Garten ein paar Bierchen mit seinem Bruder, dessen Saison in der unteren Spielklasse erst vor wenigen Tagen zu Ende gegangen war. Mark wußte über die jüngste Entwicklung Bescheid und beteuerte ständig, wie leid es ihm tue, was Juniors Stimmung nicht im Mindesten hob. Bernie brachte vor Wut auf Kissy kaum ein Wort heraus. »Wollen wir morgen ein paar Bahnen spielen?«, fragte Mark. »Du könntest ein Caddy Cart nehmen.« Junior berührte seinen Hals, immer noch mit Verband, weil die Narbe Dynah zu sehr aufregte. Ein Caddy Cart nehmen. Wie ein Invalide, wie einer dieser alten Knacker mit den monströsen Narben auf der Brust nach einem Bypass für ihr verstopftes Herz. Auch sein Herz war verstopft, ein einziger Klumpen Schmerz. Er sprang auf, rannte ins Haus und erbrach die zwei Bier, die er hinuntergewürgt hatte. Als es für Dynah Zeit wurde, schlafen zu gehen, fuhr er mit ihr nach Hause, las ihr eine Geschichte vor und brachte sie ins Bett. Anschließend schaltete er die Glotze ein und drehte eine Weile an der Schüssel herum, bis er auf ein spannendes Spiel stieß. Er machte bewußt kein Licht, auch nicht danach, saß einfach im Dunkeln da, damit Dynah seine Tränen nicht sehen konnte, falls sie herunterkam.
Nach einer Ewigkeit krochen Scheinwerfer über die Wand. Der Transporter war zurück, setzte Kissy ab. Als sie das Zimmer betrat, fragte er vom Sofa aus in die Dunkelheit hinein: »Wie lange geht das schon mit euch?« Sie fuhr erschrocken zusammen. Eine Hand auf die Brust gelegt, spähte sie aus zusammengekniffenen Augen angestrengt zu ihm hin. »Eigentlich spielt das jetzt keine Rolle mehr, oder?« »Natürlich tut es das.« Aber sie wich ihm aus. Ließ ihn nicht an sich heran. Nicht nahe genug, als daß er sie hätte riechen können. Flink huschte sie die Treppe hinauf ins Bad, um zu duschen. Um den Schweiß vom Kistenschleppen abzuwaschen, den Schweiß vom Liebemachen, den Geruch des Liebhabers auf ihrer Haut. Er wollte sie nie wieder anfassen, nicht nachdem dieser Scheißkerl seine Fingerabdrücke auf ihr hinterlassen hatte. Er wollte etwas kaputtschlagen, jemanden umbringen, am besten sich selbst. Wie betäubt schlich er in Dynahs Zimmer. Er mußte sich vergewissern, daß sie noch da war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was vor sich ging. Kissy wollte es ihr am nächsten Morgen sagen. Sie schlief so fest, daß sie nicht einmal auf das Nachgeben der Matratze unter seinem Gewicht reagierte. Mit einer Nagelschere hatte sie sich die Haare geschnitten, damit sie aussahen wie Kissys. Aber ihr Haar war ziemlich kraus, und es bedurfte einer Menge Gel, um es genauso stachlig zu machen wie das ihrer Mutter. Das Ergebnis war zum Schreien komisch. Gerührt betrachtete er die Schönheit seiner schlafenden Tochter und staunte wieder einmal über seine abgrundtiefe Dankbarkeit. Dieses Kind verdankte er Kissy; sie konnte es ihm nie mehr wegnehmen. Er legte seine Finger über ihren Handrücken. Sie lächelte im Schlaf und drehte ihre Hand um, so daß ihre und seine Handfläche sich berührten, ihre Finger sich ineinander verwoben. Butchs Händedruck war fester, sein Schulterschlag herzlicher, seine Beglückwünschung ebenso vorbehaltlos wie die aller anderen im Büro, dennoch glaubte Burke einen gewissen Sarkasmus zu spüren. »Schön, schön«, sagte Butch einige Abende später am Ende einer langen Überstundenschicht und knallte im selben Moment eine Akte auf seinen Schreibtisch, als er mit der anderen Hand die Datei auf seinem Monitor schloß. Mit schief gelegtem Kopf beäugte er den
antiken Schrank, in dem er eine diskrete, sündhaft teure Auswahl von Hochprozentigem sowie entsprechendes Kristallglas zu dessen Konsumierung bereithielt. Er tippte gegen seinen Adamsapfel und hüstelte geziert. »Einen doppelten Doppelten?«, hakte Burke grinsend nach. Butch hob fragend die Brauen, woraufhin Burke aufstand, um ihnen beiden eine doppelte Portion doppelten Malt einzuschenken. »Nee, was sin’ Se doch für’n Goldstück!«, erklärte Butch mit übertrieben breitem schottischem Akzent und prostete ihm mit erhobenem Glas zu. Nachdem Burke die Geste erwidert hatte, lehnte er sich bequem zurück, um den Geschmack des Schnapses vom Boss zu genießen. »Sie sind sich ganz sicher, ja?«, fuhr Butch fort, automatisch voraussetzend, daß Burke seinem Gedankensprung folgen konnte. »Der richtige Zeitpunkt«, erwiderte er knapp. »Die richtige Frau.« Butch nickte und bedachte ihn mit einem freudlosen Grinsen. Das quadratische, bucklige Whiskyglas wirkte in seinen breiten, wulstigen Maurerfingern zwergenhaft klein. »Eins muß ich Ihnen lassen Junge, Sie waren wirklich diskret. Nicht ein einziges Wort darüber ist zu mir durchgesickert, und selbst nachdem ich euch beide zusammen erwischt hatte, haben Sie nie durchblicken lassen, daß es was Ernstes ist.« »Es war auch keiner von uns beiden auf eine ernste Sache aus.« Burke studierte seinen Drink, als berge er ein Geheimnis. Butch kniff die Augen zusammen. »Sagen Sie bloß nicht, Sie haben die Dame geschwängert…« Burke lachte. »Na, dann ist’s ja gut.« Butch wühlte im hinteren Teil einer Schublade herum, brachte ein Päckchen Zigaretten zum Vorschein und hielt es hoch. Als Burke den Kopf schüttelte, klopfte er für sich eine Zigarette heraus, zündete sie an und lehnte sich genüßlich zurück. »Sie wird Sie sich schon zurechtbiegen, was?« Er lachte dröhnend. »Ha, diese Weiber hat uns der Teufel geschickt! Kleine Luder hat mein Vater sie immer genannt. Ihr Luder hat schon einiges auf dem Buckel, Jungchen. Eine Blitzehe, eine seltsam halbherzige Scheidung – typisch Künstlerin. Spinnig hat man zu meiner Zeit dazu gesagt.« Burke ließ die Tirade einen Moment sacken, während Butch unverdrossen Rauchringe in die Luft blies. »Sie wird nie ein Problem sein,
Butch«, meinte er dann. »Sie ist vollkommen unpolitisch, will nur in Ruhe ihre Arbeit tun. Was die Scheidung betrifft, mache ich mir auch keine Sorgen. Da draußen gibt’s jede Menge geschiedene Wähler. Wir wissen beide, daß niemand Scheidungen gut findet, daß jeder denkt, es gäbe viel zu viele davon, daß aber auch jeder felsenfest überzeugt ist, die eigene Scheidung sei absolut unabwendbar gewesen. Unzählige Wähler sind mit jemandem verheiratet, der bereits eine Ehe hinter sich hat, unzählige Wähler ziehen das Kind eines anderen auf. Es ist keine große Sache mehr…« »Ja ja, ich weiß.« Butch winkte ungeduldig ab. »Die Zeiten haben sich geändert, ich mache mir auch keine Sorgen deshalb. Eine Kandidatur steht für Sie momentan ohnehin nicht auf dem Tapet.« »Frühestens in ein paar Jahren«, bestätigte Burke, »wenn überhaupt.« Er schaute seinem Boss direkt in die Augen. Das war sein großer Augenblick, einer, den er auf keinen Fall vermasseln durfte. »Ich habe lange auf die Richtige gewartet, Butch, und sie ist es. Ich liebe diese Frau. Ich würde sie auch heiraten, wenn es das Ende meiner Karriere bedeutete.« Mit feuchten Augen beugte Butch sich über den Schreibtisch, packte seine Hand und schüttelte sie bewegt. »Großartig!« Er sank wieder zurück und griff nach seinem Glas. »Einen kleinen Rat bloß, Junge. Im Gegensatz zur allgemeinen Volksweisheit beruht eine Ehe nicht auf Gegenseitigkeit. Sie ist kein Fifty-fifty-Deal. Jede Partei muß sich zu hundert Prozent einbringen…« Butch übte die Hochzeitsansprache. Er hievte seinen Körper lachend aus dem Stuhl und bewegte ihn auf den Schnapsschrank zu. Burke lehnte mit einem Kopfschütteln ab, als sein Boss fragend den Whisky schwang. Es gefiel Butch immer, wenn man ihm sein feudalherrschaftliches Vorrecht auf die Flasche ließ. Laut Absprache hätte Junior Dynah zum Abholen bei Bernie lassen sollen, dennoch war er es, der mit seiner lachenden, strampelnden Tochter auf den Schultern aus dem Haus seines Vaters kam. »Was hat der hier zu suchen?«, fragte Mike gereizt. Kissy ärgerte sich selbst über Juniors Anwesenheit. Mühsam unterdrückte sie ein barsches »Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?«. Statt dessen stieg sie aus dem Wagen und breitete die Arme aus. Dynah warf sich begeistert hinein. Während Junior Mike Dynahs
Sachen in die Hand drückte, als wäre er der Chauffeur, würdigte er ihn keines Blickes. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit ganz auf Dynah, drückte sie mehrmals und gab ihr einen dicken Abschiedskuß. Dann hielt er Kissy die Tür des BMW auf, den sie Mike zur Hochzeit geschenkt hatte. Das Lächeln, das für seine Tochter reserviert gewesen war, verschwand. Sie machte sich auf eine bissige Bemerkung gefaßt, doch er wurde plötzlich so ernst wie ein Sargträger. »Es gibt schlechte Neuigkeiten«, sagte er, während er an Kissy vorbei zu Dynah schaute, die aufgeregt in ihrer Einkaufstüte wühlte. »Zumindest nehme ich an, daß sie schlecht sind.« »Spuck’s schon aus«, sagte Kissy. »Ruth Prashker ist vor ein paar Stunden gestorben.« In dem Wissen, Kissy nicht anzutreffen, hatte Mrs. Cronin Bernie angerufen, die daraufhin sofort zu Junior gelaufen war. Sie hatten lange beraten, wessen Aufgabe es sei, Kissy die Nachricht zu überbringen. Junior war der Hartnäckigere gewesen. Das lang erwartete Ereignis kam ihr nun, da es eingetroffen war, unwirklich vor. Sie wußte nicht, was sie empfinden sollte. Abwesend hörte sie, wie Junior ihr sein Beileid aussprach. Sie dankte ihm. Er griff nach ihrer Hand. Im gleichen Augenblick streckte Mike, der hinter dem Steuer saß, seinen Arm nach derselben Hand aus, doch was er zu fassen bekam, war Juniors. Beide Männer rissen ihre Hände ruckartig zurück und standen für den Bruchteil einer Sekunde kurz davor, sich an die Gurgel zu gehen. Dann trat Junior langsam von dem BMW zurück und beobachtete von der Bordsteinkante aus, wie er verschwand. Kurz vor Mittag, so erzählte ihr Mrs. Cronin, die Zugehfrau war gerade damit beschäftigt gewesen, die Holzmöbel zu polieren, hatte Ruth einen langen, tiefen Atemzug getan, ein hörbares, sehnsuchtsvolles Seufzen, und war verstummt. Es hatte eine Weile gedauert, bis die Zugehfrau merkte, daß außer dem Rubbeln ihres Staubtuchs und dem Quietschen ihrer Gummisohlen nur noch ihre eigenen Atemgeräusche hinter dem sterilen Mundschutz zu hören waren, den sie in Ruths Zimmer tragen mußte. Vorsichtig war sie zum Bett gegangen, hatte einen langen Blick auf Ruths reglosen, schweigenden Körper geworfen und dann nach Mrs. Cronin gerufen, die in der Küche da-
bei gewesen war, sich ein Mittagessen zuzubereiten. Kissy hatte nur kurz ihre Ausrüstung in den Blazer geworfen und war sofort in die James Street gefahren. Zu sehr in Gedanken, um zu berücksichtigen, daß es sich vielleicht nicht gerade um den richtigen Ort für ein Kind handelte, hatte sie Dynah mitgenommen. Die Prashkers und Mrs. Cronin waren vollauf damit beschäftigt, die notwendigen Anrufe zu erledigen, den Fortlauf der Dinge zu arrangieren und einige wenige enge Freunde und Verwandte zu einem letzten Besuch in Ruths Zimmer zu führen. Mrs. Cronin schien sich über Dynahs Anblick zu freuen. Sie nahm sie auf den Schoß und malte ein paar Bilder mit ihr, während Kissy an die Arbeit ging. Ruths Erscheinung hatte sich seit ihrem letzten Besuch vor zehn Tagen nicht nennenswert verändert. Trotz kontinuierlicher Bewegungstherapie hatten ihre Gliedmaßen sich versteift und auch ihr Gesicht war bereits seit einiger Zeit in steinerner Ausdruckslosigkeit erstarrt. Das Bemerkenswerte an ihrem Zustand hatte in dem unermüdlichen Heben und Senken ihres Brustkorbs bestanden, was sie wie eine atmende Statue wirken ließ. Während dieser letzten Fotosession, die mit Einwilligung der Prashkers geschah, versuchte Kissy irgendeine Art von Gefühl aufzubringen, sei es auch nur Erleichterung, doch außer Verblüffung über ihre eigene innere Leere empfand sie nichts. Ein Umstand, der sich auf den Fotos niederschlagen würde, dachte sie. Aber das war nicht verkehrt. Sie hatte sich nie dazu verpflichtet, der Situation angemessene Gefühlsregungen darzustellen, sondern nur das, was war. Die Hinterbliebenen waren von einer gewissen Trauer erfüllt, die sich aber nach einer so langen Zeit des Wartens verwässert hatte und von unverhüllter Erleichterung durchzogen war – wie auch von großer Dankbarkeit für die Aufgaben, die es zu erledigen galt: Todesanzeigen, Terminabsprachen, Begräbniszeremonie. Während jedermann vollauf beschäftigt war, machte Dynah ihre eigenen Beobachtungen zum Tagesgeschehen und schlüpfte unbemerkt in den Raum, in dem sich die Leiche befand. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Bett und starrte auf Ruths totes Gesicht hinab, bis Kissy sie dort entdeckte, als sie den Film wechseln wollte. Dynah ließ sich bereitwillig von ihr fortbringen, aber ihr Blick war verstört.
Auf der Heimfahrt erzählte Kissy ihr dieselbe Geschichte, die sie ihr im Lauf der Jahre immer erzählt hatte, wenn Dynah neugierige Fragen nach ihrer Beziehung zu Ruth stellte. Dabei war die Geschichte jedes Mal so abgewandelt worden, wie es Dynahs momentanem Alter entsprach. Sie begriff mittlerweile, daß Ruth nicht Esther war, aber Dinge wie plötzlicher Tod, Koma und endloses Ringen um Erlösung belasteten sie natürlich sehr. Es rief verschwommene Erinnerungen an den unerwarteten Tod ihrer Großmutter wach und wurde durch das Wissen kompliziert, daß auch ihr Daddy einen schlimmen Unfall gehabt hatte und, wie die Leute behaupteten – Casey pochte ganz besonders darauf – , sogar gestorben war. Dynah rang mit der Tatsache von Tod und Verwesung und mit der Frage, wie der eine plötzlich und unabwendbar aus dem Leben gerissen werden konnte, während ein anderer in langen, tiefen Schlaf fiel, aus dem es kein Erwachen gab, und ein dritter erst sterben und dann ins Leben zurückgebracht werden konnte. »Ruth war wie die Prinzessin aus dem Märchen«, versuchte Kissy ihr zu erklären. »Die sich in den Finger gestochen hat und hundert Jahre schlafen mußte.« »Bloß daß sie nicht mehr aufgewacht ist«, stellte Dynah fest. »Genau. Sie ist nicht mehr aufgewacht.« »Kommt sie irgendwann zurück?« Kissy schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht. Viele Menschen auf der Welt glauben, daß wir zurückkommen, um ein anderes Leben zu leben.« »Das mach ich auch! Und du kommst zurück und bist wieder meine Mom und Daddy ist wieder mein Daddy.« Kissy brachte es nicht übers Herz, ihr die Illusion zu nehmen. Mike war ins Büro gefahren. Nachdem sie Dynah in den Schlaf gelesen hatte – verständlicherweise klebte das Kind förmlich an ihr angesichts der neuen Umgebung und einer Woche Getrenntsein von der Mutter –, suchte Kissy Ruths Fotomaterial zusammen und heftete es an die Wand ihrer neuen Dunkelkammer. Darunter befanden sich auch der Schnappschuß von Ruth als Kleinkind, der ihr von Mrs. Cronin zugesteckt worden war, sowie spätere Familienfotos, die sie aus den Fotoalben der Prashkers abfotografiert hatte:
Ruth als Kind, Ruth in der Schule, Ruth in ihrem Abschlußballkleid. Sie kehrte die chronologische Abfolge um, ging von den ersten Wochen des Komas zurück in die Zeit vor dem Unfall. Zum Schluß blickte ihr die kleine Ruth aus großen, erschrockenen Augen entgegen. Kissy strich mit den Fingerspitzen über die Lippen des Mädchens auf dem Bild und wurde endlich doch von Kummer überwältigt. KOMA-OPFER GESTORBEN
stand über dem Leitartikel der neuesten Ausgabe der News. Und auf dem unteren Teil der Titelseite, direkt unterhalb Ruth Prashkers Foto vom Highschool-Abschluß, verkündeten fett gedruckte Großbuchstaben: ZWEITKLAGE GEGEN BEREITS VERURTEILTEN BETRUNKENEN FAHRER. Ruth Prashkers Tod bedeute für James Houston Jr. eine neuerliche Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Wenn man ihn für schuldig an ihrem Tod befände, könnte er die gleiche oder eine noch höhere Strafe erhalten. Als Kissy die Zeitung entdeckte, hatte Mike das Haus schon verlassen. Dieser erste Tag nach längerer Abwesenheit, meinte er, würde hart für ihn werden, und tatsächlich sah sie ihn erst um kurz vor elf Uhr abends wieder. Er marschierte auf direktem Weg ins Wohnzimmer und schloß die Hausbar auf. »Willst du tatsächlich noch einmal Anklage gegen Jimmy Houston erheben?«, fragte Kissy von der Tür her. Mike, der sich soeben einen Drink einschenkte, blickte auf. »Ich nicht. Die Geschworenen werden’s tun.« Er rührte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas mit dem Zeigefinger um und lutschte ihn anschließend ab. »Aber ich werde die Anklage vertreten.« »Ist das kein Interessenkonflikt? Du warst damals Zeuge.« »Während meiner Zeit als Polizist. Als Diener des Staates. Ich bin immer noch ein Diener des Staates, ich habe ja nicht die Seiten gewechselt. Butch hat nichts dagegen.« »Was passiert dann? Ein neues Gerichtsverfahren?« Mike kippte die Hälfte seines Drinks hinunter, schloß die Augen und ließ die Schultern kreisen, als wolle er sich von einer unsichtbaren Last befreien. »Das würde mich wundern.« Er sah sie an. »Ich denke nicht, daß du noch einmal aussagen mußt.« »Daran habe ich gar nicht gedacht. Wie wird es für ihn weitergehen?«
Von einem gereizten Klimpern begleitet, als die Flasche gegen den Glasrand stieß, füllte Mike sein Glas wieder auf. »Er wird noch mal zehn Jahre kriegen und aller Wahrscheinlichkeit nach noch am Leben sein, wenn sie vorüber sind, was man von Ruth nicht gerade behaupten kann.« Obwohl sie keinerlei Kommentar abgab, wurde er aus irgendeinem Grund immer wütender auf sie. Mit zornigem Blick fuhr er fort: »So geht das nicht, Kissy! Ich muß dir von meiner Arbeit erzählen können, wenn ich nach Hause komme – besonders davon, wie ich mich dabei fühle, denn wenn mir meine Gefühle im Weg sind, kann ich den Job nicht vernünftig erledigen. Ich muß sie in meiner Freizeit in den Griff kriegen und dazu brauche ich dich. Einen Menschen, dem ich vertrauen und mein Herz ausschütten kann. Was ich überhaupt nicht brauche, ist jemand, der mir seine Gefühle zu einem meiner Fälle aufhalst. Verlang nicht vor mir, daß ich Mitleid mit diesem Arschloch habe – oder mit einem der anderen Arschlöcher, deren Akten sich auf meinem Schreibtisch stapeln. Damit machst du uns nur das Leben schwer. Hast du das verstanden?« Er war sich seiner Härte bewußt. Sie erkannte es an dem Zucken seiner Hand, an den Schweißtröpfchen, die sich über seiner Oberlippe gebildet hatten. Sie nickte kurz und ging nach oben. Dynah schlief im Ehebett. Sie mußte sie in ihr Zimmer tragen. Etwas später folgte er ihr ins Schlafzimmer, um sich zu entschuldigen. Die Blödmänner im Büro hatten einfach allen erdenklichen Mist auf seinem Schreibtisch abgeladen, während er weggewesen war. Obwohl sie keinerlei Reaktion zeigte, als er anfing, sie zu küssen und zu streicheln, machte er trotz einiger Mühe weiter. Jeder Hilfeversuch ihrerseits brachte ihn nur noch mehr in Wut. Und wenn er wütend war, konnte er immer. Er begleitete sie zu Ruths Trauerfeier. Junior war ebenfalls dort. Er kam zu ihr, nahm ihre Hand, küßte sie leicht auf den Mund und beteuerte noch einmal, wie leid es ihm tue. Die ganze Zeit über hielt Mike ihren anderen Arm mit eisernem Griff fest, als hätte sie vor, ihm davonzulaufen. Ihr mißfiel nicht nur seine Unsicherheit und seine Art, sie als seinen Besitz zu betrachten, sondern auch die Tatsache, daß ihre gesamte Energie in den Unmut ihm gegenüber floß und diesen negativen Gemütszustand schuf, der sie sich krank fühlen ließ. Sie überlegte sogar, ob sie tatsächlich krank war, befallen von
irgendeinem Virus oder Bakterium – schließlich schwirrte immer irgendwo etwas herum. Ein paar Tage später rief Mike sie von der Arbeit aus an, um ihr mitzuteilen, daß es wie erwartet kein neues Verfahren geben würde; Houston habe die Absicht, sich schuldig zu bekennen und um unverzügliche Urteilsverkündung zu bitten. Noch ein paar Tage später sah sie in den Abendnachrichten, wie Jimmy Houston in schlecht sitzendem Anzug und mit fast kahl geschorenem Schädel von zwei Staatsdienern ins Gerichtsgebäude geführt wurde, um sein Schuldbekenntnis abzulegen und die Strafe zu empfangen. Er sah älter aus, wie sie erwartet hatte, dennoch wurde ihr bei seinem Anblick ein wenig schwindelig. Seit dem Tag, an dem er ins Gefängnis gegangen war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie hatte das Gefühl, den uralten Sepiadruck eines längst verstorbenen Vorfahren zu betrachten und die Züge ihrer Tochter darin wiederzuerkennen. Der Richter brummte ihm noch einmal zehn Jahre auf, setzte sie jedoch als gleichlaufend fest – was bedeutete, wie der Nachrichtensprecher auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude erklärte, daß sie gegen die bereits abgesessene Zeit angerechnet werden würden. »War das ein Deal?«, fragte sie Mike, während er sich gleich nach der Heimkehr einen Drink machte. »Nein. Er hat sich schuldig bekannt und der Gnade des Gerichts ausgeliefert. Dem Richter gefiel seine Gefängnisakte.« Er lachte. Kissy sah ihn verständnislos an. »Er hatte Kurse belegt, die aufs Medizinstudium vorbereiten, weißt du noch?« Ein amüsiertes Glitzern lag in seinen Augen. »Und bevor er in den Knast mußte, hat er noch schnell eine Zusatzausbildung in Krankenpflege absolviert – er ist nämlich nicht dumm, dieser Bursche. Sie haben ihn als Pfleger im Gefängniskrankenhaus eingesetzt, wo er in den letzten drei Jahren Insassen mit AIDS betreut hat.« Mike schüttelte verständnislos den Kopf. »Auf eigenen Wunsch… Na ja, Richter Durand fand jedenfalls, damit hätte er seine Reumütigkeit mehr als genug unter Beweis gestellt. Abzüglich des Bonus für gute Führung kommt er in einem halben bis dreiviertel Jahr raus.« Kissy schwieg. Er packte sie, zog sie auf seinen Schoß und gab ihr einen Kuß. »Viel Lärm um nichts.«
Aus Dynahs Sicht wies Mikes Haus gravierende Mängel auf. Es hatte keinen Fernseher mit Großbildschirm und Satellitenanschluß. Auch keinen Swimmingpool, keine Turnhalle, keine Eislaufbahn wie das ihres Daddys. Ihr Puppenhaus hatte sie zurücklassen müssen, weil ihr neues Zimmer unter dem Dach zu klein war und die Decke zu tief. Sie mußte mit einem anderen Bus zu einer neuen Schule fahren. Die Nachbarschaft war merkwürdig – sofern man überhaupt von Nachbarschaft sprechen konnte: ein Haus hier und ein Haus da, jeweils versteckt hinter undurchsichtigem, wucherndem Gestrüpp. Die Steinchen auf der unbefestigten Einfahrt verklemmten sich in ihrem Skateboard, und die einzigen Kinder in ihrem Alter waren zwei Brüder, die Mädchen nicht ausstehen konnten. Sie mußten Schwule sein, wie Dynah erst ihnen persönlich, dann ihrer Mutter mitteilte. »Das ist aber kein schönes Wort«, bemerkte Kissy. »Wo hast du das denn aufgeschnappt?« »Daddy sagt, Latham wäre ein Schwuler, und als ich wissen wollte, was ein Schwuler ist, hat er gemeint, ein Junge, der Mädchen nicht ausstehen kann.« »Viele Jungen mache eine Phase durch, in der sie Mädchen nicht ausstehen können. Latham ist mein Freund. Man spricht die Leute nicht darauf an, mit wem sie ins Bett gehen. Das ist unhöflich. In Ordnung?« »Hmhm.« Dynahs Mundwinkel zeigten nach unten, ihr Blick war unglücklich und verletzt. »Du wirst niemanden mehr einen Schwulen nennen?« Dynah zuckte mit den Achseln. »Na gut. Wahrscheinlich sind Darren und Shane bloß Wahnsinnsarschlöcher…« »Dynah!« Kissy machte sich im Geiste die Notiz, Junior auf seine Wortwahl in Dynahs Gegenwart anzusprechen. Dabei stellte die Sprache nicht das einzige Problem dar. Da war zum Beispiel das Zubettgehen. Dynah zeterte und kreischte, bekam Wutanfälle wie seit ihrem zweiten Lebensjahr nicht mehr. Sie brüllte, sie hasse Mikes Haus und ihr neues Zimmer und wolle sofort zu ihrem Daddy zurück. Dann stand sie mitten in der Nacht weinend an Kissys und Mikes Bett. Und kroch zwischen sie. Mike wollte die Schlafzimmertür abschließen – ein Einfall, den Kissy vehement ablehnte. Er machte augenblicklich einen Rückzieher und schlug statt dessen vor, Dynahs Tür abzusperren.
»Sei kein Idiot!« Entsetzt hörte Kissy den schrillen Unterton in ihrer Stimme. Wenn sie ehrlich zu sich war, mußte sie zugeben, daß es eine Erleichterung war, Dynah nachts bei sich zu haben, daß es tröstlich war. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, ihr Kind zu benutzen, um das eheliche Bett vom Sex zu befreien, aber körperliche Liebe war zu einer wahren Prüfung geworden, zu einem wunden Punkt. Sie hatte sich alle möglichen Entschuldigungen zurechtgelegt – den Streß durch die Trennung von Junior, übertriebene Erwartungen an die Flitterwochen, die Umgewöhnung an das Zusammenleben –, doch meistens lag es daran, daß Mike keine Erektion zustande brachte. Basierend auf der Erinnerung an ihr erstes sexuelles Erlebnis, hatte sie durchaus eine bestimmte Vorstellung mit in die Ehe gebracht. Er trank zwar mehr, als ihr klar gewesen war, was zweifellos einen Faktor darstellte, aber auch mit ihr stimmte etwas nicht – vermutlich lag es an ihrem schlechten Gewissen. Sie schlief nicht besser als er, mit Dynah zwischen ihnen im Bett, und hatte fast ständig Kopfschmerzen wegen der unzureichenden Nachtruhe. Er warf die Hände in die Luft. »Dann laß dir was einfallen!« Junior hatte Dynah an den Wochenenden und holte sie an drei von fünf Werktagen zum Schwimmen von der Schule ab. Dann aß sie mit Junior zu Abend und wurde erst kurz vor der Schlafenszeit von ihm nach Hause gebracht. Auf Dynahs Drängen hin mußte er oft dableiben und sie ins Bett bringen, wobei sie sich wie ein wahres Engelchen benahm. Ihr zuliebe warf Kissy sämtliche Prinzipien über Bord, um sie jederzeit für ihren Vater erreichbar zu machen. Es schien völlig normal, ihn zu Dynahs Schlafenszeit im Haus zu haben. Zu normal. Sie fürchtete, Mike, nicht Junior, könnte sich wie ein Eindringling vorkommen, wie das fünfte Rad am Wagen – nicht nur sich selbst, sondern auch ihr. Obwohl er an den meisten Tagen erst nach Hause kam, wenn Dynah längst schlief, war er sich Juniors Anwesenheit bewußt und rief zufällig immer gerade während dieser Zeitspanne an, vorgeblich um ihr mitzuteilen, daß es später werden würde. Insgeheim kochte er vor Wut und ließ sie seine Eifersucht spüren. Auch das war vermutlich eine vorhersehbare Reaktion, aber er hatte schließlich gewußt, daß sie ein Kind hatte und konnte nicht bestreiten, wie wichtig es für Dynah war, die Beziehung zu ihrem Vater aufrechtzuerhalten. Sie
versuchte ihn damit zu besänftigen, daß Junior bald wieder fort sein und die Situation sich im selben Moment ändern würde. Kompromisse wären eben ein unerläßlicher Bestandteil des Prozesses, den sie alle augenblicklich durchlaufen mußten. Als Junior Dynah eines Abends wieder einmal ins Bett brachte und Mike wie üblich angerufen hatte, weil es später werden würde, ging sie nach oben, um Dynah noch einen Kuß zu geben. »Mike wünscht dir eine gute Nacht.« Das stimmte zwar nicht, doch schließlich hatte er schrecklich viel zu tun, um endlich fertig zu werden und nach Hause kommen zu können. Dynah schnitt eine Grimasse. Junior lachte. Er folgte Kissy nach unten. »Pißnelke arbeitet noch? Puh, da fühl ich mich gleich um einiges sicherer.« »Bitte nenn ihn nicht so!« »Ich könnte ein Bier vertragen, falls du eins hast…« Sie ging in die Küche, um eine Flasche aus dem Kühlschrank zu holen. Junior stand direkt hinter ihr. »Danke.« Er öffnete den Verschluß. »Ein bißchen Liebe wär auch nicht schlecht.« »Geh nach Hause. Der Liebeshahn ist zugedreht.« Das war er tatsächlich. Zuletzt hatte sie etwas, das auch nur entfernt an sexuelles Verlangen erinnerte, in jener Nacht empfunden, als sie Junior gesagt hatte, sie würde ihn verlassen – und selbst da hatte der überwiegende Teil ihrer Gefühle aus Verzweiflung bestanden. Sie hatte schon zweimal eine solche Phase erlebt, eine Zeit der Empfindungslosigkeit, der Taubheit, des leichten Ekels. In den Wochen nach der Abtreibung, als sie fünfzehn gewesen war, und dann in den ersten sechs Monaten ihrer Schwangerschaft. Er grinste, lehnte sich gegen die Theke und zupfte versonnen am Flaschenetikett. »Sie ist heute geschwommen wie ein kleiner Delphin. Wir sollten über eine Privatschule mit erstklassigem Schwimmunterricht nachdenken. Dieser staatliche Laden taugt nichts. Sie langweilt sich dort zu Tode.« »Also erteilst du ihr außerlehrplanmäßige Nachhilfe in SchwulenKlatschen und Straßenjargon.« Er lachte.
»Ich will nicht, daß sie die Leute Schwule und Arschlöcher nennt…« »Da kannst du nichts machen, Baby, sie hört diese Wörter auf dem Schulhof.« »Aber nicht von mir und nicht von dir.« Er zuckte mit den Schultern. »In Ordnung. Ich werde in ihrer Gegenwart niemanden mehr als Schwulen bezeichnen. Aber ich behalte mir das Recht vor, jeden ein Arschloch zu nennen, der eins ist.« »Arschloch«, sagte Kissy. Er weigerte sich, beleidigt zu sein. Statt dessen grinste er breit. »Ich liebe es, wenn du solche Ausdrücke benutzt. Neulich hätte ich dich fast angerufen – ich hatte ein, zwei Bierchen intus und war scharf wie ein Kanonenrohr. Ich wollte, daß wir uns am Telefon ein bißchen auf die schmutzige Art unterhalten, aber ich wußte ja nicht, ob Piß – , Verzeihung, Mr. Wonderful die Welt draußen gerade vor dem Abschaum beschützt oder sich am Busen meiner Frau ausheult…« »Geh nach Hause«, wiederholte sie. »Komm mit mir.« Er legte einen Arm um ihre Taille. »Du kannst allerdings auch gleich hier mit mir kommen. Wir brauchen dazu nicht nach Hause zu gehen.« Sie machte sich von ihm los, ging zur Tür und riß sie auf. »Gute Nacht, Junior.« Er gab ihr die Flasche und einen Kuß auf den Hals. »Ruf mich an, falls du was brauchst.« \ 30 [ Es war der letzte Schultag. Dynah, die zwischen Kissy und Mike hervorragend geschlafen hatte, sprang vergnügt aus dem Bett. Sie sang im Bad aus voller Kehle und zog Sachen in extrem grellen Farben an. Dann hüpfte sie die Treppe hinunter und schoß auf ihrem Skateboard in die Küche. Mike konfiszierte es sofort, deponierte es auf dem Kühlschrank und sagte: »Skateboards gehören nach draußen, Engelchen.« Mit einem Blick, der hätte töten können, warf Dynah sich auf ihren Stuhl. Mike schaute Kissy an. Sie hob nur leicht eine Braue. Er schlug mit lautem Rascheln die Zeitung auf und atmete hörbar verärgert durch,
ehe er den Blick auf die Schlagzeilen heftete. Die Kaffeemaschine gab mit einem Schnaufen und Zischen bekannt, daß der Kaffee durchgelaufen war. Dynah sprang auf. »Ich hol dir deinen Kaffee, Mike.« Sie hüpfte zur Kaffeemaschine, füllte einen Becher, nahm ihn in beide Hände und trippelte fröhlich zum Tisch. Direkt neben Mikes Ellbogen geriet sie plötzlich ins Stolpern und schüttete ihm mit einem theatralischen kleinen Aufschrei die heiße Flüssigkeit in den Schoß. Mike reagierte erwartungsgemäß. Dynah wirbelte zu ihrer Mutter herum. »Mike hat ›Scheiße‹ gesagt!«, kreischte sie. »Er hat ›Scheiße‹ gesagt!« »Schon gut, Dynah. Ich bin nicht taub.« Kissy fing Mikes durch die Luft fliegendes Hemd mit einer Hand auf. Während er sich einen anderen Anzug anzog, leerte Dynah seine Aktentasche über dem Fußboden und trampelte auf den Papieren herum, als wären sie Weintrauben. »Kissy!«, brüllte Mike außer sich. Sie schoß wie der Blitz aus der Waschküche, wo sie versucht hatte, den Kaffee aus seinem Hemd zu spülen. Mike kroch fluchend auf dem Küchenboden herum und sammelte seine Unterlagen ein. Draußen hörte man das Splittern von Glas. Sie stürzten zur Tür. Dynah rannte zum Schulbus, der an der Ecke stand. Die Windschutzscheibe des BMW war ein Scherbennetz, in dessen Zentrum ein großer Stein hing; er sah aus wie eine gefangene Schmeißfliege. Dynah starrte ihnen von der Rückbank des Schulbusses aus ungerührt entgegen und streckte den rechten Mittelfinger in die Luft. Nicht zum ersten Mal überlegte Kissy, ob sie wirklich Juniors Tochter war, ob sein und Jimmys Keimplasma irgendwie homogenisiert worden sein konnten. »Gütiger Gott!« Mike war den Tränen verzweifelt nahe. »Du kommst zu spät.« Kissy warf ihm die Schlüssel des Blazers zu und beobachtete, wie er davonbrauste. Für Junior war es das Lustigste, das er jemals gehört hatte. »Ich bezahle die Windschutzscheibe, schon allein wegen des Unterhaltungswerts .«
»Kannst du nicht mal einen Moment ernst sein! Sag mir lieber, daß du sie nicht mit einem Haufen ›Mike-ist-der-Böse-Mist‹ überschüttest.« »Ich erwähne nicht einmal Pißnelkes Namen, Baby. Wenn sie sauer auf ihn ist, dann vermutlich deshalb, weil er ihre Familie kaputtgemacht hat.« »Gib mir die Schuld, wenn du unbedingt einen Schuldigen brauchst. Hier geht es um Dynah…« »Was ich dir schon sage, seitdem du meinetwegen durchgedreht bist.« »Das ist jetzt unser Leben, Junior, sie muß lernen, sich darin zurechtzufinden.« »Laß sie bei mir. Ich bin hier, bis das Camp anfängt. Ich kann mich sehr gut um sie kümmern…« »Damit würden wir das Problem nur bis August hinausziehen.« »Du kannst jederzeit nach Hause kommen, Baby. Kommt beide zurück, und ich verspreche dir, sie fängt sich sofort.« Kissy hängte ein. Mit geballten Fäusten lehnte sie sich gegen die Wand. Er würde ihr nicht helfen, der Mistkerl, kein Stück würde er ihr helfen. Sie wischte sich über die Augen und putzte ihre Nase. Geh zum Teufel, Junior, dachte sie erbost. Sie reagierte zu heftig. Genau wie Dynah. Das hier erforderte Geduld, wahrscheinlich eine Menge Geduld. Geduld und Ausdauer. Dynah würde sich bei Mike entschuldigen müssen. Und das Skateboard kam für mindestens einen Monat in den Schrank. »Kannst du sie denn nicht endlich aus unserem Bett schaffen?«, sagte Mike, als er von diesem Plan hörte. »Ich würde wirklich gern mal wieder eine Nummer schieben, ohne Angst haben zu müssen, daß sie jeden Moment reinplatzt.« »Ja, einverstanden. Zu dem Zweck können wir die Tür abschließen, aber den Rest der Zeit bleibt sie offen. Das Schlimmste, was ich jetzt tun kann, ist, sie buchstäblich auszusperren.« Mike verdrehte die Augen. »Früher hat sie mich gemocht. Was ist bloß passiert?« »Du weißt, was passiert ist. Du hast Daddys Platz eingenommen.« Er nickte resigniert. Das letzte Mal, als er Dynah und Kissy schlafend im Bett vorgefunden hatte, hatte er sich nicht einmal mehr die
Mühe gemacht, sie hinüberzutragen. Er hatte im Gästezimmer geschlafen. Am nächsten Tag kam er mit einem Goldfischglas und einer Plastiktüte voll leuchtend orangefarbener Fische nach Hause. Dynah rümpfte die Nase. Als Kissy sie später ins Bett bringen wollte, saß sie davor und beobachtete die Fische mit gelangweiltem Blick. Lange Zeit hingen sie reglos im Wasser und schossen dann plötzlich wie zukkende, orangefarbene Lichtblitze hin und her. »Die sind vielleicht blöd«, sagte Dynah. »Schwimmen immer bloß rum. Richtig total bescheuert blöd!« »Das ist nicht nett.« Kissy reichte Dynah ihren Schlafanzug. »Mike hat dir ein Geschenk gemacht. Selbst wenn du gar kein Geschenk willst oder es blöd findest, solltest du allein schon aus Gründen der Höflichkeit danke sagen.« »Aber das ist gelogen! Ich bin ihm nicht dankbar. Ich will die blöden, bescheuerten Fische nicht, und ich werd auch nicht danke zu Mike sagen.« Sie schleuderte einen Turnschuh quer durch den Raum. »Der Teufel soll ihn holen!« »Hör auf, so zu reden…« »Ich will Daddy!« Dynahs Stimme zitterte, ihr Gesicht lief rot an. Sie warf sich auf die Knie und umklammerte Kissys Beine. »Ichwill-meinen-Daddy!« Junior hatte den Großteil des Junis hinter sich. Wie schon in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr hatte er die Zeit überwiegend mit schweißtreibendem Konditionstraining und schlichtem Schlittschuhlaufen verbracht. Seine Kräfte schienen vollkommen wiederhergestellt zu sein. Zumindest half ihm die tägliche Plackerei bis zum Umfallen, seine Ruhelosigkeit zu kanalisieren. Die Antidepressiva schluckte er nach wie vor, vermutlich der einzige Grund, warum er überhaupt schlafen konnte. In welchem Ausmaß die Medikamente seine Emotionen beeinflußten, konnte er nicht genau sagen. Wenn sich jedoch ein großes, schwarzes Loch unter ihm auftat – ein recht häufiges Ereignis – und er hineinfiel, kam er relativ schnell wieder raus, und zwar dank der Erkenntnis, daß ein kurzer Heulkrampf eine verständliche Reaktion auf die Schrecken der vergangenen Monate war. Er sollte während der Einnahme der Antidepressiva nichts trin-
ken und hielt sich meistens auch daran, was sich mit ernsthaftem Training ebenfalls besser vertrug. Außerdem hatten die Drogen seine Toleranzgrenze gesenkt, so daß er schnell betrunken war. Ein paar Bier und er fiel um. Wann immer er Dynah wieder zu Kissy bringen mußte, spielte er mit dem Gedanken, das volle Sorgerecht für sie zu beantragen, und legte mit zusammengebissenen Zahnen das stumme Gelübde ab, wie ein Mönch zu leben, sollte ein Richter auf diesem Weg von seiner Tauglichkeit zu überzeugen sein. Es brachte ihn fast um den Verstand, das Haus zu betreten, in dem Kissy mit Pißnelke lebte. Er kam nicht mehr an sie heran, weil sie jetzt verbotenes Territorium für ihn war – beziehungsweise er eine persona non grata, die man ins Exil geschickt hatte. Und es war falsch, nicht nur wegen Pißnelkes überall sichtbaren Spuren. Es war offenkundig falsch, weil er draußen stand, und auf subtile Weise falsch aufgrund der Veränderung, die es bei Kissy bewirkte. Sie war eine Fremde in diesem Haus, eine Fremde für ihn, eine Fremde für Dynah. Sie hatte einen Fremdling in den Mittelpunkt ihrer Leben gerückt. Er bestand darauf, daß sie und Dynah die letzten beiden Juniwochen und den ganzen Juli im Ferienhaus verbrachten. Er selbst hatte vor, die ersten drei Augustwochen mit Dynah dort zu sein. Kissy war geneigt, auf den Vorschlag einzugehen, da es Dynahs gewohntem Ferienablauf entsprach. Was Junior aber am besten gefiel, war zum einen die Entfernung zwischen Peltry und dem Cottage, die Mike Burke ein regelmäßiges Pendeln unmöglich machte, zum anderen die Tatsache, daß er nur noch zwei Wochen Urlaub nehmen konnte, um bei ihnen zu sein. Bei Burke und seinesgleichen galt ein Ferienhaus genauso als Statussymbol wie der Umstand, zu viel zu tun zu haben, um es mit Frau und Kindern genießen zu können. Also verzog sich der Anhang den Sommer über an den See, während die YuppieWorkaholics in der Stadt blieben und zur Lebens-Führung aus der College-Zeit zurückkehrten: ein spontanes Basketballspielchen am Abend, ehe es in die Bars ging, um ein paar Schnäpse zu kippen und ein geeignetes Objekt für eine außereheliche Nummer aufzureißen. Außerdem nahm Junior an, daß sechs Wochen ohne Dynah ihren eigenen Reiz für Burke besaßen. Wobei Pißnelke sicherlich mit der Ungewißheit zu kämpfen haben würde, ob Junior Clootie nun zu
Hause in Peltry war oder sich zum Ferienhaus davongeschlichen hatte. McDonough veranstaltete ein großes Barbecue am 4. Juli, zu dem Kissy erscheinen mußte, dann wollte sie mit Dynah losfahren. »Ich hab dich auch vermißt«, sagte Dynah. Sie legte eine Hand über die Sprechmuschel und schaute mit leuchtenden Augen zu Kissy hoch. »Daddy würde gern für einen Tag herkommen.« Kissy nahm ihr den Hörer ab. »Ich dachte, ich mach mich am Samstag zu euch auf die Socken, dann kannst du dir einen Tag frei nehmen, in die Stadt fahren oder so, und Dynah und ich hätten ein bißchen Zeit füreinander.« Dynah hing an ihrem Bein. »Bitte, bitte…« »Na gut«, willigte Kissy ein. »Aber nur einen Tag.« Um sechs Uhr am Samstagmorgen bog der Benz mit knirschenden Reifen in die gekieste Zufahrt ein. Der Motor war aus – Junior hatte den Wagen im Leerlauf den Hügel hinabrollen lassen, um sie nicht zu wecken, aber sie kamen ihm zuvor. Sie hatten bereits ihre Badeanzüge an, um den Tag mit ein paar Schwimmzügen zu beginnen. »Daddy!«, quiekte Dynah und schoß die Treppe hinunter, um sich in seine Arme zu werfen. Kissy ließ sich Zeit dabei, ein T-Shirt über ihren Körper zu streifen. Dynah ritt unterdessen jauchzend auf Juniors Schultern, während er auf dem Rasen im Kreis herumlief. Nachdem Kissy ihm einen flüchtigen Kuß auf ihre Lippen gestattet hatte, ging sie wieder hinein, um die Kaffeemaschine anzuwerfen. Junior folgte ihr in die Küche. »Wart ihr unterwegs zum Wasser?« »Hmhm.« »Darf ich mitkommen?« »Sicher.« Er brauchte sich nur aus dem T-Shirt zu pellen, schon war er fertig. Die weiten Shorts, in denen er hergefahren war, eigneten sich hervorragend zum Schwimmen. Die Narbe an seinem Hals war zwar sichtbar, aber nicht abstoßend. »Du siehst gut aus«, stellte Kissy fest und bedauerte ihre Worte im selben Moment, genauso sehr wie die Tatsache an sich.
»Es dauert eben seine Zeit, bis man wieder auf dem Damm ist.« Er streckte seine Glieder wie ein Muskelmann, hob Dynah hoch und wirbelte sie durch die Luft. »Aber jetzt bin ich staaaaaark!« Junior und Dynah tobten ein paar Meter weiter im Wasser herum, so daß Kissy etwas Zeit hatte, das kühle Naß zu genießen, ohne ständig auf ihr Kind schauen zu müssen. Die schlichte sinnliche Erfahrung, sich von dem Medium liebkosen, tragen und halten zu lassen, erfüllte sie jedes Mal mit tiefer Dankbarkeit für ihren Körper, für die Fähigkeit, ihn bewußt wahrnehmen zu können. Dynah tauchte von Juniors Schultern aus ins Wasser hinein. Junior rollte sich herum, senkte den Kopf, warf einen Arm nach vorn und glitt mit einer kräftigen, geschmeidigen Bewegung vorwärts. Dann verschwand er unter der Wasseroberfläche. Kissy drehte sich auf den Rücken, um ihr Gesicht im morgendlichen Sonnenlicht zu wärmen. Plötzlich spürte sie eine Strömung erst unter, dann neben sich, und Junior tauchte wieder auf. Er warf sich herum, griff mit einer Hand nach ihrer Hüfte und zog sie mit sich hinunter. Mit geöffneten Augen und wogenden Haaren sanken sie von Stille umgeben in die Tiefe. Er umklammerte ihre Beine mit seinen, sie machte sich frei und schoß mit einem einzigen kräftigen Stoß nach oben. Seine Hände bekamen ihre Hüften zu fassen, sein Gesicht war plötzlich zwischen ihren Beinen. Für einen kurzen Moment glaubte sie seine Zunge an ihrem Schenkel zu spüren. Keuchend riß sie sich los. Er tauchte grinsend neben ihr aus dem Wasser. Sie schwamm von ihm weg zu Dynah. Junior Clootie gab wirklich niemals auf. Kaum ließ man ihn auf Zungenreichweite an sich heran, startete er schon den nächsten Versuch. Und quittierte ihn mit einem Grinsen, wie auch immer das Ergebnis war. Er meldete sich freiwillig zum Frühstückmachen. ›Kröte im Loch‹, bettelte Dynah, womit ein Spiegelei in einem ausgehöhlten Stück Brot gemeint war. Einer der Glanzpunkte der Speise bestand in dem Privileg, das Loch mit Hilfe eines Glases auszustechen. Als Kissy barfuß, mit trockenem T-Shirt und Shorts nach unten kam, erkundigte er sich, was sie mit ihrem freien Tag anfangen wolle. »Ich dachte, ich schieß ein paar Fotos von dir und Dynah«, sagte sie.
»Das hat mir gefehlt.« Er machte neuerdings ab und zu Schnappschüsse von Dynah mit einer Kleinbildkamera, die sie ebenfalls benutzte, um ihn zu fotografieren. Aber meistens war niemand da, der sie zusammen ablichten konnte. »Ach ja, ich habe übrigens einen Scheck für dich.« Er ließ die Alimente direkt auf ein Bankkonto überweisen. Nach der Scheidung hatte ein erneuter Finanzausgleich vorgenommen werden müssen, was Junior absolut zuwider gewesen war. Zum einen fand er Geldzählerei todlangweilig, zum anderen rief es ihm ins Bewußtsein, daß Kissy ihn wegen Mike Burke verlassen und Dynah einfach mitgenommen hatte. Nachdem ihn die eigene Freigebigkeit ihr gegenüber stets mit Stolz erfüllt hatte, waren ihm die Forderungen seitens ihrer Anwälte verhaßt. Sie schienen anzudeuten, daß er diesbezüglich nicht vertrauenswürdig war. Da Kissy weder das Haus noch das Cottage haben wollte, hatte Junior sie zu fünfzig Prozent ausgezahlt und ihr auch die Hälfte aller übrigen Vermögenswerte übertragen, obwohl sie hauptsächlich mit seinen Einkünften erworben worden waren. Sie hatte sein Geld angelegt – und das recht geschickt –, trotzdem weigerte sie sich, etwas davon anzunehmen. Er mußte ihr erst mit einem Sorgerechtstreit drohen, um sie dazu zu bringen. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Scheck – ihr Anteil an der Dividende aus einem gemeinsamen Anlagefonds – und verstaute ihn in ihrem Scheckheft. Ihre Finanzen waren für die weitere Zukunft ineinander verstrickt – genau das, was Junior wollte. Nachdem Dynah die Löcher in die Brote gestochen hatte, war sie mit der Kiste voll Kannen, Schüsseln, Eimern und anderen Gerätschaften, die sich hervorragend zum Bau einer Sandburg eigneten, nach draußen verschwunden. »Wie macht sie sich so?«, fragte Junior, während er ein Ei über einem der Brotrahmen in der Pfanne aufschlug. »Mir ist sie nämlich auch ganz schön auf der Nase rumgetanzt. Manchmal war einfach alles falsch, was ich auch getan habe. Sie hatte zwar mich, aber dich nicht, und das hat sie unglaublich frustriert. Ich dachte eigentlich, ich hätte begriffen, was es für dich hieß, während meiner Abwesenheit praktisch alleinerziehend zu sein, aber…« In dem Augenblick stürmte Dynah herein und sprang ihm in die Arme. Er faßte sie um die Taille und hob sie mit einer Hand auf die Küchentheke.
»Gar nichts hatte ich begriffen«, fuhr er fort. »Das ist mir jetzt klar.« Nachdem er sein Geständnis in den Raum geworfen hatte wie einen Kieselstein ins Wasser, widmete er sich wieder ganz Dynah und dem Frühstück. Sie hatten am Telefon Pläne geschmiedet: Sandburgen bauen, ausgiebig im Wasser herumtoben, Karten spielen, fein herausgeputzt in einem der hiesigen Restaurants essen gehen. Bei Dynah hieß das, ihre Haare zu der gleichen Stachelfrisur zu stylen wie Kissys, ein überdimensional großes, violettes T-Shirt mit einem Gürtel über gelben Leggins zusammenzuschnüren und mehrere bunte Plastikarmreifen zu tragen. Am liebsten hätte sie auch ihre Ohren piercen lassen, doch was das betraf, blieben Kissy und er nach wie vor hart. »Du bist herzlich eingeladen«, sagte er zu Kissy. »Hört sich gut an.« »Ich würde gern über Nacht bleiben und Sonntagmorgen noch mit euch zum Brunch gehen. Ich habe ein Zimmer im Gasthof bestellt.« Dynah war viel zu glücklich und aufgeregt, als daß Kissy hätte ablehnen können. Vermutlich sollte sie ihr Nein besser für seinen nächsten tätlichen Angriff aufheben. Sie spielte mit dem Feuer und machte sich keineswegs vor, daß die Flamme sie nicht auf angenehme Weise wärmte. Verwirrt flüchtete sie sich in Betriebsamkeit, indem sie die Batterien der Taschenlampe überprüfte. Junior sah viel zu gut aus. Als würde man direkt in die Sonne schauen. Den ganzen Morgen über hielt sie ihn sich mit dem Objektiv vom Leib, während er mit Dynah am Strand und im Wasser herumtollte. Nach einem Picknick am Ufer machte sie es sich im Schatten bequem. Die Hitze und der gefüllte Magen hatten den gewohnt einschläfernden Effekt. Sie war beinah hinübergedämmert, als er sich über sie beugte und sie küßte. Die Berührung war derart zart, daß sie im ersten Moment glaubte zu träumen, doch dann wurde ihr der Ernst der Lage bewußt. Sie riß die Augen auf und drehte hastig den Kopf zur Seite. Seine Zungenspitze berührte ihr Ohr. »Stop!«, brummte sie. Dynah hatte nichts gemerkt. Sie war voll und ganz in den Bau ihrer extravaganten Sandburg vertieft.
»Es kam einfach über mich«, grinste Junior. Er legte sich neben sie und spielte mit den Fingern im Sand. Das Lächeln verschwand. »Manchmal bin ich richtig sauer auf dich gewesen. Aber inzwischen weiß ich, daß es meine Schuld war.« »Nein.« Sie kämpfte gegen das gleißende Licht, gegen das bleierne Gewicht der aufgeheizten Luft, gegen die Schläfrigkeit, die sie unerbittlich in die Tiefe zog. »Nein.« Sie befanden sich auf der Rückfahrt vom Abendessen. Dynah streckte auf dem Rücksitz alle viere von sich. Sie hatte sich dem tiefen Schlaf der Erschöpfung hingegeben, der die Belohnung eines langen Tages an Luft und Sonne war. Ihre Haut hatte den gleichen goldenen Schimmer wie eine mit Pollen überzogene Apfelblüte. »Danke«, sagte Kissy zu Junior. »Es war ein wunderbarer Tag.« Sie meinte es ernst. Ein schändlich wunderbarer Tag. Sie glaubte nicht, daß es möglich war, ein ganzes Leben aus solchen Tagen zusammenzubringen, aber dieser eine erfüllte sie wirklich mit Dankbarkeit. Er trug Dynah gerade ins Haus, da klingelte das Telefon. Kissy nahm den Hörer ab. Als er wenig später herunterkam, war sie dabei, die Eisteegläser von einem spätnachmittäglichen Imbiß im Geschirrspüler zu verstauen. »Mr. Wonderful?« Der Ausdruck gefiel ihr nicht, aber wenigstens war er um Längen besser als Pißnelke. Sie machte den Geschirrspüler zu und schaltete ihn an. »Hmhm.« Absolut zeitgleich bewegten sie sich aufeinander zu. Sie schloß die Augen und sträubte sich nicht länger. Ließ sich von ihm die Treppe hoch tragen, seine Finger nach Mikes Ringen tasten und sie vorsichtig abstreifen. Sie lehnte die Stirn gegen die Narbe an seinem Hals und spürte darin seinen Herzschlag, das zunehmend schnellere Fließen seines Bluts. Die ganze Zeit über hörte sie das Rumpeln, Saugen und Zischen des Geschirrspülers. Sie konnte das Gefühl, nach Hause zu kommen, nicht leugnen, das Gefühl der geglückten Flucht aus einer fremden Umgebung, in der nichts war, wie es sein sollte, der Flucht von einem eiskalten, einsamen, von der Außenwelt abgeschnittenen Ort. Er war nicht Mike. Es machte sie froh, aber zugleich war sie vor Schuldgefühlen wie gelähmt und zutiefst erschüttert, weil
sie sich selbst in diese Lage gebracht hatte. Sie haßte Mike dafür, daß er ihre Sehnsucht nach Junior nicht stillen konnte. Sie wußte, daß sie ihn nicht liebte, aber sie hatte nicht damit gerechnet, wie schwer es sein würde, ihn zu mögen, ihn zu verstehen, eine Partnerschaft mit ihm zu führen, in der Liebe keine Rolle spielte. Was Junior betraf, war sie wie die Gänsemagd, die an der goldenen Gans kleben geblieben war, sobald sie sie berührt hatte. »Du kannst nicht über Nacht bleiben«, erklärte sie ihm, während sie in den zerwühlten Laken nach ihren Ringen suchte. »Es würde Dynah völlig durcheinander bringen.« »Nicht nur sie, mich auch«, gab er zurück. »Ich habe mir im Gasthof ein Zimmer genommen und Bescheid gegeben, daß ich nicht gestört werden möchte, auch nicht per Telefon. Mr. Wonderful war vor vierzig Minuten noch in Peltry und braucht mindestens drei Stunden für die Fahrt.« Er rieb seine Nase an ihrem Ohr. »Ich muß dir was beichten…« »Was?« »Ich bin verliebt in eine verheiratete Frau.« Sie versetzte ihm einen Knuff in die Achselhöhle. Von Lachen geschüttelt rollte er sich auf die Seite. Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, lag er auf dem Rücken. »Du hast mir nie von dir und Mr. Wonderful erzählt«, stellte er fest. »Du wirst ihn dir kaum aus dem Telefonbuch rausgesucht haben. Irgend etwas muß zwischen euch gewesen sein – aber ich habe mir tagelang den Kopf zermartert und kann mich einfach nicht daran erinnern, jemals etwas in der Art gespürt zu haben.« »Warum ist das so wichtig für dich?« »Keine Ahnung. Vielleicht muß ich einfach wissen, was für ein Idiot ich war.« Sie drehte sich ebenfalls auf den Rücken und starrte an die Decke. »Du warst kein Idiot.« Ein plötzlicher Knoten in ihrem Hals hinderte sie daran hinzuzufügen: »Aber ich.« Er setzte sich auf, und sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. »Ich hab mich wie ein Arschloch benommen«, sagte er. »Es war meine Schuld. Ich habe irgend etwas getan oder nicht getan, was ich nicht oder doch hätte tun sollen. Und jetzt erzähl mir nicht, es wäre wegen der Geschichte mit der durchgeschnittenen Kehle gewesen. Das hat
dir zwar den Rest gegeben, aber es muß schon davor etwas passiert sein, das dich zu Pißnelke gebracht hat. Ich weiß, ich hab dich zu viel allein gelassen…« »Es ist einfach geschehen. Passiert ist passiert. Ich kann’s nicht mehr ändern. Ich muß dafür sorgen, daß es klappt. Immerhin habe ich ein Versprechen gegeben – und so soll es jetzt sein.« Sie drehte sich auf die Seite, hörte ihn seufzen und wartete auf den Vorwurf, sie habe auch ihm dieses Versprechen einmal gegeben, und zwar zuerst. Er kam nicht. Statt dessen kuschelte er sich an ihren Rücken, sagte ihr, wie sehr er sie liebe, daß es immer so bleiben, er immer für sie da sein würde. Während ihr Geist langsam in den Schlaf hinübertrieb, kam ihr plötzlich der Gedanke, daß es für ihn von jeher genau so gewesen war, wie er es haben wollte – warum also nicht auch jetzt? Sie ging nicht nur mit ihm ins Bett, sie war außerdem mit einem anderen verheiratet – was es ihm erheblich erleichterte, seine Karriere zu verfolgen. Das, was er am meisten liebte, auch wenn es sich gegen ihn wandte und ihm die Kehle rausriß. »Hast du mit ihm geschlafen?« Es war Mike, um fünf vor halb sechs am nächsten Morgen. Kissy hatte nach dem ersten Läuten abgehoben. Sie legte auf, sah auf die Uhr und zog sich das Kissen über den Kopf. Die Bettwäsche war frisch. Sie hatte sie gewechselt, sobald Junior gegangen war, war aufgeblieben, um sie zu waschen, zu trocknen und in den Wäscheschrank zurückzulegen. Waschaktionen in finsterster Nacht, dachte sie bedrückt, Eingeständnisse der Schuld. Fünf Minuten später rief er wieder an. »Es tut mir leid. Ich mußte einfach fragen. Du hast viel Zeit mit ihm verbracht, sag mir nicht, er hätte es nicht wenigstens versucht.« Sie sagte gar nichts. »Ich kann mir den Freitag wahrscheinlich frei nehmen, dann könnte ich Donnerstagabend bei euch sein«, fuhr er fort. »Oder soll ich dich jetzt lieber in Ruhe lassen?« »Ich denk drüber nach.« Donnerstag kam etwas dazwischen, aber Freitagmittag konnte er weg. Gegen vier traf er im Ferienhaus ein, angespannt und erschöpft, die Augen dunkel umringt. »Ich konnte die ganze Woche nicht besonders gut schlafen. Wahrscheinlich haben mir Dynahs nächtliche
Invasionen gefehlt.« Er nahm ein paar Bierflaschen mit an den Strand. Kissy beauftragte Dynah, den Abendbrottisch zu decken, ging ihm nach und setzte sich in den Liegestuhl neben ihm. Er sah sie müde an. »Ich hab nur ganz wenig Arbeit dabei. Das Wochenende wird sicher schön.« Sein Blick löste sich von ihr und glitt über den See. Er sagte nichts mehr. Der Bierdunst hing wie übler Atem in der Luft. Es ging ihm schlecht und es war ihre Schuld. Junior hatte vermutlich Recht gehabt. Ihr waren vorübergehend die Sicherungen durchgebrannt. Sowie Dynah mit der Vorstellung vom Tod nicht zurechtgekommen war und sich zur Kompensierung instinktiv auf die Möglichkeit der Reinkarnation versteift hatte, fand sie selbst nicht mehr den Mut, jemand anderen zu lieben als Dynah, und was ihr Kind betraf, hatte sie schlicht und einfach keine Wahl. Als sie Junior auf dem Eis hatte verbluten sehen, glaubte sie zum ersten Mal die wirkliche Bedeutung des Motivs in dem Buntglasfenster der Kapelle in Sowerwine zu verstehen – das sich aufbäumende Pferd, das Skelett, das von ihm abgeworfen wird. Der Schimmel stand nicht für das Leben, das Skelett nicht für die Menschheit, die in den Tod stürzt. Der Name des Schimmels war Tod, und es war das Knochengerüst der Liebe – ironischer Weise absichtlich ohne jeglichen Fetzen Fleisch –, das von ihm zertreten wurde. Nicht zu rütteln aber war an der Tatsache, daß sie alles kaputtgemacht hatte. Sie hatte Dynah aus der Bahn geworfen und Mikes Leben durcheinandergebracht und konnte nichts davon rückgängig machen. Wozu auch? Schließlich war kein Junior da, der zu Hause auf sie wartete. Es würde nicht wieder vorkommen, schwor sie sich. Junior fuhr bald ins Camp zurück, und dann hatte sie den ganzen Winter Zeit, um an ihrer Ehe und einem Baby mit Mike zu basteln. Das war sie ihm schuldig. Vielleicht lernte Junior jemanden kennen. Oder hatte schon jemanden kennen gelernt, nahm die Beziehung wieder auf und stellte fest, wie schnell aus einer flüchtigen Affäre erst eine Liebschaft, dann eine Ehe werden konnte. Sie ging vor Mike ins Bett. Eine Weile später hörte sie ihn die Treppe hinaufstolpern. Auch wenn sie den Whisky, an den er sich seit dem Abendessen gehalten hatte, nicht hätte riechen können, wäre ihr sein Zustand anhand der ruckartigen, unbeholfenen Bewegungen, mit
denen er sich auszog, sofort aufgefallen. Er ließ sich schwer wie ein Stein rücklings neben sie aufs Bett plumpsen, holte einmal tief Luft und rollte sich – ebenfalls schwer wie ein Stein – auf sie. Die Schatten im Raum lagen wie Balken über seinem Gesicht und verdeckten seine Augen, aber seinen Mund konnte sie sehen, als er sich schlaff von Alkohol und Verzweiflung auf ihren senkte. »Was hast du erwartet? Ich muß ständig daran denken, daß er hier war.« »Er wollte Dynah besuchen.« »Und versuchen, dich rumzukriegen.« Sie stieg aus dem Bett und ging ins Bad. Als er einen Blick hineinwarf, spuckte sie gerade Mundwasser ins Waschbecken. »Die Vorstellung hat mich die ganze Woche halb wahnsinnig gemacht«, sagte er. »Tut mir leid.« »Ich bin deine Frau.« Sie betrachtete ihn im Spiegel. »Ich habe ihn deinetwegen verlassen.« Mike nickte zwar, machte aber keinen besonders beruhigten Eindruck. Er war Anwalt; er hatte registriert, daß sie nicht bestritten hatte, mit ihrem Exmann im Bett gewesen zu sein. Sie hatte keine Lust, weiter mit ihm zu reden. Am liebsten hätte sie Dynah genommen und sich aus dem Staub gemacht. Alles was sie hielt, war ihr schlechtes Gewissen. Er sah sie einen Moment lang prüfend an und ging wieder ins Bett. Sie bürstete sich die Zähne, wusch ihr Gesicht und cremte es ein. Sie hatte abgenommen, was sie älter wirken ließ: Die Knochen traten starker hervor, die Nase war schmaler, die Augen lagen tiefer in den Höhlen, die Haut war nicht mehr ganz so straff. Nicht wirklich wie bei Ruth, aber es rief Erinnerungen an sie wach. An die Art, wie sie dahingewelkt war. Sie mußte besser auf sich aufpassen. Gut zu sich sein. Junior riet ihr das schon seit langem. \ 31 [ Am ersten August siedelte Junior zu Dynah ins Ferienhaus um, Kissy kehrte nach Peltry zurück. Dynah bekam am Telefon einen Weinkrampf, weil sie Kissy wieder bei sich haben wollte. Am zweiten Samstag des Monats fuhr sie hin und kam erst um zwei Uhr morgens nach Hause. Mike erwartete sie. Er starrte sie vorwurfsvoll an, war
schweigsam, verletzt, mehr als nur ein bißchen betrunken – aber er erwartete sie. Er nahm sie fest in den Arm und atmete mit geschlossenen Augen tief ein. Versuchte sie zu riechen. War sie zu gut geschrubbt, hatte sie zu ausgiebig unter der Dusche gestanden, um die Beweislast wie in einer unheiligen Reinigungszeremonie fortzuspülen? Er kniete sich hin, preßte seinen Kopf gegen ihren Bauch, als wolle er um etwas betteln, und weinte. Eigentlich sollte sie ihn verlassen, doch dazu fehlte ihr der Mut. Sie kannte ihn mittlerweile recht gut, und was sie an ihm entdeckt hatte, legte nahe, daß er sich im Fall einer Trennung mindestens ebenso mies benehmen würde, wie er es auch im Zusammenleben oft tat. Dann gab es wieder Momente, in denen sie nicht die geringste Lust hatte, sich über den Schlamassel, in den sie geraten war, den Kopf zu zerbrechen. Was zählte, waren Dynah und ihre Arbeit; wahrscheinlich war es vermessen und grotesk, mehr vom Leben zu erwarten als das. Außerdem war sie ein erwachsener Mensch, sie hatte sich selbst in diese Lage gebracht und mußte nun das Beste daraus machen. Wie eine fast vergessene Erinnerung stieg ein Bild in ihr auf, wie sie hinter den Scheiben einer verglasten Veranda stand. Gedämpft hörte sie ihr wütendes Geschrei – Geschrei, wie sie es jetzt für sich behielt. Ihr zweidimensionaler, durchscheinender Körper spannte sich an unter dem Hieb, dem Bersten, dem Zerfall. Mondlicht von der Farbe des weißen Pferdes strahlte bis in die Wipfel der schwarzblättrigen Bäume, durchflutete sie wie Röntgenstrahlen und warf ein orakelhaftes Abbild ihrer Knochen auf den Fußboden. Nichts entwickelte sich jemals den Vorstellungen gemäß, betete Mike Burke sich vor. Er mußte dagegen ankämpfen, ihr eine zu verpassen. Sie gab zu, daß es gedankenlos, wenn nicht sogar ausgesprochen provokativ gewesen war, so spät nach Hause zu kommen. Sie erzählte ihm irgendwelchen Mist von einem Kartenspiel, das bis elf Uhr gedauert hatte, von Dynah, die sie nicht gehen lassen wollte, von der dreistündigen Heimfahrt. Sie versprach hoch und heilig, es nie wieder zu tun. Ausgehend von dem Fakt, daß er ihr nur zu gern glauben wollte, nahm er sich vor der eigenen Leichtgläubigkeit in Acht, doch echte Beweise existierten tatsächlich nicht. Er steckte in der Klemme: Tat sie es, stand er wie ein Vollidiot da, tat sie es nicht, war er der eifersüchtige Arsch.
Als er ihr von seinen Plänen bezüglich einer Dinnerparty erzählte, zu der er Butch, Narcissa und ein paar Leute aus dem Büro einladen wollte, hob sie auf dieselbe Weise eine Augenbraue wie ein Hund sein Bein. »Was gibt’s denn zu essen, Kannibaleneintopf?« Er stieß ein verärgertes Prusten aus. »Sehr komisch. Es ist genauso wichtig, Gäste zu empfangen und sie gut zu bewirten, wie eingeladen zu werden…« »Für mich nicht.« »Ich bitte dich lediglich, eine verfluchte Cateringfirma anzuheuern, wenn es dir zu viel Mühe macht, selbst zu kochen, dich dem Anlaß entsprechend anzuziehen und uns nicht den Abend zu versauen.« »Such dir deine verfluchte Cateringfirma selbst, Mike, und bind dir ein gelbes Schleifchen um den Schwanz.« Es war eine der Gelegenheiten, bei denen er hätte schwören können, daß sie es auf ein blaues Auge förmlich anlegte. Das Mindeste, was ihm als Ausgleich zustand, weil er es nicht tat, war die verdammte Dinnerparty, und das sagte er ihr auch. Schließlich richtete sie sie doch für ihn aus, und das ganz ausgezeichnet. Sie kochte alles selbst und ließ das Essen von einem gertenschlanken Jüngling von der Kunstakademie servieren, der den Ring im falschen Ohr trug. Mike durchlitt furchtbare Sekunden des Entsetzens, als er sich bei seinem Anblick fragte, ob sie irgendeine Nummer abziehen wollte, indem sie die Gäste von einem maskierten Schwulen mit Schwanzring bedienen ließ. Doch nein – es ging ausgesprochen gesittet und manierlich zu, und Kissy schaffte es sogar, ihre Zunge den ganzen Abend über im Zaum zu halten. Außerdem sah sie großartig aus, wenn sie vielleicht auch etwas zu viel Busen zeigte. Butch jedenfalls konnte seinen Blick kaum davon losreißen und Narcissa war ziemlich aufgebracht. »Das nächste Mal ziehst du dir was Dezenteres an, okay?«, sagte er hinterher zu ihr. »Das nächste Mal schleppst du sie alle in ein Restaurant«, gab sie zurück und warf das Kleid in den Müll. Mit ungeheurer Nachsicht holte er es wieder heraus und hängte es auf. Einer mußte sich ja wie ein Erwachsener benehmen.
Die Ehe bedeutete noch mehr Anpassung, als Mike Burke sich ohnehin vorgestellt hatte. Zum einen waren sie beide sehr verschieden. Sie hatte es gern extravagant, exotisch, ausgefallen und durcheinander – er mochte es, wenn sich die Dinge an ihrem Platz befanden. Durch die vielen Jahre des Alleinlebens waren ihm seine Angewohnheiten in Fleisch und Blut übergegangen. Genau wie bei ihr. Aber sie war verwöhnt, unbestreitbar verwöhnt durch viel Geld und einen nachsichtigen, durch Abwesenheit glänzenden Ehemann. Sie arbeitete gern bis in die Nacht hinein, so daß sie auch dann noch nicht im Bett war, wenn er selbst spät von der Arbeit kam – manchmal arbeitete sie sogar durch, bis er aufstand. Sie machte Eselsohren in ihre Bücher, um die Seite zu markieren, bis zu der sie gekommen war, und legte sie aufgeklappt auf den Bauch, so daß die Rückenfalz brach. Sie war vollkommen indiskret, was ihre Intimhygiene betraf; die geöffnete Tamponschachtel stand mitten auf dem Spülkasten des WCs im Bad. Sie bleichte und färbte sich die Haare selbst; der Chemikaliengestank trieb ihm das Wasser in die Augen, verstopfte seine Nasennebenhöhlen und hinterließ einen Geruch im Haus, als handle es sich um einen albernen kleinen Schönheitssalon mit DutzieDutzie-Namen. Er brauchte Raum für sich und hatte alles dementsprechend organisiert – es gab seinen Bereich, ihren Bereich, Dynahs Bereich –, aber die beiden ignorierten es einfach, als wären sie blind, als sähen sie die Grenzen nicht. Hätten sie keine Putzfrau gehabt, die regelmäßig bei ihnen aufräumte, wäre das gesamte Haus ein einziges chaotisches Schlachtfeld aus ihrem Fotozubehör und Dynahs Kinderkram gewesen: Stative, Skateboards, Eishockeystöcke in Dynahgröße, Rollerblades und Schlittschuhe – ihm mit ihren Ecken, Kanten und fallenartigen Riemen allesamt vage feindlich gesinnt. Kissy und seine Mutter hatten sich auf den ersten Blick verabscheut. Nun, da sie seine Frau war, reagierte Kissy auf die vernünftigen Ratschläge und Tips seiner Mutter bezüglich Haushaltsführung und Kindererziehung mit tödlichem Schweigen oder amüsiertem Gelächter, einmal sogar mit einem fröhlichen: »Ach, scher dich doch zum Teufel, Margarite.« Sie hatte eindeutig ein viel zu lockeres Mundwerk in Gegenwart von Butch und seinen Kollegen. Scheiß-drauf-hier und Verpiß-dichda mochte vielleicht die an der Kunstakademie angesagte Ausdrucksweise sein, aber aus dem Mund der Ehefrau des stellvertreten-
den Staatsanwalts klang es einfach unmöglich. Sie hörte sich an wie eine Nutte oder wie jemand, der zu viel getrunken hatte. Gesellschaftliche Verpflichtungen warf sie ohne Erklärung über den Haufen – einmal war sie zu einem von Butchs Barbecues in abgewetzten Levi’s und einem fleckigen T-Shirt erschienen, das einen deutlichen Blick auf ihre unrasierten Achselhöhlen freigab. Eine Eigenart, an die er sich zwar gewöhnt hatte, die sie aber exzentrisch wirken ließ. Lesbenmäßig. Neuerdings hatte sie eine besondere Vorliebe für Nasenringe entwickelt. In ihrer Dunkelkammer hing eine ganze Fotoreihe über nasenberingte Teenager. Mit ihren sieben Löchern im einen und drei Löchern in dem anderen Ohr hatte sie sich bereits viel zu weit vorgewagt, warnte er sie. Sollte er jemals nach Hause kommen und sie mit durchbohrter Nase vorfinden, würde er sie ihr kurzerhand brechen, dachte er bei sich. Wenn sie sich unbedingt piercen lassen wollte, gab es schließlich Stellen an ihrem Körper, wo ein oder zwei Ringe pervers genug angebracht werden konnten, um auch ihm von Nutzen zu sein. Dann war da Dynah, die ihnen nicht die Spur von Privatsphäre ließ. Das Gör mißgönnte ihm jedes bißchen Aufmerksamkeit, das er von Kissy bekam, was ohnehin nur sehr selten war. Als er sie nur gelegentlich gesehen hatte, hatte er gar nicht gemerkt, wie hyperaktiv Dynah war. Seine Mutter war der Ansicht, das Kind brauchte medikamentöse Behandlung. Burke hatte angenommen, Kissys Exmann würde keine Rolle mehr spielen oder schlimmstenfalls eine Stimme am Telefon sein, die die Kindübergabe besprach, sobald sie mit ihm verheiratet war. Statt dessen nervte Clootie ihn höllisch mit seiner ständigen Präsenz; er war wie glitschige Hundescheiße, die er den ganzen Sommer nicht von der Schuhsohle bekam. Entweder er brachte das Gör nach Hause, oder er holte es ab und saß bei einem Bier oder einer Tasse Kaffee mit Unschuldsmiene in seiner Küche und flirtete vor seinen Augen mit seiner Frau, bis Dynah endlich fertig war. Clootie hatte für eine Nacht ein Zimmer genommen, als er bei Kissy und Dynah im Cottage gewesen war, doch das bewies natürlich überhaupt nichts. Burke gewöhnte sich an, regelmäßig bei Clootie vorbeizufahren, um festzustellen, ob Kissys Wagen in der Einfahrt stand, wie auch spätabends, wenn er vorgeblich arbeitete, an seinem
eigenen Haus, um nachzusehen, ob Clooties Harley oder Benz vielleicht hinter dem Blazer geparkt waren. Er überprüfte den Parkplatz vor dem Sowerwine-Sportkomplex, um herauszufinden, ob der Blazer dort zur selben Zeit abgestellt war wie eins von Clooties Fahrzeugen. Er durchsuchte den Wäschekorb nach schmutziger Bett- und Unterwäsche, beroch sie ausgiebig nach Samenflüssigkeit oder Scheidensekret. Er durchforstete die Dunkelkammer und Kissys Fotoarchiv nach brandneuen Negativen oder Abzügen von ihrem ExEhemann. Er spielte mit dem Gedanken, die Telefone anzuzapfen, doch das war zu riskant. Jemanden ohne richterliche Verfügung abzuhören war nicht nur illegal, sondern auch ein Grund für fristlose Entlassung und bedeutete somit einen jähen Karrierestop. Er redete sich ein, daß ihr gar nichts anderes übrig blieb, als sich mit ihrem Ex halbwegs gut zu stellen, damit er keine Probleme beim Sorgerecht, bei den Alimenten oder den anderen finanziellen Transaktionen machen würde. Manche von den Typen aus seinem Büro hatten bereits ihre allsommerlichen Macho-Aktionen besprochen und geplant, doch er hielt sich mit kalkulierter Selbstbeschränkung zurück. Wer wollte schon einen Hamburger, ließ er durchblicken, wenn zu Hause ein Steak auf ihn wartete? Denn wenn es kein Steak wäre, was er zu Hause hatte, gäbe es nichts, was ihn von den anderen unterschied. Er wäre ein ebensolcher Fiesling wie sie, deren Schwänze die Geiseln vom kleinen Frauchen waren, von den Bälgern, von der Hypothek. Er hatte nicht so lange mit dem Heiraten gewartet, um sich schließlich ein Vorzeigpüppchen auszusuchen, das nichts im Hirn hatte. Eins der Dinge, die ihm an Kissy gefallen hatten, war ihre Gleichgültigkeit gegenüber Konventionen gewesen. Sie war eine Frau mit Anspruch, eine Künstlerin, für jeden von ihnen eine Nummer zu groß. Natürlich mußte sie ein wenig zurechtgebogen werden, aber das würde er schon schaffen – so oder so. Ein Baby wäre ein guter Weg, um ihrer Zeit und Energie Grenzen zu setzen, genau wie ihrem Körper. Clootie würde jegliches Interesse an ihr verlieren, sobald sie erst einmal anschwoll. Für Dynah wäre ein Geschwisterchen vermutlich auch nicht schlecht. In einem Jahr oder so – vor allem, wenn sich dann ein Baby mit im Haus befand –, könnte er Kissy vielleicht dazu überreden, den Balg zu Clootie abhauen zu lassen, der genü-
gend Kohle besaß, um sie ins Internat zu stecken oder ein Kindermädchen einzustellen. Während der beiden Wochen im Cottage hatte er Kissy so lange gevögelt – beziehungsweise es versucht – , bis sie Mullstreifen auflegen mußte, um die Blutergüsse an ihren Oberschenkeln zu verstekken. Sie wollte es auch; fast bekam er den Verdacht, sie wolle ihm etwas beweisen. Als er im August mit ihr nach Hause fuhr, ging das Ganze mit unverminderter Heftigkeit weiter. Weit und breit keine Dynah! Er fuhr zum Mittagessen heim und sie verbrachten die Zeit im Bett. Wenn er spätabends von der Arbeit kam, wartete sie auf ihn. »Sollen Grandpa und ich dich heute Abend abholen?«, fragte Junior seine Tochter. »Dann könnt ihr beide mich zum Flughafen bringen.« »Von mir aus«, erwiderte Dynah betont gleichgültig. Sie knallte ihr Skateboard auf den Boden und schoß quer durch die Küche davon. »Die hat ja fürchterliche Laune«, sagte er zu Kissy, die darauf wartete, die Tür hinter ihm zu schließen. »Hab ich gemerkt«, gab sie kurz zurück. »Deine ist auch nicht viel besser…« »Verschwinde endlich, Junior«, sagte Kissy. »Das kannst du doch ganz besonders gut.« Er streckte eine Hand nach ihr aus, aber sie wandte sich brüsk ab. »Ich will nicht, daß wir so auseinandergehen. Was ist denn los?« »Verschwinde endlich«, wiederholte sie. Dann ließ sie ihn stehen, um Dynah in die Tiefen des Hauses zu folgen. Während Junior wie im Schlaf seine Sachen packte, grübelte er über Kissys Wandlung nach. Sie war noch einmal zum Ferienhaus gekommen, sie hatten wieder einen wunderschönen Tag miteinander verbracht und dann, als Dynah im Bett war, miteinander geschlafen. Und plötzlich war sie furchtbar wütend auf ihn, anscheinend weil er weg mußte. Sie hatte ihn verlassen, sie hatte diesen behämmerten Burke geheiratet und lebte mit ihm – und jetzt war sie sauer, weil er weg mußte. Was er seit Jahren tat. Weil es sein Job war. Was erwartete sie von ihm? Daß er mit siebenundzwanzig in Rente ging und den Rest seines Lebens damit verbrachte, hinter ihr her zu hecheln wie der Teufel hinter der armen Seele?
Als sich das Flugzeug in die Lüfte erhob und über Peltry in die Kurve legte, lehnte Junior sich entspannt in seinem Sitz zurück. Das Flugzeug war die Tür zu einer Zeitmaschine, die die Welten miteinander verband. In der einen Welt stieg man ein, in der anderen aus. Er streifte Peltry genauso leicht ab wie der Bär aus der Heldensage, der seinen Pelz abwarf und plötzlich in menschlicher Gestalt, blutend und nackt, das Reich der Menschheit betrat. So wie er auch alles andere seit seinem Fast-Tod und der buchstäblichen Auferstehung mehr als früher genoß, erlebte er diese Momente des Übergangs mit neuer Intensität. Die Emotionen waren echt – es war wirklich schlimm für ihn, Dynah und Kissy zurückzulassen, besonders wenn Kissy böse auf ihn war wie jetzt – , aber so sah sein Leben nun einmal aus, und er hätte es um ein Haar verloren. Es wäre geradezu unverschämt undankbar, mehr zu verlangen, als er besaß. Auch das Camp war Bestandteil seiner noch nicht abgeschlossenen Rückkehr ins Leben. Der Geruch der Eisfläche – ein Gebilde, dessen wäßrige Ausgangsform sich nicht zu zarten geometrischen Schneeflocken verfestigt hatte sondern zu einer anderen Welt, in der extreme Lebensbedingungen herrschten, zu einer mondlichtfarbenen Ebene, knochenhart und bitterkalt – kitzelte nicht nur die Härchen in seiner Nase, sondern ließ ihn vor Erregung erschauern. Er sog den Geruch ein und behielt ihn in seinem Innern. Das Klackern von Stöcken und Puck, das Kratzen und Quietschen, wenn die stählernen Kufen die Eisdecke zerschnitten, waren für ihn wie Gesang. Er stieg in derselben frohen Stimmung in seine Sachen, die rochen, als wären sie seine zweite Haut, wie der gehäutete Bär in seinen wiedergefundenen Pelz. Er mußte dauernd grinsen oder lachen, er konnte einfach nicht anders. Die Medien umwimmelten ihn wie Maden einen Katzenkadaver. Er verkörperte das meistverehrte Klischee, das es in der Welt des Sports gab: den Profiathleten auf der Comeback-Schiene. Aus den unterschiedlichsten Zeitschriften und manchmal auch im Sportkanal starrte ihm sein eigenes Gesicht entgegen, die bläuliche Narbe an seinem Hals und die Plastikklappe am unteren Rand seines Helms, die dazu gedacht war, den nächsten Schnitt einer Kufe zu verhindern. Ein Hilfsmittel, das zu tragen er sich zuvor beharrlich geweigert hatte; in seinem Leichtsinn verließ er sich auf einen Halsschoner, der genau im entscheidenden Moment verrutscht war. Der Anblick der Narbe
erschütterte ihn ein wenig. Sie sah länger, häßlicher und viel dramatischer als in seiner Erinnerung aus. Bislang hatte er noch keine Aufzeichnung des Unfalls gesehen, aber jetzt kam er nicht mehr daran vorbei. Es war die unvermeidliche Einleitung der Fernsehreportage über sein Comeback. Fasziniert schaute er zu – war das wirklich er? Ihm fiel etwas ein, das er vergessen hatte. In dem Augenblick, als es geschehen war, hatte er den Puck verloren. Wo ist er hin? Wo steckt er bloß, der verdammte Puck? Er erinnerte sich deutlich an den Gedanken. Und er erinnerte sich an die Erleichterung, die ihn für den Bruchteil einer Sekunde durchflutet hatte, als er an der Peripherie seines Gesichtsfeldes etwas Schwarzes entdeckte. Unter ihm. Dann die Erkenntnis, daß die Schwärze sich ausbreitete, daß sie keine Begrenzung besaß und seltsam flüssig war, als wäre der Puck geschmolzen. Jetzt, in der Aufzeichnung, sah er den Puck – einen einsamen kleinen Punkt, die einzige andere schwarze Stelle – am äußersten Bildrand, während die Kamera zu ihm herumschwenkte, als er langsam auf die Eisfläche sank. Die Bilder verfolgten ihn bis in seine Träume hinein. In einer Art Traumaufzeichnung begann er zu schreien Wo ist er hin? Wo steckt er bloß, der verdammte Puck? und sah ihn in seinem eigenen Blut verschwinden. Aber das spielte sich glücklicherweise nur nachts in seinen Albträumen ab, und selbst dann war ihm bewußt, daß er lediglich träumte. Er spielte mit unerbittlicher Brillanz, aggressiver als früher, als hätte das Sterben das Wesentliche aus allem herausgefiltert, was er je über Eishockey gelernt hatte. Wenn er seinen Teamkameraden etwas zubrüllte, lauschte er der eigenen Stimme, seiner Eishockeystimme, mit tiefem Staunen darüber, daß sie überhaupt noch zu hören war. Die ›Stimme der Schildkröte‹ hatte er sie insgeheim getauft. Das Netz war der Panzer auf seinem Rücken, der wattierte Schutzanzug, der seinen Körper umgab, ließ ihn – laut Dynah – wie einen Ninja Turtle aussehen. ›Ninja Goalie‹ pflegte sie ihn zu nennen. Dein Stock und Dein Puck, wandelte er den biblischen Vers Dein Stock und Dein Stab zunächst scherzhaft für sich ab, doch als er die Pfosten berührte, um sich zu zentrieren, stellte er fest, daß er die Worte wie ein Mantra immer wieder vor sich hin murmelte. Dein Stock und Dein Puck sind mir Beistand und Trost.
Die Drovers hatten einen neuen Coach, der vierzehn Jahre lang Scheißhaufen in der unteren Spielklasse auf Hochglanz poliert hatte. Er hieß Gunnie Ringgren und sein gesamtes Interesse galt ›Dem Spiel‹. Seiner Ansicht nach war es noch nie seine Aufgabe gewesen, den Babysitter für erwachsene Männer zu spielen. Hatte ein Spieler Privatprobleme, oder geriet er sonst wie in Schwierigkeiten, war es ganz allein seine Angelegenheit. Coach Ringgren hatte seinen Leuten schon immer eingebleut, ein Profi lade seine persönlichen Probleme vor den Toren des Stadions ab. Doch jetzt, in seiner ersten Saison als Manager innerhalb der NHL, hatte er es zum ersten Mal mit Privilegierten zu tun, mit Männern, die besser bezahlt wurden als er und auch noch darüber im Bilde waren. Das Management hatte ein Team auf die Beine gestellt, das – den mitgebrachten Talenten zufolge – ein ausgezeichneter Club hätte sein sollen, für das erträumte Ziel jedoch nicht gut genug war. Die Play-offs, mit anderen Worten. Der Verlust ihres eine Million Dollar schweren Tormanns in der vergangenen Saison hatte sich hinsichtlich der Play-offs als katastrophal erwiesen, wenn er in der aktuellen Saison auch zu einer deutlichen Steigerung der Ticketverkaufszahlen führte. Die Leute kamen in Scharen, um den Burschen zu sehen, der von den Toten auferstanden war; das anschließende Abspulen ihrer Privatvideos seines Unfalls schien ihren Sinn für das Makabre zu entfachen. Auch das Management wollte Clootie spielen sehen. Der Tormann hatte im Trainingslager hervorragende Leistungen gezeigt, was gewiß ein gutes Omen war, doch Ringgren bekam bei seinem Anblick jedes Mal eine Gänsehaut. Einmal hatte er sogar geträumt, er wäre selbst wieder auf dem Eis gewesen und hätte versucht, den Puck an Clootie vorbeizuschlagen – aber der Puck war geradewegs durch den Tormann hindurchgegangen; er, Gunnie, hatte es mit eigenen Augen gesehen. Als wäre Clootie substanzlos gewesen, ein durchscheinender Geist. Dann war Gunnie das Eis plötzlich seltsam glitschig vorgekommen, und als er nach unten geschaut hatte, hatte er eine leuchtend rote Blutlache unter seinen Kufen entdeckt. Noch jemand bereitete Ringgren Kopfschmerzen. Er hatte schon eine Menge russische und andere Spieler aus dem Ostblock in die Finger bekommen, und die meisten der ehemaligen Rotsöckchen klemmten sich normalerweise dahinter, sobald sie einmal kapiert
hatten, daß sie für ihr Geld schuften, schwitzen und mit anderen konkurrieren mußten und nicht mehr in einer Sozialistenliga spielten, in der es pro Woche nur ein oder zwei Spiele gab. Dieses Exemplar aber stellte einen wahren Albtraum für die Öffentlichkeitsarbeit dar. Zu Beginn jedes neuen Jobs bekam man gewöhnlich immer irgendeine unangenehme Sache verpaßt, die es zu erledigen galt. In diesem Fall hatte das Management deutlich gemacht, Ringgren müsse entweder dafür sorgen, daß in der Unterhose des Russen von nun an Flaute herrsche, oder den Mann an einen anderen Club verschachern. Da er ein Mensch war, für den Sex – abgesehen von einer Woche in seinem siebzehnten Lebensjahr vielleicht – auf der Wichtigkeitsskala seit eh und je einige Klassen hinter Eishockey, Fliegenfischen, Baseball, Bridge und den Romanen von Louis L’Amour rangierte, tappte Gunnie vollkommen im Dunkeln, wie er es anstellen sollte. »Was erwarten die von mir? Soll ich dem Kerl etwa ein Vorhängeschloß an den Reißverschluß hängen?«, beschwerte er sich bei seiner Frau. »An die Knopfleiste«, erwiderte die. »Die jungen Leute tragen heutzutage nur noch Hosen mit Knöpfen. Faulenzerei arbeitet dem Teufel in die Hände, Gunnie. Der Junge braucht ein Hobby.« Gunnie zitierte den Russen in sein Büro. »All diese Frauen, die dich ständig verklagen, sind eine ziemlich peinliche Sache für uns«, fing er vorsichtig an. »Ich weiß, daß du zwei Drittel davon nicht mal kennst und sie nur scharf auf die Kohle sind, aber trotzdem – das Management versucht, diesen Sport als Familienunterhaltung zu verkaufen. Bei uns beweist man, daß man ein Mann ist, mit seinem Stock und mit seinen Fäusten, nicht mit seinem Schwanz. Wir sind hier nicht in der NBA, wo ein Rudel Cheerleader in Hot-Pants die Hälfte der Zeit mit seinen weiblichen Reizen wedelt. Dieser Sport besitzt einige Tradition. Du kommst von woanders, du warst ziemlich jung, als du übergelaufen bist – siebzehn, stimmt’s? – , und ich verstehe sehr gut, was einem jungen Burschen so alles den Kopf verdrehen kann. Aber jetzt mußt du dich auf das Spiel konzentrieren und deine Energie da hineinstecken, nicht in irgendwelche Bettgeschichten. Wenn du’s so nötig hast, warum heiratest du dann nicht einfach?« »Hoot hat auch versucht, verheiratet zu sein«, rief Deker ihm in Erinnerung, »sogar nachdem seine Frau sich von ihm hatte scheiden
lassen. Und jetzt hat sie irgendeine Pißnelke als Mann. Viele von den Jungs sind geschieden…« »Es ist doch bloß BUMSEN!«, rief Gunnie erbost. »Es ist nicht das A und O! Krieg das endlich in deinen Schädel!« Er schob ein Anfängerset zum Herstellen von künstlichen Fliegen über den Schreibtisch. »Meine Frau meint, du brauchst ein Hobby.« Deker begutachtete den Inhalt und bedankte sich höflich. Von Gewissensbissen wegen seines Ausbruchs geplagt, fügte der Coach noch ein Anglermagazin bei, in dem sich ein Artikel über geeignete Fischgründe befand. Junior fand Deker auf einer Bank in der Umkleidekabine vor, auf den Knien ein Anfängerset zum Fliegenfischen, vor sich auf dem Boden ein aufgeschlagenes Anglermagazin. »Hat mir der Coach gegeben«, erklärte Deker. »Was ist ein A und O, Hoot?« »Das, worauf’s ankommt. Den Pokal gewinnen. Mit jemand ins Bett gehen.« Die Worte waren draußen, ehe Junior darüber hatte nachdenken können, ob es klug sein mochte, Deker den Begriff auf diese Weise zu erläutern. Er selbst versuchte momentan, an keins von beidem zu denken. Deker seufzte. »Damit fängt man Fische, oder?« Er hielt mehrere noch unbestückte Angelhaken in die Luft. Junior bestätigte die Richtigkeit seiner Annahme. Der Russe drehte die Haken übervorsichtig in der Hand und piekte sich prompt in den Finger. »Huch – sind die aber scharf! Ich hab noch nie geangelt.« »Vielleicht solltest du’s auch besser lassen«, meinte Junior. »Mit solchen Haken jedenfalls. Die Idee hinter dem Ganzen ist vermutlich die, daß man bis zu den Eiern in einem eisigen Gebirgsbach steht und vor Kälte zu taub ist, um mitzukriegen, wenn man sich selbst an der Angel hat! Du sollst mit Gunnie fischen gehen?« Vielleicht war ein Deker, der sich in frostigen Gewässern die Nüsse abfror, doch ein kleiner Schritt in Richtung Rettung der Menschheit. »Ich suche mir ein Hobby«, verkündete Deker. »Die Frau vom Coach hat zu ihm gesagt, das wäre gut für mich.«
»Ausgezeichnet!« Junior klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Ein Mann braucht ein Hobby. Was hältst du von ein paar Runden auf dem Golfplatz am Samstagmorgen?« Achtzehn Golflöcher konnten problemlos auf sechsunddreißig verdoppelt werden, um den Nachmittag auszufüllen, und für Sonntag fand er garantiert auch irgendeinen Begleiter. Beim Golf konnte man ganz besonders gut seine Zeit verschwenden, außerdem mußte er dabei – anders als bei den Therapiesitzungen – niemals heulen und war mittlerweile geübt genug, um bei einem Pro-Am-Turnier mitzumachen. Vielleicht stünde ihm nach seinem Rückzug vom Eishockey sogar eine zweite Karriere als Golfer offen. Doch zunächst mußte er früher oder später in das schiefe kleine Haus zurück, das er immer noch gemietet hatte, das nach wie vor schwach nach totem Drecksvieh roch. Oder in ein Hotelzimmer, wenn er mit der Mannschaft auf Reisen war. In der ersten Stunde zu Hause oder wo immer er sich gerade aufhielt, war es angenehm, einfach nur er selbst zu sein. Anschließend rief er bei der Familie an. In der wirklichen Heimat. In Peltry. Danach ging es ihm nicht mehr ganz so gut. Er verbrachte viel Zeit vor Badezimmerspiegeln, um die Narbe an seinem Hals zu betrachten. Dynah hatte über seinem Bett in dem schiefen kleinen Haus Fotos von sich und Kissy aufgehängt, über deren Anblick ihm jede Nacht die Augen zufallen durften. Er hatte daran gedacht, Frauen mitzubringen, wußte aber genau, daß er es niemals fertig bringen wurde. Nicht, wenn er jedes Mal das Zahnlückengrinsen seiner Tochter sah, sobald er die Augen aufschlug. Sein Vertrag beinhaltete das Recht auf ein Einzelzimmer, aber für die Auswärtstrips hatte er einen ständigen Zimmergenossen gefunden, einen Mormonen namens Waltrip. Das schnauzbärtige Walroß trank nicht, rauchte nicht, hurte nicht hinter dem Rücken seiner Ehefrau herum und war allzeit bereit, sich nach einem Putting Green oder einem Golfplatz umzusehen. Begann er erst einmal mit seiner endlosen Litanei über die Bibel und die Kirche, Jesu Christi, Der Heiligen, Der Letzten Tage, ersetzte Wally jede Schlaftablette, und während der Busfahrten führte Junior so manche heftige, genüßliche theologische Grundsatzdebatte mit ihm. Wally versprach jedes Mal, sich Juniors Standpunkt ernsthaft durch den Kopf gehen zu lassen,
während Junior sich mit derselben Ernsthaftigkeit durch die Mormonen-Bibel quälte. Wallys Gewissen war mit übertriebener Pingeligkeit gesegnet, so daß er sich nach jedem noch so kleinen Fehlpaß oder verpatztem Torschuß die schlimmsten Selbstvorwürfe machte. Betraten sie ein neues Hotelzimmer, stieß er ebenso ausnahmslos binnen Minuten auf einen Fernsehkanal mit ununterbrochenen Werbesendungen, von denen er nicht mehr wegzukriegen war. Er hatte die etwas nervige Angewohnheit, einem von den beißend witzigen und ultraschlagfertigen Bemerkungen zu erzählen, die er in einem kritischen Moment seines Lebens hätte machen sollen – wie beispielsweise damals, als sein nichtsnutziger Schwager den Rasenmäher mit vollkommen zerfledderten Schneideblättern zurückgebracht hatte, ohne sich auch nur im Geringsten deshalb zu schämen. Trotzdem war Wally okay – weder ein Schwein noch in der analen Phase stecken geblieben –, einfach ein ganz normaler Typ, der zwar manchmal die Luft im Badezimmer verpestete, einem ansonsten jedoch nicht auf die Nerven ging. Er hatte weder eine Schwäche für Schwulenwitze noch für die dämlichen Scherze, wie sie in Sommerlagern üblich waren. Vor allem aber wäre er extrem pikiert gewesen, hätte Junior sich auch nur ansatzweise wie ein Wüstling benommen. Das war sein Leben, sagte Junior sich immer wieder, ein Leben, das er zurückbekommen hatte, und ein Bestandteil dieses Lebens war Einsamkeit. Hatte er das Gefühl, von Selbstmitleid übermannt zu werden, wurde es Zeit, sich zur nächsten pädiatrischen Krebsstation zu begeben und ein paar kranke Kinder zu besuchen. Er war gezwungen zu improvisieren. Das Therapieziel hatte er vermutlich nicht erreicht; Sarah hatte gemeint, sie wären so weit gekommen, wie er zu gehen bereit gewesen sei. Sein Verhalten Kissy gegenüber wäre nicht von treuer Ergebenheit, sondern von Besitzdenken gesteuert worden. Er war es leid, über seine Motivation nachzugrübeln. Er wußte nur, daß er noch keiner Frau begegnet war, die solche Gefühle in ihm wecken konnte wie Kissy, und er wollte nicht nach einer suchen. Sein Dad hatte Dynah an Thanksgiving vorbeigebracht. Wie zu erwarten war sie eingeschnappt und wütend gewesen, weil ihre Mutter nicht mitgekommen war. Wieder allein, dachte er über die Veränderung nach. Da er schon so oft abgereist und zurückgekommen war,
hätte er sich leicht vormachen können, es sei gar nichts geschehen. Doch diesmal hatte Kissy Dynah nicht bei ihm abgeliefert und war bei ihnen geblieben. Und wenn er Weihnachten nach Hause fuhr, würde sie ihn nicht am Flughafen erwarten. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen, mit der eigenen Frau Ehebruch zu begehen. Ohne darüber zu sprechen, was sie taten, ohne mit einem Wort zu erwähnen, daß sie mit einem anderen Mann verheiratet war. Sie hatten es einfach getan. Nicht wie ein altes Ehepaar, das die übliche Routine vollzog, sondern wie Fremde, die gemeinsam von einer Klippe sprangen. Und dann war sie plötzlich wütend geworden. Er glaubte nicht, daß sie ihn wirklich wegen Mike Burke verlassen hatte oder daß sie auch nur eine Spur von Liebe für den Kerl empfand. Dennoch war sie gegangen. Vielleicht hatte sie es tatsächlich in einem Moment geistiger Umnachtung getan, aber was, wenn nicht? Wenn sie nur auf einen Anlaß gewartet hatte, um ihn verlassen zu können? Man brauchte sich bloß anzusehen, durch wen sie ihn ersetzt hatte, und schon hörte sich diese Erklärung überaus plausibel an. Offenbar war er einer Selbsttäuschung erlegen, was das gute Funktionieren ihrer Abmachung betraf. Bis zu dem Unfall hatte er sich eingeredet, sie wäre zufrieden mit ihrem Leben gewesen: ein ständiger Wohnsitz in Peltry, was sie beide in Dynahs Sinn für das Beste hielten, mit seiner Familie als Unterstützung in der Nähe. Aber seine Abwesenheit, der sexuelle Entzug, mußte schlimmer für sie gewesen sein, als er angenommen hatte. Selbst die aufwallende Eifersucht bei dem Gedanken, daß sie ausgerechnet bei Pißnelke Befriedigung gesucht hatte, konnte den kleinen, aber bedeutsamen Trost nicht schmälern, daß es ihr nicht gelungen war, denn sonst wäre sie nicht wieder bei ihm gelandet. Trotzdem quälte ihn die Ungewißheit, ob Pißnelke womöglich nicht der Einzige gewesen sein mochte. Gut – sie hatte noch einen zugegeben, damals während seiner Einstiegssaison, aber hatte es noch mehr gegeben? In jeder Saison einen neuen vielleicht? Unterdessen übte er sich in stoisch zölibatärer Lebensführung und stellte neue Rekorde in Selbstbefriedigung auf. Er dachte an Deker, der schwitzend, mit gerunzelter Stirn und zerstochenen, geschwollenen Fingern über seiner Anglerbox saß. Ein Mann braucht ein Hobby. Seine Hand legte sich um seinen Schwanz. Vor seinem geistigen
Auge erschienen die Weiten des Golfplatzes, eine geisterhafte, schneebedeckte Mondlandschaft, so makellos wie die nackte Haut einer Frau. Das Fairway. Er sah, wie er den bloßen Fuß aufsetzte, bereitete sich auf den Abschlag vor und folgte im Geiste dem Flug des Balls – sogar im Moment der Explosion. Zischhhhh… Ein stummer, bebender Krampf, ein kurzes Verspritzen von gewichtslosem Weiß. Heiligabend zu Hause. Mit seinem Vater und Ida, mit Mark und seiner neuen Freundin Sandy; mit Bernie und ihrem Neuen, Yuri, wieder ein Russe, den sie über Mark kennen gelernt hatte; mit Casey und Dynah und Kissy – fast wie in alten Zeiten, beinah perfekt. Pißnelke ließ sich nicht blicken und erschuf so die Illusion, es gäbe ihn nicht, doch Kissy war einladend wie Bodenfrost. »Geht’s dir gut?«, erkundigte er sich im Schutz des Radaus, den die Kinder veranstalteten. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Hmhm.« Und zog die Hand unter seiner hoffnungsvollen Berührung zurück. Da Dynah über Nacht blieb, mußte Kissy sie am nächsten Tag abholen, damit sie auch mit Mike und ihrer Mutter für ein paar Stunden Weihnachten feiern konnte, wurde anschließend aber von Kissy zurückgebracht, um den Rest der Zeit bei Junior zu sein. Seine Scherze, seine sehnsüchtigen Blicke, seine vorsichtigen Annäherungsversuche – all das blieb ohne Erfolg. Sie schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit erst, als es um die Terminabsprachen ging. »Ich halt das nicht mehr aus«, platzte er heraus. »Du fehlst mir so sehr…« Sie klappte den Terminkalender zu und schob die Kappe auf ihren Stift. »Kissy…« »Hör auf damit«, sagte sie kalt. »Fang gar nicht erst an.« Es war lange her, daß er sich vollaufen lassen wollte, daß er den unstillbaren Drang zum Kaputtmachen spürte. Aber jetzt war er plötzlich durstig, sehnte er sich nach dem abgehobenen, halb betäubten Zustand nach einem Joint, wollte er einen Hund umbringen und seinen Kadaver von einer Brücke stoßen. Doch da war ein kleines Mädchen, das ihn brauchte, ein kleines Mädchen, das wochenlang auf ihn gewartet hatte. Am Tag seiner Abreise mußte er Dynah zu-
rückbringen. Pißnelke erschien in der Tür. Pißnelke legte seinen Arm um Kissy. Sie stand steif da, als wäre dieser Arm wie eine Eisenkette, die sie hinunterzog. Pißnelke lächelte selbstzufrieden. Sie gehört mir. Und ich werde sie auch heute Nacht wieder bumsen, einfach nur, weil es mein Recht ist. Die Fotoserie über Ruth nahm sie voll und ganz in Anspruch. Sie arbeitete daran, sobald Dynah im Bett und bevor Mike von seiner Sonderschicht zurück war. Neuerdings fuhr er fast jeden Abend noch mal ins Büro. Sie hörte nicht auf, wenn er nach Hause kam, arbeitete noch, wenn er schlafen ging, und war selbst dann nicht ganz fertig, wenn sie Dynah für die Schule wecken mußte. Manchmal waren die Resultate fantastisch, manchmal geradezu grauenhaft – je nachdem, wie sehr sie sich von ihren Gedanken ablenken ließ. Nachdem Mike zur Arbeit gefahren war, legte sie sich angezogen auf Dynahs Bett und stand erst kurz vor ihrer Rückkehr wieder auf. Dann machten sie sich auf den Weg zu Juniors Haus, wo Kissy schwimmen und Dynah tun konnte, wonach ihr gerade der Sinn stand: schwimmen mit ihrer Mutter oder ein paar Runden mit Dunny auf dem Eis. Juniors Vater wohnte jetzt in dem Apartment über der Garage, um während dessen Abwesenheit auf das Haus aufzupassen. Manchmal entschied Dynah sich für beides, so daß Dunny sie erst nach Hause brachte, nachdem Kissy vorgefahren war, um irgendeine Mahlzeit zusammenzukochen. Mike beklagte sich mit keinem Wort. Vermutlich erleichterte es ihn, sich den Großteil der Zeit weder mit ihr noch mit Dynah herumärgern zu müssen. Bis zu dessen Schließung über die Wintermonate hielt er sich an den Wochenenden auf dem Golfplatz auf und spielte anschließend während der kalten Jahreszeit in Butch McDonoughs City League Basketball. Sie konnte sich hundertprozentig darauf verlassen, daß er nach seiner Heimkehr von der Arbeit bereits wieder mit einem Fuß draußen war. Manchmal trank er in einem durch. Wenn sie Glück hatte, kippte er um, ehe er in Stimmung kam. Oder sie schaffte es, ihn mit Mundarbeit abzuspeisen, bevor er betrunken genug war, um mehr zu verlangen. Es entwickelte sich zu einem regelrechten Eiertanz. Sie stellte die verblüffende Fähigkeit an sich fest, ihren Geist unter seiner Berührung von ihrem Körper abspalten zu können. Während sie ununterbrochen Fotos schoß, entwickelte und vervielfältigte, ging ihr gelegentlich durch den Kopf, wie wenig
nach außen hin von allem sichtbar war. Niemand, der sie, Mike oder sie beide zusammen sah, hatte ihre dunklen Geheimnisse auch nur ansatzweise erahnt. Manchmal, wenn vor Erschöpfung ihre Schutzmauer fiel, schlich Junior sich in ihre Träume hinein, und sie war wieder mit ihm zusammen, in ihrem alten Schlafzimmer, unter dem Wandbehang aus Familienfotos – genau wie es früher gewesen war. Ihre gemeinsame Geschichte lief vor ihrem inneren Auge ab. Nur sie selbst sahen anders aus, jünger und weniger vom Leben gezeichnet. Wie zwei Menschen auf einer abgegriffenen Fotografie schienen sie in einem fernen Land eines anderen Erdteils zurückgeblieben zu sein. Unter den Familienfotos befand sich auch das von Ruth, das die Zeitung gleich nach ihrem Unfall veröffentlicht hatte. Allein dieses Bild hätte ihr verraten müssen, daß es sich um einen Traum handelte, denn es hatte sich niemals in dem Haus befunden und schon gar nicht an dieser Wand. Sie konnte es nicht ansehen. Sie blickte auf Junior hinab, auf den weißen Strich quer über seinen Hals, unter dem es heftig pochte. Er hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht war glänzend naß vor Schweiß, seine Haut leichenblaß. Er warf den Kopf hin und her und begann zu schreien. Sie glaubte ihn in sich zu spüren, doch auch das war nur ein Traum. Er war nicht wirklich da, er war weit, weit weg. Im echten Leben rief er sie von Gott weiß wo aus an, von welcher anderen Existenzebene, welcher Parallelwelt auch immer. Seine Stimme klang wie eine Botschaft aus dem Reich der Toten. »Bist du okay? Paßt du auch gut auf dich auf?« »Frag lieber nicht«, gab sie zurück. \ 32 [ »Wir müssen reden«, sagte Mike. Sie saßen in der Küche. Dynah war soeben aus dem Haus gestürzt, um den Schulbus noch zu erwischen. »Wir reden überhaupt nicht mehr.« Sie schaute von der Zeitung auf. Er beugte sich vor, nahm sie ihr aus der Hand. Dann warf er einen Blick auf die Küchenuhr und wappnete sich gleichzeitig gegen den leisen Schrei in seinem Kopf, den kleinen weißen Hasen, der unablässig quiekte. Ich komme zu spät. Ich komme zu spät…
»Wie bitte?«, fragte sie. »Du sollst mir zuhören.« Er rückte mit seinem Stuhl näher an sie heran und nahm ihre Hände. In einem Tonfall, den er für die Stimme der Vernunft hielt, fuhr er fort: »Wir arbeiten zu viel. Beide. Wir müssen ein paar Abstriche machen…« Ihr war urplötzlich zum Heulen zumute. Rasch entwand sie ihm ihre Hände, um die Tränen wegzuwischen, die sie nicht mehr fortblinzeln konnte. »Ich liebe dich«, erklärte er. »Ich will, daß diese Ehe funktioniert.« Sie hätte am liebsten laut gelacht. »Sie funktioniert doch. Wir arbeiten daran, hart, zu viel, ganz wie du gesagt hast, Mike. Ich glaube nicht, daß ich dich überhaupt mag, von Liebe ganz zu schweigen.« Er starrte sie an wie vom Donner gerührt. Sein Mund ging auf und wieder zu, sein Gesicht wurde leichenblaß, nahm einen gequälten Ausdruck an. »Was hab ich denn falsch gemacht, zum Teufel?« »Daß du mich wie eine Hure behandelst, zum Beispiel. Meinst du, es macht mir Spaß, jedes Wochenende von einem Kerl im Vollrausch mißhandelt zu werden?« Nach längerem, beklommenen Schweigen fragte er zögernd: »So kommt das also bei dir an?« Sie wandte sich von ihm ab. Halt die Klappe, Arschloch! Der Kaffee schmeckte nach Ammoniak. Sie schüttete ihn weg und spülte die Glaskanne aus. Ihr ganzer Mund zog sich unter dem ekelhaften Geschmack zusammen. Vielleicht waren die Bohnen alt und verdorben, vielleicht mußte die Kaffeemaschine gereinigt werden – woran es auch lag, sie mußte etwas dagegen tun. Sie umklammerte die Kanne mit aller Kraft, um dem Impuls zu widerstehen, sie ins Spülbecken zu schmettern und in einen Haufen glitzernder Glassplitter zu verwandeln. »Es tut mir leid«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Großer Gott, Schatz – es tut mir furchtbar leid. Ich dachte, es wäre für uns beide nur eine Art Spiel. Es lag am Alkohol – ich wollte dir ganz bestimmt nicht wehtun.« »Du trinkst zu viel.« »Stimmt«, gab er hastig zu. »Ich hab’s in letzter Zeit etwas übertrieben, die viele Arbeit, der ganze Druck – du weißt ja nicht, wie das ist. Ich werde die Trinkerei zurückschrauben.«
Er trat hinter sie, massierte ihren Nacken und gab ihr einen Kuß auf den Hals. »Und dann?« »Sollen wir zu einer Eheberatung gehen? Einverstanden – die Zeit dafür kann ich schon irgendwie rausschinden, außerdem macht das heutzutage fast jeder…« »Kannst du denn gar nichts tun, ohne vorher sicher zu sein, daß andere es auch tun?« »Doch, natürlich kann ich das, sicher. Kissy, du mußt mir helfen, ich brauche dich, ich brauche deine Unterstützung, wir müssen beide daran arbeiten…« Ja, was das Arbeiten betraf, waren sie beide überaus gut, dachte sie bei sich. »Was hältst du von einem Baby? Bei mir tickt die biologische Uhr«, versuchte er zu scherzen. Sie lachte nicht. Er machte so selten einen Scherz, daß sie es sich durchaus erlauben konnte, ihn auch diesmal zu ignorieren. Sie war noch nie der Ansicht gewesen, ein Kind könne die magische Gesundung einer unglücklichen Ehe bewirken, und daß man ein Kind aus einem anderen Grund, als ihm einfach das Leben zu schenken, in die Welt setzen sollte, glaubte sie ebenfalls nicht. Andererseits wollte auch sie schon seit Jahren noch ein Baby und wußte sehr gut, welche transformierende Kraft ein Kind auf manche Männer ausübte. Dynah hatte Junior völlig verändert. Mike wollte sich bemühen. Er war reumütig, er war bereit, sich zu ändern, und das tat er auch – sofort. Er hörte auf zu trinken. Und stellte lachend fest, wie gut er sich dabei fühlte. Er hängte einen Kalender – den Badenixen-Kalender von Sports Illustrated, den Butch ihm zu Weihnachten geschenkt hatte – an die Schlafzimmerwand und zeichnete mit Rotstift ihre fruchtbaren Tage ein, die sie zuvor mit der Fieberthermometermethode bestimmt hatte. Er ließ seine Samenfäden testen – beziehungsweise hatte es bereits tun lassen, bevor er das Thema zur Sprache brachte – und war einer normalen Spermienanzahl versichert worden. Er trug Boxershorts, weil knapp sitzende Unterhosen die Samenproduktion angeblich hemmten. Sie hatte nie öfter als zweimal in der Woche und nicht an zwei aufeinander folgenden Tagen Geschlechtsverkehr. Falls es nicht klappen sollte, erklärte er ihr, könnten sie es mit einem Verfahren versuchen, bei
dem die Spermien konzentriert und der zukünftigen Mutter per künstlicher Befruchtung eingepflanzt wurden. Kissy kam sich schon wie eine Zuchtstute vor. Das Erste, was sie nach einem positiven Schwangerschaftstest tun würde, dachte sie, war, den verflixten Kalender herunterzureißen. Während der Spielpause des All-Star-Teams wohnte Dynah bei Junior. Um sich von dem Bewußtsein abzulenken, daß er sich ganz in der Nähe befand, verbarrikadierte Kissy sich hinter der Tür ihrer Dunkelkammer. Irgendwann war es sechs Uhr morgens. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, ihre Shorts und ihr T-Shirt waren so naß vor Schweiß, als wäre sie durch einen Wolkenbruch gerannt. Aufgrund des Flüssigkeitsmangels am ganzen Körper zitternd, marschierte sie geradewegs zum Kühlschrank und trank Orangensaft direkt aus dem Karton. Ihre morgendliche Schwimmrunde in Sowerwine hatte sie verpaßt. Obwohl sie todmüde war, würde sie ohne das gewohnte Körpertraining nicht schlafen können. Sie könnte zu Juniors Haus fahren und sich mit ihrem Schlüssel Einlaß verschaffen, um den Swimmingpool zu benutzen und anschließend mit Dynah zu frühstücken – und mit Junior. Passieren konnte nichts, denn Dunny wäre auch dort. Nichts deutete daraufhin, daß schon jemand wach war. In der Schwimmhalle war alles still, die Wasseroberfläche einladend ruhig. Mühelos glitt ihr Körper hinein. Vierzig Minuten später waren ihre Muskeln geschmeidig und voller Kraft, aber sie selbst fühlte sich immer noch wie unter Strom. Sie duschte, stieg wieder in Levi’s und T-Shirt, nahm ihre Stiefel in die Hand und ging barfuß in die Küche, um sich Kaffee und Toast zu machen. Jemand hatte bereits Kaffee gekocht, und in der Luft hing der schwache Duft eines Frühstücks, das längst stattgefunden hatte, wie ihr ein kurzer Blick in die Spülmaschine verriet: Müslischälchen, Orangensaftgläser, mit Butter und Toastkrümeln verschmierte Messer. Ihr fiel wieder ein, daß es ein ganz gewöhnlicher Schultag war. Dunny mußte aufgestanden sein, um Dynah in den Bus zu setzen. Oder um sie zur Schule zu bringen und anschließend irgendwelche Einkäufe zu erledigen. Den Blazer hatten sie nicht sehen können, weil er auf der anderen Seite des Hauses, hinter dem Flügel mit der Schwimmhalle stand. Sie ging nach oben und warf routinemäßig einen Blick in Dynahs Zimmer. Der
Raum war leer, das Bett genau so gemacht, wie sie es Dynah beigebracht hatte – alles schön glatt ziehen, dann die Tagesdecke oben drüber, bloß nichts an den Seiten hineinstecken. Junior lag wach auf dem Rücken, einen Arm unter dem Kopf. Auf einem Tablett neben ihm stand ein leeres Saftglas. »Hi«, sagte sie. »Schön geschwommen?« »Hmhm.« Er hob den Kopf, rückte ein Stück und schlug die Bettdecke zur Seite. »Komm, wärm dich auf.« Sie fröstelte tatsächlich, obwohl es keineswegs kalt im Raum war. Rasch schlüpfte sie neben ihn. Sein Körper war bettwarm. »Lust auf ein bißchen Nacktbaden gehabt?« »Ja. Ich hatte ganz vergessen, daß heute Schule ist. Eigentlich wollte ich hinterher mit Dynah frühstücken.« »Sie hat mir Orangensaft raufgebracht und gemeint, ich könnte ruhig weiterschlafen.« Er legte eine Hand um ihren Hinterkopf und zog sie an seine Brust. Sie lauschte seinem Herzschlag – ein außerordentlich beruhigendes Geräusch. Er war nackt und kam ihr verblüffend ganz vor, voller Substanz, anschmiegsam und weich wie ein lebendiger Teddybär. »Du bist ja total aufgedreht«, stellte er fest. »Du zitterst am ganzen Körper. Hast du irgendwas genommen?« »Nur die ganze Nacht gearbeitet.« Sie setzte sich auf und begann zu erzählen. Junior hörte aufmerksam zu, stellte jede Menge Fragen, brachte sie wiederholt zum Lachen. Es beruhigte sie nicht im Geringsten, über ihre Arbeit zu sprechen, im Gegenteil – sie wurde immer aufgeregter. Sie sprach viel zu schnell und lachte zu laut über nichts, bis Junior schließlich eine Hand nach ihrer Wange ausstreckte und sie merkte, daß ihr das Wasser über Gesicht und Hals lief und in dem Spalt zwischen ihren Brüsten verschwand. Sie mußte noch mehr lachen. Seine Hand legte sich erneut um ihren Kopf und begann sanft zu drücken. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich von ihm hinunterziehen. Seine Hand legte sich auf ihren Schenkel. Sie erschauerte. Als sein Mund ihre Lippen streifte, machte sie sich von ihm los. Er seufzte, setzte sich auf und schlug die Bettdecke zur Seite. »Kommst du mit in die Wanne?«
Sie wischte sich mit den Fingerspitzen über das Gesicht, mit dem Handrücken über die Nase. »Ja, gut.« Seine Erektion flaute langsam ab, während er im Badezimmer herumfuhrwerkte. Er setzte das Jacuzzi-Becken in Gang, legte Handtücher zurecht, stellte eine Flasche Badeöl bereit. Inzwischen zog sie sich etwas unbeholfen – vielleicht eher herausfordernd – aus. Er reichte ihr eine Hand, um ihr beim Hineinsteigen zu helfen. Beim Anblick ihres nackten Körpers in der Wanne, ihrer vom Wasser umspülten Knöchel war er sofort wieder erregt. Er stieg ebenfalls hinein, setzte sich hin und zog sie an sich, wobei sein Schwanz wie selbstverständlich gegen ihren Haarbusch stieß. Sie schaute zu ihm hoch. Er nahm ihre Hand, legte seinen Schwanz hinein und sie lachte – ganz ohne Hysterie diesmal. Das Wasser um sie herum wogte auf und ab. Sie hielten sich bequem im Arm, gaben sich hin und wieder einen oberflächlichen, kleinen Kuß, drückten sich von Zeit zu Zeit. Ihre Haut färbte sich rosa. Er zupfte an ihren Schamhaaren, bis sie in dünnen Strähnen abstanden, von denen die Schaumbläschen perlten. Sein Schwanz trieb schwerelos im Wasser. Plötzlich tauchte sie unter und nahm ihn sanft zwischen die Lippen. Unwillkürlich schloß er unter der unerwarteten feuchtwarmen Umklammerung ihres Mundes, dem Pressen und Ziehen die Augen. Etwas später begann sie unter ihm um sich zu schlagen, als würde sie ertrinken und er sie hinunterdrücken. Es war, als versänken sie gemeinsam im Nichts. Er konnte keine Kissy mehr in ihren Augen entdecken, keine noch so kleine Spur von ihr, sah nur noch die schwarzen Kerne ihrer Pupillen, so riesengroß wie ein Kanonenloch. Ihr Mund war verzerrt, ihre Kehle bebte und pulsierte, während sie gutturale Laute ausstieß. Er zögerte seinen Orgasmus bis nach ihrem hinaus. Es fühlte sich an wie der helle Wahn. Sie waren wie die beiden Hälften einer Tür, die für einen Moment aus den Angeln gehoben war. Sie schlief so fest, daß er sie nur ungern weckte, aber es war bald halb eins, und dann kam Dynah zurück. Dunny aß gerade in der Küche zu Mittag. Er schien nicht im Mindesten überrascht, Kissy zu sehen, als sie mit rosig angehauchtem Gesicht und Hand in Hand mit Junior herein kam. »Auf dem Herd steht Tomatensuppe. Käse für Sandwiches ist auch da.«
»Vielen Dank, aber ich muß jetzt gehen.« Kissy gab beiden einen dicken Kuß und verschwand in Richtung Pool. Junior schaute ihr nach. Dann griff er nach dem Brot, um sich ein Sandwich zu schmieren. »Vielleicht solltet ihr ein bißchen diskreter sein.« Dunny stand auf, ging zum Fenster und schob den Vorhang zurück, um die Abfahrt des Blazers zu verfolgen. »Wieso? Ich will sie zurück. Ich muß nur noch warten, bis sie selbst so weit ist.« »Du glaubst wirklich, sie wird ihn verlassen?« »Irgend etwas muß geschehen«, gab Junior zurück. »Sie ist total durcheinander.« »Vielleicht gehört sie ja zu den Leuten, die einfach unglücklich sein wollen«, meinte Dunny zaghaft. Auf Juniors ungläubigen Blick hin ergänzte er hastig: »Was weiß denn ich!« »Ich hab’s Wally erzählt«, sagte Junior. »Er fing damit an. Er meinte, ich sähe plötzlich viel glücklicher aus und ob ich vielleicht eine Nummer geschoben hätte. Ich konnt’s kaum fassen! Er hatte ein knallrotes Gesicht, war furchtbar verlegen, andererseits aber auch schrecklich stolz auf sich, weil er sich getraut hat, so ungehobelt und mannhaft zu sein. Indem er mich wissen ließ, daß es ihn glücklich macht, eine Nummer zu schieben, daß er die Art von Glücklichsein erkennen kann, wenn er sie sieht. Also sagte ich: ›Ja, ich hab eine Affäre mit meiner Exfrau.‹ Er war zwar schockiert, aber letztlich kam er erstaunlich gut damit klar. Er druckste herum und sagte ›Ach du meine Güte‹, ›Nein, wie furchtbar‹ und ›Menschenskinder, da steckst du aber ganz schön in der Klemme‹. Wahrscheinlich hat er eine von diesen Talkshows zum Thema ›Paare, die eine Liebschaft mit ihren Expartnern haben‹ gesehen. Ich sagte: ›Nein, überhaupt nicht. Ich wollte die Scheidung nie, ich liebe sie immer noch.‹ Woraufhin er mich gefragt hat: ›Und was ist mit ihr?‹ Tja – was ist mit dir?« Sie lagen im Bett der Penthousesuite eines Detroiter Hotels. Dynah hatte Ferien und schlief in dem anderen Schlafraum. Kissy hatte ein Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs gebucht. Mike hatte sich fürchterlich über den Ausflug zu Junior aufgeregt, aber sie hatte lediglich die Lippen zusammengepreßt und sich auf ein blaues Auge oder eine aufgeplatzte Lippe und ein Ultimatum gefaßt ge-
macht. Zu ihrem Erstaunen war nichts dergleichen passiert. Er hatte ein ersticktes Lachen zustande gebracht und sich sichtlich zusammengerissen. »Ich benehme mich mal wieder wie ein Idiot«, hatte er gesagt. »Dynah wird eine Romanze zwischen dir und Clootie wahrscheinlich genauso erfolgreich verhindern, wie sie unsere Beziehung auf Eis legen kann.« Kissy war nicht darauf eingegangen. Sie hatte ihre Argumente bereits vorgebracht. Dynah wollte die Zeit mit ihrem Daddy verbringen. Dunny hätte sie zwar hinfahren und auf sie aufpassen können, während Junior arbeiten mußte, aber Kissy wollte in den Ferien ebenfalls mit ihr Zusammensein, und wenn Detroit auch nicht gerade der Urlaubsort ihrer Träume war, so war es doch ein Kompromiß, der allen entgegenkam. Er konnte es schlucken oder nicht. Sie hatte natürlich vor, mit Junior zu schlafen – richtig oder falsch, Moral hin, Moral her. Falls Mike dachte, er könne über sie bestimmen, irrte er sich gewaltig – wie damals schon Ryne und auch Junior. Daß er sich plötzlich verbog wie eine Plastikstoßstange bestätigte nur, auf welch wackligen Füßen sein Pochen auf irgendwelche Rechte stand. Junior würde ihr nicht nur einen anständigen Fick liefern, sondern sich obendrein an die Abmachungen halten. Sie hatte ihr Kinn vorgeschoben und ihre Lunge bis zum Anschlag mit der frischen, belebenden Luft gefüllt, die – wie sie wußte – einem Akt halsstarriger Selbstberuhigung entsprang. Es war Brennstoff für ihr Herz und ihr Verlangen. »Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, daß du mit dem Falschen verheiratet bist?« Sie drehte sich auf den Bauch und schlug auf ihr Kissen. »Ich habe versucht, mit dir verheiratet zu sein, und was dabei rausgekommen ist, war Dynah und Sex, wenn du gerade Zeit dafür aufbringen konntest. Ungefähr dasselbe, was wir jetzt haben…« »Plus Mr. Wonderful als zusätzliche Komplikation. Warum brennst du nicht einfach mit mir durch? Den Rest können die Anwälte regeln.« Kissy lachte. Sie hatte ihre Fotos in Peltry gelassen, quasi als Pfand für Mike. Er würde sie zweifellos vernichten, wenn sie nicht zurückkam. Es war eindeutig ein Fehler gewesen. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen, beispielsweise Abzüge machen und sie an
einem sicheren Ort aufbewahren – bei Latham vielleicht. Zerstreut fragte sie sich, ob sie etwas übersah. Gab es noch eine andere Möglichkeit für Mike, ihr zu schaden? Junior ging behutsam mit dem Thema um, aber es war nicht das erste Mal, daß er sie gebeten hatte wegzulaufen. Doch obwohl er schon mehrmals darüber gesprochen hatte, wie sie Mike verlassen könnte, unternahm er selbst nie etwas. Eine Zeit lang hatte sie befürchtet, er würde zum Telefon marschieren, Mike anrufen und ihm vor den Kopf knallen: ›He, Arschloch, übrigens bumse ich Kissy wieder.‹ Er tat es nicht. Er gab sogar zu, daß die Vorstellung einer Affäre einen gewissen Reiz für ihn besaß. Vermutlich wartete er einfach ab – bis sie Mike von sich aus verließ, bis Mike sie vor die Tür setzte, bis Mike das Handtuch warf und ging. Sie hatte keine Ahnung, ob er sich jemals Gedanken darüber machte, wohin das Ganze führen könnte. Junior begriff nicht, daß sie durchaus mit ihren Fehlern leben konnte, auch wenn sie ab und zu schöne Stunden mit ihm verbrachte. Kissy kam spät, viel zu spät. Falls sie ihn diesmal im Stich lassen sollte, würde er ihr einen gewaltigen Arschtritt versetzen. Je länger Mike Burke darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, es tatsächlich zu tun. Sie hatte es versprochen. Sie hatte es ihm verdammt noch mal versprochen. Die Party fand in den Privaträumen des besten Restaurants von Peltry statt und war bereits seit einer Stunde in vollem Gang. Obwohl sämtliche Ausgänge zugunsten der Luftzirkulation offen standen, war es furchtbar stickig. Die frühsommerliche Junihitze hockte über der Stadt wie eine Gewitterwolke. Zigarettenrauch, Körperausdünstungen und verbrauchte Luft kamen nicht mehr an ihr vorbei. Mike trank Scotch; den Großteil der Zeit war es ihm gelungen, sich an Bier zu halten – ein oder zwei Bier mußte er trinken, damit niemand auf die Idee kam, er habe ein Alkoholproblem. Wie damals sein Alter. Irgendein fetter, verkalkter, vom Trinken bekehrter Bulle würde ihn beiseite nehmen und auffordern, ihn zu den AA zu begleiten. Und seine Zukunft wäre plötzlich auf Flaschenhalsformat begrenzt, jawohl, Flaschenhalsformat. Er würde sich hineinquetschen und hindurchkriechen müssen, bis er in der Flasche saß, wie ein Flaschenschiff. So funktionierte es nämlich bei den AA: Man schloß sich in
seinem Alkoholismus und seiner Nüchternheit ein, und jeder konnte einen von außen durch das grüne Glas sehen – genau wie man selbst nach draußen sah, während man in den sicheren Gewässern des Alkohols auf und nieder wogte. Doch das hier war ein Sonderfall. Butchs Gesicht färbte sich zunehmend rot. Das Büffet bestand nur noch aus Krümeln und Gräten und die Gäste wollten allmählich die Torte sehen. »He, Mike«, brüllte Butch, »wo steckt denn die süße kleine Frau? In der Torte vielleicht?« Wiehernd wackelte er mit imaginären Brüsten. Dröhnendes Gelächter erhob sich im Raum, gefolgt von Applaus und anzüglichen Pfiffen. »Klar!«, brüllte Mike zurück und prostete Butch zu. Die nächste Woge von Ausgelassenheit erhob sich an der Tür, als Kissy sich ihren Weg durch den Mob bahnte, der sich unter neuerlichem Applaus und lüsternen Pfiffen vor ihr teilte. Butch führte das Getöse mit zwei Fingern im Mund an. Sie war sieben Zentimeter größer als sonst, denn sie trug tatsächlich Pfennigabsätze. Das Kleid, das Mike vor der Party nicht hatte sehen dürfen, war ein schimmernder Fetzen aus knallroter Seide, der ihren Körper übergoß wie ein Schluck Bordeaux und sich knapp unter ihrer linken Hüfte teilte, so daß bei jedem Schritt, den sie auf Butch zuging, ein gutes Stück Bein sichtbar war. Ihr Haar sah genauso zerwühlt aus wie immer, doch ihr linkes Ohr zierten eine Reihe granatfarbene Stecker, während von ihrem rechten Ohr ein beerenförmiger roter Anhänger an einem Goldclip baumelte. Angeblich kaufte sie sich ihren Schmuck selbst, aber manchmal bezweifelte er das. Butch biß sie unterhalb der Granatstecker ins Ohrläppchen, während er sie umarmte, und küßte sie dann auf den Mund. Narcissa lächelte schwach. Butchs Rechte legte sich auf Kissy Gesäßbacke. Mike grinste und lachte. Als er bei ihnen war, hatte Kissy sich aus dem Griff befreit. Mike legte einen Arm um ihre Taille, und sie gaben sich einen dramatischen Kuß, was zu einem weiteren Ausbruch führte. Da zog die Ankunft der Torte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.
»Genauso gut könntest du nackt sein«, zischte er im Schutz des Tumults. »Hat er dir wenigstens einen eindeutigen Antrag gemacht?« Sie entriß ihm ihre Hand, aber er packte ihr Handgelenk und hielt es fest. »Jeder hier im Raum würde gern mit dir vögeln.« Sein Blick schweifte scheinbar amüsiert über die Menge, aber sein Ton war wütend und kalt. Dann fragte er lächelnd, als unterhielten sie sich über etwas Angenehmes: »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« »Die Bremsen haben nicht funktioniert. Ich mußte den Blazer stehen lassen und auf ein Taxi warten.« »Du solltest überhaupt nicht mehr mit der Schrottkiste fahren. Aber das kommt dir ganz gelegen, nicht wahr? Alle möglichen Probleme mit dem Wagen zu haben, die dir eine fantastische Entschuldigung dafür liefern, immer wieder zu spät kommen zu können, zu jeder erdenklichen Zeit, zu allen vorstellbaren Anlässen…« »Leck mich, Mike«, sagte sie mit einer Miene, als würde sie sich entschuldigen. Aber sie blieb. Er beobachtete, wie sie durch den Saal stolzierte, den Frauen schöntat, den Männern einen Einblick in das gewährte, was sie zu bieten hatte, ja sogar noch einmal zu Butch ging, um scherzhaft ihre Titten für ihn zu schütteln. Narcissa fand das gar nicht komisch. Mike johlte und pfiff lauter als alle anderen. Wegen Narcissa machte er sich keine Sorgen. Zu guter Letzt würde sie mit der Andeutung prahlen, ihre Party für Butch sei ein wenig skandalös verlaufen. Ein ›Wilder Haufen‹ eben. Schließlich liebte sie diese dicken fetten Bestseller über brünstige Anwälte. »Und, hast du dich gut amüsiert?«, fragte er Kissy, als sie zu Hause waren. Er war betrunken, Dynah bei Clootie und der Zeitpunkt perfekt für Vergeltung. »Hat’s Spaß gemacht, Butch deine Titten unter die Nase zu halten?« Ohne ihn zu beachten, legte sie ihr Handtäschchen auf den Garderobentisch im Flur und hängte ihren Mantel auf – ein extravagant besticktes Ding aus purpurroter Seide, das ihr Fähnchen von einem Kleid wie einen Unterrock wirken ließ. »Es ist doch deine Idee gewesen, Mike«, sagte sie schließlich, während sie an dem Mantel zupfte, bis er gerade auf dem Bügel hing. »Du wolltest, daß ich ›scharf‹ aussehe. Du hast genauso laut gebrüllt wie die andern. Du und deine Kumpel, ihr seid ein Haufen Vorstadt-
rambos, denen schon bei dem Gedanken an Partnertausch einer abgeht.« Am Fuß der Treppe blieb sie stehen und streckte den linken Fuß nach hinten, um den Schuh am Absatz zu fassen und auszuziehen. Er persönlich hatte das immer besonders aufregend gefunden, wenn sich eine Frau aus ihren Kleidern schälte. Sie hielt den Schuh in der Hand, als er ihr Handgelenk packte und sie ihm entgegentaumelte. Der andere Schuh steckte noch an ihrem Fuß. Als sie ihn reflexartig wegstoßen wollte, schlug er sie flach auf den Mund. Das Bein auf dem Pfennigabsatz rutschte unter ihr weg. Mit einem Schrei fiel sie seitlich gegen das Geländer. Der Schuh, den sie ausgezogen hatte, steckte nach wie vor in ihrer Hand. Er griff nach ihrem Arm und riß sie hoch. Sie konnte das Gleichgewicht nicht halten. Er schüttelte sie wie eine Stoffpuppe. Sie fuhr ihm mit dem Absatz quer durchs Gesicht, woraufhin er sie rücklings auf die Treppe schleuderte und auf sie einzuschlagen begann. Er verlor die Beherrschung. Tränen strömten ihm über die Wangen, brannten in dem Riß, den ihr Schuh verursacht hatte. »Schlampe!«, brüllte er heiser. »Gottverdammte, dreckige, kleine Schlampe!« Sie griff nach dem Schuh, den sie immer noch anhatte, streifte ihn ab, rollte sich zur Seite und rappelte sich mühsam hoch. Ihr Rücken tat weh, ihr Hintern tat weh. Sie ging nach oben ins Bad und schloß die Tür hinter sich ab. Am ganzen Körper zitternd ans Waschbecken gelehnt, wischte sie mit Wattebäuschen ihr Make-up ab, warf sie in den Mülleimer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. »Kissy.« Sie fuhr unter dem Klang der Stimme hinter der Tür zusammen. »Bist du in Ordnung?« Er hörte sich vollkommen fertig an. »Es tut mir leid. Bitte mach die Tür auf.« Langsam drehte sie den Schlüssel im Schloß. Er öffnete die Tür und stand unsicher da. »Es tut mir leid.« Sie hatte rasende Kopfschmerzen. Hinter ihrem linken Auge schien eine Bohrmaschine zu wüten. Sie ließ ihn stehen und durchwühlte das Medizinschränkchen nach zwei Aspirin, die sie trocken hinunterschluckte. Dann erst schlürfte sie etwas Wasser aus der hohlen Hand, um ihre Kehle zu befeuchten. Er trat zur Seite, um ihr den Weg ins Schlafzimmer freizumachen. Sie löste einen einzigen Haken von einer Öse und das Seidenkleid glitt über ihre Hüften auf ihre Füße hinab. Sie stieg hinaus, hob es
auf und hängte es auf einen Bügel. Dann zog sie BH und Höschen aus, schlüpfte in einen Schlafanzug. Er sah ihr die ganze Zeit zu, aber sie beachtete ihn nicht. Sie stieg ins Bett, zog die Decke bis ans Kinn und kniff die Augen zu. Sie versuchte gleichmäßig zu atmen, brachte jedoch nur kurze, stoßweise Atemzüge hervor. Mike kniete sich neben ihr auf den Boden, als hätte er die Absicht zu beten. »Ich komm mir so überflüssig vor«, murmelte er erstickt. »Ich kann dir nichts von dem geben, was er dir gegeben hat, kein Geld, nicht mal ein Baby…« Sie drehte ihr Gesicht weg. Er ging wieder nach unten. Sie hörte, wie er die Türen abschloß, die Lichter löschte, die Schreibtischschublade in seinem Arbeitszimmer aufzog, verstohlen, vorsichtig – die Schublade, in der er den Scotch aufbewahrte, von dessen Existenz sie nichts wissen sollte. Sich noch einen Drink eingoß. Etwas später kam er mit schweren Schritten nach oben und zog sich aus. Er ging behutsam mit seinen teuren Sachen um. Sie hörte das Klappern der Holzbügel, als er den Anzug in den Kleiderschrank hängte. Dann gab die Matratze unter ihm nach. Sie spürte die Hitze seines Körpers, roch sein Rasierwasser, seine Alkoholfahne und den Angstschweiß auf seiner Haut. Vorsichtig berührten seine Finger ihre Hüfte, strichen den Schlafanzugstoff glatt. Ihr war zum Schreien zumute, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. »Ich war betrunken«, sagte Mike. Zwei Tage später war er in der Lage, ihr in die Augen zu sehen. »Wir sind beide zu weit gegangen.« Zu weit gegangen. Sie war zu weit gegangen mit ihrem Kleid, mit ihrem Benehmen. Sie hatte ihn provoziert, wie unbeabsichtigt auch immer. In einem luftleeren Raum könne nichts geschehen, erklärte er ihr mit der Stimme der Vernunft. Sie stünden beide unter Streß wegen der anhaltenden Unfruchtbarkeit und anderer belastender Faktoren – womit er den Schatten meinte, den Junior Clootie über ihre Ehe warf. Er förderte sogar eine Motivation ihrerseits zutage: Sie habe unbewußt testen wollen, ob er tatsächlich zu ihr hielt. Er beharrte darauf, nie wirklich der Überzeugung gewesen zu sein, daß sie wieder mit Junior schlief.
»Um Himmels willen, Kissy, sag doch was!«, flehte er, den Tränen nahe. Sie schwieg. Sah ihn nicht einmal an. Als existiere er nicht mehr für sie. Er war wie ein Möbelstück, um das man einfach herumging. Er hörte auf, sie mit Entschuldigungen, Erklärungen und Rechtfertigungen zu traktieren. Jeden Morgen fuhr er als Erstes zum Polizeirevier, war allzeit fröhlich, gut gelaunt und erstaunlich unverkatert. Er arbeitete lang und schlief fast jede Nacht auf der Couch in seinem Arbeitszimmer ein. Sie hatte ein neues Schloß an der Dunkelkammer und auch an dem angrenzenden Raum, der ihr als Büro diente. Sie arrangierte ihr Leben so, daß er sie nur vier- bis fünfmal in der Woche sah, und das im Vorbeigehen, es sei denn, er legte sich besonders ins Zeug und tauchte zum Abendessen auf. Sie pflegten keinerlei gemeinsame gesellschaftliche Kontakte mehr. Kissy ignorierte sämtliche Einladungen und er ging alleine fort. Es blieb nicht unbemerkt – niemand fragte mehr, wie es ihr ging. Man erkundigte sich nur noch nach seinem Befinden, und zwar im selben vorsichtigen Ton, den man Menschen gegenüber anschlug, die unter einer unheilbaren Krankheit litten. Er hätte im Traum nicht gedacht, daß es einmal so enden würde, daß Clootie sie mit derartiger Beiläufigkeit zurückkriegen könnte. Es brachte ihn schier um den Verstand: In der ganzen Stadt wurde schon gemunkelt, seine Ehefrau setze ihm Hörner auf. Seit Butchs Party hatte sie nicht mehr in ihrem gemeinsamen Bett geschlafen, eine Erinnerung übrigens, bei der sich ihm immer noch der Magen umdrehte. Eine Scheidung kam nicht in Frage. Schließlich war er kein Zwanzigjähriger mehr, der eine Ehe von derart kurzer Dauer als Jugendirrtum abtun konnte. Und noch etwas hinderte ihn daran. Er brauchte ihr Geld. Es hatte sein Leben verändert, in die Armut zurückzukehren war schlicht unvorstellbar. Wann immer ihm die eigene Käuflichkeit bewußt wurde, breitete sich siedende Hitze in seinem Hinterkopf aus. Manchmal schlich er vor dem Schlafengehen zu ihrem Schreibtisch, den sie nicht einmal abschloß, und überprüfte anhand ihrer Scheckhefte ihren Nettowert. Der Erlös aus dem Verkauf seines Hauses hatte den Grundstock für den Erwerb ihres jetzigen Heims gelegt, doch die Restsumme der Hypothek wurde von ihr abbezahlt.
Sie finanzierte den Großteil der Haushaltskosten, entweder aus eigener Tasche oder über die Alimente, die sie für Dynah bekam. Sie hatte ihm den BMW unter den Hintern gestellt. Die teuren Klamotten, das Essen, die Drinks, all das hätte er sich von seinem Gehalt niemals leisten können, schon gar nicht mit einer Frau. Sie lebten gut, aber schließlich verdiente sie selbst auch nicht schlecht. Und sollte Clootie jemals etwas zustoßen, stünden sie noch besser da. Sie war befugt, Dynahs Vermögen zu verwalten, und er wäre jede Wette eingegangen, daß auch Clootie sie als Hauptbegünstigte eingesetzt hatte. Doch Clootie erfreute sich ekelhaft guter Gesundheit. Die wildesten Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Clootie aufzumischen, beispielsweise. Es würde nicht leicht sein, einem so reichen Kerl wie ihm etwas anzuhängen, Profisportler obendrein. Elende Profisportler wie er kamen so gut wie nie in den Knast, nicht einmal dann, wenn sie mit einem Aktenkoffer voller Hasch oder Videobändern erwischt wurden, auf denen sie Zehnjährige vögelten. Das Beste, was passieren könnte, was alle Probleme lösen würde, wäre, wenn Clootie sich im Vollrausch selbst etwas antäte. Oder es danach aussähe. Eine Überdosis etwa oder ein Baum, der ihm plötzlich vor sein verfluchtes Fahrrad fiel – und Kissy wäre um einiges reicher. Dann könnte er ihr ruhig den Laufpaß geben, sie würde ein ordentliches Sümmchen ausspucken müssen. Wenigstens war er beschäftigt, wenn er derartigen Gedanken nachhing. Vielleicht hielt ihn das Denken sogar davon ab, etwas zu tun, mit dem er sich sein Leben wirklich versauen würde. Realistisch betrachtet war eine kaputte Ehe so weit verbreitet wie das Laster an sich – nichts im Vergleich zu einer Mordanklage. Doch dann wachte er wieder mitten in der Nacht auf und ihre Seite des Bettes war nach wie vor unberührt, kalt und leer. Zwei Uhr morgens, drei Uhr morgens – und sie steckte immer noch in ihrer blöden Dunkelkammer. Eines Nachts hatte er endgültig genug. Er stand auf, zog die nächstbeste Trainingshose an und ging nach unten in sein Arbeitszimmer. Schon seltsam, um siebzehn Minuten nach drei am frühen Morgen am Schreibtisch zu sitzen und die nackten Zehen in den Teppich zu bohren, während es im Haus um ihn herum so finster war wie in einer verlassenen Höhle. Die Dunkelkammer lag auf der anderen
Seite, so daß er nicht mitbekommen konnte, wann sie sie verließ, aber in der Küche würde er sie sofort hören. Er knipste die Schreibtischlampe an, zog einen Ordner aus seiner Aktentasche und legte ihn aufgeschlagen in den gelben Lichtkreis. Er fuhr zusammen, als in der Küche plötzlich Wasser rauschte und plätschernd in die Glaskanne der Kaffeemaschine lief. Die Uhr stand auf kurz vor fünf. Er war immer noch auf derselben Seite und konnte sich an kein einziges Wort erinnern. Sie füllte Kaffeepulver in den Filter. Als er hereinkam, hob sie kurz den Kopf, blickte geradewegs durch ihn hindurch, als wäre er unsichtbar, und schaute wieder auf den Meßlöffel, der Furchen in das schwarzbraune Pulver grub. »Ich finde unser Leben zum Kotzen«, sagte er. »Ich sehe euch nie – weder dich noch Dynah. Ich habe nicht geheiratet, um mit zwei Fremden zusammenzuwohnen und allein zu schlafen.« »Ja, das ist wirklich traurig«, erwiderte sie in vorsichtig neutralem Ton. Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich schwer darauf fallen. Küchengespräche, dachte er. Im Grunde hatte er keine Ahnung, was er als Nächstes tun oder sagen sollte. Bitterkeit stieg in ihm hoch. Er war am Ertrinken, verflucht, und sie warf ihm nicht einmal eine Rettungsleine hin, »Sag mir, was ich tun muß, damit es mit uns klappt, und ich tu’s.« Er sah sie an. Sie musterte ihn von der anderen Seite der Küche her mit skeptischem Blick. Ihr ärmelloses T-Shirt hatte dunkle Schweißränder unter den Armen und auch der Bund ihrer Shorts war völlig durchnäßt. In der Dunkelkammer mußte es wie in einer Sauna gewesen sein. Ihr Gesicht glänzte feucht, ihre Augen waren vor Müdigkeit dunkel umringt. Ihre Hände zuckten nervös. Ihr Blick wich ihm aus. Er stand auf. Sie fuhr zurück, drehte reflexartig den Körper, hielt verängstigt eine schützende Hand vor ihr Gesicht – und ließ sie resigniert wieder fallen. Dann richtete sie sich kerzengerade auf und schaute ihn beinah herausfordernd an. Die Ringe um ihre Augen wirkten wie Blutergüsse in dem leichenblassen Gesicht. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er taumelte zu ihr und warf seine Arme um ihren Körper. Sie erstarrte. Er fiel vor ihr auf die Knie, vergrub schluchzend den Kopf an ihrem Bauch. Nach langer Zeit berührten ihre Hände zögernd sein Haar.
Schon seltsam, sinnierte Burke, wie sie ihn immer wieder kleinkriegen und anschließend neu aufbauen konnte. Er war wie einer ihrer Abzüge. Es gab das Negativ von ihm, den eigentlichen Mike Burke, und den Mike Burke auf dem Fotopapier, den potentiellen, den sie mit Licht traktierte und in chemische Bäder tauchte, bis sein Gesicht zum Vorschein kam wie der Kopf eines Schwimmers, der sich aus den Fluten erhob, langsam an Deutlichkeit und Tiefe gewann und sich schließlich manifestierte. Und er plötzlich sehen konnte, daß er nicht der Mensch war, für den er sich immer gehalten hatte. Es schien zu stimmen. Andere sahen es auch. Nach einem Meeting in seinem Büro fing Butch ihn ab, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und das betretene, postdiagnostische Schweigen hatte mit einem Mal ein Ende. Es war wieder wie früher, das übliche ›Na, heizt der Goldjunge den Ganoven auch ordentlich ein?‹ und ›Liegen wir gut im Rennen?‹. Mike lachte. Butch räusperte sich. »Zu Hause alles in Ordnung?« »Wir üben kräftig für ein Baby.« »Eine weise Entscheidung«, nickte Butch beifällig. »Braucht ihr vielleicht Unterstützung?« Es wurde von ihm erwartet zu lachen, also tat er es. »Habe Sie und Kissy seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen«, fuhr Butch fort. »Sonntagnachmittag packen wir ein paar Hähnchen auf den Grill. Falls ihr eine Pause beim Üben einlegen könnt…« »Ach, Mist, tut mir leid«, sagte Mike und meinte es ehrlich, »aber an diesem Wochenende wollte ich mit Kissy und Dynah zum Cottage.« »Oh. Na ja – dann brechen Sie doch etwas eher auf und kommen wenigstens alleine vorbei.« Auf seiner Grillparty verbreitete Butch unter den Gästen, Kissy sei nicht dabei, weil sie sich zum Cottage aufgemacht und Mike seinem Schicksal überlassen habe. Auf diese Weise eröffnete er sein Plädoyer an Mike, Kissy den Sommer über fortzuschicken sei keine allzu vielversprechende Methode, um zu einem Baby zu kommen. Und so wußten alle, daß sie es vorhatten und ihre Ehe in Ordnung war. Ehrlich gerührt prostete Mike Butch zu.
\ 33 [ »Du bist also schwanger?«, fragte Junior. Sie drehte sich auf den Rücken und sah ihn an. »Möglich, ja, ich nehme es an – aber ich fühle mich nicht so. Wie kommst du darauf?« Er stopfte sich das Kissen in den Rücken. »Mein Dad hat’s von irgendwem gehört, der sich bei ihm die Haare schneiden läßt, ein Sicherheitsmensch vom Gericht oder so. Er wollte wissen, ob ich wieder leichtsinnig gewesen wäre…« »Was hast du ihm geantwortet?« »Daß ich schon seit Jahren versuche, dich zu schwängern, und es bis jetzt nicht geklappt hat. Daß ich vielleicht einen Test machen sollte.« Kissy stieg lachend aus dem Bett, um nach Dynah zu sehen. »Schläft wie eine Tote«, berichtete sie kurz darauf. »Sie hat erhöhte Temperatur, schon den ganzen Tag. Ein paarmal kam’s mir fast so vor, als hätte sie Schüttelfrost.« »Ist mir auch aufgefallen. Ich werde sie in den nächsten Tagen ein bißchen ruhig stellen. Es steht sowieso noch ein Hearts-Turnier aus.« Kissy schlüpfte unter die Decke zurück. »Du schläfst wieder mit ihm, stimmt’s?«, fragte Junior. Sie schloß die Augen und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Seufzend zog er sie fester an sich. »Ich bin dir nicht böse deshalb, Baby. Ich muß bald ins Camp…« »Ja.« Ob es sich um die Antwort auf seine Frage oder die Bestätigung seiner bevorstehenden Abreise handelte, konnte er nicht sagen. »Kommt doch mit, Dynah und du.« »Wohin?« Junior hatte keine Ahnung. Er war teuer geworden; sein Verkauf ermöglichte die Finanzierung eines billigeren Nachwuchstalents. Die Baseball-Liga stand kurz vor einem Streik und nach allem, was er so hörte, verhielt es sich mit der NHL ähnlich. Ob Streik oder Aussperrungen, die Konsequenzen waren ähnlich. Seine Zukunft war ziemlich ungewiß. Er schloß die Augen, stellte sich vor, wie er nach Hause kam, um eine von Pißnelke dick gemachte Kissy vorzufinden. Vielleicht hatte er ja auch Glück, und sie wurde dick von ihm, doch das bezweifelte er. Sie hatten es so oft ohne Schutz getan und außer
Dynah kein Baby zustande gebracht. Er fragte sich inzwischen wirklich, ob mit einem von ihnen beiden etwas nicht stimmte – auch wenn er es im Grunde nicht wissen wollte. Sie hatten sich auf etwas geeinigt, das ganz gut zu funktionieren schien: Mußte er weg, blieb sie dort, wo sie Familie und Arbeit hatte und wo sich Dynahs gewohntes Umfeld befand; kam er zurück, war sie wieder für ihn da. Der einzige Wermutstropfen bestand darin, daß es in ihrem Leben noch jemand gab. War das Blödsinn? Noch ein anderes Leben zu haben, ein Leben ohne ihn – so wie er ein anderes Leben ohne sie hatte? Es war unkonventionell, unterschied sich vermutlich aber nicht wesentlich von der Art, wie ihr Leben aussehen würde, wären sie noch miteinander verheiratet. Abgesehen davon, daß er keine Zweitfrau hatte. Außerdem war ihm schleierhaft, wie viel Burke wußte. Eigentlich mußte er Bescheid wissen oder zumindest einen Verdacht haben – andererseits war er ein solcher Idiot, daß er womöglich wirklich nichts gemerkt hatte. Vielleicht war das der beste Deal, den er herausschinden konnte – momentan. Vielleicht sollte er, anstatt Mike Burke zu hassen, lieber dankbar sein, daß der Typ Schlappschwanz genug war, um seine Frau mit einem anderen Kerl ins Bett steigen zu lassen. Das allerdings galt auch für ihn selbst: Er tolerierte, was sie mit Burke trieb. Sie liegt einfach nur da, redete er sich ein, und läßt es über sich ergehen, außerdem hat Burke einen klitzekleinen Schwanz, nicht größer als ein Babyfinger, und kommt nach zehn Sekunden; sein Samen ist bloß ein mickriger feuchter Fleck und ohne jeden Druck dahinter, läuft einfach an seinem Miniknopf herunter. Wie ein Regentropfen auf der Windschutzscheibe des Benz: wisch und weg! Verschwunden. Nichts von Bedeutung. Nichts von Bedeutung für sie, ein flüchtiges, kaum wahrnehmbares Kitzeln bloß. Lichtjahre schlechter als Masturbation. Wenn Wünsche Schwänze wären, dachte er und schmetterte seine Faust in das Kissen, soll Pißnelke an meinem ersticken. »Dein Freund Houston kommt demnächst raus«, sagte Mike, während er Kissy die Zeitung reichte. »Gehört zu einer Gruppe von Häftlingen, die vorzeitig entlassen wird, um Platz zu schaffen. Er hätte aufgrund guter Führung sowieso nicht mehr lange gesessen.« Kissy warf nur einen sehr flüchtigen Blick auf den Artikel, dann legte sie die Zeitung wieder weg. Ihr Freund Houston. Nicht einmal
ein besonders enger Freund. Sie freute sich für ihn, daß er das lange Martyrium der Gefangenschaft bald hinter sich haben würde. Die Fotos von Ruth wurden zurzeit in der School of Fine Arts ausgestellt. Einige Verleger interessierten sich dafür, ihr Agent hatte ein Angebot für ein Buch vorgelegt. Jimmy Houstons Entlassung stellte einen weiteren Schlußpunkt dar. Sie rief Dynah zu, sich zu beeilen, sofern sie den Bus nicht verpassen wolle. Nachdem Junior am Abend mit Dynah zu Ende telefoniert hatte, erzählte sie es ihm. »Ist ja verrückt«, lautete seine Reaktion. »Macht es dir Angst?« »Nein. Ich finde es toll.« Offiziell rief er jeden Abend an, um Dynah gute Nacht zu sagen, meldete sich aber meistens später noch einmal auf einer anderen Leitung, die sie nur in ihrer Dunkelkammer hatte installieren lassen. Sie setzte Kopfhörer auf, um die Hände frei zu haben. Manchmal sprachen sie lange Zeit kein Wort, hatten jedoch das Atmen des anderen im Ohr. Manchmal wollte er Telefonsex. Oder sie. Es war nicht nötig, lang und breit über seine Situation zu reden. Die gute Nachricht bestand darin, daß er an die Caps verkauft worden war. Dadurch gehörte er nun zur selben Organisation wie Mark und könnte eines Tages sogar mit ihm in einem Team spielen. Außerdem ermöglichte es ihm, Dynah – und sie – in Zukunft öfter zu sehen. Die schlechte Nachricht war, daß der Betreiber das letzte Angebot des Spielerverbands abgelehnt hatte. Es grenzte an ein Wunder, aber er rechnete damit, bald wieder zu Hause zu sein – einerseits eine sehr erfreuliche Wendung, in Hinsicht auf seine Karriere jedoch eher enttäuschend. Die Aussperrung begann am 15. Oktober. Junior, der es vorausgesehen hatte, kehrte am 11. nach Peltry zurück. Niemand wußte, wie lange es dauern würde, aber der Baseball-Streik hatte die zweite Hälfte der Saison wie auch die Meisterschaftsspiele geschluckt. Die Verhandlungen stagnierten, und es ging das Gerücht, auch in der kommenden Saison gäbe es kein Baseball zu sehen. Das Gleiche drohte der NHL. Viele seiner Kollegen glaubten, der Commissioner habe die Absicht, den Spielerverband kleinzukriegen, und gucke sämtliche Schritte zum Erreichen dieses Ziels bei den Baseball-
Betreibern ab. Die zweite Liga spielte noch, so daß Mark beschäftigt war. Da er sich nicht weit von Peltry entfernt aufhielt, stattete Junior ihm einen Besuch ab, trainierte ein bißchen bei seinem Portlander Club und diskutierte die Sachlage mit ihm durch. Man war einhellig der Meinung, es sei das Klügste, in Form und jederzeit spielbereit zu bleiben, sollte die Aussperrung plötzlich aufgehoben werden und somit Aussichten auf Rettung der Saison bestehen. Er konnte zu Hause oder an der Sowerwine trainieren, wo die Spectres ihre Drills und Scrimmages nur zu gern von ihm aufmöbeln ließen. Es war fast wie damals zu seiner College-Zeit, auch wenn er sich eindeutig älter vorkam. Die Kids waren so schrecklich jung. War er wirklich auch einmal so jung gewesen? War er tatsächlich schon so alt? Wo war die verfluchte Zeit nur hin? Er hatte plötzlich Zeit für Bernie und Casey – Bernie war nach wie vor mit Yuri liiert, aber ganz und gar nicht sicher, ob sie einen Eishockeyspieler heiraten sollte, außerdem wollte sie erst ihren Abschluß machen – und seinen Vater. Und natürlich für Dynah. Der schwierige Teil bestand darin, sich in derselben Stadt aufzuhalten wie Kissy, sie jedes Mal zu sehen, wenn er Dynah abholte oder nach Hause brachte. Da er ohnehin nicht spielen konnte, beschloß er, die Zeit nützlich zu verbringen und sie ein für alle Mal von Burke loszueisen. Aber sie hatte eine Ausstellung in der School of Fine Arts, ihre Fotos von Ruth und jede Menge andere Ausreden, um ihm aus dem Weg zu gehen. Ein Umstand, der ihm zunehmend auf die Nerven fiel. Er war hier, was sie angeblich immer gewollt hatte, und jetzt hatte sie keine Zeit für ihn. An Thanksgiving war Dynah bei ihm. Sie half ihm, Dunny und Bernie bei den Vorbereitungen für das Festmahl und war schrecklich aufgekratzt. Er stachelte sie noch mehr an, ließ sie auf seinen Schultern reiten, tobte mit ihr herum. Zu spät wurde ihm klar, daß sie vollkommen überdreht war; sie fing an zu kichern und hörte nicht mehr auf. Als er sie in den Arm nehmen und beruhigen wollte, packte sie eine Truthahnkeule und drosch damit auf in ein. Er ließ sie wieder los, woraufhin sie Kugeln aus Kartoffelbrei formte und wie Schneebälle nach ihm warf. Es endete in einem Tobsuchtsanfall. Sie wollte ihre Mommy. Als sie nur noch schluchzte, steckte er sie ins Jacuzzi-Becken. Das warme Wasser und ihre Erschöpfung wirkten wie ein Betäubungs-
mittel. Auf gar keinen Fall würde er Dynah in diesem Zustand zu Kissy schleifen. Es war stürmisch und eiskalt, seine Tochter so gut wie krank. Vielleicht brütete sie tatsächlich etwas aus, vielleicht war sie deshalb so unruhig und wild. Als Kissy anrief, um Dynah gute Nacht zu sagen, erwähnte er den Wutanfall nicht und meinte nur, sie wäre bereits eingeschlafen. Burke war offenbar im selben Raum wie sie, so daß er lediglich die Termine für den kommenden Tag mit ihr besprach. Dynah ging es am nächsten Morgen zwar besser, dennoch beschloß er, sie vom Pool fernzuhalten und es langsam angehen zu lassen. Sie machten einen Spaziergang zum Campus. Kissys Fotoserie sollte bald abgehängt werden und er wollte sie gern noch einmal sehen. Er brachte Dynah zu einem Seitenflügel der Galerie, wo es eine Sonderausstellung für Kinder gab, und machte sich allein auf den Weg. Die Fotos haben tatsächlich was, überlegte er, während er langsam von einem zum andern ging. Nach einer Weile vergaß er, daß Kissy sie gemacht hatte, und dachte nur noch an Ruth, die Stück für Stück vor seinen Augen starb. Als Dynah vergnügt angehüpft kam, machte er sich mit ihr auf den Heimweg. Da es windig und kalt war, nahmen sie die Abkürzung durch das Wäldchen. Trotz des schlechten Wetters saß jemand auf der Bank vor der Gedenkstätte. Neugierig blieb Junior stehen. Wer immer es war, beugte sich angestrengt vor, als wolle er geradewegs durch den Grabstein sehen. Dynah lief voraus, bis sie direkt vor dem Mann auf der Bank stand. »Warte, Dynah«, rief Junior. »Komm her.« Er ging zu ihr. Sie schaute ihn fragend an. »Setz dich. Ich möchte mich eine Minute ausruhen.« Bereitwillig ließ sie sich auf die Bank plumpsen. Der Mann am anderen Ende warf ihnen einen kurzen Blick zu und starrte dann wieder auf den Stein. Dynah begann unruhig zu zappeln. »Warum, Daddy? Du bist doch gar nicht müde.« »Nein. Ich war bloß länger nicht mehr hier. Das ist einer der Lieblingsplätze deiner Mutter…« »Ich weiß. Es ist eine Gedenkstätte. Wir kommen ständig her.« Der Mann am anderen Ende der Bank blickte auf. Er trug eine randlose Brille mit runden Gläsern und einen Stoppelbart, wodurch
er wie ein Relikt aus den Siebzigerjahren aussah. Junior studierte das Gesicht einen Augenblick. »Houston«, sagte er plötzlich. »Sie sind James Houston.« Der Mann blinzelte kurz und nickte dann reumütig, fast als täte es ihm leid, diese Tatsache einzugestehen. »Waren Sie in der Galerie?«, platzte Junior heraus. Er spürte, wie sein Gesicht warm wurde. »Ja.« Houston wiegte sich auf der Bank vor und zurück. »Ich hab die Fotos gesehen.« »Meine Frau hat sie gemacht.« Junior kam sich ausgesprochen dämlich vor, als brächte er nur sinnloses Gestammel hervor. »Kissy Mellors. Sie hat ihren Mädchennamen behalten. Meinen wollte sie nicht benutzen. Sie ist damals Augenzeugin gewesen…« »Ich weiß.« Houston flüsterte die Worte beinah. Junior streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Junior Clootie.« Nach kurzem Zögern erwiderte Houston den Handschlag. Sein Griff war trocken und fest. Er war dünn, aber nicht ausgemergelt. Sah drahtig aus. Hart. Strahlte Kälte aus. Er erinnerte Junior an einen Schauspieler, der längst gestorben war: David Janssen. Nicht weil er wirklich wie David Janssen aussah, sondern eher wegen seiner Körpersprache. Janssen war der Serienheld in Auf der Flucht gewesen. Auch Houston wirkte wie ein Flüchtiger. Angespannt. Isoliert. Junior legte einen Arm und Dynahs Schultern und zog sie näher an sich. »Mr. Houston, das ist meine Tochter Dynah. Dynah, das ist Mr. Houston.« Houston schaute Dynah etwas abwesend an und nickte ihr mit dem Unbehagen eines Erwachsenen zu, der sich in der Gegenwart von Kindern unwohl fühlt. »Meine und Kissys Tochter«, fugte Junior hinzu. »Dynah ist über die Feiertage bei mir.« Houstons Blick kehrte zu Dynah zurück und blieb an ihr hängen. Junior starrte ihn an. Sah, wie er Dynah anstarrte. Ruckartig umklammerte er Dynahs Hand, stand auf und zog sie mit sich. »Wir sollten jetzt gehen. Es wird langsam kalt.« »Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Mr. Houston«, sagte Dynah. Houston nickte ernst. »Ganz meinerseits, Dynah.«
Junior blieb kurz stehen, um sich ein letztes Mal umzudrehen. »Sind Sie aus einem bestimmten Grund zurückgekommen?« Das war nicht besonders höflich, doch in einer Situation wie dieser hatte Zartgefühl keine Priorität. Ein schwaches Lächeln umspielte Houstons Lippen. »Vor Jahren wollte man mich hier Medizin studieren lassen. Mein Großvater hinterließ der Universität etwas Geld. Und jetzt sind sie so freundlich, mich wieder aufzunehmen.« Junior nickte und schob Dynah durch die Baumgruppe vor sich her auf den Weg. Obwohl Dunny Dynah hätte nach Hause bringen sollen, war es Junior, der mit ihr auf die Haustür zusteuerte und Mike Burke ihre Reisetasche sowie eine Einkaufstüte voller Videos mit Kinderfilmen entgegenstreckte. Ungeduldig riß dieser ihm beides aus der Hand und stellte es sofort und bestimmt neben sich auf dem Boden ab. »Mommy, darf ich ein Video sehen?«, bettelte Dynah. »Aber nur eins«, gab Kissy lächelnd zurück. Dynah schnappte sich die Plastiktüte und stürzte entzückt zum nächsten Videorecorder. »Ich muß etwas mit dir besprechen«, sagte Junior. »Tun Sie sich keinen Zwang an«, forderte Burke ihn finster auf. »Nicht hier.« Junior schüttelte den Kopf. »Ich muß mit Kissy allein reden. Das geht nur sie und mich etwas an.« Fassungslosigkeit und Wut machten sich in Burkes Zügen breit. Juniors Blick ließ Kissys nicht los. »Sie kann es Ihnen später erzählen, wenn sie das möchte, aber erst will ich mit ihr reden.« »Schon wieder das Thema Schule?« Kissy seufzte. Junior ging sofort darauf ein; ein ausgezeichneter Vorwand. »Genau.« Er deutete mit dem Kinn in Burkes Richtung. »Zwanzig Minuten im Denny’s. Sie können uns ja von ein paar Bullen beschatten lassen, wenn Sie ein Problem damit haben.« Burke war außer sich, aber ihm blieb keine Wahl. Während Kissy ihre Jacke holte, verabschiedete Junior sich von Dynah. Kissy starrte schweigend aus dem Fenster des Benz. Er fuhr nicht zu Denny’s. Er fuhr zum Valley und lenkte den Wagen in ein Kiefern-
wäldchen, das im Sommer als Picknickgelände diente. Es bot einen wunderbaren Ausblick auf den Fluß, war bestens gegen die Straße abgeschirmt und des Nachts ein beliebter Treffpunkt für Schwule, Drogendealer und Nutten. »Ich bin gestern einem alten Freund von dir über den Weg gelaufen«, begann Junior, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Auf dem Campus, an der Gedenkstätte.« Sie schaute ihn mit mäßigem Interesse an. »James Houston.« Ihr Blick wurde schärfer und sie lächelte schwach, sagte aber immer noch nichts. Die Gelassenheit, mit der sie ihn ansah, hatte etwas geradezu Unheimliches. »Er ist raus aus dem Knast«, fuhr Junior fort, »und will sein Medizinstudium wieder aufnehmen. Ich schätze, die Uni fühlt sich verpflichtet, weil sein Großvater ihr Geld hinterlassen hat.« Sie nickte. »Er ist Dynahs Vater«, stellte Junior fest. Sie nickte wieder. Zögernd diesmal. »Ihr biologischer Vater. Du bist ihr Vater in der einzigen Hinsicht, die zählt.« Er gab ein zittriges Lachen von sich. »Danke. Nein, wirklich, ich meine es ernst. Das ist das Netteste, was du je zu mir gesagt hast.« Sie lächelte, als mache er zu viel Lärm um nichts. Schließlich war es offensichtlich. »Warst du in ihn verliebt?« »Nein.« »Weiß er Bescheid? Über Dynah?« Sie schüttelte den Kopf. »Das Gefühl hatte ich auch. Aber so wie er sie angesehen hat, weiß er es spätestens jetzt.« Kissy räusperte sich. »Das macht nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er irgendwelche Ansprüche auf sie erhebt.« »Aber er wird hier leben. Was ist, wenn Burke davon erfährt?« »Weshalb sollte es für ihn einen Unterschied machen, ob sie deine Tochter oder die eines anderen ist?« »Keine Ahnung. Das frage ich dich. Wahrscheinlich ist er nicht gerade begeistert, wenn er hört, daß das Kind seiner Frau die uneheliche Tochter eines Verbrechers ist.« Sie wandte den Blick ab. Ihr war ganz eindeutig egal, wie Mike Burkes Reaktion ausfallen würde. Sie drehte sich plötzlich um,
rutschte zu ihm herüber, nahm sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn. Zunächst war er über ihre Heftigkeit erstaunt, dann dankbar dafür. Die Bullen machten Stichproben in dieser Gegend, sie konnten jederzeit aufkreuzen; sie beide waren fürchterlich indiskret, aber das störte ihn nicht die Spur. Genauso wenig wie sie offenbar. Sie genossen es einfach, miteinander herumzuschmusen, und er spielte kurz mit dem Gedanken, mit ihr zu seinem Haus zu fahren, verwarf ihn jedoch gleich wieder. Der Ort war perfekt, er gehörte dazu. Sie brauchten lediglich ein bißchen die Kleidung zu lockern, ein paar Knöpfe zu öffnen und seine Hose aufzumachen – bei ihr war der Aufwand natürlich etwas größer – , dann setzte sie sich rittlings auf ihn. Es dauerte einen langen, süßen Moment des Schweigens und der ineinander verschränkten Blicke. Sie lösten sich auch dann nicht voneinander, nachdem sie beide gekommen waren. Ihr Kopf lehnte entspannt an seiner Schulter. »Komm zu mir zurück«, sagte er. Sie legte einen Finger auf seine Lippen. »Ich denke schon seit längerem darüber nach, ob ich nicht lieber allein leben sollte. Vielleicht bin ich einfach untauglich als Ehefrau. Ich werde Mike sagen, wir hätten darüber gestritten, Dynah in ein Internat zu stecken, und ich hätte gewonnen.« Junior schaute ihr nach, als sie im Haus verschwand. Er kam sich wie ein Idiot vor wegen Houston – und wegen ihr. Solange es Dynah gab, hatte sie ein Geheimnis vor ihm bewahrt. Houston war ihr Geliebter gewesen, eine Nacht, ein paar Nächte, eine Woche lang – was immer. Sie war schwanger geworden, hatte ihn geheiratet, Dynah zur Welt gebracht, Jahr für Jahr mit ihm zusammengelebt und nie ein einziges Wort darüber verloren. Er hatte das Gefühl, sie nie wirklich gekannt zu haben. Sie war ihm genauso fremd wie Ruth Prashker auf den Fotos in der Galerie, die von Sekunde zu Sekunde in immer größere Ferne entschwand. Wenn die Bilder abgenommen wurden, machte die Galerie immer einen viel schäbigeren Eindruck. Überall lag Verpackungsmaterial herum, der Raum wirkte seltsam nackt. Manchmal kamen zufällig Leute vorbei und blieben vor dem stehen, was noch an den Wänden hing, aber sie schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit, während sie
daranging, ihre Ausstellung aufzulösen. Latham und sein Lehrassistent halfen ihr dabei. Sie kniete gerade auf dem Boden, um einen Karton mit Klebeband zu umwickeln, als noch jemand hereinkam. Trotz der nagelneuen, noch unverwaschenen Levi’s und der nahezu ungetragenen Turnschuhe erkannte sie den Gang, die Beine und Füße sofort. Als er neben ihr stand, schaute sie auf. Er sah älter aus, älter, als er den Jahren nach war, und wirkte nervös. »Hallo, Jimmy«, sagte sie, dann konzentrierte sie sich wieder auf den Karton. Er hockte sich neben sie. »Hallo. Ich dachte mir schon, daß ich dich hier finde.« Er sah sich um. »Bin ich im Weg?« »Überhaupt nicht.« Er ließ sich zurücksinken, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, kreuzte die Beine, legte die Unterarme auf die Knie und schaute ihr schweigend beim Arbeiten zu. Latham kam vorbei, bedachte ihn mit einem kurzen Blick, sah Kissy an, riß vielsagend die Augen auf und schwebte weiter, um mit seinem Assistenten zu plaudern. »Ich bin mehr als einmal hier gewesen, um mir die Bilder anzusehen«, sagte Jimmy. »Verdammt gute Arbeit.« »Sie erscheinen in einem Buch. Bis auf die Einleitung ist das Manuskript fertig.« »Du hast wirklich das Beste aus dieser Nacht rausgeholt«, stellte er fest. »Die Fotos, ein Buch, einen Ehemann, ein Kind…« Sie fuhr mit einem Teppichmesser durch das Klebeband. »Du hattest schon immer eine grausame Ader, Jimmy.« Er schwieg einen Moment. Sie schob den Karton zur Seite und kniete sich hin. »Ja«, meinte er schließlich. »Das war so und hat sich bis heute nicht geändert.« »Du bist also nicht an ihr interessiert?« Eine schlichte Frage, kühl und neutral. Wut blitzte in seinen Augen auf, gab seiner Stimme einen gepreßten Klang. »Nein, verdammt! So ist das nun mal. Erwarte nicht von mir, daß ich dir auch noch dankbar bin, Kissy. Wenn du schon über Grausamkeit sprechen willst – Dynah ist wieder etwas, das man mir genommen hat. Hast du das jemals von der Seite aus betrachtet?«
Sie saß einen Augenblick sehr still da und schüttelte dann den Kopf. »Ich hab eine Menge gelesen«, fuhr er fort. »Zeug, auf das ich früher keinen Blick verschwendet hätte. Trivialliteratur. Da war zum Beispiel dieser blaublütige Gammlertyp, der sich für eine Art Weißen Ritter hielt. Lief rum, um denen zu helfen, die das Gesetz im Stich gelassen hatte. Klaute ihnen ihr Geld zurück und so weiter und gab am Boden zerstörten Frauen ihren Lebensmut wieder.« Er starrte an die gegenüberliegende Wand. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte sie in ihm einen Mann, der lange Zeit ausschließlich in seinem Kopf gelebt hatte. »Jedenfalls taucht am Ende der Serie dieses Kind von ihm auf. Es stellt sich heraus, daß eine der Frauen schwanger von ihm geworden war und es ihm niemals verraten hat.« »Du hast meinen Brief zurückgehen lassen…« »Ich weiß, ich mach dir auch keinen Vorwurf deshalb. Wie auch immer – das Gleiche passiert in allen möglichen Geschichten. Plötzlich taucht ein Kind auf, von dessen Existenz der Held nicht die geringste Ahnung hat. Und dieses Kind ist jedes Mal ein Prachtexemplar, ein mordsmäßiger Kämpfer, ein Tausendsassa – mit anderen Worten Daddys absolutes Ebenbild. Niemals ein abstoßendes, nichtsnutziges, dämliches Gör. Und das Kind weiß immer über Daddy Bescheid, denn alles, was Mommy getan hat, außer es zu kleiden und zu nähren und achtzehn Jahre lang durchzubringen, ist, Loblieder auf seinen Vater zu singen. Sie wollte zwar nicht mit ihm leben, oder ihm vielleicht auch einfach keine Last sein, wo er doch so ein Freigeist war, aber sie fühlte sich geadelt, seinen Sproß aufzuziehen, und machte ihn zur Legende für dieses Kind.« Er grinste. »Männer sind unglaublich egoistisch, stimmt’s? Als ich die Geschichten las, schimpfte ich ununterbrochen vor mich hin: ›Was fällt dem Kerl eigentlich ein? Verläßt er sich drauf, daß die Frau die Verhütung übernimmt, oder ist es ihm egal oder was?‹ Und die ganze Zeit über hab ich dir vertraut. Ich war nie auf die Idee gekommen, du könntest schwanger von mir sein, geschweige denn das Kind auch noch kriegen.« »Es tut mir leid, Jimmy. Ich wollte dich nicht verletzen.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe zwei Menschen auf dem Gewissen. Mich kann nichts mehr erschrecken, schon gar nicht ein Kind.
Vielleicht entpuppt sie sich als das einzig Gute, das ich in meinem Leben zustande gebracht habe.« »Willst du weiterstudieren?« »Ich hab schließlich noch ein paar Jährchen vor mir, oder? Falls mich nicht irgendein besoffenes Arschloch überfährt.« »Möchtest du sie sehen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt noch nicht. Vielleicht irgendwann einmal.« »Ich wünsch dir viel Glück, Jimmy.« Er nahm ihre Hand und gab ihr einen leichten Kuß auf die Wange. »Danke. Ich dir auch.« Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, rauschte Latham herbei. »Neuer Freund?« »Alter Freund«, gab sie zurück. »So was in der Art.« »Kam mir bekannt vor. Kenne ich ihn?« »James Houston.« Latham blähte die Nasenflügel. »Aber nicht doch…« »Er studiert wieder hier.« »Faszinierend – ist er immer noch bis über beide Ohren in dich verknallt, oder sehe ich Gespenster?« »Du siehst Gespenster«, lachte Kissy. »Wir waren nie ineinander verliebt.« »Soso.« Latham schürzte die Lippen. »Lügnerin. Gerade ist mir klar geworden, weshalb mir sein Gesicht so vertraut vorkam. Du böses, böses Weib. Weiß Junior Bescheid?« »Ja, und Latham – halt bitte deinen Mund. Viele andere Leute tun das nicht.« »Tja, da hast du wohl recht«, pflichtete er ihr seufzend bei. Butch zupfte kumpelhaft an seinem Ellbogen und deutete auf einen Tisch in der Ecke. Burke nahm seinen Doppelten vom Tresen und folgte ihm. »Und, alles in Ordnung?«, erkundigte er sich. »Aber immer doch«, erwiderte Butch, während sein Blick den Raum nach bekannten Gesichtern durchforstete und er hier ein Nikken oder ein Grinsen zum Besten gab, dort ein knappes Winken einstreute. Dann rief er eine Kellnerin zu sich und bestellte ein Bier. »Vielen Dank, daß Sie mich mitgenommen haben«, sagte Mike.
Vergnügt zwinkerte Butch ihm zu. Sie waren in die Landeshauptstadt gefahren, um mit Hilfe einer Lobby auf die Annahme einer Gesetzesvorlage für schärfere Verbrechensverfolgung hinzuarbeiten. Bei den Wählern fand ihr Anliegen großen Zuspruch, außerdem brachte es sie in die Zeitungen. Die fragliche Gesetzesvorlage hatte dafür gesorgt, daß Staatsanwälte aus sämtlichen Teilen des Landes zusammengeströmt waren, und bot eine glänzende Gelegenheit, persönliche Kontakte zu knüpfen. Das nächste Meeting war für den kommenden Nachmittag angesetzt, was jedem einen ausgezeichneten Vorwand verschaffte, den Samstagabend gleich dranzuhängen. Butchs Blick fiel auf Burkes Glas. »Der wievielte ist das?« Burke hielt zwei Finger hoch. »Warum belassen Sie’s nicht dabei?« »Gut«, meinte Burke. »Kein Problem.« Die Kellnerin tauchte zwischen ihnen durch, um Butchs Bestellung abzuliefern. »Auch noch einen, Mike?«, erkundigte sie sich. Er schenkte ihr ein breites Grinsen. »Nein danke, Schatz.« Sie lächelte zurück und wackelte davon. »Hübscher Arsch«, bemerkte Butch. »Sind Sie interessiert an meinem Job?« Burke erschrak. »Sicher. Irgendwann mal.« »Ich habe einen Entschluß gefaßt, Mike. Es wird langsam Zeit für mich, einen Fuß ins Allerheiligste zu kriegen.« Sie schüttelten sich lachend die Hand. Butch hob sein Bier und Burke seinen Scotch, dann stießen sie auf ihr neues Ziel an. Sobald das erledigt war, rückten sie dicht zusammen und Butch unterbreitete ihm seinen Plan. »Während ich in den nächsten beiden Jahren im Wahlkampf stehe, leiten Sie das Büro. Sie müssen dafür sorgen, daß ich einen guten Eindruck mache und eine weiße Weste behalte. Meinen Sie, Sie bekommen das hin?« »Keine Frage.« »Sollte ich gewählt werden, lege ich mein Amt nieder, und dann sind Sie derjenige, der in der nächsten Amtsperiode im Sessel des Bezirksstaatsanwalts sitzt. Habe ich es bis dahin nicht in den Kongreß geschafft, gehe ich in die freie Wirtschaft und scheffle einen Haufen Geld, bis sich die nächste Chance auftut.«
Burke hielt es für wahrscheinlicher, daß Butch im Fall einer Wahlniederlage fest in seinem Sessel sitzen bleiben und ihn weitere zwei Jahre schmoren lassen würde. Trotzdem nickte er. »Hört sich gut an.« Butch klopfte mit dem Finger gegen den Rand seines Glases. »Eine Frage, Mike. Es muß sein. Sind Sie sauber? Keine Ungereimtheiten, die plötzlich ans Licht kommen könnten?« Eine Moment lang schaute Burke seinem Boss ruhig in die Augen. Dann meinte er: »Sie kennen mich so gut wie meine eigene Mutter, Butch. Haben Sie an etwas Spezielles gedacht?« Butch senkte den Blick auf sein Bier. »Ich an Ihrer Stelle würde auf Bier umsteigen. Zumindest in der Öffentlichkeit. Die Wähler sind ziemliche Puritaner geworden, besonders wenn’s ums Trinken geht. Man sieht Sie zu oft mit harten Sachen in der Hand, da muß nicht mehr viel passieren und schon geht das Gerücht, Sie hätten ein Problem. Die ganze Stadt weiß, daß es bei Ihrem Dad so war.« Burke lachte. »Einverstanden. Du meine Güte, ich bin schon Monate sogar ohne Bier ausgekommen.« Butch nickte beschwichtigend. »Ja ja, ich weiß. Ich persönlich mache mir auch gar keine Sorgen. Ich rede von Ihrem Bild in der Öffentlichkeit. Da ist noch etwas – Sie und Kissy…« »Das ist stabil«, sagte Burke schnell. »Stabil wie eine Festung.« »Sie lassen sich nirgends zusammen blicken…« »Sie kommt sich wie eine Außenseiterin vor.« Er sah Butch ernst an. »Kissy hat mit Politik nichts im Sinn. Sie ist Künstlerin, ein bißchen exzentrisch vielleicht. Sie hat das Gefühl, sie paßt nicht dazu.« »Dieses Kleid auf meiner Geburtstagsparty!« Butch lachte. »Ich fand es toll – aber ich wußte, daß es nur ein Scherz war. Sie liebt eben das Besondere.« »Sie ist einfach unsicher. Kann sein, daß sie es damit übertreibt. Ich versuche, Sie mehr aus dem Haus zu locken.« »Gut. Ich bin sicher, Narcissa würde ihr gern dabei helfen. Sie wissen schon – Sie zum Mittagessen einladen, ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen…« »Wirklich? Das würde sie tun? Ja, das wäre fantastisch…« In dem Stil ging es eine Zeit lang weiter. Er sagte, was Butch hören wollte. Dann mußte er Kissy eben ein bißchen Dampf machen. Es würde sie schon nicht umbringen. Sonst war sie auch nicht so zim-
perlich. Er konnte sie sich sogar mit Narcissa beim Lunch vorstellen. Meine Güte! \ 34 [ Außer dem Pizzaboten läutete nie jemand an seiner Tür und er hatte keine Pizza bestellt. Jimmy Houston blinzelte durch den Spion. Draußen stand Kissy. Mit zittrigen Fingern öffnete er die Tür. »He«, rief er nervös, »so eine Überraschung! Wie hast du mich gefunden?« »Über das Einwohnermeldeamt«, gab sie zurück. Sie hielt eine Zimmerpflanze in der Hand, deren Topf mit Silberfolie umwickelt war. »Komm doch rein!« Seinen ersten Besuch in dieser Wohnung zu empfangen versetzte ihn in den gleichen Zustand freudiger Aufregung wie damals mit sechs, als er ungeduldig aus dem Fenster gespäht und auf den ersten Gast seiner Geburtstagsparty gewartet hatte. Es war bloß eine winzige Dachwohnung in einer miesen Gegend, aber sie kostete nicht viel. Die Decke der Mansarde war hoch, durch die Fenster hatte er einen wunderbaren Blick über die anderen Dächer und auf alte Baumriesen hinab. Außerdem hatte er sie möbliert bekommen – mehr oder weniger jedenfalls. Zum größten Teil stammte die Einrichtung aus Ramschläden, doch die Matratze war nagelneu und nichts definitiv unbequem. Der Hauptvorzug aber bestand darin, daß es keine Gefängniszelle war. Sie gab ihm die Pflanze – eine Sansevieria, auch Schwiegermutterzunge genannt, die man nicht totkriegen konnte. Ein ironisches Geschenk. Er grinste und bedankte sich überschwenglich. Dann wußte er einen Moment lang nicht weiter. »Kaffee!«, meinte er schließlich erleichtert. Es war keine Frage, eher eine Feststellung; Kaffee konnte man einem Gast immer anbieten. Sie nickte zustimmend und öffnete den Reißverschluß ihrer Jacke. Ungeschickt half er ihr heraus. Es war eine Motorradjacke aus dikkem schwarzem Leder mit Fransen, aber keinem weiteren Schnickschnack. Und extra für sie angefertigt, wie er deutlich sah. Dazu trug sie Cowboystiefel, verwaschene Levi’s und ein langärmliges HenleyShirt, das sich weich um ihren Körper schmiegte. Er konnte die Er-
innerungen nicht zurückdrängen, genauso wenig wie vor ein paar Tagen in der Galerie. Sie war sieben Jahre älter, aber sie hatte sich nicht verändert, sie sah sogar noch besser aus – sie sah zu schön aus, um wahr zu sein. Während er mit zitternden Händen den Kaffee zubereitete und das braune Pulver über die ganze Arbeitsplatte verstreute, schaute sie aus dem Fenster. Die Straßenlaternen strahlten von unten die kahlen Bäume an. Er konnte es kaum erwarten, die Äste wieder grün werden und das Licht durch sie hindurch scheinen zu sehen. Die Kaffeemaschine war neu, wie all seine elektrischen Geräte: der kleine Fernseher, der einfache Videorecorder, der billige Hifi-Turm. Er hatte sie mit unerwartetem Vergnügen gekauft. Das Beste aber war der Macintosh-Computer, der auf dem zerkratzten Schreibtisch aus dem Heilsarmeeladen stand. Er hätte für das Geld auch einen Gebrauchtwagen bekommen, aber er hatte sich gesagt, mit einem Computer sei die Gefahr, jemanden zu töten, wesentlich geringer. Er war nicht einmal sicher, ob er den Führerschein zurückhaben wollte. Er besaß ein Fahrrad und fuhr gern damit herum. Er ging gern zu Fuß. Er bewegte sich überhaupt gern in einer Welt, die nicht von Mauern umgeben war. »Dejâ-vu«, sagte er lachend. Sie sah ihn verwirrt an. »Du bist gekommen, um mir Gesellschaft zu leisten«, erklärte er ihr. Sein Mund war plötzlich staubtrocken. »Bist du auch hier, um eine Nummer zu schieben?« Jetzt mußte auch sie lachen. »Dejâ-vu, alles klar.« Er merkte, daß er den Kaffeebecher, den er aus dem Schrank geholt hatte, beinah zerdrückte. Vorsichtig stellte er ihn ab, nahm einen zweiten heraus und reihte beide ordentlich nebeneinander auf. »Ich habe mich dir gegenüber wie ein Schwein benommen«, sagte er. »Ich fürchte, du erwartest von mir, daß ich mich jetzt wie ein anständiges menschliches Wesen aufführe. Ich hasse es, wenn man etwas von mir verlangt. Wenn du mir nur ein bißchen helfen würdest, den Druck abzulassen« – er befeuchtete seine Lippen – »ich habe acht Jahre lang sozusagen pausiert.« »Das ist schon in Ordnung, Jimmy.« Sie schien nicht wütend zu sein. Eher ironisch. Genauso ironisch wie die häßliche, stoische Pflanze, die sie ihm mitgebracht hatte.
»Warst du dabei? Als Ruth starb?« »Nein. Das habe ich leider verpaßt.« Er ging um die Küchentheke herum, setzte sich auf das Sofa und starrte auf den Boden. »Du hast es richtig gemacht. Du hast versucht, das Beste aus der Situation rauszuholen. Das Gleiche habe ich mit den sieben Jahren Gefängnis probiert. Ich stellte mir den Knast als eine Art Kompostieranlage vor. Wo aus Scheiße Düngemittel wird.« Kissy zwängte sich auf die Lehne eines wackligen alten Polstersessels. »Es ist vorbei.« Er nickte. »So vorbei, wie etwas vorbei sein kann.« Sie stand wieder auf und begann unruhig durchs Zimmer zu laufen. »Erzähl mir von dir Kissy«, meinte er. »Wie hast du es geschafft, an diesen Bullen zu geraten?« Sie zuckte mit den Achseln. »Schlechtes Karma.« Da. Die Kaffeemaschine gluckste. Er sprang auf, stürzte zu ihr hin und suchte Schutz in der unverfänglichen Frage nach Zucker oder Milch. »Keins von beiden.« Mit der Theke als Barriere zwischen ihnen reichte er ihr ihren Kaffee. Sie nahm den Becher, bedankte sich, nippte daran, stellte ihn ab. Er beobachtete ihren Mund, ihre Hände. Sie trug keinen Ehering, aber den Ringfinger zierte ein weißer Streifen. Sie hatte ihn für den Abend abgelegt. Er begegnete ihrem Blick, der kühl und gelassen war. Sie hatte die Musterung registriert. Plötzlich mußte er laut über seinen inneren Aufruhr lachen. »Die letzte Frau, mit der ich zusammen gewesen bin, warst du«, sagte er. »Ich mach mir vor Angst fast in die Hose.« Sie umrundete die Theke, blieb auf Armeslänge von ihm entfernt stehen und betrachtete ihn eingehend, als wäre er ein potentielles Bildmotiv und als fehle ihr nur noch die entsprechende Einstellung der Belichtungszeit. Er atmete ihren Geruch ein, weidete sich am Anblick ihrer Haut, ihrer gleichmäßigen Züge. Es gab nur wenige Spuren der Alterung zu entdecken: kaum sichtbare Fältchen in den Augenwinkeln, die Andeutung einer Furche zwischen den Augenbrauen. Für ihn war alles, was er sah, überwältigend schön. Sie berührte mit den Fingerspitzen seinen Mund. Er packte ihr Handgelenk,
drehte die Handfläche nach oben und leckte sie ab, stöhnte schwach auf, als er das Salz auf ihrer Haut schmeckte. Eine Frau in seinen Armen. Ein weiblicher Körper an seinen gepreßt. Der Mund einer Frau, ihre Brüste, ihre geschwungenen Hinterbacken, der Spalt zwischen ihren Beinen. Er war wieder fünfzehn. Hart wie eine Granate und bereit, bei der bloßen Berührung von nacktem Fleisch zu explodieren, rieb er sich an ihr. »Nicht so schnell«, lachte sie atemlos, »laß dir doch Zeit.« Beschämt stand er da, während sie seelenruhig zum Bett ging und sich dagegen lehnte, um die Stiefel auszuziehen. »Ich hab kein Gummi«, meinte er plötzlich mit einem Anflug von Panik, gepaart mit Erleichterung, weil er auf diese Weise dem Risiko zu versagen entging. »Das macht nichts.« Sie lächelte ihn tatsächlich an. »Hast du beim letzten Mal auch gesagt. Wenn du schon keine Angst hast, schwanger zu werden, solltest du dir wenigstens Gedanken wegen AIDS machen.« »Ich mache mir keine Gedanken wegen AIDS, Jimmy.« »Und was ist mit einem Baby?« Er lachte ungläubig. »Bist du deshalb gekommen? Eins hast du schon von mir – soll ich etwa noch mal herhalten?« Jetzt mußte auch sie lachen. »Nur keine Panik, Jimmy. Ich tu’s nicht mehr, ohne dich vorher zu fragen, falls es das ist, was dir Sorgen macht.« Selbst wenn sie es tat – na und? Wegen des ersten Kindes hatte sie ihn in keinster Weise belästigt. Er hatte schon Schlimmeres erlebt als ungewollten Nachwuchs, der ihm aufs Auge gedrückt wurde. Er schleuderte seine Turnschuhe in die Ecke und fummelte an seinen Knöpfen herum. »Laß mich das machen«, sagte sie. Ihre Finger knöpften den obersten Hemdenknopf auf, den darunter – dann waren ihre Fingerspitzen auf seiner Brust, strichen über seine Brustwarzen. Ihre linke Hand wanderte zu seinem Schritt, glitt an seinem Glied entlang und begann es zu massieren. Er stieß sie rücklings aufs Bett und warf sich auf sie, seine Zunge in ihrem Mund, seine Finger am Bund ihrer Levi’s. Sein Ständer wurde weich. Er konnte es nicht fassen. Er hatte das Gefühl, jede Sekunde losspritzen zu müssen, aber sein Schwanz war schlaff wie ein durchbohrter Reifen. Wie nach einer Beinamputation:
Empfindung ja, Substanz verschwunden. Er hatte eine Phantomerektion. Er rollte sich auf den Rücken, tastete voll Abscheu und Entsetzen nach seinem Schwanz und fand ihn weich wie eine gekochte Spaghetti. »Ich kann nicht«, stieß er hervor. »Ich will es zu sehr.« Sie hatte den Ellbogen auf die Matratze gestützt, den vom Küssen geröteten Mund leicht geöffnet, und schaute ihn seelenruhig an, was ihn an sich schon erregte. »Du bist völlig verkrampft. Leg dich hin und laß dir von mir helfen, dich zu entspannen. Hast du Körperlotion? Ich massiere dich erst mal ein bißchen.« Sobald er ihre Hände auf sich spürte, merkte er, wie recht sie hatte. Sein Körper war vor Anspannung hart wie ein Brett. »Junior tut das immer für mich«, erklärte sie, während sie seine Schultermuskulatur knetete. »Tut?« Sie sagte lange Zeit nichts, so lange Zeit, daß er schon fürchtete, sie verärgert zu haben. »Ich habe einen Fehler gemacht«, meinte sie schließlich und stieß ein kurzes, hörbar wehmütiges Lachen aus. Ihre Hände arbeiteten sich an seinem Rücken hinab, lockerten ihn, wärmten die Muskeln. »Klingt, als wär’s nicht bei einem Fehler geblieben«, wagte er sich vor. »Ja, klar. Du kennst dich mit Fehlern aus. Man sitzt seine Zeit eben ab, nicht wahr?« »Nein.« Er verrenkte sich ein wenig, um sie ansehen zu können. »Wenn es sich um die Art von Fehler handelt, reicht man die Scheidung ein. Jedenfalls hab ich gehört, daß man das so macht.« Ihre Fingerknöchel gruben sich in seine Hinterbacken, und er faßte im selben Moment den Entschluß, absolut dankbar für ihre Fehler zu sein. Besonders für den, der sie in die lausige Ehe mit dem Cop und als Konsequenz daraus in seine Wohnung geführt hatte, wo sie jetzt seinen Hintern massierte. Und seinen Schwanz von den Toten erweckte. Ihre durch die Lotion glitschigen Finger wanderten seinen Po hinab, kitzelten seinen Anus – und seine Hoden wurden hart wie Kristallkugeln. Er drehte sich auf den Rücken. Sie legte ihre Finger um seinen Schwanz und begann ihn mit geübter Hand zu bearbeiten. »Ich will dich sehen«, zitierte er sich selbst mit heiserer Stimme.
Sie zögerte. »Ich bin sieben Jahre älter. Ich habe ein Kind geboren…« »Ich hab in all den Jahren keine Frau in natura mehr vor mir gehabt, Kissy.« »Mach du’s.« Als er ihr Hemd aufknöpfte, wurden seine Hände allmählich ruhiger. Er enthüllte nackte Haut, einen BH, die vollen Brüste, deren Gipfel sich unter dem Stoff erhoben, legte die Schultern mit den kräftigen Deltamuskeln einer Schwimmerin frei, die durchtrainierten Arme. Beim Rascheln ihrer Levi’s, als er sie ihr von den Beinen streifte, wurde seine Kehle eng. Sieben Jahre und ein Baby – und ihr Körper raubte ihm immer noch den Atem. Ihre Finger umschlossen den Ansatz seines Glieds und führten es dorthin, wo die Hitze war, in den engen Schlauch aus pulsierendem Fleisch. Sie sorgten dafür, daß es dort blieb, preßten und massierten ihn. Er war härter als jemals zuvor. Ihre Hüften hoben sich ihm entgegen. Nichts, wofür es sich zu sterben lohnt, schrien die Poster von den Wänden der Gefängniskrankenstation. Dort starben die Kerle daran. Und trotzdem. Die Körper hier, diese beide Körper hier auf seinem Bett, seiner und ihrer – sie lebten. Und wie. »Ich muß jetzt gehen.« Sie hatte ihm erzählt, ihr Mann wäre über das Wochenende dienstlich verreist. »Bleib über Nacht.« »Nein.« Keine weitere Erklärung. Sie schuldete ihm nichts, nicht einmal eine Entschuldigung. Er schaute ihr beim Anziehen zu. »Komm morgen Abend wieder. Ich möchte gern wach werden, wenn du noch da bist.« Sie blickte kurz von ihren Hemdknöpfen auf. »Ich werd’s versuchen.« Die Stille wurde dichter, nachdem sie gegangen war. Er fühlte sich wesentlich einsamer. Er zog die Decke bis ans Kinn und ließ die letzten Stunden noch einmal an sich vorüberziehen. Zum Glück war er nicht zu einer Prostituierten gegangen, was er sich innerhalb der ersten Stunde seiner wieder gewonnenen Freiheit fest vorgenommen hatte. Das Warten war jede Sekunde wert gewesen, inklusive Zögern, Widerstreben, Angst. Es hatte sich gelohnt, um mit Kissy zusammen zu sein, mit der ihn eine gemeinsame Geschichte verband. So dürftig
diese auch war, sie hatte nach wie vor Bedeutung für ihn. Sie war ihm schon einmal zu Hilfe gekommen, hatte sein Kind geboren und war wiedergekommen. So rätselhaft ihre Beweggründe ihm auch waren, er empfand tiefe Dankbarkeit dafür. Dankbarkeit war ein wesentlicher Bestandteil der schweren Lektion, die er hatte lernen müssen. Was fiel ihm überhaupt ein, die Ehefrau des stellvertretenden Staatsanwalts zu vögeln? Es barg eine Menge Risiken. Zum Teufel damit. Das Leben war schon verdammt wundervoll in seiner Unberechenbarkeit. Und grauenhaft auch – aber nicht jetzt, wo er gerade zum ersten Mal nach sieben Jahren mit einer Frau zusammen gewesen war. Er liebte sie, ja. Vielleicht war es dämlich, eine Frau zu lieben, bloß weil sie sich von ihm bumsen ließ, aber er tat es. Hatte er eine andere Wahl? Ende Januar – Junior war seit einer Woche bei der Mannschaft. Er hatte Peltry mit beinah greifbarer Erleichterung unter sich verschwinden sehen. Es lag nicht nur an der Freude darüber, wieder arbeiten und zur Rettung der Saison beitragen zu können. Er hatte plötzlich erkannt, was sein wirkliches Leben war: seine Arbeit. Er spürte, wie Peltry sich an ihm festklammerte, daß es wie ein Gewicht an ihm hing und versuchte, ihn hinunterzuziehen, auf seinen Grund und Boden, in seine Kreise hinein. Indem er Peltry hinter sich ließ, ließ er alles hinter sich, was er nicht in den Griff bekam. Straight out the back, Jack. Sie fuhren von Stadt zu Stadt, kreuzten zwischen Nirgendwo und Überall herum. Flugzeuge und Hotels. Menschenmengen, die völlig aus dem Häuschen waren, nur weil sie ihn sahen. Eines Tages ging er in eine Buchhandlung. Eine der Frauen, die dort arbeiteten, fragte, ob sie ihm helfen könne. Sie kamen ins Gespräch und er lud sie zum Essen ein. Sie hieß Miranda, war ein paar Jahre älter als er, kinderlos, geschieden und ehemalige Alkoholikerin. Er fühlte sich auf Anhieb wohl mit ihr. Nach dem Spiel ging sie mit ihm essen und blieb über Nacht in seinem Hotelzimmer. Zuvor hatte er ihr allerdings erklärt, er lebe nicht direkt allein, woraufhin sie gelacht und ihm versichert hatte, absolut nichts von ihm zu erwarten. Trotzdem hatte er sich ihre Telefonnummer aufgeschrieben und noch nicht weggeworfen. Er mußte immer wieder an sie denken und fragte sich, ob er
sie wiedertreffen und ausprobieren sollte, wohin das Ganze führen mochte. Er verspürte den Drang, Kissy von ihr zu erzählen, doch sie schien nie Zeit zu haben, ans Telefon zu kommen, wenn er Dynah anrief, oder er bekam lediglich den Anrufbeantworter oder Officer Hilfreich an den Apparat. Während des Flugs zu einem der nächsten Auswärtsspiele hörte er über das Bordtelefon seine Nachrichten ab. Die erste stammte von ihr. Ihre Stimme klang durch die Aufzeichnung und die Satellitenschaltung des Flugzeugs verzerrt. Sie sagte seinen Namen, lachte und begann unvermittelt zu schluchzen. Er wußte im selben Moment, daß sie schwanger war. Was sonst sollte sie veranlassen, zur selben Zeit in Tränen und Gelächter auszubrechen? Er hatte es also endlich geschafft. Er hatte sie geschwängert. Sie legte auf und das Band spulte zur nächsten Nachricht vor. Wieder sie, ruhiger diesmal. »Mein Lieber«, flüsterte ihre Stimme. »Was soll ich bloß tun?« »Es kriegen!«, sagte er zu dem Band. »Unbedingt! Ich komme nach Hause, sobald ich kann. Ehrenwort. Ganz bestimmt. Mensch, toll…« »Verzeih mir.« Sie hörte sich wieder zittrig an. »Ich bin schrecklich allein, manchmal weiß ich einfach nicht, wie es weitergehen soll…« Junior wählte ihre Nummer. Zum Teufel mit der Uhrzeit, zum Teufel, falls Pißnelke abnahm – aber die Leitung war besetzt. Und das blieb sie auch, als hätte jemand den Hörer daneben gelegt. Die Verbindung gekappt. Sie würden zu spät kommen. Die Dinge eskalierten immer gerade dann, wenn man schon halb aus der Tür war. Burke knallte seine Aktentasche auf den Garderobentisch und sprang die Treppe hinauf. Wenigstens verbrachte Dynah die Nacht bei Dunny und Ida. Ein Abend ohne Skateboard oder anderen Kinderkram, über den man stolpern konnte, ein Abend ohne die Wutanfälle der kleinen Hexe – allein das war schon eine Party wert. Kissy saß im Schlafzimmer, in ihrer Unterwäsche, und schaute fern. »Um Himmels willen – warum bist du noch nicht angezogen?«, fuhr er sie an, während er seine Krawatte herunterriß. »Ich habe gerade meinen Bruder Kevin gesehen«, gab sie zurück. »Auf CNN. In Groszny. Er steht offenbar für den Sender hinter der Kamera, um…«
»Wie schön für ihn. Mach mir einen Drink, ja?« Das war eine wesentlich sinnvollere Aufgabe für sie. Er kannte ihren verfluchten Bruder nicht einmal. Sie hatte von dem Versager seit wann nichts mehr gehört? Seit zehn Jahren? Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte er sich auf den Weg in die Dusche. Das heiße, wie Nadelstiche auf ihn herabprasselnde Wasser ließ ihn nach Luft schnappen. Plötzlich schob sich ihre Hand mit einem Glas darin durch den Dampf. Er nahm es ihr ab und paßte gut auf, daß kein Wasser hineinlief, als er sich in eine geschützte Ecke der Duschkabine stellte, um einen tiefen Schluck zu nehmen. Die seidenweiche Flüssigkeit wärmte seinen Bauch. War jeden einzelnen Penny wert. Kissy schaltete den Fernseher aus. Es war Kevin gewesen, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel, auch wenn er natürlich älter aussah. So ungefähr wie damals ihr Vater, als er sich aus dem Staub gemacht hatte. Später würde sie ihre Mutter anrufen und ihr mitteilen, daß er noch am Leben war. Sie würde sich auch bei CNN melden und einen Weg finden, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Die Erkenntnis, daß es Kevin gut ging, war eine unglaubliche Erleichterung für sie – sofern es jemandem gut gehen konnte, der sich in einem Kriegsgebiet aufhielt. Jedenfalls hatte er sich etwas aufgebaut. Er war weder an Drogen noch an AIDS zugrunde gegangen, sondern dem Sumpf entkommen und hatte überlebt. Mit schlangenartigen Bewegungen schlüpfte sie in ihr Kleid. Es bestand aus glänzend goldenem Baumwollstoff, war tief ausgeschnitten und kurz. Dazu trug sie blickdichte Strümpfe in derselben Farbe, die ihre Beine wie vergoldet wirken ließen. Sie drehte sich auf die Seite, strich den Stoff über ihrem Bauch glatt und legte eine Hand darauf. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Dann hängte sie einen riesigen Ohrring, der an einen Kronleuchter erinnerte und ihre ganze Hand ausfüllte, an ihr rechtes Ohr. »Verdammt!«, schimpfte Mike von der Badezimmertür her. »Kannst du dir nicht mal was einfallen lassen, in dem du nicht wie eine Edelnutte aussiehst? Ich dachte, wir hätten das besprochen. Wolltest du nicht zum Friseur gehen und dir so etwas wie eine richtige Haarfarbe und einen anständigen Schnitt verpassen lassen?«
»Das hast du wohl mit dir selbst besprochen. Ich mag mein Haar so, wie es ist.« Sie zupfte vor dem Spiegel an ihren Haaren herum, damit sie noch mehr abstanden. »Ich mag dieses Kleid. Ich mag diese Ohrringe. Ich wirke überhaupt nicht wie eine Edelnutte. Ich sehe bloß nicht wie eine Pfadfinderin aus. Das bin ich auch nicht.« Er kramte Manschettenknöpfe aus einer Schublade hervor. »Du bist meine Frau. Man erwartet von dir, daß du wie ein erwachsener Mensch aussiehst.« Kissy knickte ein Bein ab, um einen Stöckelschuh anzuziehen. Dann schlüpfte sie in den zweiten. »Zum Thema, deine Frau zu sein, Mike…« Er hatte sein Hemd endlich ordentlich in der Hose verstaut und zog den Reißverschluß hoch. »Wo ist meine Krawatte?« Sie deutete auf das Bett, auf dem die Krawatte und sein Kummerbund lagen. »Ich steige aus.« »Hm?« »Ich steige aus.« Er drehte sich zum Spiegel, um den Kummerbund anzulegen. »Ich bin nicht schwerhörig. Wo steigst du aus?« »Aus unserer Ehe.« Er starrte sie einen Augenblick an, stieß ein bitteres Lachen aus und griff nach seinem Jackett. »Wir kommen zu spät.« »Du hörst mir nicht zu. Ich verlasse dich.« »Nicht jetzt. Wir sind zu einer wichtigen Dinnerparty eingeladen.« Sie setzte sich aufs Bett und schaute ihn an. Ihre Finger fummelten an dem Ohrring herum, nahmen ihn ab. »Dein Timing ist vollkommen daneben, Kissy. Wenn du scharf auf eine Szene bist, müssen wir das auf morgen verschieben. Dann kannst du so viel Szene haben, wie du willst.« Der drohende Unterton in seiner Stimme war ihr nicht entgangen. Er erkannte es an der Heftigkeit, mit der sie erbleichte, an der Art, wie sie nervös zu schlucken begann. Es machte ihn rasend. Erst brachte sie dieses Theater in Gang, und dann verwandelte sie sich in ein furchtsames Kaninchen, das in seinem Scheinwerferlicht erstarrte. Er packte ihren Arm und riß sie hoch. »Du hast dich nicht so aufgemotzt, um mir den Abend zu versauen. Obwohl ich sicher bin, daß es dir höllischen Spaß machen würde. Sei nicht der Grund dafür, daß ich zu spät komme, Kissy.«
Er nahm ihren Ellbogen und schob sie vor sich her die Treppe hinunter, während sie den gottverdammten Ohrring wieder festmachte. Sie schüttelte seine Hand ab, richtete sich kerzengerade auf und warf ihm einen Blick zu, bei dem ihm vermutlich das Blut in den Adern gefrieren sollte. Dann holte sie ihren Mantel aus dem Schrank und hatte plötzlich ein Lächeln auf dem Gesicht, als sie ihn anzog – ein richtig dreckiges. Er mußte sofort an Dynah denken. »Wir sollten lieber den Blazer nehmen«, sagte sie. »Die Straßen sind glatt, es könnte sogar schneien.« »Der Blazer sieht aus wie der letzte Dreck. Ich begreife nicht, warum du dir keinen neuen Wagen von ihm kaufen lassen willst…« »Falls jemand in uns reinrutscht, ist es besser, der Blazer bekommt eine Beule als der BMW.« Ihren Dickkopf kriegte nicht mal ein Schneepflug klein. Sie wußte genau, in welcher Verfassung er war, trotzdem konnte sie die Klappe nicht halten und mußte mit ihm herumstreiten. Aber sie hatte Recht. Bei dem Gedanken an seinen BMW mit verbeulter Haube drehte sich ihm der Magen um. Sie waren ohnehin schon spät dran, außerdem konnte er den Blazer in sicherer Entfernung vom Haupteingang parken und eine scherzhafte Bemerkung darüber fallen lassen, daß nur das beschissene Wetter ihn veranlaßt habe, sich in die Schrottkiste zu setzen. Ein Unfall war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Überhaupt brauchte er diesen ganzen Mist nicht. Was er brauchte, war noch ein Drink. Zum Teufel mit Butch, wenn es ihm nicht paßte, ihn mit einem Glas in der Hand zu sehen. Butch hatte sich frühzeitig dünngemacht, um nach Hause zu fahren und sich umzuziehen, und ihn mit dem ganzen Papierkram sitzen gelassen, der plötzlich hereingeschneit war. Butch hatte kein tyrannisches, nörgelndes Weib wie Kissy zu Hause, das ihm keine Ruhe ließ. Nun, das stimmte nicht ganz, aber Narcissa war anders. Zumindest wollte Narcissa das Gleiche wie Butch. Er goß sich noch einen Drink ein und nahm das Glas mit hinaus. Auf der Party beobachtete er, wie Kissy lächelnd und schwatzend durch die Gegend lief; wie die Männer sie anstarrten, einander grinsend den Ellbogen in die Seite stießen, sich beifällige Bemerkungen über ihre Titten oder ihren Arsch in diesem Goldfummel ins Ohr flüsterten. Zu Hause der Teufel, pflegte seine Mutter zu sagen, und draußen ein Engel. Ja – nach außen hin war Kissy ein Engel, aber
unter der schönen Hülle war sie ein Teufel. Mit brennenden Augen leerte er sein Glas und ging auf die Suche nach Nachschub. Das Wetter machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Wie die anderen Passagiere mit ihm saß Junior im Flugzeug auf der Rollbahn fest und wartete auf die Starterlaubnis. Ungeduldig waren alle, doch er konnte kaum still sitzen. Er löste den Sicherheitsgurt und begann durch die Gänge zu wandern, wühlte im Zeitschriftenständer herum, stand dem Flugpersonal im Weg. Seine Finger strichen über die harte, seilartige Narbe an seinem Hals. Er hatte genau achtundvierzig Stunden Sonderurlaub, bis er zurückfliegen mußte, und fühlte, wie ihm die Zeit davonlief, während er in dieser verfluchten Maschine hockte. Er war sich des tieferen Sinns ihrer Nachricht absolut sicher und hatte nicht die Absicht, das Ende der Saison abzuwarten. Sobald er einen Fuß auf festen Boden gesetzt hatte, würde er auf direktem Weg zu ihr fahren und sie da rausholen; sie und Dynah. Er verrenkte den Hals, um aus dem Fenster zu spähen – der Regen ließ langsam nach. Wem auch immer sei Dank. Er kehrte an seinen Platz zurück. »Kissy soll fahren«, flüsterte Butch in Burkes Ohr, während er ihn am Ellbogen zurückhielt, nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten. »Geben Sie ihr die Wagenschlüssel. Sie sind voll wie ein Kanonenrohr…« »Darauf können Sie wetten«, lachte Burke. Nach außen hin strömte er über vor trunkener Glückseligkeit, aber in seinem Inneren war die Mordlust erwacht. Hätte er bloß noch ein Glas in der Hand – nur zu gern würde er Butchs Gesicht damit in Ordnung bringen. Er preßte die Schlüssel in Kissys Hand und griff dabei so fest zu, daß sich die Metallzacken in ihren Handteller bohrten. Sie traten in den Graupelschauer hinaus. Ekelhaft, dieses Zeug. Es fiel einem in den Kragen und spritzte an den Beinen hoch, und als sie endlich den Blazer erreicht hatten, der am abgelegensten Ende des Parkplatzes stand, war er vollkommen durchnäßt. Sie versuchte die Schlüssel festzuhalten, sagte immer wieder: »Mike, du bist betrunken.« Er riß sie ihr aus der Hand, indem er seine Nägel hineinbohrte. Dann schob er sie am Ellbogen zur Beifahrertür. »Steig ein!« Sie
öffnete ihren Mund. »Steig in den verdammten Wagen, Kissy!« Mit zusammengepreßten Lippen kletterte sie hinein. Er ging um den Blazer herum, zwängte sich auf den Fahrersitz und steckte den Zündschlüssel ins Schloß. »Schnall dich an.« Er behielt sie im Auge, während sie den Gurt festmachte, heftete seinen Blick anschließend auf die Windschutzscheibe und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor heulte auf. Dann explodierte plötzlich etwas in ihrem Gesicht, krachte mit solcher Gewalt auf ihre Nase, daß ihr Kopf gegen die Rückenlehne flog. Ihr Körper zuckte unter dem Aufprall zusammen. Sie konnte nichts mehr sehen, nicht atmen – und als sie wieder dazu in der Lage war und gierig nach Luft schnappte, war die Luft naß. Sie hustete, begann zu würgen. Was sie da einzuatmen versucht hatte, war Blut. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte sie geschlagen, erkannte sie benommen, ihr mit dem Handrücken die Nase gebrochen. Sie wußte, was für ein Gefühl das war, hatte schon einmal erlebt, wie es im ganzen Kopf hallte. Ihre Hände waren voller Blut; es lief ihr zwischen den Fingern hindurch, tropfte an ihnen hinunter. Der Blazer beschleunigte und ging so abrupt in die Kurve, daß sie gegen die Beifahrertür geschleudert wurde. Wieder mußte sie würgen. Sie spürte, wie ihre Augen anschwollen, als sie versuchte, den Blick scharf zu stellen. Das Blut an ihren Händen war schwarz, im Licht der Straßenlaternen und des entgegenkommenden Verkehrs plötzlich rot, dann wieder schwarz. »Bist du jetzt glücklich?«, fragte er sie. »So richtig schön stolz auf dich? Du bist eine verdammte Katastrophe.« Sie griff nach der Tür, aber er knallte den Verriegelungsknopf hinunter. Es ertönte ein Krachen, Glas flog durch die Luft – sie schrie auf und versuchte, ihr Gesicht zu schützen. Er hatte das Glas, das er von zu Hause mitgenommen hatte, gegen das Armaturenbrett geschmettert, und als sie zwischen ihren Fingern hindurchspähte, entdeckte sie eine große blutige Scherbe in seiner linken Hand, die auf sie gerichtet war. Sie zuckte zurück. Nein – sie hatte nicht die Absicht, still sitzen zu bleiben, bis er sie noch einmal schlug. Ihr Revolver lag im Handschuhfach. Sie hatte seit Ewigkeiten keinen Blick mehr darauf verschwendet, geschweige denn ihn sauber gemacht, aber er war geladen. Das einzige Problem bestand darin, daß das Handschuhfach abgeschlossen war, um die Waffe vor Dynah zu sichern, und den Schlüssel hatte Mike. Er hing
an dem Schlüsselbund, der vom Zündschloß herabbaumelte. Sie hatten inzwischen die Einfahrt erreicht, näherten sich dem Haus. Verstohlen streifte sie die Schuhe ab und tastete mit der einen Hand nach dem Türgriff, während sie mit der anderen den Sicherheitsgurt löste. Der Wagen hielt an. Sie hörte das Klicken der Verriegelung – er ließ sie gehen. Die Tür schwang auf und sie fiel hinaus, landete mitten auf dem Kies. Er bohrte sich in ihre Hände, ihre Knie, dann in ihre bloßen Füße, als sie schwankend zu rennen begann. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie vom Blazer weglaufen würde, in die entgegengesetzte Richtung des Hauses, und brüllte wütend etwas hinter ihr her. Sie verschwand in den Schatten des nahe gelegenen Waldes, was ihn noch wütender machte; sein Brüllen wurde lauter. Sie konnte unmöglich stehen bleiben, denn er würde sie garantiert finden – aber sie war unsicher auf den Beinen und konnte kaum etwas erkennen, weil ihre Augen immer mehr zuschwollen, außerdem brauchte er bloß den Geräuschen zu folgen, die sie machte. Irgendwie gelang es ihr trotzdem, vor ihm zu bleiben, sogar einen leichten Vorsprung zu gewinnen. Sie stieß auf einen Pfad, dessen festgetretener Boden sich durch den Regen in Schlamm verwandelt hatte, für ihre Füße jedoch wesentlich leichter zu bewältigen war als die Zweige, die Steine und der glitschige Laubmulch zwischen den Bäumen. Hinter sich hörte sie ihn trampeln, toben und brüllen wie eine rasende Bestie. In der Hoffnung, er würde darauf ausrutschen und fallen, schüttelte sie ihren Mantel ab. Der Pfad neigte sich nach unten, führte direkt ins Valley hinein. Ihre Lunge schmerzte vor Anstrengung und wegen der naßkalten Luft, ihr Gesicht war regenüberströmt, doch der Regen kam ihr gelegen; er war Balsam für ihre verschwollenen Augen. Sie wußte, wo sie war, betete sie sich immer wieder vor – sie wußte es, und er wußte es nicht, er kannte das Valley nicht so gut wie sie, er wußte nicht, wo sie war, jedenfalls nicht genau. Er war betrunken. Sie stürzte, rappelte sich hoch, lief weiter; die Bäume verschworen sich gegen sie, versperrten ihr mit ihren Ästen den Weg, streckten die Wurzeln nach ihren Füßen aus – aber sie blieb vor ihm, und plötzlich hörte sie ihn nicht mehr. Sie blieb stehen, ganz kurz nur und von Grauen geschüttelt, lauschte mit jeder Faser ihres Körpers und hörte ihn nicht mehr. Sie rannte weiter, blieb wieder stehen, hörte lediglich das Rauschen des Regens und das Tosen der Pipe. Die Pipe
lag direkt vor ihr. Die Fluten stürzten durch die undurchdringliche Schwärze, hielten alles vor ihr geheim, was sie mit sich trugen, aber jetzt wußte sie wirklich, wo sie sich befand. Etwas langsamer, mit größerer Vorsicht kroch sie durch das Gestrüpp am Ufer des Stroms. Vielleicht stieß sie auf irgendein Liebespaar, auf irgendwen, der ihr helfen konnte. Doch das scheußliche Wetter schreckte offenbar alle ab. Niemand schien spitz oder verliebt oder verrückt genug zu sein, um den Elementen zu trotzen. Ihr Kleid war so naß wie ihre Haut, ihr Körper vor Kälte wahrscheinlich ganz blau. Sie blieb stehen, um ihre ruinierten Strümpfe auszuziehen. Auf der Straße, die durch das Valley führte, herrschte keinerlei Verkehr. Sie könnte ein Stück auf ihr entlanggehen, rennen, falls es nötig sein sollte, und das erstbeste Haus ansteuern, das ihr sicher erschien. Zögernd betrat sie den Asphalt. Sie rieb sich die Arme, um einen plötzlichen Zitteranfall zu bekämpfen, und fiel in langsamen Trab – nur um ihre Blutzirkulation in Gang zu bringen, um etwas Wärme zu erzeugen. Scheinwerferlicht schwenkte um die Kurve, die vor ihr lag. Sie sprang hastig zur Seite, aber es war bereits zu spät; sie erkannte die Umrisse des Wagens, die Einstellung des Lichts. In ihrer Panik hatte sie die falsche Richtung erwischt; der Blazer war genau zwischen ihr und dem Wald. Hinter sich hörte sie das Quietschen von Bremsen, als sie zum Flußufer stürzte. »Miststück!«, hörte sie ihn durch die Finsternis und den prasselnden Regen schreien. Das Wasser würde zwar eisig sein, doch es stellte einen ausgezeichneten Fluchtweg dar; er käme nie auf die Idee, sie bis in den Fluß zu verfolgen. Sie zog ihr Kleid bis über die Hüften hoch, um besser rennen zu können. Trotz allem stolperte sie auf dem schlammigen Uferstreifen und landete hart auf dem Boden. Sie stemmte sich hoch, um weiterzulaufen, die Handflächen schmutzverschmiert, aber Mike hatte sie bereits erreicht und packte ihre Schulter. Es war, als griffe eine Klaue nach ihr. Schreiend schüttelte sie ihn ab, doch er bekam einen Zipfel ihres Kleides zu fassen, fuhr mit der anderen Hand in ihr Haar und riß brutal ihren Kopf zurück. Voller Panik versuchte sie sich an die richtigen Bewegungen zu erinnern, aber der Selbstverteidigungskurs war schon so lange her. Sie drehte sich zu ihm um und brüllte ihm mit
aller Kraft ins Gesicht, so daß er tatsächlich erschrocken von ihr abließ. »Laß mich in Ruhe! Du sollst mich in Ruhe lassen! Ich hab Fotos von den Blutergüssen gemacht, nachdem du mich das letzte Mal getreten hast, du Schwein. Sie liegen an einem sicheren Ort. Wenn du mir etwas tust, findet sie jemand, und dann bist du dran!« Ungläubigkeit, Entsetzen und bodenlose Wut verzerrten seine Züge; es war, als ergriffe ein Dämon von ihm Besitz. Seine Hände legte sich um ihren Hals, und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, doch ihr Körper erinnerte sich an eine lang zurückliegende Lektion: Ihr Knie fuhr ruckartig hoch, bis es auf soliden Widerstand stieß. Er schnappte nach Luft; der Griff um ihren Hals lockerte sich, er ließ sie los und taumelte zurück. Er rutschte aus, kam schwankend auf die Beine, rutschte wieder aus. Kniete im Schlamm. Als er den Blick hob, rammte sie ihm ihren nackten Fuß in die Brust. Mit hörbarem Zischen entwich die Luft aus seinem Körper, dann kippte er nach hinten wie ein gefällter Baum. In seinen Augen blitzte kurz Überraschung auf, doch vielleicht war es nur der Regen, der das Licht auf seltsame Art reflektierte. Er wand sich keuchend und zappelnd im Wasser. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, zog sie sich langsam rückwärts in den Schatten des nächsten Baumes zurück, damit er sie nicht mehr sehen konnte. Schnell schaute sie sich nach einem Stock oder einem Stein um, mit dem sie sich verteidigen konnte, doch noch bevor sie etwas Geeignetes gefunden hatte, sah sie ihn in den rasenden Fluten stehen. Er mußte den Fuß falsch aufgesetzt haben, denn plötzlich fiel er mit einem gedämpften, verzweifelten Schluchzer rücklings ins Wasser zurück und kämpfte gegen die Strömung an. Sie unternahm nichts; sie ließ ihn ertrinken, obwohl sie ihn hätte retten können. Ihre Schwimmkünste wären gut genug, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Er schrie jetzt, schrie ihr etwas zu. Hilfe, Kissy, so hilf mir doch – schluchzend, um sein Leben bettelnd. Sie wandte sich ab und ging langsam zur Straße, wo der Blazer stand, mit laufendem Motor, die Fahrertür offen, und auf sie wartete. Hinter sich vernahm sie ein Fluchen von sehr, sehr spezieller Art. Sie war völlig erschöpft, aber sie drehte sich nicht um. Ihre Hand griff in den Blazer, schaltete den Motor ab, zog den Zündschlüssel heraus. Sie schloß die Heckklappe auf, schob die Ansammlung diverser Ge-
brauchsgegenstände beiseite, die sie immer im Wagen herumschleppte, und öffnete das Fach, in dem sich der Wagenheber befand. Mit dem Wagenheber in der Hand schlug sie die Hecklappe wieder zu und zog die Schutzhülle des Ersatzreifens ab. Das eine Ende des Wagenhebers paßte genau unter die Eisenbolzen, mit denen der Ersatzreifen gesichert war. Die Nässe und die Dunkelheit kamen ihr nicht gerade entgegen, dennoch gelang es ihr auf Kosten einiger Schrammen an ihrer Hand, den Ersatzreifen freizubekommen. Sie rollte ihn erst über die Fahrbahn, bugsierte ihn dann mühsam durch die Uferböschung auf die Wasserlinie zu. Er war noch da, auch wenn sein Kampf gegen die Fluten jetzt eher verzweifelt als heftig aussah. Vor allem aber konnte er seinen Atem nicht mehr mit Fluchen verschwenden. Und ihm mußte fürchterlich kalt sein. »Mike!«, rief sie mit heiserer Stimme, doch der Wind trug seinen Namen davon, also versuchte sie es noch einmal. Endlich schien er sie wahrzunehmen. Sie trat einen Schritt vor und warf ihm in plötzlicher Hochstimmung den Reifen zu; er würde gerettet werden, und sie hätte das Richtige getan. Sie sah, wie er die Arme ausstreckte, wie schwer es ihm fiel – da wurde der Reifen von der Strömung erfaßt, auf ihn zugetrieben und prallte gegen seine Brust. Überraschung ließ seine Züge erstarren, dann war er plötzlich verschwunden. Für einen Augenblick stand sie fassungslos da, ehe sie noch einmal seinen Namen schrie. Doch es war nichts mehr zu sehen außer dem Reifen, der ungerührt auf den Wellen ritt. »Du solltest dich an ihm festhalten!«, kreischte sie. »Er hätte dafür gesorgt, daß du nicht untergehst!« Hätte Junior versucht, Mike mit dem Reifen das Leben zu retten, wäre ihm vermutlich das Gleiche gelungen wie ihr: ihn umzubringen. Das Wasser strömte weiter, rauschte erbarmungslos über Felsen und Baumwurzeln dahin, bahnte sich unermüdlich seinen Weg zum großen Fluß. Schon oft hatte es Betrunkene mit sich getragen, Ertrinkende, Tote – auch Frauen und Kinder –, sie der kalten Umarmung des Dance zugeführt. Und sie würden bestimmt nicht die Letzten sein. Obwohl es keinerlei Hoffnung mehr gab, trieb die schiere Sinnlosigkeit sie zurück zu dem Wagen, zu den Schlüsseln, die sie im
Heckklappenschloß hatte stecken lassen. Zum Autotelefon. Sie schlug die Tür zu, stellte Motor und Heizung an und brachte den Anruf hinter sich. Anschließend blieb nichts mehr zu tun als warten. Sie fragte sich, ob Sergeant Pearce unter den Rettungsleuten sein würde, und hoffte es von ganzem Herzen. Ihm konnte sie trauen; wenn ihr überhaupt jemand glaubte, dann er. Sie rieb sich die Arme; ihr war furchtbar kalt. Sie konnte sich nicht vorstellen, je wieder warm zu werden. Zitternd spähte sie durch die Windschutzscheibe zum Himmel hinauf. Kein Mond. Die Wolken verbargen sein ironisch grinsendes Gesicht. Trotzdem war er da; sie spürte seine steinerne Kälte in der eisigen Luft, in dem Regen und dem rauschenden Wasser, in dem erbärmlichen Licht, das ohne Wärme, das todbringend war. Vielleicht sollte sie sogar Erleichterung empfinden, doch statt dessen stieg Trauer in ihr hoch, schnürte ihre Kehle zusammen wie ein Eisenband. Trauer um Mike, der jede Chance auf einen Neuanfang, auf ein kleines bißchen Glück verloren hatte. Und mit dieser Trauer kehrte alles zurück, was sie für Ruth und auch für Diane empfunden hatte. Verschenkte Leben, leere Plätze, die sinnlos zurückgeblieben waren. Ein Schneeflocke, groß wie eine Motte, schmetterte ihren zerbrechlichen Kristallkörper gegen die Windschutzscheibe, gefolgt von einer zweiten und dritten. Wie hypnotisiert beobachtete sie das zufällige Muster, das dabei entstand. Es erinnerte an die Spuren von Katzenpfoten, von derart vielen, als hätte ein Dutzend Katzengeister auf der gläsernen Scheibe getanzt. »Wo steckt bloß Junior?«, fragte sie sich laut. Sie brauchte ihn; vielleicht wurde ihr in seinen Armen wieder warm. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, während sich über dem Wind das ferne Klagen einer Sirene erhob.
Danksagung Wie immer wäre dieses Buch ohne die Hilfe anderer niemals zustande gekommen. Julie Eugley, Marsha DeFillippo, Shirley Sonderegger und Nancy Gilbert, unser Büroteam, haben keine Mühen gescheut. Nancy war durch ihre Recherchen zum Thema Eishockey von unschätzbarem Wert. Susan Kominksy hat das Manuskript freundlicherweise auf die Richtigkeit juristischer Details hin untersucht. Dr. Philip Mossman verschaffte mir Zugang zu einigen Informationen über Kopfverletzungen und deren Behandlung. Lynn und Dave Higgins sowie Andy England haben meinen Macintosh wieder belebt, nachdem ich versucht hatte, die Framejets zu sprengen. Manche Leute sind einfach immer zur Stelle: mein Agent Chuck Verrill, mein Mann und meine Kinder, meine Geschwister und meine Eltern, die meine ersten und geduldigsten Leser sind und häufig mehr als eine Version lesen. Die Zusammenarbeit mit Billy Abrahams, meinem Lektor, war hervorragend, und ich danke Elaine Koster, meiner Verlegerin, dafür, daß sie uns zusammengebracht hat.