Galsan Tschinag
Zwanzig und ein Tag
s&p 06/2006
Nach langer Zeit der Abwesenheit kehrt der deutsch schreibende Schrif...
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Galsan Tschinag
Zwanzig und ein Tag
s&p 06/2006
Nach langer Zeit der Abwesenheit kehrt der deutsch schreibende Schriftsteller Galsan Tschinag in seine mongolische Heimat zurück. Zwanzig und einen Tag wird er bleiben, und er läßt diese Tage Revue passieren: Er erzählt von Tauf- und Todesfeiern in der Steppe, läßt den Leser teilnehmen an Murmeltierjagden und an den heiligen Zeremonien des Gebens und Nehmens in den Jurten. Er zeigt, wie verwurzelt diese Menschen mit ihrer Heimat sind, wie sie sich den neuen Zeiten anpassen, zugleich aber den alten Lebensformen gehorchen. ISBN: 3518392891 Verlag: suhrkamp Erscheinungsjahr: 1998 Umschlaggestaltung: nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
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Autor Galsan Tschinag, eigentlich Irgit Schynykbajoglu Dshurukuwaa, wurde Anfang der vierziger Jahre als jüngster Sohn einer Nomadenfamilie der Tuwa in der Mongolei geboren. 1962 bis 1968 studierte er in Leipzig Germanistik und schreibt seitdem in deutscher Sprache. 1992 erhielt Galsan Tschinag den Adelbertvon-Chamisso-Preis, 1995 erschien der Roman Zwanzig und ein Tag. Im selben Jahr führte er als Stammesoberhaupt Teile des verstreut lebenden Volkes der Tuwa in einer riesigen Karawane mit 130 schwer beladenen Kamelen, mit Schafen, Hühnern, Hunden und 300 Pferden über fast 2000 Kilometer in seine alte Heimat, das Altai-Gebirge, zurück, aus der es durch stalinistische Zwangsumsiedlung vertrieben worden war.
Für Nordshmaa
Der erste Tag
17. August Espenkronen schlagen grell aus dem Gebüsch, Flügelschläge prasseln dumpf vom Himmel, und in dem Weiß, das von fernen Gletschern herüberschimmert, blinzelt ein Tupfen Gelb: Herbst. Der Ort hat sich gewandelt. Ein zweistöckiges aschgraues Haus erhebt sich breit und schwer am Rande von flachen, kalkweißen und flechtenroten Bürobauten. Die Wohnhütten, die abseits zu beiden Seiten stehen, haben sich vermehrt. Sie sind nun in erkennbare Reihen getreten. Es gibt so etwas wie Straßen. An den Jurten erkenne ich unseren Ail. Wir biegen von der Steppenpiste ab, fahren auf die Jurten zu. Vater, der uns mit Aibora erwartet, macht zwei mühsame Schritte vorwärts. Das Auto fährt so dicht an sie heran, daß er zur Seite weicht, das Kind immer noch an der Hand, es hinter sich herziehend. Vater schubst Aibora sanft: »Geh zu deinen Eltern.« Aber das Kind sträubt sich, zäh, gleich einem widerspenstigen Lamm, und als sie dann der Gewalt des Großvaters nicht mehr standhalten kann, springt sie vor, dreht sich aber rasch um, läuft zurück zur Jurte, reißt die Tür auf und ruft: »Geep galdy!« Sie hat eine so helle, durchdringende Stimme, daß uns die Ohren fast schmerzen. Nordshmaa versteht unsere tuwinische Sprache nicht. Der Dolmetscher in mir nimmt seinen Dienst auf, erstmalig bin ich die Brücke zwischen meiner Frau und meiner Tochter. »Sie sind da!« »Hat sie das gesagt?« 4
»Ja.« Tränen füllen Nordshmaas Augen. Ich fühle ihr Zittern und denke, wie gut, daß sie mitgekommen ist. Aibora kommt mit hohen Sprüngen zurück zu Großvater, springt ihn von der Seite an, schnappt nach seinem Gürtel, läßt ihn nicht los und bleibt mit eingezogenen Beinen daran hängen. Vater taumelt, macht ein verlegenes Gesicht: »Kind, was machst du bloß?« Unter unseren Sohlen ist kein dröhnendes Eisen, kein klebender Gummi, auch kein stöhnender Asphalt mehr. Es ist kahler, staubiger Boden mit unzähligen kleinen runden Steinen, die violett schimmern und wund- und müdegetreten sein müssen von unzähligen Menschen und Tieren. Heimaterde! Wir eilen auf die beiden zu. Vater kommt uns entgegen, verlegen und wacklig, denn Aibora klebt noch immer an seiner Seite. Kleine, dumme Zecke, denke ich, dein treues Roß, dein alter Großvater, kann dich nur mit letzter Mühe zu deinen Eltern tragen … Aber da verwandelt sich die Zecke wieder in Aibora, läßt sich herabgleiten und verschwindet hinter der Jurte. Vater wendet sich Nordshmaa zu, beriecht sie lange. Dann hält er mir mit beiden Händen das Gesicht, zieht es zu sich und beriecht mich an den Backen. Ihm ist der Bart silberweiß geworden, und er besitzt den Geruch des Winds und des Schnupftabaks. So riechen alte Tuwinen. So riecht Vater, und das ist gut, sehr gut. Plötzlich hören wir Lärm, sehen eine kleine Staubwolke: Eine Kinderschar, sie hüpfen und rufen: »Geep galdy! Geep galdy!« Vielleicht sind es dreißig, vielleicht hundert. Wir begrüßen das Kindervolk. Wir beriechen eines nach dem anderen. Sie stehen unglaublich schüchtern, rotwangig und leise zitternd vor uns. Ihre Köpfe riechen nach Schweiß, Murmeltier und vor allem nach Sonne. Die Kleinsten verstecken sich hinter den Größeren, einige reißen gar aus. Es gibt viele unbekannte Gesichter, die bekannten haben neue, noch bekanntere Züge angenommen, es 5
ist eine werdende Welt. Wir überlassen ihnen unser Gepäck, gehen zur Jurte der Eltern. Wie bei jeder Ankunft überkommt mich das seltsame Gefühl, daß sie kleiner wurde, während ich größer geworden bin. Aber ich weiß, daß dies nicht wahr ist, denn die Jurte wird ihre siebenundsiebzig Dachstreben noch vollständig haben. Mutter steht in der Jurtenmitte, mit dem blaßroten Gesicht alter, aufgeregter Menschen, Waantschi unter dem linken Arm, in der Art, wie man ein junges Lamm hält. Ich sehe, sie hat nach ihrem Stock gesucht und ihn nicht gefunden. Feuer brennt im Ofen, Tee kocht im Kessel, noch ohne Milch, Salz und Butter. Dampf steigt in die Sonnenstrahlen, die durch den Dachkranz in die Jurte hineinfluten: Der Himmel einer jeden Jurte beginnt im Kessel über ihrem Herd. Ich sehe die aufgeregte alte Mutter, den dampfenden Kessel, den sonnendurchfluteten Dachkranz und den Halbkreis blaustrahlenden Himmels darüber und weiß endlich: Ich bin wieder zu Hause. Mutter gibt uns Waantschi. Ihre Hände zittern, ihre bläulich umrandeten Greisinnenaugen schwimmen in hellen Tränen, sie sagt wieder und wieder: »Ej baj Aldajim!« Waantschi ist größer, fester und gesammelter geworden seit ihn der Bruder zu den Großeltern mitgenommen hat. Seine Haare sind gewachsen, die zarte, weiße Babyhaut ist wetterbraun und -rauh geworden. In ihm erkenne ich mich wieder. Ein Kinderfoto gibt es von mir nicht, aber ich habe dieses wetterbraune, runde Gesicht mit den ernsten Augen und dem weichen Mund so oft gesehen: im Wasser, in der verzinnten Teekanne, in einem Glassplitter. So manches Mal habe ich mich vor ihm gefürchtet, und so manches Mal habe ich es bewundert und nach ihm gesucht – ich erkenne es wieder. Stumm und still läßt er sich beriechen, sieht uns ins Gesicht mit fragendem Blick: wir wissen, zweiundfünfzig Tage sind 6
lang gewesen. Das Kindervolk trägt unser Gepäck herein, an jedem Gepäckstück hängen fünf, sechs Kinder; bald ist die Jurte überfüllt von einem Wald Kinder, die wie angepflanzt dastehen. Sie warten auf Geschenke, und das ist ihr gutes Recht. Ich schnüre den Rucksack auf, er enthält zehn Kilo Bonbons. Wir haben sie für die Kinder gekauft und emsig zusammengehamstert. Die Kinder empfangen die Gabe mit stummem Erwarten und leisem Zittern. Kaum verlassen die ersten die Jurte, stürmen neue herein. Schon ist der Rucksack halb leer. Den Kindern schließen sich die Frauen an. Aus dem Lawschaklatz der meisten lugt ein Babykopf heraus wie ein Känguruhkind aus dem Mutterbeutel. Sie alle begrüßen uns. Das Alter entscheidet, wer zuerst den Gruß ausspricht und wer wen beriecht. Der Jüngere beginnt, der Ältere erwidert und beriecht. Bei Gleichaltrigen unterschiedlichen Geschlechts genießt der Mann und gleichen Geschlechts jeweils der Angehörige der mütterlichen Seite das Recht des Älteren. Wir grüßen und werden berochen. Wir werden gegrüßt und beriechen. Von den Frauen geht der vermischte Geruch von Rohmilch, Gerbstaub und Murmeltier aus. Das ist der Geruch der tuwinischen Frau. Tante Galdarak kommt. Sie sagt: »Liebe Leute, gebt uns den Weg frei, mein Baby ist eingeschlafen.« Sie trägt Aibora. Das Kind hat seine Arme um ihren Hals geschlungen, hält die Augen geschlossen. Die Tante steht gebückt und zwinkert mit den Augen. Die Frauen, die sich gleich stämmigen Lärchenstümpfen zwischen Tür und Herd niedergelassen haben, lassen sie vorbei. Wir grüßen sie, und sie beriecht uns. Mutter schenkt Tee ein. Wir hätten uns endlich hinsetzen, Tee trinken und die Unterhaltung glücklich Wiedersehen Feiernder beginnen können. Aber was ist mit Aibora? Ich habe dreihundertachtzig Tage und Nächte auf den Augenblick gewartet, daß ich sie mir an die Brust drücken, küssen und beriechen würde. 7
Und Nordshmaa hat darauf doppelt so lange gewartet, denn sie hatte sie vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen. Ich trete an den Vorhang und blicke durch die obere Spalte: Das Kind hält die Augen halb geschlossen und sieht durch die Wimpern, sie scheint angestrengt zu lauschen. Ich ziehe den Vorhang zurück, beuge mich über sie und flüstere: »Aiboraschdaj!« Sie schließt fest die Augen und beginnt hörbar zu schnarchen. Ich hebe sie hoch, drücke sie an die Brust, küsse ihre Wange, berieche ihr Haar. Sie bleibt, wie sie war: schnarchend, mit geschlossenen Augen. Dann übergebe ich sie ihrer unbekannten Mutter. Nordshmaa küßt und drückt sie und sagt dabei Koseworte, die die Mütter in der Stadt zu ihren Kindern zu sagen pflegen. Alle in der Jurte hören ihr gespannt zu. Da schreit Aibora auf einmal »Enej!« und versucht, mit allen Leibeskräften Nordshmaa zu entkommen. Bis die Großmutter hinkommt, entsteht ein großes Durcheinander, denn Nordshmaa hält das Kind fest, anstatt es schleunigst loszulassen. Sie versucht, Aibora klarzumachen, daß sie ihre Mutter sei. Es sind die fremden Laute, die dem Kind angst machen. Sie sind für die scheuen, auf tuwinische Laute eingestellten Ohren kein kosender Muttergruß, sondern etwas Fremdes und Bedrohliches, und zu diesen werden sich auch die unbekannten Gerüche gesellt haben, die von Nordshmaa ausgehen mußten: Kölnischwasser, Puder, Konserven, Kohleasche. Aibora hat sich auf dem Schoß der Großmutter verkrochen und kann sich nicht beruhigen. Nordshmaa wirkt enttäuscht, streichelt Waantschi die Haare, der stumm und ergeben an ihr klebt. Die Frauen schweigen, halten die Schalen zwischen drei Fingern, schlürfen dampfend heißen Tee. Die Babys, die gleich Känguruhkindern aus dem Lawschaklatz herauslugen, saugen an der Mutterbrust oder lutschen Bonbons. Es herrscht Ruhe in der Jurte. Nach der ersten Schale Tee beginnt ein Gespräch, das sich 8
zunächst um Aibora dreht. Wir hören, daß sie die letzte Nacht fast mit sehenden Augen verbracht und immer wieder gefragt hat, wann wir denn kämen. Und daß sie vorhin zu ihren Tante gesagt hat: »Liebe Galyi, bringe mich zu meiner Großmutter Bett und zieh den Vorhang gut zu, ich möchte so schlafen!« Die Heldin dieser Geschichten schluchzt nicht mehr, wird aufmerksam. Ihr Blick scheint zu sagen: Ihr tut mir unrecht. Es hat einen schönen Sommer gegeben, wird berichtet. Viel Regen und wenig Wind, gutes dichtes Gras, das langsam, aber unaufhaltsam wuchs. Das Vieh hat zur rechten Zeit Fett angesetzt, und das Murmeltier ist um ganze zehn Tage früher jagdreif geworden. Es hat keine Krankheiten gegeben, seit dem ersten Grün hat nicht ein Kind gehustet, und es ist auch nicht einem Greis schwindlig geworden. Aber der Winter ist hart gewesen. Es hat Schneestürme auf Schneestürme gegeben, die eine Menge Vieh vergruben. Es hat auch die Masern gegeben, und daran sind drei Kinder gestorben. Im Laufe des Jahres sind in den verwandten und verschwägerten Ails dreizehn Kinder geboren worden, drei Jungen und vier Mädchen haben geheiratet, zwei haben Medaillen bekommen, einer ist ausgewandert mit Frau und sieben Kindern, es hat keine Scheidung gegeben und keinen Gerichtsprozeß. Das ist der Jahresbericht, den ich jedesmal höre, wenn ich wieder zu Hause bin. Der Kessel leert sich, die Frauen gehen. Die Männer sind noch den Murmeltieren auf der Spur. Vater ist zu alt für die Jagd. Wir packen die Koffer und Pakete aus. Waantschi arbeitet mit. Aibora gleitet von Großmutter herunter, kommt näher und schaut dem Tun und Trachten des Bruders aus einiger Entfernung zu. Ich sage: »Nehmt, was ihr wollt.« Die Kinder trauen sich nicht. Mutter muß sich einmischen, redet Aibora Mut zu und fragt sie, was ihr von all den Sachen am besten gefällt. Aibora zeigt stumm auf einen Schnuller. Also ist von allem Schönen und Schmucken, was die Koffer enthal9
ten, der Schnuller das Wichtigste für sie? Das ist verständlich, denn ab dem vierten Monat ihres Daseins hat der Schnuller für sie die Stelle der Mutterbrust angenommen. Das gleiche tut auch Waantschi, der nie ein ernsthaftes Schnullerkind gewesen ist. Für ihn ist Aibora, die große Schwester, Vorbild. Beide Kinder sehen sich an, kichern und hüpfen. Wir machen uns wieder an die Arbeit. Die Eltern rücken näher, schauen uns über die Schultern. Immer wieder stoßen sie einander, stöhnen vor Staunen. Wir lächeln uns an und sind stolz, als hätten wir alles Schöne dieser Welt über die Schwelle der Vaterjurte geschleppt. Wir holen die Geschenke heraus, die wir für die Eltern mitgebracht haben: für Vater eine große Flasche Rum und einen Sommerhut und für die Mutter einen Zwergofen mit Zubehör. Erst händigen wir Vater seine Sachen aus. Vater, neunundsechzig Jahre alt, wird verlegen wie ein kleiner Junge, streichelt die Flasche und den Hut mit zittriger Hand und sagt: »Hootschun! Sieh doch, was mir meine Kinder mitgebracht haben!« Dann händigen wir Mutter den Ofen aus, der nicht viel größer ist als ein großer Weißkrautkopf und in dem Platz finden: zwei Rohre, ein Kessel mit Deckel, ein Dampfer, eine Kelle, eine Feuerzange und eine Aschenschaufel. »Für mich oder für Aibora?« ruft Mutter erschrocken aus. »Unseretwegen für euch alle. Kochen und spielen könnte ihr damit gleichzeitig.« Die Kinder stürzen sich auf den Zwergofen. »Aschgyjak!« ruft Mutter: »Sieh nun du mal, was mir meine Kinder gebracht haben!« Vater besieht die Sachen, schüttelt den Kopf und schnalzt mit der Zunge. »Wir machen darin gleich ein Feuer!« Dann ist die Jurte wieder überfüllt. Diesmal ist es Aibora, die die anderen herbeiholt. Sie läuft von Jurte zu Jurte: »Kommt und seht, was uns Dshjuguwaa agamnaj mitgebracht haben!« Der Zwergofen steht auf dem großen Ofen, Tee brodelt in dem Zwergkessel. Mutter gießt Milch hinein und erzählt stolz: 10
»Feuern kann man das Ding mit Papierfetzen und Sägespänen. Verschätzt es mir aber deswegen nicht: Es gibt euch, wie ihr selber seht, eine Kanne Tee im Nu. Und wie der schmeckt, werden wir gleich sehen!« Alle trinken den Tee und blicken mit erstauntem Lächeln auf das Wunderding. »Bleibt noch sitzen, liebe Leute«, sagt Vater und holt die Rumflasche und beginnt auszuschenken. Alle Blicke richten sich auf ihn und verfolgen das wandernde Glas, das jedesmal ausgetrunken zu Vater zurückgeht. Ja, die tuwinischen Frauen trinken gern einen Schluck Bitteres, und darin unterscheiden sie sich von ihren kasachischen und mongolischen Nachbarinnen. Man trinkt seinen Anteil und schüttelt sich. Man verfällt in Schweigen. Ruhe ist in der Jurte. Hoch über dem Dachkreuz ziehen Rotgänse vorbei. Die Flasche wird halb leer getrunken. Der Rest bleibt für die Jäger. Mutter ordnet an, daß wir zu unserem ersten Besuch gehen. Er gilt dem Homdu, unserem großen, mütterlichen Fluß. »Sprecht zuerst den Gruß aus, kostet darauf vom Wasser und wascht euch damit Kopf und Glieder!« sagt sie. Aibora geht an meiner Hand, und Nordshmaa trägt Waantschi auf dem Rücken. Die Kinderschar folgt uns. Die größeren tragen die kleineren auf dem Rücken oder führen sie an der Hand. Kasachen begegnen uns unterwegs. Ich kenne sie, tausche mit ihnen Grüße in ihrer Sprache, einige geben mir die Hand und verwickeln mich in eine kleine Unterhaltung. Der Fluß ist stark zurückgegangen, das Flußbett liegt entblößt bis auf das violett schimmernde, tönende Geröll. Ich falle auf die Knie und spreche: »Sei gegrüßt, mütterliche Schwester! Ich bin Sohn des Schynykbaj und bin zurück. Das sind meine Kinder, du wirst sie kennen, denn sie sind jeden Tag hier, und das ist ihre Mutter!« Das Wasser ist klar und weich, es schmeckt mild, nach tauendem Schnee. Obwohl der Strom an den Haaren gewaltig zerrt 11
und steigenden Schwindel in den Kopf jagt, spüren wir die Zarte der Schwester, die in dem Fluß wohnt. Wir wollen sie nicht sogleich wieder verlassen, bleiben auf einem Uferstein sitzen, die Füße im Wasser. Die Kinder hocken auf der Uferwiese, bilden einen Kreis und spielen. »Dshjuguwaa aga!« ruft Aibora herüber. »Was ist?« »Kinder dürfen nicht ins Wasser gehen, stimmt das?« »Ja, Aibora. Kinder dürfen nicht ins Wasser gehen.« Der Name Homdu kommt von hobdug – gefährlich. Die Schwester, die so wohltätig und großzügig ist, birgt in sich auch Gefahr. Im Frühsommer, wenn der Gebirgsschnee taut und die großen Regen fallen, werden selbst die Ufer überschwemmt. Da schäumt und kracht das Wasser, und so mancher schwere, große Yakbulle wird weggeschwemmt wie ein winziger Holzspan. Schwärme von Enten und Gänsen ziehen über das Weidenund Birkengebüsch. Hier hören wir die Flügelschläge nicht, das Gepolter der Fluten, die in den Gletschern geboren sind, übertönt alles. Unsere Haare trocknen. Wir stehen auf, schauen dankbar auf den Fluß. Dann gehen wir nach Hause. Kühe kommen von der Weide zurück. Wenn die erste stehenbleibt, bleibt die ganze Herde stehen, und wenn jene muht, muhen alle. Alte Kasachen stehen vor ihren Jurten und beten zu der untergehenden Sonne. Dabei nehmen sie uns wahr, und in der Pause des Gebetes ruft einer zu dem anderen: »Dem Tschynykbaj ist sein Sohn wieder da, und diesmal sogar mit Frau und Kindern!« Ihm wird geantwortet: »Oho! Sein Jüngster ist wieder da? Aber was für einer bist du, der du nicht weißt, daß die Kinder seit langem hier sind?« Und der Ruf ertönt wieder aus einem anderen Ende: »So? Aber er ist ja dein Tamyr, und daher mußt du es ja auch besser wissen.« Frauen treten aus den Jurten heraus. Wir werden ausgiebig 12
beschaut, und in ihrem Blick erhasche ich die Begutachtung, die meiner Frau gilt: Ja, schön und doch bescheiden! Unsere Jurte finden wir mit einem stechenden Wohlgeruch wieder. Eine schwerbeladene Schüssel steht auf dem flachen Eßtisch und dampft. Vater sitzt dabei, Zwiebeln schälend, und Mutter zündet eine Kerze an. Unter der Fleischmasse erkenne ich einzelne Stücke: »Woher habt ihr die Yakrippen, jetzt im Herbst?« »Sie sind vom vergangenen Winter, wir haben sie für euch aufbewahrt.« Ich esse mit Begeisterung und stecke damit alle an, selbst Nordshmaa, die abends so gut wie kein Fleisch ißt. Die Eltern sehen uns ermunternd zu. Eine alte Kasachin tritt herein. Ich kenne sie nicht, aber sie kommt auf uns zu und begrüßt uns mit der echt kasachischen Umständlichkeit. Ich erwidere ihren Gruß und sage: »Zürne nicht, Mutter, daß wir dir weder die Hände noch die Backen geben können. Du siehst, sie sind fettig.« »Klar«, sagt sie und legt auf den Tisch ein Bündel und hockt sich nieder. Die Eltern kennen sie. Sie ist die Frau ihres Tamyrs und hat uns Salemdeme gebracht. Die alte Frau schlürft Tee, lutscht Bonbons und erzählt von ihren Altersbeschwerden. Zähne hat sie keine mehr und kann kein Fleisch essen. Zu Nordshmaa sage ich: »Die Sitte fordert, daß du den Inhalt des Bündels nimmst und in das Tuch eine Kleinigkeit einbindest und es ihr zurückgibst.« Später liegen wir auf unserem Nachtlager, zwischen uns die Kinder, über uns der Mondschein. Nordshmaa zählt die Sterne, die hoch über dem Dachkranz leuchten. Ich lausche in die Herbstnachtstille hinaus und registriere durch die dünne Filzwand jedes Geräusch. Ich höre, wie die Schafe und Ziegen wiederkäuen und verfolge den Flug einer Fledermaus. Ich fühle am Gesicht den Windhauch und 13
ziehe den Mischgeruch ein, der von diesem Windhauch und dem Haar der friedlich schnaubenden Aibora ausgeht. Ich denke nach und sage: »Vater!« Es bleibt still. Mutter antwortet: »Was ist?« »Diesmal hat es genau dreihundertachtzig Tage gedauert.« »So?« sagt Mutter und scheint innezuhalten. Und dann sagt sie: »Ej, baj Aldajm!« Ja, denke ich, reicher, großer Altai. Es lohnt sich, die Bürden zu tragen, die von dir kommen … Nordshmaa streichelt mein Gesicht. Ich halte inne, ich muß die letzten Worte gesprochen haben.
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Der zweite Tag
18. August Zuerst sehe ich den Himmel. Er ist sehr hoch und blau. Dann sehe ich den Dachkranz, dann die Dachstangen, an denen das Sonnenlicht klebt wie ein feuerrotes Tuch, und dann die Kinder und Nordshmaa, die schlafen, und mir fällt ein, daß ich wieder zu Hause bin. Ich trete aus der Jurte hinaus, barfuß, und sehe die Eltern inmitten einer Kinderschar vor dem Zwergofen hocken. Mutter feuert ihn mit Holzspänen und Dungkrümeln, und alle Augen sind auf das Feuer gerichtet. Unbemerkt schleiche ich mich davon. Ein paar Schritte stromaufwärts entdecke ich Tante Galdarak. Sie sitzt auf einem Stein und raucht. Neben ihr stehen zwei Wassereimer. »Hast du es eilig?« frage ich, bei ihr ankommend. »Galdarak und es eilig haben?« lacht sie schallend. Ich knie nieder und halte den Kopf in den Fluß, bis er mir zu schmerzen beginnt. Das Wasser ist eiskalt, und der Strom entreißt mir die Schläfrigkeit endgültig. Ich setze mich zu Galyi und sage: »Herbst.« »Ja, Herbst«, sagt sie und fügt nach geraumer Zeit hinzu: »Ein jeder muß das Überflüssige von sich wieder abwerfen.« Das ist sie. Tante Galdarak oder Galyi, wie wir sie in der Großverwandtschaft nennen, ist nicht nur lang, sondern auch gertenschlank, hat ein helles, ovales Gesicht mit einer hohen Stirn und einem Paar brauner Augen, und so wie sie ist, fehlen ihr die Schönheitsmerkmale, die den Tuwinen gefallen. Denn 15
man mißt hierzulande die Frauen an einer Prinzessin, die einen Körper gleich einem Gögeer ein Gesicht gleich einem Teller und Augen schwarz wie Kohle und Wangen rot wie Blut hat. Diese Märchenprinzessin ist makellos schön, und darum sind auch achtzig Recken bereit, ihretwegen zu sterben. Für Galyi wollte kein Mann sterben. Kein Mann begehrte sie. Sie blieb mannlos, seitdem sie von einem gewissen Taiwan, dem man sie zur Frau gab, im Stich gelassen wurde. Als ihr der Ehemann weglief, war sie vierundzwanzig Jahre alt. In den dreißig Jahren, die seitdem ins Land gegangen, fand sich kein Mann, der um sie warb. Als die Genossenschaft gegründet wurde, hatte man sie nicht vorgesehen. Das geschah im Herbst. Im Sommer darauf suchte Galyi die Dargas auf: »Darf ich eurer Genossenschaft beitreten?« Man sagte zwar nicht nein, aber sie sah wohl, daß man nicht gerade begeistert war: »Was ist? Wenn ihr denkt, ich habe einen zu reichen Vater gehabt, als daß ich eurer Genossenschaft beitreten dürfte, so sagt es gleich, und ich gehe.« »Nein«, hieß es darauf, »es geht darum, daß hier jeder arbeiten muß.« Sie bat sie um hundert Stück Rohhäute, sie würde sie im Herbst weich gegerbt zurückbringen, und dann würde man sehen können, ob sie gearbeitet hat oder nicht. Die Dargas sahen sich an. Niemand hatte Häute für die Genossenschaft gerben wollen, weil es nicht gut bezahlt wurde. Dann gaben sie ihr dreißig Zickleinhäute. Zehn Tage später erschien die Frau wieder, die Felle weich wie Samt. Die Dargas gaben ihr die Hand. »Was ist?« war die verdutzte Frage. »Die Leitung der Genossenschaft ›Lichter Weg‹ gratuliert ihrem jüngsten Mitglied«, lautete die Antwort. 16
Galyi brauchte kein Vieh abzugeben, weil sie nur eine Stute, zwei Yakkühe und zwei Stiere besaß. Die Stute fohlte jahrein, jahraus, aber sie verschenkte das Fohlen jedesmal. Die Yakkühe kalbten jedes Jahr, und trotzdem wurde die Herde nicht größer, immer kamen die Kälber irgendwie weg: Mal krepierten sie im Winter aus Futtermangel, mal wurden sie gegen ein alterndes Tier zum Schlachten getauscht. Die beiden Stiere, rosa wie rohe Lunge, waren Zwillinge. Sie verbrachten den ersten Winter in der Jurte. Dabei wurden sie nicht angebunden, spazierten wie Kinder frei in der Jurte herum, fraßen alles weg, was sie gerade fanden: Hirse, zerklopfte Knochen, getrocknete Pferdeäpfel, Salz, Reste vom Essen. Und sie waren keine Kälber mehr, als die Erde wieder auftaute und sie ins Freie gingen. Die Stiere wurden groß wie die Jurte. Im Frühjahr, als Mensch und Tier Ak Hern, das windgeschützte und grasbewachsene Tal, verließen, blieb allein Tantes Jurte zurück. Bis Vater mit drei Kamelen zurückritt, um Galyi samt Jurte und Vieh zu holen, dauerte es eine knappe Woche. In dieser Zeit ritten wir jeden Morgen den Nordhang des Harlyg Haaraikan hinauf. Wir suchten durch das Fernglas nach dem Winterlager unserer Verwandten. Wir fanden es und sahen am Rande der von der Sonne blaugeschienenen Holzhütten drei rosa Flecken. Welcher von ihnen die Jurte war, konnten wir nicht gleich erkennen, denn alle drei waren gleich groß und gleich rosa. Am späten Nachmittag des vierten Tages, nachdem Vater mit den Kamelen zurückgeritten war, kam das Züglein an: Galyi auf der tragenden Stute, hinter ihr die drei beladenen Kamele, auf dem ersten die kleine Dolgur, die kleine Tochter, auf dem letzten der spitze Ofen, hinter den Kamelen die kleine Herde: die beiden Stiere und die beiden Kühe, und hinter diesen Vater. Wir rannten dem Zug entgegen, fragten Galyi, ob sie sich gefürchtet habe. Sie lachte laut: »Wovor denn?« Die rosa Stiere sind nicht geblieben, vieles ist nicht geblieben. Geblieben ist das Bild: die drei rosa Flecken hinter der strö17
menden und rauchenden Luft. Zur rechten Hand die Sonne, Wärme; zur linken den Fluß, Kühle – ich spüre keine Lust aufzustehen. »Was hast du, Galyi, noch an Vieh?« frage ich. »Zwei Kühe mit Kälbern und eine Stute mit Fohlen.« »Hast du diesmal das Fohlen nicht weggeschenkt?« »Das wird Galdarak noch tun.« »Wem?« »Errate es doch!« »Ich kann es nicht.« »Waantschi.« »Wer ist das?« »Dein Sohn!« »Ach, ja! Aber hat es nicht noch Zeit mit Waantschi?« »Die Galdarak ist alt. Die Stute ist alt. Nicht der Himmel und nicht ein großer Doktor kann sagen, ob wir beide den kommenden Winter überstehen werden.« Gierig springen die Fische nach den letzten Schmetterlingen, die über dem Wasser flattern. Diese Schmetterlinge werden den bevorstehenden Winter nicht überleben, denke ich, aber Schmetterlinge wird es im nächsten Sommer wieder geben. Über die Fluten hinweg sehe ich die Schwarzen Berge und weiß, es wird ein schöner Tag für die Jäger. Wir gehen. Unterwegs sagt sie: »Bilde dir nicht ein, es hätte viel Zeit mit deinem Sohn. Wie kurz ist doch jetzt ein Jahr geworden? Ein Sommer: Die Erde kommt kaum zum Grünen. Und schon sieht man das Gelb.« Ich gebe ihr recht, denke mir aber, daß es den Sommer, die Zeit und alles, was es gegeben hat, immer geben wird. Nordshmaa und die Kinder schlafen noch. Den Morgentee trinken wir in der Holzhütte, die in der warmen Zeit als Küche und Lagerraum benutzt wird und angenehm kühl wirkt. Nach dem Tee zeigt mir Vater die Leinen und Fesseln, die er 18
im letzten Jahr angefertigt hat: zwölf Klafter Leinen und fünfzehn Fesseln. Das Leder ist tiefgelb und glänzt wie emailliert. Ich nehme eine Leine in die Hand, lasse das kühle, schlangenglatte Leder über die Handfläche gleiten, ziehe daran und sehe, daß kleine weiße Pünktchen erkennbar werden, je fester ich ziehe. Ich rieche und stelle fest, sie hat in der Milchsäure mit Mehl und Salz gelegen und ist mit gestandenem Pferdefett eingerieben worden. Vater verfolgt jede meiner Bewegungen mit angehaltenem Atem. »Sehr, sehr gut!« sage ich endlich. Mein Entzücken steckt Vater an, er ist stolz. Aibora klettert ihrem Großvater auf den Schoß. »Wenn die Jäger zurückkommen«, sagt er zu ihr, »bekommst du die größten Murmeltiere zum Schoralga.« Sie aber schweigt. Ich gehe, und draußen höre ich Aibora sagen: »Habe ich die ganze Nacht bei Dshjuguwaa-agam und Waantschis Mutter geschlafen, Großvater?« Die Antwort ist bejahend und erklärend, sie sei gerade deshalb ein braves Kind. Waantschi tritt aus der Jurte mir entgegen, ich hebe ihn hoch und deklamiere: »Groß werden mußt du nun mit den Stunden, denn dein Reitroß läuft schon auf Erden umher!« Mein Waantschi ist noch keine zwei Jahre alt und auch kein bißchen das Wunderkind der Märchen: Anstatt zu fragen, wo das Pferd zu finden und wie es zu fangen sei, lächelt er mit dem zahmen, breiten Lächeln eines ausgeschlafenen Kindes. Später erzähle ich Nordshmaa die Fohlengeschichte: daß Galdarak ihm ein Fohlen schenken wolle. Sie erschrickt und meint, wir könnten es unmöglich annehmen. Ich werde unsicher, frage Vater und höre von ihm: »Von einem Fohlen wird man weder ärmer noch reicher – wollt ihr eure Tante beleidigen?« Ein Schwarm Kinder kommt herangeprescht, sie prusten heraus wie aus einem Munde: »Galyi läßt sagen, ihr sollt zum Teetrinken kommen!« Nordshmaa sucht Geschenke zusammen, 19
die Kinder warten. Dann gehen wir. Die Kinder rufen »Tschüh!«, klatschen sich auf den Hintern und springen im Galopp davon. Galyi sitzt am Fußende des Bettes, die Beine ausgestreckt, zwischen den Fingern die dicke, in Zeitungspapier gedrehte Zigarette, vor sich die volle Teeschale, der Tabak qualmt, der Tee dampft. »Setzt euch hierher auf das Bett«, sagt sie. Wir trinken Tee, essen Fladen. Es ist sauber in der Jurte, ohne daß eine strenge Ordnung herrscht. Die Habseligkeiten: das rauchgeschwärzte Küchenregal, das in der Mitte eingefallene Feldbett, der runde Ofen aus hellem Blech und die beiden Truhen im Dör stehen wie zufällig da. Ebenso frei von Anstrengung wirken die Bilder in den beiden Rahmen über den Truhen: Lenin und die Weiße Tarah über Dolgur mit einem Fohlen, darunter eine Fotomontage von den Schwarzen Bergen aus einer Schneeglocke, einer Taube und vielen Kinder rechts und links. Galyi raucht die Zigarette, wirft den Stummel weg und sagt: »Seitdem Dolgur weg ist, haben meine vier Glieder keine Ruhe. Aber es ist Ruhe eingetreten hinter meiner Brust. Nun kann Galdarak meinetwegen auch sterben.« Darauf lacht sie. Mir fällt nun ein, wie sie ihre Tochter behandelt hat. Sie hat sie geschlagen und ausgeschimpft: »Warum ist denn das Aas so scheußlich nach mir geraten? Sie wird auch keinen Mann bekommen!« Dolgur war ebenso lang und gertenschlank, überschritt die zwanzig. Immer lauter wurde das Getuschel: »Nein, auch sie bekommt keinen!« Dolgur wurde fünfundzwanzig, stand um den ganzen Kopf höher als der Durchschnittsmann, wie eine Steinziege in der Herde von Hausziegen, ohne Aussicht auf eine Heirat. Jetzt wurde nicht mehr getuschelt, es wurde schon laut gesprochen: »Seht, sie hat keinen bekommen.« Aber da kam ein junger Mann in die Heimat zurück, der hatte Menschen und Länder 20
gesehen, hatte neue Maßstäbe im Kopf und stürzte sich auf das reife, bildschöne Mädchen. Die Hochzeit wurde groß gefeiert, und die darauffolgenden Monate zeigten, daß Galdaraks Tochter es gut getroffen hatte. »Ich hätte bis zum Abend sitzen, übernachten können bei deiner Tante«, sagt Nordshmaa, als wir wieder draußen sind. Mir bleibt keine Zeit zum Antworten, da die Kinder uns entgegengerannt kommen: »Tante Dynggyi läßt sagen, ihr sollt zum Teetrinken kommen!« »Schon wieder?« ruft Nordshmaa entgeistert aus. »Es geht erst los«, sage ich, »wir werden heute den Tee aller fünf Jurten trinken!« Genau das geschieht. Alle jungen Frauen, wie zu einem Fest angezogen, das linke Bein angewinkelt, auf dem rechten Fuß hockend, sagen: »Eßt und trinkt.« Und sie nehmen das Bündel, das meist aus einem Stoff und anderem Kleinzeug besteht, leise zitternd und stöhnend aus Nordshmaas Hand entgegen und legen es schnell weg, ohne es anzusehen, ohne ein Wort. Als wir die letzte Jurte verlassen, sehen wir die Kühe heimziehen auf dem schmalen hellen Pfad, der pfeilgerade vom anderen Ende der Steppe herführt. Die Tiere bleiben in einer Linie wie ein Zug auf Schienen. Es gibt kein Abweichen. Die Steppe selbst strahlt im Schein der untergehenden Sonne glatt und dunkelrot wie erhitztes Gold. Das ist das Anzeichen für einen schönen Tag, der noch kommen wird. Es ist wie ein Versprechen. In der Nacht müssen wir öfters hinausgehen. Grund ist der Tee, den wir von früh bis spät getrunken haben. Wir gehen bis zur nackten Steppe und dann ohne Eile zurück, wir gehen wie Schlafwandler, reden nicht miteinander. Es gibt keine grellen Farben und Töne im Mondschein. Da hat man sich und die Welt wieder, und man ist verliebt in sich und in die Welt. Das Dasein kommt uns wie etwas vor, was nicht fehlen, auch nicht anders sein darf. 21
Der dritte Tag
19. August Ich werde wachgerüttelt. Es ist noch finster in der Jurte. Mutter bückt sich über mich: »Dein Daaj!« »Stalin?« »Ja, doch!« »Ist er gekommen?« »Nein. Er ist tot.« Ich springe auf. »Hier sind deine Stiefel und dein Güpü!« Mutter verläßt eilig die Jurte, in einer Minute folge ich ihr. Drei gesattelte Pferde stehen an der Binde. Rauch steigt aus dem Ofenrohr über dem flachen Hüttendach, die Tür steht offen. Ich bleibe in der Tür stehen und versuche, die Gestalt neben Vater zu erkennen. Da steht sie auf, kommt auf mich zu und sagt mit bebender Kinderstimme: »Dshuruguwaa-aga?« Es ist Orus, der Sohn meines ältesten Bruders Sendishep. Ich berieche den Jungen, frage, wann es geschehen sei. »Gestern abend«, sagt er und schaut zur Erde. Wir trinken Tee. Mutter spricht mit ihm, der den heißen Tee aus der Schale laut schlürft: »Sag meiner Schwägerin, sie soll nicht zürnen, daß ich nicht kommen kann. Es ist wegen meiner Beine und auch wegen Aibora. Aber Dshuruk kommt ja mit, und er kann auch besser helfen als ich. Frag deinen Vater, ob er weiß, daß er nun zum Haupt eines Ails geworden ist. Und sag ihm, daß ich meine, es ist nun endlich an der Zeit, das Trinken aufzugeben, wenn er es weiß!« Wir brechen auf. Der Ort schläft. Die Kühe gleichen Klippen, wirken im Schlaf leblos. Kein Hund bellt. Als wir das Ortstor 22
erreichen, stellen wir uns in die Steigbügel und ziehen die Zügel straff. Die Pferde fallen in Galopp. Der Wind singt in den Ohren, Hügel und Berge beginnen zu hüpfen, die Luft ist voll von Sperlingen, und es ist, als bröckele etwas vom Himmel ab, in tausend graue Splitter zerschellend und schwirrend auseinanderfliegend. Schon erreichen wir Harangyty, das Wasser ist tränenschwarz und schärpendünn, inmitten des Flußbettes, das hell und leer wirkt. Wir bringen die Pferde zum Schritt und reiten hindurch, langsam und bedächtig, bestrebt, die Schwester nicht zu erschrecken in ihrer Schlummerstunde, sie nicht zu demütigen in ihren schwachen Tagen. Denn wir wissen, es ist ein großer Fluß in seiner Jugendzeit, im Frühsommer, und da endet unter seiner wogenden und zischenden Flut, dunkelrot wie aus Blut und Ruß, so manches Leben. Nun ist es Herbst, die Regen- und Taumonate sind vorüber, es ist die Greisenzeit der Schwester. Im Winter dann stirbt sie, es bleiben das verwaiste Flußbett und hier und da ein paar Eisaugen zurück. Aber es gibt den ewigen Tod ebensowenig wie das ewige Leben. Ewig sind beide nur in der Abwechslung. Im Frühjahr, wenn die Sonne über den Bergen immer länger und länger verweilt, die Flechten an den Felsen und die Knospen an den Bäumen immer dicker und dicker anschwellen und die Dünste über Berg und Tal und Steppe immer dichter und dichter werden, rinnt eines Tages ein trübes Wasser, das nicht breiter ist als ein Strick, das trockene Flußbett hinab. Aber es schwillt mit jeder Stunde und jedem Tag an, und bald fließt ein richtiger Fluß, dem Mensch und Tier Achtung entgegenbringen. So erwacht die Schwester Harangyty immer und immer wieder zum Leben. Vater meint, daß sich der Fluß bald hinlegen würde. Orus sagt nichts, er ist fast noch ein Kind, fünfzehn Jahre erst, ist gekommen, um uns zu benachrichtigen, daß sein Großvater tot ist. Auch ich habe nichts zu erwidern, habe nur wahrgenommen, 23
daß der Fluß am Austrocknen ist. Weiter nehme ich wahr, daß das Gras und das Grünfutter abgemäht sind, aber ich weiß, alles wird wiederkommen, für alles gibt es immer und immer wieder ein neues Erwachen, ein neues Leben. Dann reiten wir wieder schnell. Es trommeln die zwölf Hufe der drei Herbstpferde auf die Erde, es klirrt und knarrt und knallt das Sattelzeug. Wie alt mag diese Musik sein? Bei Tagesanbruch überqueren wir wieder Harangyty, diesmal ostwärts, und dann einen anderen Fluß, die Taldyg, südwärts. Vater stellt fest, daß wir die Weghälfte schon hinter uns hätten. Mir kommt die Strecke, die wir zurückgelegt, viel länger vor als die, die wir noch zurückzulegen haben. Aber ich weiß, es stimmt stets, wenn Vater etwas sagt. Die Pferde, alle drei dunkelbraun, schäumen und dampfen, sehen wie Grauschimmel aus. Mir fallen die Verse ein: Warum schäumt und dampft dein Roß, Reiter? Ist es der Tod, der dich dahinjagt? Ja, er ist es, denke ich, und dieser Gedanke läßt mich feierlich an den denken, der nun tot sein soll. Es ist der älteste Bruder der vierzehn Geschwister, zu denen auch meine Mutter gehört. Einer seiner Vorväter ist wohl ein Abenteurer gewesen, denn er ist von weit her, aus dem Norden, der Ecke der Dörbeten, mit einem Gehstock in der Hand und einem Sack auf dem Rücken gekommen. Im Sack lag ein Bündel Papier, er nannte es Sudur und behauptete, er könne sich mit diesem unterhalten und von ihm Antworten auf Geheimnisse erhalten. Bald ersuchten ihn andere um Auskünfte und brachten ihm Opfer wie einem Schamanen, und dieses bewirkte, daß er blieb, eine Familie gründete und zu einer weißen Jurte und einer großen Herde kam. Seine Nachkommen bildeten den Stamm Chojt, der einige Generationen später die führenden Lamas hervorbrachte. Dies begann damit, daß jeweils die ältesten Söhne der Männer aus dem Stamm von ihren Vätern die Fähigkeit erbten, sich mit 24
jenem Sudur zu unterhalten, das nun, in ein goldgelbes Seidentuch eingewickelt, auf der obersten Truhe im Dör der Jurte des Stammesältesten ruhte und vor dem sich jeder Eintretende zu verneigen hatte. So erbte auch unser Daaj von seinem Vater, der Lobtschaa hieß, die bekannte Fähigkeit. Seine Eltern hatten ihn Dshigshin genannt. Aber im Volksmund hieß er nur Stalin, weil er eine beängstigende Ähnlichkeit mit dem neuzeitlichen Gott hatte, dessen Bild in jeder Jurte hing, damals. Auch unser Stalin war ein wortkarger, finsterer Mensch; nie lachte er, nur selten sah man ihn lächeln oder grinsen, und wenn er grinste, flammten in seinen graugrünen Augen zwei Pünktchen wie ein Paar glühender Ahlspitzen. Er war ein ruheloser Arbeiter: wie früh man auch aufstand, ihn sah man längst schon auf den Beinen. Im Frühjahr, in der Wurfzeit des Viehs, legte er sich nicht erst hin. Im Frühsommer, wenn sich unsere Jurten für eine kurze Zeit einander näherten, sahen wir, daß seinen Pferden das Fell glänzte, den Kamelen die Höcker prall und aufrecht standen und die Schafe und Ziegen rund und scheu waren wie im Herbst. Unsere Tiere sahen anders aus, so wie Tiere überhaupt aussehen, wenn sie dem ersten Biß Grün begegnen: träg, zahm und mit lappiger Haut. Unsere Eltern sind hervorragende Viehzüchter. Sie sind Viehzüchter erster Klasse. Stalin war von einer Sonderklasse. Es hieß immer, er hätte das Plansoll am weitesten übererfüllt, und es hieß, er hätte das meiste Geld mit nach Hause gebracht. Aber geizig war er! Vier Schafe, in der Regel die Hälfte davon Jährlinge, und ein Großvieh schlachtete er für den Winter – die Hälfte von dem, was wir verbrauchten. Nie hat er uns Kindern Bonbons mitgebracht, wenn er kam. Ebensowenig kam es vor, daß er unserer Großmutter, seiner Mutter, die, seit ich mich besinnen konnte, immer bei uns lebte und erst starb, als ich die Grundschule beendete, irgend etwas mitgebracht hätte. Nein, nicht einen Schluck Aragy und nicht 25
eine Prise Schnupftabak sah ich sie aus der Hand ihres ältesten Sohnes entgegennehmen. Dafür klingen mir ihre Worte, daß das Erstlingskind einem doch am liebsten wäre, im Ohre noch. Einmal schickte mich Mutter mit einem Drei-Liter-Krug zu Stalin. Im Krug war unser letzter Aragy in jenem Jahr. Es war Spätherbst, und die Yakkühe hörten auf, abends nach Hause zu kommen. Schnee lag längst auch in den Tälern, es blies ein kalter Wind in der Gebirgssteppe, und mich überkam die Lust, schnell zu reiten. Aber am Sattel hatte ich den Krug mit dem letzten, teuren Aragy. Und so war ich dazu verdammt, so langsam zu reiten wie ein Hütekasache. Doch tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß mir mein leiblicher Daaj bestimmt etwas schenken würde: ein Lamm, ein Kalb oder gar ein Fohlen. Ja, ein Fohlen. Dieser Gedanke machte mich zittrig. Denn ich war damals höchstens sechs, nicht älter, und wir hatten in der Familie nur ein Pferd, weil der große Krieg, der zwar weit weg von uns stattgefunden, uns aber die Pferde genommen hatte. Allein Stalin hatte eine große Herde Pferde, denn er hatte, als der Krieg ausbrach, ein halbes Dutzend Stuten besessen, und Stuten waren nicht fronttauglich. Angekommen, stellte ich als erstes fest, daß kein Gögeer in der Jurte zu sehen war, und als zweites, daß sich mein Daaj sehr, sehr freute über mein Mitbringsel: Kleine, helle Tränen zeigten sich in seinen Augenwinkeln, und seine Hände zitterten, als ich ihm den Krug mit einem Stück frischgepreßten Käse überreichte und sagte: »Unser letzter Aragy. Mutter meint, kein anderer als Sie soll ihn trinken, Daaj.« Da schien mir das Fohlen sicher. Aber was ich bekam, war ein zerknitterter Drei-Tugrik-Schein. Ich will nicht erst versuchen zu beschreiben, wie sehr ich da enttäuscht war, weil so etwas unbeschreibbar ist. Auf dem Heimweg ritt ich, als läge mir ein Teufel hinterm Rücken. Ich kam an dem Spitzzelt der Ildeng, einer geisteskranken Frau, vorbei, schenkte ihr den Schein, und erst da empfand ich wohl so etwas wie Befriedigung. Wieder zu Hause, brach ich in 26
Tränen aus und jagte damit allen einen Schreck ein. »Ist was mit deinem Daaj?« »Nichts!« »Hast du den Aragy nicht zu ihm bringen können?« »Doch, habe ich!« »Hat dir dein Daaj nichts geschenkt?« »Doch. Drei Tugrik!« »Also kein Lamm?« »Kein Lamm und kein Fohlen!« Später fragte mich Vater, wo ich meine drei Tugrik hätte. Er wollte mir damit Süßigkeiten kaufen und mich so trösten. Ich sagte, was ich damit gemacht hatte. Vater und Mutter sahen einander an, ich wurde gelobt: »Sei froh! Denn du wirst anders als dein Daaj, und das ist mehr als das schönste Fohlen!« Großmutter saß klein und stumm da. Ihre Greisinnenaugen glänzten, als hätte sie einen Stein verschluckt. Vielleicht wollte sie am liebsten taub sein oder gar stumm? Stalin bekam ein Hausmädchen, weil unsere Güüj krank wurde. Sie war eine Halbwaise, ihre Mutter war vor vielen Jahren gestorben, und ihr Vater, ein der Trunksucht verfallener Mensch, ging noch auf Erden umher. Weitere Verwandte hatte sie nicht. Sie war nicht besonders schön, auch nicht gerade häßlich, hatte aber geschickte Hände. Sie gewöhnte sich schnell an die alten Leute, sagte Eshej und Enej zu ihnen, weil diese älter waren als ihre eigenen Eltern. Sie pflegte die alte, kranke Frau, wie eine Tochter die eigene Mutter, fünf Jahre lang. Dann starb die Frau, aber sie blieb, obwohl ihr Vater meinte, sie sollte jetzt nach Hause kommen, weil Leute zu ihm kämen und ihn um die Hand der Tochter bäten. Sie blieb und ritt später mit Stalin ins Kreiszentrum. Beide sagten: »Wir wollen Mann und Frau sein.« Die Dargas machten große Augen, denn er war schon einundsechzig Jahre alt und sie erst zweiundzwanzig. Stalin sagte 27
ruhig: »Es geht wohl nicht? Bitte, nennt mir euer Gesetz, das so etwas verbietet!« Es gab kein Gesetz, das verbot, daß ein alter Mann ein junges Mädchen heiratete. Also mußte die Ehe eingetragen werden. Damit hatte Tuwa seinen gehörnten Hasen. Der Vater des Mädchens kam in unsere Jurte, trug einen Karabiner auf dem Rücken. Er fragte Großmutter: »Hast du, Alte, so etwas schon gesehen?!« Großmutter antwortete ergeben: »Nein.« Er fragte wieder: »Hast du, Alte, so etwas schon gehört?« Sie erwiderte wieder: »Nein.« Darauf sagte er: »Nun aber hast du es gesehen und gehört! Und ich will dieser Schande ein Ende machen! Ich werde meine Tochter entweder zurückholen oder dort erschießen! Und dein Sohn, der alte Kulak und Bock, wird auch nicht heil davonkommen – was ich vor dir und Gök Deeri, dem Blauen Himmel, schwöre!« Dann ritt er davon. Der Knall der Peitsche und das Getrommel der Pferdehufe blieben in der Luft zurück und hallten lange nach. Vater war nicht zu Hause, ein Pferd war auch nicht da, daß man schnell jemanden hätte benachrichtigen können. Großmutter und Mutter taten in der Nacht kein Auge zu. Erst orakelten sie mit einundvierzig Steinen. Da mußte ich auch dabei sitzen und aufpassen, daß die geraden Zahlen von den ungeraden auseinander gehalten wurden. Manchmal ergab sich ein gutes Bild und manchmal ein schlechtes. Am nächsten Tag kam der Mann mit dem Gewehr wieder. Diesmal blieb er an der Schwelle stehen und rief feierlich aus: »Liebe Verschwägerte!« Er hatte getrunken und trank bei uns weiter. Bald lachte er, bald weinte er. »Ich hätte die beiden totschießen können, hätte ich damit aber dem klatschsüchtigen Pack das Maul stopfen können? Wohl kaum! So hab ich die beiden am Leben gelassen, damit sie an ihrer Schande eines Tages selber verrecken!« Aber die Schande schien nicht imstande, den beiden zu scha28
den. Die anderen waren es, die eines Tages müde wurden und aufhörten, über die beiden zu klatschen. Die Ehe wurde akzeptiert. Allein es war eine sehr wundersame Ehe. Das kam von der Eifersucht, die nicht nur, wie man annehmen müßte, von ihm, sondern auch, und sogar vor allem, von ihr ausging. Nicht nur durfte in Stalins Jurte kein Mann übernachten und auch mehr als eine Flasche Aragy trinken, wenn er nicht zu Hause war. Stalin durfte auch nicht in einer Jurte übernachten, in der eine jüngere weibliche Person war, und mehr als eine Flasche trinken. Und wenn so etwas doch vorkam, dann gab es ein Von-zu-HauseWeglaufen und auf beiden Seiten viel Tränen. Vielleicht hielt dies die Ehe frisch. Sie dauerte immerhin neunzehn Jahre, und man sah es ihnen nicht an, daß sie irgendwie voneinander müde geworden wären. Das Wunder wurde sichtbar spätestens ein Jahr nach der Eheschließung: Er war um zehn Jahre jünger geworden und sie um zehn Jahre älter, und später, als unsere erste Güüj schon zehn Jahre unter der Erde lag, saß über der Erde an ihrer Stelle eine so alte Frau, wie sie es gewesen war, bevor die Krankheit sie ins Bett geholt hat, und neben dieser nicht mehr jungen, aber liebeslustigen Frau saß ein sehr rüstiger Mann mit grauen Schläfen, sonnenfunkelnden Augen und einer kaukasischen Nase, welcher der Bart nicht fehlte. Doch blieb die Ehe kinderlos. Die Sonne geht auf. Wir kommen an. Die Schafe liegen in der Hürde, die Yaks an der Dshele, die Frauen haben mit dem Melken noch nicht begonnen. Um die Jurte mit dem zugezogenen Dachlukenfilz stehen ein Dutzend Pferde, vor ihr sitzen Männer mit untergeschlagenen Beinen, ein Kamel liegt mit angelegtem Dshada und darüber mit zwei Dungkörben, an beiden Seiten, die mit dem Boden nach oben hängen. Alles sei fertig, meint Vater, man warte nur noch auf uns. Wir 29
machen einen Bogen, reiten im Schritt an die Jurte heran und steigen ab. Die Männer stehen auf, wir gehen ihnen entgegen. Keiner beriecht mich oder gibt mir die Hand. Die Mienen sind feierlich, die Worte fallen knapp aus, das Persönliche wird vermieden. Dann gehen wir zu der Jurte des Bruders. Da fällt mir ein, daß ich nicht weiß, wie man nächsten Verwandten eines Toten begegnet. Vater zu fragen, ist keine Zeit mehr, denn wir stehen schon auf der Türschwelle, und vor uns, neben dem Herd, sitzt unsere Güüj. Erst jetzt wird mir bewußt, daß ich bisher an keinem tuwinischen Begräbnis teilgenommen und auch keinen toten Tuwinen gesehen habe. Nicht einen meiner beiden Brüder, die wenige Jahre hintereinander starben, der eine zwölfjährig, der andere zweiundzwanzigjährig, nicht eine meiner beiden Großmütter, die ihr langes Leben gelebt hatten, nicht eines der Kinder, die Jahr für Jahr den Masern zum Opfer fielen, sah ich, nachdem sie gestorben waren. Sie waren erst krank, und eines Morgens waren sie verschwunden, und es hieß, sie wären ins Salz gegangen. Wir durften ihre Namen nicht nennen, durften sie auch nicht erwähnen, und eines Tages wußten wir wohl, daß es sie nicht mehr gab und auch nie wieder geben würde. Ich beschließe abzuwarten. Die Frau sitzt starr und stumm, und wie die Perlen einer endlosen Kette rinnen Tränenkugeln ihr Gesicht herab. Vater reicht ihr seine Schnupftabakflasche mit den Worten: »Das Meer kann man umgehen, den Tod nicht. Er hat wieder einmal uns getroffen, und nun gleicht der Ail einem Berg, dessen Gipfel abgebrochen ist. Tröstlich ist nur, daß der Ail starke Wurzeln hat und jenem Berg gleicht, der schneller wächst, als daß ihm der Wind Krümel und Brocken abschlägt. In diesem Sinne wollen wir uns zusammennehmen und nicht mehr trauern, und wir wünschen, daß der Mann, der abgeht, den Bleibenden seinen Segen zurückläßt.« Die Frau nimmt die Schnupftabakflasche entgegen, schlägt auf den linken Daumennagel, den der gekrümmte Zeigefinger wie 30
eine Mauer umschließt, Tabak ab und schnupft in beide Nasenlöcher. Obwohl die Menge von einem halben Teelöffel bestimmt zu groß ist, niest sie nicht. Dann gibt sie die Tabakflasche zurück und sagt: »Ja. Was Sie sagen, ist wahr.« Dann geht die Tabakflasche zu Bruder Sendishep, und da lauten die Begleitworte: »Hier, Sohn, Tabak. Der Sohn ist dafür da, um die Lücke zu füllen, die der Vater zurückläßt.« Bruder Sendishep ist kein Schnupfer, riecht an dem Löffelchen herum und niest. Darauf sagt er leise: »Ja, so ist es.« Wir trinken Tee. Im Dör schlafen auf einem breiten Lager ein halbes Dutzend Kinder. Sie werden fragen, wo der Großvater hingegangen sei, wenn sie aufstehen, und sie werden eine Zeitlang warten, wann er doch vom Salz endlich zurückkehren würde, denke ich. Dann gehen wir, samt unserer Güüj und dem Bruder, zu den Wartenden. Vier ältere Männer und unsere Güüj treten in die Jurte ein, ich sehe, im Halbdunkel brennt eine Butterleuchte. Einer stellt sich mit einer großen Holzsäge an die Tür, wir Jüngeren fassen die linke Gitterwand am unteren Ende und warten auf das Zeichen zu heben, und neben uns stehen noch vier Männer, bereit, die Last zu empfangen. »Hebt!« ertönt eine Stimme aus der Jurte, wir heben, die Jurte knarrt, geht hoch. Wacholderrauch dringt herüber, ein weißer Seidensack wird sichtbar, die Männer empfangen ihn, wir lassen die Jurte wieder niederfahren. Der flache, fast runde grellweiße Sack wird zum Kamel getragen und auf die ebene Fläche gelegt, die die Böden der Körbe bilden. »Zieht den Strick fest, Jungs«, sagt Vater, »es ist Stein wie jeder andere!« Der Strick wird festgezogen: Die Körbe knarren, und das Kamel stöhnt und brüllt. Indes kommt eine Schüssel Milch zum Vorschein, der Zug setzt sich in Bewegung, und die Güüj schwenkt die Schüssel im Kreis, ruft: »Huraj! Huraj!« Die drei Frauen des Ails stehen neben ihr. Wie alt mag, Tuwa, dieses dein Gesicht sein: Männer zu Pferde, hinter ihnen das 31
Kamel mit den beiden Körben, dem Sack, so groß, rund und flach an den Seiten wie der aufgedunsene Pansen eines ausgewachsenen Hammels, und Spaten und das zurückbleibende weibliche Häuflein mit der Milch und dem tränenschweren Huraj? Stumm erreicht der Zug den Fluß, und dann hält er, alle steigen ab. »Ej, aryd ulug dalajnyng üsüü, geshig haerlagar! – Oh, Ihr Teile des Meeres, gebt eine Furt!« ruft Vater mit dem Gesicht zum Fluß, und dann winkt er Bruder Sendishep mit dem Kopf, und dieser wirft darauf etwas Blinkendes ins Wasser. Das ist, wie ich später erfahren werde, ein silberner Ring des Toten, und die Antwort auf meine verwunderte Frage, was sei, wenn ihn jemand fände, lautet: »Das kann er doch ruhig, aber er hat ihn dann vom Fluß!« Dann setzen sich alle wieder auf die Pferde, der Zug überquert den Strom und bewegt sich in Richtung Nordwesten, auf Oruktug zu. Einer reitet vor und streut Gerstenkörner, wenn ein Weg überquert wird. Sie bleiben in der grellen Sonne liegen, hell und oval. Männer und Frauen, die hier und da dem Zug begegnen, steigen vom Pferd ab, rücken die Kopfbedeckung zurecht und bleiben still, bis er vorbei ist. Ihre Gesichter verraten, daß sie an etwas Unangenehmes, vielleicht Vergessenes erinnert worden sind. Sind sie sehr nah, rufen sie in die Mitte der Reiter: »Möge der, der abgeht, seinen Segen zurücklassen!« In Oruktug sind drei Ails, Vieh füllt das weite Tal. Obwohl noch Morgenstunde, bewegt es sich kaum und grast nur träge. Der Zug erreicht den nach dem Süden gelegenen Hang, der von weitem dunkelgestreift aussieht und sich zu wellen scheint. Das kommt davon, daß das hohe, dichte Gras schon schwarze Spitzen bekommen hat, und ein leiser Wind darin schleicht. Der Hang ist weit, auf ihm können zehntausend Pferde Platz finden, in ihm haben viele zehntausend Menschen Platz gefunden. Vielzehntausendmal verwundet, liegt die Erde noch immer 32
untötbar, wie ein Riese, und der Name Oruktug klingt für das tuwinische Ohr groß und innig: wie Heimat, Mutter, Wiege … Die Last wird vom Kamelrücken heruntergenommen und ins Gras gelegt. Dem Strick werden die beiden Enden zusammengebunden, und der Kreis wird zu einem Viereck gespannt und auf die Erde gelegt. Mit einer Flasche Milch in der Hand tritt Vater vor das Viereck, rupft ein paar Grashalme ab und bespritzt, nachdem er sie in die Flasche eingetaucht hat, damit den Boden. Er redet leise und hastig, so daß die einzelnen Worte schwer zu verstehen sind. Verstehen kann man nur den Sinn der Worte, und dieser lautet: »Mutter Erde, nimm deinen Sohn wieder in dich auf!« Dann geht er um das Viereck und läßt dabei die Milch tropfen, und als er die Anfangsstelle erreicht hat, geht er bis zur Mitte und vergießt die Restmilch. In diesem Augenblick tritt Bruder Sendishep, der bei weitem noch keinen weißen Bart, aber seit einigen Stunden das Recht und die Pflicht innehat, Oberhaupt seines Ails zu sein, mit einem Messer in der Hand an das Viereck heran und gibt es Vater. Er sticht damit sanft in die Erde, dann sieht er auf und sagt: »Es ist geschehen.« Nun treten alle näher; dem ersten reicht er das Messer, und dieser nimmt es mit beiden Händen entgegen und führt es feierlich an die Stirn. Dasselbe geschieht etwas später auch mit dem Strick. Ein jeder, der so einen Gegenstand bekommt, wird ihn dann auch behalten. Der Spaten dringt unter das Gras und wirft dunkle Erde auf, aus der leichter Dampf und betörender Duft steigen. Wir Jüngeren werden nach vier flachen Steinen geschickt, von denen einer größer sein soll. Wir gehen über Hügel und Mulden. Es ist einer jener großen Tage, an denen man keine Eile spürt, weil man merkt, daß sich die Sonne fortbewegt, die nun einmal so groß und still am Himmel steht, und an denen man nie richtig traurig wird, obwohl einen die leichte Trauer nie losläßt. Uns ist gesagt worden, daß wir keine zusammenliegenden Steine nehmen sollten, da sie schon jemandem gehörten. Wir 33
schauen nach einzelnen Steinen, und wir finden sie erst nach langem Suchen. Aber niemand kann uns sagen, ob nicht selbst diese irgendwann anderen gehört haben. Auf dem Boden des Grabes ist ein Hadak ausgebreitet, darüber sind eine Handvoll Wacholderkrümel verstreut. Der Sack wird hineingelegt. Alle blicken ins Grab: der tuwinische Abschied ist stumm. Die weiße Seide auf der schwarzen Erde; ein bläulicher Schimmer füllt das kaum anderthalb Schritt lange und einen Schritt breite Grab. Kleiner bist du geworden, Daaj, denke ich. Das kommt davon, weil du mit eingezogenen Gliedern im Totensack liegst. Verzeih, daß ich nicht gegen Tränen kämpfen muß. Denn ich liebte dich nicht, ich fürchtete dich. Das taten wohl alle. Aber nun stehen sie, Tuwas Männer, über deinem Grab und erweisen dir die Ehre, weil sie wissen, daß du fortan niemandem mehr Böses tun kannst und nur noch Heimaterde bist … Grobe, schwarze Erde fällt über die feine weiße Seide, deckt sie bald zu. Die drei kleineren der Steine, die wir zusammengelesen und herangetragen haben, sind am Kopfende übereinandergeschichtet, und darauf brennt Wacholder; der größere liegt am Fußende, darauf brennt Lärchenholz, und zwischen zwei Feuern liegt ein glatter Haufen dunkler Erde, kaum anderthalb Schritte lang und einen Schritt breit. Das Bruststück und die vier untersten Rippen vom Hammel kommen zum Vorschein, sie werden ins Lärchenholzfeuer gelegt. Erst scheint das Feuer zu stocken, aber sehr bald beginnt das Fett zu zerlaufen, es zischt und knistert, und mit einem Mal stehen Fett und Fleisch in heller Flamme. Nach diesem Abschiedsmahl für den Toten holen die Schnupfer ihre Schnupftabakflaschen aus dem Brustlatz heraus und schütten etwas Pulver auf den Rand des Steins, der fortan als Opferplatte dienen wird. Die Raucher drehen schnell Zigaretten, zünden sie an und legen sie daneben. Dann tritt Vater an das Fußende des Grabes, kniet nieder und 34
verneigt sich dreimal. Kaum ist er aufgestanden, tritt der Nächste heran. Zum Schluß stellen sich alle in eine Reihe, gehen in kleinen Schritten um das Grab, und von dort führt der Zug zu den Pferden. Das Begräbnis ist zu Ende. Der Tote bleibt zurück. Bei der Rückkehr werden wir von einer Schar Kinder empfangen. Neugierde steckt in ihren Blicken. Vor der Jurte, deren Dachlukenfilz wieder zurückgezogen ist, steht eine Nachbarsfrau, in jeder Hand eine Kanne und vor sich eine Schüssel. Wir klopfen unsere Kleider aus, gehen zu ihr und halten die Hände über die Schüssel. Die Frau gießt erst aus der rechten Kanne Weißes, wasserverdünnte Milch, und dann aus der Linken Schwarzes, klares Wasser. Es gibt ein reichliches Mahl. Zwei Hammel sind geschlachtet worden. Die große Holzschüssel leert sich kaum zur Hälfte. Ein Sack aus geräuchertem Yakfell steht mit Aragy, ein anderer mit Kumys. Wie oft ist in dieser Jurte so reichlich gegessen und getrunken worden? Ich kann mich an kein Fest erinnern. Der rauchige Geruch von Wacholder und Butter im Zusammenwirken mit Aragy, Kumys, Fleisch und Käse lastet weich und schwer auf dem Gemüt. Doch eine Weile später brechen die Männer auf, setzen ihre Reise fort. Denn sie sind auf dem Weg zur Fernjagd aufgehalten worden. Bevor sie die Jurte verlassen, reicht die Güüj jedem auf einem Viereck weißer Seide einen Ziegeltee. Es ist ein stummes Geben und Nehmen. Vater und ich bleiben. Wir sind die nächsten Verwandten. Es kommt ein lebhaftes Gespräch auf, und es dreht sich um den Toten, der bis zuletzt kerngesund gewesen ist, um manche Bemerkungen, die er in der letzten Zeit gemacht hat, um seinen Tod, der jäh und schmerzlos wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel eingetroffen ist. Dann kommt das Gespräch auf den Besitz, die Güüj nennt Tiere und Gegenstände, die dieser und jener dann und wann haben sollen. Ich soll einen der beiden dreijährigen Hengste haben, soll ihn mir kastrieren lassen und einreiten. Das Fohlen, das sich beinah um ein Vierteljahrhundert 35
verspätet hat, kommt mir wie ein Witz vor, und ich bekomme nachträglich ein schlechtes Gewissen. Später gehen wir alle zu Sendisheps Jurte. Dort gibt es nach einem Tee wieder Fleisch mit Aragy und Kumys. Vor meinen Augen beginnt sich die Welt zu drehen. Ich sage, ich gehe mit Orus nach dem Vieh schauen. Die Schatten haben sich längst gespitzt, die Abendbrise ist im Aufkommen. Ich reite, wie Betrunkene reiten. Neben mir jagt auf seinem Pferd mit den hellen Schweißflecken der fünfzehnjährige, schweignüchterne Orus. Es drängt mich vorwärts. Es ist mir, als hätte ich nicht genug Zeit zum Leben. In der Mitte des Alban-Oruk-Tals, das steil ansteigt, fallen die Pferde in Trab, bald darauf in Schritt. Nun lassen wir sie nach ihrem Willen gehen. Am Nordhang des Harlyg Haarakan grasen die Yaks. Wir steigen am Rand der Herde ab, fallen ins Gras, drehen uns auf den Rücken. Tränen füllen mir die Augen. »Nun weißt du«, rede ich, ohne Orus anzublicken, »niemand geht Salz holen!« Der Junge hört mir still zu. »Erst kommt man in einen Sack, dann in die Erde, und da hört man auf zu sein, was man auf der Erde gewesen ist, reich, arm, gut, böse. Nur: der eine steckt in einem Sack aus Seide, der andere in einem aus Leinen, aber da unten hört die Seide auf, Seide zu sein und Leinen Leinen, denn schwarz ist die Erde immer und feucht und zersetzend, und was bleibt, ist zuerst ein Hügel, später eine Mulde, kaum anderthalb Schritte lang und einen Schritt breit: Erde selbst. Man nennt das auch Totsein, aber das sagt man nicht gern, und darum dieses mit dem Salz. Man sagt nicht, jemand geht Gold holen oder Seide oder auch einen Paßgänger, man sagt immer nur Salz, weil dem selbst, der das sagt, um damit andere zu schonen, salzbitter zumute ist.« Jemand packt und zieht mich hoch. Ich werde wach und sehe über mir Orus. »Dshuruguwaa-aga!«, sagt er. »Steh auf, es wird Abend!« In seiner Stimme ist Unruhe. Ich richte mich auf. Die 36
Sonne ist untergegangen. Die Herde ist weg. Nur unsere beiden Pferde stehen neben uns, grasen. Ich habe meinen Rausch ausgeschlafen, spüre keine Eile, keine Trauer mehr, bin beruhigt. Über den Besch Bogda ziehen dünne Streifen Wolken gegen Norden, rot, gleich fliegenden Feuern. Wie wird der nächste Tag sein? Der scheidende war groß. Nun habe ich eine Vorstellung davon, wie meine Vorfahren in die Heimaterde eingegangen sind, und weil diese Vorstellung unlöschbar sein wird in meinem ganzen Leben, werde ich wissen, wie der Abgang meines Vaters, meiner Mutter, ja, jedes der letzten so unfertigen, aber so wunderbaren Menschen aus einer unfertig endenden Zeit aussehen wird. Der Tod hat immer ein Gesicht. Wir reiten langsam heim. Vom Schneegipfel des Harlyg Haarakan fällt ein kühler Wind, Schwärme flügger Berghühner füllen den Abendhimmel, aus der Ebene des Harangyty-Tales dringt das vielstimmige Johlen von Frauen und Mädchen herüber, die die Yakkühe von der Weide in die Hürde zurückrufen. In der Ebene bewegen sich ein paar graue Gestalten, und wie wir uns ihnen nähern, bleiben sie stehen und drängen sich zusammen. Dann ertönt aus einer Kinderkehle: »Dshuruguwaa-aga!« »Was macht ihr hier?« rufe ich zurück. »Wir suchen euch.« »Sind die Yaks zurück?« »Ja, längst.« »Was machen die Großen?« »Sie singen.«
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Der vierte Tag
20. August Das tuwinische Lied ist wehmütig. Nüchtern singt man es kaum. Es gebärt Tränen. Und es nimmt einem den Schlaf. Auch nachts, wenn man selber nicht unter den Singenden sitzt. Erst gegen Morgen bin ich eingeschlafen. Vater bleibt, um noch einiges zu erledigen. Ich muß alleine zurückreiten. Der Morgen unter dem Gletschergipfel ist kühl, aber lange will mir der Schlaf nicht aus den Augen weichen. Hinter Usun-Oi hole ich einen Reiter ein. Es ist Baatyr, fünfunddreißig Jahre alt, ein entfernter Verwandter väterlicher Linie, seit fünfzehn Jahren Grundschullehrer, der erste tuwinische Esperantist und Philosoph, und deshalb mit dem Spitznamen ›Der Gelehrte‹ bedacht, in dem sowohl Anerkennung als auch Spott stecken. »Sei gegrüßt, großer Lehrer hoher Schule!« ruft er auf mongolisch aus und zieht die Schirmmütze vom Kopf. »Sei gegrüßt, großer Lehrer niedriger Schule!« erwidere ich ihm den Gruß auf tuwinisch. Diese unsere Redensart, einander zu necken, haben wir uns angewöhnt, seitdem wir, Söhne eines Ails, ineinander die Antipoden entdeckt haben. Wir führen einen Dialog, ein Wortspiel, und dabei reden wir in zwei Sprachen. Das ist heute nichts Besonderes unter Tuwinen. Da kehrt er endlich zum Tuwinischen zurück und sagt: »Also ist wieder ein Großer dahin.« »So ist es.« Unser Gespräch nimmt einen ruhigen, ernsten Verlauf. Dicke Herbstzieselmäuse hocken, bleich wie alte Knochen, am 38
Wegrand, starren mit funkelnden dunklen Augen in die Welt und scheinen uns erst wahrzunehmen, wenn der Kies, den die Pferdehufe in die Luft werfen, auf sie fällt. Da zucken sie zusammen und huschen davon. Die Sonne steht hoch und still, kleine, weiße Wolken umschweben sie, gleich einer friedlich grasenden Lämmerherde. Es ist ein ruhiger, ernster Tag. In Örgün-Schirik, der großen Wiesenebene, setzt sich gerade ein Zug in Bewegung: fünf Kamele, zwei Reiter mit je einem Kind auf dem Sattel, ein Dutzend Yaks, ein Hund, ein Fohlen. Das Fohlen hinkt. Mir fällt die Strophe ein: »Warum bist du so mager, mein blaues Fohlen? Warum bist du so fern, mein blauer Berg?« »Warum ist unser Lied so wehmütig?« frage ich. »… gewesen«, fügt Baatyr schnell hinzu und fährt selbstsicher fort: »Denn inzwischen singen wir andere Lieder. Solche, die unseren neuen Lebensgefühlen passen. Die du meinst, sind die alten. Sie sind in der Tat wehmütig, weil sie das Lebensgefühl der Alten ausdrücken, die mit Schamanen, Lamas und Begs lebten, in einer Welt, in welcher der Weltschmerz bewußt gezüchtet wurde, weil er aus den sonst so rauhen Menschen todesfürchtige, schicksalsergebene Erdenwürmer machte.« »Das alles hatten die Nachbarvölker auch. Doch ihre Lieder sind anders, lustiger.« »Hinzu kommt, daß unser Volk dem Schnupftabak und dem Aragy verfallen war.« Ich erwidere nichts, betrachte die Zieselmäuse und die Karawane, die uns entgegenkommt, und versuche, Reiter und Pferde zu erkennen. Es sind sehr junge Menschen, wahrscheinlich welche aus dem Stamm Hara Sojan. Es ist entweder der jüngste oder der einzige Sohn eines Vaters, denn das Jurtengerüst ist alt: dunkelbraun vom Rauch und hier und da hell geflickt. Allein das Bett und die Tür sind neu, mit scharfen Ornamenten verziert. »Du bist stumm geworden wie einer aus der Familie der 39
Steinmenschen. Was ist, lieber Verwandter und Antipode?« stichelt der Gelehrte. »Früher stritt ich mich gern mit dir, weil ich wohl dachte, Streit mache den Klugen aus. Aber nun sehe ich diese Welt mit anderen Augen. Ich offenbare dir mein Geheimnis: Ich möchte am liebsten meine Bergjungeneinfältigkeit zurückhaben. Denn die Wissenschaft ähnelt sehr alten Fässern – ob sie gefüllt sind mit Müll, mit Gold oder ob sie leer sind.« Baatyr hört aufmerksam zu, schweigt lange und fragt dann nach meiner Familie, erzählt von der seinen. Das ist seltsam, ich hatte eine Explosion erwartet. Seine Frau habe im Frühjahr den fünften Sohn zur Welt gebracht. »Fünf ist eine gute Zahl!« »Aber acht Söhne wünschen wir uns!« »So? Na, dann: Es war einmal ein reicher angesehener Mann, der hatte acht Söhne … Kennst du das Märchen?« »Erzähl es!« »Eines Tages ritt er von zu Hause weg, durchwanderte die halbe Welt und kam nach Tagen und Monaten zu einer großen weißen Palastjurte, und wie er darin saß und Tee trank, sah er über dem Kopfende des Ehebettes sieben Paar Ohrgehänge aus Silber. Da begann er zu weinen. Man fragte ihn, was mit ihm geschehen sei. Er sagte, mit dem Blick auf die Ohrgehänge, daß er selber acht Söhne hätte und um die acht Töchter eines Mannes werben wolle. Da sagte man ihm, daß er nicht weinen solle, und holte darauf aus der Truhe im Dör ein Paar aus Gold, das der jüngsten der Töchter gehörte, die am schönsten von allen war …« Ich erzähle ihm das Märchen bis zum glücklichen Ende und füge hinzu: »Das ist dir und deiner Frau zu Ehren. Es gibt Länder, wo die Frau jede Nacht, bevor sie sich zu ihrem Mann legt, Gift schluckt, um die Entstehung eines neuen Menschen zu verhindern, und dann nichts Eiligeres unternimmt, als zum Arzt 40
zu gehen und die Frucht aus dem Leib herausreißen zu lassen, wenn der Mensch trotzdem entsteht. Und das ist alles gesetzlich erlaubt. Selbst in unserer Stadt, die jenes Gift und Gesetz und die ganze Industrie zur Verhütung neuer Menschen sozusagen nur vom Hörensagen kennt, beginnt sich der Mensch vor Kindern zu fürchten wie einst vor Teufeln.« Nordshmaa kommt uns entgegen, Waantschi auf dem Rücken und Aibora an der Hand, die von weitem hüpft und ruft: »Eshem! Dshujuguwaa-agam!« Waantschi fuchtelt mit den Händen und schreit auch. Dann aber bleiben sie stehen, Aibora verstummt. Sie scheinen erkannt zu haben, daß neben mir nicht Vater, sondern ein anderer Mann reitet. Doch Aibora, das Landkind, wird Baatyr, ihren Verwandten, bestimmt kennen. Sie ruft auf einmal: »Baatyj-aga! Baatyj-aga!« Nordshmaa grüßt ihn schüchtern aus der Entfernung und fragt mich, wo Vater geblieben sei. Aibora und Waantschi winseln »Dshjuguwaa-aga!« Aber ich nehme sie nicht auf den Sattel, ich steige ab und gebe die Leine Nordshmaa. Dann trage ich beide Kinder auf den Armen. Ich will selber Pferd für sie sein, weil ich dem Pferd noch nicht traue, da ich es erst seit gestern kenne. Ein Pferd verfügt, wie ein Mensch auch, über einen Charakter, der sich unter bestimmten Umständen herausbildet: Tücke wie Tugend kann in ihm stecken. Die Berge stehen fest. Der Himmel hängt licht. Die Sonne hat die Mittagshöhe erreicht. Die Kinder kichern in meinen Armen. Neben mir geht Nordshmaa, stumm, mit gerötetem Gesicht. Junge Kasachinnen werden von ihrer Beschäftigung abgehalten und blicken zu uns herüber. Mutter bereitet einen Krafttee mit Hammelschwanzfett und Mehl zu, obwohl nicht Winter, obwohl niemand niedergekommen ist. Sie sagt, daß sei das Richtige für mich, der eine anstrengende Reise hinter sich gebracht habe, und auch für Baatyr, dem die Mutterliebe fehle, denn selbst in der schlechtes41
ten Mutter stecke mehr Liebe als in der besten Frau. Baatyr widerspricht dem nicht, er nickt und sagt: »Das ist wahr, Güüj!« Die Ailfrauen sind herbeigeeilt, um Einzelheiten zu hören. Ich erzähle von dem gestrigen Tag, sie hören mir mit betretenen Gesichtern zu. Dann aber sagt Mutter: »So geschieht alles recht. Denn alles, was aus der Erde gestiegen ist, verdient, wieder in die Erde zurückzukehren. Merkt euch, ihr Jungen: Sollte es soweit sein mit uns Alten, so gebt uns der Erde frei. Mehr als ein Tuch, das uns in der letzten Stunde die Blöße vor den Augen der Lebenden schützt, brauchen wir nicht!« Die Sonne steht noch eine gute Stricklänge über dem Horizont. Die Kinder haben die Pferde auf die Weide gebracht. »Hole das Fernglas deines Großvaters«, sage ich zu Aibora. Wir halten Ausschau, das Fernglas vom einen zum anderen reichend, und hören dem zu, der berichtet, was er gerade sieht. Vater gab für das Monokel sechs trächtige Schafe und einen großen weißen Filz. Das war das erste Fernglas in den Händen eines Tuwinen. Die Leute kamen zu uns, wurden nicht müde, zu schauen. Einigen wurde es schwindlig, aber alle schüttelten die Köpfe und erzählten Wunderliches. Heute kostet so ein Monokel fünfundsiebzig Tugrik, und soviel kostet auch ein Herbstlamm. Nordshmaa sieht Berge, und sie findet sie schön. Für mich sind sie aber keine Berge schlechthin. Es sind Namen, Geschichten, Erinnerungen. Ich sehe Tewe Mojun, Kamelhals, ich denke an Sardakban, diesen bleichen, losen Sandberg am Beginn der schwarzen, steinigen Schlucht. Er hatte mit seiner Riesenschaufel den Homdu sperren wollen. Als das Wasser das Tal füllte und weiter anschwoll, warf er in seiner Not in der Nachbarsteppe eine Schaufel Erde um und führte darin Wasser, und so war Saryg Hol, der Gelbe See, entstanden. Doch der Fluß war stärker als der Menschenriese, durchbrach die Sperre. Das ist eine Sage. Ich sehe Gök Göschke und denke an Bajnak. In einer Winternacht hatten spähende Augen dort ein Feuer entdeckt wie einen nahen Stern, und dann war das Feuer, dieser Stern auf der Erde, 42
ausgegangen. Das ist keine Sage. Über der Steppe stehen wie zerrissene Wolken dünne weiße Staubfahnen, vielstimmig rüttelt das Motorengedröhn an der Augustnachmittagsruhe. Der Ort ist hellwach. Kasachen arbeiten auf dem diesseitigen Ufer: Die einen stehen bis zum Gürtel im Wasser, lösen ein Floß, die anderen ziehen die losgebundenen Lärchenstämme ans Ufer. Diese werden von dicken, trägen Flößerpferden fortgeschleppt, auf deren Rücken in alten abgenutzten Sätteln Halbwüchsige sitzen und dabei unbestimmte Melodien pfeifen. Alte Männer, Kasachen wie Tuwinen, bessern dieses und jenes an ihren Wohnhütten für den Winter aus, und Frauen und Kinder laufen auf ihre Winke und Rufe hin und her. Im Ortszentrum enthüllt sich gerade ein neues Gebäude: die Bauarbeiter putzen die Scheiben und bauen die Leiter ab, ein Traktor mit Anhänger fährt den Schutt in die Steppe. In dem Gebäude wird die Tierklinik untergebracht werden. Das alte Haus war vor zwei Jahren abgebrannt, dieses kann so schnell nicht abbrennen, es ist aus Stein. Neben diesem Gebäude graben junge Burschen das Fundament für ein anderes. Noch graben sie mit Spaten und Harken, noch steht kein Hebekran dabei, gleich einem vorzeitlichen Wesen. Aber es ist möglich, daß er in nächster Zeit eintrifft. Es ist sogar wahrscheinlich, morgen oder kommendes Frühjahr. Der Ort ist hellwach. Die blaubunten Berge, die einen von allen Seiten umgeben, sind so groß, größer als alles, was die menschlichen Hände zu schaffen vermögen. Sie bewahren Ruhe und strahlen Erinnerungen und Geschichten aus, gleich einem Zaubervorhang. »Baatyr-aga!« sage ich, »welche Pläne hast du?« »O, viele!« versetzt er leidenschaftlich, den Blick auf den Horizont unter dem glänzenden Himmel gerichtet. »Dar hieß mein Vater, Dshurgaanak mein Großvater, Hosa mein Urgroß43
vater. Weiter weiß ich nicht, wie die Männer geheißen haben. Ich weiß aber, es ist kein Nennenswerter unter ihnen gewesen. Hosa hatte kein Obdach über sich, wurde Räuber, behauste Höhlen, und in diesen zeugte er eine Menge Kinder, die alle eingingen bis auf das eine. Dshurgaanak hütete fremde Herden, hatte eine Jurte, die nicht viel größer war als ein großer Dungkorb, und zeugte darin wieder eine Menge Kinder, von denen zwei am Leben blieben, beide Söhne. Der eine, Daaktaj, war verschlagen wie der Teufel, der andere, Dar, einfältig wie Gott. Daaktaj wurde reich, Dar blieb arm. Meine Mutter nahm ihn, nicht er sie! Eine neue Zeit brach an, von den acht Kindern, die er zeugte, blieben fünf am Leben. Er hätte wie ein Mensch leben können. Aber er konnte es nicht. Die Fellfetzen, die seine Blöße bedeckt hatten, gab er nicht her, legte sich mit fünfzig Jahren zum Sterben hin. Das Krankenauto kam und wollte ihn mitnehmen, aber er vergrub den Kopf ins Fell und kreischte: ›Laßt mich und geht!‹ Er schämte sich davor, sich auszuziehen, und hatte Angst vor der Spritznadel. Lieber wollte er sterben, und in der Nacht darauf starb er auch. Er hatte eine Blinddarmentzündung. Nun, meine Pläne? Ich möchte gut leben, innen satt und außen glatt und dafür alles herausholen, was in mir steckt: Mein Studium beenden, mich zur Herde von Betitelten und Privilegierten durchschlagen und zugreifen und dabei mir zur Freude und dem Staat zum Nutzen acht oder zehn Kinder großziehen!« Das Licht der untergehenden Sonne wird rot wie Feuer. Die Bauarbeiter lassen ein fertig gebautes Haus zurück und gehen heim. Die Kasachen verlassen das Flußufer. Nach und nach verstummen auch die Motoren. Die Staubwolken über dem Ort lösen sich, und die Luft wird klar wie in der Frühe. Auf einmal wird alles hörbar, was bei den Nachbarn gesprochen wird. Man vernimmt auch deutlich das Geräusch der heimkehrenden Herden und die Flügelschläge über dem Flußtal. Schwärme von 44
Enten und Rotgänsen ziehen flußabwärts, unter ihnen, an einem freien Stück Himmel, segelt ein einsamer Schwan, glänzend, wie ein Stück irrender Gletscher, wie ein Hauch werdender Traum. Die Kinder schlafen auf unseren Schößen ein. Wir wollen sie nicht wecken. Mitten auf dem flachen Hüttendach richtet Nordshmaa ein breites Lager her. Baatyr zieht sich in die Jurte zurück. Wir hören ihn und Mutter lange miteinander plaudern. Manchmal lachen sie. Der aufgehende Mond löst in der Luft einen starken Benzingestank aus. Das kommt davon, daß der Nachtwind eingesetzt hat, der von der Höhe in die Ebene weht. Auf der Hügelspitze im Osten des Ortes liegt die Tankstelle. Ich versuche, diese Nacht zu ergründen, und dieses Leben. In der Nacht kommen die Jäger von der Jagd zurück. Die an Lederriemen geketteten Murmeltiere gleiten von den Pferderücken geräuschlos herab und bleiben auf der Erde wie Silberhaufen liegen. Ein Pferd schüttelt sich, und darauf schütteln sich auch die anderen. In den Jurten gehen Lichter an. »Schoralga!« rufe ich, nicht sehr laut, doch gut hörbar. Die Pferde schnauben erregt, die Männer bleiben stehen, stumm. Ich hüstele, und da scheinen sie mich, der ich auf dem Rand des Hüttendaches hocke, entdeckt zu haben. Horlu, der mir am nächsten steht, sagt unsicher: »Dolup dhydry.« Dann aber mit fester Stimme: »Bist du es Galdar-ool?« »Ja!« rufe ich und klettre die Hütte hinunter. Dabei lächle ich, da Horlu, der älteste meiner Vettern, mich immer noch Galdarool, Schmutzfinkchen, nennt. Mir fällt ein, daß ich mich als Kind ungern gewaschen habe. Eine Begrüßung im Mondschein ist leichter als eine bei Sonnenlicht. Die Gesichter verschwimmen und sehen jünger aus als in weit zurückliegenden Tagen, da wir einander nähergestanden haben. So fallen auch die Fragen und Antworten knapper aus. Ich bücke mich über den Murmeltierhaufen. 45
»Wieviel?« »Vierzig mit Fleisch.« Ich befühle behutsam die Murmeltierköpfe, als wollte ich sie begrüßen.
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Der fünfte Tag
21. August »Warum hast in der Nacht gerufen?« sagt Nordshmaa erwachend. »Darum«, sage ich und halte eine Hand vor ihre Nase. »Pfui!« prustet sie und wendet das Gesicht ab, die Nase zu einem Knäuel verzogen. Die Kinder sind schon auf den Beinen, obwohl die Sonne erst aufgeht. Die Rückkehr der Väter von der Jagd hat seit Urzeiten den Schlaf verscheucht, der schwer auf der Jurte lastet. An diesem Morgen dürfen die Mütter sich der helfenden Hände ihrer Kinder bedienen. Mit ein paar größeren Kindern bringe ich die Pferde zum Fluß, die die Nacht an den Pflöcken verbracht haben. Die Jäger haben sie hart hergenommen: Fleckig klebt das Pferdefell an dem getrockneten Schweiß. Schweigend sehen wir zu, wie die Pferde das perlende Flußwasser durch ihre durstige Kehlen rinnen lassen und dann, auf der Wiese, schnaubend und stöhnend sich wälzen. Hinter der Jurte des Schwarzen Kaltabaj sagt der neunjährige Enke mit geheimnisvoller Miene: »Edej ißt Murmeltierfleisch!« Ich frage: »Wer ist denn Edej?« »Du kennst ihn nicht, Dshuruguwaa-aga? Das ist doch dem Schwarzen Kaltabaj sein Jüngster. Und seine Frau ist ihm weggelaufen, da er Murmeltierfleisch ißt!« Alle Kinder kichern. »Wer sagt das?« Saksyy, der älteste, erzählt: »Das sagen alle. Du kannst ihn fragen. Er wird schon kommen, wenn er die Pferde sieht. Denn 47
er kommt immer als zweiter, nach Boraldaj.« »Welcher Boraldaj? Der Fahrer?« »Wer denn sonst!« »Und wieso kommt dieser so schnell hierher? Er wohnt doch am anderen Ende des Orts!« »Er hat ein Auto, und er hat Augen, Dshuruguwaa-aga! Denn er sieht den Schwarm der Milane, die darauf warten, daß die Drüsen und Spitzbeine von den enthäuteten Murmeltieren ausgeworfen werden.« Tatsächlich ist schon ein Schwarm von Milanen über dem Abfallhügel. Die Alten, die Graufedern, hocken still, mit hängenden Flügeln, als schliefen sie. Die Jungen mit feuerrotem Schimmer in den Federn hüpfen, schreien und wiehern wie geflügelte Zwergfohlen aus den Märchen und schießen hoch, als risse ihnen die Geduld, doch machen sie jäh kehrt, stürzen sich auf die Erde und fangen das verzweifelte Kraftspiel von neuem an. Sie sind gut sichtbar. Doch Boraldaj kommt nicht. Die Kinder erklären: »Er wird irgendwohin gefahren sein mit seinem Darga.« Es stimmt, wie ich später erfahre. Aber da weiß ich schon eine Menge über ihn. Zum Beispiel, daß er keinen Kopf ißt. Für jeden tuwinischen Jungen, der sich wünscht, eines Tages ein guter Jäger zu werden, ist dies etwas Erschreckendes. Denn es heißt, daß nur aus einem Kopfesser ein guter Jäger werden könne. Sofort möchten die Jungen wissen, wie ich dazu stehe. Da ich weiß, daß das, was ich jetzt sage, weitererzählt wird, gebe ich eine ausweichende Antwort. Und so erzähle ich nur von mir, der ich kein guter Jäger geworden bin. »Mit dem Murmeltierkopf aber stimmt es. Denn wer Keulen gern ißt, muß auch Köpfe essen können. Und nur der, der alles kann, ist ein guter Esser und folglich auch ein guter Jäger.« Mutter hat den Tee in der Jurte gekocht. Sie empfängt mich mit dem freudigen Ausruf: »Schon auf, Dshuruk, du mein Himmelskind?« In der Hand die dampfende Teeschale, sitzt sie 48
breit wie ein Lärchenstumpf; alle Falten und Ritze auf ihrem Gesicht schwimmen in glitzerndem Schweiß. »Mutter, die Jäger sind da!« sage ich. »Ja«, ruft sie wie mit dem Rest der Aufregung, die in ihr noch steckt, »ich habe die Pferde gesehen. Auch sind die Kinder so zeitig auf. Nachher werde ich den großen Gußeisenkessel aufstellen. Du aber schärfst die Messer!« Bald erwachen auch unsere Kinder, und ich gehe mit ihnen unseren Anteil holen. Die rechte Hälfte der Jurten sieht murmeltiergelb aus. Hier liegen vierzig Exemplare von jenem Geschöpf, das für die Tuwinen das ist, was für den Isländer der Hering und für den Tschuktschen die Robbe ist. Es hat unsere Vorfahren ernährt, und es ernährt uns noch heute. Beim Anblick so vieler Murmeltiere vergißt Aibora »Schoralga« zu sagen. Doch die Jäger lassen uns unser gutes Recht zuteil werden und geben uns unseren Anteil: jeder zwei große Murmeltiere, die wir zu dritt nach Hause tragen. So liegen am Ende zehn Murmeltiere in der rechten Hälfte unserer Jurte, und Mutter sagt zu den Kindern, die in freudigem Schreck dahocken: »Seht ihr, es ist nicht so schlimm, daß euer Großvater für die Jagd zu alt ist. Ihr habt so viele Brüder, die alle gute Jäger sind!« Ich mache mich daran, den Murmeltieren das Fell zu häuten. Gleich zwei Adlerküken hocken vor mir meine Kinder, und ihre vier Augen verfolgen alle meine Handgriffe. Bis Mittag enthäute ich, nehme ich vier Murmeltiere aus. Dann lasse ich das Fleisch in das sprudelnde Wasser des Kessels gleiten. Es kocht schnell auf; jener Duft, den allein der unruhige Nomadenherd zu verströmen vermag, der Duft der Düfte ist da. Ab und zu hastet ein Kind vom Nachbarail an der Tür vorbei, mit einem Murmeltier auf der Schulter. Das Murmeltier berührt mit dem Schwanz und den Hinterbeinen die Erde, es ist fast so groß wie das Kind selbst. Mit welcher Freude in der Brust so ein Schoralga-Holer nach Hause eilt, kann nur der wissen, der auch 49
einmal Kind gewesen ist. Ich will mit den Kindern die Häute der Murmeltiere zu den Jägern zurückbringen und dabei mit ihnen ein paar Worte wechseln. Vor Horlus Jurte ist ein Kreis von anderen Kindern versammelt. In der Kreismitte steht Anesch und gießt aus einer Kanne Wasser auf die Hände der anderen. Hinter einer Ecke werden ein paar Kinderköpfe sichtbar: dichte, sonnenhelle Mähnen umrahmen die kleinen Gesichter mit den strengen Zügen. Zu jedem Gesicht gehört ein Paar Augen, die wie Glut im Winde brennen. Duft und Dampf füllen die Jurte, und dahinten erhebt sich über dem flachen Eßtisch ein Hügel von Fleisch. Ein junger Mensch, den ich bisher nicht gesehen habe, grüßt mich auf tuwinisch, doch wie ich mich neben ihn hinhocke und sein spitzes, dunkles Gesicht mit dem herausfordernden Blick ins Auge fasse, weiß ich: Er ist kein Tuwine. Und das kann nur Edej sein. Er ist es auch. Denn Horlu sagt: »Rückt näher heran, Edej und Galdarool!« Wir sitzen, groß und klein, an die zwanzig Personen, um die hoch beladene Schüssel und beginnen zu essen. Das Fleisch ist fett und weich. Die Mädchen und die kleineren Jungen beißen hastig in die Brust- und Rückenstücke, die sie aus der Menge erwischt haben, die größeren Jungen machen sich an den Köpfen zu schaffen. Sie wollen Jäger werden. Wir Erwachsenen machen uns an die Keulen und Bauchstücke mit dem fingerdicken Fett, essen andächtig, loben in gewählten Ausdrücken den reichen Altai. So auch Edej, der Kasache, in einem eigenwillig hart klingenden Tuwinisch. Dann erzählt er: »Wir Kasachen sind Menschen, die bereit sind, nicht nur durch Dreck, sondern auch durch Feuer zu kriechen, wenn unsere Nasen Fleisch wittern. O was seid ihr Tuwinen, was sind die Mongolen, die in der Welt als Fleischesser laut gerühmt werden, im Vergleich zu uns! Vegetarier seid ihr alle! Denn könnt ihr euch vorstellen, 50
daß ihr um Mitternacht zu schlafenden Leuten kommt, und diese stehen auf und schlachten für euch einen Hammel, und bis ihr das zerkochte Fleisch im Magen habt, statt das lebende Tier in der Herde, graut der Morgen schon? Und doch wollen wir dieses, das schmackhafteste Fleisch nicht essen, weil einst Mohammed selbst oder vielleicht nur einer seiner Diener gemeint hat, das Murmeltier liege mit dem Hintern zum Eingang der Höhle und daher sei sein Fleisch für den Magen eines Moslems nicht rein genug!« »Kumys müßte man haben!« sagt Horlu, als erster das Essen beendend. Seine Frau Dynggyi macht Dongurtba. Ich esse mich satt, und dann stille ich auch meinen Durst. Doch ich verlasse die Jurte mit dem Entschluß, Kumys herzuschaffen. Denn mit diesem ersten Mahl hat der Jäger seine Pflicht gegenüber dem Ail erfüllt, und nun ist es an uns, ihn zu bewirten. So ist es seit Urzeiten gewesen. Ich gehe mit einem Zwanzig-Liter-Kanister ins Ortszentrum und komme nach einer Stunde mit Kumys zurück. Jetzt hat sich in unserer Jurte eine nicht kleine Menge um die Schüssel versammelt: Mutter, Baatyr und Tante Galdarak sind die einzigen Erwachsenen, alle anderen sind Kinder, einige haben schon zuvor in Horlus Jurte mitgegessen. Ich hole die Jäger, ich lade auch Edej ein, der noch immer da ist, ich meine, was für einen wenig ist, kann manchmal auch für zehn genug sein, ich denke an den Rest Rum. Ich lade alle ein, doch die Frauen wollen von dem Rum nicht kosten, sie trinken von dem Kumys nur je eine Schale und ziehen sich darauf zurück. Bevor die Männer das Glas mit dem wildfremden Getränk zum Mund führen, schauen sie lange hinein, als suchten sie dort nach etwas Bestimmtem, und dann, nachdem sie es mit einem Ruck in die Kehle geschüttet haben, sitzen sie, die Lippen zusammengepreßt, das Gesicht verzogen, wie betäubt, einen langen Augenblick, und dann schütteln sie sich. Dann sagen sie, 51
der Schnaps sei stark, dann, er sei gut. Und dann schweigen sie. Selbst Baatyr schweigt, der immer etwas zu sagen hat. Allein Edej redet. Er wird mit jeder Schale Kumys immer redseliger. Schließlich erzählt er seine Lebensgeschichte: »Den Schwarzen Kaltabaj nennt man meinen Vater. Dunkel ist seine Haut gewiß. Dunkel war aber auch seine Jurte. Daher wohl auch der Spitzname. Werden alle Dunklen schwarz und alle Hellen weiß genannt? Meine Ahnen waren arme Leute. Mein Vater kam aus dem Gebiet Saissah-Köl über Katun und Schui nach Homdu-Altai als Angehöriger eines Räuberstammes. Wenig später flüchteten die Räuber zurück über den Süd-Altai, denn sie hatten wohl die reifende Revolution der Armen auch hierzulande gespürt. Alle hatten mitzukommen. Da aber viele der Armen das macht- und haltlose Räuberleben satt und einige von einer heranbrechenden schönen Zeit für arme Menschen gehört hatten, wollten sie dableiben, und so liefen sie bei Nacht von den Räubern weg und versteckten sich im Wald. In dieser Zeit war Vater auf ein Mädchen gestoßen, das ebenso arm und einsam war, ebenso Hunger und Heimweh litt wie er, und sie hatten angefangen zusammenzuleben, erst nur als Bruder und Schwester, dann aber schon als Mann und Frau. Oft hatten sie sich tagelang von nichts anderem ernährt als von halbreifen Beeren und rohen Pilzen, und da haben sie sich über eine erlegte Zieselmaus gefreut, wie man sich heute vielleicht über eine Antilope freuen würde. Ein Murmeltier war etwas wie gar ein Hirsch. Ja, sie alle aßen das Murmeltierfleisch mit heißer Gier, nur gelang es ihnen selten, eins zu erlegen, denn nie hatten sie früher mit der Jagd etwas zu tun gehabt. Sie aßen alles, was sie an Eßbarem nur finden konnten, niemandem fiel dabei ein, sich damit etwa unrein zu machen. Erst im Frühwinter, als sich die Ausgehungerten sicher fühlten vor ihren eigenen Leuten, verließen sie das Versteck und kamen ins Land. Und schnell tauchten sie bei den Einheimischen unter: sie hüteten die Herde eurer Bajs, zunächst nur für das Essen. 52
Der Baj Hoor hatte meine Eltern in seiner kleinen Jurte schlafen lassen. Sie mußten arbeiten, wie sie konnten, und bekamen dafür genug zu essen. Und das war gut. Nicht gut war, daß ihnen gewisse Dinge verboten waren: zum Dör zu gehen, sich an der Küchenarbeit zu beteiligen, an den Herd zu spucken, Kinder und geweihte Tiere zu berühren und einiges andere. In der Nacht zum Schagaa durften sie in der Jurte nicht schlafen, da darin Butterleuchten brannten und Wacholder rauchte: der Heilige Weiße Alte erwartet wurde. Sie saßen am Hürdenrand, in einer windgeschützten Felshöhle, und hörten den freudigen Lärm in den Jurten. Meine Mutter weinte, mein Vater weinte nicht, er biß die Zähne zusammen und dachte, er würde mit seiner Frau in die Heimat zurückgehen, wenn der Frühling käme. Der Frühling kam, aber sie konnten nicht zurück, denn meine Mutter war schwanger. Dem Baj gefiel nicht, daß in seiner Jurte eine Kasachin niederkam, er erklärte den beiden, daß sie nun woanders eine Unterkunft suchen sollten. Die Obdachlosen sagten darauf nicht ja, nicht nein. Sie verfluchten im stillen ihr Schicksal. Dann ging mein Vater auf die Suche nach Kasachen, die längere Zeit im Lande gewesen waren. Er fand einen, der hieß Kaissa. Dieser war reich, brauchte Knechte. Und er sagte: ›Euch zu helfen ist meine Pflicht, weil alle Kasachen verwandt sind durch Blut und Allahs Willen.‹ Und dieser errichtete für seine Knechte eine Jurte, die zwar kein Palast war, in der man sich aber wohl fühlte. So waren sie ihm dankbar und schworen, nie mehr von ihm wegzugehen. Sie hüteten seine Herden und blieben ihrem Schwur treu, obwohl eine andere Zeit kam, und es hieß, es dürfte keinen Herren und keinen Knecht mehr geben. Mein Vater erwiderte dem Vertreter der Volksmacht, der dies sagte und ihn für das Handwerk gewinnen wollte: ›Willst du etwa behaupten, Kaissa-aga sei mein Herr und ich sein Knecht? Darauf will ich dir sagen: Halt’s Maul und hau ab. Denn wir sind Brüder!‹ 53
Diese Bruderschaft dauerte zwanzig Jahre. Dann starb meine Mutter. Sie hatte elf Kinder geboren, von denen fünf am Leben geblieben waren. Also blieb mein Vater, der Schwarze Kaltabaj, mit fünf Waisenkindern zurück. Das älteste, Kassym, war schon zwanzig, das jüngste, ich, war erst einen Tag alt. Er heiratete nicht wieder. Überlegt euch: Unsere Männer heiraten noch mit sechzig, und zwar holen sie sich nur junge Weiber in das verwitwete Ehebett und zeugen darin noch eine Menge Kinder. Wie alt bist du, Horlu-aga? Dreiundvierzig? Also war er noch jünger als du jetzt. Für euch kann es als nichts Besonderes gelten, daß ein vierzigjähriger Witwer nicht wieder heiratet. Für uns aber ist das etwas Regelwidriges. Es kann sein, daß er sie sehr geliebt hat und er seiner Liebe bis zum Ende treu bleiben will. Das wäre schön. Es kann aber auch sein, daß niemand seine Frau werden wollte. Er war einfach zu arm. Das ist sogar wahrscheinlicher, denn aus den meisten der Habenichtse vor zwanzig Jahren waren inzwischen andere Menschen geworden: Die einen hatten Handel, die anderen Handwerk betrieben, und ihr wißt selber, daß diese im Anhäufen von Reichtümern die einheimischen Bajs in Kürze übertroffen haben. Euer reiches Land mit den unerfahrenen, leichtgläubigen Menschen war ein fruchtbarer Boden für Verschlagene. Die dritten hatten, zwar auch als Handwerker, jedoch im Artel gearbeitet, und sie lebten nicht im Überfluß, aber auch nicht mehr in Armut. Die vierten hatten auch in der neuen Zeit fremde Herden weitergehütet, und sie waren arm geblieben, wenn auch diese Armut mit der früheren nicht zu vergleichen war. Zu diesen gehörte mein Vater, der Schwarze Kaltabaj. Er hatte mich, als ich, erst einen Tag alt, verwaist blieb, verschiedenen Leuten angeboten, aber keiner hat mich haben wollen. Da bat er Kaissa um Rat, und der riet: das älteste Kind, Kassym, bei ihm zu lassen und selber mit Jurte und den anderen Kindern ins Zentrum zu ziehen und dem Artel beizutreten. 54
Mein Vater folgte dem Ratschlag. Kaissa gab ihm drei Ziegen und versprach, jeden Monat ein zweijähriges Schaf auszuzahlen, wenn Kassym die Herde gewissenhaft hütete. Die drei Ziegen wurden meine Mutter. Vater arbeitete tagsüber. Meine Schwester, sieben Jahre alt damals, zog mich auf. Einer meiner Brüder hütete die Ziegen, und der andere sammelte Trockendung. Wie ich mich erinnern kann, war in unserer Jurte nicht viel. Ein Bett war nicht da, alle fünf schliefen wir nebeneinander auf einer Filzmatte, die nach Staub und Rauch roch, unsere alten Küpü bedeckten uns. Es gab keine Truhen, dafür zwei Barwa, in denen wir unsere ganzen Habseligkeiten aufbewahrten. Statt eines Ofens stand ein Eisengestell auf drei Beinen, die Kanne oder der Topf hing an einem Haken und darunter brannte Feuer. An windstillen Tagen ging es damit, an windigen aber, besonders im Frühjahr, da sah es wüst aus in der Jurte: Rauch und wirbelnde Asche, fliegende Flamme. An einem stürmischen Tag im Frühjahr brannte unsere Jurte ab. Damals war ich sieben Jahre alt, meine Schwester vierzehn und der jüngste meiner älteren Brüder sechzehn, er war mit Vater zusammen im Artel. Die anderen Brüder waren woanders. Als die Jurte anfing zu brennen, liefen meine Schwester und ich mit Kannen und Eimern in den Händen zum Fluß, und als wir mit Wasser zurückkamen, war die Jurte schon niedergebrannt. Da liefen wir zum Artel. Vater schrie auf und verfluchte den Himmel, Allah. Dann aber betätschelte und beküßte er uns und weinte. Viele Menschen kamen zusammen, und dann brachte man uns in ein Haus mit funkelnden Dielen und einem großen Fenster und sagte, daß wir dort wohnen würden. Wir liefen zurück, um die Kannen und Eimer zurückzuholen, die wir mit Wasser hatten stehenlassen. Als wir zurückkamen, stand in der Mitte des Raumes ein runder Ofen aus blauem Blecheisen, vor Glätte glänzend. Später kamen andere Sachen hinzu: 55
Matratzen, Tassen, ein Porzellanteller und einige andere Gegenstände, die wir früher nur bei anderen gesehen hatten. Meine Schwester und ich bekamen Schüler-Küpüs und Stiefel, alles funkelnagelneu. Ich sage: An diesem Tag begann für den Schwarzen Kaltabaj und seine Kinder die neue Zeit. Wie sie heute leben, das seht ihr, das wißt ihr …« Nun lädt er uns zu sich ein. Die Männer stehen schweigend auf. Auch unterwegs geben sie keinen Laut von sich. Drei Stadien sind bei trinkenden Tuwinen zu beobachten: Erst schweigen sie, dann singen sie und dann weinen sie. Solange sie schweigen, sind sie zwar berauscht, aber nicht betrunken; solange sie singen, sind sie zwar betrunken, aber bei vollem Bewußtsein, und sobald sie anfangen zu weinen, sind sie verloren für den Tag – alle Schatten und Schrecken des Lebens müssen in ihren Gehirnzellen erwacht sein. Oft brechen die Weinenden auch aus der Reihe und springen zu Prügeleien auf. Der alte Kaltabaj hat im Dör geschlummert. Er fährt auf, kann aber nicht aufstehen, kriecht vom Dör weg und bittet uns verlegen: »Geht, Dshigiten, geht zum Dör, bitte weiter zum Dör.« Er sagt diese Worte in Tuwinisch, mit derselben harten Aussprache wie sein Sohn auch. Edej spricht seinen Vater an, der in Eile den Ofendeckel abnimmt und die Asche mit bloßer Hand auseinanderrührt: »Lassen Sie das Teekochen, Vater!« Der Alte blickt auf, sieht seinen Sohn verwundert an: »Aber die Dshigiten ohne Tee?« Dann streift sein Blick uns, derselbe herausfordernde Blick wie der seines Sohnes, aber gleich darauf scheint er sich in einen anderen zu verwandeln und strahlt einen weichen Schimmer aus. Der Vater deckt den Ofen wieder zu und sagt zum Sohn: »Die Flasche ist in der oberen Truhe.« Vater und Sohn sprechen kasachisch miteinander. Wir trinken den Wodka schluckweise aus einer Schale. Nachdem Kaltabaj seinen zweiten Schluck hinuntergeschüttet hat, 56
wird er erzähllustig, so wie Menschen es in der Regel werden, die wenig Gelegenheit haben, zu trinken und in Gesellschaft zu sein. Er spricht tuwinisch zu uns, und wenn er dann und wann ein Wort nicht findet, so winkt er ab und sagt es auf kasachisch, aber dann fährt er wieder in Tuwinisch fort. »Dies zu trinken«, sagt er, das Gesicht verziehend und die leere Schale ans Kinn drückend, »scheint heutzutage den Mann auszumachen. Früher war es den Kasachen verboten. Nicht nur das: auch rauchen und Schweine- und Murmeltierfleisch zu essen war ihnen nicht erlaubt. Da war die Hölle, vor der man sich fürchtete. Heute hat man keine Angst, weil man hört, es gäbe diese Hölle nicht. Die Doktoren drohen einem zwar mit Giften, die dem Tabak und dem Schnaps innewohnen sollen, aber keiner nimmt es ihnen ab, da diese sich, kaum sind die Drohworte verkündet, selber der Gifte bedienen. Also macht Trinken den Mann, den Dshigiten, versteht sich. Und Rauchen dazu. Kein Kasache mit einem Schnippelchen zwischen den Beinen will es nicht sein. So sind wir auf dem besten Wege, zu einer rauchenden und saufenden Nation zu werden, so wie ihr früher eine schnupfende und schamanende Nation wart. Seltsam ist aber dabei, daß die Frauen da nicht mitmachen, keine Frau, sag ich dir! Hast du je eine Kasachin rauchen sehen? Oder trinken?« Ich verneine, und die Funken in den Augen des Alten wachsen zu einer Flamme. »Genauso seltsam ist es auch mit dem Murmeltier und mit dem Schwein. Frage einen, der in der Partei ist, der studiert hat, frage selbst einen Darga, oder den, den du für den Besten hältst! Frage ihn, warum er kein Murmeltier-, kein Schweinefleisch ißt! Er wird dir antworten: Seit den Zeiten der Väter nicht gewöhnt! Und frag ihn darauf: Wie war es zu den Zeiten eurer Väter mit Rauchen und Trinken?« Der Alte versetzt mir einen Fausthieb auf den Oberschenkel. Ich will aufspringen, werde aber von ihm wieder niederged57
rückt. Er merkt es selber nicht. »Auch meine Frau ißt kein Murmeltierfleisch.« Ich sage es, um ihm aus dem kraftkostenden Monolog herauszuhelfen. Aber er donnert weiter: »Ich spreche nicht von einzelnen. Du weißt doch: Auch unter euch gibt es solche, die das Murmeltierfleisch nicht mögen. Aber es sind an die zehn oder zwanzig, und nicht an die hundert oder tausend. Deshalb darf ich von ihnen nicht sagen: die Tuwinen! Von unseren jedoch, die so große Raucher und Säufer, aber kein bißchen Murmeltieresser geworden sind, darf ich sagen: die Kasachen, denn es sind nicht Hunderte, auch nicht Tausende, nein, es sind Zehntausende! Ich sage kurz: Die Kasachen waren dumm, und sie werden dumm bleiben!« »Das haben nun Sie gesagt!« »Ja, das habe ich gesagt, und ich werde es solange sagen, bis eines Tages der Widersinn vielleicht verschwindet, denn von den drei Verboten ist gerade das bestehengeblieben, was einzig keines Verbots bedurft hätte.« »Das stört uns nicht. Das erfreut uns sogar, denn auch die Murmeltiere sind nicht zahllos viele: Der Altai würde eines Tages keines mehr haben, wenn plötzlich auch der Kasache anfinge, auf Murmeltierjagd zu gehen. Denn er würde nicht nur mit Schießwaffen arbeiten, er würde noch ganz andere Listen erfinden, um den Lebewesen den Tod zu bringen.« »So rede du nicht, gelehrter Mensch! Es ist unschön, die Dummheit der anderen auszunutzen und sich daran zu erquicken!« »Ich denke nicht an die Dummheit. Ich denke an unsere Wälder, in welchen es noch vor zwanzig Jahren am hellichten Tag grau geschimmert hat wie in der Abenddämmerung. Hätte einer vor fünfzig Jahren dem Tuwinen gesagt, die Wälder könnten eines Tages alle werden, ohne daß es zu einem Brand käme, er hätte es für Unsinn, ja, für eine Beleidigung für den Altai gehalten.« 58
»An diese Wälder denke auch ich. Aber ich denke auch an meine Schwiegertochter.« Dann sagt keiner ein Wort mehr. Die Flasche ist leergetrunken. Wir gehen. Sich-Bedanken gibt es nicht. Davon läßt man den anderen auf andere Weise wissen. Ebenso wenig gibt es ein Sich-Verabschieden. Man verabschiedet sich von Sterbenden und Weggehenden aus dem Altai, wenn man scheidet. Die Jäger gehen zu den Pferden am Flußufer, betasten und befühlen ihre Rücken, prüfen ihre Fesseln. Sie sagen nichts, also finden sie alles in Ordnung. »Das mit der Schwiegertochter«, sage ich, meinen Gedanken nachhängend. Die Männer sehen mich stumm an. An ihrem Blick glaube ich so etwas wie einen leisen Tadel zu entdecken. Ich denke: Nach diesen Trinkproben könnten auch fünfzig Jäger hier zusammenkommen, es wird nichts helfen – sie werden schweigen und schweigen. Ein paar Schalen mehr, und ein Lied dann – so ist die Reihenfolge. Die Schwarzen Berge mit Bajyn im Osten und Taldyg im Westen sehen unter der gleißenden Sonnenflut dieser Spätnachmittagsstunde wie ein einziger riesiger Heuschober aus, der in Flammen steht: Nicht Blau und nicht Schwarz sind zu unterscheiden, nicht Täler und nicht Hügel sind zu erkennen; sichtbar ist eine einzige rotgelbe Masse. Schweigend gehen die Jäger nach Hause. In ihren Augen flammt Sehnsucht. Vater ist gekommen. Er sitzt im Dör, Aibora auf dem Schoß. Mutter steht vor ihnen, sich mit beiden Händen auf ihren Stock stützend. Nordshmaa hockt vor dem Herd und wäscht den großen Gußeisenkessel, Waantschi neben ihr, mit einem Murmeltierschenkel in der Hand. Sein Gesicht glänzt vor Fett. In der Nacht wecke ich Nordshmaa: »Sag mir, warum du kein Murmeltier magst!« »Bist du betrunken? Ich habe geschlafen.« »Ich bin nicht betrunken, und ich kann nicht schlafen. Ich will 59
es erst wissen!« »Ich habe Murmeltierfleisch noch nie gemocht. Ich weiß nicht, weshalb.« »Du mußt es wissen. Versuch, dich zu erinnern!« Sie hält inne, scheint zu überlegen. Dann sagt sie: »Es gibt nichts, woran ich mich da erinnern könnte. Was ich weiß, ist: Ich habe es nie gegessen. Aber jetzt: Laß mich schlafen, bitte!« Darauf schläft sie wieder ein. Wer wach liegt in der Nacht im Altai, hört, daß das Jurtengerüst alle Minuten einen leisen Ton von sich gibt, wie ein langes Atmen. Manchmal habe ich gedacht: Die Jurte atmet. In dieser Nacht aber denke ich: Der Planet bewegt sich. Dieser Gedanke hinterläßt eine dumpfe Sehnsucht in der Brust. Ich sehne mich nach Island und nach Tschuktschenland. Ich stelle mir den Tag vor, an dem ich einen Hering oder eine Robbe essen werde, und ich wünsche, sie schmeckten mir. Ich weiß, der Tag wird unbedingt kommen, weil er muß. Denn der Planet bewegt sich, und die Brüder sind überall.
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Der sechste Tag
22. August Ein Laster hält vor dem Ail, eine Männerstimme ertönt: »Ähääj! Wer zum Fest will, einsteigen!« Nach zwei Sekunden wiederholt eine Frauenstimme die Aufforderung. Kinder und Erwachsene eilen zum Auto. Mutter erzählt: »In Oruktug, im Ail des Usun-Schimit, ist heute ein Fest. Natschiks haben einen neuen Menschen. Das Auto soll heute abend zurückkommen.« Darauf sagt sie in ihrer bestimmten Art, die keinen Zweifel übrigläßt und keine Widerrede duldet: »Fahre du, Dshuruk, für deine Eltern hin, und nimm deine Nordshmaa mit, sie soll an die frische Luft und dabei Land und Menschen sehen!« Während wir uns umziehen, kümmern sich die Eltern um das Geschenk: ein buntes Hemdchen, an dessen Kragen eine Wolfskralle angenäht ist, und ein Patronengurt, in dem zwei leere Hülsen stecken. Einen Geldschein sollen wir darunter schieben, als Tuch. »Orge dusaktaar – einer, der Ziesel durch Schlingen fängt – ist also die Beute?« sage ich im Anblick des Geschenkes. Im anderen Fall hätte ich sagen müssen: »Öschgü saar – eine, die Ziegen melkt.« »Ja, ein Jäger ist angekommen, und sage dem Usun, daß der Patronengurt aus dem Fell des Dönen Gök geschnitten ist, dessen Vorfahren Er Gök und El Gök die Jurte seines Vaters mitgetragen haben in dem schweren Jahr des Schwarzen Affen, und sage ihm, seinem Sohn Natschik und seiner Schwiegertochter Jandship, deiner Kusine, noch, daß in die beiden Hülsen wir beide Alten unsere verlebten Jahre hineinlegen, und der neue 61
Mensch, der gerade angekommen ist, möge sie alle haben!« Wir können gehen und aufsteigen. Der Ladekasten ist voll. Nordshmaa bleibt eine Sekunde lang entgeistert stehen angesichts so vieler fremder Menschen. Aber da entdeckt sie Tante Dshywsyn, die sie ein paarmal gesehen hat und die sie nun laut anspricht, und so drängt sie sich an jene heran. Alle Blicke haften längst auf ihr, die Mädchen und Frauen tuscheln untereinander, ohnmächtig, den Blick von ihr abzuwenden. Nordshmaa spürt das. Sie blickt starr zum Horizont, und dabei spüre ich den krampfhaften Druck ihrer Finger, die sich an mir festhalten. Kein Lied kommt auf, obwohl sonst Singen das Nächstliegende ist, was aus jungen Menschen herauskommt, die im Fahrtwind stehen. Es wird weiter getuschelt und geschwiegen. Ich werde von der Verlegenheit angesteckt, die sich in meiner Frau ausgebreitet hat, obwohl man mit jedem Kilometer, der zurückbleibt, die Nähe der Höhen und der Gletscher immer deutlicher spürt. Mir kommt vor, als stünden meine Landsleute und ich auf zwei Ufern. Meine Frau muß der Fluß sein, der uns trennt. Yakherden prallen auseinander, sooft das Auto an sie heranfährt. Die glänzenden Flammen in den blutunterlaufenen, kugelrunden Augen der Yaks verraten, daß die Wildheit in ihnen festsitzt, wie aus Trotz, denn ein jedes Tier hat vorbeifahrende Autos sicher schon seit dem Kalbsalter gesehen. Der eisgraue Bulle dreht sich so wuchtig um, daß ihm die zottigen und buschigen Bauch- und Schwanzhaare wellend nachflattern. Dönen Gök, von dem Vater gesprochen hat, fällt mir ein: Ich stand dabei, als es auf die Welt kam; Mutter befreite ihm das Maul vom Schleim, und seine Mutter, die Kuh Süür Gök, leckte ihm das schleimbedeckte, klitschnasse Fell ab. Später sah ich ihn als einen jungen, angehenden Bullen, sein eisenblaues Fell schien vor Aufregung zu knistern, aber bald darauf war er kastriert. Von seinen Vorfahren Er Gök und El Gök hatte ich vorher 62
nichts gehört, nie hab ich Vater eine Sache zweimal erzählen hören. Endlich kommen wir am Ziel an. Usun-Schimit eilt mit weitausholenden Schritten den Absteigenden entgegen, in einem roten Seidenlawschak mit abstechenden Musterungen, das Gesicht gerötet, lang und schön wie ein Fünfundzwanzigjähriger. Er scheint die Begrüßungen der Jüngeren zu überhören, ruft mit ausgestreckten Armen: »Ej, ej, Brüder und Schwestern! Also seid ihr gekommen! Ich danke euch! Ich danke dem Himmel, ej baj Aldajym!« Hier macht er eine Pause, schaut zum Harlyg Haarakan hinüber, und in diesem Augenblick kommt mir unser heiliger Berg mit dem Gletschergipfel wie ein weißköpfiger Alter vor, der sich nach vorne gebeugt hat, um jenem zuzuhören. Darauf wendet sich Usun-Schimit erneut an uns: »Vor zwei Jahren um diese Zeit, am sechsundzwanzigsten des ersten Herbstmonats, ging meinem einzigen Sohn ein Sohn verloren. Ein Loch blieb in der einen Jurtenhälfte. Und heute ist dieses Loch nicht mehr, es ist wieder ausgefüllt. Euer Schimit, Sohn des Galdarbaj, ist, ej, Brüder und Schwestern, glücklich darüber! Ich habe auf diesen Tag gehofft und gewartet, ej, mein Harlyg Haarakan, siebenhundert Tage und Nächte lang!« Bei den letzten Worten fängt er an zu weinen. Der Sohn, Natschik, kommt und tadelt ihn: »Was schreist und weinst du, Vater?« Man redet auf diesen ein: »Laß ihn weinen, Sohn, es ist die Freude!« Der Menschenschwarm bewegt sich auf die Jurte zu, in loser Reihenfolge des Alters, in feierlicher Steifheit. Ich bleibe bei Nordshmaa zurück und versehe sie mit Hinweisen. Zwischendurch schaue ich auf die Herde gesattelter Pferde, die an der West- und Nordseite der Jurte angebunden stehen, und versuche, Bekannte zu entdecken. Die Jurte wirkt winzig bei so vielen Menschen, doch passen 63
sie nach und nach alle hinein. Der Lärm, der dabei aufkommt und an den Zusammenprall springender Bergflüsse erinnert, hält lange an. Man geht zuerst zum Bett, holt aus dem Brustlatz sein Geschenk heraus und legt es mit einem Segensspruch auf die Holzwiege, in der, rot und runzelig im Gesicht, der neue Mensch, gleich einem Rätsel seinen dritten Welt- und ersten Wiegentag verschläft. Dann nimmt man den zustehenden Platz ein: Rechts sitzen die Männer, links die Frauen, und je älter, desto höher, das heißt dem Dör näher zu sitzen; dieses Urgesetz der Stellung der Menschen untereinander ist in dieser Jurte und in neun von zehn anderen Jurten in diesem Erdenwinkel noch gültig; in der einen übrig bleibenden sind es Kleidung und Stellung, die den Wert des Menschen ausmachen. Ich werde mit meiner Frau von der Hausfrau aufgefordert, dort zu bleiben, wo wir zuerst hingetreten sind, wir setzen uns aufs Bett. Dieses Angebot entgegen der allgemeinen Regel muß ich hinnehmen, wissend, damit ist nur ein Schein Widerspruch gegeben, denn die Jandship ist eine der vielen Töchter meines Onkels Sama und demnach meine Kusine, nur nächste Verwandte dürfen sich aufs Ehebett setzen. Also verfügen wir über die Möglichkeit, aus der nächsten Nähe uns die Geschenke anzuschauen und die Segenssprüche anzuhören. Es sind weiße Hemdchen, helle Hemdchen, hellgemusterte Hemdchen, aus weißem Filz geschnittene Füchse, Schlingen aus hellen Yak- und Pferdeschwanzhaaren, Wolfskrallen, Bärenkrallen, Adlerkrallen, Bärenfellfetzen, winziges Haar nur, Bärenreißzähne, Wolfsreißzähne, Perlmuttknöpfe, Silberknöpfe, Kupferknöpfe, Silbermünzen, Kupfermünzen, Kaurimuscheln, Korallen … alles auf weißen, glänzend weißen Stoffetzen, Eintugrikscheine, Dreitugrikscheine, Fünftugrikscheine, Zehntugrikscheine … Jetzt weiß ich, woher alle meine Krallen, Reißzähne, Knöpfe, 64
Münzen, Muscheln, Korallen und andere Schmuckstücke gestammt haben, mit welchen meine Mützen und Hemden und Lawschaks voll behängt waren, und wohin sie dann verschwunden sind. Und es sind Sprüche", die dem, der nun winzig und schlaftrunken in der Wiege liegt, feste Schlingen und weite Wege, einen weißbehaarten Kopf, vergilbte und abgewetzte Zähne, ein langes Leben mit einem langwährenden Glück, die Augen des Adlers, die Ohren des Widders, die Kraft des Bären, die Ausdauer des Wolfes und vieles andere wünschen. Dieselben Wünsche muß auch ich in Empfang genommen haben, und mir erscheint zweifelhaft, ob ich ohne sie durch all die Fährnisse und Schwernisse des Lebens bis auf den heutigen Tag gekommen wäre und auch bis zum Ziel, das ich mir gesetzt habe, würde gehen können. Die Schnupftabakflaschen werden gewechselt, in der Hand, mit leisem Geklirr, sie wandern weiter und kommen auch bei denen an, die keine besitzen, weil sie nicht schnupfen. Nebst dem Schnupftabak wandert auch der Rauchtabak, dieser jedoch wird lediglich den Rauchern angeboten. Und die Raucher im Altai sind genauso unverbesserlich liederliche und rücksichtslose Menschen wie woanders auf Erden auch. Bleigraue Rauchringe schlängeln sich, stinkend über Usha, Dör und Wiege und die Köpfe der Menschen, und es ist, als ob das Gift, das in dem Tabak innewohnt, alles, was in diese Jurte heilig ist, entweihen und jeden, in dem Leben ist, erdrosseln wollte. Zwei junge Frauen schenken Tee und Aragy aus, jede mit einem Zehnliterkrug. Sie beginnen im Dör bei den Ältesten, lassen die Schälchen zu beiden Seiten die Reihe entlang wandern, bis sie sich an der Türschwelle treffen, und da tauschen sie die Schälchen untereinander und trinken ihren Anteil. Uns, die später Dazugekommenen, trifft die Gabe in einer Runde mehrmals, denn die anderen, die früher Gekommenen ehren uns mit ihrem Anteil – eine alte Sitte, ein bewährtes Verfahren, 65
Leute zu bestrafen, die sich bei einem Fest verspäten. Es gibt keine Widerreden, denn es gilt keine; es wird nur die leere Schale zurückgenommen. Eine Ausnahme wird nur bei Kranken und Schwangeren gemacht. Dabei glaubt man solchen aufs Wort. Denn keiner, der nicht krank oder schwanger ist, wird angeben, daß er es sei, weil eine Lüge bei ersterem das Herbeiwünschen eines Unheils und bei letzterem eine unverschämte Hochstapelei bedeuten würde. Einem, der nicht trinken will, wird gesagt: »Schütte ihn dann aus!« Das sagt die Ausschenkerin, und die anderen behalten die Schale schweigend im Auge. Der Aragy wird nicht ausgeschüttet. Meine Nüchternheit währt nicht lange, trotz des Hammelfleisches mit der fingerdicken Fettschicht, das ich esse, und des dampfheißen Milchtees, den ich trinke als Mittel zur Besänftigung des Geistes in dem wilden Gelage. Die Betäubung meldet sich, erst als ein Summen in den Ohren, dann als ein Flimmern vor den Augen und schließlich im Kopf und in den Gliedern und auch zwischen Leber und Magen, besonders dort, wo die ungebildeten Vorfahren der Menschheit das Ding vermuteten, das sie Seele nannten und dessen Vorhandensein von den Apparaten und deren Anhängern bestritten wird. Ich erkläre Nordshmaa, was die Schafsknöchel an der tuwinischen Holzwiege zu bedeuten haben: »Diesen Riemen, der den Bogen am Kopfende der Wiege mit dem Fußende verbindet, nennt man Zügel, und er hat den praktischen Wert, das Kind davor zu schützen, mit dem Gesicht auf die Erde zu fallen, im Falle, die reitende Mutter kommt mit der Wiege zum Stürzen. Daran werden auch die Knöchel angebunden, und diese sagen jedem Eintretenden in die Jurte, wieviel Kinder die Mutter geboren hat und wieviel davon noch am Leben sind und wieviel nicht. Hier sind fünf Knöchel, das bedeutet: fünf sind am Leben, sieh dir den letzten genauer an, er glänzt, ist noch fettig, er ist von dem Brühhammel der niedergekommenen Mutter und ist 66
erst heute morgen zu den anderen gebunden worden, nachdem man Mutter und Kind mit lauwarmem Wacholdersud gewaschen und die Wiege für einen weiteren Bewohner hergerichtet hat. Zwischen den letzten beiden ist ein Knoten, und er bedeutet, das Vorletzte fehlt. Wenn ein Kind stirbt, nimmt man seinen Knöchel heraus und macht an seiner Stelle einen Knoten.« Da erklingt in tiefen, schwingenden Tönen der erwartete Gesang: Du unser reicher viereckiger Altai … Es ist Luwsun, der mittlere der drei Söhne des Bitschirek, der es gewagt hat, das Schweigen zu brechen. Alle singen mit: Mit den Weihopfern in den vier Himmelsrichtungen Glück bietest du und Schutz uns Deinen viermal zehntausend Bewohnern … Es wird ein andächtiges Singen, die Münder kaum geöffnet, die Gesichter ruhig. Mit diesem Lied beginnt jedes Fest, so ist es in meiner Kindheit gewesen, und so soll es auch in der Kindheit meiner Eltern gewesen sein. Was davor, noch früher gewesen ist, weiß man nicht, aber es muß immer so gewesen sein. Also weiß man nicht, wie alt das Lied ist. Denn Tuwa hatte nie eine Schrift, nicht eine eigene und auch nicht eine angenommene. Ich empfinde eine verzehrende Anhänglichkeit für diese singenden Menschen und spüre meine Lidränder heiß überlaufen. Der alte Dombak beriecht mich am Ohr und ruft: »Weine, Sohn, wenn dir danach zumute ist, und auch, wenn das dem fremden Kind neben dir nichts ausmacht!« »Ich will nicht weinen!« Darauf rutsche ich mich vom Bett herunter, zu den alten Frauen. Eine, die mich auf dem Rücken trug, als ich ein kleines Kind war, Düüdej, drückt meinen Kopf an ihre Brust und schreit: »Singe, Dhsurugwaj, mein Sohn, singe!« Und ich singe. 67
Es gibt keine Trennung, und so auch keine Hemmung mehr. Es gilt, nur zu singen. Die Lieder erzählen von Pferden, Festen und Freundschaften. Der Abschied wird nur gelegentlich genannt, aber ihm steht so wenig Platz zu, daß er die Freude in den Brüsten nicht zu verscheuchen vermag. Der Tod schweigt. Wer werden die Dichter dieser Lieder gewesen sein? Wo wird man sie zum erstenmal gesungen haben? Mußten sich die tuwinischen Dichter erst einer anderen Sprache bedienen, um ihre freudigen Gefühle auszudrücken? Oder mußten die festseligen Tuwinen Lieder anderer annehmen, um auf ihren Festen auch fröhlich zu sein? Wie es auch sei, diese Lieder sind in den tuwinischen Jurten zu Hause. Das tuwinische Festlied erklingt, der Anfang der tausend Strophen: Des jungen Kuckucks Ruf Hallt wider am jungen Baum Des winzigen Gefährten Wort. Hallt wider im tiefsten Herzen … Die Worte sind unverhüllt, die Melodie ist schwermütig. Am Ende jeder Strophe überläuft jeden ein kalter Schauer, stockt einem der Atem, es gibt eine Pause. Kein Mensch ist imstande, so viel Aragy und so viel Schwermut zu ertragen, daß er die tausend Strophen zu Ende singen vermag. Kein Fest erschöpft das tuwinische Lied. Gib dein Echo, roter Fels Mädchen, Jungen, laßt eure Stimme hören … singt das Mädchen Torlaa. Ihre helle, himmelhelle Stimme gleicht dem beschwörenden Schrei einer Irrenden und hinterläßt in der Brust einen schmerzenden Widerhall. Die Jurte scheint sich in jenen roten Felsen verwandelt zu haben. Keiner bringt es fertig, mitzusingen. Gib dein Echo, schroffer Fels Einziger Bruder, laß deine Stimme hören … Düüdej, die Mutter, stößt einen grellen Schrei aus und jammert: »Ihiij, du unbarmherziger Altaj! Warum hast du meine Torlaa mutterseelenallein gelassen, warum, warum, ihiij, 68
warum?« Jung und alt weinen still mit, denn sie haben nicht vergessen, daß, vor wenigen Monaten, die achtzehnjährige Uwalang, die jüngere Schwester der Torlaa, verstarb. Und diese singt: Warum sind die Wolken des Himmels Nicht rot, dort wie hier? Warum sind die Erdgeborenen Nicht ewig, morgen wie heut? Ihr Gesicht glänzt vor Tränen, aber die Tränen vermögen ihr die Stimme nicht zu brechen. Warum wird dem Pferdekind beschnitten Die Mähne, nachdem man es aufgezogen? Warum ist es dem Menschenkind beschieden Zu sterben, nachdem ihm die Jugend gegeben? Warum, ach, warum, warum, war es dir, Tuwine, beschieden, ein so trauriges Lied zu erschaffen? Nicht der Tod kann dafür der Grund gewesen sein, zumal er für dich nichts weiter ist als ein Übergang zu einer anderen Form des Daseins. Und es kann mit dem Aragy und dem Schnupftabak auch nicht stimmen, bestimmt nicht. Wie aber hätte dieses Lied aussehen und auf die Herzen wirken können, wenn nicht in zwei-, sondern in zwanzig-, ja in zweihunderttausend Brüsten Platz für uns gewesen wäre? Luwsun unterbricht die Pausen mit immer neuen Strophen, die, hätten sie die Melodie dazu, auch ein durchaus fröhliches Singen hätten ergeben können. Von deinen Pferden in der Talmulde Weiß ich nicht: Sind es zehn oder fünf Von deinen Worten, den scherzend Gesagten, Weiß ich nicht: Sind sie Spaß oder Ernst … Oder: Die halbreife Stachelbeere Ist die Speise in äußerster Not Der rundgesichtige braune Bursche 69
Ist der Gefährte nur in äußerster Not … Zwar singen alle mit, zwar fließt keine Träne mehr, aber die Schwermut bleibt über dem Feste hängen. Da springt der lange Güsge auf, als wäre Feuer unter ihn gefahren, und dabei stößt er mit dem Kopf an das Jurtendach und schreit: »Ihiij, erhöre mich tauber Blauer Himmel! Sterben will ich, sterbend in der feuchten, schwarzen Erde liegen, ihiij!« Eine Dachstrebe fällt und trifft den alten Dagwa auf den Kopf. Ein kleines Gelächter bricht aus, es ist nicht zu erkennen, wem es gilt, dem Sterbelustigen oder dem Opfer. Lawsun rafft sich hoch und stützt sich zitternd auf seinen armdicken Birkenstock: »Eej, was ist mit dir, Güsge, Sohn des Kugel-Kopf-Madynasyn? Die Krankheit hat mich getroffen, und es ist schon das vierte Jahr, daß ich so stehen und gehen muß. Ich bin viermal im Bezirk und einmal in der Hauptstadt gewesen, und ich hab mich vollpumpen lassen mit allerlei Gift, weil ich nicht sterben, sondern leben, unbedingt leben wollte, ich Gleichaltriger deines Vaters! Und wenn ich mich heute vom Bett losgerafft und zu diesem Fest begeben habe, das geschah auch deswegen, weil ich wieder einmal dem Tod fern und dem Leben nah sein wollte!« Aber Güsge läßt sich nicht überreden: »Ihiij, sterben will ich, sterben. Mir brennt die Brust, mir brennen die Eingeweide, ej, Brüder, ej, Schwestern! Laßt mich singen von Tod und Teufel!« »Laßt ihn dann singen und weinen, er wird doch seine Gründe haben!« ruft Dagwa. Güsge singt mit einer Stimme, die zu brechen droht: Schwarzes Wasser, das du fließest oder stehest Quäle nicht die Füße meines Pferdes Böser Geist, der du mich nimmst oder verschmähst Reiße mir nicht das Fleisch aus der Brust … Alle singen mit: Warum fällt die Birkenknospe herab Sich entfaltend in den Schnee? Warum fallen aus den Augen die Tränen 70
Perlengleich auf die Erde? Auch Luwsun singt mit hellster Stimme mit. Die Adern auf seinem Gesicht sind angeschwollen. Die Augen schwimmen in Tränen. Das schwarze Wasser, das mein Pferd nicht trank Ich koste es, schmecke es, ich leide Die bittre Qual, die mein Vater nicht erfuhr Ich koste sie, erfahre sie, ich leide … Dann ist es Dsotschi, Sohn des Bugaldaj, der mit den Fäusten sich auf die entblößte Brust trommelt und singt: Warum ist der Adler des Gipfels Auf den Hang hinabgestürzt? Warum ist Bajnak, der Feuriggeborene Mit der Kugel zusammengestoßen? Mir fällt ein, daß Bajnaks Mutter die ältere Schwester des Sängers gewesen ist. Dann ist es Tongmud, der mit geballten Fäusten auf den Herd haut und brüllt: »Was für ein Volk seid ihr, ihiij, was für Würmer, immer mit Tränen und Rotz? Laßt das Gejaule, und laßt uns unsere Lieder singen!« Dagwa, der Vater, ruft in die Runde: »Ich hatte zwei Söhne, der eine ging vor achtzehn Jahren weg, und seitdem läßt er kein Wort von sich hören, außer daß es ihm gut geht. Und der andere nennt unser Lied ein Gejaule, wie ihr hört, Brüder und Schwestern! Laßt ihn nun seine Lieder singen und hört und seht zu. Das unsere, das wird mit uns untergehen!« Tongmud singt: Die rote Fahne und die Jugend sind Zwillinge Und wo sie sind, sind dort auch Siege und Erfolge … Einige klatschen Beifall, andere fallen mächtig ein, und es wird ein dröhnender Gesang.
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Der siebte Tag
23. August »Was war dann?« »Ihr habt alle geheult.« »Ich auch?« »Du auch.« »Viel?« »Sehr.« Ich glaube in Nordshmaas Augen eine Spur Tadel zu entdecken. »Ich werde wegreiten!« Sie sagt darauf nichts, steht auf und geht aus der Jurte. Mutter kommt mit einem Topf in der Hand. »Mehlbrei«, sagt sie, »heiß mußt du ihn essen.« Ich stehe auf und beginne den Brei zu löffeln, und ich esse nur meiner alten Mutter zuliebe. Denn er schmeckt in meinem aragybetäubten Mund wie flüssiger Lehm. Ich spüre in mir Brechreiz, und ich denke, es wird ein schwerer Tag werden. Ein Grund mehr, wegzureiten. Ich frage: »Wo ist Vater?« Mutter antwortet: »Er hütet die Kinder.« Dann aber fragt sie zurück: »Warum?« »Ich möchte den Jägern nachreiten.« Wenig später gehe ich zu Vater und finde ihn im Dör der Hütte auf dem Rand eines breiten Lagers mit untergeschlagenen Beinen und nacktem Oberkörper sitzen, in der einen Hand die Tabakflasche und in der anderen die Fliegenklappe. Wieder kommt mir mein Vater wie ein Junge vor, der sich eine Greisenmaske aufgesetzt hat, denn der sehr helle und sehr schlanke Oberkörper paßt so schlecht zu dem bärtigen und 72
faltigen Gesicht und den schimmergrauen Haaren. Dieser Junge mit dem alten Kopf fuchtelt nun mit seiner Fliegenklappe und kichert vergnügt: »Dies ist wohl eine Arbeit, für die ich noch tauge!« Dabei ist auch die Stimme hell und fest wie die eines Knaben, In der Mitte des Lagers schlafen die Kinder, mit dem Gesicht zueinander gekehrt, einander zum Verwechseln ähnlich. »Wir alle vier haben hier geschlafen, weil wir dachten, ihr werdet nicht alleine zurückkommen. Kerze und Streichhölzer haben wir auf den Ofen gelegt, hoffentlich habt ihr alles gleich gefunden«, erzählt er. »Es kam Schale auf Schale, und ich hatte nicht das Herz, mich der Sitte nicht zu fügen. So weiß ich nicht mehr, Vater, wie ich dann nach Hause gekommen bin.« »Niemand ist zu groß für die Sitten. Doch ist es nicht überflüssig, noch bevor die Lippen die erste Schale berühren, an den Spruch zu denken: ›Aragy besiegt alles außer seinem Behalten.‹« Vaters Stimme ist mahnend und seine Miene dazu ist ernst. Ich habe nicht den Mut, zu ihm, wie zu meiner Frau, so schroff zu sagen, daß ich wegreiten werde. So sage ich: »Vater, ich möchte meine Berge sehen.« Vater klatscht eine Fliege. Und da setzt ein Hustenanfall ein. Hastig dreht er sich von den schlafenden Kindern weg, wirft sich zuerst auf die spitzen Ellbogen nach vorn, kommt dann auf allen vieren hoch und schleppt sich mühselig davon. Hals und Rücken laufen ihm erst violett, dann blau an, und bald stehen sie unter strömendem Schweiß, das Gesicht kann ich nicht sehen. Zitternd denke ich: Mein Vater könnte nicht morgen, nicht bald, sondern gleich in dieser Minute sterben! Ich renne hinaus und reiße die Jurtentür auf, ich schreie: »Mutter, Wasser! Vater hustet schlimm!« Nordshmaa scheint verstanden zu haben, daß Wasser verlangt wird: Sie springt vom Hocker auf und läuft zum Küchenregal. Mutter eilt ihr humpelnd hinterher und fuchtelt mit der Hand: »Nicht Wasser doch! Nicht Wasser doch!« 73
Nachdem sie es ein paarmal wiederholt hat, ohne von Nordshmaa verstanden zu werden, ruft sie es auf mongolisch: »Gib ihm Aragy!« Ich eile zurück, die Schale in der Hand, die beiden kommen mir nach. Ich zerre Vater an der Brust hoch und halte ihm die Schale vor den Mund. Einen Schluck, dann wieder einen, und Vater hustet nicht mehr laut, er keucht nur und zittert. Dann trinkt er die Schale aus, lehnt sich zurück an die Wand und schließt die Augen. Mir zittern die Glieder, und ich schaue auf Mutter und Nordshmaa, die mit weit aufgerissenen Augen dastehen. Ich denke an eine Herde, die vom Wolf angefallen worden ist. Vater ist der verwundete Hengst. Da flüstert er: »Gaidar Urug!« »Was ist, Vater?« »Reite heute nicht weg und auch morgen nicht. Brich übermorgen erst auf. Lerne bis dahin dein Reitpferd kennen und gewöhne dich wieder an dein Gewehr. Und höre auch, was wir dir erzählen werden!« Am Nachmittag erzählt Vater seine Lebensgeschichte: Er kam im Jahr des Blauen Drachen zur Welt, im Frühjahr wohl. Seine Mutter hieß Orlumaa, und sie war von weit her gekommen, aus dem heutigen Bujant-Sumun des Homdu-Aimak. So sprach sie anders als andere Leute, eigentlich sehr seltsam, obwohl sie sich als Tuwinin ausgab, und Vater hörte sie einmal auch in einer anderen Sprache sprechen mit einem Mann, der zu Besuch gekommen war und ihr Bruder sein sollte. Das mußte ihre Sprache gewesen sein, aber Vater hat weder sie noch seinen Vater danach gefragt, was für eine das war. Und diese Mutter war ein stiller, langsamer Mensch. Sie schlief noch, während andere ihre Yakkühe längst molken. Ihr Mann, unser Großvater, warf sie manchmal so, wie sie im Bett gelegen und geschlafen hatte, hinaus in den hellichten Tag, und so gab es jedesmal ein Gelächter im Ail. Sie wachte auf, wimmerte ein wenig und kroch dann zurück in die Jurte. 74
Beim Feuermachen dann sagte sie zu ihrem Mann: »Sie waren nun wieder unvorsichtig. Ich hätte mir den Beckenknochen oder sonst was brechen können!« Einmal schlug er ihr mit einem Yakkieferknochen auf den Kopf. Sie blutete, und wieder meinte sie: »Das aber war gar unvorsichtig von Ihnen. Ich habe gehört, der Mensch kann sterben, wenn ihm der Schädel zerbricht und das Blut herausfließt.« Keiner kann sich an einen Fall erinnern, daß sie sich geärgert hätte. Keines von ihren Kindern ist nach ihr geraten, am ehesten vielleicht Galdarak. Unser Großvater war ein jähzorniger, sonst aber ein rechtschaffener Mensch. Er hatte ein gutes Gefühl für seinen Reichtum, er pflegte zu sagen, daß der Schweiß des Menschen dem Vieh und das Vieh dem Magen des Menschen gehörte. Darin unterschied er sich von den meisten Reichen. Der Fleischtrog in der Jurte des Hylbang war nie leer. Oft wurde schon in den Morgenstunden Fleisch gekocht. Der schwere, vollbeladene Trog aus Espenholz wurde vor jeden geschoben, der in die Jurte kam. Wer arm war und Hunger hatte, suchte die Nähe des Ails von dem sagenumwobenen Baj, viele davon waren Kasachen, denn der Großvater legte Wert darauf, daß sein guter Ruf als Freigebiger durch immer neue Beispiele gepflegt wurde, und dabei wußte er, daß Dankbarkeit eine ihrer hervorstechendsten Nationaleigenschaften war. Und aus demselben Grund wohl duldete er nicht, wenn Kasachen schlechter behandelt wurden als Einheimische, einmal sagte er zum Fürsten, der unfreundlich diesen gegenüber gesinnt war: »Heimat- und viehlos stehen diese Leute heute zwar da, aber morgen werdet Ihr sehen, sie werden diese Erde bewohnen und reicher leben als unsere Nachkommen, denn sie sind tüchtig.« Den Namen seines ältesten Sohnes hat er ihm von einem Kasachen geben lassen, der gerade in seiner Jurte übernachtete, als seine Frau niederkam; am nächsten Tag schickte er jenen mit 75
einem fünfjährigen Wallach auf den Weg. Der Baj war seines Selbstes nächster Knecht, er stand im ganzen Ail als erster auf und legte sich als letzter zur Ruh. Im Frühjahr, zur Wurfzeit der Tiere, schlief er überhaupt nicht. Er meinte, das Essen sei eine Notwendigkeit, der Schlaf dagegen nur eine Gewohnheit. Was später aus ihm wurde, war wohl nicht seine Schuld. Wäre ihm nicht ein Bein für immer geschädigt worden, vielleicht hätte er nicht zu trinken begonnen. Aber da waren ihm die Kinder, die heranwuchsen wie um die Wette, und auch die vielen armen Schlucker, die Jurte und Vieh von ihm erhielten und ihn immer Vater nannten. Sie alle nahmen ihm die Arbeit ab und machten ihn zu einem kranken, pflegebedürftigen, aber auch reichen, genußberechtigten Menschen. »Kulak oder Nichtkulak, nun? Der eigene Vater steht einem zu nah, als daß man die Wahrheit über ihn ohne weiteres aussprechen kann, gewiß. Aber nicht aus diesem Grund, sondern weil ich meinen Vater nie bei einer bewußten Lüge ertappt und weil ich selbst euch, meine Kinder, bis heute noch nicht bewußt belogen habe, will ich es dir überlassen, auf diese Frage die richtige Antwort zu finden. Ich weiß nicht, was zu einem Kulaken alles noch gehört außer großen Herden, mir fehlen die Kenntnisse, und du hast sie. Dafür will ich dir einiges von den letzten Tagen meines Vaters erzählen. Das war eine unruhige Zeit: Ob die Lamas nun den großen gelben Krieg, von dem die Bücher heute erzählen, tatsächlich beginnen wollten, weiß ich nicht. Vielleicht stimmt es, vielleicht aber war auch dies wieder eine Erfindung, weil man sie brauchte. Auf alle Fälle kamen mit einmal lauter Gerüchte über Verhaftungen übers Land und darauf bewaffnete Soldaten auf einem Schietscheeng, wie damals das Auto genannt wurde. Ein Teil der Lamas wurde verhaftet und der Rest wurde auseinandergejagt, die Klöster brannten bis auf die Grundmauern nieder, und der Rauch darüber verging erst nach Tagen. 76
Dann wurden auch andere verhaftet, und diese nannte man Kulaken. Das waren Leute, die über eine größere Herde verfügten. In dieser Zeit verlernte ich den Schlaf. Nicht etwa, weil ich etwas gegen die neue Ordnung gehabt oder weil mir die niedergekämpften Klöster etwa leid getan hätten. Nein, nein, ich habe nie etwas übrig gehabt für Ämter und Leute, die mich in meinem Glauben schleifen und mich darin stellvertreten wollten, mein Glaube war und ist: Es gibt den Altai, der ist durch und durch belebt und beseelt bis in jeden seiner Steine, und er ernährt und beschützt einen jeden, der vor ihm in Ehrfurcht lebt wie vor einem Vater. Und dafür brauche ich doch keinen Lama und kein Kloster.« Vater hatte Sorgen wegen seines Vaters. Jede Stunde konnten sie kommen und ihn abholen. Da waren die Nächte viel zu lang, und da bellten die Hunde viel zu oft. In jenem Sommer war unser Ail in Oruktug, und die Jurten des Vaters und des Sohnes höchstens fünfzehn Schritte voneinander entfernt. Der Großvater ließ die Großmutter in der Morgendämmerung aufstehen, auch Vater und Mutter standen so zeitig auf wie nie vorher und auch wie später nie; wenn Vater in die Jurte des Großvaters eintrat, saß der alte Mann längst fertig angezogen im Dör, wie einer, der auf eine lange Reise gehen wollte, und sah den Sohn mit großen glänzenden Augen an. Er trank zwar immer noch, aber auf einmal sah man es ihm nicht an, er wirkte immer nüchtern. Vater war zu der Zeit Vorsteher von zehn Jurten, und so war er öfters unterwegs. Wenn er wegritt, hörte er seinen Vater sagen: »Dein Pferd wird es aushalten, versuch, noch vor der Nacht zurückzukommen.« Darauf sagte er ihm, daß er es auch tun werde, und er hielt Wort. Nur einmal gelang es ihm nicht, rechtzeitig zurückzukehren, es gab eine Sitzung, die bis Mitternacht dauerte. Er ritt zwar sofort zurück, den Weg kennt man aber, das erste Morgengelb kam schon auf, als er die Schwarze Spitze über Usun-Oj erreichte, und wie er den Sattel zu Oruktug 77
passierte, erkannte er vor sich die Herde des großen braunen Hengstes mit der Blesse und ab dann die Herden anderer Hengste. Die Stuten schienen längst aufgestanden zu sein, die Hengste grasten und die Fohlen tranken nicht mehr. »Plötzlich hörte ich einen leisen Ruf, ich hörte Schynybaj. So nannte mich mein Vater noch immer, obwohl ich die Dreißig schon überschritten hatte, und daran kannst du vielleicht erkennen, wie sehr wir beide aneinander hingen. Darauf sah ich oberhalb des Weges, unter der Morgendämmerung, unter den Pferdebeinen, in einer Mulde meinen alten Vater, er winkte mich mit seinem Gehstock zu sich. Mein Pferd brachte mich schnell wie ein Böenwind zu ihm, ich sprang vom Sattel herab und fiel vor ihm auf die Knie: ›Was ist, Vater?‹ Ihm zitterten die Lippen und ihm fielen Tränen aus den Augen, dann sagte er: ›Gestern mittag sind sie hier vorbeigeritten, Süsüktü und Lhagwaa, beide mit braungescheckten Pferden, beide bewaffnet. Auf dem Rückweg werden sie mich bestimmt abholen. Fleh sie bitte an, Schynybaj, daß du mich selber dort hinbringst, mit dem Pferd. Ich habe so Angst vor diesem Schietscheeng, ich werde ersticken, Himmel!‹ Ich sah ihn, diesen alten, zitternden Menschen, ratlos an. Dann sah ich die Pferdeherden, die den Nordhang und die Ebene von Oruktug füllten und diese weite Welt unter dem Morgenhimmel schwarz bespickten wie rollende dunkle Perlen, und ich haßte sie! Das war das einzige Mal in meinem Leben, daß ich vom Vieh nicht gut dachte. Ich wünschte, daß mein Vater ein armer Habenichts wäre, der die winzigste und dunkelste Spitzhütte bewohnte, in der er seinen natürlichen Tod sterben durfte. Vater starb ihn, den ersehnten natürlichen Tod. Das war zwei Tage darauf; niemand war gekommen, um ihn abzuholen, auch später kam niemand. Es heißt, der Mensch hat zwei Augen, die Volksmacht hat ihrer tausend. Vielleicht deshalb. Vielleicht aber auch: Der Tod kam den Mördern zuvor. Von dem Baj mit dem lauten Namen hieß es, er habe zwei 78
Söhne, von denen einer einem Teufel ähnele, der andere einem Gott. Sama, der jüngere Sohn, brachte tatsächlich manches zustande, was zum Nachkommen eines Hylbang schlecht paßte. Er trieb Handel, und er trieb ihn so, daß eine böse Zunge sagen könnte, jener bestehle ein Land und betrüge ein Volk. Der ältere Sohn, der tags die Schafherde hütete und nachts die Pferdeherde bewachte, konnte das Tun des Bruders weder gutheißen noch verhindern. Aber dennoch war seine Beziehung zu ihm herzlich. Doch passierte nun etwas, was selbst ihn, den Gut- und Großmütigen, erschütterte. Der verborgene Bruder kam nicht zum Begräbnis des Vaters, er blieb im Ail, und als die anderen Männer zurückkamen, erfuhren sie, daß er die Truhen und Barwa der Vaterjurte durchsucht und alles Verkaufbare weggeschleppt hatte. Da weinte der Erstlingssohn, dem manches Recht zustand, vor Scham und Ohnmacht, doch bat er seine Mutter, niemandem gegenüber ein Wort darüber zu verlieren. Dann kam das andere, das kommen mußte: Sama begann das Vieh herden- und hordenweise zu Schleuderpreisen zu verkaufen, und es dauerte nicht lange: Der greisen Witwe des großen Baj blieb nur die ausgeplünderte alte Jurte übrig. Nun wirst du vielleicht denken: Aha, Brüderzwist und Erbstreitigkeiten, weil ich dir dies erzähle. Nein, nicht darum geht es; ein jeder von uns hatte längst seinen Anteil bekommen: die Söhne je dreißig Pferde, dreißig Yaks und dreihundert Schafe, und die Töchter je zwei Drittel davon, und was aus dem übrigen Vieh zu machen war, auch darüber war entschieden, denn Vater hatte gesagt, daß wir, seine Kinder, dieses Vieh nach ihrer beider Tod unter die Ailleute verteilen sollten, und zwar so, daß keiner ein Lamm mehr oder weniger bekäme als der andere. Ich erzähle dies alles, weil es Leute gab, die Sama in seinem Geschäftsfieber anfeuerten: So richtig, jawohl, das Kulakennest gründlich zerstören! Also darum, wieder wegen dieses ›Kulak‹! Oh, das Wort hat mich durch mein ganzes Leben wie ein böser Schatten verfolgt, und dabei habe ich nicht einmal gewußt, was 79
es zu bedeuten hatte, und wenn es etwas bedeutete, ob es dann den richtigen traf oder nicht!« Mit vierzehn Jahren ritt Vater mit Dshungar und zwei anderen Männern über den Altai hinter Örmegejti auf Biber- und Zobeljagd. Dhsungar war ein alter Junggeselle, der im Ail des Bajs lebte, die meiste Zeit in der Jurte des Bajs, und er war auch ein großer Jäger und Schoorspieler. Die Jäger kamen zu reichlicher Beute, verbrachten ganze einundvierzig Tage hinter dem Altai. Dort waren die Berge noch steiler, die Flüsse noch schneller, und das Gras reichte einem bis zum Gürtel. Es gab fast kein Vieh. Abends, wenn alle wieder beisammen am Lagerfeuer saßen und auf dem Feuer Fleisch kochte, da blies Dshungar seine Schoor. Dabei nannte er sein Spiel Gebet, und dieses sein allabendliches Gebet verlief nach einer strengen Regel: Erst fischte er aus dem Herd ein großes Stück Glut, zerklopfte es mit dem Zeigefinger und legte darüber eine Handvoll Wacholderkrümel, darauf schwenkte er die Schoor über den emporquellenden Rauch, und erst dann nahm er sie an den Mund und blies. Solange Dshungars Schoor klang, wagte keiner aufzustehen oder ein Wort zu sprechen. Das Feuer ging aus, und es wurde Nacht. Der Junge, der Vater war, bekam Heimweh und begann leise zu weinen. Eines Tages krepierten den Jägern zwei Pferde; Grasvergiftung, hieß es. Jeder hatte zwar die Jagd mit einem zusätzlichen Führpferd begonnen, aber die Männer berieten und beschlossen, zwei Pferde als Ersatz von den dortigen Kasachen und Uiguren zu stehlen. Die Jagdbeute wäre für nur zwei Pferde zu schwer, meinten sie. Also ritten sie auf Diebstahl. Es war eine stockfinstere Nacht. Sie ritten lange und erreichten schließlich einen Ail. Dem Jungen wollte das Herz aus dem Hals springen, vor Angst wie vor Freude, denn das war für ihn der erste Diebesritt im Leben. Fünf, sechs Lassowürfe vor dem Ail hielten sie und berieten. 80
Dshungar sagte, daß die dortigen Leute ihre Pferde Nacht für Nacht bewachen und daher nun eine List erfunden werden solle. Sie wurde dann auch ausgeheckt: Zwei von ihnen sollten zum Schein den Eindruck von Schafdieben erwecken und so den Pferdewächter davonlocken. In der Zwischenzeit sollten die anderen die Pferde aussuchen und davonführen. Dshungar und Vater wurden die Pferdediebe und trennten sich von den anderen beiden. Sie brachten ihre Pferde in Sicherheit und gingen zu Fuß, schnüffelten im Wind und lauschten. Auf einmal hörten sie ein Pferd brummeln und sahen dann eine ganze Herde grasen. Die Diebe warfen sich auf die Erde und warteten auf den Lärm, der auf der anderen Seite des Ails losgehen sollte. Und da fingen auch schon die Hunde an zu bellen, die Ziegen meckerten laut, die Schafe blökten, ein Schuß knallte und darauf noch einer, Männer und Frauen lärmten, eine Männerstimme schrie auf kasachisch: »Dort! Dort schleppt einer einen Hammel! Tu-tuhu!« Die Pferdediebe hörten dies, sie hörten auch vor sich die Pferde erregt schnaufen. Da rief eine etwas heisere Männerstimme auf kasachisch: »Eilt her! Schnell! Ich habe den Dieb!« Einen Augenblick später schrie die Stimme noch heiserer, nun zwei Stricklängen südlicher als vorher: »Hierher! Schnell! Der Dieb schleppt mich weg! Oj-ba-ahaj!« Die letzten Worte klangen so bedrohlich heiser, als wäre der Mann am Ersticken. Das war der andere, der Junge kicherte vor Vergnügen und dachte: Dieb zu sein ist eine wunderbare Sache, noch schöner, als Jäger zu sein! Es knallte ein Schuß nach dem anderen, und da gab es jedesmal einen kurzen, hellen Schein, daß man die hin und her rennenden Hunde, Schafe und Menschen sehen konnte. Die beiden Pferdediebe standen auf und schlichen auf die Pferde zu. Diese aber waren alle gefesselt und angebunden. Vater ging an drei, vier Pferden vorbei, keines schien ihm gut genug. Dann stieß er auf eines, es schien ein Hengst zu sein, war 81
groß, wie er noch keinen gesehen hatte. Ein Hengst von jenseits des Altai! dachte er erregt und ließ sich, lahm vor Glück, nieder und begann an den Fesseln zu nesteln. Allein da knallte es in nächster Nähe. Er sah lauter langmähnige Pferde um sich herum und glaubte an einem auch Dshungar zu erkennen. Und da hörte er jenen zischen: »Fliehen!« Aber als er das begriff, war er schon auf der Flucht. Bis auch Dshungar die Stelle erreiht hatte, wo ihre Pferde zurückgelassen waren, schien dem angehenden Dieb eine Ewigkeit zu vergehen. Dann flüchteten sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Köpfe der beiden Pferde lagen dicht aneinander, aber auf einmal fiel Dshungars Pferd zurück, und darauf hörte man, als ob etwas fiele, und da entdeckte man auch: Das Pferd lief ohne Reiter. Vater fand den Weggefährten, er lag langgestreckt, auf dem Rücken, er griff ihm unter die Achseln, hatte im Sinn, ihn auf die Beine zu heben, aber da spürte seine Hand etwas Nasses, Warmes, und er schrie auf und rannte davon. Freilich kam er zurück und legte seine Hand auf dessen Brust und mußte feststellen, das Herz stand still. Er hatte Angst, nach den anderen zu rufen, sie gaben auch keinen Ruf von sich. Erst beim Morgengrauen fanden sie ihn. In der übernächsten Nacht kamen sie zu Hause an. Im Herbst jenes verhängnisvollen Jahres sollte Vater heiraten. Seine Braut war um ein Jahr älter als er und galt als das derzeit schönste Mädchen Tuwas. Aber da brach die Pest aus und raffte sie ihm dahin. Sie hatten sich nur ein paarmal draußen bei der Herde getroffen, doch dachte er, als sie gestorben war: Nie und nimmer ist einem Menschenkind so ein großes Leid widerfahren als ihm jetzt, und er schwor unter Sonne und Mond und unter jedem Stern, der am Himmel zu sehen war, daß er nie heiraten würde. Aber nach vier Jahren gab er dem Willen seines Vaters nach 82
und heiratete doch. Sie hieß Gükül, hatte ein ebenmäßiges Gesicht, ein paar flinke Hände und dazu auch eine gute Seele. Sie lebten zehn Jahre in einer Jurte, allein die Ehe blieb kinderlos. Der um zehn Jahre jüngere Bruder Sama, der mit vierzehn geheiratet hatte, war inzwischen Vater von drei Kindern geworden. Vater fragte seine Eltern um Rat, er fragte ihre Eltern um Rat, ein jeder meinte, zehn Jahre wären genug. Darauf trennten sie sich, er brachte sie mit Vieh und Zeug, das ihr gehörte, am hellichten Tage in die Jurte ihres Vaters zurück. Und am Sattel führte er auch Aragy und Byschtak für ihre Eltern und Eiszucker für ihre jüngeren Geschwister mit. Monate darauf heiratete er wieder. Die einzige Tochter des Dshoshang oder Mishid, wie er sich später nannte, wurde seine Frau, und sie schien auch seine ihm vom Schicksal bestimmte Lebensgefährtin zu sein, denn knapp ein Jahr nach der Heirat gab sie ihm seinen ersten Sohn in die Hand, er war nun neunundzwanzig, und nicht lange dauerte es, bis sie sagte, sie wäre wieder guter Hoffnung. Seine Freude kannte keine Grenzen. Aber diese späte und plötzlich eingetretene Freude sollte nicht lange dauern: Nach einem guten Jahr Erdenzeit, an einem Herbstmorgen, starb der Sohn, und am Abend desselben Tages setzten die Wehen der Frau ein; erst in der dritten Nacht fiel ein Kind auf die Erde, wieder ein Junge, Badar, und zur selben Stunde starb die Mutter. Wie die Sitte ist, brachte man sie gleich weg, und als man zurückkam, hörte man das Kind so laut schreien, daß es einem durch Mark und Bein ging. Tante Galdarak versuchte, ein Stück rohes Hammelschwanzfett in seinen Mund zu stecken, aber es konnte und konnte nicht daran lutschen. Die anderen saßen ringsum, am lautesten weinte der Großvater des Unglückswürmchens; seinem Vater, unserem Vater, aber blieben die Augen trocken. Am Morgen ritt er, das arme, klitschige Wesen im Brustlatz, zu seinen Schwiegereltern, er wollte es von seinen Augen 83
wegschaffen, denn es kam ihm wie die Ursache allen Unheils vor. Schon am Nachmittag kam er zurück. Seine Jurte glich ihm schon von außen einem toten, verlassenen Wesen: Die Filztür hing still herab, der Dachlukenfilz war zugezogen, kein Kind spielte und kein Pferd stand in der Nähe. Durch den Kopf des unglückseligen Besitzers dieser unglückseligen Jurte schoß ein Gedanke, der in Blitzesschnelle zu einem Entschluß reifte: Auch sie, die Jurte muß weg! Er stieg vom Pferd ab, ging auf sie zu, nahm das Feuerzeug vom Gürtel, und bei dieser Handlung dachte er eisern: Ich selber gehe zu den Lamas und werde ihr alter Schüler! Er schob an drei, vier Stellen je eine daumengroße pulvergetränkte Watte, die an einem Ende brannte, unter den Filz. Dann trat er zurück und wartete. Erst kam Rauch und viel später Flamme auf, er ließ keinen an die brennende Jurte heran. Die alten Ailfrauen jammerten: »Und das noch dazu: Der Ärmste ist von Sinnen!« Einige ergriffen schon die Flucht, einige kamen mit Lasso und Fesseln auf ihn zu, Großvater aber jagte sie davon und schrie seinen Sohn an: »Du denkst vielleicht, einem Dreißigjährigen kann die Sonne untergehen?!« »Ja, das dachte ich damals«, erzählt Vater weiter, »mir zur Strafe wollte ich das mit dem Kloster tun. Erst bewilligte mir Vater diesen meinen Entschluß nicht, dann aber, als er sah, daß ich zu einer Wiederheirat nicht zu bewegen war, zwei Jahre waren inzwischen verflossen, gab er meinem Willen nach und meinte: ›Na, dann werde meinetwegen auch Lama, aber versuche nicht ganz so schlimm das eine zu reden und das andere zu tun wie das rotgelbe Ungeziefer, das vom Schweiß und Blut des Volkes lebt!‹ Ja, so war dein Großvater zu den Schülern Buddhas eingestellt, während er den Schamanen zugetan war und sie die Kinder des Himmels nannte. Also kam ich ins Kloster, fast froh wieder, aber als ich darin stand im Tempel, in der Halbfinsternis, ringsherum die Messing84
und Lehmfiguren mit den kugelrunden Bäuchen und aufgesperrten Mäulern, den betenden dürren, krummen Menschen und den kahlköpfigen und fettglänzenden Lamas, die Frömmigkeit vortäuschen und dabei aber ihre Gier kaum zu zügeln vermochten, weil sie immer wieder nach den Opfergaben der Gläubigen schielten, wußte ich, es war nichts für mich. Sogleich verließ ich das Kloster und ritt zurück, eilig, wie einer, der viel versäumt hatte. Vier Jahre vergingen wieder. Dann ließ ich mich überreden zu einer Wiederheirat. Eine neue Jurte wurde zusammengestellt, deine Mutter kam; Kinder gab uns der Himmel, aber die Hälfte ging uns wieder verloren, fünf Knoten blieben im Zügel eurer Holzwiege. Was das zu bedeuten hat, weiß nur einer, der selbst sein Kind zu Eis und Stein werden sah und es in die Erde grub. Fünfmal brach uns also das Herz noch, fünfmal widerfuhr uns das schwerste Leid, aber ihr bliebt uns noch, und da war auch das schwerste Leid noch zu ertragen, und da konnte man mehr froh sein als traurig. Das andere, daß ich nicht bestraft wurde und mein Name keinmal bei den schlechten Beispielen zu hören war, daß ich mein Plansoll gegenüber dem Staat immer erfüllte und man mir aufs Wort glaubte, aber auch: daß ich es nicht bis zu einem Orden oder einer Medaille gebracht habe, weißt du. Du weißt ebenso, daß ich gern getrunken habe. Es gibt nicht mehr zu erzählen. Alles andere weißt du.« Die Sonne geht rot unter. Ein lauer Wind folgt. Die Kinder spielen bis in die Nacht hinein. Dann fallen sie erschöpft um, kaum daß sie die Jurtenschwelle betreten. Wir ziehen sie aus, legen sie auf ihr Lager und decken sie zu. Es ist eine stille Nacht, die sehr alt sein muß. Das Wiederkäuen der Schafe und Ziegen draußen hört sich wie ein fernes Gesumm an. Die Jurte atmet, die Kinder atmen.
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Der achte Tag
24. August Mutter hat ihren Lawschak aus feuerroter Chinaseide angezogen, den sie, als ich noch zu Hause war, zu Festen trug und den ich seitdem bei ihr nicht wieder gesehen habe. Es ist alles so feierlich an diesem Morgen: Die junge Sonne scheint auf die Bergspitzen und die Hütten und die Jurten und die Tiere und die Menschen, so daß alle aussehen wie zu der einen Hälfte mit Milch und zu der anderen mit Tinte Übergossen. So sehen auch die seidenschmucke Mutter, der Spritzer und die Teekanne in ihren Händen und der Weihrauchstand aus dem schweren Felsenbrocken aus; es ist so windstill und doch so kühl noch in der Luft, daß der Rauch des brennenden Wacholders gleich einem durchsichtigen blauen Faden so senkrecht in den Himmel emporsteigt wie durch ein unsichtbares Rohr. Mutter spritzt den Tee lange an diesem Morgen, ihr Gesicht ist feierlich still, ihre Augen schwimmen in Tränen, ihre Lippen murmeln Sprüche, die dem Altai gelten. Ich habe diese Sprüche einst für Gebete gehalten. Aber die Sprüche, die meine sechsundsechzigjährige Mutter mit Tränen in den Augen zu den Bergen und Steppen und Flüssen und Seen und dem Himmel spricht, sind keine Gebete, sie sind es nicht trotz des Tees, den sie spritzt, und des Wacholders, der brennt und Rauch in den Himmel schickt. Denn das Wesen, das in ihren Bergen und steppen und Flüssen und Seen und ihrem Himmel wohnt und zu dem sie mit Tränen in den Augen spricht, gleicht weder einem Buddha noch einem Christus, noch einem Mohammed, noch sonst einer Gottheit. Es hat eher Ähnlichkeiten mit dem Ding, das die Dichter aus früheren Zeiten in sich spürten und zu dem 86
sie bald Genius, bald Muse sagten: Es ist ein anderes Wort für Natur, die lebt und die Gesellschaft des Menschen sucht und die in der Sprache der Bergbewohner mit Altai zusammenfällt. Wir trinken unseren Morgentee in feierlicher Stille. Da die Erwachsenen still sind, bleiben auch die Kinder leise. Nach dem Tee verlassen die Eltern wie auf einen Wink die Jurte. Nordshmaa und ich bleiben sitzen und schauen dem Spiel der Kinder zu. Der flache Eßtisch aus Lärchenholz ist die Steppe, die getrockneten Quarkstücke darauf sind die Schafe; Lämmer gibt es, Ziegen und einen Hund noch. Vater kommt: »Geh, Galdar-Urug, ins Haus der Mutter.« Ich finde sie auf dem Rand von Vaters Bett, die Hände auf dem Schoß und den Blick gesenkt, wartend. »Hör zu, Dshuruk«, sagt sie, ohne den Blick zu heben, und dann beginnt sie zu erzählen: »Ich wurde in der Nacht zum Schagaa geboren. Da war noch das Jahr des Roten Schafes, und wenige Stunden später, am ersten Morgen des Gelben Affen, war ich schon zwei Jahre alt. Der Vater von Stalin und allen meinen älteren Geschwistern, ich meine den Mann meiner Mutter, der Lobtschaa hieß, war drei Jahre vorher gestorben, und trotzdem wurden ich und alle nach mir Geborenen viele Jahre später, als die Papiere kamen, die von jedem einen Namen und Vatersnamen verlangten, nach ihm genannt, denn meine Mutter war nicht wieder verheiratet. Ich wuchs bei meiner Großmutter auf, zu der ich nicht Enej, sondern Awshyjm sagte. Was das zu bedeuten hat, weiß ich nicht. Awshyjm und ich lebten für uns, hatten eine eigene Jurte und eigene Herden. Sie erzählte, ihr Vater wäre ein Fürst gewesen, und daher hätte man sie zu viel mit Tee und Eiszucker gefüttert. So wären ihr die Galle und die Zähne verdorben. Nun verbot sie mir beides. Dafür gab sie mir morgens auf nüchternen Magen kaltes Quellwasser zu trinken. Zum Kauen gab sie mir Baumharz mit verschiedenen Farben und sagte, daß dies eine nützlichere Beschäftigung sei als Zuckeressen. Sie holte mich 87
am hellichten Tage vom Spiel weg, steckte mich ins Bett und saß selber in der Tür, mit einer Rute in der Hand, die sie drohend hob, wenn Kinder in die Nähe unserer Jurte kamen. Da wußten diese Bescheid und machten sich davon. Ich durfte aufstehen, wenn ich mich ausgeschlafen hatte, und da war mir der Tag noch einmal so schön wie am Morgen. Awshyjm merkte meine gute Laune und lachte: ›Siehst du, so bleibt man jung und so lebt man lange!‹ Aber sie selbst lebte nicht lange, vielleicht, weil die fürstlichen Eltern sie zu sehr mit Tee und Eiszucker gefüttert hatten. Sie wurde nur achtundfünfzig, obwohl ich sie als einen sehr alten Menschen in Erinnerung habe. Aber das ist wahrscheinlich jedem Kinde eigen, die Älteren für noch älter zu halten als sie sind. Auch du wirst mich vor zehn, ja vor zwanzig Jahren für einen alten Menschen gehalten haben. Awshyjm hatte die Eigenschaft, sich zu ärgern, wenn sie Worte hörte, die sie daran erinnerten, daß sie alt war. Sie hatte es gern, wenn man sie duzte, sie behauptete, daß die Tuwinen sich seit aller Ewigkeit geduzt, während sie sich nur mit Geistern, Fürsten und Wildfremden gesiezt hätten. So sagten alle in der Sippe, selbst ihre Schwiegertöchter, du zu ihr, und man sagte zu ihr Sie, wenn man sie kränken oder seinen Spaß mit ihr treiben wollte …« Einmal saßen die beiden in ihrer Jurte, die Enkelin, aus der einmal unsere Mutter werden sollte, riffelte und klopfte die Wolle, und die Großmutter drehte daraus auf der Spindel Garn. Da kam ein fremder, junger Mensch herein und sprach laut und feierlich: »Seien Sie gegrüßt, Gadaj!« Die Großmutter zuckte zusammen, ging in die Höhe, die Spindel in der Hand, und dann schrie sie: »R-r-raus! R-r-raus, raus, raus!« Der Fremde schien nach Atem zu ringen, dabei standen ihm Mund und Augen weit auf in dem schmalen blassen Gesicht, er zögerte erst, aber dann ging er rückwärts, von der nadelscharfen Spitze der Spindel getrieben. Und als er draußen war, schrie die 88
alte Frau: »Hut ab und niederknien! Weißt du Schuft, wer vor dir steht? Eine Fürstentochter! Hut ab! sag ich dir und niederknien!« Es gab eine große Verwirrung, dann aber riß der arme Kerl, nun blaß und zittrig, den Hut vom Kopf und kniete gehorsam nieder! Indes eilten von allen Seiten die Ailleute her und fragten, ob ein Dieb oder gar ein Räuber ertappt worden wäre. »Ein viel schlimmerer Hund!« schrie die Frau. »Was hätte ich gegen einen armen Dieb gehabt! Er hätte mir höchstens einen Strick oder ein paar Quark- und Käsestücke gestohlen, und davon wäre ich auch nicht ärmer geworden! Nein, liebe Leute, er hat mich Gadaj genannt!« Und bei dem von ihr gehaßten Wort begann sie zu heulen. Ein lautes Gelächter war die Antwort, einige Frauen fielen sogar um, der schuldlose Schuldige war zwar wieder aufgestanden, stand aber wie angewurzelt, schien nicht zu wissen, ob er mitlachen solle oder nicht. Von da an wurde Gadaj zum Spitznamen der kindischen Großmutter. Und die Enkelin nannte man die Heilige der Gadaj. Das Kind hatte es nicht leicht mit dem Spitznamen. Aber noch mehr daran zu schaffen hatte die Großmutter. Sie verfeindete sich sogar mit unserem Daaj Stalin, der damals noch nicht so hieß. Denn jener war in jungen Jahren ein verrufener Schalk, und so verstand er es, mit der alten Frau seinen Scherz zu treiben. Mal versteckte er sich in Dämmerstunden in der Jurte und sagte, wenn sie von draußen kam: »Seien Sie gegrüßt, Gadaj!« Mal kam er nachts wie ein Betrunkener torkelnd und grölend in die Jurte, und wenn die Frau, nachdem sie im Herd lange nach der Glut gesucht hatte, endlich die Fettleuchte anbekam, sprach der Schalk seinen bösen Spruch und sprang laut herausprustend davon. Die Frau, die sonst ein weiches Wesen hatte und zu allen freundlich war, fand kein gutes Wort für ihren eigenen Enkel. 89
»Der Leichtsinn«, sagte sie, »den dieser herauskehrt, wird sehr bald zu etwas ganz anderem werden, ihr werdet es schon sehen!« Sie benannte nicht, was dieses Was-ganz-andere sein sollte, aber es stimmte: Aus dem leichtsinnigen Jungen wurde später ein düsterer Mensch, dessen Wesen von Härte und Geiz bestimmt war. Allein die alte Frau sagte dies alles dem Enkel nicht, so sehr sie in den Stunden ihres Wutausbruches auch mit ihm schimpfte. Und dafür hatte sie wohl auch ihren Grund, denn sie hatte fünf, sechs Yakkühe, an die zwanzig Ziegen und ein einziges Pferd, einen Schimmel, der schon in der frühen Kindheit der Mutter ein ziegenweißes Fell hatte, und das war das ganze Hab und Gut der beiden. Lastochsen und Brühhammel gab ihnen unser Daaj. Die Großmutter starb, als Mutter fünfzehn war. »Das war in jenem schlimmen Jahr. Es fällt mir schwer, davon zu berichten. Aber Awshyjm pflegte zu sagen, daß eine Sache halb zu erzählen ein Vergehen sei, wie einem eine halbleere Schale zu reichen. So darf ich wohl, einmal angefangen, auch vor schweren Dingen keinen Halt machen. Die Weiße Pest war ausgebrochen, so nannte man damals die Pocken. Das war im Spätwinter. Das Land wurde still. Keiner kam und keiner ging. Manchmal erstieg einer den Gipfel und hielt stundenlang Ausschau nach den anderen Ails. Manchmal hieß es, es sei Rauch zu sehen, manchmal, es sei kein Rauch zu sehen. Es gab keine Tränen, keine Klage, es wurde nur geflüstert, und die Blicke richteten sich nach oben. Zu den Nachbarsjurten ging man nicht, man hielt nur Ausschau und lauschte und merkte bald, wenn wieder einer fehlte. An jeder Jurte stand ein gesattelter Ochse Tag und Nacht, die Toten wurden in aller Eile weggebracht. Die Herden ließ man nur dorthin, wohin andere nicht kamen. In der Jurte nebenan starben meine zwei Brüder. Ich bekam es mit, obwohl ich sie nicht sah, obwohl niemand ein Wort darüber 90
sprach, eine Träne weinte. Die Brüder blieben aus, zuerst der achtzehnjährige Dshynlyp, dann der sechzehnjährige Danny, und es wurde still und stiller, und daran merkte ich, daß sie gestorben waren. Es war am sechzehnten Tag des ersten Frühlingsmonats. Am Vorabend hatten sich alle Ailleute, die noch am Leben geblieben waren, vor dem Vollmond verneigt. Ich ging die Schafherde hüten. Es war die hohe Zeit der Luftspiegelungen, es sah aus, als taute die Erde und fließe davon samt den Steppen und Tälern und Bergen. Es blies ein lauer, blauer Wind, die letzten Flecken Schnee, die hier und da noch geblieben waren, gleich schläfrigen Augen, tauten zusehends weg. Es war ein langer, schwerer Tag. Ich hatte seltsame Gedanken. Ich kam mir wie einer der letzten Menschen vor, die auf der Erde noch Übriggeblieben waren, und es war besser zu sterben, um nicht der allerletzte zu werden. Ich begann zu singen, weil mir meine Gedanken Angst einjagten und ich sie loswerden wollte. Aber je länger und lauter ich sang, desto größer wurde meine Angst, und doch konnte ich nicht aufhören zu singen, ja zu schreien. Das war schlimm. Erst glaubte ich dumpfe Schmerzen in der Kreuzgegend zu spüren, darauf schienen sie sich längs des Körpers auszubreiten, und schließlich spürte ich sie vom Scheitel bis zur Sohle wie Ahlstiche unerträglich deutlich. Es wurde immer dunkler vor meinen Augen, und da begann ich die Herde heimwärts zu treiben. Dann war mir plötzlich, als ob ich in eine Höhle geraten war, es war stockfinster und stickig, und manchmal glaubte ich rotgrüne Flecken vor mir wahrzunehmen und erdrückend schwere Wesen auf mir kriechen zu spüren, ich war taub und stumm, und das dauerte eine Ewigkeit. Dann hörte ich wie aus einer großen Entfernung Stimmen, und später erkannte ich sie und wußte, daß ich krank war. Langsam kam ich zu mir. Schmerzen spürte ich keine mehr. 91
Was ich spürte, war Hunger: ein so schlimmer Hunger, daß ich dachte, ich sterbe. Allein, bis ich den anderen verständlich machen konnte, woran ich litt, verging viel Zeit. Dann konnte ich wieder sprechen. Aber man gab mir nur schluckweise zu essen und zu trinken. Es war schwer, einen kleinen Schluck hinunterzubekommen, mein Hals war wund, er schien innen von Hunderten winziger Dornen bespickt zu sein. Überhaupt war mein ganzer Körper wund, keine Nadelspitze hätte mich an gesunder Haut zu treffen vermocht. Die Haare fielen aus, und die Haut darunter begann, sich vom Kopf abzulösen, sie schuppte sich von oben nach unten, gegen Herbst fielen mir von den beiden Sohlen zwei Klumpen aus Hornrinde ab, jeder so groß wie ein mittlerer Melkeimer, und die neue Haut, die unter der Hornrinde hervorkam, war schleimig und blaßrot wie die eines verfaulten Fisches. Aber das war schon das Ende meiner Krankheit. Als ich wieder sprechen konnte, bettelte ich den erstbesten, den ich in meiner Nähe spürte, um was Eß- und Trinkbares an. Dann fragte ich, warum Awshyjm nicht da wäre. Die Antwort lautete, sie wäre ins Kloster geritten, um zu beten, und würde dort bleiben, bis ich genäse. Da wußte ich Bescheid, aber ich hatte keine Kraft zu weinen, ich lag nur lange still. So erfuhr ich, daß ich schon seit anderthalb Monaten gelegen hatte. Nach und nach gab man mir mehr zu essen und zu trinken und nannte mich Gümedek, da ich, wieviel ich auch aß und trank, nimmer satt wurde. Später weinte ich und bat die Leute sogar: ›Habt doch Erbarmen mit eurer armen Gümedek und gebt ihr etwas zu essen und zu trinken, liebe Leute!‹ Man hatte Erbarmen mit mir und gab mir Milchwasser und Sauermilch und Ziegenbrühe schalen- und krugweise, allein mein Hunger wurde und wurde nicht gestillt. Dann kam das Jucken. Und das war noch schlimmer als der Hunger, denn dagegen gab es kein Mittel. Da ich mich bei Beginn des Juckens gekratzt und deswegen an mehreren Stellen geblutet hatte, zog man meinen Händen Fäustlinge aus dickem 92
Schaffell an, aber gleich in der ersten Nacht zerriß ich sie, denn Zähne hatte ich ja wie Messer, und ich zerkratzte mich noch schlimmer. Man band mir die Hände an der Gitterwand der Jurte fest, und später auch die Füße dazu, da ich verstand, sie statt der Hände zu gebrauchen. So lag ich den ganzen Sommer und bat den Altai Tag und Nacht, mich doch zu sich zu nehmen. Aber er nahm mich nicht. Er schien noch manches mit mir vorzuhaben. Also blieb ich am Leben und kam eines Tages wieder auf die Beine. Unser Ail lagerte die ganzen Monate des Frühjahres und des Sommers im Winterlager, und nun war tiefer Herbst. Die Menschen waren entkräftet und schweigsam, weder Salz noch Tee, weder Mehl noch Reis gab es, denn da niemand gekommen war, hatte keiner von unserem Ail gewagt, irgendwohin zu reiten. Von den Ailleuten war nur die knappe Hälfte übriggeblieben. Unser Ail war aber bei weitem nicht zu sehr betroffen, denn gegen Winter kam die erste Botschaft der Nachbarn, und wir erfuhren, daß einige Ails gänzlich ausgestorben waren. Die Herden waren herrenlos auf die Weide gegangen, und so hatten andere erkannt, daß im Ail niemand mehr geblieben war. Als die Abgesandten des Fürsten zum Ail kamen, waren die Yakkälber in Dshele und die Lämmer in Hone längst verhungert und vertrocknet, und sie legten aus Angst, angesteckt zu werden, von außen Feuer an die Jurten. Unsere Jurte stand längst nicht mehr. Ich lebte mit meiner Mutter und meiner älteren Schwester Arsyn in deren Jurte. Stalin hatte schon eine eigene Jurte, Doktugu war noch nicht geboren, und von meinen vier Brüdern, zwei älter und zwei jünger als ich, war keiner am Leben geblieben. Nun begann die bitterste Zeit für mich. Ich will meiner toten Mutter nichts Schlechtes nachreden. Aber ich muß dir schon sagen: Sie verfuhr ein bißchen zu hart mit mir. Sie schlug mich manchmal, daß ich blutete und das Bewußtsein verlor. Aber das war trotzdem nicht das Schlimmste. Das 93
Schlimmste war: Sie sagte, der Tod hätte mich nicht genommen, da ich für ihn zu häßlich gewesen sei. Ebenso sei ich es auch für die Männer. Ich war vor ihr schuldig, weil ich am Leben geblieben war, während meine vier Brüder starben. Der darauffolgende Winter fiel äußerst hart aus: Es schneite, mit jedem Schnee nahm die Kälte zu. Es herrschte Futtermangel, die Tiere gingen ein. Und die Mutter schimpfte, meinetwegen hätte der Ail nicht vom Winterlager wegziehen können, und so hätte das Vieh das junge Gras schon im Sommer weggefressen. Wieder war ich die Schuldige. So bin ich halt ein Pechvogel, dachte ich und wurde mit jedem krepierenden Tier immer kleiner und unglücklicher. Allein meine Schwester, Serwejs und Tawindajs Mutter, nahm mich vor der harten Mutter in Schutz und nannte mich kosend ihre arme Gümedek – so nannte sie mich noch auf ihrem Totenlager viele Jahre später. Ihr, ja ihr allein verdanke ich es, daß ich keine Dummheit gemacht habe, in meiner Demütigung, denn die ersten Tage, nachdem ich mich im Spiegel gesehen hatte, dachte ich, besser, ich erhänge mich. Und eines Nachts weckte sie mich und flüsterte: ›Freue dich, kleine Gümedek, dein Haar ist wieder am Wachsen‹. Ich fuhr mit der Hand über den Kopf und fand, daß tatsächlich Haarspitzen zu fühlen waren. Ich weinte, und das waren meine ersten glücklichen Tränen seit langem. Als der Sommer kam, hatte ich Haare auf dem Kopf, wie ein Nestling sie am Körper hat, und die hohlen Narbenlöcher begannen, sich mit gesunder Haut zu füllen, und ihre roten Ränder verblaßten. Mein Gesicht glich nicht mehr der Kehrseite eines durchlöcherten Siebs. Aber da kamen Leute mit Aragy und Byschtak und führten meine Schwester weg, und das war nicht gut für mich. Denn nun lebte ich mit meiner Mutter allein, vor der ich mich mehr fürchtete als vor Tod und Teufel. Ich sehnte mich weg von der fremden Jurte und träumte im stillen von einer Heirat, denn nur sie konnte mich erlösen. Aber 94
die Leute, die mich für ihre Söhne damals geworben hatten, als ich noch meine langen Haare und mein glattes Gesicht hatte, blieben still, weder der eine noch der andere kam je wieder. Dafür kamen jetzt andere, solche, die sich früher an mich nicht herangewagt hätten, und sie erzählten davon, daß sie mich heiraten würden. So etwas hat bei einer, wie ich es damals war, Wirkung und dann auch Folgen. Ich wurde stets betrogen, dreimal sogar sehr, denn da endete meine Hoffnung jedesmal mit einem vaterlosen Kind. Meine Haar waren längst wieder lang und dicht, mein Gesicht heil und hell, unscheinbare Narben wie Hunderte von winzigen Milchspritzern waren freilich zurückgeblieben, und sie haben mein Gesicht bis heute nicht verlassen. Aber jetzt gab es andere Gründe, warum mich die Männer verschmähten: Ich war Mutter von drei Kindern, alles Jungen, und meine Jugend hatten, wie man so sagt, die Hunde gefressen.« Eines Tages kam Vater, und er verlangte von ihr nicht mehr und nicht weniger, als daß sie zu ihm gehen und seine Frau werden sollte. Sie war sprachlos, denn da war sie schon dreiunddreißig und hatte jeden Gedanken an eine Heirat längst aufgegeben, und dann war Vater ein Mann, der Achtung genoß und der jedes achtzehnjährige Mädchen hätte heiraten können, obgleich er schon sechsunddreißig war und in diesen Jahren so manches hinter sich gebracht hatte. Außerdem hatte sie Bruder zu ihm gesagt, weil ihre Mutter und sein Vater Kinder eines Vaters waren, was allerdings nicht so sehr ins Gewicht fiel, denn zu der Zeit durften Kinder von Geschwistern miteinander heiraten. Sie schämte sich trotzdem sehr. Aber was soll man da viel von Scham reden? Denn bald darauf kam er mit einer der Aufrauen, mit Aragy und Byschtak und einem zahmen Pferd für die Kinder. Sie legte sich an, was sie an Seide und Silber hatte, und bestieg das Brautroß. Ihr Ail war in Suglug Schandshyg, der seine in Dshedi Geshig, sie brauchten für die Strecke nicht 95
soviel Zeit wie ein Tee zum Kochen, so schnell waren sie da. Ihr Pferd hielt auf dem viereckigen, blendend weißen Filz, der an der Sonnenseite der Bödej ausgebreitet dalag. Unsere Großmutter, ihr Güüj, kam ihr mit einer Schüssel Milch in der Hand entgegen. Unser Großvater, ihr Daaj, nahm ihr den vierjährigen Dsajaaty vom Sattel herunter, küßte ihn und weinte laut wie ein Kind. Sie wußte, daß sie von derselben Stunde an nicht schlechter leben würde als andere Menschen, und ihr wollten die Tränen kommen. Aber einer Braut ziemt es nicht, bei der Ankunft zu weinen – so versuchte sie zu lächeln, wenngleich sie schwitzte. »Das ist alles. Oder warte, ich vergesse die Kinder. Schogshur, den Dreizehnjährigen, gab die Großmutter nicht her, er sollte als ihr Jüngster bei ihr bleiben und später Jurte und Vieh von ihr erben. Sendishep, den Achtjährigen, wollten Stalins behalten, da er gern bei ihnen war und sie auch keinen Sohn hatten. So kam ich nur mit dem Jüngsten zu Vaters Jurte, aber wir galten von Anfang an als eine Familie mit vier Kindern, das vierte war Badar. Dann wurde Torlaa geboren, das einzige Mädchen unter den elf Kindern, die Vater und ich hatten, und im darauffolgenden Jahr schon, im Herbst, Galkagan. Du kamst drei Jahre nach ihm, im Spätwinter zur Welt. Vor dir aber waren Zwillinge, und nach dir war wieder ein Junge. Aber von den letzten vieren ließ uns der Himmel allein dich, und dann nahm er uns auch weitere zwei: erst Dsajaaty, dreizehnjährig, und dann Schogshur, dreiundzwanzigjährig. Ich muß wohl zufrieden sein. Nur noch ein Wort zu meiner Mutter. Sie war zu meinen Kindern nicht so, wie sie zu mir gewesen war, und so muß sie doch ein guter Mensch gewesen sein. Sie hatte eine Jurte voller Kinder, dann aber hatte sie sie nicht mehr. Da kann kein Mensch so bleiben, wie er gewesen ist, und ich war ihr wohl am nächsten unter der Hand, daß sie ihre Wut an mir auslassen konnte. War es so oder war es nicht so, ich habe ihr nichts nachzutragen, denn die Wahrheit war: Mein Leben verdanke ich ihr. So war 96
ich es, die ihr in den letzten Jahren das Leibzeug von Läusen und vom Schmutz frei und in der letzten Stunde den Kopf aufrecht hielt. So. Und nun ist es wirklich alles.« Am Abend sitzen wir alle um den Herd versammelt, und darüber kocht mit dem harnigen Duft des Hammelfleisches ein Nudeleintopf. Tür und Dachöffnung der Jurte stehen offen, und der letzte Schein der Sonne, der vom Himmel auf die Herbststeppe fällt, macht einen zögern, die Kerze anzuzünden. »Das also war es, Galdar-Urug«, sagt Vater, »was wir dir gern erzählt haben wollten, damit in dir von unserer Welt ein reiches, wahres Bild zurückbleibt.« Mutter hockt, die Schöpfkelle in der Hand, und nickt vor sich hin. Der Feuerschein, den der Herd durch den Spalt der Ofentür hinausschickt, läßt ihr Gesicht wunderbar weich strahlen. In diesem Augenblick fällt mir kein lieblicheres und schöneres Gesicht ein.
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Der neunte Tag
25. August Der Himmel ist seit der Nacht bewölkt. Die Kraniche segeln mit steifen Flügeln flußab- und aufwärts und schreien wie Wesen, denen ihr Platz auf der Erde streitig gemacht worden ist. Mutter ist zu ihrem wattierten alten Lawschak zurückgekehrt und stochert in dem Dunghaufen am Hürdenrand, die Kinder schaffen in einem alten Eimer die herausgefischten Stücke in die Jurte. Vater ist mit Fell eingehüllt und prophezeit Schneewolken und Wind. Das Pferdefell und der Gewehrlauf fassen sich klamm an, aber ich breche auf. Mein Pferd ist mir neu, mein Gewehr alt; was neu ist, hat Tücken, hörte ich einmal aus einem alten Mund. Ein neues Pferd, weil mein altes, Vaters geweihter Schimmel, seit vorigem Herbst verschwunden ist. Vater hat dieses gekauft, für den Preis eines Kamels, denn er hat es ohne Pferd nicht ausgehalten, und außerdem hat ihm der junge Wallach gut gefallen. »Bist du mit ihm bis zur Fähre geritten, wirst du mir es verzeihen können, daß ich ihn so teuer gekauft habe«, hat er mir gesagt, als er die Sattelgurte fester zog. Ich steige an der Fähre ab, betrachte mir das Pferd mit dem Preis eines Kamels näher. Es macht keinen schlechten Eindruck auf mich, die zahmen Augen erwecken Vertrauen. Ich gehe, die Leine an der Hand, an Bord, und der Fährmann sagt, mit dem Kopf auf das Pferd deutend: »In Ordnung, was?« Ich antworte: »Vater meint.« »Du etwa nicht?« »Ich muß mit ihm wenigstens die Strecke eines halben Tages 98
reiten, bevor ich ein Urteil über es fälle!« Der Fährmann löst die Fähre vom Pflock. Die Bretter knarren dumpf. Die Überfahrt dauert nur Minuten. Ich reite später durch das Gebüsch, über tönende Wiesen, reite an kasachischen Jurten vorbei, die entlang des schalen gelben Streifens zwischen Fluß und Steppe hier und da ruhen, gleich glänzenden Schneegipfeln, die aus der Erde emporkeimen, und vor denen Kinder und alte Leute stehen, starr wie die tausendjährigen Steinmenschen, die in der Steppe vereinzelt oder zu Scharen stehen und hervorschauen mit ihrem unverwandten, groben Blick. Der Blick der Kinder und der Alten, der auf mich zielt, ist quicklebendig, und in ihm wohnt ängstliche Neugierde. Weiter reite ich an Gök Meshelik, dem Blauen Hügel, vorbei, an dem toten Stück Erde, auf dem nicht weniger Gras wächst, Sperlinge tschilpen und Hamster herumrennen als anderswo, aber Gök Meshelik steht Wache vor einer Totenstadt, der ersten Totenstadt, die ich auf dieser Welt sah. Kasachenfriedhof: Über den meisten der Gräber wölbt sich ein Hügel aus locker aufgehäuften Steinen, und über dem Hügel hängt an der Spitze einer Rute ein Stückchen Sperrholz, die Sonne oder den Neumond darstellend, die den Toten den Weg in das moslemische Paradies erhellen sollen. Das sind die ältesten Gräber. Dann sind da welche, die von vier Wänden eingeschlossen sind, und sie sind entweder aus rindigen Lärchenstämmen oder aus rohen Ziegeln. Die mit Lärchenwänden sind die älteren, und von der Seite gesehen unterscheidet sie nichts von den Wohnhütten, allein diesen Totenhütten fehlen Tür und Fenster und Dach. Ein paar Lassowürfe hinter der Totenstadt beginnt eine Siedlung, ein Durcheinander von ein paar hundert Holz- und Lehmhütten, Jurten, Ställen, Zäunen und einigen Dutzend kalkweißen Häusern, deren blecherne Dächer mit allen möglichen Farben beschmiert sind. Hier und da zwischen den Häusern und Hütten steht wiederkäuend eine Kuh mit halbgeschlossenen 99
Augen, und da weidet auch eine winzige Herde Zicklein, manchmal mit einem oder zwei Lämmern, obwohl in dem mehligen hellen Sand auf dem totgetretenen Kiesboden die Augen des Menschen nicht ein Grashälmchen zu entdecken vermögen. In fast jeder Gasse fährt ein Motorrad, und es sind ihrer so viele, daß sie die Luft zu einer dampfenden graublauen Lösung verfärben, trotz des Winds. An einem Hang, der mit Pfriemengras bewachsen ist und die Scheidelinie zwischen Flußtal und Berg bildet, bringe ich mein Pferd zum Stehen und steige ab. Das Rasten ist eine Jägergewohnheit. Denn gleich beginnen die Berge und mit den Bergen zusammen auch die Murmeltiere. Ich stecke Patronen in den Gurt am Gewehrkolben und eine auch in den Gewehrlauf. Dann suche ich nach einem Ziel, ich will das Gewehr, aber auch meine Augen und schließlich auch das Pferd auf seine Zahmheit prüfen. Da sehe ich einen Ziegenschädel, der ausgeblichen ist; ich schätze die Entfernung auf hundert Meter und beginne zu zielen, allein da wird der Schädel zu einer verschwommenen hellen Masse, und ich kann nicht mehr erkennen, wo die Augenhöhle sein soll, in welche ich das Blei hineinschicken wollte. Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß ich mich an das Murmeltier noch näher heranschleichen werde, so stehe ich auf und gehe auf die Zielscheibe zu, gebückt, fünfundzwanzig Schritte, dann hocke ich mich hin, ziele und gebe den Schuß ab. Das Gewehr ist in Ordnung, und auch das Pferd. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann sind es vielleicht meine Augen. Die Murmeltiere entdecke ich immer erst, wenn sie zu ihrem Bau traben, und da ist es schon zu spät. Sie schleppen ihren fetten Leib mit Mühe bis zum Baueingang und bleiben liegen, solange ich nichts unternehme. Sobald ich aber eine Andeutung mache, abzusteigen oder das Gewehr von der Schulter herunterzunehmen, sind sie weg, und an der Bewegung, wie sie in der Erde verschwinden, ist etwas wunderbar Geschmeidiges, das Wasserund Kriechtieren eigen ist. Mein Versuch, mit dem Wedel, dem 100
handgroßen weißen Yakschwanz mit der dünnen schwarzen Strähne in der Mitte, bei ihnen Neugierde zu erwecken, mißlingt; auch den Murmeltieren scheint die angeborene Neugierde abzustumpfen, wenn sie alle Tage immer wieder dasselbe sehen. Ich tröste mich mit dieser kleinen, vorläufigen Erkenntnis und beschließe, Betrachter zu bleiben, solange ich den Pfad mit wedelüberdrüssigen Murmeltieren nicht verlassen habe. Es lispelt im Gras, es raschelt im Kies, sonst ist Ruhe auf der Erde, da samt den Murmeltieren die Ziesel und Hamster und auch die Sperlinge und Rebhühner schweigen. Über der Erde aber, über den Felsgraten, heult und dröhnt es, denn der Wind ist inzwischen in Schwung gekommen, und in dem kochenden und schäumenden Wolkenmeer, das die Wolkenberge, die vom Westhorizont schwankend herziehen, immer gieriger zu verschlingen scheint, wird die Schlacht um den Ausgang des Tages geschlagen; zwischen Wolken und Felsen segeln Adler, begleitet von kreischenden Habichten, und ausreißende Schwärme anderer Vogelarten füllen die Luft. Gleich Splittern mehrerer Explosionen fliegen sie alle durcheinander bis auf die Berghühner, die ihren Keil um keinen Preis aufgeben und darum auch ehern und unbezwingbar wirken. Die letzte Höhe ist erklettert, der große gelbe Bergrücken tut sich vor mir auf. Wäre der Himmel klar gewesen, hätte ich nun bis an die Enden der heimatlichen Erde und des heimatlichen Himmels sehen und auch die beginnenden Zipfel fremder Erden und Himmel wahrnehmen können. Aber da sind die Wolken, die über den Bergen hängen und mit jedem Augenblick tiefer sinken, schäumend und brodelnd, gleich einem Meer, das die Erde zu überfluten droht, und da ist nicht einmal zu erkennen, wo die Schwarzen Berge beginnen und wo sie aufhören. Ich reite gen Osten auf dem Bergrücken mit dem huckligen und buckligen Kiesboden. Alle paar hundert Pferdeschritt wird ein Wiesenkessel sichtbar, gleich einem dunklen Auge der Erde. Dann gibt es zur Nordseite des Rückens lange schmale Wie101
sen, wie buschige Brauen zu den dunklen Erdaugen. Unter dem dunklen Wiesengras glänzt manchmal Wasser wie eine versteckte Träne hinter den Wimpern. Die Wiesen sind eine Art Oasen, die sommers von Murmeltieren und Zieseln und winters von Pferden und Yaks abgegrast werden. Die Rudel der Murmeltiere, die sich aus den Wiesenkesseln zerstreuen und in alle Himmelsrichtungen ausreißen mit tapsigem Trab und schrillem Gekläff, machen mich zittrig. Am Sattel von Hushurlug steige ich ab, und ich schleiche mich gebückt voran, den Wedel vor dem Gesicht. Die Murmeltiere entdecken mich als erste, und das bedeutet: Die Partie ist für den Jäger zur Hälfte verloren. Das ist Gesetz. Aber ebenso Gesetz ist, daß die Umstände den Kämpfer machen. Ich stürze mich der schwindenden Chance nach: Ich renne, um mich den Murmeltieren so nah wie nur möglich heranzuschlagen, solange sie am Ausreißen sind und so kein Auge für mich haben. Sie erreichen den Bau, und auch ich lasse mich fallen, aber da passiert mir ein Mißgeschick: Ich greife mit der Linken in ein tiefes Loch und überschlage mich, und dann purzele ich den steilen Hang hinunter. Ich denke nicht mehr an Murmeltiere, ich denke an meine Brille und an mein Gesicht. Doch wie ich endlich an einem Stein hängenbleibe, wird mir bewußt, nicht nur, daß mir Brille und Gesicht unversehrt geblieben sind, sondern auch, daß Wunderliches geschehen ist, denn ich höre die Murmeltiere pfeifen und geifern und kläffen und lärmen, als hinge die Luft voll von weißen Wedeln, die ihnen den Kitzel aus den Nieren locken. Die Sache ist die gewesen: Die Tiere haben noch keinen Menschen gesehen, der den Hang herunterpurzelte, und keinen Wedel, der so toll Bögen in die Luft schrieb, wie er sie nun notgedrungen in meiner Hand zustande gebracht hat, und so haben sie mich wohl für ein neues Wesen gehalten, und so war ihre Neugierde wieder entfacht. Dies begriffen, beschließe ich, in meiner Rolle zu bleiben und 102
so die Neugierberauschten weiter zu betrügen, um ihnen zuletzt den Tod in das einfältige Gehirn zu jagen. Ich drehe mich seitlings, auf die Murmeltiere zu, das Gewehr fest an mich gepreßt und den Wedel in der Hand. Nur komme ich jetzt schwer vom Fleck, und da ich mich zu langsam drehe, gleicht der Wedel, der vorhin geflattert haben muß wie ein Handvoll strahlender Flammen, nun einem Stück bleichen Holzes. Aber ich betreibe die Artistik mit ungebrochener Hingebung, und ungebrochen hält sich auch mein Glauben an den Erfolg, da meine Grundeinstellung zur Sache bleibt: Ich bin der Klügere, und sie sind die Dümmeren. Das ist natürlich verkehrt, die neue Art der Jagd kann nicht gut enden. Ich schieße kein Murmeltier, da sie mir meine Rolle als Wunderwesen nicht mehr abnehmen, in mir einen mäßigen Jäger erkennen und sich aus dem Staub machen. Mich hat endlich das beunruhigende Gefühl beschlichen, die Jagd könne mir nicht glücken. Denn der Start ist immer wichtig, und das ist kein Aberglaube, das ist eine Jägererfahrung. Immer neue Wiesenkessel und immer neue Murmeltierrudel. Aber ich bleibe erfolglos. Einmal gerate ich auf einen Hügel und werde am Horizont gesehen mit meinem ganzen menschlichen Umriß, anstatt den Hügel zu umkriechen und flach und unscheinbar zu bleiben wie der graue Schatten des Wedels. Ein anderes Mal ist es der Wind, der mich dem Murmeltier entzaubert, und schließlich ist es mein Herz oder etwas anderes in mir, was das Kriechen mit eingezogenem Kopf und eingezogenen Gliedern über Kies und Stein auf der letzten Fußbreite nicht aushält und mich so zu einer unerlaubten Bewegung veranlaßt – mit einem Wort: So viele Murmeltiere der Altai auch hat und soviel Mühe ich mir auch gebe, es will nicht klappen. Hinter dem siebenten oder auch schon dem zehnten Sattel reißt mir die Geduld: Ich versetze meinem Pferd drei dumme Peitschenhiebe und schreie in den Wind: »Dann will ich mit euch, Würmern, in einer anderen Sprache reden!« 103
Gesagt, getan: Hinter dem nächsten Sattel feuere ich fünf Schüsse ab, drei davon auf ein und dasselbe Ziel. Es scheint schließlich doch etwas zu merken von meinem Vorhaben und begibt sich in Sicherheit. Daß die Tiere unversehrt bleiben bei all dem Pulver und Blei, wundert mich nicht. Denn aus solcher Entfernung, wie ich nun auf die ellengroßen Murmeltiere schieße, schießt ein Jäger nicht auf Wölfe und auch nicht auf Bären. Aber in diesem Augenblick bin ich, wie gesagt, kein Jäger, oder höchstens einer von jenen bedauernswerten, die sich mit dem Wind verfeinden, weil die Tiere sich nicht morden lassen. Allein ich gebe nicht auf, ehern, wie alle Erfolglosen. Ich schicke die ungefähren Schüsse nach den unerreichbaren Murmeltieren, mit einer winzigen Hoffnung bei aller Hoffnungslosigkeit. Man kann ja Glück haben. Auf Döngülek, der kesselrunden, feuergelben Kuppe des Saryg Hoodasyn entdecke ich einen Menschen, und im gleichen Augenblick scheint auch er mich wahrzunehmen, denn wir hocken uns gleichzeitig hin und richten die Ferngläser aufeinander. Die Entfernung zwischen uns beträgt nur ein paar Flintenschüsse, und so erkenne ich den Mann mit der verblichenen Wattejacke und der Schirmmütze sofort als den taubstummen Baatyr, der sich in Schaarasch eine Wohnung errichtet hat, in der er die Sommer- und Herbstmonate verbringt. Nun steht er auf und geht davon, er rennt fast. Ich reite schnell, erreiche im Nu die Kuppe, hinter der er sein muß. Aber dort ist er nicht. Nun durchsuche ich mit dem Blick die Falten und Ritzen der Felsen des Schaarasch, deren Spitzen gleich Hunderten blauer Ziegenhörner in die Wolken ragen. Und da entdecke ich ein paar Murmeltierschwänze, die gleich den Fingern einer winkenden Hand in der Luft baumeln und gleich darauf hinter einem Felsen verschwinden. Ich kann sie gerade noch sehen. Rauch steigt mir entgegen, und da verstehe ich, warum Baatyr ausgerissen ist. Ich sehe die Pferde, dann die Zeltspitze und 104
schließlich das Feuer: den ellenhohen Kreis von dunkelblauen Dungfladen mit dem rauchenden Häufchen in der Mitte. Baatyr kommt vom Quellbrunnen her gesprungen, den rußglänzenden Kessel in der Hand. Er tut, als würde er mich nicht gewahren, aber wie er dann über das Feuer gebückt steht, mit dem Rücken zu mir, sehe ich, daß er vor Lachen wackelt und zittert. Er dreht sich mit einem Mal nach mir um und schwankt mit großen spielerischen Schritten auf mich zu, das Gesicht voll blendend weißer Zähne. Beinahe zerquetscht er mir die Hand. Dann versetzt er mir einen knallenden Schlag auf die Schulter, schiebt mich davon und führt mein Pferd zum nächsten Felsen. Dabei kichert er. Seine erste Frage an mich ist: Wo hast du die Frau mit der Vier-Finger-Nase? Um diesen Fragesatz zustande zu bringen, hält er erst vier geschlossene Finger über die Nase, fährt dann mit ihnen um das Ohr über die Haarlinie und macht schließlich, die Zeigefingerspitze auf meine Brust gerichtet, eine fragende Gebärde. Ehe ich die Zeichen zu einem Sinn zusammenfassen kann, prustet er los und fällt um. Da weiß ich, was gemeint ist, und ich werfe mich über ihn. Allein er entschlüpft meiner Umarmung. Er deutet nach dem Feuer, und da ich so tue, als ob ich nichts verstehe, beginnt er, die Augen rollend und das Gesicht verziehend, zu lallen, und es ist inmitten der Zischlaute, die seinen Lippen entfahren, ein endloses dg … dg … dg … herauszuhören. Sein dg … dg … ist ein Zeichen, daß er verärgert ist. So ziehe ich nun die Mütze ab, verbeuge mich zum Zeichen, daß wieder Friede sei. Er nähert sich mir mit kleinen lautlosen Schritten, seine Augen zielen unbeweglich auf mich wie zwei grüne Glutstücke. Ich bleibe in der friedlichen Haltung und strecke ihm die Hand entgegen. Baatyr hält und befühlt sie, und wie er so steht, entquillt seinem Mund wieder ein Lächeln, das sich, gleich einem Ringelkreis auf dem Seespiegel, bis an die Schläfen und Ohren über das Gesicht zu verbreiten scheint. Unter 105
diesem hervorquellenden Lächeln wird das rauhe, spitze Gesicht mit den grünen Fuchsaugen weich und rund wie das eines ausgeschlafenen Kindes. Wir gehen ins Zelt. Es hat im Innern viel Ähnlichkeit mit einer Jurte. Im Dör stehen die zwei Kisten, auf der linken Seite das Feldbett und auf der rechten der Küchenschrank. Und in der Zeltmitte steht sogar ein runder Blechofen: Bei Regen, Schnee und Kälte wird er benutzt. Baatyr holt aus dem Schrank einen schwarzen Topf mit Stahldrahthenkel und lacht. »Was hast du, Menschenkind?« Zeige- und Mittelfinger der Rechten gekrümmt vor dem Mund: »Murmeltiere, natürlich.« »Gut, Freund, ausgezeichnet!« Baatyr fischt aus dem Topf ein Hüftstück mit den Rippen, eine Hinterkeule und einen Kopf heraus und legt sie vor mich in eine Reihe. Dann schickt er zu mir einen Seitenblick, die Lippen fest zusammengepreßt, die schmalen grünen Augen voll von sprühenden Funken. Das Spiel ist bekannt, eine Art Initiation. Wer die Reihe vertilgt und nur sauber abgeknabberte Knochen zurückläßt, darf unter die Männer gehen. Zu den Männern, nicht zu den Recken, denn es wird von diesen berichtet, die auf einem Sitz einen ganzen Hammel gegessen, die Brühe ausgetrunken und dazu noch in den Röhrenbeinen gestochert haben, um zu zeigen, sie könnten noch weiteressen. Böge Tarta, mein Urururgroßvater, zum Beispiel, soll dies und eine Handvoll anderer Sachen gekonnt haben, die den heutigen Menschen wie Münchhausengeschichten vorkommen. So einer ist ein Recke. Ich nehme das Angebot an, aber schon beim dritten Biß gerät mein wilder Mut ins Schwanken, und spätestens bei dem zehnten bricht er zusammen. Ich habe erst das Hüftfett, dann das Rippenfleisch, dann das Beckenfett, dann wieder das Schenkelfleisch und so weiter Fett und Mageres in abwechselnder Reihenfolge essen wollen, wie die Erfahrungen erfolgreicher 106
Esser es lehren. Mir aber helfen solche Erfahrungen nicht. Ich scheitere schon beim Start. Ich höre auf zu essen. »Sei nicht enttäuscht, Mann.« Vierfingerdickes Murmeltierfett ist einfach zu stark für meinen Magen, der Konserven und anderen Belastungen ausgeliefert ist. Keines der zurückkehrenden Kinder Tuwas wird dieses Spiel je wieder bestehen können. Ich bin einer, der seine Erde und ihre Menschen an seiner Nabelschnur schleppt, und ich ließ diese Erde und ihre Bewohner nie los. Keine Versuchung war so stark, daß ich auch nur für einen Augenblick für etwas anderes frei war. Und trotzdem. Dem uralten Spiel meines Volkes bin ich unwiederbringlich entwachsen. Die Zeiten der Magenhelden sind vorbei, und Baatyr ist einer der letzten, die an dem Spiel noch Geschmack finden. Zum Tee bin ich der Bewirter. Baatyrs Finger fahren wählerisch bald zu dieser, bald zu jener Schachtel, und er kaut die Kekse, Fladen und den Würfelzucker mit hellschmatzenden winzigen Bissen zwischen den Vorderzähnen wie besonders vornehm tuende Stadtdamen. Das lächelnde Gesicht mit halbgeschlossenen Augen besagt, daß es ihm so Spaß macht. Dazu zeigt er jedes Mal den Daumen, wenn unsere Blicke sich begegnen. Sein Dank ist echt, so wie seine Freude und Betrübnis echt sind. Mit jedem freudigen Blick meines Gastgebers und Gastes gleichzeitig und mit jedem Schluck des nach Steppe und Sonne schmeckenden Tees fühle ich mich immer tiefer in jene Ruhe sinken, die man nur auf Berggipfeln unter dem betörenden Rauch des Lagerfeuers findet. Der Ärger über die Murmeltiere ist längst verflogen. Später schultern wir die Gewehre und klettern den Südhang hinauf, um noch vor der letzten Weidezeit der Murmeltiere eine günstige Stelle einzunehmen. Mein Pferd bleibt am Strickende schlafend zurück, die Wolken sinken tiefer, und über der Erde wird es immer stiller. Kaum, daß wir den Kamm erreichen, beginnt es zu schneien, und es wird so still in der Luft, daß man 107
die Schneeflocken rascheln zu hören glaubt. Baatyr geht weiter den Rücken entlang, ich biege nach Südosten ab. Erst wandeln sich die dunklen Wiesenstücke in Weiß, nun wie blinde weiße Augen der Erde, und dann, nach wenigen Minuten, tut es auch die restliche Erde, und es wird mit einem Mal so hell, daß ich zwickende Schmerzen in den Augenhöhlen spüre. Das Ende dieses Schneenachmittags ist so überraschend wie unglaublich: Ich habe vier Murmeltiere erlegt. Dank dieses vielleicht letzten Höhlenmenschen unter dem Altaihimmel, dessen Geschichte erzählt werden soll: Wie Baatyrs Vater geheißen hat, weiß man nicht. Vielleicht ist er gestorben, wenn ja, dann wohl früh, denn der Taubstumme heißt mit vollem Namen Baatyr der Hundak. Hundak war seine Mutter, und sie starb vor gut zehn Jahren. Ich weiß ebenso nicht, wie alt er ist: zwischen Dreißig und Fünfzig. Dreißig; ich sehe das hagere wetterbraune Gesicht mit dem Jugendglanz und den Sommersprossen gleich leuchtenden Sonnensplittern in dieser Stunde. Fünfzig: Einst lief ich im Hemd und unter einer flatternden Mähne an seiner Seite, und mich deucht, da war er so alt wie heute. Hier Aussehen, dort Erinnerung; gewiß kann das eine wie das andere täuschen, und darum nicht dreißig und auch nicht fünfzig, sondern eben: zwischen Dreißig und Fünfzig. Wie seine Kindheit gewesen ist, scheint nur wenigen bekannt zu sein. Die Mutter hat den taubstummen Sohn vor Fremden versteckt gehalten, und dann ist dieser noch als ganz kleiner Knirps von zu Hause weggelaufen. Er soll einen Sommer lang Zieselmäuse gejagt und im Herbst die Felle zu einem Handelsagenten gebracht haben. Der Agent wollte ihm Bonbons dafür geben. Da machte der Junge ein entsetztes Gesicht und zeigte auf eine Falle. Die Falle aber kostete mehr, als die Felle zusammen wert waren. Der Mann wußte nicht, wie er es dem Taubstummen erklären sollte, jener aber hatte es schon an dessen Gesicht abgelesen und zitterte. Der 108
Mann sah dies und gab ihm die Falle. Am nächsten Abend kam der Taubstumme mit einem großen Murmeltier zurück. Das war sein erster Schoralga. Später kam er mit Schoralgamurmeltieren auch zu anderen Leuten, aber er häutete alles selber ab und nahm die Felle gleich mit. Doch niemand wußte, wohin er sie brachte. Im Frühwinter, als sich das letzte Murmeltier zum Winterschlaf gelegt hatte, kam er mit einem Sack Murmeltierfellen auf dem Rücken zum Agenten, und als er gefragt wurde, was er dafür haben wollte, zeigte er auf ein Kleinkalibergewehr. Diesmal reichten die Felle nicht nur für das Gewehr, sondern auch für eine Menge Munition. Und so ging es mit den Jahren aufwärts mit dem taubstummen Sohn der Hundak: Erst hatte er eine Falle, dann ein Gewehr, dann ein Pferd, dann ein Zelt. Später trieb er eine ganze Pferdeherde vor sich her und hatte im Sinn, eine Familie zu gründen. Zuvor aber muß ich über eine seiner Eigenschaften erzählen, die für einen Taubstummen zumindest in unserer Ecke etwas Besonderes ist. Er kann nämlich schreiben! Wer sein Lehrer und wie das möglich wurde, weiß ich nicht, Tatsache ist: Er kann schreiben und lesen. Das erfuhr ich, als ich mit ihm zusammen in der Jurte von Horlu, meinem Vetter, übernachtete. Es begannen gerade die Winterferien der Schulen, und ich kam an diesem Tag mit dem Postauto aus der Bezirksstadt. Auf dem Herd kochte Fleisch. Alle saßen um die Kerze herum, jeder mit einer Zeitung in der Hand, wie immer, wenn das Postauto die Zeitungen der letzten Woche gebracht hatte. Auch Baatyr hatte eine in der Hand. Zuerst fand ich daran nichts Besonderes, weil ich dachte, er schaue sich die Bilder an. Dann aber sah ich, daß sein Finger über eine bildlose Stelle fuhr, Zeile um Zeile, und unter einigen Wörtern die Spur des Fingernagels zurückließ. Und da rief ich aus: »Baatyr liest?!« »Gewiß liest er«, murmelte Horlu unwillig und las weiter. 109
Doch ich ließ ihm keine Ruhe, ich argumentierte über die Unmöglichkeit dessen, daß ein Taubstummer lesen könnte, bis er die Zeitung zusammenschlug und sagte: »Er kann auch schreiben!« Ich forderte den Beweis, und dann hatte ich ihn auch, und zwar auf der Stelle, schwarz auf weiß, in großen eckigen Druckbuchstaben: »Ulan Bator.« Dann schrieb er Namen der Menschen aus dem Kreis, aus dem Ail, nannte Gegenstände: »Gras, Wasser, Schnee, Regen, Gewehr, Munition, Sattel, Murmeltier.« Mein Entzücken ließ ihm das Gesicht erstrahlen, er glich einem Kind, dem seine Zauberstücke eines nach dem anderen gelangen. Dann aber war der Name Dogbaj zu lesen, und ihn hatte Horlu geschrieben. Baatyr stieß einen spitzen Schrei aus, als er sich den Namen anschaute. Dann aber schlug er sich mit der Handfläche sofort auf die Kehle und verstummte. Dann kroch er sitzend zurück bis an die Jurtenwand und blieb hocken, die Hände vor dem Gesicht, wie einer, den das Licht blendete. Dogbaj war die Witwe des Gökgös, der zwei Jahre zuvor im See ertrunken war, und im letzten Herbst hat man an der rechten Seite ihrer Jurte die blaubunten Pferde Baatyrs stehen sehen. Im darauffolgenden Sommer heiratete die Witwe, es wurde eine richtige Hochzeit gefeiert, aber nicht Baatyr war der Bräutigam, er erschien erst am Spätnachmittag, sein eisenblaues Pferd sah wie hellgefleckt aus vor schäumendem Schweiß, der Reiter lag auf dem Halse seines Pferdes und weinte, er war betrunken. Alles Geschirr, das in unmittelbarer Nähe war, wurde aufgeräumt, alle Messer wurden versteckt, einer sagte, man solle ihn wegführen, ein anderer meinte, man müsse ihn festbinden. Aber keiner hatte den Mut, an ihn heranzugehen, so kam er herein in die Jurte, wo das Fest im Gange war. Er ging durch die Leute, er kam bis zum Dör und steckte die Hand in die Brusttasche, man war auf der Hut. Es kam ein schneeweißer Stoffstreifen hervor, 110
an dessen Ende hing ein druckfrischer roter Zehntugrikschein. Der Bräutigam fuhr sich mit der Hand an die Kehle, es herrschte eine schwere Stille. Dann wurde laut gesungen, Baatyr sang mit. Er brüllte, und er tat es wie einer, der in Nacht und Sturm verloren war und nach Gehör suchte. So brüllte und brüllte er in einem fort, die angeschwollenen Adern über dem tränenglänzenden Gesicht glichen bereiftem Draht. Im drauffolgenden Herbst trieb Baatyr seine Pferde zur Genossenschaftsherde. Man wollte ihm klarmachen: »Für jedes Pferd mußt du zehn Tugrik bezahlen, sonst werden die Dargas mit uns schimpfen!« Sein Vieh von den Genossenschaftshirten mitversorgen zu lassen, war aber nicht die Absicht des Taubstummen: »Ich bin allein und brauche nicht so viele Pferde, nehmt sie!« Nun wurden die Dargas erst recht benachrichtigt, und da holte man Baatyr in die Kreisstadt und händigte ihm das Mitgliedsbuch der Genossenschaft ›Gipfel des Altai‹ aus, und dabei wollte man ihm das Vieh mit Geld vergüten. Da aber war er gekränkt: »Haben auch andere Leute Geld bekommen für ihr Vieh?!« Darauf wollte man ihm in der Kreisstadt eine kleine Hütte geben, damit er endlich ein festes Zuhause hätte. Aber auch davon wollte er nichts wissen: »Ich will meinen Berg nicht verlassen, will jährlich 500 Murmeltiere schießen und davon leben!« Aber Baatyr war nicht nur für die Murmeltiere da, zumal die erlaubte Jagdzeit nur einen guten Monat beträgt. Noch weitere sieben Monate arbeitete er wie besessen: Den September und Oktober besserte er Wälle und Ställe aus, den November schlachtete er Großvieh, den April und Mai bewachte er die jungenden Muttertiere, den Juni und Juli mistete er Hürden aus. Nur der August war die Zeit der Murmeltierjagd. Baatyr arbeitete dort, wo er gerade war. Außer dem Ausmisten von Hürden wurde ihm keine der genannten Arbeiten entlohnt. 111
Für jede ausgemistete Hürde verlangte er 20 Tugrik, und das war eine Arbeit, für die man zwei trockene Tage brauchte. Baatyr aber schaffte es an einem Tag, auch wenn es von früh bis Nacht regnete. Die übrigen vier Monate, Dezember, Januar, Februar und März, verbrachte er spielend und schlafend. Da war im Altai keiner fauler als Baatyr. Er schien Kräfte zu sammeln, Kräfte für das kommende Arbeitsjahr. Seine Mutter Hundak war, als sie starb, eine sehr alte Frau, und bevor sie starb, war sie einhundert Tage krank. Wahrscheinlich war sie länger krank gewesen. Doch hat man davon nichts erfahren. Und erfahren hat man davon erst, als Mitte August Baatyr ohne Gewehr durch das Land ritt, an jeder Jurte abstieg. Er war auf der Suche nach etwas Bestimmtem, etwas was mit einem gehörnten Vieh zu tun haben sollte. Was er genau meinte, verstand man nicht, man verstand lediglich, wozu er es gebrauchen wollte. Seine Mutter war krank, und von diesem Tage an nahm man von ihrer Krankheit überhaupt erst Kenntnis. Baatyr hörte nicht auf zu suchen, bis er es fand. Denn man hatte ihn schließlich doch verstanden. Er suchte Hirschgeweihblut. Die Hundak trank es. Sie trank auch frische Hammelbrühe, Bärengalle und noch so manche anderen Säfte, die sie von der Krankheit befreien sollten. Baatyr war bis zuletzt auf der Suche nach weiteren Säften, er glaubte an das Wunder, er tat es hundert Tage lang, und hundert Nächte lang saß er am Bett der kranken Mutter. Dann starb sie. Da fuhren heulend die wilden weißen Stürme über den Altai, und sie hatten die letzten Spuren zugeweht, die an die Murmeltiere erinnerten. Dem Schein nach konnte man glauben, es gab sie seit Jahren nicht mehr. Die Wahrheit aber: Noch Wochen zuvor hatte der Altai von ihnen gewimmelt, und nur Baatyr, der große Murmeltierjäger, hatte sie verpaßt. Nicht eine der Arzneien, nicht einer der Säfte hatte also die erhoffte Wunderkraft besessen, und die kranke Mutter ist nach hundert Tagen sorgfältiger Behandlung gestorben. 112
Ich ernte bei Baatyr Lob für meine vier Murmeltiere, er besieht sie und zeigt darauf viermal den Daumen. Denn er selbst hält strenge Jagddisziplin und fordert von den anderen ein Gleiches. Wer ein Murmeltierweibchen erlegt, bekommt seinen Rücken zu sehen, und wer eines gar mit prallen Zitzen erschießt, bekommt seine Faust zu spüren. Einst war einem dummen, eingebildeten Kerl der Einfall in den Kopf gekommen, mit dem Karabiner ein faustgroßes Murmeltierjunges in Blut und Fetzen zu zerschießen, und das in Baatyrs nächster Nähe. Er wähnte sich mit dem Karabiner in der Hand stark und wollte den Taubstummen einschüchtern. Es wäre beinahe zu einem Unglück gekommen, zum Glück war ein Dritter dabei. Trotzdem waren zum Schluß von dem mächtigen und wertvollen Karabiner nur noch Holzsplitter und verbogenes Rohr übrig. Seitdem wagt niemand, in Baatyrs Revier das Jagdgesetz, das er vertritt, zu verletzen. Ich lasse das Lob über mich ergehen, vergesse aber nicht, dem Zufall zu danken, daß mir lauter ausgewachsene Murmeltierrüden vors Korn geraten sind. »Manchmal schienen die Murmeltiere vor mir von selber zu sterben, und zwar die größten und fettesten«, hatte ich einmal den ruhmreichen Gök-Anaj erzählen hören, »und da schienen auch die Beeren von selber zu fallen, wenn ich die Hand unter einen Strauch hielt, ich verpaßte so einen Tag nicht: füllte den Tulup, holte das Pferd und brach noch in der Nacht darauf auf, und ich hatte Glück auf der Reise.« Nach dem Abendmahl führt mich Baatyr aus dem Zelt. Wir klettern zwischen zwei steilen Felsen den Hang hinunter. Ich kenne diesen Weg, er führt zu der Felshöhle, die seit Urzeiten Schaarasch-Höhle geheißen hat und in der ich vor zwei Jahren mit meinem Vater und der Dame mit der Vier-Finger-Nase gewesen bin. Es war eine Regennacht, der Felsen unter einem drückte und dröhnte unter dem Getrappel der Mäuse, was für 113
mich fast ungeheuerlicher war als das Donnergetöse draußen, unter dem die Erde bebte und zitterte. Nun stoße ich vor dem Höhleneingang einen leisen Schrei aus, denn was ich vor mir sehe, hat keine Ähnlichkeit mit jener Höhle, die ich kenne. Es ist jetzt ein geräumiger sechseckiger Raum mit gewölbter Decke, die Wände glattgeschliffen, die Ecken und Seiten symmetrisch genau verteilt, der Boden aus der zu Torf getrockneten Bergwiese dunkelgrün schimmernd. An der linken Wand steht ein Stahlbett mit verchromten Bögen. Jede Seite ist gut zwei Meter lang. Da glaube ich noch aus der Ferne eine Geigenstimme zu vernehmen. Ich denke, es ist eine angenehme Gehörstäuschung, allein die Stimme wird mit jedem Augenblick lauter, und schließlich ertönt ein ganzes Orchester, daß der Fels unter meinen Sohlen erzittert. Ich muß eine komische Gebärde gemacht haben, Baatyr steht in der Raummitte und schüttelt sich vor Lachen. »Was ist, Baatyr? Du zauberst gar?« »Ein Taschenradio!« »Du hörst es? Und verstehst?« »Nein, nicht ich. Ich höre nichts. Es ist für den, der hier in diesem Bett schläft. Für dich!« »Du bist gut, du bist groß, Baatyr! Verstehst du’s?« »Ja. Du bist nett. Sechs Jahre hab ich daran gehauen. Ich schreibe es dir: Sechs Jahre! Sieh hier meine Hände: Schwer! Der Felsen ist hart, vier Spitzhacken hab ich verbraucht. Dann hab ich Feuer gemacht. So viel Dung, Holz. Dazu hab ich den Felsen mit Fett begossen, viel, viel Fett. Drei Tage hab ich gewartet. Dann hab ich die Asche davon geschaufelt. Es gab noch Glut, der Felsen war noch heiß. Aber ich begann zu arbeiten. Nun ging es ein wenig schneller. Aber trotzdem sehr, sehr schwer!« Baatyr bleibt an die Wand gelehnt stehen, still, gedankenversunken. Es ist, als wäre er nach den sechs Jahren nun plötzlich erschöpft. Ich sehe nur seinen müden Umriß, seine Gesichtszüge 114
kann ich längst nicht mehr erkennen, denn es ist dämmrig geworden. Ich wage nicht, mich vom Fleck zu rühren, weil ich denke, erst in dieser Stunde könnte meinem taubstummen Bruder bewußt geworden sein, daß er ein schweres Werk beendet hat. Baatyr kommt auf mich zu, lächelnd, scheint auf meine Frage zu warten: »Willst du auch im Winter hier wohnen?« Er ist dankbar für die Frage: »Ja, wenn die Pferdeherden hierherkommen. Die Tür fehlt noch. Ich werde sie machen, wenn die Murmeltiere wieder schlafen. Eine Schiebetür. Ich habe die Bretter und die Stangen. Dann wird es hier warm sein. Denn unter der Wiese hier ist auch eine Schicht aus Schafkörnern, fest und so dick wie eine Handspanne. Die Pferdehirten werden hier warm leben und Radio hören, und ich werde alle sieben Tage ins Zentrum reiten und Zeitungen holen.« Dann zündet er eine Kerze an und geht hinaus. Es ist zweiundzwanzig Uhr in der Hauptstadt. Nachrichten werden gesendet. Die Pferdehirten werden Baatyr dankbar sein. Viele Generationen haben in der Höhle im Halbschlaf die Nächte verbracht, und keiner hatte dabei an die Möglichkeit gedacht, daß man sie, diese halbfertige Gabe der Natur, zu einer menschenwürdigen Behausung ausarbeiten könnte. Baatyr kommt zurück, beide Arme voll, Gewehr geschultert. Er trägt eine Matratze, eine Wolldecke, Bettwäsche und Kopfkissen, mit Edelweißblüten gefüllt, wie ich durch Befühlen und Riechen feststelle. »Du bist der erste, der hier schläft. Macht nichts, daß die Tür offenbleiben muß. Stelle dir das Gewehr ans Kopfende des Bettes.« Ich begleite Baatyr bis zum Steilhang. Die still und schwarz aus dem Weiß herausragenden Felsen wirken vertraut. In Abständen fliegt einem eine Flocke gegen das Gesicht, und sie wirkt lau und samten. Da erwacht in mir der Wunsch, ein Schneebad zu nehmen. Ich schlittere auf die Wiesenebene zu, 115
finde eine seichte Mulde und ziehe mich aus. Erst bewerfe ich mich mit ein paar Handvoll Schnee von vorn und von hinten, dann falle ich auf den Rücken. Ich wälze mich von einer Seite auf die andere und reibe mich mit Schnee. Der Neuschnee ist weich und warm wie Seifenschaum, dennoch schnaube und pruste und zittre ich. Und ich zittre noch mehr, während ich mich trockenreibe und anziehe. Bald gehe ich zurück, schlittere und renne an den schwarzen Felsen vorbei und beginne zu schwitzen. Später bin ich wieder in Baatyrs Märchengemach, liege im Bett und hülle mich in die saubere, kühle Wäsche ein und warte auf den Schlaf, von dem ich weiß, er wird mir Träume schenken, die schön sein und mich gut in den kommenden Tag bringen werden …
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Der zehnte Tag
26. August Windbraun hieß das Pferd, von dem die meisten Fotos blieben. Denn es gehörte einen Sommer lang Rika. Es war schnell, wie der Name sagt, und nicht gerade zahm. Und Rika hatte vorher noch nie ein Pferd geritten. Als die Eltern den deutschen Gast, der mit den Zügeln nicht zurechtkam, auf dem windschnellen Pferde sahen, erschraken sie: »Daß uns der Gast nicht vom Pferd stürzt – überleg’s dir!« Ich führte sie an der Leine in die Steppe hinaus. Wir ritten im Schritt davon. Als wir dann zurückkamen, trabte Windbraun, und mein sechsjähriger Rappe galoppierte unter Schweiß neben ihm. Dann legten die Pferde, und auf ihrem Rücken wir, Hunderte von Meilen über Berge und Steppen zurück und durchquerten Dutzende von Flüssen viele, viele Male. »Rika!« lärmten die Kinder, die im Ail zurückblieben, als wir davonritten; »Rika!« riefen die Erwachsenen, die im Ort zurückblieben, als wir davonfuhren; »Rika!« schrien unsere Jäger, die auf der Fähre davonschwammen, als wir an ihnen vorbeikamen: »Rika! Rika! Komm wieder!« Windbraun schreitet, die Halme schwanken; Windbraun trabt, die Berge schwanken; Windbraun galoppiert, die Wolken schwanken – er gleicht der dunklen Spitze einer hellen Flamme und reißt aus vor einer leuchtroten Staubfahne. Wo aber ist nun die Reiterin, wo? Dein Windbraun ist wieder da. Wenn du die dunkle Spitze der leuchtenden Staubfahne für einen Stein hältst, der davonrollt, oder für einen Traum, der davonreißt, dann höre doch dieses Getrommel, das du von keinen anderen Pferdehufen 117
hörtest einen Sommer lang im Altai und ich auch von keinen anderen hörte dreiunddreißig Sommer lang, und wenn dich die Zeit, die seitdem verfloß, taub gemacht hat, dann sieh dir die Bilder an, das Pferd hier, das Pferd dort, das Pferd überall, auf das du dich hast verlassen dürfen wie auf einen Lebensgefährten; so etwas darf, kann einem plötzlich nicht abhanden kommen. Das alles war in jenem Sommer: Rika knabbert schmatzend an einem Murmeltierschenkel, ihre Hände und ihr Gesicht glänzen. Vor ihr liegt der Fotoapparat, daneben der Notizblock mit dem Kugelschreiber, und hinter ihr wackeln zwei dunkle Punkte, die ich als unsere beiden Pferde erkenne, und die immer größer werden, da sie näher kommen, und schließlich so nah, daß ich den feuchten, heißen Atemhauch im Gesicht spüre … Ich erwache und entdecke über mir einen faustgroßen, blutroten Schamanensperling, der tschilpend und schwankend an der glatten Felswand klebt. Einem klopfenden Herzen gleicht er, und dabei ist ihm anzusehen, daß in ihm ein winziges, mächtiges Vogelherz hämmert, mindestens dreimal schneller als das meine. Sein Tschilpen ist das Schmatzen Rikas, und der Klecks, den er auf mein Gesicht fallen ließ, der feuchte, heiße Pferdeatemhauch. Ich bleibe still liegen, halte sogar den Atem an, um den Vogel, der an meinem Traum mitgezimmert hat, nicht zu verscheuchen. Aber er fliegt davon. Bläulich-grünlich schimmern die Felswände im hereinflutenden Schein des Schnees und der Sonne. Der große Gedanke, der lange ausgeblieben war, erscheint wieder und erfüllt mich auf einmal mit der Gewißheit, daß auf dieser Erde nichts vergeht und, was einmal da ist, immer dasselbe wird – freilich mit der Notwendigkeit behaftet, wieder und wieder in eine neue Form zu überzuwechseln; körperhaft sehe ich in dem bläulichgrünlichen Schimmerlicht den Kreislauf: Sterbend werde ich zu einem Stein, aber dann zur Erde, wachse darauf als Gräser und 118
Blumen empor, werde gemäht und gepflückt von Herden, verteile mich in den Pferden, Schafen und Hirschen, bin Milch und Fleisch, gelange zu jedem, der sich davon ernährt, bin Wolf, bin Hund, bin Mensch – ja wieder und wieder ein Mensch, und nimmer verliere ich dabei das Kennzeichen meines Stammes: die schwarzen Haare, den blauen Fleck am Steiß und den Glauben an den Vater Himmel und die Mutter Erde. Beflügelt von dem Gedanken und überzeugt von dem Gelingen meines Werkes stehe ich auf. Es ist ein blendender Morgen mit dichten gelben Sonnenstrahlen, der Himmel steht hoch und weit: ein Wunder ist das Dasein. Ich fühle mich alterslos jung und unsterblich gesund. Der Schamanensperling hockt auf der Spitze eines nahen Felsens und tschilpt schwankend und gleicht dem pochenden Herzen der Berge nun. Baatyr ist bereits gegangen. Den Kessel hat er tief in der Herdasche vergraben, der Tee ist noch heiß. Das Murmeltierfleisch liegt daneben auf dem verschneiten flachen Felsen ausgebreitet. Ich frühstücke. Dann hole ich mein Pferd. Ich will die Berge durchwandern. Hinter dem steilen Geröllhang tut sich glänzend das Plateau vor mir auf. Die Murmeltiere wirken im Schnee größer und dunkler als gestern. Sie liegen still und stumm da und scheinen auf einmal im Weißen zu zerfließen. Es bleibt, schwarz und dampfend, der Baueingang zurück wie ein Beweis, daß die Erde vom Leben bevölkert ist. Friedlich schaue ich auf die Murmeltiere, die sich von mir zu keiner Neugierde reizen lassen. Ich spüre große Ruhe in mir. Öde hätte es hier ausgeschaut, denke ich mit dankbarem Blick auf sie, wäret ihr nicht gewesen. Denn weit und breit ist kein anderes Lebewesen zu sehen, auch kein Vogel fliegt in der Luft, und das ist seltsam, ja unheimlich. Aber Spuren bespinnen den Schnee dunkelbunt, kommend und gehend laufen sie aneinander vorbei, kreuzen sich dann auf dem blau leuchtenden, weiß lodernden Schnee, über den Millionen 119
blinzelnder Schneeaugen. Es sind Mäuse, Wiesel, Füchse, kleine und größere Herden von Wildschafen, ein Wolf und sehr viele Hasen, die mir den Beweis liefern, daß sie da sind, immer noch da sind, obwohl meine Augen sie seit der Wiedersehensstunde vermißt haben. Denn Spuren sind immer wesentlich. Auf dem sonnigen Südhang vermehren und kreuzen sich die Spuren häufiger, und ich sehe, die Tiere spielen. Da entdecke ich auch meinen ersten lebendigen Hasen wieder. Spielerisch leicht und gelassen hüpft er mir entgegen. Ich bleibe im Sattel still sitzen, überlasse das Pferd seinem Willen und behalte den Hasen im Blick. Keines der Tiere zeigt ein Zeichen der Störung, ein jedes geht seinen Weg und läßt das andere an sich vorbei. Nun komme ich mir schamlos töricht wie in der Rolle eines jagenden Urlaubers vor mit der Mordwaffe, und darauf entledige ich mich des Gewehrs und hänge es an einen Felsen. Mit jeder Spanne Höhe, die die Sonne in der Himmelsweite erklettert, scheint es auf dem windgeschützten Hang der Schwarzen Berge um einen ganzen Grad wärmer zu werden. Die Spuren verwandeln sich zusehends in wassergetränkte blaue Flecken, und hier und da werden schon runde dunkle Löcher inmitten des Weiß sichtbar; zuallererst zerfließen und verwischen sich die Spuren auf den Felsen. Die Murmeltiere werden immer zahmer und müder, je tiefer ich in die Bergtäler hineinreite. Immer häufiger und länger halten sie auf dem Wege zu ihrem Bau an und bleiben schließlich liegen, ohne den Baueingang zu erreichen, mit eingezogenem Kopf, und starren mich mit glänzend schwarzen Augen an. Das kann an der herniederströmenden Wärme liegen, und wenn es tatsächlich so ist, dann bestätigt sich eine Jägererfahrung: Je milder das Wetter, desto zahmer das Wild. Es kann aber auch an meinem Aussehen liegen, und wenn es dies ist, dann trifft eine Tiererfahrung zu: Ohne Wedel weniger Gefahr, ohne Stock gar keine. Zwei Rotfüchse springen, als sie inmitten eines Spiels mich 120
gewahr werden, auseinander. Einem kleinen Rebhühnerschwarm schließt sich ein anderer an, und es ist, als hätte ein Zauberer einen graugrünen Felsen zerdrückt und die Splitter über den sonnendurchdrängten Steilhang geworfen, und nun bewegen sich die Splitter im Kreis aufeinander zu und darauf wieder auseinander. Und wo sie geschäftig vor sich hin- und hertrippeln, kommen sie mir wie Kinder der Gattung Vogel, und ich selber komme mir wie ein großer Bruder von diesen vor. Das bin ich ja auch: ein Bruder von allen Lebewesen, die kriechend und fliegend und hüpfend und trabend mich umgeben. Ein Stück weiter begegnet mir ein Ular-Schwarm, und es erinnert mich noch einmal an den Gedanken, und zwar an seine Richtigkeit. Der Hahn und die Henne gehen zu beiden Seiten des Schwarmes und lauern abwechselnd mit hochgehaltenem Kopf, und die zehn Jungvögel, obwohl längst ausgewachsen, gleichen in ihrer Sorglosigkeit Kindern, die ihre Eltern in der Nähe wissen, und da ich diese Vogelfamilie in Verbindung mit meiner eigenen denke, kommen mir die Vögel und wir Menschen wie die Finger einer Hand vor. Je näher ich ihnen komme, um so höher geht der lauernde Kopf, dann sind es beide, und darauf überträgt sich die Unruhe auch auf die anderen: Zwölf schmale, glatte Köpfe über den schlanken Hälsen ruhen eine oder zwei Sekunden lang in der Luft wie ausgebuchtete Enden zielender Rohre. Dann flieht der Schwarm. Sie wackeln, auf krummen Beinen, den Hang aufwärts. Dann dreht sich der Schwarm um, macht drei, vier Sprünge hangabwärts und geht in die Luft. Nun pfeifen und lärmen die Vögel ungehemmt laut und schießen in die Höhe, einen Wind hinter sich herschleppend, der eisern heult und einen denken läßt: Diese sind starke Wesen! Die Luft bleibt leer. Mein Blick kehrt zur Erde zurück und entdeckt die Spuren eines dahinpreschenden Wolfs. Der aufgeworfene Schnee auf dem Kies hat noch die feinen Randfasern, und ich glaube sogar, über der Schlucht, zu der die Spuren 121
führen, glitzernden Schneestaub zu sehen: Der Wolf hatte in der Nähe geschlafen und war möglicherweise erst von dem Fluglärm der Ular aufgewacht. Ulug Gyschtag, unser großes altes Winterlager, empfängt mich dampfend und vertraut. Der viereckige Wall aus flachem, blauem Schiefergestein umfaßt, gleich zusammengelegten Händen, immer noch die Hürde, aus der eine mächtige Lawine glänzend schwarzer Schafkörner Winter für Winter herabrann und zum Anfang des Frühjahres den unteren Saum des Lagers erreichte, nun aber, bis auf den Boden gesunken, grau-braun aussieht vor verwehtem Sand, der sich mit dem zerfallenen Dung vermischte. Die obere Hälfte der Vertiefung, in der die Jurte gestanden hat, ist vom herwandernden Kies des Hanges zugeschüttet. Die Jurte stand mit der Tür nach Osten. Beim Hochklappen der Filztür sah man morgens die Sonne. Im Dör standen die beiden Truhen übereinander, über welchen man abends zum rauchenden Wacholder eine Butterleuchte, und wenn geschlachtet wurde, das gekochte Herz mit einer Scheibe Magenhalsfett opferte. Rechts daneben wurden tags Steppmatten und Kleidungsstücke gestapelt, links lag das Lager der Eltern, eine dreischichtige Filzmatte zu einem langen, runden Kopfkissen, mit einer steifen, silberbeschlagenen Stirnseite, zum Fußende des Lagers lag die Barwa, in der während des Umzuges das Eßgeschirr Platz fand, und schließlich, zwischen Barwa und Tür, stand das Küchenregal, drei dünne, breite Espenbretter auf vier Beinen, das unterste davon mit zwei großen runden Löchern, in denen die beiden Kochkessel standen. In der Jurtenmitte stand das dreigurtige, vierbeinige runde Feuergestell. Nachts wurde der Stapel neben den Truhen aufgelöst und für die Kinder und Gäste in ein breites, federndes Lager zwischen Herd und Dör verwandelt, neben ihnen schliefen in der rechten Jurtenhälfte die Lämmer und Zicklein. Zu einer Zeit, in der die Schafe wieder zu lammen begannen, 122
kam ich auf diesem Stück Erde und in dieser Jurte zur Welt. Das Jahr des Schwarzen Pferdes ging zu Ende, und es war zur Stunde des Sonnenaufganges, da sich die klirrende, knisternde Kälte der Nacht gerade legte und der rasende, tosende Sturm des Tages sich erhob. Vieles ist nicht mehr, aber die Erde ist geblieben, und sie ist noch frei von Bürden, ist noch nicht zugemauert. Ich erkenne dich an deiner Farbe, deinem Geruch, deinem Geschmack wieder, Mutter. Laß mich zum Schagaa gehen, und dort werde ich mich besser an die traumbunten Stunden der Kindheit erinnern können. Die manneshohe, lärchendicke Opfersäule aus viereckigem Gestein muß dem Wind der Zeit gut getrotzt haben, sie ist noch makellos sauber und steht fest. Fast unwahrscheinlich kommt mir vor, daß selbst die vier Arme zu den vier Himmelsrichtungen und die drei Augen auf jedem von ihnen unerschüttert sind und jeder Stein auf seinem Platz liegt, so wie die Eltern sie vor gut zehn Jahren verlassen haben müssen. Am Neujahrsmorgen kamen in einem Zug in strenger Reihenfolge des Alters die männlichen Bewohner der aufgehenden Sonne entgegen zum Schagaa und füllten den Opferkessel und die Opferaugen mit Dungglut, Wacholder und Deeshi, allen Speisen, die in der Jurte vorhanden waren, und da quoll in kurzen Abständen Rauch aus dreizehn Stellen gen Himmel. Die Dreizehn ist eine gute Zahl bei den Nomaden, von »Dreizehn Altai« und »Dreiunddreißig Ahurmasta« ist oft die Rede. Dann umkreiste der Zug im Gleichschritt den Schagaa und rief lange Lobverse auf den Altai aus. Vater ging an der Spitze des Zuges und bestimmte die Reihenfolge der Strophen, die ein jeder kannte. Dies dauerte so lange, daß die Rauchsäulen über den Opferaugen ruhig und dünn wurden wie geradehängende blaue Fäden und im Opferkessel oben nur noch das Hammelbruststück brannte, zischend und einen beißenden Geruch ausströmend. Dann wurde nachgelegt, und der Zug bewegte sich auf dem 123
schimmernden Pfad in Richtung Nordwesten, und ihm entgegen kamen von der anderen Seite die weiblichen Bewohner, ebenso in der Reihenfolge des Alters. Wir trafen uns an dem flachen Haufen weißer Steine, setzten uns um ihn herum, und es kam ein weißes Tuch zum Vorschein, zu dem man Hadak sagte, obwohl es ein ganz gewöhnlicher, oft sehr billiger Stoff war. Da Vater ein ängstlicher Mensch gewesen ist, hatte er in den Jahren der Verhaftungen und Erschießungen alle Kostbarkeiten seiner viehund ruhmreichen Eltern vernichtet. Nun fanden die Neujahrsbegrüßungen statt, die darin bestanden, daß immer die Ältere das Hadak über die Arme nahm und dem ihm entgegentretenden Jüngeren »Amar Saenuu« sagte und ihn dabei beroch. Der Spruch bedeutet »Bist du gesund und in Frieden?« Großmutter beroch alle, wurde selbst jedoch von keinem berochen, da sie am ältesten war. Ich dagegen wurde von allen berochen und hatte niemanden, den ich hätte beriechen müssen, da ich am jüngsten war. Auch beroch Vater Mutter nicht, obwohl er älter war als sie. Dafür gab er einem von uns Kindern seine Schnupftabakflasche mit den Worten: »Reiche sie der Mutter weiter!« Das gleiche tat auch Mutter, ließ die ihre über einen von uns an Vater kommen. Darauf wechselten sie Grüße wie fremde Leute untereinander, wobei er sie duzte, sie ihn aber siezte. Und zu dieser Stunde, so hieß es, wurde jeder um ein Jahr älter. Die Lobverse auf den Lippen und das Schagaafeuer vor sich, fühlte man sich dem Vater Himmel und der Mutter Erde am nächsten. Am liebsten möchte ich hier bleiben. Aber ich weiß, es geht nicht. Und ich weiß auch, daß in jedem Wiedersehen ein neuer Abschied liegt, und ich bin es gewöhnt, schmerzlos Abschied zu nehmen. So setze ich trockenen Auges und fast heiter meine Reise fort. Ich reite durch die sengende Sonne, an Usuk Aksy, unserem 124
Frühjahrslager, und an Hoodasy, unserem zweiten Herbstlager, vorbei, und deutlicher werden die Erinnerungen. Die Sonne steht eine Handspanne über dem nördlichsten Gipfel der Besch Bogda, als ich in Schaarasch wieder ankomme. Baatyr erwartet mich stehend. »Wo hast du das Gewehr?« – »Auf dem Paß zwischen Dshugschud und Gongaadaj, unter dem Felsen mit dem Adlerklecks.« – »Die Murmeltiere auch dort?« – »Nein. Ich habe keine geschossen.« Baatyr kichert. Ich fuchtele drohend mit der Faust. »Ich habe nicht eine Patrone geschossen. Ich wollte nicht. Habe dafür die Winterheimat meines Vaters besucht. Habe die Spur meiner Jurte an drei Stellen gesehen und das Stück Erde, auf dem ich geboren bin. Ich habe unsere Schagaa gesehen!« Baatyr hört auf zu lachen, doch sein Gesicht erhellt sich noch mehr: »Der große Schagaa? Er war kaputt, ich habe ihn in Ordnung gebracht. Hast du es gesehen?« – »Ach, du warst es? Ich danke dir und werde es meinem Vater und meiner Mutter erzählen!« Mit dem Lächeln, das das ganze Gesicht bedeckt und an ein Bündel Strahlen der aufgehenden Sonne erinnert, läuft Baatyr davon und kommt mit heißem Tee und kaltem Fleisch zurück. Dabei glitzern seine hellen Haare, Augenbrauen und Wimpern wie schwingende Goldfransen unter den langen, schrägen Strahlen der untergehenden Sonne. Baatyr hat keine Mittagsrast gemacht und hat auf mich gewartet. Wir stillen unseren Durst und Hunger. »Sieh doch den Himmelsrand: Morgen wird ein schöner Tag. Da kannst du gut schießen.« »Ja. Der Tag wird schön. Aber ich habe schon vier Murmeltiere. Das ist genug.« »Nein doch! Vier sind zu wenig. Die Leute werden dich auslachen. Die Kinder werden enttäuscht sein. Sie werden denken, du bist ein schlechter Schütze. Nein, nein. Dann mußt 125
du von mir welche haben. Zehn oder auch zwanzig. Ich werde sie dir abschießen!« »Das ist gut. Du wirst gute Felle zurückbekommen!« Von jenseits der Schlucht zieht in breiter Bahn Rauch. Er kommt bis über die Schlucht, und dann wird er von dem Zugwind weggeweht. Am Rauchende in der Ebene über Hara Dsharyk schimmert ein Ail. Ich wundere mich, daß ich ihn, den schimmernden Ail in der Abenddämmerung, der am Tag geleuchtet haben muß, noch nicht gemerkt habe. Ich frage, wessen Ail das sei. Baatyr spitzt die zusammengelegten Hände über den Kopf: »Kasachen.« Alle Taubstummen sind beste Beobachter, Baatyr beschreibt das Ailoberhaupt: »Der stolze Alte mit den Pockennarben auf dem Gesicht und den vielen Orden auf der Brust.« Ich hole ein Stück Zeitungspapier und schmiere mit rußigem Finger dicke schwarze Buchstaben: »Bürkitbaj?« Baatyr nickt. Aber die Nacht fällt viel zu schnell über uns herein, weder Ail noch Rauch bleiben für das Auge. Das Bedürfnis, erschöpfende Antworten über diesen Bürkitbaj und sein Ail zu hören, überkommt mich wie ein Schüttelfrost. Allein der seines Gehörsinnes beraubte Baatyr ist ein unzulänglicher Gesprächspartner, und jetzt, bei Dunkelheit, ist er gar untauglich. Ich muß ihm die Nacht lassen, auch wenn sie für mich lang wird.
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Der elfte Tag
27. August Es waren einmal zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Das war an dem großen polternden Fluß, zu dem er Homdu und sie Kobda sagte. Und daraus erwuchs wohl auch ihr Pech. Aber zuerst gab es ein langes Glück, es dauerte tausend Tage und tausend Nächte und loderte zuletzt so hell und wild, daß es sie blendete und ein bißchen auch die Welt versengte. Die Welt war eine Schule und der Schuldirektor ihr Vater. Und so war sie ein richtiges Königskind. Sein Vater aber war fern, und niemand außer ihm wußte, ob auch er ein König war. Der Sohn aber, der vom Glück Auserkorene, fühlte sich nicht minder als ein echtes Königskind. Sie wurden im gleichen Jahr geboren, und als sie zusammentrafen, waren sie zwölf. Sie glich einem weißen Füllen, er sah sie in der allerersten Stunde, bis sie ihn auch sah, vergingen wohl hundert oder mehr Tage. Daß dies endlich geschah, verdankte er einem, der Lenski hieß. Er hatte über ihn etwas geschrieben und las es im Literaturunterricht vor. Als er fertig war, brach die Klasse in ein lautes Gelächter aus, er sprang auf und rannte hinaus, um nie wieder zurückzukehren. Doch dann kam ihm jemand nach, mit Tränen in den Augen, und das war sie. Und dann gab es den großen rauschenden Fluß, springende Fische, knospende Birken. Es gab lange trennende Nächte, den Unterricht mit den kurzen Pausen, manchmal einen lauen Abend und immer wieder den Fluß, die Fische und die Birken. Dann gab es einen Sommer, der war unendlich lang, und da wurden zwei dicke Stapel Briefe geschrieben, doch nicht eine Zeile erreichte den Empfänger. Daß es zwei unabgeschickte 127
Stapel waren, das erfuhren sie erst später, im Herbst, und das hatte seine Folgen. Sie hieß Fatima und war um einen halben Kopf größer als ich. Sie war recht schmal und schien zerbrechlich. Ich war sehr klein, stand im Turnen an dritter Stelle von hinten. Wir verbrachten jede freie Viertelstunde lesend, und so lebten wir ganz im Gefilde der Dichtung. Damals lasen wir Puschkin. Wir lasen Eugen Onegin, und obwohl wir die ganze Dichtung längst auswendig kannten, lasen wir immer wieder, flüsternd, jeder eine Strophe, und es kam vor, daß wir inmitten der Zeile verstummten, dann suchten unsere Hände einander, aber sie mußten sich wieder lösen, sobald wir die Tränen verschluckt hatten. Dann lasen wir auch einen Roman, und wir hatten lange mit ihm zu tun. Das war die Geschichte Petschorins, und sie machte uns eine Zeitlang selbst die Puschkinschen Verse vergessen. Alle dreiviertel Stunde gab es in der Schule eine Pause, und wir sprangen zum Fluß. Doch wie wir am Wasser standen, verflog unsere Leichtigkeit, und wir wurden schwermütig. Doch war dies eine beglückende, versöhnende und besänftigende Schwermut. Uns schien, wir hätten immer gelebt, und wir würden immer leben, obwohl wir Unglück und Tod ausgesetzt sind. Unser Leben war die Wiederkehr einer Geschichte, die nie endet, wir waren Pawel und Tonja, Lenski und Tatjana (aber nicht Olga!), wir waren Petschorin und Bela, die auch Meri heißt und Warja, und wir hießen manchmal auch Galsan und Fatima, doch das waren nur unsere zufälligen, zwischenläufigen Namen, die dreizehnjährigen Schulkameraden mit diesen Namen, die gut waren im Lernen, ebenso gut im Betragen. Die braven, ahnungslosen Kinder waren nicht wir. Wir waren der kühne Petschorin, die dreinamige Bela, und wir wußten damals noch nicht, daß wir auch Romeo und Julia, Werther und Lotte, Ferdinand und Luise und immer und immer wieder anders 128
heißen würden. Wir vermieden es, zu dicht aneinander zu treten, weil sonst Tränen kamen und wir uns verspäteten. Wir sprachen nicht ein Wort miteinander und liefen dann zurück, und erst am Rande des Schulhofes, bevor die Beleuchtung begann, berührten unsere Fingerspitzen einander, und das war wohl Anlaß genug zu erröten, wenn wir die Klasse betraten. Manchmal raschelte die Schwertlilienwiese, und in der Dunkelheit tauchte eine Gestalt auf, und Fatima sprang zu mir herüber und schmiegte sich an mich. Sie umarmend, konnte ich feststellen, daß es sich um nichts Gefährlicheres handelte: Es war einmal ein dahertrottendes Rindvieh, mal ein nächtlicher Reiter und gefährlichstenfalls ein streunender Hund. Aber Fatima war sehr schreckhaft. Sie zitterte. Wenn die Angst vorüber war, fiel der Kuß, und das kannten wir aus Büchern. Dann aber kamen die Tränen, und diese bei jedem Kuß. Wir verspäteten uns dann oft und betraten getrennt das Klassenzimmer. Stets wurde es darin einige Sekunden still, so still, daß es einem in den Ohren sauste und summte. Die Klasse wußte Bescheid. Eines Tages wurde ich zum Direktor bestellt. Ich stand schnell auf und spürte dabei ein Prickeln in den Knien. Der Direktor stand, die Hände am Jackenaufschlag, in der Zimmermitte und starrte auf eine Tabelle an der Wand. Dann sagte er: »Was ist?« »Ich sollte kommen.« »So, so.« Ich wartete, denn ich wußte, daß es um etwas Bestimmtes ging. Wir waren inzwischen bald sechzehn, waren in der achten Klasse. Der März war im Anbruch, aber noch war kalter Winter. Dann sagte der Direktor: »Wo war Ihre Person vorhin?« »Ihre Person« war damals ein Modewort im Mund von Mächtigen und hatte die Bedeutung des offiziellen »Sie«. »In der Klasse.« »Die ganze Zeit?« 129
»Nicht in der Pause.« »Und in der Pause?« »Wir waren draußen.« »Wer ist ›wir‹, und wo ist ›draußen‹?« Ich beschloß, zu schweigen und dabei an Fatima zu denken. Und ich dachte an sie und hielt sie an mich gepreßt. Ich sah dieses Bild, auf dem wir jungen Gardisten glichen, die ohne Angst in die Gewehrläufe ihrer Mörder blicken. Der Direktor mochte meinen Ernst erkannt haben, denn er sagte, nachdem er vergeblich auf eine Antwort von meiner Seite gewartet hatte: »Dann will ich auf die Frage antworten. Ihre Person und die Schülerin Fatima waren am Fluß! Nun aber die wichtigere Frage: Warum?« »Weil wir uns lieben!« Die Worte kamen so unvermittelt aus mir heraus, daß ich selbst nicht minder überrascht davon war als der Direktor. Der Direktor sprang von der Tabelle weg, schnaufte und brüllte: »Raus!«, gleich darauf aber wieder »Halt!« Vor der Tür machte ich kehrt. Da kam er auf mich zugestürzt und packte mich am Kragen. Nicht die geringste Angst spürte ich in mir, und das war seltsam. Ich schaute ihm unbeeindruckt in seine rollenden, an den Rändern rot angelaufenen Augen. So gefiel ich mir, und ich hatte den Wunsch, Fatima könnte mich in diesem Augenblick sehen. So bekam ich Lust zu kämpfen, unbedingt zu siegen und als Sieger zu glänzen. In mir erwachte das Gefühl: »Ich gehe mit dir, mein Jahrhundert, Hand in Hand.« »Ich werde dich von der Schule weisen!« »Sie wird mitkommen, so wie wir es besprochen haben!« Was nicht stimmte, denn wir hatten, wie mir später klar wurde, nie ein Wort darüber verloren, was wir im schlimmsten Fall tun würden. Ich flog gegen die Wand, denn ich bekam einen Faustschlag gegen die Schläfe. Das traf gewiß härter als jedes Wort, aber ich 130
war nun einmal so gestimmt, daß keine Faust mir eine Träne hätte herauspressen können. Ich raffte mich hoch, obgleich ich wußte, daß der nächste Schlag auf mich wartete, und dabei glaubte ich den verwundeten Owod zu sehen, wie eine uneinnehmbare Fahne, wie eine unauslöschliche Flamme, und dabei wünschte ich nun erst recht, Fatima sähe mich jetzt, ihren Pawel, Petschorin und Owod in einer Person. Dieser Kampf war etwas anderes, als in einem Schülerstück mitzuspielen, unvergleichlich unvorteilhafter für denjenigen, dessen Rolle darin bestand, niedergeschlagen zu werden und dann wieder auf die Beine zu kommen, allein da ich diese todernste Sache von vornherein für ein Schauspiel und mich für den Darsteller eines unbeugsamen Helden gehalten hatte, kam mir die Szene schön vor, schöner als auf der schönsten Bühne. Ich zeigte keine einzige Träne, sondern das feierlichste Gesicht, das ich je hatte. Aus diesem Grund ließ mein Gegenüber plötzlich von mir ab, ging zu seinem Schreibtisch und fing an zu schreiben. Dabei schnaufte er laut. Auch ich schnaufte und hatte dennoch Lust zu lachen. Dann sollte ich näher an den Tisch herantreten und das Geschriebene vorlesen. »Aus diesen genannten Gründen … wird der genannte Schüler … Galsan, Sohn des Schynykbaj, … von der Schule …« Das letzte Wort fehlte. Ich wurde gefragt, welcher Buchstabe nun käme. »V.« »Sehr richtig! Und nun?« »E.« Ich wurde wieder gelobt, wurde weitergelobt, wurde nur noch gelobt. »Verwiesen« stand in steilen, starren Buchstaben. Und somit wollte ich gehen. Doch ich wurde zurückgerufen: »Ihre Person hat nichts verstanden, wie ich sehe. Was denkt sie zum Beispiel, wie der morgige Tag für sie aussehen wird?« »Wunderschön«, sagte ich, »da neben mir Fatima sein wird und über uns beiden die Sonne, der Mond und die vielen Sterne 131
und vor uns die Segen vieler Menschen sein werden, diese besonders, da wir die Rassenschranken erstmalig beseitigt haben!« »Und wo werden die Helden, die die Rassenschranken beseitigt haben wollen, hingehören?« »Dorthin, wo der Tuwinenstamm seit Jahrtausenden zu Hause gewesen ist!« »Und wenn die Schülerin Fatima nicht mitkommen will?« »Sie wird mitkommen. Das ist so sicher, wie morgen früh die Sonne und morgen abend der Mond aufgehen wird!« »Aber wenn der Direktor, der der Vater der Schülerin ist, es nicht erlaubt?« »Dann werden wir in den Fluß gehen, der uns keinen Wunsch verweigern wird!« »So, so. Aber nun angenommen, Ihrer Person gelingt es, die Schülerin Fatima von der Schule wegzulocken, welches Zukunftsbild dürfen wir dann erwarten?« »Gar kein schlechtes. Denn ich werde machen, was mein Vater macht, und Fatima wird lernen, was meine Mutter alles kann.« Hier sah mich der Direktor belustigt an. Sein Zorn war verflogen. Vielleicht hatte er erkannt, daß ich eine Rolle spielte. »Ihre Person darf sich heute und morgen noch nicht als verwiesen betrachten, denn der Rat der Lehrer hat übermorgen eine Sitzung, und erst wenn der Verweis bestätigt wird, erst dann soll es geschehen. Vielleicht wird man mir in der Mehrzahl nicht zustimmen, dann wird keine Ausweisung erfolgen, aber das wird von mir abhängen.« Die runden Augen des Direktors blickten mit einemmal gütig auf mich. Sollte ich ihm mit einem dankbaren Blick entgegenkommen und damit meine Rolle fallenlassen? Da aber sagte der Direktor etwas Unerwartetes, gar Unvermutetes, ja Unvorstellbares. Und er tat es, wie mir heute scheint, weil er mein Zaudern mißverstand, nämlich dahinter endlich das zu finden glaubte, 132
was er bei mir zu sehen gewünscht, aber zu seinem großen Ärger vermißt hatte: Angst. »Damit Klarheit besteht, die Grundbedingung, die Ihre Person zu erfüllen hat, wenn sie bleiben will, ist, daß die Schülerin Fatima in Ruhe gelassen wird, auch später, denn sie wird nie Ziegen melken, Murmeltierfleisch kochen und Abenteuerromane lesen. Sie wird studieren und forschen, ihr Leben der Wissenschaft widmen, der wahrsten Poesie unserer Zeit und aller kommenden Zeiten!« Ein übles Gefühl stieg mir aus dem Magen hoch, so ähnlich stellte ich mir einen Bauchschuß vor. Ich machte mich davon. Fatima war nach Hause gegangen, obwohl alle anderen noch da waren. Das war der nächste Schlag. Ich begann einen Brief, blieb zurück, als es neun Uhr wurde und alle gingen. Um zwölf Uhr, als das elektrische Licht erlosch, ging ich zu Rahym, dem alten Nachtwächter, den wir Hamdallah nannten, seitdem wir Gorkis Erzählung mit dem gleichnamigen Helden kannten. Ich bat ihn um einen Kerzenstummel. »Schreibe morgen, Sohn.« »Wenn ich das morgen machen dürfte, dann wär ich zu dir nicht gekommen, Hamdallah.« Ich bekam die Kerze, verließ meinen Unterschlupf erst bei Morgengrauen, schob das vollbeschriebene Schulheft unter der Tür des Direktorzimmers hindurch und ging erleichterten Herzens schlafen. Erst vom Lärm der vom Unterricht heimkehrenden Schüler wurde ich wach, sie brachten mir meinen Mittagseintopf mit dem Frühstücksbrot ans Bett, was bei den Internatskindern eine alte Tradition darstellte. Ich aß und schlief wieder ein mit dem erhabenen Gefühl des Abschieds: Nie wieder werde ich in einem Internatsbett schlafen, dachte ich wehmütig. Nie wieder werde ich ein Internatsessen bekommen! Nie wieder ein Internatsbewohner, nie wieder ein Schüler, nie wieder und nie mehr ein Kind sein! Nie mehr werde ich neben Fatima sitzen, gehen, leben! Nie mehr lieben und nie mehr geliebt werden! Nie mehr glücklich und nie mehr unglücklich 133
sein! Dafür nur dasein wie der Wind und der Blitz und einmal auftauchen und Rache nehmen! Ja, Rache: Das war es, was ich in der Vornacht mir und dem Direktor versprochen hatte, zwölf Doppelseiten eines Schulheftes voll, was auch auf den einen Satz hätte verkürzt werden können: »Du hast mein Glück zerstört, ich rechne ab in der kommenden Nacht, du alter, rückständiger Hund!« In der Nacht darauf passierte etwas Schreckliches: Die Jurte des Direktors brannte ab, vier von den neun Kindern und die Frau hatten Brandwunden, der Hausherr selber hatte sich während des Tumults einen Arm gebrochen. Verschiedenes hörte man. Die einen meinten: ein Unfall, ein Funke. Andere: eine Brandstiftung. Die Miliz hatte gemessen, gestochert, gespürt. Ich hatte Angst, daß der Direktor mich als Brandstifter anzeigen würde. Der Beweis, das vollgeschriebene Heft, war da, auch die schönste Unschuldsbeteuerung würde mir nicht helfen, und so würde ich ins Gefängnis kommen. Über Nacht wurde ich ein anderer Mensch, wurde still, schrecksam und überfleißig. Ich ging dem Direktor aus dem Weg. Indes schien er mich vergessen zu haben. Die Sitzung fand nie statt. Ich wollte nun Musterschüler werden und befreundete mich mit dem Klassenersten, Osrip. Allein unsere Freundschaft war von kurzer Dauer. Fatima war der Grund. Es hatte inzwischen wieder ein neues Schuljahr angefangen. Die Brandnacht lag schon so weit zurück, daß ich dem Direktor begegnen konnte, ohne dabei Hitze und Kälte zu empfinden, und manchmal versuchte ich mir einzureden, er könnte meinen Brief gar nicht zu Gesicht bekommen haben, weil der Heizer das vollbeschriebene Heft für Abfall gehalten und verfeuert haben könnte. Was vielleicht auch stimmte. Oder der Direktor war klug genug, daß er mein ganzes Geschreibsel lediglich für ein 134
kindliches Launenstück hielt und wußte, daß ich niemals der Brandstifter hätte sein können. Der Herbst hatte einen vierten Monat. Erst Ende Oktober fiel ein flüchtiger Schnee, von dem schon am nächsten Tag keine Spur mehr blieb. Die Abende waren quälend lau und lang. Die Pausen dauerten länger als festgelegt. Ich lief über das Schwertlilienfeld und über die Moorwiese am Flußufer entlang, angesteckt von dem lauen, endlosen Herbst, ich war wieder heraus aus meiner anderen möglichen Haut, ich litt. Denn nun liebte ich wieder, liebte eigentlich erst richtig. Aber es war jetzt eine überflüssige, sinnlose und unglückliche Liebe. Fatimas neue Beziehung zu Osrip war inzwischen jedem bekannt und verständlich: Wem sonst hätte der Erste einer Klasse seine Freundschaft schenken können, wenn nicht der Direktorstochter? Es war nun eine mathematische Liebe, so wie die unsere eine literarische gewesen war. Sie saßen stundenlang beisammen und lösten Aufgaben, meistens für die ganze Klasse. Selten machten sie ein Pause, und wenn sie eine machten, dann kamen sie nicht so bald zurück. Wohin sie gingen, wußte ich nicht, versuchte auch niemals, es zu erfahren. Ich war ein zahmer Zuschauer. Zahm war ich zuvor nicht gewesen, zahm bin ich auch später nie geworden. In diesem Herbst aber, in diesem einen Jahr, war ich es. Sie kamen immer zusammen, immer fröhlich zurück, und das tröstete mich ein wenig. Verstört, verweint und getrennt waren wir stets zurückgekommen, wenn wir uns geküßt hatten. Wir hatten mehr miteinander gehabt, dachte ich. Später, im Winter, kränkelte Fatima, sie fehlte zuerst in den einzelnen Stunden, später ganze Tage, und um den zehnten März hieß es, sie sei im Krankenhaus. Sie kam schon in der nächsten Woche zurück, völlig ausgeheilt. Was sie gehabt hatte, schien sie keinem zu erzählen, denn nichts wurde bekannt. Ich hatte nun wieder Hoffnung, da die Freundschaft mit Osrip zerbrochen war. Doch es kam alles anders. 135
Der April war mit Schneestürmen abgereist, der Mai kam mit Sandstürmen an, ein strenger Frühling tobte draußen. Manchmal sangen wir an den Abenden. Eines Abends geschah etwas, was Folgen hatte, die entscheidend waren für uns. Fatima sprang inmitten des Lieds auf und rannte hinaus. Der Gesang brach ab, wir sahen einander an, wir sahen uns um. Keiner sagte ein Wort, Osrip deckte sich und errötete. Ich bekam Mut. Oder war es Angst? Ich stand auf und ging hinaus. Ich lief bis vor ihren Ailrand. Dort war sie nicht. Dann rannte ich zurück, kam an den Fluß, begann zu rufen: »Fatima! Fa-ti-ma! Fa-ti-maah!« Der Sturm tobte, warf mich hin und drohte mich um ein Haar davonzutragen. Ich hatte keine Hoffnung mehr, daß mich Fatima hören, daß ich Fatima sehen würde, aber ich rief und rief zwischen Aufstehen und Hinfallen dieses eine Wort, diesen einen Namen, der mir der teuerste unter allen war. Dann begann ich zu heulen. Es endete damit, daß ich ins Wasser stürzte. Es hätte schlimmer sein können, wenn unter mir nicht gerade eine seichte Stelle gewesen wäre. Als ich klitschnaß ins Internat zurückkam, fühlte ich mich wie in einem Eispanzer. Die Folge war eine Lungenentzündung, eine Woche blieb ich im Bett, bekam Spritzen. Am dritten Tag kam Fatima, in der großen Pause. »Was hast du gemacht?« fragte sie. »Ich liebe dich, Fatima!« »Hast du dich ertränken wollen?« »Tritt näher heran, Fatima. Vielleicht sterbe ich!« Sie schüttelte den Kopf und ging. Am nächsten Tag kam sie wieder, gab mir einen Zettel: »Lies!« »Ich habe Dich bestrafen wollen«, las ich, »habe dabei aber mich bestraft. Du wirst mich verstehen, wenn ich sage, O. ist kein guter Mensch. Die Bedingung für unser Glück ist zerstört, Einziger. Es ist aus zwischen uns. Die alten Gefühle mögen so sehr wach werden in uns, sie können sogar noch zunehmen durch den Verzicht, auch das hat nichts zu sagen. Erweise Dich 136
als ein Sohn deines willensstarken Volkes und gehe mir aus dem Wege. Ich werde mich als eine Tochter meines sittenstrengen Volkes erweisen, welches das Liebesglück an diese eine Bedingung bindet, und ich werde Dir aus dem Wege gehen.« »Hast du verstanden?« fragte sie. »Ja.« »Gib ihn dann her!« Ich gab den Zettel zurück. Sie steckte ihn in den Ofen und zündete ihn an. Dann ging sie. Ich wiederholte den Text mehrmals im Gedächtnis, damit ich ihn nicht vergäße. Dabei gefielen mir die Wörter ›willensstark‹ und ›sittenstreng‹. Von einem Verstandenhaben aber konnte nicht die Rede sein. Wir sahen uns nicht wieder. Ich hörte, sie würde im Ausland studieren … Ich hinterlasse Baatyr einen Zettel, auf dem ich eine Sonne mit einer Eins darauf und einem herzielenden Pfeil daneben male. Das heißt: Ich komme morgen zurück. Ich gehe in Richtung Schlucht, reite an glitzernden Grashüpfern, Feldlerchen und Murmeltieren vorbei, die stumm davonhüpfen, fortfliegen und wegrennen. Ich denke, was wird aus diesen Tieren werden? Und aus diesen stummen, scheinbar dampfenden Bergen? Aus diesem stillen Winkel, der nicht mehr lange still bleiben wird? Und aus der Erde, die still und weit, laut und eng geworden ist und noch lauter und enger werden wird? Die Stelle, von der man den Fluß sehen konnte und sein Rauschen vernahm, wurde in der Kindheit von jenen, die heute ins Greisenalter gekommen sind, die Wunderschwelle genannt, und eben hier verbrachten sie ein Tausendstel oder ein Hundertstel ihres Lebens. Die Wunderschwelle, erzählt Vater, sei in seiner Kindheit gut drei Schritte weiter vorn gewesen. Seitdem hat sich wieder ein halbes Menschenalter davongemacht. 137
Der Ail, den ich erreichen will, rutscht hinter die andere Schluchtwand zurück, und das macht mich ein wenig eilig. Doch erst muß ich mich waschen. Und ich tue es so gründlich und schonungslos, daß ich das Wasser des stürzenden Bergflusses in jeder Hautpore wie eine Eisnadel spüre und vor Beben und Zittern und Prusten und Grunzen ein wenig einem splitternackten Schamanen gleiche, der in Erwartung seiner Geister hockt und zuckt. Beim Anziehen betrachte ich jedes Kleidungsstück durch Kratzen und Reiben mit Sand, Kies und Gras. Ich möchte nicht, daß von mir Murmeltiergeruch zu riechen und spuren zu sehen sind. Über Terektig ist ein schmaler Streifen Himmel zu sehen, hier ist die Nacht am längsten, selbst inmitten des hellichten Tages scheint ein Rest Dämmerung an den Schluchtwänden zu bleiben. Hier wird man hellhörig, trotz des schweren Polterns und Rauschens. Das Erklettern der von der Sonne bestrahlten rutschigen und brüchigen Nordwand der Schlucht kostet Kraft. Das Pferd und ich kämpfen wohl eine Stunde, dann erreichen wir den Rand des gelben Bergrückens, der irgendwo in einer seiner Falten den Ail birgt. Der Zipfel einer Schafherde wird sichtbar. Ich reite dorthin und entdecke über einer Mulde ein Paar bloßer Kindersohlen, die in der Sonne glänzen. Ich pfeife, und aus der Mulde springt ein Mädchen von acht, neun Jahren auf. »Sei gegrüßt, mein Kind!« Das Mädchen bewegt die Lippen kaum, doch ich höre genau, bei der Entfernung fast zu genau, was da gemurmelt wird: der Gegengruß. Ich eile hin und steige ab, hole Fragen auf Fragen aus mir mit der Überlegenheit und Eindringlichkeit reisender Kasachen, bohre. Das Kind gibt knappe, präzise Antworten, mich abtastend mit seinem hellen, vor Neugier brennenden Blick: Was für einer bist du? Von uns oder nicht von uns? Und was bezweckst du? Ich 138
erfahre: Der Spätsommer ist hier heiß gewesen, der Quellbrunnen wäre beinah ausgetrocknet. Seit Beginn des Herbstes aber ist die Erde wieder wasserschwanger, und ein Bach springt vom Brunnen ab. Das Vieh hat gutes Fett angesetzt. Der Großvater? Dem geht es gut. Nur wenn der Himmel bewölkt ist, geht es ihm nicht gut. Dann bleibt er im Bett und jammert. Denn von seinen acht Gliedbeinen ist nur noch eines heilgeblieben, alle anderen sieben sind irgendwann gebrochen, sagt man. Ein Fest sollte werden, weil Großvater die Neunzig erreicht, aber er läßt es nicht zu, er sagt, bei Hundert erst. Denn es sind Gäste aus der Stadt gekommen. Eine Tante mit Mann und Tochter und mit diesen eine Menge anderer aus der Verwandtschaft im Bezirk. Ich blicke auf den gelben Rücken jenseits der Schlucht hinunter und muß die Augen fast schließen, geblendet von dem gleißenden Sonnenlicht, das von der Mittagshöhe auf die Herbstlandschaft fällt. Es ist Mittag eines Sommertages. »Wie heißt deine Tante, die aus der Stadt gekommen ist?« »Fatima.« Es gibt nun Träume, die man viele Jahre lang mit sich herumgetragen hat und die einem mit der Zeit so teuer werden, als wären sie wirkliche Erlebnisse gewesen. Zwei meiner derartigen Träume haben mit Fatima zu tun. Der erste: In der Steppe. Ich fahre auf dem Motorrad mit einem Auto um die Wette, in dem Fatima sitzt. Ich fahre so schnell, daß ich ein Brennen im Gesicht und in den Haarwurzeln spüre, doch überhole ich das Auto nicht, weil wir uns sonst nicht mehr würden sehen können. Auf einmal stürze ich, und ich sehe, obwohl es sich hier gewiß um den denkbar schwersten Sturz gehandelt haben muß, Fatima aufschreien und das Auto anhalten. Dann stürzt sie auf mich zu, umarmt meinen Kopf, und weinend sagt sie: »Lebst du?« – »Ja, ich lebe. Liebst du mich?« – »Ja, ich liebe dich.« Dann küssen wir uns, und das dauert so 139
lange, bis ein Mitfahrer versucht, mir Fatima wegzureißen. Sie aber widersetzt sich ihm: »Hör auf, ich gehe nicht mehr mit dir, denn ich hab mein Zuhause woanders!« Das Auto fährt ab, und wir gehen nach Hause, in die Steppe hinaus. Der zweite: In der Stadt. Es ist in einem menschenüberfüllten Saal, ich bin der lesende Schriftsteller, lese aus der Geschichte unserer Liebe. Inmitten der Lesung fährt eine Frau aus der Publikumsmitte auf und rennt schluchzend hinaus. Es ist Fatima. Ich lasse die Lesung Lesung und das Publikum Publikum sein und folge ihr. Wir treffen uns nach Jahren wieder. Sie weiß, daß ich Dichter geworden bin und sie immer noch liebe. Und ich weiß, daß sie allem zum Trotz meine Fatima geblieben ist. So haben wir uns wieder, und wir gehen in die Stadt hinaus, wo unser Zuhause auf uns wartet. Ich habe keinen Mut, zum Ail zu reiten. Ich frage das Kind, wann es nach Hause geht. »Zum Abendmelken.« Vom Mittagsmelken ist es erst zurück. Nun erzähle ich zwischendurch auch kleine süß-herbe Geschichten aus der Stadt und der Welt, und ich tue es in der Hoffnung, daß mir so nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Freundschaft dieses Landkindes mit dem brennenden hellen Blick zuteil werden könnte. Auch hüte ich mit ihm die Herde, und als die Sonne auf die Besch Bogda zugeht und der Schatten der Herde das flache Seitental im Osten überquert, ritze ich auf einen handtellergroßen, flachen blauen Stein die Zahl 54, und ich gebe ihn dem Kind: »Bring den Stein zu der Tante Fatima und sag ihr, daß sie hier erwartet wird. Versprich mir aber, daß kein anderer davon erfährt!« Es sind elf Jahre vergangen, elfmal Frühling, elfmal Sommer, elfmal Herbst und elfmal Winter. Das ist viel Zeit. Elfmal Abschied und elfmal Ankunft. Elfmal das beglückende Gefühl, reifer geworden zu sein, und elfmal das bestürzende Gefühl, älter geworden zu sein. Elfmal die Reue, das letzte Jahr nicht gut genug genutzt zu haben, und elfmal der Selbstbetrug, es im nächsten Jahr nachzuholen. Elfmal Erwartung und elfmal 140
Enttäuschung; elfmal die alarmierende Feststellung, daß das letzte Jahr am kürzesten und am schwersten gewesen sei von allen vorangegangnen Jahren. Elf Jahre sind eine lange Zeit, sie verschließen verheerend viele Möglichkeiten in sich. Sie können einen Menschen nicht nur bedeutend älter, sondern auch bedeutend anders machen. Doch vermag ich mir meine Fatima weder älter noch anders vorzustellen. Ich warte auf die Fatima, die ich geliebt und die mich geliebt hatte. Die mich hatte bestrafen wollen, aber dabei sich selbst mitbestraft hatte. Die Fatima, die zuletzt achtzehn Jahre alt gewesen ist, schön und erfolgreich. In der Dämmerung kommt das Kind zurück, es reicht mir den Stein vom Pferd herunter. Ich lese die dicke schwarze Schrift, quer über meine Ritzung geschmiert: »Kann hier nicht weg. Komme du!« Ich zittre vor Enttäuschung, die in Wut umzuschlagen droht, suche einen neuen Stein, finde ihn schließlich und ritze drauf: »Du mußt!!! Ich warte!!!« Dann gebe ich ihn dem Mädchen, und als es schon ein Stück weggeritten ist, rufe ich hinterher: »Sag, daß ich bis an den Ailrand komme!« Die Dunkelheit verbreitet sich von der Schlucht über die Täler und die Höhen. Ich schleiche mich mit ihr voran und beziehe am Ailrand, vor einem dunklen Felsen, Stellung. Licht flutet aus der Rauchöffnung der hintersten der vier Jurten, von dort dringt Lärm her, helles Gelächter, dunkles Raunen und dazwischen das hell-dunkle, fröhlich-traurige Dombra-Solo. Eine Fleisch- und Musik- und Bergnacht. Eine Sternennacht. Sterne kommen, Sterne gehen. Ich spüre vor Hunger Schwäche in den Gliedern und weiß, daß nicht vor Mitternacht das Fleisch gegessen und die Musik verstummen wird. Was hält mich im Versteck wie einen Dieb, was hindert mich, zum Ail zu reiten, zur feierlichen Runde und 141
mein Gastrecht zu genießen? Die Rassenschranke? O nein! Ich habe mehr Nächte in kasachischen Jurten verbracht als anderswo, mehr und schönere Nächte. Ich kenne die Wärme und die Vertrautheit, die darin wohnt, die Üppigkeit und die Sauberkeit, die den Gast umgibt, und ich bin sicher, daß mich der Ail des Bürkitbej wie einen höchsten Gast, wie einen zurückkehrenden Sohn der Sippe aufnehmen würde. Ich auf meinem Gästethron könnte ihnen diese Nacht unter wandernden Sternen, um den duftenden Herd und mit den beschwörenden Melodien der Dombra ein wenig bereichern. Aber ich will es nicht, will weder den zufällig Herbeigereisten, den gewöhnlichen Gast noch den wiedersehensberechtigten Klassenkameraden der Enkelin, den ungewöhnlichen Gast vortäuschen. Ich sitze hier, weil ich mehr erhoffe. Weil ich mich damit nicht abfinden kann, daß ich eine erste Liebe ohne die erste Nacht gehabt, weil ich mir darum Träume angeschafft habe, die um diese Nacht irren, und weil ich manchmal denke, daß das Nichtgewordene, Niegeschehene, das Davongescheuchte, Darumgebrachte doch nachholbar sei. Das Dombra-Solo übertönt den Lärm, die blutgefrierende Geschichte des Ak Böken, der weißen Saigaantilope, sprudelt hinaus in die Nacht, Ton auf Ton, gleich einer unabreißbaren Kette von Eisperlen, die durch die Luft rollen. Wie nah war dir der Mensch einst, Ak Böken, du Unschuld auf vier Beinen, du Schönheit im schimmernden Fell, und wann begann er sein blutiges Werk gegen dich, du verwundbares und vernichtbares Bündel? Und wann und wie wird das Ende dieses Krieges sein? Der Gang der zweiundsechzig Pferde befreit die Seele von dem Druck, den der Ak Böken zurückgelassen hat, und beflügelt sie nun. Auf nur zwei dünnen zarten Saiten finden die Hufe von zweiundsechzig Pferden Platz, das Getrommel schlägt ins Herz, zündet es an: Ein Wunder ist das Dasein. Auf nur zwei dünnen, zarten Saiten findet die Geschichte eines Volkes Platz, denn es ist immer und immer wieder der Mensch, der Kasache, gewesen, 142
der den Bergen, den Flüssen, den Tieren und dem schönsten aller Tiere: dem Pferd den Puls erfühlte und das Schicksal erriet, und ohne Grund fließt ein Fluß nie traurig und geht ein Pferd nie fröhlich. Den Fluß kann ein Abschied bedrückt und das Roß ein Wiedersehen beflügelt haben. Ein Schatten taucht am Ailrand auf, ich schließe vor Angst die Augen. Der Schatten ist noch da, ist noch näher gehuscht, als ich sie wieder öffne. Doch bleibe ich noch sitzen, weil ich denke, es könnte, es müßte das Kind sein, das eine unselige Nachricht bringt. Aber dann geschieht es, daß ich aufstehe und, die Leine in der Hand, dem Schatten entgegengehe, weil er nicht schnell genug vorankommt. Und es geschieht auch, daß der Schatten stumm vor mir stehenbleibt und ich an ihm nach Ähnlichkeiten mit meiner Fatima suche. Da sagt der Schatten: »Laß uns weitergehen.« Es ist Fatimas Stimme. Das sagte sie, wenn ich sie anfaßte und wenn sie wußte, daß wir uns küssen würden. Die Stimme ist geblieben, die Stimme bleibt immer. Wir gehen weiter. Sterne fahren, Sterne kommen. Was sind Träume? Sind das nicht Botschaften aus der Zukunft? Denn wieviele unserer Träume werden, wenn auch mit dieser oder jener kleinen Abweichung, doch zur Wirklichkeit? Und wie sanft lindern sie die Schmerzen von den kleinen und großen Brandwunden, von anderen noch unerfüllten Träumen? Aber weiß man denn so genau, daß diese von vornherein unerfüllbar waren? Vielleicht hatte man nicht genug Mut, den vom Traum vorgeschriebenen Weg zu gehen, oder vielleicht ließ man sich von der kleinen Abweichung irremachen, und kehrte auf halbem Wege um? Wir kommen an eine große Felswand, die besonders dunkel erscheint und an der die Luft lau und reglos steht. Ich sattle das Pferd ab, lege ihm die Dreifußfessel an und breite die Satteldecken zu einem Nachtlager aus. Dann lassen wir uns darauf nieder. 143
In dieser Herbstnacht, in dieser erträumten Stunde meines Lebens glaube ich an die Wahrheit eines Traumes: »Du sagtest, du würdest mich tausend Jahre lieben.« »Du sagtest mehr. Und wir glaubten daran beide.« »Solange wir nicht andere wurden.« »Es ist schön, daß du dich nicht mehr mit Haß herumquälst und daß du an mich gedacht hast inmitten dieser großen vollen Welt. Daß du gar gedacht hast, ich würde zu dir kommen, in dieser Nacht, aus der Mitte der Sippe, die wacht und Wiedersehen feiert.« Da weiß ich, daß alles Gewesene, das nicht hätte sein dürfen und das wir Pech nannten, unbedeutend werden wird gegen diese eine Nacht mit dem stumm siedenden Himmel, mit den Millionen schlafender Gräser, Blumen und Steine unter der würzig kühlen Luft des herbstlichen Altai. Wir sind das Urpaar, der Urmann und die Urfrau, kein Kummer erlahmt uns und keine Moral macht uns blind. Die starke, gesunde Hand der Natur lenkt uns, sie macht uns das Unmögliche möglich, wir holen das Davongescheuchte zurück: Das Nichtgewordene wird, das Niegeschehene geschieht. »Auch ich habe an ein Wiedersehen geglaubt«, fährt Fatima fort, »doch es sollte an einem knisternden weißen Wintertag sein, auf der endlosen Straße, sollte Trauer aufwühlen und bittere Vorwürfe.« »Wer weiß, ob es vielleicht tatsächlich doch nicht hätte so aussehen können, wenn wir uns gerade auf einer der Straßen der in diesem Augenblick in der Ferne liegenden Stadt entgegengekommen wären, die uns – oh, das wievielte Jahr schon! – voreinander wohlbehalten verborgen haben? Denn da fielen auch mir Vorwürfe ein.« »Weil ich geheiratet habe?« »Auch deswegen.« »Laß das, Einziger, jetzt in unserer einzigen Nacht, und laß das auch für später. Denn sinnlos ist hier jeglicher Vorwurf, weil 144
er entweder alle treffen muß oder keinen treffen darf. Nehmen wir an, es hätte keinen Direktor gegeben, so wie mein Vater einer war, keinen Osrip, keine Brandnacht. Es hätte alles nicht gegeben, was uns wie Ursachen für unser Pech vorkommt. Hätte unsere Liebe dann ihr Endziel erreicht? Du wirst vielleicht sagen: O gewiß! Warum? Weil wir uns liebten! Aber so sicher bin ich mir da nicht. Ich möchte fast sagen: Wahrscheinlich nicht. Seit einem halben Jahrhundert mindestens leben unsere Völker nebeneinander, ganze Generationen sind inzwischen herangewachsen; aber wieviel Fälle kennst du, daß Tuwinen und Kasachen miteinander verheiratet sind? Vielleicht einen, vielleicht aber auch keinen! Sollen wir so naiv sein, zu glauben, es kommt nicht zur Liebe zwischen ihnen? Wo die eine Jugend am Tage hundertmal, tausendmal mit der anderen Jugend in Berührung kommt? Oh nein, wo Menschen sind, da ist auch Liebe! Liebe ja, Heirat nein. Und daß sich hierzulande Eltern um die Heirat ihrer Kinder kümmern wie um keine andere Sache im Leben, das begreife ich nicht nur, das befürworte ich auch. Da brauchst du nicht gleich zittrig zu werden, laß das. Versuch nicht wie einer zu denken, der unter die Generationen Theorien verstreut, und versuch auch jene, die dir Bildung gaben, ein bißchen mit anderen Augen zu sehen: ich habe gehört, daß dortzulande an einem Auto mehr Liebesträume hängen als an einem Kind und ebenso ein altes Auto mehr Pflege genießt als die alte Mutter. Für solche wäre unsereins dünnhörig und unselbständig. Aber ich als Mutter, die ich die Geburtsschmerzen mit dem eigenen Leibe gespürt habe, weiß, daß mir nicht gleichgültig sein wird, wen meine Anargül später heiratet. Ich würde auf alle Fälle versuchen, sie zu beeinflussen, daß sie sich für einen wirklich guten Mann entscheidet, doch dieser kann meinetwegen auch ein Chinese sein. Du siehst: Die Schranken fallen, die die Menschheit und ihr Glück zersplittert haben, ein wenig zu langsam für uns beide, aber schnell genug. Wir werden fortleben in unseren Kindern, Kindeskindern. 145
Darum keine Trauer, keine Vorwürfe und Bitternisse mehr. Laß uns die Zeit, die uns gebührt, in heller Freude verleben, das Glück, das uns gehört, in vollem Zuge genießen!« Ich erwache vom warnenden Nüsterngebläh des Pferdes und entdecke in der Morgendämmerung einen Schatten, der sich auf uns zubewegt. Ich wecke Fatima, und in diesem Augenblick ruft leise der Schatten: »Tante!« Fatima ruft mit ebenso leiser, hellwacher Stimme zurück: »Ja doch, tritt näher heran!« Doch bleibt sie liegen, und ich glaube, sie lächelt. Der Schatten tritt an uns heran. Ich erkenne das Hirtenmädchen wieder. »Was ist?« »Sie werden gesucht.« Plötzlich höre ich den Wind über den Felsspitzen, wo der letzte Strahl des gehenden Tages vom ersten des kommenden eingeholt wird. Ich versuche Fatimas Gesicht zu sehen. Es gelingt mir nicht: In dem ovalen, hellen Fleck mit den zwei dunklen Flecken glaube ich einzig die alten vertrauten Züge wiederzuerkennen. Ich muß glauben, sie ist so jung geblieben, wie sie gewesen ist vor elf Jahren: dasselbe Gesicht und dieselbe Stimme, derselbe betörende Geruch und dieselbe brennende Haut. Sie küßt mich in Gegenwart des Mädchens: »Am besten vereinbaren wir nichts. Wehe fort, du Wind, und sei glücklich, so gut es geht.« Sie gehen. Ich bleibe sitzen, und es ist mir, als bliebe ich auf einer verlassenen Welt zurück. Da stehe ich auf und sattle mein Pferd. Ich reite in den jungen schwefelgelben Tag hinaus.
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Der zwölfte Tag
28. August Zu jeder Seite meines Sattels hängen zwölf ausgewachsene Murmeltiere herunter. Das geschieht auf Baatyrs Entscheidung. Dann gibt er mir lachend auch mein Gewehr und fragt: »Wo warst du in Wirklichkeit? Denn so früh stehen doch die Kasachen nicht auf.« »Ich war bei meiner kasachischen Frau. Heimlich in der Dunkelheit unter einem Felsen. Sie ist gegangen, weil sie im Ail gesucht wurde.« Baatyr verzieht das Gesicht, prustet los und verfällt in wilde Sprünge. Ich lasse ihn hüpfen und reite davon. Auf der obersten Kuppe des Schaarasch drehe ich mich um und sehe ihn am Herd hocken, stur und gebückt. Von dem vielen Blau und Gelb und Weiß, das der Tag gebiert, schmerzen mir die Augen, aber ich will sie offenhalten und frage mich, wie es möglich gewesen ist, daß ich früher, wie alle anderen Reiter auch, ganze Tagesstrecken geritten bin, im Sattel schnarchend, und doch immer zur rechten Zeit erwachend, wenn das Pferd über einen Gebirgspaß trat oder an einen Fluß kam, oder auch wenn ein gejagtes Murmeltier vom Pferd fiel, da ihm der Schlitz in der Unterlippe gerissen war. Vielleicht kam das davon, daß die Augen aufblieben, so sehr man auch schlief. Vielleicht würde auch ich jetzt sehend schlafen und zur rechten Zeit erwachen können, aber ich will nicht schlafen, nicht dösen, ich will hellwach sein und mein Dasein ergründen. So wie es dir geht – wie geht es mir? Bin unzufrieden. Denn ich komme bald auf die Dreißig, den sachten Rückschauhügel, den Beginn der siebengliedrigen Kette bis zum Gletschergipfel 147
des Menschenalters. Doch wie viele gehen schon, ohne diesen sachten Beginn zu erreichen, und lassen dennoch ihren Namen bei den Lebenden zurück? Nicht Macht und nicht Reichtum ist mir zuteil geworden, ich habe keine Gewalt auf das Weltgeschehen. Mein Name ist noch sterblich. So wie es dir geht – wie geht es mir? Bin zufrieden. Denn ich, dessen Ahnen sich vom Murmeltierfleisch ernährt, vor jedem Bach, jedem Felsen und jedem Lärchenbaum verneigt und auf jedes Wetterleuchten gehofft haben, der ich selber am Nomadenherd gelegen habe, Nomadenträume träumend, bin ich hinausgekommen in die Ferne, die die Zugvögel nicht erreichen, und habe von dort Wissen nach Hause gebracht. Speise und kleide mich vornehmer als die Fürsten meiner Ahnen, habe mich zweimal anderswo fortgepflanzt mit frischem Blut und frischem Verstand: bin unsterblich. So wie es dir geht – wie geht es mir? Mit einem großen und mit einem kleinen Gesicht, mit einem mageren und mit einem fetten Gesicht: zweigesichtig und zweigeschichtig – so also geht es mir. Herbstgedanken. Am schönsten ist der Altai im Herbst, bei stillem Sonnenschein. Und mehr Sonne, als sie auf ihn herabflutet, und eine größere Stille, als sie ihm entströmt an dem heutigen Vormittag, wird es schwerlich gegeben haben, auch zu den Zeiten, als Könige noch in Kutschen fuhren und der Teufel im Uran noch ungeboren war. »Die Pusta ist geblieben!« hörte ich einen Hoffnungsvollen sagen. Wird auch der Altai bleiben? Fatima, wie war der Morgen? Was fragst du nach dem Morgen? Wir hatten die Nacht. Der Morgen! Bist du verhört worden? Vielleicht gar geschlagen? Welchen Preis setzten eure Sitten auf die halbe Nacht? Und der Mann – der ein moderner Mann sein muß: er trinkt doch! – dein Mann nach dem Gesetz und dein Herr nach den Sitten, was hatte er für dich bereit? Ich will es wissen. 148
Wozu? Du bist weggeritten, bist unerreichbar für unsere Sitten und für meine Schmerzen. Erreichbar bin alleine ich, und ich muß mit allem fertig werden. Meinetwegen. Aber dann eben zur Nacht. Wir haben über so vieles nicht gesprochen. Wir haben einander nicht einmal sehen können. Aber dafür haben wir uns fühlen können, und das ist mehr als das Sehen. Denn wie viele siehst du an einem Tag und wie wenige fühlst du in einem Leben. Das ist wahr. Dennoch hätten wir uns sehen sollen, um uns zu begreifen, um im Gesicht den Spiegel der Seele zu erkennen. Jede auf- und jede abgedeckte Pore, jede an- und jede abwesende Falte vermag mehr zu erzählen als manch lange Erklärung. Und der Blick: aufgesammelt liegen in ihm die Spuren der Jahre. Kannst du eine Spur im Gesicht verwischen, bist du doch machtlos gegen sie im Auge, es sei denn, keine Seele ist dort mehr. Manche reden von der Seelenverwandtschaft. Wenn es diese tatsächlich gibt, dann sind wir es unbedingt. Unter einem Dach ein Leben lang – zu was für einem festen Körper wären wir zusammengewachsen. Wir waren nie Gegner, nie. Und das dürfte unser kleiner Trost sein. Laß das, Einzige, stochre nicht in der alten Wunde. Die Schwarzen Berge bleiben zurück. Ich komme an den Ak Hern. An der Furt wartet ein Reiter auf mich. Es ist der alte Kojan aus dem Stamm Bura. Bura heißt Kamelhengst, so hatten die Kasachen den Waisenjungen genannt, der unbemerkt am Höcker eines Kamelhengstes hing, als sie von jenseits des Altai kamen und bei uns siedelten. Heute bilden seine Nachkommen einen starken Stamm. Ich begrüße den Alten mit der Umständlichkeit und Ausführlichkeit, die nur unter Nomaden, und selbst bei ihnen nur noch 149
im Freien, wo kein Motor läuft und keine Uhr tickt, möglich ist. Es ist ein Frage-Antwort-Spiel bei ernster Miene, nach strenger Vorschrift, ohne daß dafür jedoch auch nur eine Zeile Geschriebenes vorhanden wäre: die Antwort halb so laut wie die Frage. »Assalamuagalikum!« »Uagalikumassalam!« »Seid Ihr heil und gesund, Großvater?« »Das bin ich. Bist du selber heil und gesund, Sohn?« »Ich danke. Seid Ihr gesund an Leib und Seele?« »Dank Allah, Sohn. Ist Friede über deinem Ail?« »Es ist alles in Frieden. Seid Ihr geschützt vor Wölfen und Raubvögeln?« »Ruhe ist davor. Habt Ihr einen guten Herbst?« »Wir haben ihn. Habt Ihr gutes Weidegras?« »Wir haben es. Hat Euer Vieh gutes Fett angesetzt?« Dann erst kommen die wirklichen Fragen: woher ich komme, wie lange ich in den Schwarzen Bergen gewesen bin, wen ich dort alles getroffen habe, aus welchem Ail ich stamme, wessen Sohn ich bin, wie ich heiße, wo ich lebe, was ich mache. Kojan ist wie alle Kasachen im Alter, mit dem Bart, der schwarzen Lammfellmütze mit dem spitzen Dach, der wattierten langen Überziehhose aus schwarzem Manchester ein ernster Zuhörer, sowie er ein ernster Frager ist: Ich gebe ihm erschöpfende Auskünfte, die ihn sehr zu befriedigen scheinen. »So so. Ein Enkel des Hylbang«, summt er vor sich hin. Die Murmeltiere scheint er zu übersehen. Ein tuwinischer Mann hätte sich gleich nach den ersten Begrüßungsworten dafür interessiert, ob ich gute Jagdbeute gehabt und mein Gewehr immer gut getroffen hätte und ob die Murmeltiere nicht Dsharandy wären. Dann bin ich es, der fragt: woher er kommt, wo er überall gewesen, mit wem er zusammengekommen sei, was er vom diesjährigen Gras der Erde hält und ähnliches. Ich frage auch, 150
wie alt er sei, und bekomme zur Antwort fünfundachtzig, der Älteste unter den Bura-Leuten und der Drittälteste im Kreis. Dann aber frage ich: »Wieviel Fälle kennen Sie, Großvater, daß Kasachen und Tuwinen miteinander verheiratet sind?« Ich denke, daß mir jede Frage erlaubt sei. Doch hier blickt er mich mit für einen so alten Menschen unglaublich dunklen Augen an und hält inne. Mir tut die Frage leid, aber da kommt auch schon die Antwort: »Das erste Mal vor vielen Jahren der Sohn des Tuwinen Basakaj und die Tochter des Kasachen Kojbagar, beide waren über Nacht verschwunden, und später hieß es, sie lebten irgendwo als Mann und Frau zusammen. Dann wohl vor etwa zehn Jahren das mit eurer Bökej, Tochter des Nasyn, und jüngst der Sohn des Balabatyr und die Tochter des Glatzkopf-Aryptschaan. Das wird wohl alles sein, und wieviel sind es nun?« »Drei Fälle sind das«, sage ich, »sechs Menschen. Und Sie sind fünfundachtzig Jahre auf dieser Erde, Aksakal!« Wir haben den Ortsrand erreicht, Kojan biegt vom Weg ab und reitet auf eine der Umzäunungen zu, hinter welcher je eine Jurte und eine lehmbeschmierte Holzhütte sichtbar werden. Ich reite durch das Artelzentrum und bringe die Menschen, die mich gewahr werden, für einen quälend langen Augenblick von ihrer Beschäftigung ab. Ihr Blick hängt an mir und geht erst zurück, wenn ich einige hundert Meter weitergeritten bin. Nur sehr junge Frauen blicken eher weg, vielleicht weil ich zu jung bin und zu vornehm für ihre Vorstellung von einem Murmeltierjäger oder vielleicht auch, weil sie den wachenden Blick ihrer Schwiegereltern in der Nähe wissen. Auf der Fähre gerate ich unter eine vielköpfige Mannschaft. Einige ältere Kasachinnen werden von meinem Pferd, das unter der schweren Last nicht ruhig stehen kann, bis in die äußerste Ecke der Fähre gedrängt, so sehr sie ihren hinaufgekehrten Blick auch abzuwenden trachten von dem Etwas, das gefahr- und geheimnisvoll scheint. Es gelingt ihnen nicht, je 151
länger sie die Murmeltiere beschauen, desto kräftiger werden auf ihren ernsten alten Gesichtern die Neugiersflecken. Unterstützung finden sie dabei bei den jungen Tuwinen, die um mich herum stehen, die Murmeltiere befühlen und streicheln, ihren Jäger und die Schwarzen Berge loben. Sie meinen, nirgends seien die Murmeltiere so groß und so dunkel wie eben in den Schwarzen Bergen. Der Fährmann fragt: »Nun, was sagst du zu dem Pferd mit dem Preis eines Kamels?« »Es ist in Ordnung gewesen, daß es ein Kamel gekostet hat«, sage ich, »die zahmen Augen sind bei ihm kein Versteck für Tücken, keine Fallgrube und kein Täuschungsglanz gewesen!« Der Fährmann wirft auf mich einen verwunderten, aber auch anerkennenden Blick, sagt jedoch nichts. Die alten, elsterbunten Frauen mit dem weißen Kopf- und Rückenumhang, der über den Sattel hängt, reiten auf dem äußersten der vielverzweigten Wege im Schritt, und die jungen Männer mit mir in ihrer Mitte gehen im Jägertrab davon, uns überholen ein Darga und ein paar Halbwüchsige im Galopp. Staub und Hufgetrommel erfüllen die Luft. Siehst du die winzigen Jurten in den Lücken der Hütten, Fatima? Das ist unser Ail, rechts, das ist unsere Jurte. Sie ist seit drei Jahren an diesen Erdfleck gebunden, und dort wird sie auch zur Ruhe gehen. Die zwei alten Menschen, die davor hantieren, sind meine Eltern. Und die junge Frau mit dem Kind ist Nordshmaa, sie ist meine Frau. Und das Kind ist meine Tochter Aibora. Ich habe noch einen Sohn, aber wo ist er denn, wo ist mein Waantschi? Du hast eine schöne Frau. Ist sie auch eine gute? Schön – oh, ja! Ich würde nie eine andere Frau begehren wegen ihres ebenmäßigen Gesichts und Körpers, wegen ihrer straffen Brüste und ihres glatten Halses. Und gut? Welche Eigenschaft muß eine Frau besitzen, um gut zu sein? Sanft? 152
Freigiebig? Fleißig? Nicht eifersüchtig? Nicht nachtragend? Wenn es dies alles ist, dann ist sie es, ist gut. Vielleicht aber auch: treu? Das wird allein sie wissen. Ich weiß von keiner der tausend oder zehntausend Frauen, die ich kenne, ob sie treu oder untreu ist. Ich sehe, dir wird die Nacht leid tun. Nein, Fatima. Du hast mich nicht verstanden. Meine Frau ist die schönste und die beste – bis auf das eine: So wie es dir geht. Mein Leben besteht aus Licht und Schatten, und bei Schatten werde ich die Sternennacht brauchen, wie ein Stück unauslöschbarer Sonne. Ich will dir nicht Lebewohl sagen, denn du wirst in mir bleiben, wirst dort schlafen. Vielleicht wird du irgendwann wieder erwachen. Ich falle aus der Mitte der Reiter zurück und reite auf unsere Jurte zu. Aibora entdeckt mich und läuft mir jauchzend entgegen. Kaum richten sich die Eltern gerade, humpelt Mutter zum Dunghaufen und Vater zur Pferdebinde. Nordshmaa geht mit ihm, mit kleinen, hauptstädtischen Schritten, die Hände in den Schürzentaschen, langbeinig, und, wie mir scheint, blaß und ernst im Gesicht. Darauf kommen um jede Hausecke ein paar Kinder hinausgestürmt, aufstecken reitend, hell wiehernd und trampelnd, Waantschi ist nicht unter ihnen. Wo kann er nur sein? Ich steige an der Binde ab. Vater eilt keuchend herbei: »Isch-sch, mein liebes Kind, nun Schoralga?« »Dolup dshydry, aashaj – Jagdbeute hab ich viel, Vater!« Ich lasse die Last ab. Zu je acht Stück an einer Schnur angekettet, gleiten die Murmeltiere in drei Haufen vom Pferd herab und erzeugen dabei dreimal den dumpfen Laut mit dem kurzen hellen Glucksen, jenen Laut, der hunderttausendmal Menschen aus dem Schlaf erweckt und vom Warten erlöst haben mag, inmitten der Nacht. Ich aber komme am hellichten Tage an und werde von hellwachen Menschen empfangen, bin ein moderner Jäger, der lieber 153
einer alten Liebe nachgeht als den Murmeltieren und der dennoch mit guter Jagdbeute heimkehrt. Mein alter Vater müht sich mit einem der drei Haufen ab, er versucht ihn auf die Schulter zu bringen, doch acht ausgewachsene Herbstmurmeltiere sind zu schwer für ihn. Ein paar Steckenreiter kommen ihm zu Hilfe, die Ketten werden gelöst. Es entsteht ein langer Zug zwischen Jurte und Pferdebinde: in der Wegemitte Vater mit einem nun kleineren Haufen auf dem Rücken, vor und hinter ihm die Kinder. Jedes von ihnen mit einem Murmeltier auf dem Rücken. Indes sattle ich mein Pferd ab, lasse aber auf dessen schweißnassem Rücken eine Satteldecke und befestige sie mit dem Flankengurt. Dann gehe ich auf Nordshmaa zu, ich frage: »Wo ist Waantschi?« »Er schläft.« Die Kinder flitzen mit dem Schoralga davon, Vater und Aibora bleiben mit den Restmurmeltieren zurück. Bald häufen sie sie auf, bald breiten sie sie aus. Am Steppenrand werden die ersten Milane schon sichtbar.
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Der dreizehnte Tag
29. August Ein Kasache stürzt in die Jurte: »Süjinschi, Sohn des großen Hylbang!« »Ein Lamm kannst du immer bekommen, wenn du tatsächlich eine so gute Botschaft zu mir trägst. Aber her damit erst, Sohn des Terisbek!« versetzt mein Vater. Mutter fährt auf: »Uj, was sagst du, lieber Sohn? Ich werde dir den Mund mit Fett einschmieren!« »Die Soldaten kehren heim!« ruft der Kasache feierlich aus und schaut den beiden abwechselnd ins Gesicht. »Das ist wahrhaft eine gute Botschaft. Aber weshalb bist du damit gerade zu meiner Jurte geeilt? Denn mich deucht, meine vier Söhne sind alle zu Hause!« schaut ihn Vater scharf an. »Nicht deine Jurte, sondern deinen Ail meine ich«, spricht der Kasache würdig, »denn ein jeder kennt dich als das Oberhaupt des einstigen großen Ails!« »So meinst du es also«, spricht Vater unsicher, »laß mich alten Mann erst überlegen, wer alles aus meinem Ail bei den Soldaten ist.« »Hilf doch deinem Vater!« wendet sich Mutter ungeduldig an mich. Ich sage: »Munsukdshap.« »Ja, richtig!« pflichtet mir Vater bei. »Meinst du wirklich ihn, den jüngsten Sohn der ältesten meiner drei jüngeren Schwestern, der Buja – wenn ja, dann ist er mein Neffe, und dann bekommst du das Lamm selbstverständlich!« Der Kasache nickt heftig mit dem Kopf und ruft: »Ja, er ist es! Und er ist dabei!« 155
Damit hastet er weiter, um bei weiteren Jurten zu Süjinschi, der Gegengabe für eine gute Botschaft, und damit sicherlich zu weiteren Lämmern zu kommen. Die Nachricht verbreitet sich mit Windeseile und ruft allgemeine Aufregung hervor. »Woher aber weiß er das?« ertönt die zweifelnde Stimme der Schwägerin Dynggyj, die durch ihre Gründlichkeit bekannt ist. »Er sagt, daß das Volk jenseits des Harangyty-Flußes seit den Frühstunden schon lärmt!« wird ihr zurückgerufen. »Ja, gut. Ist aber jemand gekommen?« »Das wohl nicht.« »Hat man durch den Draht gesprochen?« »Was wissen wir? Aber auf alle Fälle weiß der Teufelskerl namentlich, wer alles kommen wird!« So eine Botschaft kommt wohl durch die Luft geflogen. Der Heimkehrende wäre mir ein Vetter. Wir sagen Bruder zueinander: Mein jüngerer Bruder kommt also vom Militärdienst zurück. Und da von den Buja-Söhnen keiner zu Hause ist, trage ich vor Vater, dem Ail-Oberhaupt, und den Mitmenschen, die darauf genau achten, wie wir unseren Heimkehrer empfangen, die Verantwortung. Unser Plan sieht folgendermaßen aus: 1. Reinigung des Ails vom Müll 2. Fertigstellung der Jurte von Horlu zum Aufnehmen des Heimkehrenden, Abwischen des Jurtengerüsts und Beklopfen sämtlicher Matten 3. Fertigstellung eines Bettes mit frischer Wäsche 4. Hammelschlachten 5. Fladenbacken 6. Beschaffung von Aragy und Kumys 7. Verstecken von Resten der Jurte von Tante Buja 8. Empfang auf dem Haaktyg-Paß. 156
Die ersten beiden Punkte übertrage ich der dreizehnjährigen Anesch, dem Ältesten der Horlu-Kinder. Sämtliche Ailkinder helfen ihr. Punkt drei fällt Dynggyj, der Horlu-Frau, Punkt fünf Nordshmaa und Punkt sechs dem Fährmann Dshurukbaj zu. Punkt vier übernimmt Edej, der schon zu einem festen Mitglied unseres Ails zählt. Zu Punkt sieben: Munsukdshap ging freiwillig ein Jahr früher zur Armee, weil er sagte, so könnte er ein Jahr früher zurücksein und sich um die Mutter kümmern. Das war im September vor drei Jahren. Wie jener Septembertag im einzelnen ausgesehen hat, weiß ich nicht, denn ich war nicht dabei; aber da ich viele solcher September, viele solcher Abschiede kenne, daß Jungs, die noch Tage vorher Herden gehütet, Murmeltiere gejagt oder in Körben auf dein Rücken Trockendung gesammelt haben, plötzlich in einer geraden Linie davonreiten hinter der flammenden Fahne und hinter dem lärmenden Zug der Wandervögel, weiß ich sehr wohl: berochene und unberochene Wangen, Milch, die die Mähnen der Pferde, die Steigbügel, die Sättel, den Saum der Lawschak und die Wege über Sand und Gras und Gestein der Heimat viel mehr benäßten als die vielen Tränen. Diese regnende, diese waschende und tröstende Milch, und endlos viele Lieder. Die feuer- und blutrote Fahne der Krieger – »Soldat« sagte an dem Tage kein Mensch – wird auch über der Jurte der Buja geweht haben, wie über jeder anderen Jurte, gleich, ob sie einen Sohn verabschiedete oder nicht. Die Mutter wird, wie alle anderen Mütter, erst dem ihren und darauf allen anderen Jungs die rechte Wange berochen haben, die linke lassend, für später, wenn sie zurückkehrten. Munsukdshaps linke Wange wird unberochen bleiben, denn alle, die sie beriechen würden, werden die eine, die fehlt, nicht ersetzen können. Die Mutter starb einen langsamen, schleichenden Tod, allein der Sohn konnte und konnte nicht kommen, da ihn dreitausend Kilometer von ihr trennten, für die er einen Urlaub von mindestens drei Wochen gebraucht hätte, wenn die unberochene Wange 157
hätte berochen werden sollen. Aber ein so langer Urlaub war unmöglich im April jenes Jahres inmitten des Friedens und inmitten der Wüste Gobi, die der friedlichste Fleck auf der Erdkugel hätte sein können. Horlu, der Bruder, war ein alter Soldat und ein scharfsinniger Mensch: Er schrieb kein zweites Gesuch, nachdem das erste abgelehnt worden war. Daß der Friede bliebe, wurde zu seinem einzigen Wunsch, und er wollte ihn auf die sterbende Mutter übertragen. Jene schlief in dem großen Wunsch ein, der die Sorge um die unberochene Wange des Jüngsten dämpfte. Um diese Zeit aber kam von dem Soldaten ein Brief nach dem anderen, Briefe, die man nicht allgemein beantworten konnte, denn sie enthielten Fragen nach Einzelheiten, wie: Wann stehst du auf, und wann legst du dich zur Ruh, Mutter? Was hast du davor und danach gemacht, als dieser Brief ankam? Dann kam kein Brief mehr, keine Zeile, obwohl die Brüder ihn immer eindringlicher um ein Lebenszeichen mahnten. Nach einem halben Jahr Warten schrieb Horlu an die Leitung der Einheit und bekam auch schnell eine Antwort. »Ihrem Bruder geht es gut«, teilte man ihm mit. »Er ist ein guter Soldat, eifrig und zuverlässig und genießt einen guten Ruf bei den Kameraden.« Weiter schrieb man: »Die Lage seiner Familie ist uns bekannt, und wir versichern Ihnen, daß er sich bald melden wird.« Darauf kam auch ein Brief, allein kein Wort über die Mutter, und auch nicht in den folgenden Briefen. Als die Mutter bettlägerig geworden war, hatte Horlu, der älteste der Söhne, sie zu sich genommen, ihre Jurte wurde abgebaut und kam gebündelt in den Abstellschuppen. Später aber, als die Mutter verstarb und ein Unwetter ausbrach, wurden die Bündel gelöst, und der Jurtenfilz wanderte, in hundert Stücke zerschnitten, auf den Rücken der frierenden Herde. Darauf verließ auch das Holzgerüst den Schuppen, Strebe für Strebe; bald sah man eine ganze Horde Steckenreiter. Als die Jurte Stück für Stück abhanden kam, jammerte Dyng158
gyj: »Was wird Munsukdshap von uns denken, Himmel? Wir haben nicht die Mutter und nicht die Jurte erhalten können. Und dafür waren es doch nur drei Jahre!« Horlus Antwort aber lautete: »Die Mutter, ja. Es wird schlimm sein für den Jungen. Die Jurte jedoch ist keines Wortes wert. Sie hat ausgedient, und nun ist für sie die Zeit zu gehen. Denn Munsukdshap wird nicht in ihr wohnen!« Solche Worte überzeugten, und man war gern geneigt zu meinen, besser, daß die alte Jurte Tiere wärmt und damit Kinder spielen, als daß sie im Schuppen liegt und vom Staub zerfressen wird. Nun meinen wir, alles, was den Heimkehrenden an die Abwesenheit der Mutter erinnern könnte, müßte versteckt werden, bei der Ankunft wenigstens. Und diese Arbeit fällt der Ailältesten zu. Bleibt Punkt acht, den ich übernehme. Bald gleicht der Ail einem aufgewühlten Ameisenhaufen: Alles, was Beine hat, rennt. Alles was Hände hat, packt zu. Staub und Rauch und Lärm erfüllen die Luft. Ich sattle mein Pferd und mache mich auf den Weg. Es ist ein greller, lauter, voller Tag. Auf dem halben Kilometer bis zum Ortszentrum treffe ich ein volles Dutzend Menschen. Lärmend kommen wir zueinander, und lärmend gehen wir auseinander. Im Ortszentrum vor dem Haus des Parteikomitees hat sich ein Kreis von Männern zu Pferd oder auf dem Motorrad gebildet. Es wird darüber gestritten, werde ich informiert, ob bis zum Haaktyg-Paß geritten oder gefahren werden soll. »Fahren!« ruft der eine, »reiten!« ruft der andere. »Soll das Lastauto mit dem Heimkehrenden euretwegen die ganzen fünfzehn Kilometer kriechen?« – »Kriechen?! Das ist eine Beleidigung für die Pferde: Sie haben damals schließlich auch Europa erreicht!« Fünfundzwanzig Motorräder sollen zum Haaktyg-Paß geschickt werden. Auf der Rückfahrt werden sie sechs Reihen bilden, und das Auto wird vornewegfahren, und davor noch, ganz an der Spitze, wird die Fahne sein. Und die Reiter werden auf dem Osthügel des Ortseingangs einen zweiten 159
Empfangspunkt bilden. Zuerst sehen wir die Staubfahne. Sie wächst schnell, flutet voran. Wir hören Gesang. Das Dröhnen des starken LKWMotors gleicht einem leisen Summen, das dem Gesang wie ein Echo entrollt. Dann erst taucht das Auto auf, gleich der dunklen Spitze eines weißen Orkans. Der Gesang scheint für eine Sekunde zu verstummen, setzt aber gleich wieder an, ein schmetternder Marsch. Strahlend weiße Zähne in dunkelroten Gesichtern, die Jungs gleichen einander, obwohl sie keine Uniformen mehr tragen. Die Männer stehen zitternd, bis der Gesang abgeklungen ist. Dann stürmen sie das Auto: Jeder zerrt von den Abspringenden den ersten Besten zu sich und beriecht ihn. In diesem Trubel erwische und berieche ich mindestens zehn Jungs, immer mit der gleichen Frage: »Bist du wohlerhalten zurückgekommen, Bruder?« Und bei den meisten weiß ich erst durch ihre Antwort, was sie sind, Kasache oder Tuwine. Dann erst werden die eigenen gesucht, Namen werden gerufen, Ellbogen eingesetzt, wieder Beriechen, versteckte Tränen und überstürzte Fragen. Munsukdhap findet mich, kommt lachend auf mich zu, ein Hüne: »Dshuruguwaa-agaj!« Ich komme nicht dazu, seinen Namen auszusprechen, umarme ihn, er weint an meiner Schulter, aber nur eine Sekunde lang, dann überwindet er sich, der Junge, und lachend fragt er: »Habt ihr alle wohlerhalten gelebt, Bruder?« Das bringt mich nun zum Weinen, und das dauert länger als bei ihm. Aber dann sage ich: »O ja, wir haben zugenommen. Es sind viel mehr dazugekommen, als die, die fehlen!« Dies dem Tode zum Trotz, der nicht hat warten können. Die Jungs steigen wieder auf. Innerhalb von Sekunden springen die fünfundzwanzig Motoren an. Die Fahne fährt vor. Die Kolonne folgt ihr: Das parolenbunte Auto mit den vierundzwanzig Kriegern und hinter ihm zu sechs Reihen die vierundzwanzig Motorräder. Wäre die Straße befestigt gewesen, wäre eine Reihe 160
vielleicht auch vorne gefahren, und dann hätte unser Unternehmen noch eindrucksvoller gewirkt; doch auch so bereiten wir den Heimkehrenden wohl die höchstmögliche Ehre und Überraschung. Die Jungs singen von der Heimkehr; es sind grüßende Fragen an Berge und Steppen, an Menschen und Tiere, die im Warten gelebt haben. Die frohlockende menschliche Stimme übertönt das Dröhnen der Motoren mit der Stärke von ganzen Pferdeherden. Tränen füllen die Augen – vielleicht ist es der Fahrtwind, der Herbstwind, der Heimatwind, vielleicht auch der Staub, der den Blick versperrt, der erst nach der Steppe, Herbststeppe, Heimatsteppe gerochen hat, nun aber nicht mehr riecht, der weich ist und weiß und stumm wie Nebel. Du bist eine schreckliche Macht, Heimat. Wie soll ich dich anders nennen, du Urgrund meiner Freuden und meiner Leiden! Ich bin ansteckbar von Gefühlen, denn drei Viertel meines Lebens ist zwischen Abschiedsschmerzen und Wiedersehensfreuden vergangen. Die Kolonne fährt langsamer, die Staubwolke wird durchsichtiger. Links fliegt eine zweite, vielköpfige Staubfahne voran: Es sind Reiter. Kinder, die sich zum Schulweg versammeln. Ihre Schulbündel schaukeln gleich erhobenen Fäusten über dem Sattel. Sie jubeln der Kolonne mit heller, die Seele erhellender Kinderstimme zu. Dieses Jubeln mischt sich gleich mit dem der Reiter, die auf dem Osthügel am Ortseinfahrtstor gewartet haben, es entsteht ein Chorduett, wie jenes, das den Höhepunkt eines jeden größeren Festes, die Ankunft der Pferde verkündet, die die Strecke von dreißig Kilometern durchlaufen haben. Die Kolonne scheint zu halten, fährt dann aber weiter. Wir Fahrer verständigen uns durch Zurufe. »Brüder«, ruft einer, »besser, wir halten!« – »Nein, nur Mut!« – »Mut sicher, aber Vorsicht!« Die Kolonne hält. Der Staub verfliegt. Das Lied wird noch zu Ende gesungen. Erst dann wird das Auto von allen Seiten bestürmt. Wir, die das Begrüßungsgetummel hinter uns haben, schauen überlegen auf das Durcheinander: sind die drei 161
Jahre so lang gewesen? Nein, hier muß die Erinnerung ihr Spiel haben, jene Erinnerung, die in den Charakter der Völker eingegangen und darum auch unauslöschbar ist: Es hat Zeiten gegeben, da war das Soldatsein gleichbedeutend mit In-denKrieg-Ziehen. Welches Freude- und welches Angstgefühl hat die Nachricht über die Heimkehr der Soldaten in den Brüsten ausgelöst, die vom Warten weh- und wundgeworden waren! Und welche Erleichterung für die einen und welche Enttäuschung für die anderen brachten dann die singenden Heimkehrer! Damals. Heute leben wir im Frieden, trotz allem. Unsere Jungs kehren in der Regel vollzählig heim. Das Unterbrochene wird fortgesetzt, das Versäumte nachgeholt. Munsukdshap taucht auf. Ich frage, wo er sein Gepäck habe. Er habe keins. Die Frage tut mir leid. Aber alle scheinen ein Bündel zu besitzen, sogar einen Koffer. Später erfahre ich, daß unser Soldat auch ein Bündel besessen hatte, aber es ist ihm abhanden gekommen. Sogleich fahren wir ab. Munsukdshap erzählt schnell und planlos: »Wir sind nach eintausendachtzig Tagen zurück. Das ist dreizehn Tage verfrüht, ganze dreizehn Tage, das ist sehr viel. Denn die Tage scheinen länger zu werden, je näher das Ende heranrückt!« Darauf erwähnt er noch die Schwärme der da von wandernden Vögel, die ihnen unterwegs begegnet sind. »Tausend Schwärme waren es bestimmt. Wir erkannten die unseren und verstanden manchmal wohl ihre Sprache ein wenig. Denn wir wußten, daß sie nicht gern wegflogen.« Die Ailleute sind vor Horlus Jurte versammelt. Die Kinder stehen gewaschen und gekämmt, die Frauen stecken in seidenen Lawschaks. Mutter kommt uns entgegen. Dabei sieht sie der Tante sehr ähnlich. Beide waren gleichaltrig, beide hinkten. Munsukdshap muß sich sehr bücken, um sich von Mutter beriechen zu lassen. Ich sehe sein gerötetes, lachendes und ihr blasses, weinerliches Gesicht, kann aber nicht hören, was dabei gesagt wird, denn ich lasse den Motor leerlaufen mit hohem 162
Gas, wie die Landfahrer es zu tun pflegen, bevor sie ihn abdrosseln. Das sei gut für den Vergaser, heißt es. Munsukdhsap überragt in der Höhe auch Vater, den einstigen Hünen, um einen ganzen Kopf. Der Alte verzieht das Gesicht, wie er den Neffen beriecht, und dabei erinnert er wieder an den Jungen mit dem Greisengesicht. Und dieses Gesicht scheint einen Krampf zu unterdrücken. Bei Galyj geht die Sache schief. Sie bleibt vor dem Jungen stehen, wie an allen Gliedern gelähmt, anstatt ihn zum Beriechen zu empfangen, und sie schreit: »Ej, Buja, dein Jüngster ist wieder da, und dich gibt es nicht, ej Himmel!« Der Junge steht, die Hände vorgestreckt, die Zähne zusammengebissen und versucht zu lachen. Galyj wird von Mutter ausgeschimpft: »Was ist bloß in dich gefahren, Galyj, du alte Dirne, daß du den Jungen zu Tränen verführen willst! Siehst du denn nicht das Kindervolk, das da ist wie ein emporsprießendes, lichtgrünes Astwerk auf der Stelle eines abgestoßenen Knorrens? Die Erde jüngt sich, um zu bestehen. Und mit ihr und mit allem auf und in ihr tut es auch der Mensch. Lerne lieber dies große Gesetz begreifen, anstatt Heimgegangenen nachzujammern und Zurückgebliebenen die Lebensfreude zu trüben!« Jene hört darauf willig, beriecht den Neffen an beiden Wangen und geht davon. Darauf tritt die Nächstälteste, die Schwägerin Dynggyj, an den Heimkehrenden heran, so geht es weiter nach der Reihenfolge des Alters, und es geht schnell. Dann macht sich Munsukdhsap daran, von seiner Seite die achtundzwanzig Kinder der fünf Jurten zu beriechen. Acht von ihnen sieht er zum ersten Mal: Mir kommt vor, er beriecht die Kinder für sein Alter viel zu innig, wie ein Vater, nicht wie ein älterer Bruder. Er küßt sie fast. Vielleicht teilt er die Ansicht, daß Tote in Kindern fortleben, und so sucht er an ihnen nach einer Spur, jenen Geruch zum Beispiel, der von der Mutter ausgegangen war? Es gibt zuerst Tee, ihm folgt Fleisch und diesem Aragy. Kumys erscheint als verbindendes Getränk in riesigen Schalen 163
um die Fleischschüssel. Jeder hat seine Pflicht erfüllt, alles ist da. Die größeren Kinder werden zu den Nachbarails geschickt: Wer kann, soll kommen! Im Nu beginnt das Fest. Man erteilt Munsukdshap Lehrsätze wie »Sei ehrlich, höflich und fleißig! Dann wirst du deinen Platz im Leben finden!« und schenkt ihm darauf Geldscheine. Dies aber immer mit einer Schale Aragy: »Trinke, Junge, wenn du kannst.« Die Schale wird ausgetrunken, wird wieder gefüllt und dem Spender zurückgereicht. Schnell steigen die Getränke in den Kopf, und es wird gesungen. Edej und Munsukdshap sind die Hauptsänger, der Kasache und der Tuwine, die in den tausend Tagen und Nächten, bei gemeinsamen Vätern und Brüdern ihre Lieder gefunden und daran ihre Gefühle geschärft haben. Die Alten sind neidlose und dankbare Zuhörer, sie klatschen zum Ende jedes Liedes Beifall, und sie tun es ergeben wie Kinder, die zum ersten Mal eine Bühnenvorstellung erleben. Es sind jene Lieder, die so alt sind wie der Urwunsch und Urschmerz des Berggeschlechts, die ihren Erfindern Hunderte und Tausende von Jahren lang in verdienten Stunden wohlgedient haben. Munsukdshap geht hinaus, und da er nicht zurückkommt, folge ich ihm. »Wollen wir die Mutter besuchen?« »Oh ja, Bruder!« Aber erst muß ich die Älteren davon in Kenntnis setzen. Sie beraten einander, machen ein Bündel für uns zurecht. Beim Abfahren ruft uns Galyj noch zu: »Und seid bitte leise!« Wir fahren in Richtung Saryg Hol. Da wird einem zum Greifen bewußt, daß der Herbst kommt. Wer die Kraft, mit der wir festgehalten werden an dieses Erdenstück, begreifen will, der erlebe unseren Herbst, die Zeit der Arbeit und des Abschieds, aber nun auch die Zeit der Arbeit und des Wiedersehens. Doch er erlebe ebenso auch das übrige Jahr: unseren stillen, zähen Winter, wilden, launischen Frühling, trägen, knappen Sommer. Er teile mit uns restlos die Gaben und Tücken einer jeden 164
Stunde. Dann wird er uns begreifen in unserer stillen Freude, unserem stillen Kummer, in unserer beneidenswerten Geduld und auch in unserer bedauernswerten Ungeduld, in unseren menschlichen und unmenschlichen Ausbrüchen. Dann wird er uns weder billig heroisieren noch billig disqualifizieren und so aufhören, Vermutungen über uns aufzustellen. Dann wird er unsere Schwermut wie unseren Leichtsinn begreifen. Das Motorrad fährt über die sandigen, grasbewachsenen Hügel leicht und fast geräuschlos wie ein Boot über seichte Meereswellen; nicht ich bin’s, der Tränen weint: Es sind die Augen. Die Luft ist zu würzig. Es ist das Herz. Der Himmel ist zu hoch. Die Welt ist zu weit. Das Dasein ist zu schön. Es ist die Seele, die überquillt. Es ist das Zusammenspiel der Elemente. Wir halten, Bruder. Du ahnst die Nähe der Mutter mit all deinen fünf Sinnen, mit dem sechsten vor allem. Komm, Sohn, wir gehen. Ich bin gespannt, ob sich der Sohn vor dem Grabhügel der Mutter verneigen würde, wie die Sitte es gebietet. Er tut es nicht, er hockt sich auf die Knie und verbeugt sich über dem Hügel, darauf fallen aus seinen Augen in schneller Abfolge jene Tränen herab, die ich vorher zweimal gesehen habe, beide Male über einem sinkenden Sarg mit der toten Mutter darin, beide Male aus den Augen eines Mannes. Das sind Tränen, die einem nicht beliebig oft im Leben zur Verfügung stehen können, sie sind hell und klumpig wie abgeschliffene Steinsalzreste, wie erfrorene Beeren. Sie sind blind. Kehre um, Soldat. Wir packen das Bündel aus. Sieh hier die drei Flaschen: Tee, Aragy und Milch. Der Tee ist noch heiß. Und hier: das Fleisch, den Käse und die Bonbons. Kopf hoch, Krieger. Pflücke lieber ein paar lange Grashalme und verspritze damit von dem Aragy und Tee und der Milch dem Himmel und der Erde. Tu das, keine Gewissensbisse sollen dich quälen, Sohn des neuen Zeitalters, denn davon wirst du ebenso wenig gläubig, wie jene, die Blumen ans Grab ihrer Toten, und auch jene, die ein in 165
Stahl eingeprägtes Staatswappen unter den Grundstein eines Gebäudes legen; die schönsten Blumen, selbst die Gletscherrosen mit dem Goldschimmer taugen in diesem Erdenwinkel nichts, niemand blickt auf sie, niemand pflückt sie, sie sind kein Geschenk und kein Vergleichsgegenstand. Denn Blumen sind kurzlebig. Die allerersten Spritzer von unseren Getränken, der allererste Biß von unseren Speisen, das sind unsere Blumen, unser Höchstes, es gehört unserem Höchsten. So ist es in den Zeiten unserer Urahnen gewesen, so ist es in unserer Zeit noch, und das nennt man Sitte. Das ist unsere Sitte. Nicht du und nicht ich werden sie abschaffen können. Die Zeit wird ihre Allmacht auch über sie walten lassen. Wir werden Zeugen unserer Zeit sein. Verspritze das Beste der Speisen und der Getränke. Die Mutter ist nichts oder alles. Sie ist die Erde, ist jedes Gras, jeder Stein und jeder Käfer in dieser Erde. Sie ist die Luft und jedes Korn Staub, jeder Schimmer Licht und jeder Schwung Laut in dieser Luft. Sie ist Bestandteil jeder Zelle der Heimat, Bestandteil des Urgrunds Jeder unserer Freuden und jedes unserer Leiden. Gib die Spritzer und Krümel heraus, sie werden zu ihr gelangen. Doch der Soldat bleibt hocken. Hat mein beschwörender Gedanke ihn nicht erreicht, entgegen aller Wahrscheinlichkeit? Also verspritze ich die Getränke aus den Flaschen, ich verstreue die Speisen aus den Händen, weil ich weiß, daß das Ergebnis das gleiche ist. Ich halte ihm den Restaragy vor den Mund, ich sage: »Trinke!« Er trinkt. Dann suchen wir uns unterhalb der Hügel und Mulden einen Platz und wir verspeisen und trinken die Reste. Es ist ein labendes Mahl. Die Schatten der Berge im Westen haben längst das Flußtal überquert, sie schleichen auf die Steppe, auf Saryg Hol, den Gelben See, zu. Der See, dieser Rest eines einstigen Meeres, liegt ruhig da, ungestört und unbeeindruckt, wie eine ausruhende Seele. »Ich weinte einen Tag und die Nacht darauf«, flüstert Mun166
sukdshap, mit einem starren Blick auf den See. »Die Jungs versammelten sich um mich herum. Der eine nahm mir den dicken Soldatenmantel ab, der andere zog mir die Stiefel aus, sie brachten mich ins Bett, ein anderer gab mir sein Taschentuch und wieder ein anderer legte mir einen kalten Umschlag auf die Stirn. Dann steckte der eine eine angezündete Zigarette zwischen meine Lippen und ein anderer hielt eine Tasse mit Tee vor meinen Mund. Dann kam alles zum Vorschein, was man weggesteckt hatte in das untere Fach seines Vorratskastens. So ist nun das Soldatenleben. Später kamen auch die Offiziere. Sie erzählten von ihrem Leben, ihren Eltern und den Erlebnissen, die schwer und lehrreich waren. Sie erzählten auch von der Pflicht des Soldaten. Unser Major, der Chef der Einheit, sagte: ›Der Soldat beschützt auch all die, die gelebt haben und nun nicht mehr sind wie jene, die leben werden, denn die Heimat enthält alles, was war, ist und sein wird.‹ Am nächsten Morgen ritt ich mit drei anderen Jungs zur Grenzlinie. Wir wußten, welche Verantwortung uns übertragen war, denn alle Tage gab es kleinere Vorfälle, aber wer weiß schon nicht, daß sich der winzigste Funke zu einem riesigen Brand durchfressen kann? Ich hatte mich freiwillig gemeldet, sonst wäre man nicht auf mich gekommen, obwohl die Wahl mich vorher öfters getroffen und ich meine Pflicht nicht schlecht erfüllt hatte. Aber an dem Tag hätte man mich, so wie ich dastand, nicht für fronttauglich gehalten, da der Soldat in Ordnung sein mußte wie das Pferd oder das Maschinengewehr, das Fernglas und die Giftgasmaske, da es auf jeden und alles ankam. Es wurde einer der schwersten Tage. Dieser schwere Tag begann damit, daß ein Dutzend zivil gekleideter Menschen uns entgegenkam, längst über das Hoheitsgebiet. Da war nicht viel zu überlegen, denn ähnliche Fälle hatte es schon öfters gegeben: Einer wurde zurückgeschickt, Schatar hieß er, klein war der Junge von Wuchs und 167
flink in der Bewegung, und da er außerdem große, abstehende Ohren hatte, war sein Spitzname Piepmaus, ja, dieser Schatar wurde zurückgeschickt, und er war der geborene Eilnachrichtenreiter. Wir, die übrigen drei, ritten der Schar entgegen, forderten sie auf anzuhalten, allein sie schien eine Ansammlung von Taubblindstummen, eine Auslese von Vollidioten zu sein, denn sie ließ sich von unseren Zurufen, unserer Erscheinung und unserer Forderung nicht um einen Furz stören, sie ging an uns vorbei wie Wasser und Luft, wie eine Alptraumgestalt, wie ein böses, dutzendköpfiges Gespenst aus dem Märchen. Da ritten wir zehn Schritte zurück, stiegen vom Pferd ab, bildeten Arm in Arm eine Mauer und gingen mit vorgebeugtem Oberkörper gegen dieses Gespenst an, und wir brachten es zum Halten! Dann begannen wir es zurückzudrängen, das schafften wir, zu dritt, die Zügel in den Händen, die Gewehre auf der Schulter, gegen das zwölfköpfige Ungeheuer! Aber dann zersprang es in zwölf Teile, und schon war die eine Hälfte hinter uns. Was blieb uns übrig? Wir begannen jedem nachzujagen, von zwei Gewalten auseinandergezerrt – hinten vom Pferd und vorn vom Teilgespenst. Ich ergriff einen und stellte fest, daß er nicht stark war. Ich knickte ihn in der Mitte und warf ihn so, daß er nicht bald wieder würde aufstehen können. Darauf begann ich einem weiteren nachzujagen, erwischte ihn schließlich auch und wollte ihn auf dieselbe Weise zurichten wie den ersten. Da sprach jener in ziemlich gutem Mongolisch zu mir: ›Wir sind arme Menschen, die auszuführen haben, was uns verhießen. Auf uns zielen Gewehre, denn eine ganze Truppe beobachtet uns und wartet nur darauf, daß ihr Gewalt gegen uns anwendet, Bruder!‹ Ein Spitzel, der Drohungen im Sinne hatte? Oder ein Freund, der warnen wollte? Was er auch gewesen sein mag, ich knickte ihn. Und jagte dem Nächsten nach. Das Gleiche taten die Genossen. So lag die Hälfte der Grenzverletzer schon am Boden. 168
Das müssen ausgehungerte Menschen gewesen sein, denn keiner der Männer, die ich packte, hatte die Kraft eines Fünfzehnjährigen. Das sagten später auch die anderen. Da aber dröhnten Motoren, hinter unseren Rücken, sage ich! Wir blickten auf und sahen einen Panzerwagen und dahinter andere Fahrzeuge mit Soldaten – wieviel? – unzählig! wie mir schien. Die Meute brüllte und fuchtelte mit den Gewehren gegen uns, die Bajonettspitzen glänzten uns auf den Sattel, wir gingen davon: der Kolonne entgegen, die schon das Niemandsland überquerte. Wir erreichten den Grenzpfahl eher als die, wir stiegen ab, wir stellten uns hin mit ausgestreckten Armen, nebeneinander, mit solchem Abstand, daß kein Fahrzeug durchfahren konnte, ohne uns dabei zu zermalmen. Die Kolonne kam mit Gebrüll und Geratter, mit Qualm und Staub, mit Vollgas heran, der Panzer an der Spitze, und er bremste erst zwei Schritte vor uns, er berührte uns um ein Haar, ehe er hielt. Wir hatten wohl an vieles gedacht, an die Möglichkeit ganz bestimmt, daß wir nie wieder heimkehren könnten, aber wir sind nicht gewichen, wir haben gestanden wie drei Grenzpfähle. So ist es mit dem Eid des Soldaten, Bruder. Sonderbar muß dir vorkommen, daß wir nicht geschossen haben. Wir durften nicht schießen, unter keinem Umstand als erster schießen, so lautete der Befehl. Denn ein Schuß hätte wahrscheinlich einen Krieg ergeben. Hätte der Chinese geschossen, dann hätten gewiß auch wir geschossen. Aber der bezweckte, daß wir als erste schossen, der legte Wert auf diesen allerersten Schuß, der wollte ihn uns aufzwingen, uns dazu reizen. Darum durften wir ihm nicht den Gefallen tun, wir mußten uns beherrschen. Weißt du, was das heißt, sich beherrschen? So zuverlässige Waffen, wie wir sie hatten, zu besitzen und sie in der Not doch nicht zu gebrauchen, ist schwer, Mann! Das Panzerauto steht vor dir, eigentlich über dir, bläst dir sengende Hitze ins Gesicht, brüllt, daß die Erde zittert, die du Heimat nennst; die fremde Horde brüllt, Dutzende 169
schwarzer Fäuste und Dutzende schwarzer Gewehrmäuler auf dich gerichtet, sie rückt heran mit den Fäusten und Gewehrmäulern, mit dröhnendem Gebrüll und blinkenden Bajonetten, mit brennendem, unverkennbarem Gelüste, dir das Eingeweide auszureißen und das Auge auszuhöhlen, und beginnt irgendwann, dir noch ins Gesicht zu spucken, aus einem Dutzend Mäuler, weil du sie hast heiser brüllen lassen, feststehend gleich einem Grenzpfahl, anstatt vor ihr Reißaus zu nehmen oder auf sie zu schießen oder wenigstens mit den Wimpern zu zucken vor ihrem Geschiß: Was machst du spätestens nun?! Nichts, nichts, außer weiter zu stehen, zu harren, versteinert, und da scheint dir auch die Zeit versteinert, stehengeblieben zu sein. Du denkst, Ewigkeiten vergehen, siehst aber, die Sonne steht immer noch dort, wo sie gewesen ist, und weißt eigentlich auch, daß nicht so viel Zeit vergangen sein kann, da die Nachschubkraft noch nicht eingetroffen ist. Denn du weißt, eher rutschen Sonne und Mond aus ihrer Bahn, als daß die Hilfe nicht kommt, auch nur einen Augenblick später kommt, als sie möglich ist. Also es weiter aushalten, weiter Stein bleiben, der erste wohl zermahlbare, aber unbesiegbare Stein aus der Erde, die hinter dir liegt! Und wir hielten es auch aus, nur mußt du wissen, daß mir so viel daran liegt, diese Stunden, die wir drei Soldaten zu Stein wurden, zu beschreiben, allein mir fehlen die Worte. Vier Stunden und fünfzig Minuten hat es gedauert, bis die Hilfe kam. Aber ihre Ankunft konnte ich nicht mehr bewußt erleben, ich hatte nur gesehen, wie das Panzerauto vor mir kehrtmachte und davonfuhr. Darauf war ich zusammengesackt. Ich kam unterwegs zu mir, lag auf der Trage im Auto. Ich blieb eine Woche im Bett.« Der Soldat hält inne, schöpft mit der hohlen Hand Sand und läßt ihn durch die Finger rinnen. Sand, denke ich, Erde, Heimaterde: wie einfach und doch wie schwer, dich zu lieben! Und nicht dem verführerischen Wahn zu verfallen, du wärest anders, besser und darum auch berechtigt, mehr Liebe zu genießen als andere. 170
»Meine Heimat ist dort größer geworden und auch meine Verwandtschaft.« Die hereinbrechende Nacht kühlt die Haut, und der Schwips verfliegt. Es wird still auf der Erde und in der Luft. Wir fahren heim. Die schmerzenden Gedanken schwinden. Unser Fest ist verstummt, und gesungen wird dafür im Nachbarail. Ich setze Munsukdshap vor Horlus Jurte ab: »Schlafe nun einen schönen langen Schlaf, Bruder!« Öldshej, Sohn des Uwaashaj, kommt leicht angetrunken, führt mich aus der Jurte und sagt mir folgendes: »Du, Dshuruguwaa, höre: der Munsukdshap und die Gumaj waren gut zueinander. Briefe kamen und Briefe gingen – bis letzten Winter. Seit dem Winter aber war die Stille, statt der Briefe kam der Briefträger zu der Jurte des Dopaj, und dies viel zu häufig. Nein, so etwas entging den Augen der Weiber nicht, es gab Getuschel. Aber ich glaubte nicht, daß die Gumaj ausgerechnet den, diesen listigen Fuchs und alten Junggesellen, heiraten würde. Ist sie doch eine, die sich den ersten Jüngling Tuwas an ihre Seite wünschen darf! Oder überschätze ich ihre Jugend und Schönheit, weil sie dem Nest entsprießt, dem auch ich entsprossen?« Ich stimme ihm hinsichtlich der Schönheit des Mädchens zu. Öldshejs Mutter ist die ältere Schwester von Dopaj, dem Vater von Gumaj. »Was nun aber geschieht«, fährt der Mann fort, »die Gumaj will ihn heiraten, die Hochzeit ist auf übermorgen angesetzt.« »Dann ist es ja gut.« »Das ist alles andere als gut!« »Hat man sie denn dazu gezwungen?« »Das nicht. Aber sie handelt aus Trotz, und das ist es ja!« »Unseretwegen auch aus Trotz. Aber da ist schon nichts mehr zu machen.« »So? Dann kann ich wohl wieder gehen!« Und damit reitet er auch tatsächlich davon. Es ist eine Nacht mit siedendem Gestirn. Ich gehe zu Mun171
sukdshap, hole ihn aus dem Bett. »Was ist aus der Gumaj und dir geworden?« will ich wissen. »Sie hat seit dem Winter nicht mehr geschrieben. Aber ist was mit ihr?« »Sie will heiraten.« »Wen denn?« »Den Briefträger.« »Ausgerechnet –« »Ja, ja. Und sie soll es aus Trotz tun.« »Wieso aber das?« »Da du nicht mehr geschrieben hast.« »Das ist ja nicht wahr!« ruft er empört. Ein paar schimmernde Gestalten reißen vor uns aus. Ziegen, denke ich, die unter dem wind- und wasserausgehöhlten Ufergraben nach dem Erdsalz gewerkt haben. »Übermorgen ist die Hochzeit.« Ich warte vergeblich auf eine Antwort. Der Fluß rauscht laut wie im Frühsommer, zur Zeit der Hochwasser. Dann sage ich: »Ist ja auch gut so. Schließlich sind Tuwas Mädchen mit diesem einen nicht erschöpft!« Das aber bringt ihn zum Reden: »Nein, Bruder. Morgen noch will ich sie sehen. Und du mußt mir beistehen!«
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Der vierzehnte Tag
30. August Der Tag beginnt mit einem Mondaufgang. Dieser Mond, der lange auf sich warten läßt und endlich und statt der Sonne aufgeht, ist ein abnehmender, doch ihm stehen die leuchtenden Sterne am Himmel und die glänzenden Gletscher auf der Erde zur Seite, und so kommt ein leichter Lichtschein zustande, der den Altai wieder sichtbar werden läßt. »Am besten packen wir ihn gleich und dort an, wo er sich zeigt!« »Wen den?« »Den Tag. Und auch den, der uns einen Streich spielen will!« Darauf schleichen wir zum Ail, finden zwei Sättel und gehen der Steppe entgegen. Die Pferde zeigen sich überrascht von unserem unzeitigen Erscheinen. Sie versuchen, mit den Dreifußfesseln zu flüchten, doch das mißlingt. Sie seufzen hörbar. Dann brummen sie leise. Sie müssen sich dem Schicksal fügen. Wer weit reisen will, der beginne langsam, heißt es. Wir nähern uns bedächtig unserer schlafenden Siedlung, bewegen uns lautlos auf ihren Gassen und verlassen sie schließlich. Dabei halten wir uns an die eherne Ordnung der Ahnen, der Väter und Brüder: Wir schweigen. Wir überqueren den kleinen Fluß und folgen dem linken Ufer des großen. Die Homdu-Schlucht liegt vor uns, eine Hälfte noch im Schatten. Der Wasserspiegel wirkt glatt und glänzt, und wir hören leises Rauschen. Schon einmal, in einer ähnlichen Mondnacht, zogen wir auf diesem Wege entlang des Flusses. Vorne führte Vater die Kamele, die einen Zug bildeten und unter der schweren Last 173
schnaubten und keuchten, und hinten trieb ich die Yakherde. Mutter war mit der Schafherde nicht zu sehen, wir dachten, sie wäre hinter uns, aber sie war vor uns, wie wir bei Tagesanbruch erfuhren. Das war in dem schweren Jahr, als alle meine Geschwister uns verlassen hatten wegen der Schule und als die Großmutter ins Salz, nämlich für immer heimgegangen war. Es war Frühling, und vieles, was heute ist, war nicht da, aber auch vieles, was heute nicht mehr da ist, existierte noch. Vieles war anders. Der Fluß war beiderseitig mit Lärchen und Weiden umsäumt, er jagte durch ein dichtes Gebüsch, man sah das Wasser nur hier und da. Ich schaute auf die Bäume, die dicht nebeneinander standen, und dachte, sie müßten alle Kinder eines Vaters und einer Mutter sein und sie würden immer beieinander bleiben. Ich dachte das und konnte nicht ahnen, was bevorstand. Kein Mensch konnte das damals ahnen. Munsukdshap dreht sich im Sattel zu mir: »Ich hatte einen Kameraden, der war unter uns der Älteste und aus dem Norden des Landes, aus Höwsgöl. Eines Tages erhielt er einen Brief, in dem stand, seine Frau habe entbunden.« »Noch im ersten Jahr?« »Nein, im zweiten!« »Ach?!« »Ja! Doch höre, was der zurückschrieb: ›Auch dann, wenn es auch nur eine bunte Schlange ist, erkenne ich es als mein Kind an, denn es ist doch in meiner Jurte geboren worden!‹ Darauf wurde er krank, wurde entlassen. Eines Tages erhielten wir von ihm einen Brief, mit einem Foto, worauf er, die Frau neben sich und das Kind auf dem Schoß, uns entgegenlächelt.« »Ein guter Mensch.« »Das ja, nur, einige Monate später kam der nächste Brief: Er lebe geschieden, wolle wegfahren. Drei Jahre sind lang.« Wir erheben uns im Sattel. Die Pferde fallen in Trab, gehen in Galopp über. Himmel und Erde schwanken. Wir fegen über den Kamm. Unsere Schatten reichen bis zu den Bergrücken jenseits 174
des großen Flusses. Bergtäler huschen an uns vorbei und Bergschluchten, wo noch die Nacht haust, dämmergrau liegen sie wie hinter einem Schleier. Da tut sich vor uns Usun-Oj auf, und noch bevor wir den scharfen Galopp abdrosseln, sehen wir linker Hand hinter dem Hügel Rauch, der schräg über das Tal zieht. Wir halten und beschließen, daß ich allein hinreite und kundschafte. Munsukdshap soll auf mich warten. Drei Jurten werden sichtbar; die dritte ist neu, klein und wohlgeformt, die pechschwarzen Gurte heben sich von dem schneeweißen Filzbezug so stark ab, daß sie nicht anzuliegen, sondern in der Luft zu hängen scheinen: eine echte Bödej. Es geht dort lebhaft zu: Ein Reiter verläßt gerade den Ail, darauf rollt auch ein Motorrad davon, zwei Kinder kleben hinter dem Fahrer, und eines hat auch noch vor ihm Platz gefunden. Die Schafherde hat sich soeben erhoben, die schwarzgetretene Hürde dampft; die Yakkühe kommen an der Dshele an, Kinder rennen hin und her, Erwachsene hantieren hier und dort. Das Ailvolk scheint von mir keine Notiz zu nehmen, auch zeigt sich kein Hund. Es ist ein neues Bild. Früher gehörte zu jeder Jurte mindestens ein Hund, und es war unmöglich für Wölfe oder Reiter, unbemerkt am Ailrand zu erscheinen, geschweige denn bis an Hürde und Jurte zu kommen. Ich steige an der Pferdebinde hinter der Jurte ab, die am würdigsten aussieht und so dem Ältesten gehören könnte. Während ich mein Pferd anbinde, betrachte ich die beiden Rappen, die dort stehen. Den einen erkenne ich wieder. Es ist Gunati-Hara. Der Rappe war dreijährig gewesen, als er von Dopaj eingeritten wurde. Dopaj war jung, trank viel und sang gut. Singend hing er bald an der einen, bald an der anderen Seite des Dreijährigen und jagte von einem Ail zum anderen. Meist geschah dies in Gesellschaft, es war wie ein Wettreiten. Gunan-Hara hielt mit, 175
obwohl er erst dreijährig, erst eingeritten war und obwohl er abgemagert und erschöpft aussah. Manchmal ließ er die ausgewachsenen Wallache hinter sich zurück. Das machte ihn bekannt, das brachte ihm Ruhm. »Ein tolles Pferdekind, leider unter einem falschen Reiter«, hieß es: Dopaj, der arme Mann, der kein Wechselpferd besaß und außerdem der Trinksucht verfallen war, würde es zugrunde richten. Man machte ihm Tauschangebote, zwei, einmal sogar drei Pferde. Das machte den Reiter nur noch stolzer. Die Jahre vergingen, der Name jedoch blieb: Gunan-Hara. Nun ist er gealtert. Die Becken- und Schulterblattknochen stechen hervor, der Kopf hängt, zwei weiße Gürtelnarben reichen ihm bis zur Mitte der Rippen, die wie ein Holzgerüst unter einer dünnen Decke wirken. Auch Dopaj ist gealtert, wirkt mit seinem zahnlosen Mund und dem fratzenhaften, narbigen Gesicht greisenhaft. Er schwingt die Arme, tänzelt, während er mir entgegeneilt, verwechselt mich erst mit meinem älteren Bruder. Ich sage, ich sei der jüngste der Geschwister, Dshurugawaa. »Ja doch, Dshuruk-Uwaj!« ruft er aus und beriecht mich an den Schläfen und streichelt mich dabei am Nacken wie einen Hütejungen. Das macht mich verlegen, auch riecht er nach Aragy. Angewidert versuche ich, mich aus seinen Armen zu befreien. Doch nenne ich ihn weiterhin Aga und stelle ihm die grüßenden Fragen der Reihe nach. Darauf wende ich mich den übrigen Ailleuten zu, grüße die Älteren und stelle mich den Jüngeren zum Gruß zur Verfügung. Ringsherum herrscht ein geschäftiges Treiben: Dort wird einem Hammel die Haut abgezogen, hier werden einem Seidenlawschak die Knöpfe angenäht, nebenan wird gewaschen, auch sehe ich Mädchen mit Milcheimern. Es sind alle Dopaj-Kinder. Ich sah sie früher. Das war vor fünf, sechs Jahren, an einem Schneeregenmorgen im Spätsommer. Die obere Hälfte der Jurte bestand damals aus einem einzigen 176
Schlaflager, ein Dutzend Kinderköpfe lugten hier und da unter den Schlafdecken hervor, sie lagen zu zweit, zu dritt dicht nebeneinander, Gesicht an Gesicht. Ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren war aufgestanden, hockte vor dem Herd und versuchte, ein Feuer anzuzünden. Die Streichhölzer waren naß geworden. Ich konnte ihr nicht helfen. Sie weckte ihren Vater, was ihr erst nach langem Ringen gelang. Dopaj konnte nicht gleich aufstehen, richtete zwar den Oberkörper auf, blieb aber im Bett sitzen. Er saß wie betäubt und flüsterte. Als Kind sah und hörte ich einen Schamanen, der einen Fluch auf einen anderen auf den Weg schickte. Jener sollte ohne Pferd bleiben inmitten einer Reise und ohne Frau inmitten seiner Mannesjahre. Damals kam es mir sinnlos vor, heute aber weiß ich, es war ein sinnvoller, denn schrecklicher Fluch! Dann erhob er sich, versuchte, die Streichhölzer anzuzünden, aber sie waren naß, mußten erst wieder trocknen. Schließlich gab er es auf, bot mir Aragy an. Ich konnte nicht eher aufbrechen, bevor wir nicht zu zweit die Halbliterflasche ausgetrunken hatten. Wenige Tage zuvor war ihm die Frau verstorben. Nun waren die Dopaj-Kinder herangewachsen, waren zu rotbäckigen, ansehnlichen Mädchen und Burschen geworden. In dem Mädchen, das an den Lawschakknöpfen näht, glaube ich das Kind wiederzuerkennen, das sich damals mit den nassen Streichhölzern abgemüht hat. Dann ist das die Gumaj. Da grüßt sie mich, und ich meine, es ist auch dieselbe Stimme. Das erfreut mich, das hilflose, arme Waisenkind hat sich zu einem schönen, selbstbewußten Mädchen entwickelt. Aber ihrem Gruß fehlt das kleine, Zutrauen einflößende Wort Aga, ich bin wohl für sie nicht mehr einer von den eigenen, nicht jener im Ausland studierende, seine Ferien genießende Student, der sich Zeit genommen hat, bei ihr hereinzuschauen, als sie in großer Not steckte, nicht mehr jener hilfsbereite Bruder, der versucht hat, ihr beim Anzünden des Feuers zu helfen, nicht mehr jener freigebige Onkel, der ihr einen Geldschein und ihren Geschwis177
tern eine Handvoll Süßigkeiten und den ersten Kaugummi ihres Lebens geschenkt hat, bin nun wohl gleich wie ein zufällig erschienener Urianchai, wie ein Halcha. Ich fühle eine leichte Kränkung. Ich werde in die Jurte gebeten. Dopaj läßt mir sofort Aragy vorsetzen. Ich sehe, daß er sich darüber freut, daß ich da bin. Alle Trinker freuen sich darüber, wenn sich ein Trinkgenosse einfindet, denke ich mit Widerwillen. Er erinnert sich an meinen Besuch damals, erwähnt den Geldschein, die Süßigkeiten und den Kaugummi. Beschämt denke ich an mein pauschales Urteil über ihn als Trinker. Dann erzählt er von den seit meinem Besuch vergangenen Jahren und davon, daß er nun glücklich über seine heranwachsenden Kinder ist. Und er erzählt auch von der bevorstehenden Hochzeit. Er freue sich als Vater über den Entschluß seiner Ältesten. Einen bescheidenen, zuverlässigen Jungen nennt er seinen Schwiegersohn. »Hochzeit ja, aber weshalb am zweiten September, inmitten der vielen Arbeit wegen Jagd, Heu und Schule? Meint Ihr wirklich, Aga, daß das Volk zu Euerm Fest zusammenkommen wird?« frage ich ihn in einem Atemzug. »Es eilt«, sagt er und greift zur Trinkschale. Ich bin erschüttert über seine Ehrlichkeit und trinke die angebotene Schale aus. Der Hausherr erlaubt sich einen ebenso kräftigen Schluck, schüttelt sich und erklärt die Eile: »Wir wollen auswandern.« »Ach. Und wohin?« »Nach Selenge-Aimak.« »Also Ihr auch.« »Warum nicht ich, wenn alle es tun?« »Wieso?« brause ich auf. »Können sich Eure Kinder nicht so ernähren, wie Eure Eltern, Großeltern es gekonnt haben?« »Das heißt? Du mußt dich hier schon genauer ausdrücken!« »Dem Vieh nachgehen und nehmen, was es abgibt.« »Nein!« sagt Dopaj hart, abweisend. »Sieben Paar Arbeitshände und nur noch hundert vierzig Stück Genossenschaftsschafe. Die 178
geben im Monat kaum siebzig Tugrik ab. Sag, kann man damit zu zehnt leben?« »Das nicht. Aber Ihr könnt doch nicht hundertvierzig, sondern tausend, ja zweitausend Stück Schafe betreuen!« »Wer gibt sie uns? Ich habe keinen Bruder, keinen Onkel, keinen Schwiegersohn unter den Dargas der Genossenschaft!« Darauf habe ich nichts mehr zu entgegnen, bin am Ende meiner Kenntnisse. Allein da kommt die Rettung, sie kommt in Gestalt eines Kasachen, der, die Peitsche in der Hand, die Jurte betritt. Es ist ein noch junger Mensch mit einer gedrungenen Gestalt, mit brennenden Augen und zackigen, eckigen Bewegungen. Sein Gruß ist kurz. Er kippt die angebotene Schale mit einem Ruck hinunter und kommt zur Sache: Er will alles abnehmen, was zu verkaufen ist. »Es hat noch Zeit«, sagte Dopaj. »Wieso das?« will der Kasache wissen. »Vorerst will ich meine älteste Tochter verheiraten und ein Hochzeitsfest feiern, dann wird es auch ein Abschiedsfest geben.« »Und wenn das Lastauto, das dich samt deiner Jurte wegbringen will, schon heute ankommt?« »Es kann nicht heute ankommen, da auf dem Vertrag, den ich unterschrieben habe, der zwanzigste September als Ausreisetermin steht.« Der Kasache kichert, läßt die Augäpfel rollen und den Schnauzbart hüpfen. Er habe mit eigenen Augen gesehen, daß der erste der insgesamt fünf Laster in der Vornacht angekommen ist, und er habe mit dessen Fahrer gesprochen und erfahren, daß die anderen im Laufe des heutigen Tages eintreffen werden. Dopaj ruft seine Kinder herbei und teilt ihnen das soeben Gehörte mit, was bei denen Freude wie Schreck auslöst. »Nun?« »Zu den üblichen Preisen?« läßt der Hausherr von sich hören. 179
»Gewiß. Aber was hast du anzubieten?« Dopaj zählt auf, was er an Vieh besitzt. »Das ist nicht viel. Doch du hast den Rappen und die Mauser vergessen. Die beiden will ich noch dazunehmen.« »Wozu willst du die beiden? Die sind doch alt, taugen für nichts mehr.« »Ich kann dir genau sagen, wozu ich die beiden haben will. Vor vielen Jahren bat ich dich, mir den Rappen zu verkaufen. Da warst du ein junger, stolzer Mensch, hast mir weismachen wollen: Kein tuwinischer Mann verkaufe sein Reitroß und sein Jagdgewehr! Nun brauchst du weder das eine noch das andere, brauchst dafür aber Geld. Du weißt selber, wie zäh das Fleisch des Gauls sein wird, der nicht nur so alt geworden, sondern auch so viel abgeschunden worden ist. Macht aber nichts, ich will es weichkochen, ihm anderes Fett beimengen und meinen Gästen erzählen: Es ist kein Pferdefleisch schlechthin, es ist das, was vom einstigen Ruhm eines stolzen Tuwinen und seines Reitrosses noch geblieben ist! Ich will es tun und Allah danken dafür, daß er mein Zeuge ist. Und die Mauser brauche ich nachts manchmal, um die Wölfe zurückzuscheuchen!« »Alles andere kannst du haben, nur den Rappen, mein GunanHara, nicht!« »Wieso?« »Er soll den Kessel meiner Geburtsjurte fetten. Du kennst doch Dönesch, er ist mein Neffe, er bewohnt die Jurte, in der ich einst geboren wurde. Ihm muß ich das Pferd überlassen.« Ich verlasse die Jurte, gehe zu Gumaj, die gerade dabei ist, den fertiggenähten Lawschak zusammenzufalten. »Du, Schwesterchen«, flüstere ich ihr zu, »komm mit mir bis zur Pferdebinde.« Sie blickt mich verwundert an, legt den Lawschak auf die Steppmatte, auf der sie gesessen hat, und folgt mir wortlos. »Munsukdshap ist gekommen.« »Ich weiß«, sagt sie leise und blickt an mir vorbei. »Er ist hier, dort hinter dem Sattel, und wartet.« 180
Sie fährt zusammen, schaut aber immer noch an mir vorbei. Und dann: »Warum denn das? Er hatte doch selber … ich meine, er hat aufgehört zu schreiben.« »Das kann nicht sein. Er sagt, er habe bis zuletzt geschrieben, nur du nicht mehr.« »Nein!« ruft sie erbost und richtet den Blick auf die Bödej, aus der mit einer großen, schweren Schüssel der Bräutigam tritt. Trotz der Entfernung grüßt er mich laut, ich sehe sein erhitztes, dunkles Gesicht, seine weißen Zähne, die vor Anstrengung entblößt sind. Gumaj wendet ihren Blick von ihm. ab, und so wie sie es macht, entdecke ich etwas Zorniges. Ihre Augenbrauen zucken. »Möglich«, sagt sie mit bebender Stimme, fügt dem aber dann fest hinzu: »aber nun ist es zu spät!« »Noch ist es nicht verloren.« Aber sie kommt mir zuvor, sagt schroff: »Nein!« Und sie fährt in einem unfreundlichen Ton fort: »Sie wollen damit sagen, er hat die Briefe vernichtet. Und damit haben Sie vielleicht auch recht, wer weiß. Aber er kann es doch, das ist seine Sache. Nicht umsonst redet man von den dreizehn Griffen des Mannes. Wer kann, dem ist auch ein vierzehnter nicht verboten. Gut, er hat mir das Leben zerstört, aber ich kann es ihm sehr gut heimzahlen. Oh, ich werde ihm das Leben zur Hölle machen!« »Warum denn das? Es braucht ja nicht erst dazu zu kommen!« »Die Hochzeit absagen?« »Ja, warum nicht?« »Nein!« Ihr Kinn zittert, in ihrem Auge brennt ein Licht, das einem irren Feuer gleicht. »Die Jurte ist zusammengestellt und aufgebaut, die Bettdecke ist genäht und sogar der Hammel geschlachtet! Nein! Lieber sterben, als die Hochzeit absagen und so den Namen des Vaters in Verruf bringen!« »Den guten Ruf des Vaters retten und dafür ein Leben lang leiden?« »Nicht nur leiden, wenn es sein muß, auch sterben! Und hier 181
geht es nicht nur um den guten Ruf des Vaters, meines Schöpfers. Es geht auch um das Leben der Geschwister, deren Älteste ich bin. Der mit mir zusammen die Jurte bewohnen und eine gemeinsame Wirtschaft führen wird, mag für viele meiner Gleichaltrigen alt und häßlich sein. Aber fleißig, genügsam und unscheinbar ist er, und das sind Eigenschaften, die auf die Dauer wichtiger sind als Jugend, Schönheit und Glanz.« »Oje! So denkst du?« »Ja. Meine Gedanken reichen noch weiter: Sollte er wirklich Briefe unterschlagen haben, dann wird er dafür ein Leben lang büßen müssen! Ich werde ihm seine Tage und Nächte, die ihm noch Übriggeblieben sind, zu einer einzigen Hölle machen!« Das Feuer, das in ihrem Auge zu sehen war, wächst zu einem Brand aus. Ihr Blick irrt von einem zum anderen. Er kommt mir blind vor, er muß blind geworden sein vor Haß. Ich reite davon und bin fast froh für Munsukdshap, der nicht neben dieser Frau sein Leben verbringen muß. Ich finde ihn sofort. Er hockt in einer Mulde, ist hellwach. Ungeduld spielt auf seinem Gesicht. Ich beschließe, jede Hoffnung, die nun sinnlos ist, von vornherein zu beseitigen. So sage ich, noch bevor ich absteige: »Es ist nicht wegen der unterschlagenen Briefe. Es ist wegen des bißchen Zeugs, das der Junggeselle zusammengehamstert hat. Gut nur, Brüderchen, daß sich das Weib von selber losgemacht hat von dir!« Allein ich sehe, seine Hoffnung ist nicht zu besiegen, sie bleibt, auch noch, nachdem ich über all das ausführlich erzählt habe, was ich im Ail gesehen und gehört hatte. So sage ich ihm, er solle selbst hinreiten. Ich sage es zornig. Er aber zeigt Unentschlossenheit. Erst dann, als ich Bemerkungen mache, die seinen Mut in Zweifel ziehen, wird auch er zornig. Er springt auf, schwingt sich in den Sattel und reitet davon. Ich strecke mich im Gras aus und will schlafen. Die Zeit vergeht langsam. Vier Stunden vergehen. Ich bin wütend, als der Soldat endlich zurückkommt. Ich sehe seinem finsteren Gesicht 182
an, daß es ihm nicht gelungen ist, das Mädchen umzustimmen, und das tröstet mich ein wenig. »Eine Schlange!« sagt er auf meinen fragenden Blick hin. Wir reiten langsam und schweigen wie Besiegte. Es ereignet sich nichts, was uns hätte ablenken können. Es ist, als ob der Altai sein Leben ausgelebt hätte. Die Nacht ist hereingebrochen, als wir ankommen. Während ich das Pferd absattle, kommt mir vor, daß das, was sich hätte ereignen sollen, sich nicht hat ereignen können, und dieser Tag gleicht vielen Flicken.
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Der fünfzehnte Tag
31. August Zwei Jungpferde gingen dicht aneinandergedrängt. Das eine war ein Fohlen, das andere eines vom Vorjahr. Das größere führte, und das kleinere hielt sich dicht an dessen Seite, wie an der einer Mutter. Sah man länger und genauer hin, so begriff man: Das Schutzsuchen war gegenseitig. Bruder Galkaan und ich waren die beiden Jungpferde. Er war im Jahre der Gelben Häsin geboren und ich in dem des Schwarzen Pferdes. Zwischen seiner Häsin und meinem Pferde lagen der Drache und die Schlange- also trennten uns drei Jahre voneinander. Nur war der Unterschied nicht so groß wie bei Tieren, und so glich er, der um ganze drei Jahre Ältere einem Vorjahresfohlen, während ich schon ein diesjähriges darstellte. Von Saryg-Göschge holten wir Düüleesch. Galkaan rupfte sie aus dem Geröllhang heraus, ich trug sie auf eine ebene Stelle, auf daß wir sie dann zu zwei Trachten schnüren konnten. Die seine war größer als die meine. Die Stelle lag abseits von unserem großen Winterlager, hing am steilen Nordhang der Schlucht innerhalb des Tewe-Mojun, des Kamelhalses. Also mußten wir bergauf, mußten uns anstrengen, wenn wir beladen zurückgingen. Ich ging vorneweg, der Bruder hinter mir, um mich abzufangen, wenn ich ausrutschen sollte. Noch dazu waren wir durch ein Seil miteinander verbunden. Jeder von uns beiden trug ein Messer am Gürtel in einer Birkenholzscheide, und die Lebensregel lautete: Wenn einer von uns ausrutschte und in Lebensgefahr geriet, eilte ihm der andere zu Hilfe und schnitt ihm die Schnüre durch. Es war schwer, beladen den steilen, rutschigen Hang hinauf184
zuklettern. Die Schieferfelsen waren zu Steinen zerbrochen, diese wiederum waren zu Kies zerfallen, nun bewegte sich alles, sobald man darauf trat, bergab, es rutschte, es flöß, und nur der kam vorwärts, der schneller war als dieser Fluß. Oft geschah, daß wir rückwärts gingen anstatt vorwärts, ebenso passierte, einer rutschte an dem anderen vorbei, zog ihn mit hinunter, und beide wurden vom rutschenden Kies erfaßt. Alles gab es, immer war es mit Gefahren verbunden, aber zu einem ernsthaften Fall mit Folgen kam es nicht. Vielleicht waren wir geschickt durch das tagtägliche Üben, wir kannten uns in den Elementen aus, wir waren noch eins mit ihnen, waren mit einem sechsten oder gar einem siebenten Sinn ausgerüstet, vielleicht. Wir hätten uns, sobald der steile, rutschige Geröllhang bestiegen war, losbinden können. Doch wir taten es nicht, gingen weiter, aneinandergekettet kamen wir zu Hause an. So wollten wir gesehen werden, denn so wurde alles betont: die Beschwerden, die Gefahren, die Männlichkeit des großen Bruders und die Kindlichkeit des kleinen. Möglich, dies trug bei zu den Lobreden, mit denen uns die Erwachsenen bedachten. Aber noch etwas, und zwar etwas, was wir nicht beabsichtigt hatten, nicht hatten beabsichtigen können, kann durch unser derartiges Aussehen verstärkt auf das Gemüt der Erwachsenen gewirkt haben: Man konnte bei unserem Anblick an die natürliche Bruderschaft, an jenes Band denken, das noch unversehrt zwei Menschenkinder miteinander verband, gleich einer Nabelschnur. Die Lederleine, die uns umschlang, muß einen recht leicht an diese Nabelschnur erinnert haben und vielleicht auch noch an das jedem Jäger und durch sein Werk vielen Menschen bekannte Bild: Das Murmeltierweibchen trug in seinem Unterleib so etwas wie ein Stück verdrehter und blutiger Rohlederleine mit vielen Knoten, und jeder von diesen war ein Junges. Zu anderen Jahreszeiten war es Dung, den wir in die Körbe aus Weidenruten einsammelten und nach Hause trugen. Wir holten Wasser, winters war es Schnee, den wir zuerst mit einer 185
Holzschaufel in die Säcke stopfen mußten. Wir brachten die Yakkuhmilch in das Milchwerk. Und wir weideten und hüteten die Lämmerherde. Und bei all diesen Beschäftigungen trieben wir Jagd, unsere kleine Jagd auf Mäuse und Ziesel, auf Hasen und Rebhühner. Vor allem aber war es der Ziesel, er war unser Jagdwild. Er mochte so vorsichtig sein und seine Sinne mochten noch so gut arbeiten, aber wir Menschenkinder mit unserem denkenden Kopf und den Mordgeräten, die seit den Zeiten der Vorfahren angefertigt worden waren, bezwangen ihn doch, wir erlegten ihn, wo wir ihm begegneten. Die Jagd war ein gemeinsames Werk, doch hielten die Ailleute ihn, den Älteren, für den Jäger, und zum Ausgleich dazu wohl trug die Jagdbeute ständig ich. Oft geschah, daß der Ziesel ein Weibchen war und aus seinem Bauch, sobald wir ihn aufschnitten, nachdem wir den Körper enthäutet hatten, das verdrehte, klitschige Etwas mit den vielen Knoten hervorquoll, und es passierte auch, daß sich etwas darin bewegte. Schweigend sahen wir dem zu und warteten, bis es still wurde. Wir sprachen nie darüber, aber ich ahnte, was darin sein konnte. Und nach so einer Begegnung glaubte ich immer, etwas Krabbeliges in den Gliedern zu spüren, und das mußte die Angst gewesen sein. Angst vor uns, vor meinem Selbst, wie ich erst viele Jahre später begriff. Bruder Galkaan hieß zuerst Galkagan, und er hatte den Namen von einem Kasachen. Es war gegen Ende des Herbstes. Das Dshula-Fest war herangerückt, die Butter für die Leuchten stand längst zerlassen in der Porzellankanne, und sogar die Fladen waren gebacken. Tags peitschte ein Sturmwind, die Wolken brodelten; nachts herrschte die Vorwinterkälte, die Wolken erstarrten: Der Schnee und der Winter waren unterwegs. Und das war richtig so, denn die Jurte stand in Hoodasyn, nur wenige Lassowürfe vom Rücken der Schwarzen Berge im Wege der Sturmwinde, dies tat man, um die Herde abzuhärten vor der bevorstehenden Winterkälte. 186
Mutter hatte seit Tagen die Vorwehen, die sich bald meldeten, dann aber aufhörten. Und eines Abends begann es zu schneien, doch der Sturm, der sonst aufhörte, wenn es schneite, dauerte diesmal an. Was blieb den Menschen übrig, sie brachten Lämmer vom zweiten Wurf in die Jurte, soweit sie dort Platz fanden. Aber da erschien noch ein Konak, ein Kasache dazu. Doch was sollten wir machen? Herzlich willkommen: »Geh bis zum Dör, laß dich von den Lämmern nicht stören und sei uns ein Kudaj-Konak!« Der Konak hieß Kalkagan, und sein Vater Kobdabaj war ein Tamyr der Krummen Großmutter gewesen. Die Krumme Großmutter war die Mutter von unserer Mutter, sie besaß eine gute Anzahl Vieh, eine eigene Jurte. Sie war vielleicht deshalb eine selbstbewußte Frau, kam zu uns nur selten, und wenn sie kam, brachte sie Geschenke mit, und so mußte auch Mutter etwas finden, was sie jener schenken konnte. Und diese Frau hatte, wie sonst Männer, auch eigene Tamyr. Kalkagan ist einer von ihnen gewesen. Der Tamyr selbst war inzwischen verstorben, aber er hatte erwachsene Söhne zurückgelassen, und diese pflegten, wie alle Söhne verstorbener Väter, die Tamyrschaft weiter. Wäre er aber ein anderer gewesen, nicht gerade der Sohn eines Tamyrs, sondern ein Unbekannter, es hätte an der Sache nichts geändert: Der Wanderer hat das Recht, der Hausherr hat die Pflicht, das war die überbrachte Sitte, das ungeschriebene Gesetz, das zuverlässiger wirkte als viele geschriebene. Also bekam der Konak seine Kanne Tee, seine Schüssel Fleisch und sein weiches, warmes Schlaflager. In der Nacht setzten die Wehen heftig ein, es ging schnell zu. Das Geschrei des Kindes erst weckte den Konak aus dem Schlaf, der nach der Kanne Tee, der Schüssel Fleisch und unter dem warmen Schafpelz in der windgeschützten Jurte inmitten des Schneesturmes draußen sehr fest gewesen sein mußte, und nun sah er wohl, was in der anderen Hälfte der Jurte, zwei 187
Schritt von ihm, geschah. Er fragte: »Was kann ich tun?« Vater, der in diesem Augenblick das Kind, von der Nabelschnur getrennt, in den Händen hielt, um es auf ein Tuch zu legen, tastete, wohl von der Frage ermuntert, es ab und stellte fest, es war ein Junge. Aber nicht nur das: Ein heißer Wasserstrahl schlug gegen die betastende Hand, und der, der den so männlichen Gruß empfing, rief in freudiger Erregung aus: »Ein Mann ist da, einen Namen braucht er, aber sofort!« Die Antwort kam ebenso schnell, wie alles da vor sich ging in der von Mensch und Tier überfüllten Jurte in jener Schneesturmnacht: »Ich gebe ihm meinen Namen, den ich von meinem Vater habe, und meinen Segen dazu, daß mein Attas ein langes Leben haben und es in Freude und Reichtum verbringen möge!« Damit schlief wohl der Konak wieder ein. Das durfte er, denn er hatte Bleibendes getan: Nicht nur wurde sein Name angenommen, nicht nur waren damit die guten Beziehungen seines Vaters gepflegt, es entstand eine neue Tamyrschaft zwischen seiner und unserer Familie. Der Tamyr kam öfter zu uns, brachte dabei jedesmal ein Geschenk für seinen Attas mit, was natürlich immer aufgeteilt wurde und so sein Gutes auch für alle anderen hatte. Das Kind war auch öfter in der Jurte seines Attas, einmal übernachtete es dort sogar allein, dabei sollte es anstelle des Jüngsten in das Ehebett kommen, was dem Gast nicht besonders behagte. Das Meschbet aber, in welches man Galkaan am nächsten Morgen kleidete, gefiel ihm sehr. Es war elsterbunt, war zusammengenäht aus Stoffresten und hatte auf dem Rücken einen roten fünfzackigen Stern. Das Meschbet war sein großer Stolz, er trennte sich davon sommers wie winters nicht, bis er ihm entwuchs. Später war ich der stolze Besitzer des inzwischen längst abgetragenen, hier und dort zerfransten Meschbets. Aber die Geschichte mit dem Meschbet endete damit noch nicht. Zuerst war es der Bruder, der zusehen mußte, wie ich mich mit seinem Meschbet schmückte, während er keines mehr hatte, er drängte Mutter, ihm eines nachzunähen. 188
Mutter erfüllte nicht nur ihm den Wunsch, sie nähte nach und nach jedem eines, zwar kein elsterbuntes und keines mit dem fünfzackigen roten Stern, aber ein Meschbet eben. So hatte das Geschenk, wie die Tamyrschaft, einen tieferen Sinn. Allein der Name, der allem voranging, mußte sich klein wenig verwandeln, ohne daß man es recht merken konnte: Aus dem harten kasachischen k wurde ein weiches tuwinisches g, und der Mitlaut zwischen zwei kurzen Selbstlauten, der im Tuwinischen leicht ausfällt, fiel auch hier aus. Eine jede Sprache hat ihre eigenen Gesetze, und diese kümmert nicht, ob die Sprache, aus der sie sich ergeben, von anderen anerkannt wird oder nicht. Also machte die tuwinische Zunge ein Galkaan aus Kalkagan, so wie die kasachische Zunge ebenso imstande gewesen wäre, das Umgekehrte daraus zu machen. Als sein Attas starb, war Bruder Galkaan schon ein erwachsener Mensch, dazu noch ein ziemlich wichtiger auch wohl, denn er hatte in der Hauptstadt studiert und war Lehrer in der Kreisschule geworden. Auf die Nachricht hin ritt er mit einem lebenden Hammel auf dem Sattel zu dem Ail seines Attas. So sei es bei den Kasachen Sitte. Er kam beeindruckt zurück von dem Band, das die Verwandtschaften zusammenhält: Es seien fast mehr Menschen zusammengekommen als zum Naadam, und auf alle Fälle mehr Tiere geschlachtet worden, als wir das ganze Jahr über hätten verbrauchen können. Nur, meinte er, die Totenklage habe ihm nicht gefallen. Jedesmal, wenn ein neuer Besucher erschien, habe sie von allen in einer schwankenden Runde wiederholt werden müssen. »Mit trocknen Augen die Weinenden vortäuschen – schrecklich!« erzählte er. Vater nahm ihm die Bemerkung nicht ab: »Keiner ist berechtigt, ein Urteil über die Sitten anderer zu fällen! Denn was weiß man als Außenstehender von dem tieferen Sinn einer jeden Sitte eines anderen Volkes? Sei still; du verdankst dem Manne nicht nur deinen Namen, nun auch das, daß du wenigstens ungefähr weißt, wie es endet bei dem Nachbar!« 189
Bruder Galkaan war ein schläfriges Kind. Morgens, wenn wir geweckt, hochgezerrt und auf die Beine gestellt wurden, gingen wir mit immer noch geschlossenen Augen und taumelnd aus der Jurte. Während ich pullerte, spürte ich das Sonnenlicht an den Augenlidern, vernahm die Stimme des neuen Tages, und mir verflog der Schlaf. So taumelte ich nicht mehr, wenn wir zurückkamen. Er aber taumelte weiterhin und konnte die Augen immer noch nicht öffnen. Jemand mußte kommen und ihm mit kaltem Wasser die Hände, das Gesicht und den Hals waschen, damit er endlich wach wurde. Das war etwas, wovor ich mich fürchtete. Vielleicht darum wurde ich so schnell wach, ja, ich zeigte mich hellwach, war bereit sogar, ein paar hohe Sprünge vorzuführen und dabei mir einen Klaps auf den Hintern zu geben. Ich nahm einen Schluck aus der Wasserkanne, wartete, bis sich das Wasser im Munde wärmte, wusch dann damit die Hände, benäßte auch die Augen und spülte noch den Mund. Der Schluck reichte dafür, oder besser, ich meinte, er reiche. Bruder Galkaan kam nicht auf diese Idee, auch dann nicht, als ich ihm erzählte, wie und weshalb ich es tat. Ihm reichte wohl dazu die Willenskraft nicht. Und so ließ er sich den Schlaf lieber von anderen wegwaschen. Da saß er mit eingezogenem Hals und zu einer Grimasse verzogenem Gesicht und zitterte. Es konnte sein, daß er weinte. Denn er war berühmt für sein lautloses Weinen: Er brauchte nur das Gesicht zu verziehen und dazu noch kleines bißchen zu zittern, schon rannen die Tränen; nun hatte er ohnehin ein nasses Gesicht, und man konnte nicht auf Anhieb sagen, ob ein Teil der Nässe nicht Tränen waren. Es kam vor, daß er so dasaß und dabei wieder einschlief. Aber stets wirkte er müde und milde, als wenn er soeben erwacht wäre oder gleich ins Bett gehen müßte. In der Schule hatte er mittelmäßige Zensuren, doch gehörte er ständig zu den Musterschülern. Es war sein Betragen, was ihn auszeichnete. Nie kam vor, daß er sich bei einem Schulkamera190
den oder bei einem Lehrer unbeliebt gemacht hätte. Er war der Liebling aller. Die Studentenjahre schienen eine nahtlose Fortsetzung der Schuljahre zu sein: Ohne einen herausragenden Erfolg, aber auch ohne jegliche Komplikationen schloß er die Universität ab. Als Bruder Galkaan von der Stadt als frischgebackener Lehrer zurückkam, wartete auf ihn nicht nur eine Bödej, es wartete auch die Braut mit. Die Eltern hatten sie für ihn ausgesucht und mit deren Eltern die Sache abgesprochen. Er hörte es, lächelte, ließ sich am nächsten Tage von einem Verwandten zum Ail seiner künftigen Schwiegereltern hinführen und sah die Braut. Die beiden schienen einander zu gefallen, obwohl sie sich kaum kannten, nur ein-, zweimal hatten sie sich gesehen, und dabei hatten weder er noch sie gedacht, daß sie eines Tages zu einer Jurte, zu einem Bett gehören würden. Tage darauf fand die Hochzeit statt, es war eine schöne Hochzeit: Die Sonne des ersten Herbstmonats schien, die Grashalme um die Bödej standen still, man hörte zu dem Festgesang das Zirpen der Grashüpfer; viel Volk versammelte sich, auch Kasachen waren benachrichtigt, und wer von ihnen kam, der ließ sich unter den Tuwinen nieder. Es gab viel Aragy und viel Fleisch, alle Kannen und Beutel waren wieder gefüllt, als die Hochzeit zu Ende gegangen war und diese zu ihren Besitzern zurückkehrten. Der Gesang, der schnell zustande gekommen war, verstummte erst nach einem Tag und einer Nacht, und es gab keine Schlägereien. Der Herbst, der Winter und das Frühjahr gingen ins Land, und schon tauchte das Erstlingskind auf, es war ein Junge, ein hübscher Junge obendrein. Dem folgten weitere Kinder, heute sind es ihrer vier, zwei Jungen und zwei Mädchen. »Wie bestellt«, sagt ein Besucher aus der Hauptstadt, und er meint damit die Kinder und die Proportion der Geschlechter. Aber der Besuch vergißt nicht, hinzuzufügen, daß nun hoffentlich Schluß sei. Bruder Galkaan lacht und fragt: »Wieso denn?« Seine Frau errötet nur. Die Eltern wollen so etwas nicht hören, sie fürchten 191
sich vor weißen Zungen genauso wie vor schwarzen. So bitten sie den Besucher: »Laß bitte die Hundejungen aus dem Spiel, die uns der Altai gegeben hat!« Die Herden, die dem Vater gehörten, wurden nun seine. Das heißt, sie standen zwar auf dem Papier hinter Vaters Namen, aber ihr Verwalter war er, der Genosse Lehrer Gagaa, so lautete nun sein Name. Und daß es so war, nahmen selbst die Dargas des Ortes als die selbstverständlichste Sache hin. Auch hier spielte seine Beliebtheit eine Rolle. Er brachte die Herde bei anderen Herden unter, und allen war es egal, ob die Herde, der man nachging, um ein paar Stück größer war oder nicht. In den kleinen Schulferien fuhr der Lehrer auf dem Motorrad herum und verteilte Geschenke, und besonders freute sich derjenige, bei dem sich dieser zur Übernachtung niederließ. Aber in den Sommerferien, die für die Schüler drei und für die Lehrer zwei Monate dauerten, sammelte er seine Herden ein, widmete sich ihnen und nahm ihnen ab, was sie zu geben fähig waren: Wolle und Milch. Seine Frau war eine tüchtige Person und wirtschaftete emsig, die Kinder waren nach ihr geraten, packten schon zu, und auch unsere Eltern halfen mit. So schien sich in der Jurte des neuzeitlichen Lehrers das Leben fortzusetzen, das sich seit Jahrhunderten und Jahrtausenden in den Jurten der Vorfahren abgespielt hat, die alle einfache Viehzüchter gewesen sind. Und dem sehen die Eltern mit Freude zu, denn sie erzählten ausführlich darüber, wie sich der studierte Sohn in den Sommermonaten in einen Araten verwandelte. Vielleicht haben sie vorher gedacht, so wie ich es auch gedacht habe, sie wären die letzten gewesen, die das Nomadenleben geführt hätten. Wichtiger war noch, wie sich Außenstehende dazu äußerten. Sie nannten ihn einen Baj. Das klang aber anders als damals, als man zwanzig Jahre früher unseren Vater und weitere zwanzig Jahre früher unseren Großvater so genannt hatte. Damals war das feindlich gemeint, man sagte auch Kulak dazu, wenn man die Feindseligkeit besonders betonen wollte. Nun aber war es 192
lediglich eine Feststellung: Der hatte ein festes Gehalt, von dem er lebte, und nun hatte er auch Vieh dazu. Vielleicht schwang auch ein leichter Spott mit, denn daß ein Studierter den Schafen und Yaks hinterherrannte, konnte vielen durchaus wie eine Selbsterniedrigung vorkommen. Allein Bruder Galkaan sagte nichts dazu, er schien es nicht zu hören oder nicht zu verstehen, auch wenn er es hörte. »Er lebt eben sein Leben«, bemerkte Vater einmal zu seinem Sohn. Der Tag vergeht. Die Sonne geht unter. Bruder Galkaan kommt nicht zurück. Die Eltern werden unruhig. Vater geht die Straße entlang und fragt alle Schulkinder, die er trifft, nach dem Lehrer. Keins kann ihm sagen, wo er geblieben sein könnte. Bei Einbruch der Dunkelheit hören wir das Motorrad endlich knattern. »Mein liebes Kind, wo warst du so lange?« ruft Vater, der die ganze Zeit draußen gehockt hat, ihm entgegen. »Komme aus Dshylannyg!« »Aus Dshylannyg? Das ist ja das andere Ende der Erde!« Später erfahren wir, daß er den Arzt dorthin fahren mußte, da das Auto der Ersten Hilfe kaputt war. Den Patienten, der den Arzt brauchte, kennen die Eltern. Es ist ein Kasache, der Vater einmal seine vier Kamele für einen Tag geliehen hat. »Hast du dich wenigstens satt essen können?« fragt ihn Mutter in einem Ton, der sowohl Freude als auch Bedauern enthalten könnte. »Das ja, aber ich werde trotzdem essen.« Mutter humpelt in die Hütte und holt sogleich den Topf, der in einen wattierten Lawschak eingewickelt ist. Bruder Galkaan will sich waschen, aber Mutter drängt ihn, vorher zu essen. »Man kennt dich, du läßt das schöne Essen noch kalt werden, das Nordshmaa gekocht und ich so mit Mühe warm gehalten habe!« sagt sie. Der Sohn gehorcht. Es ist ein gemächliches, genüßliches Essen, dem alle zuschauen, so auch ich. Aber bald 193
sage ich zu Nordshmaa, daß sie mir das Bett machen soll, da ich schlafen möchte. Beim Einschlafen vernehme ich die gleichmäßige Unterhaltung, dazu das dumpfe Kauen mit dem hellen Schmatzen. Es kommt mir wie ein Gemurmel vor, das, gleich einer Urmelodie des Lebens, mich umhüllt und in den Schlaf lullt.
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Der sechzehnte Tag
1. September In dem Augenblick, in dem Mutter den Deckel vom Kessel abhebt, da der Milchtee prasselnd aufkocht, geht die Tür der Jurte auf: Schwester Torlaa erscheint. Ich sehe ihr gerötetes, erhitztes Gesicht und das längliche, weiße Bündel vor ihrer Brust. Vater hat sich wieder hingelegt, nachdem er sich am Morgen erleichtert hatte. Mutter hat keine Zeit, aufzublicken, sie hat mit dem Milchtee zu tun, muß ihn besänftigen und mit der Schöpfkelle rühren, bevor sie ihn schöpft. »Uj!« sage ich. »Unser graues Rebhühnchen!« Ich wundere mich darüber, daß mir diese Worte so leicht über die Lippen gekommen sind – Worte der Kindheit. »Ah!« rufen die Eltern wie aus einem Mund. Vater versucht sich aufzurichten, was ihm nicht gleich gelingt. Mutter läßt die Kelle in den Kessel fallen und wendet sich der Tür zu. Der Milchtee kocht über, ich eile hin, kann jedoch des Auf- und Überschäumenden nicht gleich Herr werden, muß erst eine andere Schöpfkelle finden. Als ich den Milchtee unter Kontrolle gebracht habe, sehe ich die Eltern und die Schwester in einem engen Kreis stehen, alle Gesichter über dem Bündel, das Vater in Händen hält. Schwester Torlaa ist das einzige Mädchen unter den neun Kindern, die die Mutter geboren hat. Sie war das Erstlingskind der Ehe meiner Eltern. Damals sollen die Kinder volle zehn Monate im Mutterleib gelegen haben, ehe sie zur Welt kamen, wie die vielen MutterKind-Gedichte das auch bestätigen. Der Sproß jedoch, den die Neuverheirateten erwarteten, war schon inmitten des achten 195
Monats da. Es handelte sich um eine Frühgeburt. Gut nur, daß das Hirtenvolk in solchen Sachen Erfahrung hatte. Das zu früh geborene Kind wurde an die Gitterwand der Jurte gehängt. Eine alte Fuchsfellmütze, die Großvater gehört hatte, war seine Wiege. Die Mützenbewohnerin wanderte, als ob sie die Latten des Scherengitters und die Streben darüber abzählte, in der Jurtensonne von rechts nach links, Tag für Tag. Wenn sie den Weg der zweiundsiebzig Gitterscheren zurückgelegt habe, würde sie am Leben bleiben, sagten alle. Die Schwester überlebte, und während ich unterwegs war, steckte sie so fest im Leben, daß sie die Mütze, in der sie ihre ersten Tage und Wochen gelebt hatte, zusammenrollen und schaukeln und dabei ein kleines Wiegenlied singen konnte. Sie erwartete mich und empfing mich dann auch mit im Leben. Von Vater wurde ich ihr zugesprochen, und sie war, solange Großmutter bei uns noch nicht aufgetaucht war, neben Mutter der Mensch, der sich mit mir am meisten beschäftigte. Torlaa bedeutet Rebhuhn. Die zu früh Geborene wird in den ersten Tages ihres Daseins an das schwächste und pflegebedürftigste Lebewesen erinnert haben. Das war damals das Rebhuhn, das in der Nähe der Jurte und am Rande der Hürde lebte, so wie heute der Sperling oder auch die Taube. Dort, wo man den Sack mit der Gerstenschale ausklopfte, nachdem die Körner abgetrennt waren, wimmelte es noch stundenlang von Rebhühnern und anderem Kleingeflügel, das der Nähe des Menschen und des Hausviehs bedurfte. Die Flinte gab es noch nicht, das Kleinkalibergewehr war nur vereinzelt anzutreffen, und da ringsum allerlei Arten des Großwildes noch in Herden lebten, kam der Mensch nicht auf den Gedanken, auf die Rebhühner zu schießen. Wenn ich nicht bei den Eltern im Bett schlief, dann bei der Schwester. Sie wusch mir die Hände, das Gesicht, manchmal auch die Füße und die Knie. Sie kämmte mir mit einem winzigen, abgenutzten Ziegenhornkamm die Haare, fettete mir mit 196
roher Milchsahne die Hände, die Füße und im Sommer auch das Gesicht ein. Sie trug mich auf dem Rücken, wenn sie die Nachbarails besuchte. Sie nähte mir aus Stoffresten Hemden mit langen Ärmeln und Hosen mit ebenso langen, weiten Beinlingen. War der Bruder mir so etwas wie ein Zweitvater, so war mir die Schwester eine Zweitmutter. Seit ich da war, spielte sie mit keiner Puppe mehr, sie hatte nun ein echtes Baby und mit ihm die echten Freuden und Sorgen einer Mutter. Hatte ich mit dem Bruder die Außenwelt zu entdecken, so konnte ich mich mit der Schwester den Einzelheiten des Lebens in der Jurte nähern. Schwester Torlaa war rotbackig und flink und geschickt in fast allen Sachen, die ihr unter die Hand kamen. Das muß ihren Wert gesteigert haben, den Wert, den sie als einziges Mädchen in der Familie uns Jungen gegenüber besaß. An einem Frühlingstag im Jahr der Blauen Schafmutter hatte das Unglück seinen Anfang genommen. Schwester Torlaa hatte vergessen, ein Lamm zu tränken. Mutter schimpfte mit ihr. Dann ist sie zu der Nachbarsjurte gegangen, um den Ärger loszuwerden. Und selbstverständlich ist sie von der Nachbarin zu einer Kanne Milchtee eingeladen worden. Erst als Mutter zurückkehrte und in die Jurte eintrat, sah sie die in der Blutlache Liegende und die Mauser neben ihr. Sie begriff nicht sofort, was vorgefallen war, sie prallte zurück, verließ die Jurte und wollte um Hilfe schreien, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Da hastete sie zu den Nachbarn, bei denen sie gerade gesessen, Tee getrunken und erzählt hatte, friedlich, längst nicht mehr daran denkend, daß sie sich mit der Tochter gestritten hatte. Die Nachbarn sahen das entstellte Gesicht der Mutter und folgten ihr. Sie war immer noch unfähig zu sprechen. Vater, der mit der Schafherde auf dem Bergrücken ging, begann zu brüllen, fuchtelte dabei mit den Fäusten gegen den Himmel und stampfte mit den Füßen auf die Erde, als er von einem Eilreiter hörte, was geschehen war. Er brüllte immer 197
noch, während er sich in den Sattel schwang und davonritt. Während er so ritt, wollte er zuerst Mutter totschlagen und dann die Jurte anzünden und zum Schluß sich selbst erschießen. Als er dann an der Jurte ankam, lautete seine erste Frage: »Ist sie schon tot?« Nein, Schwester Torlaa war noch am Leben. Sie atmete noch. Er eilte zum Dör und fiel auf die Knie. Dort lag die Tochter auf einem dicken Polster, auf der Seite, die Arme auseinandergestreckt, das Gesicht aschgrau und der Blick starr. Neben Vater knieten auch andere: Ein jeder, den die Nachricht erreicht hatte, kam. Man kam, um Abschied zu nehmen. Alle hockten vor ihr, tuschelten manchmal miteinander, man wußte nicht, ob die Sterbende bei Bewußtsein war, ebensowenig wußte man, wie es weitergehen sollte. Es war bereits Nacht, als der Arzt ankam. Unser blaues Pferd, mit dem einer hingeritten war, trug ihn her. So funktionierte damals der medizinische Notdienst. Der Arzt hatte einen mongolischen Namen, hieß Borchüü, war aber ein gebürtiger Kasache. Das blaue Pferd war dem Himmel geweiht, durfte daher von Frauen und Glaubenswidrigen nicht berührt werden, nun aber war es von dem, wenn auch Arzt, aber schließlich einem Kasachen, geritten worden. Doch was sollte man machen: Die Tochter lag im Sterben, und ein anderes Pferd war nicht zur Hand! »Der Himmel hat ein Auge für die Not«, pflegte der Weise Gök-Anaj zu sagen. Hoffentlich hatte er, Gök Deeri, dem das Pferd geweiht war, Verständnis für das, was sonst nicht vorkommen durfte, aber nun doch vorgekommen war. Nun ging der Arzt sofort daran, die Sterbende zu behandeln. Er bestrich die Wunden mit Jod, verband sie mit schneeweißem Mull. Und sagte, sie könnte es überleben, nur müßte man sie schnell zum Krankenhaus bringen. Auf einem Wandgitter hintragen! lautete der Beschluß, der nach kurzem Beraten gefällt wurde. Bald darauf verließ eine Gruppe von Männern den Ail. Sie gingen, das Scherengitter aus Weidenholz 198
geschultert, auf welchem auf einem weichen Polster und unter einem dicken Pelz Schwester Torlaa lag. Neben der Trage ging der Arzt. Der Ail lag in Üsük-Aksy, so daß drei steile Pässe abgestiegen werden mußten, einzig unter dem Glimmerschein der Sterne. Als sie den letzten Paß hinter sich brachten, graute schon der Morgen, und bald darauf erreichte man den Fluß, das Eis. Da ging es rascher und leichter voran, denn zum Teil konnte man schlittern. Doch dann schien die Verwundete Schmerzen zu spüren, sie stöhnte und wimmerte leise. Als die Truppe am frühen Vormittag im Kreiszentrum ankam und die Patientin von der Trage auf das Krankenhausbett mit der weißen Wäsche verlegt wurde, sagte der Arzt zu Vater: »Verlaß dich, Mann, ab nun auf deinen Gök Deeri und mich, so wie ich mich auf meinen Kudaj und die Arzneien verlassen werde – deine Tochter wird am Leben bleiben!« Schwester Torlaa blieb am Leben. Aber ehe sie sich am Leben und wir uns an ihr, unserem grauen Rebhühnchen, wieder erfreuen konnten, mußten ein Frühjahr und ein Sommer vergehen. Endlich kam unser graues Rebhühnchen zurück. Sie war tatsächlich grau vom Reisestaub und auch so schmal und schmächtig geworden wie ein Rebhühnchen. Allein Schwester Torlaa war alles andere als matt und traurig, nein, sie war das Leben selbst, die Lust in Person, sie erzählte ohne Unterbrechung, plapperte und schnatterte und kicherte, gleich jenem Großmütterchen, das von einem fremden Fest zurückgekommen ist, an welchem es als einzige vom Ail teilgenommen hat. »Was Kultur ist, ist dortzulande!« sagte sie, und diese Worte hatten wir schon von anderen Auswanderern gehört. Nun wurde Torlaa kerngesund. Tante Pürwü, die Schamanin, meinte, die Kugel hätte die bösen Geister, die sich in ihrem Körper eingenistet, so aufgeschreckt, daß sie die Flucht ergriffen hätten. 199
Später aber wurde es still um das Mädchen, das inzwischen volljährig, von Kraft und Saft zu strotzen schien. Die mit ihr Gleichaltrigen heirateten eine nach der anderen und brachten Kinder zur Welt. Allein sie, unser Rebhühnchen, längst ausgewachsen, hockte immer noch im väterlichen Nest und schien von keinem Glücksjäger gesehen zu werden. Es wurde neunzehn, es wurde zwanzig. Und so ging es Tag für Tag auf die Grenze zu, hinter welcher das unrühmliche Schicksal einer alten Jungfer lauerte. Aber wie schon einmal im Leben, auch jetzt hatte das sitzengelassene graue Rebhühnchen Glück: Ein junger, lediger Tierarzt erschien im Ail. Er gehörte dem Urianchaistamm an. Also sprach er mongolisch und galt als Mongole, was – zur damaligen Zeit – auf alle Fälle mehr darstellte als ein Tuwine. Und dieser Tierarzt warf sofort ein Auge auf das reife Mädchen, als er es bei seinem ersten Rundritt sah, und jenes fing es – wie denn auch anders! – sofort auf. Bald darauf kam es zur Bekanntschaft und mit der Zeit zu einer dauerhaften Neigung, die auch Liebe genannt werden kann. Die Hochzeit fand statt, noch bevor die Braut einundzwanzig Jahre alt und damit zu alt für eine richtige Braut wurde. Die Eltern schreckten vor Ausgaben nicht zurück: Sie stellten nicht nur eine Bödej zusammen, sondern sie gaben der Tochter als Mitgift ein Drittel ihrer Herden ab. Der Vater des Bräutigams kam zu Besuch, er war ein unbeholfener Mensch. »Wir sind arme Leute«, sagte er, als er mit Vater die Tabaksflasche wechselte, »doch hätten wir uns Mühe gegeben und eine Bödej zusammengestellt, wie es sich gehört, da der Sohn unser ist. Allein ich sehe, es ist jetzt nicht mehr nötig. Ihr habt uns die Pflicht abgenommen. So gehört mein Sohn ab nun euch!« »Ich will dir nicht den Sohn wegnehmen, Huda. Denn auch einen Schwiegersohn zu haben ist mir viel«, entgegnete er und bekam dafür Lob von Seiten eines anwesenden Landsmannes: »Der Tangdy wollte dir Honig um den Mund schmieren, aber du 200
hast es gemerkt und geschickt abgewehrt!« Doch auch diese Worte kamen bei Vater nicht an. »Was redest du vom Tangdy, wo ich mit meinem Huda sitze! Er hat die Worte nur nicht in die richtigen Stellen setzen können, wie er es wollte! Und was mich angeht, ich bin lediglich der Vater, der ich alles tue, damit es meinem Kinde gutgeht!« Den Jungvermählten ging es gut. Im Sommer zogen sie zu uns, und Schwester Torlaa molk von den Muttertieren so viel, wie sie konnte, bereitete weiße Speisen zu und legte sie für den Winter sackweise zurück. Im Winter ließen sie sich wieder im Kreiszentrum nieder und versteckten ihre Jurte hinter einem hohen Zaun, worüber sich Vater sehr wunderte. Denn der Zaun bestand aus lauter Junglärchen, die einen ganzen Wald ausgemacht haben müssen und nun mit dem unteren Ende in einen schnurgeraden, engen Graben gedrängt und am oberen Ende, dort, wo der Baumhals sein müßte, mit einem Stahldraht zusammengeschnürt waren. Ihr Vieh war in der Stammherde geblieben, die Eltern hüteten es. Jedesmal, wenn der Schwiegersohn auftauchte, wollte er frisches Fleisch mitnehmen, keine Keule, keinen halben Hammel, nein, gleich einen ganzen, aber da er selber kein Tier schlachten konnte, mußte Vater es für ihn tun. Das Drittel der Herde schrumpfte schnell zusammen. Manchmal brauste Mutter auf, wenn der Schwiegersohn am Ailrand erschien mit seinen Ledertaschen, die zu beiden Seiten des Sattels baumelten, als wollten sie schon wieder mit Fleisch gefüllt werden: »Sind denn die Menschen zu Wölfen geworden? Hatte sie denn nicht erst vor zehn Tagen einen Hammel aufreißen lassen?!« Vater besänftigte sie: »Sei nur still, Frau. Haben wir ihnen einmal gegeben, so gehört es ihnen, und so sollen sie auch selber wissen, ob sie es gleich aufbrauchen oder auch etwas belassen für später!« In der ersten Zeit konnten sich die Eltern schwer verständigen mit ihrem Schwiegersohn, aber dann erlernten sie allmählich seine Sprache. Daß auch er ihre Sprache erlernen könnte, kam 201
ihm nicht in den Sinn. »Was macht Dsandan?« lautete Mutters Lieblingsfrage, die sie an den Schwiegersohn richtete. »Was soll sie machen?« entgegnete er: »Sie sitzt zu Hause.« Ja, was sollte sie auch machen? Außer daß sie die Jurte in Ordnung hielt, wusch und kochte? Vielleicht auch nähte? Doch nicht sie allein lebte so. Das war die Lebensweise einer ganzen Generation, man führte ein Leben, das seßhaft genannt wurde und einen Fortschritt darstellen sollte gegenüber dem bisherigen, das aus Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit bestanden hat. Nur wenige Jahre waren vergangen, das geschenkte Vieh wurde alle. Aber die jungen Menschen, die nun in der Stadt lebten, brauchten weiterhin Milch und Fleisch. Nun war es Vater, der unwillig den Kopf schüttelte, wenn der Schwiegersohn im Ail erschien. »Ich habe gegeben, was ich zu geben hatte«, meinte er. Mutter war es nun, die in die unersättlichen Ledertaschen des Schwiegersohnes dieses und jenes hineinschob, oft hinter dem Rücken des Vaters. »Was soll ich machen mit dem Luder, sie ist von meinem Fleisch!« erzählte sie seufzend den Nachbarsfrauen von den kleinen Diebstählen, die sie ihrer Tochter zuliebe an dem gemeinsamen Eigentum beging, das da war, um andere zu ernähren. Aber auf die Dauer schien es den jungen Menschen doch zu wenig, was ihnen Mutter abzupfte von dem, was wir besaßen. Eines Tages hieß es, sie würden auswandern. »Tut es, bitte schön, wenn ihr nicht mehr leben könnt, wo viele gelebt haben und viele immer noch leben!« sagte Vater. Mutter sagte nichts, solange die Schwester da war, die nun, da ihr Mann auch mit dabei war, nicht Torlaa, sondern Dsandan hieß und eine Mongolin vortäuschte. Sobald sie aber dann weg waren, heulte Mutter los und schimpfte mit Vater, indem sie ihn einen schrecklichen hartherzigen Menschen nannte. Vater bewahrte, zumindest nach 202
außen, Ruhe und fragte sie, was er ihrer Meinung nach hätte tun sollen. »Wir haben doch noch Vieh«, sagte sie kleinlaut. – »Na und?« brauste Vater auf: »Ich habe noch zwei Söhne, die auf ein väterliches Erbe genauso ein Anrecht haben wie deine Tochter, verstanden?!« Schwester Torlaa streckt mir die Hand zum Gruß entgegen und nennt mich bei meinem mongolischen Namen. Ich gehe in die Jurte und sage zu Nordshmaa, daß sie sich schönmachen soll. »Gehen wir wieder zu einem Fest?« fragt sie verwundert. »Nein, meine Schwester ist gekommen.« Die beiden Frauen stehen sich eine oder zwei Sekunden gegenüber, um einander zu mustern und zu begutachten. Dann gehen sie aufeinander zu, die eine grüßt und die andere küßt als Gegengruß. Der Kessel Tee wird getrunken, und die Hammelkeule, die Vater im Spielzeugkessel auf dem Spielzeugofen in Schnelle gekocht hat, wird gegessen.
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Der siebzehnte Tag
2. September Zuerst spüre ich ein leises Schaukeln, das mich angenehm in Bann hält, dann nehme ich Helligkeit wahr, und schließlich, die Augen öffnend, erkenne ich über mir den Dachkranz, der im Lichte des neuen Tages glänzt wie von Öl übergossen. Nordshmaas Arme halten mich fest umschlossen, ihr rechtes Bein liegt angewinkelt über meinem Schenkel, so daß ich von ihren Gliedern umklammert bin, gleich einem Baby in der Wiege. Sie schaukelt mich, obwohl sie die Augen geschlossen hat und gleichmäßig atmet. Ich versuche, mich aus der Umklammerung zu lösen, doch da spüre ich sie noch straffer. Sie schmiegt sich an mich, ihre weichen, heißen Lippen berühren meinen Hals. Ich küsse sie am Ohr und puste hinein. Sie erwacht, doch anstatt die Arme und das Bein von mir wegzunehmen, drückt sie mich noch fester an sich und flüstert: »So hab ich dich doch nicht weggegeben, mein Junge!« Darauf befreit sie mich aus der Umklammerung und fällt wieder in tiefen Schlaf, wie beruhigt. Ich sinne über ihre Worte nach. Sie muß geträumt haben, muß den Traum geträumt haben, der seit Monaten immer wieder zu ihr kommt. Ich betrachte Nordshmaas ebenmäßiges, schmales Gesicht, ihre Augen liegen tief, die Stirn ist gewölbt. Die Augenbrauen wirken künstlich, aber ich weiß, sie sind es nicht, sie sind von Natur aus so schön. Die Nase und der Mund hätten etwas kleiner ausfallen können, doch auch so passen sie gut zu dem Gesicht, das mir das vertrauteste und das liebste ist unter allen Gesichtern, die mir auf Erden begegnet sind. 204
Es ist ein großer Tag im Kommen. Gleich Fetzen eines lichten Traumes ziehen winzige weiße Lämmerwolken hoch oben am Himmel, die Haut spürt mit all ihren Poren die Strahlen der aufgegangenen Sonne. Schwester Torlaa schöpft den Milchtee aus dem Kessel in die Kanne, Bruder Galkaan schmückt den großen emaillierten Teller, der die Aarschy und Boorsak zum Frühstück enthält, mit Würfelzucker und Bonbons. Vater und Mutter sitzen im Dör still und würdig wie ein Buddhapaar, und diese Haltung kommt mir symbolisch vor, sie scheinen zu sagen: Wir haben das Unsere getan, und nun wollen wir zusehen, wie ihr im Leben zurechtkommt! Allein die Eltern geraten bei meinem Erscheinen aus ihrer feierlichen Haltung und rufen mich wie aus einem Mund zu sich, wobei mich Vater Galdar-Urug und Mutter Dshuruk nennt. Wir trinken Tee. Inmitten des Teetrinkens, das still verläuft, abgesehen von belanglosen Bemerkungen zu dem, was getrunken und gegessen wird, und natürlich auch zu dem Tag, der seinen Anlauf schon genommen hat, sagt Vater bedeutungsvoll zu Mutter: »Kuck doch auf unsere Hundejüngelchen: So wie sie einst gewesen sind, zu dritt, gleich den Oshuk-Steinen!« Mutter sagt anstatt einer Antwort: »Ej baj Aldajim!« Wir drei Geschwister, die wir gemeinsam unter einem Dach und an einem Herd aufgewachsen sind, haben schon seit vielen Jahren nicht mehr gemeinsam Tee getrunken, obwohl wir öfter zusammengekommen sind. Aber da im Altai die strenge Ordnung, daß alle Familienmitglieder gemeinsam am Eßtisch zu erscheinen haben, fehlt und da jeder ißt und trinkt, wann er Lust dazu hat, haben wir uns, wie mir nun vorkommt, zu Mahlzeiten nie getroffen. Und eine Mahlzeit mit Vater und Mutter zu fünft, die hat es zuletzt vor vielen Jahren gegeben, damals als wir alle drei noch klein waren, als man tagein tagaus kämpfend lebte, es jedoch nicht als Kampf, sondern eben als Leben verstanden. Ja, damals waren wir die fünf Finger einer Hand, und ein jeder hatte 205
mit anzupacken, damit aus den Fingern eine Faust, eine kampfesstarke, eine schaffenstüchtige Faust wurde. Damals haben wir uns in der Winterkälte nicht nur am Herdfeuer, sondern auch aneinander erwärmt, ebenso haben wir uns in der Sommerhitze nicht nur unter dem schattenspendenden Dach der Jurte, sondern auch aneinander abgekühlt. So kommt es mir jetzt vor. Und mir ist die Zeit, die zwischen damals und heute liegt, wie verloren, gleich einem Stück, das abgefallen und nimmer wieder auffindbar ist. Auch erscheint mir diese Zwischenzeit seltsamerweise unbedeutend im Vergleich zu der Zeit vorher. Doch die Wahrheit ist, daß die Jahre, die mir nun vorkommen, als machten sie mein Leben aus, verschwindend wenig gewesen sind gegenüber denen, die später verflossen sind. Und dies macht wohl den Verlust um so deutlicher. Mit einem Mal spüre ich eine wärmende Schwere, die mich erfüllt, so wie ein Sieb in den Kessel kommt und allmählich in den Sud sinkt. Ich blicke auf die Runde, auf einen jeden, und spüre Dankbarkeit, daß alle sich erhalten haben für diese Stunde, in der Gewesenes wieder gegenwärtig wird. Und dankbar bin ich auch dem Zufall, dafür, daß wir, die fünf Seelen einer Familie und die fünf Finger einer Hand, unter uns sind ohne einen störenden Fremden. Allein, kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, erscheint in der Tür der Fahrer der Schwester. Torlaa fällt aus der würdigen Haltung, in der sie jenem rotbackigen Landmädchen geglichen hat. Sie bittet ihn hereinzukommen, Platz zu nehmen und Tee zu trinken. Das ist mehr als die Höflichkeit, die man einem Außenstehenden entgegenbringt, mehr als die Gastfreundschaft, die in der Jurte herrscht, nein, es hat eher mit der Abhängigkeit zu tun, mit der ein Mensch vor einem anderen sein Leben zu retten sucht. Mit der schrecksamen Bewegung, die in die Schwester hineingefahren ist, und der knatternden und schnatternden fremden Sprache, die aus ihr herauskommt, 206
verfliegt die Feierlichkeit, welche über der Runde gelegen hat: Ein jeder gerät aus der feierlichen Haltung, in der er geruht hat und dabei seinen Gedanken nachgegangen ist. Ich sage den Eltern, daß ich mit Nordshmaa an die frische Gletscherluft fahren und sie dann noch mit ein paar Leuten bekannt machen möchte, womit ich sofort ihre Zubilligung heraufbeschwöre, genau so, wie ich es geahnt habe: bei Vater wegen der Gletscherluft und bei Mutter wegen der Leute, deren Jurten wir besuchen und dort unser Gastrecht genießen würden. Natürlich möchte Mutter wissen, ob wir genug Geschenke mitgenommen hätten. Ja, sage ich und deute auf den Rucksack, den ich schon hinausgestellt habe. Mutter gibt sich damit nicht zufrieden, sie meint, daß wir außerdem noch Geld mitnehmen sollen, auf daß wir, im Falle, uns fehlen Geschenke, wenigstens Süßigkeiten kaufen könnten. Die Schwester kommt uns auf meine Bitte hin mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Aber natürlich, ihr kommt mit, und wir setzen euch dort ab, wo ihr meint, daß es am schönsten sei.« Wir steigen ein, und das Auto fahrt ruckartig an, fährt hupend los, obwohl die Straße fast menschenleer ist. Die Schwester beschäftigt sich mit ihrem Baby, liebkost es laut in der Art von Stadtfrauen, die eisern behaupten, ihr Kind wäre das allerschönste und allerintelligenteste. »Halt!« rufe ich nach einiger Zeit, worauf der Fahrer scharf bremst. »Wir steigen hier aus!« Die Schwester harrt still, über ihr Baby gebückt, das inzwischen eingeschlafen ist. Ich sehe ihren zitternden Rücken, und mir wird mit einem Mal sehr weh zumute. An diesem Rücken hab ich fast eine Kindheit lang geklebt. Damals ist er nicht so rund und breit gewesen wie jetzt, doch war es, deucht mir, selbst im Regen und im Sturm warm und schutzgebietend darauf. Ich sah ihn öfter zittern, Torlaa ließ sich leicht kränken und hatte lose Tränen. Nun ist es der laufende Motor, der den Rücken 207
zittern läßt. Doch als ich mit dem einen Bein schon draußen stehe, sagt sie: »Aber hier ist ja kein Ail in der Nähe!« Ihre Stimme klingt sorgenvoll, jene mütterliche Sorge, die ich so oft gehört und nach der ich mich jedesmal irgendwie beruhigt gefühlt habe. Gut nur, daß sich das graue Rebhühnchen überwunden und in ihre Schwesterrolle zurückgefunden hat. So kommen wir noch einmal zu einem kurzen Gespräch. Zum Abschied beriecht die Schwester uns beide, und wir beriechen unsere Nichte, die in ihrem Bündel fest schläft. Der süße Geruch des Babys erschreckt mich, und es kommt mir wie ein Verbrechen vor, daß ich es bisher außer acht gelassen habe. Das Auto fährt ab. Wir schauen ihm nach, bis es hinter dem Hügel verschwindet. Dann gehen wir zum Fluß. Ich habe das Bedürfnis, in das Flußwasser zu steigen und mich darin zu wälzen. Während ich mich ausziehe, sage ich zu Nordshmaa, daß sie es auch tun soll, aber sie möchte nicht. Das Wasser ist kalt, es ist noch früh am Tage. Aber die mächtige Herbstsonne, die ihrem Zenit entgegenbrennt und stechende Strahlen herüberschickt, ermuntert mich, und ich bringe es fertig, nach wiederholtem Aufschreien und Aufspringen in der Strömung liegen zu bleiben und das weiche Wasser bis unter die Haut hinein zu fühlen. Dann stehe ich auf, trete aus dem Wasser und hüpfe auf der Uferwiese im Kreis, bis mir der Körper trocken und der Kopf schwindlig wird. Da lasse ich mich auf den wattierten Lawschak fallen, den Nordshmaa ausgebreitet hat und auf dessen Zipfel sie selber hockt mit einem eingezogenen und einem angewinkelten Bein, gleich einem schüchternen Kind, das am Herd einer fremden Jurte sitzen und auf etwas warten muß. »Schlag mich tot, Mädchen!« sage ich. Nordshmaa blickt mich verwundert an: »Was?« Mir war Fatima eingefallen, als ich Nordshmaa so hocken sah. Jene würde auf dieser Altai-Erde nicht so eine Fremde sein! Bin ich nicht schuld daran, daß meine 208
Frau keinen Eintritt in das Leben findet, das hier herrscht? Ich hätte sie gleich an der Hand nehmen und sie hineinführen sollen! »Verlaß mich!« sage ich, und da ich erneut ihrem verwunderten Blick begegne, füge ich dem hinzu: »Schaff dir wenigstens einen Freund an! Da brauchst du nicht erst zu suchen oder zu warten. Du hast viele Verehrer, ich weiß. Brauchst einem von diesen nur die Hand zu geben. Tu es, Mädchen, eh es zu spät wird, und du denkst, du hast von deiner Jugend wenig gehabt! Ich bin ein schlechter Mensch!« »Was ist bloß in dich gefahren? Das kommt vielleicht von dem kalten Wasser?!« sagt sie. Ihr puderweißes Gesicht ist noch bleicher geworden, und sie kommt mir, so wie sie da hockt und so wie ihr Blick unruhig hin und her wandert, wie sprungbereit vor. »Verlaß mich!« wiederhole ich. »Und laß mich inmitten meiner unerfüllten Leidenschaften und flüchtigen Bekanntschaften allein zurück, die ich jedes Mal für die große Liebe gehalten …« Da bricht mir die Stimme, und ich beginne zu weinen; zunächst versuche ich gegen die Tränen und das Schluchzen zu kämpfen, dann aber, mit einem Mal, lasse ich allem freien Lauf. Nordshmaa versucht, mich durch Streicheln und Küssen zu trösten, doch da sie dann wohl sieht, daß ich untröstlich bin, wirft sie sich über mich, klammert mich am Nacken und am Rücken fest und beginnt mitzuheulen. Mir fällt ein, daß wir noch nie miteinander, Brust an Brust und Hals an Hals, geweint haben, und daß wir es nun tun, ist schön und schrecklich zugleich. Nach einer Weile scheinen mir die Tränen zu versiegen, und wie ich mich erhebe und die Umwelt betrachte, kommt sie mir wie erfrischt vor wie nach einem Regen. Ebenso erfrischt und erleichtert fühle ich mich. Ich warte, bis sich Nordshmaa 209
ausgeweint und beruhigt hat. Dann gehen wir beide ans Wasser und waschen uns das Gesicht. »Nun bist du puder- und tränenlos«, sage ich. Allein sie scheint auf so einen billigen Scherz nicht eingehen zu wollen: »Willst du denn wirklich, daß wir uns trennen?« »Ich hab das deinetwegen gesagt.« »Mir ist alles recht, was dir recht ist.« »Das ist nicht gut, Nordshmaa. Auch du bist ein Mensch, und so hast du dein gutes Recht auf dein Leben, auf dein Glück. Außerdem bist du eine moderne Stadtdame, die sich jeden Morgen das Gesicht bleich pudert und die Wimpern schwarz tuscht. So jemand sollte denken und handeln, wie er aussieht!« »Willst du damit sagen, ich sollte dich strenger behandeln?« »Ja!« »Du willst dir ins eigene Fleisch schneiden – ich verstehe dich nicht.« »Wie solltest du es auch, wo ich mich manchmal auch selbst nicht verstehe! Doch kann ich dir das, was ich soeben gesagt habe, erklären: Ich bin insgesamt ein schlechter Mensch, weil ich immer meine Mitmenschen kränke. Nun will ich nicht, daß auch du, die du mir meine Kinder geboren hast, so behandelt und dazu noch unterdrückt wirst!« »Ich fühle mich nicht unterdrückt.« »Vielleicht war das nicht das richtige Wort. Aber du weißt doch, was ich meine: Dir fehlt etwas!« »Was auch dir fehlt!« »Was auch mir fehlt?« »Ja, und was du bei anderen zu finden glaubst, aber nirgends finden wirst.« Ich überlege: Ich habe eine Stellung, ein gutes Gehalt, hungere nicht und kann mich gut kleiden, wenn ich es will. Ich hätte gern eine bessere Wohnung, bin aber nicht obdachlos. Und ich verfüge über bessere Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten als selbst ein Nazagdordsh. Ich habe eine hübsche, bescheidene 210
Frau, die gut in die Großstadt paßt und außerdem fleißig ist. Mit ihr habe ich schöne Stunden verlebt, geruhsame und aufregende zugleich. Aber wir haben keine gemeinsamen Tage, denn tags sind wir getrennt. Ich weiß nicht, wie ihre Tage aussehen. Die meinen sind recht unterschiedlich: Viele sind schwer und eintönig, oft düster und drückend wie die Regentage im Spätherbst. Doch gibt es außer diesen auch Sonnentage, an denen ich empfinde, daß ich jung bin und lebe. Diese Tage kommen zustande, wenn ich mich jemandem öffne, und manchmal auch, wenn ich erfahre, was für Freuden und Sorgen andere bewegen und mit sich herumschleppen. Wer aber sind diese anderen? Es sind erfolglosejunge Menschen, die mit sich und der Welt zerstritten leben und auf der Suche nach der Endwahrheit und auch nach dem großen Glück sind wie ich auch. So eine Begegnung kommt jedem, der daran beteiligt ist, wie eine Fügung Gottes vor, und so ein Tag dehnt sich in der Regel in den Abend, oft sogar in die Nacht hinein. Es sind die Stunden, in denen man der irdischen Schwere entrückt und sich schwebend vorkommt. Und diese magischen Stunden führen schicksalhaft bei einer männlichen Bekanntschaft zum Schnaps und bei einer weiblichen zu Küssen. Allein die süßen Stunden des Lebens enden irgendwann, und mir bleibt nichts weiter, als zu meiner Nordshmaa zurückzukehren, mit einem schweren, noch schwereren Herzen. Seltsam, sie nimmt mich auf, wortlos und bereit zu allem, was ich will. Und dies entwaffnet mich vor ihr von neuem, so mancher Entschluß, der in mir angefangen hat, Gestalt anzunehmen, bricht zusammen, und so mancher Groll, den ich gegen sie empfunden habe, erlischt. Seltsam aber auch, daß ich dennoch nicht versucht habe, mit ihr zu reden, ihr meine Gedanken zu offenbaren und mir die ihrigen anzuhören, um uns endlich doch auch einen gemeinsamen Tag, einen Lebenstag zu schaffen, zu der Nacht, die ihm vorausgegangen war, und zu der Nacht, die diesem Tag folgen 211
und ihn versüßen wird, die wieder süß sein und der wieder etwas fehlen wird, da sie mit dem Tag aufhören und sich in eine Lücke inmitten unseres Lebens verlaufen wird. Seltsam, daß ich den, den ich brauchte, nicht in meiner nächsten Nähe, nicht in ihr gesucht habe! Ein Kasache kommt angeritten. Er ist noch jung und ist in einen dicken Schaffellmantel mit einem schwarzen Manchesterbezug verpackt, sein Kopf steckt in einer Fuchsfellmütze. Wir kennen einander nicht, haben auch von unseren Vätern nichts gehört. Das kommt mir seltsam vor. Ich nehme dem Kasachen seine Behauptung nicht ab, daß er aus unserem Sumun sei. Er will wissen, was wir machen. Ich sage, daß ich mit meiner Frau spazieren gehe. »Warum denn das?« ruft er verwundert und auch belustigt aus. Ich kann ihn verstehen, denn das Wort »Spazierengehen« gibt es in unserer Sprache nicht, und das, was ich ihm nun gesagt habe, ist eine Umschreibung und lautet ungefähr so: »Wir gehen, um die Zeit zu verbringen und uns dabei Eßlust zu verschaffen.« Nun ist er es, der mir die Behauptung nicht abnimmt. »Bestimmt sucht ihr nach etwas, was auf dem städtischen Basar von Wert ist!« sagt er. »Woher weißt du, daß es in der Stadt einen Basar gibt?« frage ich ihn. »Wieso soll ich es nicht wissen, wo ich in Ulan-Bator die Soldatenjahre verbracht habe«, entgegnet er mir stolz. »So? Dann müßtest du aber auch Mongolisch können?« »Aber natürlich!« Da gehe ich ins Mongolische über, damit auch Nordshmaa verstehen kann, worum es geht. Allein jener spricht ein unheimlich schlechtes Mongolisch, nicht nur so, wie ein Kasache Mongolisch spricht, sondern so, wie ein Mongole, der einen mongolisch sprechenden Kasachen nachäfft. 212
Nordshmaa ist verwirrt. »Ganz in Ordnung scheint er nicht zu sein«, meint sie, als der Kasache seines Weges weiterreitet. »Doch, er ist in Ordnung!« »Wieso ist er dann aber so warm angezogen wie mitten im Winter?« »Nicht warm, sondern dick ist er angezogen. So ist er vor Hitze wie auch vor Kälte geschützt.« »Ach so! Demnach müßte der spannhohe, viereckige Turm über der Mütze auch noch einen Sinn haben?« »Natürlich: Die Angehörigen der Räuberstämme lebten Tag und Nacht mit dem Knüppel in der Hand, und die Turmmütze hatte den Kopf vor Schlägen zu schützen!« »Mensch, du weißt ja viel!« Ich muß meine Frau streng anblicken, um herauszufinden, ob sie es ernst meint oder mich nur neckt. Ihr Gesicht verrät Verwunderung. Vielleicht hat der Kasache recht, und wir suchen tatsächlich nach etwas. Wir suchen einander. Dreieinhalb Ehejahre liegen hinter uns, und wer weiß, wieviel noch vor uns liegen? Der große Gök-Anaj lehrte: »Beklagt euch nicht darüber, daß das Leben so kurz sei. Der Himmel hüte euch davor, daß es zu lange wird!« Wir brechen auf und wandern flußaufwärts. Ich erzähle Nordshmaa von unserem Tamyr Togtarbaj und davon, wie ich mich mit seinem Sohn Jaskan befreundet, aber dann von ihm getrennt habe. Wir erreichen die Taldyg-Schlucht, biegen nach der Brücke vom Flußtal ab und gehen in Richtung HarlygHaarkan, des Heiligen Berges, den man zu Beginn des neuen Zeitalters in Zengel-Chairchan umgetauft und nach diesem auch unseren Sumun genannt hat. Nun erzähle ich Nordshmaa davon, wie der Berg von unserem Winterlager in Chara-Dag, den Schwarzen Bergen, jenseits der Flüsse aussah und wir ständig mit dem Blick auf diesen lebten. Wie Mutter morgens ihm zu Ehren zuerst Tee, dann Milch verspritzte und Vater am ersten Tag des Mondneujahres zu ihm 213
sprach, laut und in Stabreimen. Wie ich, gleich Tante Pürwü, Lobsprüche erfand und sang und darin den Berg um seinen Segen bat. Nordshmaa hört mir mit Verwunderung zu und läuft zwischendurch von einer Blume zur anderen, die zu Hunderten und Tausenden ringsum stehen, und in diesem Augenblick komme ich mir so vor, als öffnete ich meiner Frau die Truhe der Jurte meiner Eltern und damit meiner Kindheit. Die Sonne steht längst über dem Schneegipfel im Westen, als wir am Gletscher ankommen. Die Ränder des Gletschers sind löchrig und brüchig, und es ist mehr Schnee als Eis. Doch ist Nordshmaa erschüttert darüber, daß auf einem Berg Eis liegen kann. Bisher hat sie gedacht, Eis gäbe es nur im Winter und dann nur auf Gewässern. Wir essen Aarschy und Boorsak und trinken dazu Gletscherwasser, das kühl und frisch ist und nach nichts schmeckt. Das sei das schönste Mahl, das sie jemals gegessen habe, meint Nordshmaa. Auch ich bin erfüllt von einem erhabenen Gefühl. Die anderen Schneeberge des Hochaltai umringen uns wie greifbar nah. Ebenso nah und hervorstechend aus dem herbstlichen Gelb wirken die Täler und die Steppen mit den Jurten und den Herden. Es ist wie nach einem verabschiedeten Tag. Das Leben da unten im Kreiszentrum kommt mir nun weit entfernt und unwirklich vor. Und an den, der noch vor wenigen Stunden inmitten des Lebens und des Tages gewerkt und gehetzt hat und in meiner Kleidung, in meiner Haut gesteckt haben muß, denke ich mit Abscheu. »Wir werden hier übernachten«, sage ich. Nordshmaa blickt mich ungläubig an: »Gibt es hier denn keine Wölfe?« »Natürlich gibt es sie. Und noch mehr: die Schakale, den Schneeleoparden und auch den Bären. Und auch den Geist, an den die Vorfahren geglaubt haben, an den auch ich glaube, diesen lieben und allmächtigen Geist muß es geben. Er wird uns 214
beschützen!« Wir wandern weiter, bleiben manchmal stehen, setzen uns, rasten und betrachten den Altai aus der Nähe und aus der Ferne. Ein Teil der Wandervögel ist schon weggeflogen, ein Teil der Tiere hat sich bereits zum Winterschlaf verkrochen, viele Gräser und Blumen sind schon verwelkt, aber es wachsen auch neue Gräser und neue Blumen, die Erde ist in ihrer letzten Blüte. Die Schwarzen Berge liegen in der grellen Sonne. Das Gelb gleicht Feuer und das Blau dem Rauch, dahinter, über dem Terektig-Rücken, scheint der Himmel zu sieden und zu wellen wie im Sommer, im Frühsommer sogar. Ich taste mit dem Blick das Tal von Hara-Dsharyk ab, ich glaube den Ail, die drei weißen Punkte und den schwarzen Fleck in ihrer Mitte auszumachen. Ich frage Nordshmaa, ob sie dort die Jurten und die Hürde sehen könne. Sie hat sehr gute Augen, aber sie kann den Ail nicht ausmachen. Vielleicht ist man schon weggezogen. Doch bestehe ich darauf, daß der Ail noch dort sein und bei günstigem Lichte ausgemacht werden muß. »Dort, wo das Tal zu einer Schlucht zusammenläuft, etwas oberhalb des Halses stehen drei Jurten, und in einer von diesen bist du, aber man sagt dort zu dir nicht Nordshmaa, sondern Fatima.« »Ist das ein Gedicht?« »Ja, es ist wohl auch ein Gedicht. Ein vor vielen Jahren angefangenes und erst vor wenigen Tagen zu Ende geschriebenes.« Mit dem Sonnenuntergang verwandelt sich der Altai in einen anderen, er wirkt abgewandt. Wir sammeln Brennbares, Yakund Pferdedung, aus der Erde abgestoßene und verblichene Wurzeln und ausgedörrte Kräuter, wir schichten sie in einem weiten Bogen um uns herum zu einem Wall auf. Notfalls könnte ich ein Streichholz anzünden, und schnell würden wir in einem Feuergürtel stehen. Vom Gletscher bläst der Nachtwind, er kühlt die Luft schnell ab, aber wir liegen dick angezogen und zugedeckt und obend215
rein tief verkrochen in dem dicken Polster aus dürrem Gras, in dem die Hitze der Sonne noch wohnt. Die Sterne erscheinen zeitig und vollzählig und brennen inbrünstig. Nordshmaa lehnt an meiner Brust. In ihren Augen, die hellwach in die Nacht schauen, lauern Angst und Wonne. Ich denke, denselben Blick müßte ein Zootier haben, das in der freien Natur die erste Nacht verbringt. Ich flüstere ihr zu: »Ich bin Mitbesitzer dieses Himmels und dieser Erde, nun habe ich sie mit dir geteilt.« Später füge ich dem hinzu: »Und mit wem ich sie geteilt habe, mit dem bin ich verbunden auch ohne das Stück bestempeltes Papier auf Gedeih und Verderb.« Aber da merke ich, daß Nordshmaa bereits eingeschlafen ist. Sie liegt gelöst und atmet tief. Nun denke ich an ein Kind, das in der weiten Welt Gottes lange herumgeirrt und dann doch noch ein Zuhause gefunden hat.
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Der achtzehnte Tag
3. September Mehrfach erwache ich in der Nacht. Auch Nordshmaa öffnet manchmal die Augen, meist in dem Augenblick, in dem ich in den Sternenhimmel blicke und den Geruch wahrnehme, den der Gletscherwind herbeiträgt. Aber sie schläft schnell wieder ein, wie ein Kind, das die Nähe eines Beschützers spürt. Der Gletscherwind verwandelt sich am kühlen Morgen in einen eiskalten Strom. Ich stehe auf, wie Jäger aufstehen. Mit dem Sieden der Luft unter Lichtergewirr und Vögelgeschwirr. Der Rauhreif bricht klirrend unter meinen Sohlen, und ich zittre heftig, während ich nach dem Pferd schaue, wie es heißt. Ich erblicke ringsherum die vertrauten Umrisse der Gipfel und versuche, die Bergkörper in ihren Einzelheiten zu erkennen. Allein es gelingt mir nicht, denn es ist noch zu früh. Ich zünde den Wall an einer Stelle an, die welken Kräuter brennen gut, ergeben ein Feuer mit hellen, langzüngigen Flammen. Ich bin gewillt, zu warten, bis sich der Feuerkreis schließt. »Was ist?« Nordshmaa muß den Rauch gerochen und die Wärme gespürt haben. »Mache einen Schutz vor den Schakalen!« »Warum das? Sind etwa welche da?« »Ein ganzes Rudel!« Schreiend fährt sie hoch und läuft auf mich zu. Ihre Füße wirken sehr hell im Feuerschein, sie glänzen fast. »Bist du von Sinnen? Es war ja nur ein Scherz!« Ich fange sie auf und halte sie hoch. Sie zittert am ganzen Körper, und in ihren Augen glitzern Tränen. Nun empfinde ich jene schmerzliche Liebe zu ihr, die ich zu Anfang unserer Ehe 217
so oft, aber, wie ich mir nun eingestehen muß, mit der Zeit immer seltener empfunden habe. Doch da merke ich, daß das Zittern nicht allein vom Schreck kommen kann, da sich ihr Kreuz und ihre Schenkel eiskalt anfühlen. Also drehe ich mich auf der Stelle um und halte sie über das Feuer. Sie schreit zwar, aber so scheint es ihr zu gefallen, denn ihre Arme fliegen mir um den Hals, ihre Finger streicheln mir die Backen und die Ohren, und das Geschrei weicht zuerst einem sprudelnden Kichern und bald einem tiefen, weichen Brustlaut, verwandt dem Brummen einer Stute. Ich trage sie auf das Schlaflager zurück, denn sie ist schwer. Und dort befreie ich mich aus ihrer Umklammerung und sage, daß der Sammler, der nach einigen Jahrtausenden auf der Altaierde wieder erschienen ist, das Frühstück für seine Braut bereiten möchte. Unser Frühstück besteht aus Röstzwiebelquark, ich stecke in jede Zwiebel ein Stück Aarschy und presse sie dann zwischen zwei glühende Steine. Wieso Saures und Bittres zusammenpaßt und dann auch noch süß schmeckt, ist ein Rätsel für sie. Zu der Delikatesse aus der Steinzeit trinken wir wieder Gletscherwasser. Wir beobachten, wie der Altai aus der Nacht in den Tag hineinwechselt. Die silberweißen Berghänge und Täler verwandeln sich unter der steigenden Sonne in goldgelbe, und der Rauch, der hier und da, gleich einem tintenblauen Faden, schnurgerade gestanden hat zwischen Himmel und Erde, verschwindet mit einem Mal, es ist, als ob er sich im Blau des soeben geborenen Herbsttages aufgelöst hat. Wie alt mag das Bild sein? Wie alt mag auch das dankbare Glücksgefühl sein, das in diesem Augenblick meine Brust erfüllt und dem Altai und in ihm dem All gilt? Und wer weiß, wie oft sich das Leben, das ich nun erlebe, wiederholt hat? Ja, es muß schon dagewesen sein, und so bin ich eine Fortsetzung derer, die zu verschiedenen Zeiten diesen Flecken Erde bewohnt haben. So bin ich immer dagewesen. Bin mein Vater gewesen, der 218
immer noch da ist, bin mein Großvater gewesen, der gestorben sein soll, bin aber auch die Großmutter gewesen, die ebenso nicht mehr da sein soll, bin andere gewesen, oft zu gleicher Zeit, dieser und diese, jener und jene, bin geflogen, bin gekrochen, bin geflossen, bin geschwebt, habe aber auch geruht als Sand und Stein. Immer bin ich dagewesen. Immer werde ich dasein. So bin ich ohne Anfang und Ende, gesichtslos und geschlechtslos. Und so bin ich todlos. Nicht ich bin es, der den Gedanken erfunden hat, jeder Schamane singt es laut in alle Winde. Nordshmaa nimmt mir den Gedanken nicht ab. Sie sagt von sich, daß sie sterben werde. Ich könne, meint sie, so gut wie unsterblich sein, da ich Schriftsteller sei und Dichtungen zustande bringe. Aber schließlich würde auch ich sterben, da ein jeder, der geboren sei, am Ende immer sterben müsse. Ich sei übermütig, sagt sie, da meine Eltern noch lebten und da ich eine große, weitverzweigte Verwandtschaft habe. Aber sie könne nicht übermütig sein, ihre Eltern seien gestorben, sie habe auch keine Geschwister mehr, sie sei allein. So traurig diese Aussage auch ist, so eröffnet sie doch ein Gespräch, das wir längst miteinander hätten führen müssen, aber bisher nicht geführt haben. Es betrifft ihr Leben: Zuerst heißt sie Hassaa. Aber dann wird sie umbenannt. Ein ehemaliger Lama tauft die Hassaa in eine Nordshmaa, was aus dem Tibetischen kommen und der Name einer Göttin sein soll. Das erfährt sie freilich erst später, und da findet sie den neuen Namen sinn- und klangvoller als den alten. Eine Krankheit war der Grund zur Umbenennung, mit dem neuen Namen wird sie gesund. Dies verpflichtet sie, zu dem Mann Opa zu sagen und zu ihm ab und zu eine Flasche Aragy und ein Stück Gurud zu tragen. Sie erfüllt diese Pflicht gern, denn da bekommt sie immer ein Geschenk, das Gegengeschenk: einen Bonbon oder ein paar Würfelzucker oder wenigstens ein Stück Boorsak. Der Opa läßt sie zudem auf seinem Schoß sitzen 219
und mit seiner Tabaksflasche spielen, bis der Aragy getrunken ist und sie die Flasche wiederhaben kann. Und da, wenn sie sich, die leere Flasche und das Tuch in der Hand, zum Gehen gebärdet, sagt er zu seiner Frau: »He du, unser Gast will gehen!« Worauf jene sich zu der Truhe im Dör begibt, den Deckel hebt und darin sucht und etwas findet, womit sie das Kind beschenken kann. Dies ist immer ein fast unerträglich schöner, aber auch qualvoller Augenblick; sie versucht daran zu denken, daß sie nachher die Hände artig übereinander legen und der Oma entgegenstrecken muß, um die Gabe in Empfang zu nehmen, sie tut es, um nicht hinzuschauen zu der Frau, doch kann und kann sie ihren Blick von ihr, von dem herausgaffenden Dreieck zwischen der Truhe und dem Deckel nicht abwenden. Endlich kommt es zum Vorschein, und sie tritt, ohne es selber zu merken, an die Oma näher heran und versucht, die Hände schon übereinanderzulegen und auszustrecken. Aber da merkt sie, sie kann es nicht, muß zuerst das Tuch mit der Flasche unter die Achsel klemmen. Was sie auch schnell tut und was ihr hinderlich ist, doch bringt sie es fertig, die Hände ordentlich ausgestreckt und zusammengelegt hinzuhalten, und dabei steht sie vor Anstrengung gekrümmt. Nun gleicht sie mit der Gabe in der Hand einem kleinen Sturmwind und saust nach Hause, sie hat keine Zeit stehenzubleiben und es sich anzuschauen, sie muß es schnell und unversehrt zu ihrer Jurte bringen und ihrem Vater zeigen. Aber da tritt der Vater auch schon aus der Jurte, er hat sie wohl kommen hören, er fängt sie auf. Nun sieht sie sich die Gabe erst beim Vorzeigen an. Der Vater scheint sich darüber ebenso zu freuen und macht ein lautes Aj-aj, doch ißt er davon nicht mit, obwohl sie darauf besteht, daß beide das Mitbringsel unter sich aufteilen. Er beißt sich ein winziges Stück ab und sagt, er wäre schon satt. Sie aber ist nicht satt, sie hat sich an Süßigkeiten noch nie satt gegessen, und sie kann sich auch nicht vorstellen, daß man sich an Süßigkeiten je satt essen könnte. So ißt sie 220
allein, und dabei schließt sie die Augen oder hält sich die Ohren zu oder streckt die Arme aus und dreht sich im Kreis um. Sie muß es tun vor Genüßlichkeit. Da aber erschallt ein Ruf aus der Jurte: »Oj, komm her schnell, du Luder, wenn du noch am Leben bist!« Das gilt ihr. Sie fährt zusammen, erwacht aus dem Traum und sieht den Vater an. Aber er gibt ihr durch eine Kopfbewegung das Zeichen, dem Ruf zu folgen. Das ist die Frau, zu der sie Mutter sagen soll. Sie hat es manchmal auch getan, aber jedesmal, wenn sie es tut, glaubt sie eine andere zu meinen, die eine andere, sehr sanfte Stimme gehabt hat. An mehr kann sie sich nicht erinnern. Sie ist erst zwei Jahre alt gewesen, als diese andere Mutter starb. Auch das erfährt sie aber erst später. Und was sie dazu noch erfährt: Ihre Mutter hieß Sürün und ist siebenunddreißig Jahre alt gewesen, als sie sterben mußte. Und sie mußte es, als ein weiteres Kind zur Welt kommen sollte, aber nicht konnte. Später noch erfährt sie, daß ihre Mutter vorher bei einem anderen Mann gelebt und von ihm Kinder gehabt hat. Aber sie kann sich an keine erinnern. In ihrer Familie ist sie allein gewesen mit ihrem Vater und der Frau, die nicht ihre Mutter war, zu der sie aber doch Mutter sagen sollte. Nun tritt sie ein und streckt ihr das Tuch mit der eingewickelten Flasche eilig entgegen. Jene aber, anstatt es in Empfang zu nehmen, faßt sie am Schopf, drückt ihren Kopf zurück und nähert sich ihrem Gesicht. Das Kind erstarrt, beißt die Zähne zusammen, schielt nach der freien Hand der Frau und zittert. Aber da geschieht Unverhofftes: Die Krallen, die in ihrem Schopf stecken und die Kopfhaut darunter abzureißen drohen, lassen von ihr ab, und auch das wutverzerrte Gesicht entfernt sich. Nun entreißt die Hand, die sie immer noch im Blick behalten hat, ihren Fingern das Tuch mit der Flasche, und die Frau sagt: »Dung!« Kaum kommt Nordshmaa mit dem gesammelten Dung zurück, 221
wird sie auf der Stelle wieder hinausgeschickt. Sie soll die Zicklein hüten und darauf achten, daß diese nicht zu ihren Müttern laufen und mit ihnen zusammenkommen. »Weh dir, wenn du wieder spielst und die Herde weglaufen läßt!« ruft die Frau hinterher. Es sind hübsche Zicklein, denn sie sind stummelohrig und weiß. So weiß wie ihre Spielsteine. So weiß auch wie die Kaurimuscheln, die kleine Kinder an ihren Mützen und hübsche Frauen an ihren Kleidern tragen. Sie hat keine an ihrer Mütze. Sie ist kein kleines Kind mehr. Auch die Mutter hat keine an ihrem Kleid. Sie ist nicht hübsch. Aber es sind auch dumme Zicklein, denn sie bleiben nicht an einer Stelle, laufen immer weiter. Sie muß die Herde einholen, sie rennt und ruft, doch dies ermuntert die Dummen nur noch in ihrer Dummheit. Sie rennen lärmend weiter. Nun bleibt sie stehen und weint. Da aber geschieht, daß die Herde plötzlich zurückläuft. Sie hat die Nachbarsfrau sagen hören, daß man einen Waisenmenschen nicht zum Heulen bringen darf, da es wie das Geschrei einer Hündin und das eines Kranichs vom Himmel erhört werden könnte. Hat der Himmel sie nun erhört? Da jedoch sieht sie einen Hund, es ist ein großer und womöglich ein tollwütiger, denn er kommt auf die Herde zugesprungen. Jetzt schreit sie vor Verzweiflung so laut, wie sie nur kann. Das hört wohl der Hund, denn er bleibt stehen und macht gleich kehrt. Nun ist sie überzeugt davon, daß sie vom Himmel erhört worden ist. So ist sie von einem dankbaren Gefühl erfüllt und ist froh darüber, daß sie eine Waise ist. Denn von den Kindern, die sie kennt, wer hat denn die Wunderkraft, die nun ihr zusteht? Keines oder doch noch eines? Der Hoetschin lebt mit seiner Mutter allein. Aber sein Vater ist, hat sie gehört, im Flußwasser ertrunken, sie hat auch die Nachbarsfrau sagen hören, daß ein Vaterloser eine Halbwaise und ein Mutterloser eine Vollwaise 222
sei. Also hat der Himmel für Hoetschin nur ein Ohr, während er für sie beide Ohren hat. Der Vater hat schon wieder getrunken. Das weiß sie, noch bevor sie wieder die Jurte betritt. Denn sie hört ihn laut reden. Das macht er immer, wenn er betrunken ist. Sonst ist er leise und spricht wenig. Die laute Stimme des Vaters erschreckt und erfreut sie zugleich. Denn nun könnte es wieder eine Schlägerei geben, was schrecklich ist. Aber die Mutter kann ihr in der Gegenwart des betrunkenen Vaters nichts antun, und das ist schön! »Mein armes Kind, mein Waisenmädchen!« ruft ihr der Vater entgegen. Er kommt schwankend auf sie zu, faßt sie an den Schultern und beriecht ihren Kopf: »Oh, mein Einziges, mein Winziges, mir eine Freude in der Leber, anderen ein Dorn im Auge!« Die Mutter sagt: »Nordshmaa, mein Kind, sag doch dem Vater, daß er etwas leiser reden soll.« Nordshmaa, mein Kind – oh, wie gut hört sich das an! Wenn man es zu ihr nur öfters sagen würde! Sie kommt nicht dazu, den Vater zum Leisereden zu überreden. Er kommt ihr zuvor: »Hörst du, mein Kind, wie man dich plötzlich nennt? Nordshmaa, mein Kind – ha ha ha! Schlau ist die Hündin, denn sie hat längst geahnt, was ihr bevorsteht!« Seltsam, die Mutter scheint dem nicht zuzuhören, was er da sagt. Sie hantiert geschäftig am Herd. In der Nacht kommt es zu der erwarteten Prügelei. Sie erwacht, versucht, den Streit zu schlichten, mit allem, worüber sie verfügt: mit Tränen. Sie packt auch den Vater bald hier und bald dort an. Doch sie muß es bald wieder aufgeben, da sie spürt, daß sie machtlos ist gegen die wilde Kraft, die in ihm wohnt. So heult sie nur noch lauter, kreischt mit viel Schmerzen, aber mit einer kleinen Befriedigung auch, denn ihr fällt ein, daß der Himmel sie erhören und so nun etwas geschehen muß. 223
Und es geschieht auch: Die Frau, die gekläfft und gewinselt hat wie eine Hündin, die totgeschlagen wird, entkommt mit einem Mal ihrem Peiniger und läuft aus der Jurte, und dieser, anstatt sein Opfer zu verfolgen, sackt dort, wo er gestanden hat, zusammen und röchelt und jammert. Da hört sie auf zu kreischen und weint nur noch, und spürt nach einer Weile auch kein Verlangen mehr danach, sie kriecht auf ihre Schlafstätte zu und fällt, sobald sie den Kopf auf das Kissen legt, in Schlaf. Am Morgen findet sie sich in der Umarmung des Vaters. Der saure Geruch des Aragys, der von ihm ausgeht, widert sie an, doch sie schmiegt sich an seine Brust und findet es schön, so dicht bei dem Vater zu liegen. Die Mutter kommt nicht zurück. Eine Nachbarsfrau kommt und melkt die Yakkühe und schimpft den Vater aus. Er sagt nichts, läßt den Kopf hängen und räuspert sich nur hin und wieder leise. Die Ziegen muß Nordshmaa melken. Das hat sie früher schon gemacht, aber die Mutter hat mit ihr geschimpft, sie melke die Euter nicht aus. Sie wird von den Nachbarn ausgefragt, was in der Nacht in der Jurte gewesen sei. Sie sagt alles, was sie weiß, und bemerkt, die Menschen nehmen es unterschiedlich auf. Manch einer gibt dem Vater recht, viele verdammen ihn. Die Mutter bleibt weg. Anstatt ihrer kommt ein Onkel und holt ihre Sachen ab. Die Tage vergehen. Die Nachbarsfrau melkt morgens und abends die Kühe weiterhin, aber nun schimpft sie nicht mehr. Der Vater trinkt täglich. So vergeht der Sommer, so vergeht auch der Herbst. Im Winter erkrankt der Vater, wird bettlägerig. Er ißt nichts mehr, trinkt nur Milchwasser. Später geht es auch mit dem Milchwasser nicht mehr. Aber da ist das Frühjahr gegangen, und es ist schon wieder der Sommer gekommen. Während der Umzüge legen ihn die Ailmänner auf ein mit Filz gepolstertes Scherengitter der Jurtenwand und verladen diese auf ein Kamel. Auf seinem Mund liegt wie immer ein angefeuchtetes Tuch, und durch 224
dieses hindurch hört man manchmal ein Stöhnen. Die Ailleute verbringen die Tage und Nächte abwechselnd an seinem Lager. Zuletzt tröpfelt man ihm Aragy aus einem Löffel in den Mund, der schwarz aussieht wie ein Schlund. Das Milchwasser geht nicht mehr hindurch, hustend prustet er es heraus, aber der Aragy bleibt weg, seltsam. Sie geht nicht allzu nah an ihn heran, verläßt ihn aber auch nicht, sie bleibt in der Nähe. Eines Tages sagt man ihr, sie soll an den Vater dicht herantreten, sie soll ihr Ohr an seinen Mund legen. Sie tut es und glaubt etwas zischen zu hören. Ihr wird schlecht von dem Geruch, den sie schon vorher hin und wieder gewittert hat. Nun muß sie ihn einatmen, sie springt auf und rennt aus der Jurte. Jemand kommt und führt sie an der Hand zu sich. Aber bevor man sie in die andere Jurte einläßt, entzündet man ein Wacholderfeuer und schwenkt den Rauch über ihr. Man hält sie in der Jurte zurück, man läßt sie nicht hinaus. Sie muß sagen, daß sie austreten gehen will. Sie sieht, die Dachdecke der Jurte ihres Vaters ist zugezogen. Später hört sie verhaltene Männerstimmen und ein Kamel brüllen. Man behält sie über Nacht bei sich, sie liegt auf einem Ziegenfell, deckt sich mit dem eigenen Lawschak zu. Am nächsten Morgen sieht sie, daß Vaters Jurte ein Stück weitergerückt ist. Sie würde gern hingehen und sehen, was darin sei, jedoch sagt man, sie soll dableiben. Man gibt ihr einen Eimer und sagt, daß sie ihre Ziegen melken soll. Was sie auch tut, nur weiß sie nachher nicht, wohin sie die gemolkene Milch bringen soll. So fragt sie die Frau, die in ihrer Nähe sitzt und ebenso Ziegen melkt. Diese antwortet: »Die Milch gehört dem, dessen Tee du getrunken und in dessen Jurte du die Nacht verbracht hast!« Sie sieht, auch die Milch von den Yakkühen kommt in die Jurte, in der sie übernachtet hat. Mehr noch: Man hat die vier Yakkälber, die bisher getrennt an einer Dshele gelegen haben, nun zur eigenen gebunden. Gegen Mittag erscheint die Frau, zu der sie Mutter hatte sagen 225
sollen und manchmal auch gesagt hatte. Nun rennt sie ihr entgegen. Jene steigt an der Nachbarsjurte ab, nimmt sie an der Hand und geht auf die Nachbarn zu. Man lädt sie zum Teetrinken ein. Darauf gehen beide zu ihrer Jurte. Der Vater ist nicht da. Das hat sie längst geahnt. Auch die Krankenstätte fehlt, daran hat sie nicht gedacht. Wenig später erscheint ein Mann, der drei Kamele hinter sich führt. Sie hat ihn vorher öfters gesehen und zu ihm Nagaz gesagt. Nun kommt er direkt auf sie zu und beriecht sie am Kopf, nachdem er vom Pferd abgestiegen ist und es an der Jurte und die Kamele an einem Stein festgebunden hat. Es kommt zu einem Streit zwischen dem Nagaz und der Mutter. Sie versteht nicht, worum es geht, wünscht sich nur, der Mann möge wieder gehen, und dies nur, da sie sich vor dem Streit fürchtet. Der Mann geht auch, aber bevor er die Jurte verläßt, nimmt er sie an der Hand und spricht zu ihr in der Gegenwart der Mutter und der Ailfrauen, die inzwischen herbeigeeilt sind: »Ich heiße Hodshin und bin der jüngere Bruder deiner Mutter. Wir haben noch eine jüngere Schwester, sie heißt Damia. Ich bin gekommen, um dich samt Jurte und Vieh zu uns zu holen. Aber diese Frau, die nicht deine Mutter ist und deinen Vater, als er krank war, im Stich gelassen hat, ist zurückgekommen, sobald sie gehört hat, daß er tot ist. Nun sagt sie, sie würde in der Jurte bleiben, in der sie schon vorher gewesen ist, und dir die Mutter ersetzen. Wir werden sehen. Sollte sie zu dir anders sein, als eine Mutter zu ihrem Kind ist, so weißt du, so weiß sie, so wissen alle, du kommst zu uns!« Damit entläßt er sie. Als sie dann den sommernackten und losen Kamelen hinterher schaut, die wie an einem Strick dem Reiter folgen, denkt sie mit Angst und mit Sehnsucht daran, es hätte so leicht geschehen können, daß die Kamele in diesem Augenblick die Jurte auf ihrem Rücken trügen und sie selbst neben dem Zug hastete und die Yak- und Ziegenherde vor sich 226
hertrieb. Die Mutter ist jetzt zu ihr nicht anders als vorher, und es kommt öfters zu Tränen. Sie kann nicht vergessen, was der Nagaz gesagt hat. In den Augenblicken, in denen sie sich die Schelte der Mutter anhört, manchmal auch die Härte ihrer Fäuste spürt und dabei Tränen vergießt, versucht sie sich das andere Leben vorzustellen, das auf sie in der Jurte des Nagaz wartet. Und es kommt ihr meist schön vor. Doch sobald sie nicht mehr weint, sobald sie ein zärtliches Wort von der Mutter hört, fürchtet sie sich vor dem, woran sie soeben gedacht und wonach sie sich fast gesehnt hat. Nein, sie möchte lieber zu Hause bleiben, sie möchte im Ail, in der Nähe der Nachbarsleute bleiben, zu denen sie Onkel und Tante sagt, sie möchte schließlich auch bei der Herde bleiben, die ihre eigene ist und die sie auf jede Ziege, auf jedes Zicklein hin kennt. Aber nur allzu schnell muß sie manchmal diese Stimmung preisgeben, die vielleicht der verwandt ist, die man Glück nennt. Und eines Tages, als sie wieder mit Tränen in den Augen aus der Jurte tritt, sieht sie, daß sich ein Reiter dem Ail nähert. Sie wischt die Tränen aus dem Gesicht und läuft ihm entgegen, denn sie hat ihn erkannt, es ist ihr Nagaz, derjenige, der gesagt hat, er würde sie mitnehmen. Während sie so rennt, strömen ihr neue Tränen, und kaum hat sie ihn erreicht, sagt sie schluchzend: »Nagaz, nimm mich mit!« Der Nagaz steigt vom Pferd ab, sie merkt, daß er angetrunken ist. Da bekommt sie Angst, denn das erste Bild, was sie vor sich sieht, ist: Dieser prügelt die Mutter, so wie der Vater sie damals verprügelt hat. Und zugleich muß sie sich sagen, daß es nun zu spät und sie machtlos ist gegenüber dem, was geschehen wird. So beginnt für sie ein neues Leben. Sie gewöhnt sich schnell an die anderen Kinder, an den neuen Ail überhaupt. Aber die Sehnsucht nach der eigenen Jurte, nach dem eigenen Ail und sogar nach der Mutter, die nicht ihre Mutter ist, verläßt sie nicht. Sie vergleicht alles und findet, daß das, was gewesen, viel 227
schöner ist als das, was ist. So hätte sie anstatt des Nagaz so gern den Vater und anstatt seiner Frau auch lieber die Mutter gehabt. Dabei findet sie Ähnlichkeiten und Unterschiede. Ähnlich ist der Nagaz mit Vater, da er sich betrinkt und Dummheiten macht, um aber am nächsten Tage der Familie, vor allem aber der Frau, jede Arbeit abzunehmen und auch jeden Wunsch zu erfüllen. Einen Unterschied findet sie darin, daß dieser, wenn er betrunken ist, auch auf die Kinder losgeht, während jener seine Fäuste nur der Frau zeigte. Die Mutter hatte eine scharfe Zunge, während die Bergen wenig, ja fast nichts spricht. Aber deswegen ist diese nicht weicher als jene. Ihre jetzige Schwester Bajrzengel erzählt viel von der Schule. Dort soll es schön sein. »Schlecht ist nur«, meint sie, »daß ich einen Vater habe! Wenn ich Vollwaise gewesen wäre, so wie du eine bist, so wäre ich zu einem Erholungsheim gefahren und hätte dort die Sommerferien verbracht!« Sie, Nordshmaa, aber erschrickt vor diesen Worten, denn was würde sie nicht tun, um ihren Vater wiederzubekommen! Vielleicht ist er doch wieder zu Hause? Und sie sagt diesen ihren Gedanken dem Mädchen. Es belehrt sie: »Nein, nein! Ist der Mensch einmal tot, kommt er nie wieder zurück. Er wird von den Geiern weggefressen nicht anders als ein totes Schaf!« Sie erschrickt noch mehr. Und um den schrecklichen Gedanken loszuwerden, stellt sie weitere Fragen nach der Schule. Später fragt sie jene auch über andere Dinge, die sie immer beantwortet. Nun will sie wissen, wieso Bajrzengel alles wisse. »Weil ich in der Schule bin!« Das steigert die Lust, die in dem Waisenkind längst dagewesen ist. Es erzählt dem Mädchen von dem Yak, der verkauft werden, und von dem Paar Stiefel und vor allem von den Schulsachen, die gekauft werden sollten. »Siehst du?« wird sie von der Schülerin ermuntert. »Es ist nun höchste Zeit, daß du in die Schule kommst und dir richtige Stiefel anziehst!« 228
Das Kind gibt zu bedenken: »Aber ich habe die Stiefel ja gar nicht, und so kann ich nicht zur Schule gehen!« »Macht nichts!« sagt Beijrzengel. »Als Vollwaise bekommst du alles kostenlos von der Schule.« Das kommt dem Kinde unwahrscheinlich vor, doch muß es damit wohl auch stimmen, wenn Bajrzengel es sagt. Der lange Kindheitssommer zieht sich dahin. Das Leben im Ail bleibt gleichmäßig, das in der Jurte wird davon bestimmt, ob der Nagaz wieder getrunken hat oder nicht. Und er trinkt oft. Eines Tages kommt ein feiner Mann angeritten, ein großer Darga wohl, von dem alle so ehrfürchtig reden. Aber da stellt sich heraus, daß Bajrzengel ihn kennt. Er ist einer von den Schullehrern. Nun ist er dabei, wie alle Jahre, die schulpflichtigen Kinder einzusammeln. Er nennt die Kinder, aber ihr Name ist nicht darunter. Da sagt Bajrzengel, daß noch eine da sei, und nennt Name und Alter. Der Lehrer schreibt den Namen auf. Die Bergen fährt hoch: »Die kann nicht zur Schule!« »Warum?« fragt der Lehrer. »Sie hat nichts anzuziehen!« »Sie sind verpflichtet, das Kind zu bekleiden, wenn es einmal unter Ihrer Obhut steht!« Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel zwischen den beiden. Plötzlich sagt der Lehrer: »Gut. Dann bekleiden und ernähren wir das Kind!« Worauf sie aufhören, sich zu streiten. Später sagt die Bergen zu ihr: »Glaub nicht daran, was der Lehrer gesagt hat: Wie soll er dich bekleiden und ernähren? Keiner ist heutzutage so reich, die Ausgaben für ein wildfremdes Kind auf sich zu nehmen. Wir aber tun es, obwohl wir arme Leute sind, da du mit uns durch das Blut verwandt bist. So werden wir dir auch die Schulsachen besorgen, doch dies nur bis zum nächsten Jahr.« Sie berichtet von dem Gespräch Bajrzengel. Diese sagt: »Also will sie dich als Magd dabehalten, und dies schon wegen des 229
Bengels. Um so schneller mußt du hier weg!« Mit dem Bengel meint sie den Jungen, der eigentlich in der Wiege zu liegen hat, jedoch daran gewöhnt ist, getragen zu werden, solange er nicht schläft. Eines Abends flüstert ihr Bajrzengel zu: »Morgen müssen wir zeitig aufstehen. Denn es ist Zeit, hier wegzukommen!« Sie liegt lange wach, eine beängstigende Freude erfüllt sie. Am nächsten Morgen verlassen sie die Jurte, jede mit einem Dungkorb auf dem Rücken. Doch kaum ist der Ail dem Blick entrückt, lassen sie die Körbe stehen und begeben sich auf den Weg, der in die Ferne führt. Bajrzengel hat alles vorbereitet. Das Bündel, das sie unter einem Felsen herausholt, enthält nicht nur ihre Schulsachen, sondern auch einen reichlichen Wegproviant. Eine Weile traben sie. Und dies aus Furcht und vorsichtshalber, daß man doch Verdacht geschöpft haben könnte. Im Falle, daß man sie einholt und sie in den Ail zurückbringen will, werden sie sagen: »Wir werden uns im Wasser ersäufen oder vom Felsen herabstürzen, denn uns Waisen ist der Tod lieber als das freudlose Leben!« Sie gehen und gehen. Doch der Weg nimmt kein Ende. Die Sonne erklettert die Himmelshöhe, sie weilt dort. Die beiden aber gehen. Dann merken sie, daß auch die Sonne geht, und zwar in dieselbe Himmelsrichtung. Sie geht schnell, schneller, denn sie fällt nun. Der Himmelsrand ist nicht mehr weit für die Sonne, doch die roten Berge, hinter denen die Kreisstadt stecken muß, sind noch weit. Da kommen sie an einem Ail vorbei. Bajrzengel fragt sie, ob sie Durst habe. Sie hat Durst, sie ist auch so müde, daß sie sich schon mit Mühe vorwärtsbewegt. »Gut, wir machen hier eine Rast. Aber vergiß nicht, was ich dir gesagt habe!« Sie gehen auf eine Jurte zu, in deren Nähe kein Hund zu sehen ist. Die Bewohner der Jurte fragen sie sogleich aus. Bajrzengel sagt, daß sie Waise sei und mit ihrer jüngeren Schwester zur Schule gehe. »Wieso das? Hodshin hat doch nur eine Tochter!« 230
sagt die Hausfrau mißtrauisch und schickt einen warnenden Blick zu ihrem Mann. Bajrzengel erzählt die Geschichte, wie alles gewesen ist. Die Leute füttern die Kinder, meinen aber, daß sie zurückmüssen, da man sie sonst suchen würde. »Ich bring euch auf einem Pferd zurück«, sagt der Hausherr. Das Kind Nordshmaa sagt, was es zu sagen hatte. Bajrzengel fügt dem hinzu: »Ja, wir werden es tun!« und nimmt sie an der Hand, als wollten sie auf der Stelle zum Fluß laufen. Die Leute erschrecken und nehmen ihre Worte sofort zurück. Sie bitten sie sogar darum, zu übernachten und morgen die Reise fortzusetzen. Und die beiden schlafen dort und erreichen am nächsten Mittag das Ziel. Sie ist zum ersten Mal im Kreiszentrum, so große und schöne Häuser hatte sie vorher noch nie gesehen. Vor Entzücken vergißt sie eine Weile, daß sie barfuß ist und einen zerlumpten Lawschak trägt. Die Schule steht noch leer, nur der Wächter und der Schuldirektor sind da. In den Augen des Kindes wirkt der eine mächtiger und vornehmer als der andere, sie hält beide für Dargas. Dann aber entsteht etwas, was sie nicht begreifen kann. Später begreift sie, weshalb das sein mußte. Bajrzengel muß weiter, in die Bezirksschule, in die fünfte Klasse, da die Kreisschule nur vier Klassen hat. Doch sie beginnt zu kreischen, denn sie will sich von Bajrzengel auf keinen Fall trennen, sie will mitkommen. Der Schuldirektor versucht sie eine Weile zu überreden, doch dann, da er wohl sieht, daß da nichts zu machen ist, sagt er, daß Bajrzengel die jüngere Schwester doch mitnehmen solle, da sie als Schulanfängerin in jede Schule gehen dürfe. Er schreibt für den dortigen Direktor einen Brief und gibt ihn Bajrzengel mit. Damit wandern die beiden weiter. Gegen Abend des Tages erreichen sie eine noch mächtigere Stadt mit noch mehr und größeren Häusern und noch mehr und hübscheren Menschen, und da fahren sogar Autos. »Kennt ihr jemanden hier?« fragt der Direktor der Bezirks231
schule, der die beiden freundlich empfangen hat. Bajrzengel gibt eine verneinende Antwort. Wenig später flüstert sie Nordshmaa zu: »Hier lebt eine, die dir Nagaz-Egtsch und mir Awga-Egtsch ist. Wir werden sie ausfindig machen. Aber es ist besser, wenn hier keiner etwas davon weiß!« Der Direktor läßt in Eile einige Leute zusammenkommen und erteilt ihnen Aufträge. Man kümmert sich um die beiden. Noch am selben Abend werden sie im Schulinternat untergebracht, und Nordshmaa schläft zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Stahlbett und unter einer Schlafdecke, die mit einem weißen Tuch bezogen ist. Davor aber werden sie ins heiße Wasser gebracht, wie man das Bad damals nannte. Ein älterer Mann läßt sie sich splitternackt ausziehen, in einer Holzkiste niederhocken und wäscht sie, so wie eine Mutter ihren Säugling wäscht. Bajrzengel scheint das alles zu kennen. Nordshmaa aber will vor Scham fast vergehen. Doch darauf spürt sie eine Freude, wie sie sie noch nie gespürt haben mag. Es ist ihr, als ob sie in eine neue, weiche Haut geschlüpft sei, denn es bleibt nicht nur bei dem Bad, sie bekommt ein Hemd und eine Hose, beides nagelneu und schneeweiß. »Deinen alten Lawschak kannst du noch umhängen, wenn du nicht in Hemd und Hose gesehen werden möchtest, mein Kind«, sagt der Mann zu ihr und trägt sie dann auf den Armen noch bis zum Internat. Das Schamgefühl, das sich soeben gelegt hat, erwacht wieder, aber nun ist es mit Freude vermischt, mit sehr viel Freude. »So«, sagt der Mann, nachdem er sie aufs Bett gesetzt hat. »Ab nun bist du ein Staatskind, und so sind dir alle Männer Väter und alle Frauen Mütter, alle Kinder Geschwister, und alles, was dich umgibt, gehört dir!« Später muß sie sich verschiedene Belehrungen anhören, und dabei denkt sie öfters an diese Worte zurück, sie wünscht, alle möchten so überzeugende Worte finden wie jener Mann. »Schone deine schönen, sauberen Füße, bis man dir Schuhe 232
bringt«, legt ihr der Mann ans Herz, als er wieder geht. Und am nächsten Morgen bringt man ihr tatsächlich ein Paar neuer Stiefel, solche, wie die Dargas sie tragen. Aber nicht nur das, sie bekommt auch einen neuen Lawschak. Wie verstummt vor Freude steht sie da in ihrer neuen Kleidung, und ihr fällt es schwer, mit den glänzenden Stiefeln auf die staubige Erde zu treten. Der Mann, der ihr die Sachen gebracht hat, ist ihr Klassenlehrer und heißt Noosgoj. Er sagt zu ihr: »Nun mußt du, Genossin Schülerin, sehr gut lernen. Schaffst du’s, so hast du dem Staat alles zurückbezahlt!« Sie nimmt sich vor, sehr gut zu lernen. Jedoch schafft sie es nicht ganz, und das betrübt sie etwas. Doch dieses Betrübtsein ist nicht derart, daß sie deswegen etwa unglücklich geworden wäre. Die Freude über ihr neues Leben verläßt sie lange nicht. Sie empfindet allen und allem gegenüber Dankbarkeit, zeigt sich zu jedem gut. Und darum wohl wird sie zum Liebling der Klasse, ja der Schule. Bei allen gilt sie als die jüngere Schwester Bajrzengels, die sich zu dieser wie eine Mutter verhält, aber mit ihr auch angibt. Überhaupt gilt jene bei den Internatsmädchen als angeberisch und auch als zänkisch. Doch lernt sie im Unterschied zu Nordshmaa sehr gut, was sie dazu verleitet haben mag, ein klein wenig überspannt zu sein. Eines Tages gehen die beiden auf die Suche nach ihrer Verwandten und finden sie schnell. Die nette Frau zeigt sich erfreut über das Auftauchen der Nichten, bewirtet sie und sagt zu ihnen, als sie wieder gehen wollen: »Kommt immer, wenn ihr Zeit habt!« Im Internat zurück, bemerkt Bajrzengel: »Die Frau hat alles: einen Mann, der Darga ist, Kinder, eine vornehme Jurte und sogar seidene Deels. Dem Menschen können diese Sachen fehlen, nicht aber arme Verwandte!« Nordshmaa denkt anders, fühlt die Freude wachsen, die sie in sich immer weiter spürt. Sie denkt: Schwestern gleichen 233
einander, also muß meine Mutter auch wie diese ausgesehen und wohl auch dieselbe Stimme gehabt haben … Der Gedanke will sie nicht verlassen, und so drängt sie Bajrzengel schon am nächsten Tag, die Verwandtenjurte wieder zu besuchen. Sie möchte wissen, wie ihre Mutter ausgesehen hat. Vielleicht haben die Schwestern einander geglichen im Gesicht, in der Körpergröße und sogar in der Stimme? Sie beschließt, jene danach zu fragen. Aber Bajrzengel möchte davon lieber nichts wissen. So stiehlt sie sich eines Tages davon und geht allein zu der Verwandtenjurte: »Stimmt es, NagazEgtsch, daß sich Schwestern ähneln?« »Ja.« »Hat dann meine Mutter auch so ausgesehen wie Sie? Und wie groß ist sie gewesen, und was für eine Stimme hat sie gehabt?« Die Nagaz-Egtsch erzählt, daß sie, die Schwestern, von den Ailleuten öfters miteinander verwechselt worden sind. Nordshmaa hilft der Nagaz-Egtsch bei diesem und jenem und sagt beim Gehen: »Nagaz-Egtsch, ich werde gern wiederkommen und Ihnen bei der Arbeit helfen.« Nun geht sie fast täglich zu der Jurte. Bajrzengel übersieht das natürlich nicht und schimpft deswegen mit ihr. Aber Nordshmaa mag den langen Nachmittag nicht im Internat bleiben. Es ist in ihr ein Gefühl erwacht. Später wird sie wissen, es ist das Heimweh gewesen, die Sehnsucht nach der Wärme eines Herds, nach der Nähe eines vertrauten Menschen, nach einem Zuhause. Der Staat vermag alles zu geben, und das Internat kann noch so schön sein, ein Zuhause ist aber unersetzlich. Besonders in den Quartalsferien ist es schwer für die Waisenkinder, da die anderen alle nach Hause gehen und nur sie zurückbleiben. Sie werden zwar noch besser versorgt als sonst, aber das erweckt in ihnen das Gefühl des Alleinseins noch stärker, und sie bekommen nur noch größere Sehnsucht nach dem Etwas, das sie damals noch nicht zu nennen vermögen. In diesen Tagen wird 234
selbst Bajrzengel anders, sie geht mit ihr zu Besuch. Sie werden mit dem bewirtet, was in der Jurte da ist, ebenso legen sie die Hand an das, was dort gemacht wird. Da hätten sie keine Waisen, auch keine Verwandten zu sein brauchen, das ist Sitte und Gepflogenheit in jeder Jurte. Der Mann der Nagaz-Egtsch hinkt. Er spricht mit der NagazEgtsch und den Kindern in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Sie fürchtet sich vor ihm. Sie weiß, daß sie zu ihm Hürgenach sagen muß, aber nie ergibt sich die Gelegenheit, es zu sagen. Der Mensch blickt auf sie finster herab und hinkt an ihr wortlos vorbei. »Das ist ein böser Hund!« sagt Bajrzengel von ihm. »Weißt du, wie er uns nennt? Seen dshiwelering nennt er uns! Und weißt du, was das bedeutet: deine Dinger! Ich habe andere Kinder gefragt, man sagt es zu Menschen, die man nicht leiden kann!« Eines Tages sieht sie in der Jurte der Nagaz-Egtsch eine fremde Frau, die ihr auffällt nicht nur durch ihre gute Kleidung und ihre vornehme Aussprache, sondern auch durch das Verhalten zu ihr: Denn sie beobachtet sie lächelnd, nickt ihr zu und fragt sie nach diesem und jenem. Am nächsten Tage nimmt die Frau sie von der Nagaz-Egtsch mit nach Hause. Die Jurte ist unweit und sehr vornehm. Ihr wird fast schwindlig, als sie eintritt. Und das kommt wohl von dem schmetterlingsbunten Holzgerüst, wie sie noch keines vorher gesehen hat, und wohl auch von den beiden großen Spiegeln, die auf den ebenso buntbemalten Truhen im Dör stehen. Die Frau schenkt ihr Süßigkeiten und sagt ihr, daß sie öfters kommen soll. Im Internat angekommen, erzählt sie Bajrzengel von der vornehmen Frau und ihrer vornehmen Jurte. Und sie gibt ihr auch von den Süßigkeiten ab, die sie im Brustlatz trägt und alle Weile spürt und weswegen sie am liebsten auch in alle Winde schreien möchte: »Ich habe Süßigkeiten, kein Würfelzucker und auch kein Eiszucker etwa, sondern richtige, in buntes Papier 235
eingewickelte Bonbons!« Aber Bajrzengel sagt geringschätzig: »Ach ja. Sicherlich verlangt es Reiche danach, ab und zu ihre Reichtümer herauszukehren, um zu erfahren, wie unsereins davor das Maul aufsperrt!« Als sie später im Bett liegen, unterhalten sich die Schwestern: »Sag mal, hat denn deine Gönnerin Kinder?« »Ich habe einen Jungen gesehen, fast so groß wie ich.« »Sieht er ihr ähnlich?« »Ich glaube. Ja, er ist genauso vornehm angezogen wie sie.« »Nein, ich meine das Gesicht.« »Das eher nicht. Er hat ein rundes, helles Gesicht, das ihrige ist schmal und die Backen sind sehr rot.« »Ist der Bengel sehr verhätschelt?« »Ja. Das ist er. Er hat mich immer wieder am Zopf gezerrt.« »Alles klar!« »Was denn?« »Das sag ich dir später!« Sie besucht die vornehme Familie nicht. Sie hätte schon Lust dazu, aber da ist irgendeine Hemmung. Dafür geht sie fast täglich zu der Jurte ihrer Nagaz-Egtsch. Diese erinnert sie an das Angebot der freundlichen Frau. Sie sagt nichts dazu. Eines Tages trifft sie die Frau dort wieder. Diese küßt sie an der Backe, streichelt ihr über das Haar und fragt lachend, warum sie nicht zu ihr nach Hause kommt. Sie schaut nur zur Erde. »Nun aber kommst du mit«, sagt sie immer noch lachend. »Ich werde dich zur Strafe bis zum Platzen füttern!« Diesmal ist der Hausherr da. Er ist ein ebenso freundlicher Mensch wie sie auch. Beim Abschied küßt auch er sie und sagt, daß sie morgen nachmittag kommen und der Tante beim Backen helfen soll. Wieder bekommt sie eine Menge Süßigkeiten. »Komm und hilf uns« ist was anderes als nur »komm«: Sie geht nach dem Unterricht zu der Familie. Mit einem freudigen Ausruf wird sie von der Frau empfangen, und zuerst muß sie die 236
Bewirtung über sich ergehen lassen. Dann hilft sie ihr bei der Arbeit. Es ist eine leichte, lustige Beschäftigung: Sie muß aus dem ausgerollten Teig Figürchen ausschneiden. Was und wie sie es ausschneidet, verwandelt sich sogleich in Gebäck: Blumen, Baumblätter, Vögel, Lämmer und Zicklein, viele, viele Zicklein, die zuerst weiß sind, aber dann, kaum daß sie in das siedende Öl hineingleiten, mit jedem Augenblick brauner werden und am Ende, wenn sie, mit der Siebkelle herausgefischt, in die Schüssel kommen, tiefbraun, hin und wieder fast schwarz aussehen. Von nun an geht sie öfter hin, fast öfter als zu ihrer NagazEgtsch. Manchmal findet sie die Frau mit einem gelangweilten, kränklichen Gesicht dasitzen, rauchend und hustend. Doch erhellt es sich alsbald, und immer kommt es zu einem kleinen, herzlichen Gespräch zwischen beiden. Nordshmaa erzählt ihr vom Internat, von der Bajrzengel und von ihren Zensuren. Zu dem Hausherrn gewinnt sie noch mehr Vertrauen, sie erzählt ihm manchmal von den vielen weißen Ziegen und ihren ebenso weißen Zicklein und einmal auch vom Vater, der bettlägerig geworden und Aragy aus einem Löffel getrunken hatte. Nur der Junge mißfällt ihr. Er ist so verhätschelt und wird so leicht grob. Doch die beiden nehmen sie vor ihm ständig in Schutz, und das tröstet sie. Eines Tages wird sie von der Frau gefragt, ob sie nicht ihre Tochter werden möchte. Sie erschrickt und sagt: »Ich weiß es nicht.« Sie hat schon vorher gehört, daß die Leute eine Tochter gehabt haben, die aber dann verlorengegangen, das heißt verstorben ist. »Seitdem wir dich gesehen haben, ist es uns, als ob du es wärest, die wir vor vielen Jahren verloren haben, und wir könnten versuchen, dir die Eltern zu ersetzen, so gut wir es nur können! Überlege es gut und gib uns dann Bescheid, mein Kind«, fügt der Hausherr hinzu, den sie Onkel Sos nennt, da er Sosorbaram heißt. Andere Leute nennen ihn Major, nach seinem Dienstgrad. Einige Tage lang bleibt sie im Internat. Weder zu der Nagaz237
Egtsch noch zu den Leuten geht sie. Ihr wird es bange, wenn sie an das Angebot denkt. Sie erzählt davon keinem, nicht einmal der Bajrzengel. Da tritt eines Tages das Ehepaar ins Internatszimmer. Die beiden schenken allen Bonbons und fragen die Mädchen nach diesem und jenem. Zu Nordshmaa aber sagen sie, daß sie sich Sorgen gemacht hätten, da sie plötzlich weggeblieben sei, sie hätten gedacht, vielleicht sei sie krank geworden. Sie muß lügen, daß sie in der Schule viel zu tun gehabt habe und erst heute zu ihnen gehen wollte. »So ist es gut!« sagt Onkel Sos lachend. »Nun kommst du mit!« Unterwegs sagt er zu ihr: »Wenn du nicht zu uns kommst, so werden wir zu dir kommen, wir ziehen ins Internat um!« Er sagt das lachend als Scherz, aber es klingt in ihren Ohren gleich einer Drohung, und so sagt sie kleinlaut: »Ich komme zu Ihnen.« Wie sie es gesagt, was sie damit gemeint hat, weiß sie nicht. Die beiden aber nehmen es als eine Zusage auf. Noch am selben Tage gehen sie mit ihr ins Geschäft und kaufen ihr neue Kleider. Sie steht stumm da und nickt jedesmal nur mit dem Kopf, wenn sie gefragt wird, ob es ihr gefällt. In Wirklichkeit aber sieht sie nicht einmal hin, sie wartet nur darauf, daß alles schnell vorüber sei. Es ist ihr peinlich. Nach dem Einkauf nimmt sie erstmals im Leben an einem Festessen teil. Die beiden trinken Aragy aus winzigen Gläsern, sie stoßen sie an, bevor sie sie an die Lippen führen. Bjambasüren – so heißt der Junge – und sie trinken Saft, für den sie freilich noch keinen Namen hat. Sie trinken ihn aus größeren Gläsern, und Bjambasüren zwingt sie dazu, mit ihm anzustoßen, bevor sie trinkt. Das macht ihr übrigens Spaß. Aufregende Tage folgen. Sie ist mit den beiden beim Schuldirektor und bei einigen anderen Dargas. Sie muß auf Fragen antworten, muß sich Belehrungen anhören und muß sogar ihren Namen auf bestempelte Papiere schreiben. Zum Schluß tragen sie zu dritt das Bettzeug aus dem Internatszimmer in das Lagerhäuschen, das abseits vom Schulviertel liegt. Dann nimmt 238
sie ihre Schultasche, die auch eine Gabe des Staates ist, und der Major trägt unterm Arm ihre Winterbekleidung, eine wattierte Hose und Jacke. Das ganze Internat blickt ihr hinterher, als sie an der Hand der Tante davongeht, zu der sie ab nun Mutter sagen muß. Sie glaubt, wenn sie später daran denkt, damals auf den Gesichtern der Kinder mehr Neid als Mitleid gesehen zu haben. Wie es ihr selbst dabei gewesen ist, weiß sie nicht mehr; ihr kommt vor, sie habe an nichts gedacht, weil sie an nichts denken konnte. Ihr fällt schwer, nach der Schule einen anderen Weg zu gehen. Auch die Bemerkungen, die seitens einiger Kinder wegen ihrer neuen Kleider fallen, treffen sie schwer. Zweimal geschieht, daß sie sich aus der Jurte stiehlt und ins Internat läuft. Dabei läßt sie jedesmal ihre neuen Sachen da und schlüpft in ihr altes Zeug. Beide Male geschieht es nach einem Streit, den die Eltern miteinander hatten, es ist ihr, als ob sich diese ihretwegen stritten. Bajrzengel tritt groß auf: »Ja, das hab ich kommen sehen. Ich hätte mit dir früher sprechen sollen, hab es aber nicht getan, weil du vor mir etwas verheimlicht hast! Sei wenigstens jetzt klug: Laß das Zeug nicht liegen, was man dir gekauft hat. Oder noch besser, geh zurück und laß dich hochpäppeln von den Reichen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld! Und erst dann, wenn du so weit bist, dich selber zu ernähren und zu bekleiden, befreie dich, aber auch da laß nicht das Zeug liegen, das du immer noch gebrauchen kannst, sondern laß die Dummen sitzen, die du nicht mehr brauchen wirst!« Das erste Mal ist es der neue Vater, der kommt und sie abholt. »Das hat ja dich gar nicht betroffen, mein Kind!« tröstet er sie unterwegs. Das zweite Mal kommt die Mutter, aber da sagt zu dieser Bajrzengel, daß sie mit Nordshmaa zum Schuldirektor kommen soll. Die Mutter gehorcht. Der Direktor empfängt sie barsch, fängt an, auf sie einzureden. Die Mutter bricht in Tränen aus. Danach ist Nordshmaa nicht mehr weggelaufen. 239
Aber schwer fällt ihr dennoch, sich an die neue Umgebung, an ihr neues Leben zu gewöhnen. Was sie vor allem stört, sind die Streitigkeiten zwischen den neuen Eltern. Die Mutter raucht viel, auch nachts. Sie ist schon lungenkrank, sie redet viel vom Tod. Der Vater ist ständig unterwegs, er ist an der Grenze. Den Bruder kann sie immer noch nicht leiden, oft streiten sie sich. Es hilft wenig, daß die Mutter ihr erzählt hat, daß er ebenso Vollwaise ist wie sie auch. Sie versucht, ihm aus dem Wege zu gehen, was ihr nicht immer gelingt. Später denkt sie an das böse Blut, das in den Adern mancher Menschen fließt, und da tut er ihr manchmal leid. Im darauffolgenden Jahr bringt die Mutter ein Mädchen zur Welt, und die Streitigkeiten unter den Eltern hören auf. Das Auftauchen eines neuen Mitglieds bindet Nordshmaa an die Familie, die nun die ihrige sein wird, und in ihr findet sie das Zuhause, das ihr gefehlt hat. »Wenn ich jetzt sterbe, lasse ich keinen schlechten Lebenslauf zurück. Man wird sagen können, wie man es in solchen Fällen immer gern sagt: Sie stand erst am Anfang ihres Lebens! Was aber nicht stimmen kann, denn ist das, was ich in den fünfundzwanzig Jahren erlebt habe, etwa kein Leben gewesen? Doch bis dahin hat es noch Zeit: Meine Mutter starb mit siebenunddreißig und mein Vater mit dreiundvierzig, zusammen ergeben sie achtzig, und durch zwei: vierzig. Also hab ich mindestens noch fünfzehn Jahre Zeit!« Sie sagt es heiter, lacht darauf schallend, und streckt dazu noch die Arme gen Himmel, entgegen ihrem leisen, unscheinbaren Wesen.
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Der neunzehnte Tag
4. September Ein Mensch kann in einem anderen fortleben. Ein Tag kann demnach auch in einem anderen fortdauern. Kann sich aber ein Leben in einem anderen, eine Frist sich in einer anderen vorwegnehmen? Anscheinend ja. Denn es ist mir, als ob der heutige Tag inmitten des gestrigen Tages seinen Anfang genommen habe. Und dies geschah in dem Augenblick, als wir den Heimweg antraten, nachdem wir uns auf dem bunten Nordhang des Schneeberges, den ich eine Kindheit lang um Schutz gebeten hatte und der nun mir und meiner Frau ihn eine Nacht lang gewährt hat, müde gelaufen hatten. Da sehen wir einen Reiter jenseits des Flusses das AdryHoow-Tal hinabreiten. Nordshmaa hat Augen wie ein Raubtier. Nun sagt sie, daß der Reiter uns zuwinke, und ich entnehme den Beschreibungen: »Es ist ein junger Mann … ein tuwinischer Mann … ein noch junger … kein Hirte … kein Jäger … kein Darga … ja, es könnte ein Flößer sein.« Wir gehen dem Reiter entgegen. Da erkenne ich, noch bevor ich den Reiter erkenne, das Pferd an den vielen runden Flecken am Hals wieder: Es ist der Falbe des Bajynbady. Ich weiß nicht, ob der Mann noch lebt, ich habe ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen, aber ich habe ihn gut gekannt und kann mich noch an den Sommer erinnern, als er den Falben zuritt. Jetzt erkenne ich auch den Reiter wieder, es ist der mittlere der drei Söhne des Bajynbady. Sembi heißt er. Wir sind gleichaltrig, sind sogar im gleichen Jahr zur Schule gekommen. Dort bekam er, wie die meisten Kinder dort, einen mongolischen Namen, der in 241
der Schule als seiner galt: Bajrt sagte man zu ihm. Aber der Name blieb für immer im Klassenbuch, als er nach vier Jahren die Schule aufgab. Er mußte es tun, da es bei ihm mit dem Lernen nicht klappen wollte. Die Lehrer – und damit natürlich auch die Mitschüler – nannten ihn einen der vier Dummen der Klasse, er selber lächelte dazu nur. Ein stiller, friedlicher Junge war er. »Ej, Gurdas!« ruft er schon aus der Ferne und fuchtelt mit der rechten Hand, der die Peitsche fehlt. Sein Gesicht steht in einem breiten Lächeln. Es ist ein hageres, dunkles, ja edles Gesicht. Unter den Rändern der Schirmmütze lugen ihm graue Haare hervor, deren Anblick mich wer weiß an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt hätte erschrecken können, nun aber belustigt. »Nimm die Mütze ab!« rufe ich ihm lachend entgegen. »Und wir werden dir sagen, ob wir auch tatsächlich Gurdas sind!« Er reißt die Mütze vom Kopf herunter und kichert. So, genauso ist der Junge gewesen: gehorsam und gutmütig. Nun sieht er so aus, als hätte er mit der Absicht, einen Alten nachzuahmen, ein Stück graues Fell über den Kopf gestülpt. Ich strecke die Arme aus und gehe ihm in bedächtigen Sprüngen entgegen, ich führe einen Ringertanz auf. Er springt aus dem Sattel, läßt das Pferd los und kommt, mit ebenso ausgestreckten Armen und ebenso in Sprüngen, auf mich zu. Wir bleiben voreinander stehen und klatschen auf die Schenkel, die nackt hätten sein sollen, es aber nicht sind. Wir kämpfen zuerst um den besseren Griff und versuchen dann, den anderen zu Fall zu bringen. Sembi hat starke, harte Hände. Er faßt mich derb an und beginnt mich hin und her zu zerren. Ich versuche, weicher und lockerer zu bleiben, um ihm plötzlich einen Ruck zu versetzen und ihn in dem Augenblick, in dem er aus dem Gleichgewicht geraten würde, an meinen Leib zu drücken. Was ich auch mache, aber er versetzt mir, wohl im Schreck, mit dem Knie einen so kräftigen Stoß gegen den Bauch, daß ich, anstatt ihn erst hochzuheben 242
und dann mich über ihn zu stürzen, mit ihm stürze. Keuchend und prustend vor Lachen kriechen wir auf allen vieren seitwärts, setzen uns aufrecht. Nun können wir Grüße austauschen und Fragen aneinander richten. Ich rufe Nordshmaa herbei, die verwirrt dasteht, und sage ihr, daß sie sich zu uns setzen soll. Der Gurdas steht auf, streckt ihr die Hand entgegen und sagt mit einer Verneigung: »Entschuldigen Sie. Ich bin Flößer und heiße Sembi!« Soeben ist er von der Flößerei zurückgekehrt und hat das Neueste im Ail gehört. Das waren die Mutmaßungen über die beiden Unbekannten, die man gestern nachmittag am Osthang des Harlyg-Haarakan entdeckt und seitdem verfolgt hat. Ein jeder, der durch das Fernglas auf sie schaute, hielt sie für jemand anderen: Steinbockjäger, Wurzelsammler, Geologen oder sogar Russen. Sembi aber hat gesagt: »Das ist mein Gurdas mit seiner Frau!« Er hatte gehört, daß wir da sind. Und als man ihn auslachen wollte, sagte er, daß er hinreiten und die beiden einladen würde. Nachdem ich diese Geschichte gehört habe, weiß ich, daß keine Ausrede helfen wird und wir uns seinem Willen fügen müssen. »Komm schon meinetwegen. Da ich mich, wie es sich gehört, heute ordentlich besaufen werde und da die Nacht ohne Prügelei nicht ausgehen wird, wenn nicht jemand von draußen dabei ist!« »Wieso das?« will ich wissen. »Hab ein hübsches Weib, nach dem sich alle Männer umschauen, wie mir vorkommen will. Und eine Schwiegermutter, die daran ihren Spaß hat, den Schwiegersohn aufzuziehen!« Keine Ausrede hilft: Nordshmaa muß reiten, und wir Männer gehen zu Fuß. Sembi erzählt von seinem Leben. Der Vater ist erst vor einem Jahr verstorben. Vom Tod der Mutter weiß ich, sie hieß Schoolugbaj und starb früh: »Sie muß nicht einmal die Fünfzig erreicht haben?« »Ach wo! Kaum war sie vierzig!« 243
Seine Frau heißt Bumbaj und ist um vier Jahre jünger als er. Seine Schwiegermutter ist die Witwe des Maarek. Diese Nachricht erregt, ja erschüttert mich: »Mensch, sag das bloß! Das wird bestimmt derselbe sein, dessen Namen auszusprechen einem verboten war!« »Es gibt nur einen Maarek«, sagt Sembi ruhig. Vom Maarek wurde uns erzählt, daß er ein Dieb, ein Diversant, ein Spion des Guomindang-China gewesen sei. Er wurde von der Volksmacht auf frischer Tat ertappt und hingerichtet. Alle späteren Volks- und Staatsfeinde, die in Tuwa erwischt wurden, galten als seine Komplizen. Daß er eine Familie, sogar Kinder haben könnte, war mir noch nie in den Sinn gekommen, mir kam es immer so vor, als wäre er eine der dunklen Gestalten aus der Vorgeschichte, obwohl ich hätte wissen müssen, daß ein Volks- und Staatsfeind, ein Spion immer in der Neuzeit, die bei uns 1921 ihren Anfang genommen hat, gelebt haben muß. Wir werden in allen Ehren empfangen, was bei den Tuwinen unüblich ist: Die Frau, schlank und fast mädchenhaft in Erscheinung und Bewegung, bekleidet mit einem blaubunten Arbeitskittel, wie ihn nur Industriearbeiterinnen in der Hauptstadt tragen, kommt uns am Hürdenrand entgegen. Während sie sich lachend und sich in den Hüften wiegend auf uns zubewegt, erwacht in mir wohl der Mann, der der weiblichen Schönheit nicht widerstehen kann. Ich vergesse, daß neben mir meine Frau und ihr Mann stehen, und ich blicke ihr mit der freudigschmerzlichen Hingabe entgegen, die der Hengst der Stute, der Hahn dem Huhn, der Rüde der Wölfin entgegenbringt. Und wie mir das bewußt wird, begreife ich mit einemmal den Gurdas, der an Eifersucht leidet und sie und auch sich selbst hin und wieder mit einer Prügelei heilen will. Die Schwiegermutter steht vor der Jurte mit einer Milchschale, die sie mit beiden Händen hält. Sie hält mir, bevor sie meinen Gruß erwidert, die Schale hin. Ich nehme sie beidhändig entgegen, koste davon. Es ist gekochte lauwarme Yakmilch, die 244
auf den durstigen Gaumen weich wie Öl wirkt. Ich nehme einen guten Schluck davon. Dann reiche ich die Schale an Nordshmaa weiter. Ein halbes Dutzend Kinder umringen die Enej, ich erkenne auf den Gesichtern ihre Züge wieder: eine gerade, kurze Nase, kleine, runde Augen und Augenbrauen, die sich im braunen Gesicht deutlich abzeichnen, wie gemalt. Die Jurte wirkt aufgeräumt, städtisch vornehm und fast ein wenig zu bunt: Vor dem breiten, kurzen Spiegel über den beiden Truhen im Dör sind ein halbes Dutzend Tierfiguren und andere Gegenstände aus lasiertem Porzellan nebeneinander aufgereiht, und die gerahmten Bilder, die inzwischen in der ganzen Mongolei in keiner Jurte fehlen und ebenso zu ihr gehören wie die buntbemalten Truhen, die verchromten Stahlbetten und der runde Blechofen, wirken hier mächtiger und bunter durch einige Ansichtskarten, die neben den Bildern von Familienmitgliedern und Verwandten behutsam angebracht sind. Bei dieser angestrebten Schmucklust und Buntheit fehlen zwei Dinge: die Wandteppiche hinter den Betten mit den gestrickten gelbroten kasachischen Ornamenten und die Fotos von den Führern der Partei und Regierung. Diese beiden Dinge gehören heutzutage in jede vornehme Jurte, hier aber fehlen sie. Wir werden von der Mutter wie auch von der Tochter überaus aufmerksam und gleichzeitig zwanglos behandelt wie alte Bekannte, und so fühlen wir uns sehr bald heimisch in der Jurte. Nach dem ersten Tee, der auch einen Nudeleintopf und eine Flasche Aragy einschließt, sagt der Hausherr zu uns, daß wir uns ausruhen sollen, bis neuer Aragy destilliert und neues Fleisch gekocht sind. Ich stimme dem gern zu, bitte aber meinen Gurdas darum, daß er etwas tut, um die Eltern über unseren Aufenthalt zu benachrichtigen. Worauf er freudig ausruft: »Ja, ich schicke einen Eilboten aus! Aber er wird eine blutfrische Hammelkeule für meine Nabelschwester und den Onkel mitnehmen!« Während Bumbaj das Bett für uns richtet, überlege ich: Wer ist seine Nabelschwester und wer sein Onkel? Ich finde die 245
Antwort erst beim Einschlafen. Das sind meine Eltern! Es fällt mir ein, daß Sembi zu meiner Muttersmutter, unserer Krummen Großmutter, öfters mit kleinen Geschenken gekommen ist. Sie hat ihm die Nabelschnur durchschnitten und war somit seine Nabelmutter. So stellt meine Mutter, die Tochter seiner Nabelmutter, für ihn eine Nabelschwester dar. Es ist schon Abend, bald Nacht, als wir erwachen. Ein großer Fleischtrog steht vor uns, und das viele Fleisch dampft so, daß es soeben aus dem Kessel herausgefischt worden sein muß. Wir stehen auf. Bumbaj sagt: »Gut, daß ihr euch hingelegt habt. Nun werden wir die ganze Nacht feiern!« Die Mutter und der Mann machen dazu ein billigendes, zufriedenes Gesicht. Als wir, erleichtert und erfrischt, in die Jurte zurückkehren, finden wir schon ein halbes Dutzend Gäste vor, von denen ich nur einen kenne. Es ist Düwschündshyrgal, ein Mann in mittleren Jahren. Mir fällt ein, daß ich sein Bild dieser Tage auf der Ehrentafel vor dem Bürogebäude des Kreisparteikomitees gesehen habe. Er ist wohl auch ein Flößer, und ein hervorragender dazu. Jetzt fällt mir auch der Name seines Vaters ein: Dshamdshaj hieß er. Ich kann mich nicht mehr auf den Mann besinnen, vielleicht habe ich ihn auch nicht gesehen, aber sein Name ist mir geläufig, man sprach von Düwschündshyrgal immer als vom einzigen Sohn des Dshamdshaj. Die Schwiegermutter stellt uns alle Anwesenden in der Jurte vor, und das ist wieder untuwinisch. Alle drei Frauen sind ihre Töchter. Bei ihrem Anblick denke ich mir, daß der Maarek ein schöner Mann gewesen sein muß. Er hatte also drei Töchter, und keinen einzigen Sohn? Zu Beginn essen wir Fleisch und trinken Brühe. Wahrlich, der Appetit kommt mit dem Essen. Nordshmaa und ich essen nach unserem Ermessen viel, doch die Gastgeber meinen, wir hätten nicht gegessen, sondern nur gerochen an dem Hammel, der uns zu 246
Ehren geschlachtet worden ist. Dann kommt der Aragy. Als ich die erste Schale entgegennehme, denke ich an Nordshmaas Bitte, mich nicht zu betrinken. So halte ich meine Sinne zusammen. Die Ailleute selber aber trinken, bedenkenlos, wie mir scheint, und es dauert nicht lange, bis sie sich einer nach dem anderen betrunken zeigen. Zuerst ist es die Mutter, die anstatt eines Liedes einen Schamanengesang anstimmt. Ich lausche gespannt, denn es ist eine Melodie, die ich noch nirgends vorher gehört habe. Aber die mittlere der drei Töchter, Dewisch, beginnt mit ihr zu schimpfen, sie nennt die Mutter ein schamloses altes Weib, dem nur noch fehle, verrückt zu werden. Die Mutter, die den Kopf hinund hergeschüttelt und zwischen Flüstern und Schreien den Himmel und die Erde beschworen hat, wird mit jedem Wort, das sie wie ein herübergeschleuderter Stein zu treffen scheint, leiser und stiller, und am Ende sitzt sie ganz still und stumm mit nach vorne gebeugtem Oberkörper, beide Hände um den Kopf, als müsse sie die wirren Gedanken in Zaum halten, die ihren Kopf bewohnen. Doch dies dauert nicht sehr lange, schon bricht sie in ein lautes Geschrei aus: »I-hij, i-hi-hij! Ich bin die Frau eines Esirgij, und so nehmt euch in acht vor mir, Leute! Ja, ich könnte als eine Esirgij-Witwe euch töten und anstecken, werte Genossen, die ihr am Ende aber genauso dreckige Mistkerle seid wie ich!« Die Tochter schimpft mit ihr nun noch lauter als vorher und sagt, man solle die Mutter aus der Jurte hinausschleppen und an einen Pflock anbinden, so wie man mit Verrückten zu verfahren pflege. Jetzt meldet sich auch die älteste der Töchter und unterstützt die Schwester. Die alte Mutter tut mir leid, und ich sage, daß man sie in Ruhe aussprechen lassen solle, was sie gern loswerden möchte. Ich rechne, als ich das sage, mit meinem unbegrenzten Gastrecht. Tatsächlich bringt dies die Schwestern alsbald zum Schweigen, also erkennen sie mein Recht als Gast an. Die Mutter rutscht zu mir, faßt mich am Knie an und sieht 247
mich an. Ich drücke ihr vielsagend die Hand und stimme ein Lied an. Die Gastgeber müssen nur darauf gewartet haben, denn sie fallen sofort ein. Die Maarektöchter haben alle eine gute Stimme, die sie von der Mutter geerbt haben müssen, denn diese singt ebenfalls mit, und zwar mit einer noch jugendlich hellen Stimme. Es graut schon der Morgen, als der Aragy alle ist und die Menschen auseinandergehen. Ich gehe mit Nordshmaa eine Weile spazieren und versuche, sie zu trösten, da ich annehme, sie wird, da sie der Sprache nicht mächtig, sehr wenig von der Nacht mitbekommen haben. Allein sie meint, es sei für sie interessant gewesen. »Das sieht dir unähnlich!« »Vielleicht bin ich seit gestern eine andere, eine neue!« Ich drücke sie fest an mich und denke: Vielleicht war sie eine andere gewesen, und der gestrige Tag mit der Nacht davor hat sie zurückverwandelt, und nun ist sie wieder das, was sie einmal gewesen! Wir kommen in die Jurte zurück und finden Bumbaj beim Bettmachen für uns. Der Gurdas und die Mutter schlafen schon. Wir aber wollen uns nicht erst hinlegen, wollen wach bleiben, und wenn die Sonne aufgeht, uns wieder auf den Weg machen. Ich sage das. Bumbaj sieht mich ungläubig an: »Zweimal Gurdas, und ihr wollt gehen, ohne euch in unserer Jurte ausgeruht zu haben?« – »Wir haben es doch!« »Bei schlechten Gastgebern bestimmt der Gast, heißt es!« »Es heißt auch: des Gastes Bitte – des Himmels Wille!« Bumbaj kichert auf und sieht mich so belustigt an. Ich dolmetsche Nordshmaa den Wortwechsel. »Eins zu eins!« sagt Nordshmaa fröhlich und fügt dem gleich hinzu: »Macht nur weiter!« Ich sehe Bumbaj an, daß sie uns nicht verstanden hat. So 248
dolmetsche ich es. »Nun!« schreit sie fast, als ob sie loskichern wollte, und ich sehe in ihren Augen die Lust aufflammen. Doch ich möchte lieber kein Feuer, ich sage sachlich: »Versteh uns bitte. Wir müssen übermorgen abreisen. Es gibt vieles, was noch erledigt werden muß. So koche lieber einen guten Tee, wir werden ihn trinken und uns wieder auf den Weg machen, wenn die Sonne aufgeht!« Bumbaj gibt nach und schickt sich, das Feuer zu entzünden. Nordshmaa und ich helfen ihr dabei. »Ist das nicht schön, daß wir den Abschiedstee nicht nur gemeinsam trinken, sondern auch gemeinsam kochen?« sage ich, und ich sage es, um unsere freundliche und feurige Gastgeberin zu trösten, da sie plötzlich still und nachdenklich geworden ist. »Das ist unüblich«, antwortet sie. »Siehst du, heutzutage strebt man, wo man es nur kann, das Unübliche an!« Bumbaj bleibt eine Antwort schuldig. Vielleicht hat sie nicht verstanden, was ich meinte. Vielleicht aber hat sie es auch zu gut, so gut verstanden, daß sie dazu nichts zu sagen brauchte. Der Fleischtrog, der immer noch fast voll wirkt, erscheint neben der Teekanne vor uns. Seltsam, ich spüre in mir die Lust, zuzugreifen. Auch Nordshmaa sagt nichts Ablehnendes. Ich zerschneide die Fleischstücke in dünne Scheiben und werfe sie abwechselnd in alle drei Schalen. Und sobald das Fett vom Rand her in dem heißen Tee zerläuft, entsteigt dem ein solcher Duft, daß man unwillkürlich an die blumenbunten Berghänge denken muß und uns ein dankbares Gefühl zum Altai überkommt. Unser guter Appetit und meine Fürsorge scheinen Bumbaj erneut zu erheitern. Sie erzählt während unseres Frühtees ununterbrochen kleine Alltagsgeschichten. Schon trifft die Sonne an den Dachreifen. »Wir müssen gehen«, sage ich. »So einfach?« fragt Bumbaj verwundert. »Ja!« 249
»Zu Fuß?« »Natürlich. Zu Fuß gehen ist doch gesund.« »Einmal hab ich schon deinem Wunsch nachgegeben. Nun geht es nach meinem Wunsch oder nach der Ordnung der Dinge: Ihr werdet zu Pferde zurückgebracht!« Mir tut der Gurdas leid, der so fest schläft und nun geweckt werden müßte. Bumbaj muß meine Gedanken erraten haben, denn sie sagt: »Ich werde euch hinbringen, was ich gern mache, schon deswegen, weil ich bei der Gelegenheit deine Eltern und deine Verwandtschaft kennenlernen und so die Glaswand zerschlagen möchte, die die arme Maarek-Familie und den berühmten Schynykbaj-Ail bisher voneinander getrennt haben mag!« Zu dritt gehen wir zu den Pferden und satteln sie. Dann gehen wir auf Bumbajs Bitte noch einmal in die Jurte. Sie zieht sich ihren Seidenlawschak an und holt dann aus der linken der beiden Truhen im Dör ein weichgegerbtes Rotfuchsfell und ein Büschel schwarzer Yakschwanzhaare. Sie schüttelt das Fell ein paarmal aus, legt darauf das Haarbüschel und trägt sie zu Nordshmaa auf beiden Händen, so wie man ein Hadak trägt. Nordshmaa blickt mich fragend an. Ich nicke ihr zu. Bumbaj bittet mich: »Erklär meiner Gurdas, Dshuruguwaa, daß bei uns kein Geschenk aus einem einzigen Gegenstand bestehen darf. So ist der Yakschwanz gedacht. Außerdem hört man, die Stadtfrauen tragen jetzt Yakschwanzhaar überm Kopf. Vielleicht kann sie es gebrauchen.« Nordshmaa hat das für sie Wichtigste, die Sache mit dem Yakschwanzhaar, verstanden, noch bevor ich es dolmetsche. »Was mache ich?« sagt sie mit bebender Stimme. »Dir wird schon etwas einfallen«, tröste ich sie. Wir lassen die Schlafenden zurück und verlassen die Jurte. Die Sonne steht erst ein Klafter über dem rauhreifweißen Rücken des Balyngty. Der Bach ist fast erfroren, das Glucksen des Wässerchens unter der Eishülle erinnert an ein kleines, schüch250
ternes Gelächter, das an Schluchzen grenzt. Die Luft ist sehr kalt und fühlt sich so greifbar deutlich an der Haut wie vorbeirinnendes Wasser voller winziger Eiskugeln. Ich stelle Bumbaj Fragen, die in der Ferne beginnen, aber Schritt für Schritt sich zu ihrem und ihres Vaters Leben hintasten. Sie antwortet willig und unverhüllt. Maarek stammte aus Ak-Sojan und ist in jeder Hinsicht ein vortrefflicher Mann gewesen. Als die große Verhaftungswelle begann und bald zur großen Schlächterei ausuferte, rief er die Angehörigen seines Stammes zusammen und bewegte sie zum Umzug über die schneebedeckten Bergrücken, die damals neuerdings als Staatsgrenze galten. Aber die Flucht mißlang. Maarek nahm alle Verantwortung auf sich, gestand, daß er ein Spion des Imperialismus sei und die Menschen vorsätzlich betrogen und zum Landesverrat beworben habe. Somit wird er erschossen, die Mittäter bekamen Gefängnisstrafen. Die Familie wurde ins Innere des Landes verbannt. Bumbaj kann sich an die ersten Jahre nicht erinnern, da sie noch im Mutterleibe vom Vater zurückgeblieben ist. Sie wächst in einer fremden Umgebung auf, die fremde Sprache wird zu ihrer Muttersprache, da die ihrer Mutter verboten worden ist und man sich auch untereinander in der Sprache der Herrschenden zu verständigen hatte. Als die Familie aus der Verbannung zurückkehrt, ist Bumbaj fünf Jahre alt. Sie kann sich an manche Einzelheiten erinnern. Es hat ein Baby gegeben, als man zur Heimkehr aufbrach, die viele Tage, vielleicht einen ganzen Sommer lang dauerte. Aber als man ankam, hat es das Baby nicht mehr gegeben. Viele Jahre später hat sie einmal die betrunkene Mutter sagen hören: »Was der Büttel mir in den Leib gezwungen hat, habe ich dort gelassen. Ich habe geahnt, wie man uns zu Hause empfangen würde, und wie hätte es wohl ausgesehen, wenn ich mit einem Stück fremden Fleisches und Blutes heimgekehrt wäre!« Bumbaj geht auf die Kinder zu, um mit ihnen zu spielen und 251
sich mit ihnen zu unterhalten. Doch man versteht sie nicht, und auch ihr bleibt unverständlich, was man zu ihr und auch untereinander sagt. Sie erlernt die Sprache schnell, aber zu Hause bedient sie sich weiterhin der Sprache, die sie vorher gesprochen hat. Bis eines Tages die Mutter sagt: »Ab heute verbiete ich euch und mir, in der Sprache zu reden, die nicht die unsere ist!« Oft kommt es vor, daß man es vergißt und in der alten Sprache etwas sagt. Aber da gibt es jedesmal eine Strafe von Seiten der Mutter. Und so legt man die Sprache ab, trennt man sich von ihr, und eines Tages merkt man: man hat sie fast verlernt. Sie leben abseits, in einem kleinen Ail, man sieht kaum einen von draußen, und dies viele Jahre lang. Das älteste der Kinder, der Bruder Oortaj, geht zur Schule und kommt nur noch zu den Ferien nach Hause, erzählt, daß er von manchen Lehrern und auch Kindern Esirgij-Brut genannt wird. Aber er erzählt auch, daß er sehr gut lernt und nach der Grundschule zur Mittelschule weitergehen und Lehrer werden würde. Allein nach der vierten Klasse wird er aus der Schule ausgeschlossen. Die Lehrer sagen: »Genug für dich!« Die Mutter scheint nur daraufgewartet zu haben, denn sie gibt die anderen Kinder nicht weg, und zu dem Lehrer, der jedes Jahr die Schulkinder einsammelt, sagt sie: »Auch meine anderen Kinder werden sehr gut lernen und so euch Ärger bringen!« Oortaj tröstet die Mutter, daß er zur Armee gehen und Offizier werden wolle. Doch man nimmt ihn nicht, als es soweit ist. Da verschwindet er. Die Mutter wird etliche Male zum Kreis bestellt, und dort wird sie verhört, aber sie weiß nicht nur nicht, wo ihr einziger Sohn geblieben ist, sondern sie droht sogar den Dargas, daß sie sich bei dem Großen Volkshural beschweren werde: hätte man den Jungen weiterlernen lassen und doch wenigstens ihn später zur Armee genommen, wäre es nicht soweit mit ihm gekommen. Da werden die Dargas etwas kleinlauter und versprechen ihr, den Jungen ausfindig zu machen. Was ihnen nicht gelingt. Aber eines Tages kommt ein Mann zu ihnen, der nicht mit ihnen 252
verwandt und darum auch bei ihnen noch nie gewesen ist. Er hat einen Brief von Oortaj bekommen und ist von ihm gebeten worden, die Mutter zu benachrichtigen, daß es ihm gutgehe. Später kommen auch andere Leute, und man erfährt mehr über ihn. Eines Tages bringt eine Studentin, die ihre Sommerferien in der Heimat verbringt, eine schwere Tasche, und diese enthält Geschenke, wie sie die Maarek-Familie noch nie bekommen hat. Die Studentin erzählt manches von seinem Leben. Doch verrät sie weder seinen jetzigen Namen noch den Wohnort, noch die Arbeit, der er nachgeht. Als die Studentin abreist, gibt ihr die Mutter ein paar weichgegerbte Lammfelle und ein Säckchen getrocknete Aarschy mit. Wenig später kommt eine Nachricht, die den Empfang des Antwortgeschenkes bestätigt. Die Nachricht enthält die Worte: »Jetzt erst glauben mir meine Frau und meine Kinder, daß ich eine Mutter und Geschwister habe!« Das ist vor einigen Jahren gewesen. Inzwischen wissen sie mehr, viel mehr, aber immer noch nicht seinen neuen Namen und seinen Aufenthaltsort. Er hat eine Frau aus dem äußersten Osten des Landes, und von ihr hat er fünf Kinder, zwei Mädchen und drei Jungen. Die Sonne steigt jäh hoch, entbrennt, und der Rauhreif taut zusehends. Und zugleich scheinen die Ebenen sich auszudehnen und die Berge zurückzutreten. Der Tag fällt mächtig aus, wie im Märchen. Man bereitet uns einen lauten Empfang im Ail. Auf Vaters Rücken klebt Aibora, auf Mutters Waantschi, hinter ihnen stehen andere Frauen und größere Kinder. Ich entdecke unter ihnen auch ein paar Kasachen, die aus der Nachbarstraße sein müssen. Auf einmal kommen die Kinder uns entgegengerannt. Ich sehe Aibora kämpfen, sie will runter und mit den Kindern rennen, aber Vater läßt sie nicht los. Bumbaj begrüßt die Eltern mit großer Hingabe. Dann wendet sie sich an die anderen. Es stellt sich heraus, daß sie mit einer Kasachin gut bekannt ist, sie redet diese mit Tschesche an, was 253
Mutter heißt. Tschesche eilt auf sie zu, gibt ihr die Hand, streichelt ihr die Backen und stellt ihr eine Frage nach der anderen. Bumbaj spricht Kasachisch wie eine Kasachin. Während Bumbaj die Schwatzlust der Tschesche stillt, fragen uns die Eltern, ob wir in der Nacht gefroren und uns gefürchtet haben oder ähnliches. Vater sagt, daß er mit Mutter geschimpft habe, da sie es gewesen sein muß, die uns auf den Gedanken gebracht hat, so ins Ungewisse hinauszufahren. Ich sage, daß wir weder gefroren noch uns gefürchtet haben. Ich hätte sagen können, daß wir als Mann und Frau zueinander gefunden haben, vielleicht. Aber das sage ich nicht. Kein Sohn kann hierzulande so etwas zu seinem Vater sagen, noch nicht. Die geschwätzige Tschesche kommt mit in die Jurte, die noch nicht aufgeräumt ist. Das stört mich ein wenig. Nordshmaa und ich machen schnell Ordnung. Mutter kommt mit dem Morgentee und lobt uns, da wir nicht nur zum frischen Tee gekommen sind, sondern auch die Jurte hergerichtet haben. Mutter sagt zu Tschesche: »Ich gieße dir nur halb voll, da der Tee dir nicht stark genug sein wird!« Die Tschesche aber meint, daß ihr der Arzt gerade tuwinischen Tee verordnet und sie sich daran auch schon gewöhnt habe, seit sie es mit dem Magen habe. Tatsächlich trinkt sie etliche Schalen mit. Mutter gibt ihr Magenkur-Ratschläge und sagt abschließend: »Komm mit, ich geb dir eine Magenheilwurzel!« Die beiden gehen. Ich habe nicht gewußt, daß sich Mutter mit Heilkuren und Heilpflanzen befaßt. So kommt mir der Verdacht, daß sie die geschwätzige Nachbarin weggeführt haben könnte, damit sie uns in Ruhe läßt. Nun beginnt das Gespräch zwischen Vater und Bumbaj. Er meint, sie wäre ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir erfahren, daß Vater um zwei Jahre älter als Maarek gewesen ist und die beiden sich gut gekannt haben. Einmal sind sie kasachischen Räubern nachgejagt, die inmitten der Nacht die Pferdehirten überfallen und eine Herde weggetrieben hatten. Maarek war ein guter Schütze und Vater ein guter Lassower254
fer. So haben sie einander gut ergänzt und die Herde wieder den Räubern entrissen. Seit dieser Nacht sind sie einander nicht mehr begegnet, und dann hat Vater gehört, was jener angerichtet haben soll. Bumbaj nimmt sich Zeit. Sie ißt noch die Buuds, die Nordshmaa und ich aus der Keule machen, die gestern Sembi herübergeschickt hat. Die Eltern haben nur ein kleines Stück für eine Brühe genommen. Dann trinken wir zu fünft noch einen Zweiliterkrug leer, der zu Vaters Vorrat gehört hat. Der Aragy hat lange gestanden, schmeckt darum ein wenig zu milde, aber gerade darum trinkt er sich gut. »Im Jahre des Schwarzen Tigers haben wir gedacht, es würde anders, besser werden für uns, endlich, da stellte sich aber heraus, daß es nur kurzer Frühling war und er nicht wie erwartet in den Sommer, sondern zurück in den Winter führte. Und inzwischen wissen wir, in diesem Leben haben wir als Maareks Nachkommen nichts mehr zu erwarten. Unser Schicksal ist vorbestimmt, auch das unserer Kinder ist von den ›Sünden‹ des Maarek überschattet, erst unsere Enkel können sich davon befreien, und sie endlich können eine saubere Biographie vorweisen und dürfen so auch als vollwertige Menschen und gleichberechtige Staatsbürger leben!« berichtet Bumbaj. Nordshmaa sucht und packt zusammen, was an Geschenken noch Übriggeblieben ist, und schiebt sie Bumbaj unter den Ann, als diese aufsteht. Der Gast errötet, hält inne und küßt Nordshmaa plötzlich auf beide Backen. Dann sagt sie auf mongolisch: »Ein stilles Glück und ein langes Leben wünsche ich dir, Gurdas!« Ich helfe ihr aufs Pferd und lege die Hand auf ihr Knie, und so lange blickt sie mir in die Augen. Aber dies dauert wohl nur eine Sekunde. Und das ist unser Abschied. »Hast du tatsächlich geglaubt, Vater, daß Maarek wirklich das war, als was man ihn hingestellt hat?« frage ich ihn, in die Jurte 255
zurückgekehrt. »Ach wo!« antwortet Vater und sieht mich mitleidig an in seiner milden, weisen Art: »Du wirst doch nicht etwa denken, daß das, was ich damals glaubte oder nicht glaubte, überhaupt etwas zu sagen gehabt hat?« »Wie auch heute«, meldet sich Mutter, »wo keiner euch fragt, genausowenig wie wir gefragt wurden. Man verteilt Auszeichnungen und Strafen im Namen des Volkes. Und dieses Volk sind wohl wir, oder?« Mutter ist eine zänkische Natur. Doch diejenigen, die auch im Namen dieser beiden alten Menschen zu reden glauben, werden sie nicht hören. Denn die sind weit. Weit wie der Himmel.
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Der zwanzigste Tag
5. September Es ist noch finster in der Jurte. Aber ich liege längst hellwach, sinne nach und ich spüre, auch Nordshmaa erwacht. Ich überfalle sie mit Zärtlichkeit und frage sie, ob wir nicht zu zweit in die Steppe gehen und den neuen Tag bei der Ankunft empfangen möchten. Wir erheben uns, ziehen uns an und gehen hinaus. Noch ist es dunkel hinter den Fenstern und unter den Dachreifen. Es herrscht auch Stille, allein es ist keine Totenstille: Das Wiederkäuen der Herden, die sich hier und dort zwischen den Zäunen niedergelassen haben, ergibt ein vielstimmiges Murmeln. Wir verlassen die Wege und verspüren, sobald wir die freie Steppe erreicht haben, die frische Brise der würzigen, kühlen Morgenluft in Nase und Lunge. »Du hast eine Nacht die Gletscherluft genossen. Laß dich nun eine Stunde lang mit der Steppenluft bewirten!« Nordshmaa schmiegt sich an mich: »Du hast mir mehr gegeben, als ich verdiene!« Es wird ein schwer-schöner Tag für uns. Denn wir müssen in allen Jurten unseres Ails den Abschiedstee trinken. Zu unserem Ail, der Vaters Namen trägt, gehören die Jurten von Galdarak, der jüngsten der drei Schwestern Vaters, von Horlu, dem ältesten der vier Söhne der Buja, der ältesten der drei jüngeren Schwestern Vaters, von Munsuk, dem zweitjüngsten Bruder des Horlu, Möndür, der jüngsten der acht Töchter des Sama, des jüngeren Bruders von Vater, Tögerik, der drittältesten der SamaTöchter. Aber weitere Einladungen von die Nachbarails folgen. Selbst257
verständlich handelt es sich hier um keine gedruckten Einladungen, wie sie heutzutage Mode sind. Es kommt ein vom Laufen erhitztes Kind, das da sagt: »Dshurugwaa agamnajny geep schaj ischsin didri.« – »Man sagt, Bruder Dshurugwaa möge kommen und Tee trinken.« Wer »man« ist, weiß ich, und so sage ich, damit keiner aus der Verwandtschaft beleidigt ist, daß wir kommen und den Tee trinken werden, sobald wir hier frei sind. Wir gehen zu den Jurten von Balmy, der Tochter des Stalin, zu Bakisch, dem ältesten Sohn der Balmy, zu Schöödün, dem einzigen Sohn der Orlumaa, die in weit zurückliegender Vergangenheit väterlicherseits mit uns verwandt gewesen ist, zu Botaj, dem kasachischen Geschichtslehrer, einem der zahlreichen Waisenkinder, die im Ail des Hylbang aufgewachsen sind und nun zu unserer Verwandtschaft gehören, zu Taanak, dem ältesten der drei Söhne des Badynasyn, dessen Frau väterlicherseits mit uns verwandt ist, und zu Dshanik, dem Ältesten der sechs Sama-Söhne. Dort, wo wir schon Ankunftstee getrunken haben, brauchen wir keine Geschenke mehr auszugeben. Aber zu Botajs und Taanaks gehen wir auf Geheiß Vaters und auf Mutters Rat hin mit Geschenken, da wir dort noch nicht gewesen sind. Wir trinken in jeder Jurte zwei Schalen Milchtee, das ist ein halber Liter, essen eine Schale Nudeleintopf, das ist ein Viertelliter, trinken dazu zwei Zwergschalen Aragy, das ist ein Zehntelliter. Wir erfüllen unsere Gastpflicht, da wir keinen in seinem Gastgeberrecht verletzen wollen und da wir die Redewendung »Schynykbajs Sohn und Schwiegertochter …«, die von uns zurückbleiben und noch lange kursieren wird, nur im Lichte, auf keinen Fall aber im Schatten zurücklassen wollen. Aber dann kommen wir zu unserem Recht: Wir bekommen Geschenke. Wobei die meisten aber unsere Kinder bekommen, obwohl sie nicht mit dabei sind: Zwei Lämmer und vier Zicklein, alles weibliche. Man schenkt keinem Kind ein männliches Lamm oder Zicklein. Dann sind es gut getrocknete Aarschy und 258
Gurud, Handbutter für den Tee, zerlassener und mit zermahlenem Aarschy, Boorsak und Sandzucker verrührter Rahm sowie weichgegerbte Lamm-, Zicklein- und Murmeltierfelle. Nachdem wir aus der letzten Jurte zurückkehrt sind und kein Kind mehr vorfinden, das auf uns wartet, um uns in eine nächste Jurte mitzunehmen, mache ich eine Bestandsaufnahme: Die Aarschy und Gurud schätze ich auf zehn, die Butter und Rahmmasse auf sieben Kilo. Ich komme auf 22 Felle, die Hälfte davon vom Murmel. Mutter meint, wir sollen die Felle vollzählig und von den anderen Sachen nur eine Kostprobe mitnehmen. Den Rest würden sie dann im Winter, wenn alles tiefgefroren ist, einem in die Stadt fahrenden Auto mitgeben oder zur Not gegen Bezahlung der Gebühren mit der Post schicken. Ich bestehe darauf, daß wir nichts mitnehmen, bis auf einen kleinen Beutel Aarschy und eine Zweiliterkanne Rahmmasse, womit wir unsere Gäste bewirten können, die zu uns kommen werden, um uns zu begrüßen. Mit allem anderen können sie machen, was sie wollen. Mutter ist dagegen, Nordshmaa ist dafür. Vater muß eingreifen. Er entscheidet so, wie Mutter es vorgesehen hat. Dem fügt er noch hinzu: »Ein jeder Haushalt ist nur dann gut, wenn er in der Lage ist, für seine Gäste zu sorgen. So lernt von vornherein mitdenken an die, die eure Schwelle betreten werden.« Später muß ich öfter an diesen Lehrsatz denken, wenn wir in unserer engen Stube Gäste bewirten und von ihnen lobende Worte über die Tuwinen hören, die große Könner in der Zubebreitung von weißen Speisen seien. Ebenso empfinde ich jedesmal Dankbarkeit gegenüber meinen Eltern, wenn ich Gästen gegerbte Felle schenke und als Gegengabe gute Worte über unser Land höre. Da kommt noch eine weitere Einladung. »Bajköl-aga bittet Sie zu einem Tee«, sagt das Kind, sie überbringend. Bajköl ist ein bekannter Mann. Er ist Lehrer in der Kreisschu259
le, ist ein Ringer mit dem Titel eines Bezirkselefanten. Aber es ist weder das Wissen, das in seinem Kopf steckt, noch die Kraft, die in seinem Körper wohnen soll, sondern die Trinklust, was ihn auszeichnet und auch bekannt gemacht hat. Außerdem wird ihm, Bajköl, zugeschrieben, daß er der Sohn des Mataj ist, der ein rechtschaffener Mann gewesen sein soll, ganz im Unterschied zu seinen beiden Brüdern Ötipkelgen und Talaskan, welche nicht nur bei den Tuwinen, sondern auch bei ihren eigenen Leuten in Verruf gekommen sind. Ein schwarzäugiges Kind hoch auf den Schultern und taumelnd, kommt Bajköl uns entgegen, als wir die Umzäunung durchschreiten, die neben der Jurte etliche Hütten aus Lärchenstämmen umschließt. Er begrüßt uns in lautestem Mongolisch, aber in der Art, wie er mir auf die Schulter klopft, mich dann noch umarmt und Nordshmaa die Hand schüttelt und sie auf die Backe küßt, ist mehr als nur Mongolisches, es ist fast europäisch. Doch dann, sobald wir in der Jurte sind, verwandelt er sich, wie mir scheint, in einen waschechten Kasachen. Seine Frau kenne ich mit Namen: Dingilgen. Die beiden Frauen geben einander die Hand und jede spricht den Gruß in der eigenen Sprache. Die Jurte ist mächtig und groß, betont sauber und kunterbunt: Wo das Auge hinschaut, trifft es auf Gestricktes. Es ist ein Durcheinander von Farben, die auf den ersten Blick jede für sich zu schreien, mit der Zeit aber, je länger man darin sitzt, zu- und ineinander zu finden scheinen und am Ende ein farbenprächtiges Ganzes ergeben. Für Nordshmaa ist dies die zweite kasachische Jurte, die sie gesehen hat. Sie ist überwältigt von all dem, was so eine Jurte, die von außen gewöhnlich ausschaut, in ihrem Innern enthalten kann. Bajköl und ich unterhalten uns auf kasachisch, und ich erfülle auch meine Dolmetscherpflicht, was nicht nötig gewesen wäre, da uns gemeinsam Mongolisch zur Verfügung steht. Der Tee ist so stark, daß er trotz der Milch, die beigemengt wird, grünlich 260
aussieht, was alles andere, aber nur nicht unser Geschmack ist. Doch sind wir höflich und absolvieren die Pflichtmenge von zwei Schalen. Da höre ich etwas, was ich zuerst für einen Scherz halte: Man will uns einen Hammel schlachten! »Das nächste Mal, wenn wir erneut zu Gast kommen, schlachtet ihr uns unseretwegen auch den Hammel«, sage ich friedfertig, doch der Hausherr widerspricht mir mit der Bestimmtheit Betrunkener: »Da lassen wir auch einen neuen Hammel schlachten!« Und dem fügt er in Mongolisch hinzu: »Wir haben, wie alle anderen auch, unsere Sitten, und wenn einer sie uns verletzt, sind wir beleidigt!« Nordshmaa versucht, ihm zu erklären, weshalb der Hammel lieber am Leben gelassen werden soll. Aber Bajköl redet weiterhin von seinen Sitten, und er sagt, daß nicht er sie sich ausgedacht habe. Ich winke resignierend ab. Bajköl verläßt mit selbstzufriedenem Lächeln die Jurte und erscheint bald darauf mit dem Hammel in der Tür. Das Tier steckt zwischen seinen Beinen, der Mensch steht über ihm und hält es beidhändig an der Gurgel. Er zerrt es gewaltsam weiter und kommt mit kleinen Schritten über die Schwelle und auf uns zu. Dann bleibt er vor mir stehen, so dicht, daß ich den heißen, würzigen Atem des Tieres spüre. »Es ist der Hammel, dessen Kopf wir mit des Himmels Genehmigung euch vorzusetzen gedenken. Gib ihm nun dein Bata, Gast!« sagt Bajköl feierlich. Ich berühre das heiße, warme Maul des Hammels mit dem dunkelbraunen Fell mit der Handfläche und spreche nach kurzem Überlegen: »Mögen sich deine Herdengenossen weitervermehren, und möge in deines Herrn Jurte immer Wohlstand herrschen wie am heutigen Tage!« Aber ich lasse mir Zeit, das »Allahuakpir-bissimilla« auszusprechen, dessen Sinn mir unbekannt ist, von dem ich jedoch weiß, es bildet das Ende eines jeden mohammedanischen Gebetes und Segensspruches. In Gedanken bitte ich das Tier, in dem noch Leben pulsiert, das aber im nächsten Augenblick ausgelöscht 261
werden wird, um Vergebung: Nicht unser Wille war es, und es wird auch nicht der des Himmels gewesen sein, dir das Leben auszulöschen. Aber wir sind schuld an deinem Ende. Doch sieh ein, vierbeiniger Bruder, so wie du unser Opfer bist, so sind wir Menschen Opfer der Sitten, die wir gedankenlos übernommen haben von den Vätern! Unsere Gastgeber, die mit ausgebreiteten und hochgehaltenen Händen dessen geharrt haben, sprechen den Segensspruch nach, und ich denke mit Wehmut: Es ist also vollbracht … Aber Bajköl führt den Hammel nicht aus der Jurte, sondern steigt von ihm ab, wirft ihn im Dör, dem unantastbaren, heiligen Ehrenplatz des Hausherrn und der Gäste, mit einem Ruck um, unmittelbar vor uns. Ich erschrecke, sage aber Nordshmaa, daß sie nicht erschrecken soll. Ich sehe, wie sie erbleicht und mit aufgerissenen Augen auf das Tier starrt, dem der Mensch inzwischen alle vier Beine zusammenschnürt. Das Tier liegt und wartet auf sein Ende. Es erhebt den Kopf immer wieder und schlägt damit gegen den Boden, aber da dieser mit Filz bedeckt ist, wird daraus jedesmal nur ein dumpfer Knall. In den großen gelben Augen, die sich verdrehen, glaube ich den Todesschreck zu sehen. Endlich steht Bajköl auf und wendet sich seinem Opfer zu. Die Kelintschek folgt ihm, hockt sich hin und schiebt eine Schüssel geübt unter den Hammelkopf, den jener inzwischen am Kinn gepackt hat. Ich greife nach Nordhsmaas Hand, sie ist eiskalt, und ich spüre heftiges Zittern. Ich sage ihr, daß sie sich lieber umdrehen soll. Doch sie reagiert nicht und starrt immer noch auf das Tier, das dem Tod rettungslos ausgeliefert ist. Schon sehen und hören wir, wie das Messer die Haut durchsticht und in das Fleisch eindringt. Nordshmaa fährt zusammen, wendet sich nun doch ab und vergräbt das Gesicht in den Lawschakschoß. Der dumpfe Schrei, der dem Tier entfährt – oder kam er von ihr? –, geht in ein lautes Röcheln über. Das Blut schlägt gegen die Schüsselwand, rauscht zuerst sehr hell, wird aber mit jeder 262
Sekunde, die vergeht, immer dumpfer, bis dann ein stilles Fließen hörbar wird, das am Ende wieder in helles Tropfen übergeht. Die Kelintschek schaut auf das schäumende Blut in der Schüssel, ihre Haltung drückt Gleichgültigkeit gegenüber dem sterbenden Tier und Ergebenheit gegenüber ihrem Ehemann aus. Die Kinder halten das Tier an diesem und jenem Körperteil fest und ergötzen sich, leise kichernd, an dem krampfhaften Zittern, das zu spüren ist. Der Strick wird gelöst, die Beine aber bleiben reglos stehen über dem leblosen Körper. Die Kinder gehen aus der Jurte, setzen ihr Spiel fort. Die Kelintschek geht mit der Schüssel zum Küchenteil der Jurte, Bajköl hängt den Hammel am linken Hinterbein an das obere Ende des Scherengitters der Jurte. Erst jetzt sehe ich, der Kopf ist gänzlich abgetrennt, er liegt eben dort, wo er als lebendiger Teil eines lebendigen Körpers sich erhoben, die bunte, vor Mordlust wimmelnde Umwelt in der Jurte wieder und wieder angestarrt und sich dann gegen den Boden geworfen hat, sich aufgebend und trauernd über sein nichtiges Haustierdasein und vielleicht auch über die Herzlosigkeit der Menschen, in welchen er bisher seine Beschützer gesehen haben mochte. Nun starren die toten Augen ebenso traurig, ja verständnislos in die Welt hinaus. Ich möchte sehr, ich bete fast darum, daß die emsig-gehorsame Kelintschek den blutigen Kopf davontrüge. Sie tut es schließlich auch, aber es hat lange gedauert. Nordshmaa richtet sich erst auf, als ich ihr mitteile, daß alles vorbei und der Hammel fortgetragen ist. Ihre Miene drückt Angst und Ratlosigkeit aus, sie ist wie verstummt. Die Kelintschek setzt den großen gußeisernen Kessel auf, gießt Wasser hinein und beginnt zu feuern. Das Fleisch ist gar, endlich! Mitternacht ist bereits überschritten. Es hat dreieinhalb Stunden gedauert. Die Kelintschek tritt mit einer kleinen emaillierten Schüssel, der Wasserkanne, der 263
Waschseife und einem Handtuch vor uns. Zuerst stellt sie die Schüssel vor sich hin, ich halte die Hände darüber, sie gießt mir Wasser darauf aus der Kanne und hält mir auch noch die Seife hin. Ich wasche mir die Hände und trockne sie dann an dem Tuch ab, dessen Ende sie nicht losläßt, was die Höflichkeit, die sie mir entgegenbringt, betonen soll. Dann rückt sie die Schüssel vor Nordshmaa, und nachdem auch ihre Hände gewaschen und getrocknet sind, wandert die Schüssel weiter zu dem Hausherrn. Mit diesem verfährt die Kelintschek genauso, geduldig und umständlich. Jetzt kommt die übervolle Schüssel mit dem Fleisch. Ich bekomme vom Hausherrn ein Messer gereicht, nun soll ich als Gast mein Recht genießen und auch meine Pflicht erfüllen. Mein Recht besteht darin, daß ich als erster von dem Fleisch koste, und meine Pflicht, daß ich dünne Scheiben schneide und sie jedem, der in der Runde sitzt, auf die Hand lege. Mein Recht genossen und meine Pflicht erfüllt, gebe ich das Messer dem Hausherrn zurück. Das darf man, das tut man in der Regel auch, obwohl es heißt: »Wer ein Messer hat, der ißt das, was ihm gefällt, und wer kein Messer hat, der ißt, was ihm gerade zufällt.« Nun ist es die Sache des Hausherrn, wie schnell er abschneidet und wie gut er einen jeden, der die Runde mitbildet, mit mundgerecht fertiggeschnittenen Fleischscheiben versorgt. Bald ist es soweit, alle werden satt. Der Fleischhaufen ist um die Hälfte eingesunken. Der Hausherr stellt wiederholt fest, daß wir nichts gegessen hätten, aber seine Stimme verrät dabei keinerlei Enttäuschung oder gar Kränkung, sondern eher Selbstzufriedenheit oder vielleicht auch Mitleid. Die Kelintschek wiederholt das, was ihr Gatte soeben gesagt hat, und auch ihre Stimme verrät etwas vom Glück des Gastgebers, der die Pflicht gegenüber seinen Gästen erfüllt hat. Sie räumt die Fleischschüssel und die Brühschalen weg und kommt noch einmal mit der Waschschüssel, der Wasserkanne und dem 264
Handtuch. Diesmal fehlt die Seife. Dann trinken wir den Schnaps aus. Bajköl spricht von einer weiteren Flasche. Da mische ich mich ein und sage, daß alle meine Wünsche mehr als erfüllt seien. Er lacht zufrieden und läßt es sein. Also ist das ein Angebot gewesen und kein Muß der Sitten. Doch meint die Kelintschek, daß wir den Abschiedstee trinken müssen. Der gehört dazu. Wir haben es bisher ausgehalten und werden das Stückchen auch noch aushalten, tröste ich mich in Gedanken. Zumal die Müdigkeit verflogen ist, die mich in den vorangegangenen Stunden so schlimm gepeinigt hat. Den Tee trinken wir fast mit Genuß. Wir hätten nach der ersten Schale die Hand darüber legen können, aber wir lassen noch einschenken. Wir haben nun als Gäste unser Recht genossen, unsere Pflicht erfüllt. Wir gehen Hand in Hand zurück, schlendern ohne Eile unter dem matten Schein der Sterne dahin und kühlen uns in dem Wind ab, der von den Gletscherhöhen in die Flußtäler herabfällt. Es ist, als ob der Wind, der über den Gipfeln des Altai geboren ist, in die Gedanken hineinweht und den Nebel davonträgt, der darüber gestanden hat am Ende eines Tages wie eine Staubwolke über den Spuren einer Karawane. Wir kommen an. Die Tür der Hütte steht offen. Das viereckige Schwarz, das aus dem Schimmergrau hervorsticht, erinnert an einen Schlund aus vergangenen Kindheitstagen. Ich weiß, gleich wird Vater hüsteln und Mutter sagen: »Endlich seid ihr also wieder da, Dhuruk?« Ich werde antworten: »Ja.« Und dann werde ich etwas sagen, was den, der darauf lauscht, merken läßt, daß ich nicht betrunken bin. Dies, damit die Eltern wenigstens die restlichen Stunden der für sie ohnehin schweren Nacht vielleicht doch noch schlafen können. Dann werde ich die Tür von außen schließen.
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Der einundzwanzigste Tag
6. September Der Tag beginnt mit einer Schale, die zerbricht. Aibora ist gestolpert und hat sie im Stürzen fallen gelassen. Der Tarak bildet weiße Spuren auf der kahlgefegten und festgetretenen graubraunen Erde, bevor noch die Schale den harten Boden erreicht. Ich erwache von dem dumpfen Knall, dem ein helles Klirren folgt, und warte auf die Schreckensrufe der Eltern und ihre schlurfenden Schritte. Aber es bleibt still, und so springe ich auf und trete aus der Jurte. Ich sehe Aibora liegen, sie wartet, daß jemand kommt und ihr beim Aufstehen hilft. Ich hebe sie hoch und helfe ihr auf die Beine. Sie hält den Blick gesenkt und schweigt. Ich klopfe ihr den Staub von den Handflächen und dem Kleid und frage, wo ihre Großeltern seien. »Großmutter ist zu Tante Möndür gegangen, um Wacholder zu holen. Wo Großvater ist, weiß ich nicht. Er war nicht da, als ich aufstand.« Ich höre ihrer Stimme Erleichterung an, sie hatte Schelte erwartet. Da sehe ich Mutter tatsächlich mit einem buschigen Wacholderzweig in der linken Hand herbeihumpeln, während die rechte den Gehstock umfaßt. Als sie der Scherben mit den Tarakspuren ansichtig wird, erstarrt sie: »Vaters Schale!« Aber dann fragt sie mich, ob ich Aibora gescholten habe, und zeigt sich beruhigt, nachdem sie meine verneinende Antwort gehört hat: »Man schimpft ein Kind nicht, wenn eine Schale zerbricht. So ist seit altersher die Sitte!« Im nächsten Augenblick erscheint Vater, und er sagt dasselbe 266
wie Mutter. »Du wirst aber Abu deswegen nicht etwa gescholten haben, Galdar-Urug? Das macht man nicht!« So sehr die Eltern über den Vorfall hinwegsehen möchten, es gelingt ihnen jedoch nicht, ihn zu vergessen: Ich höre einen Wortwechsel in der Hütte, der bald gedämpft, bald aber deutlich vernehmbar herüberdringt. Die beiden beschuldigen einander, auf das Kind nicht aufgepaßt zu haben. »Wie oft hab ich dir schon gesagt«, schrillt Mutters Stimme, »du sollst endlich aufhören mit deinem Leichtsinn, der einem Alten nicht ansteht!« »Wieso Leichtsinn, wo ich einen weichen Schleifstein brauchte für das Messer des Jungen, da du den guten Schleifstein weggegeben hast!« verteidigt sich Vater: »Schon am frühen Morgen kommst du bei anderen Leuten angehumpelt – hast du etwa gemeint, man hat sich über Nacht nach dir gesehnt?« »Hab ich dir nicht soeben gesagt, ich habe Wacholder geholt?!« »Wacholder, Wacholder! Daß ich nicht lache! Ein ganzer Sack hängt vor deinen Augen!« »Es geht um den von Artyschtyg, von dem ich dachte, er würde am besten geeignet sein für heute, wo die Kinder wieder auf den Weg gehen!« Die Schale ist älter als ich und meine Geschwister. Wir haben als Kinder alle daraus getrunken. Es gab auch andere Schalen. Alle außen bunt, innen weiß und glatt, wie man in späteren Jahren solche nirgends mehr sehen konnte. Mit der Zeit zerbrachen sie wohl, bis auf diese eine. Und von da an hieß sie Vaters Schale. Nun durften wir sie nicht mehr benutzen. Sie könnte neben der Tabaksflasche und dem Feuerzeug als ein Erbstück von Vater vorgesehen sein. Vielleicht sollte sie mir zufallen oder Aibora. Nun gibt es die Schale nicht mehr. Der Streit ist beendet, als wir zum Morgentee erscheinen. Jeder beteiligt sich an dem Morgentee, der heute Pflicht ist. 267
Aibora hat den Fußboden gekehrt und hängt den Pfriemengrasbesen an den Nagel neben der Tür. Vater hat mein Fahrtenmesser geschliffen, wischt es an einem Stück Zeitungspapier ab und steckt es in die Scheide. Mutter hat den Milchtee in beide Kannen gegossen und nimmt sich aus der ersten Kanne Deeshi zum Verspritzen. Bruder Galkaan reiht die Trinkschälchen um die gezinkte Schüssel mit Aarschy, Boorsak und Würfelzucker. Waantschi, der wieder mit seiner Großmutter in der Hütte geschlafen hat, da wir unterwegs waren, hat sich die Hände und das Gesicht gewaschen und hockt nun mit der ernsten Miene des künftigen Mannes zwischen dem Onkel und Großvater. Nordshmaa will schon ausschenken, aber ich gebe ihr zu verstehen, daß sie damit noch warten soll, bis Mutter mit dem Teeverspritzen fertig ist. Da die Tür sperrangelweit offensteht, sehen wir, wie sie mit dem zwölfäugigen Spritzlöffel und der Schale in der Hand an den Rauchopferstand herantritt, der aus einem dicken, meterhohen Lärchenklotz und einem flachen, blauen Schieferstein besteht. Das Weihfeuer, das gebrannt hat, als wir kamen, raucht jetzt nur noch. Mutter steht mit dem Gesicht zu uns und versperrt uns die Sonne, so daß sie als Schattenriß zu sehen ist. Mit Hingabe verspritzt sie den Tee. Ihre Bewegungen sind traumhaft langsam und erinnern sehr an die eines Tanzes. Was sie dabei spricht, ist nur in Bruchstücken und auch dies nur recht undeutlich zu hören. Aber ich weiß, es wird das bekannte Selbstgespräch sein, das die ganze übrige Welt als Hörer voraussetzt. Der Morgentee wird in feierlicher Stille getrunken: Ein Wort, das einer hin und wieder ausspricht, bleibt lange liegen in der Runde, ehe ein anderer es aufgreift. Es sind allgemeine Worte, die das Wetter, das Land, das Postauto, das Flugzeug, die Stadt, Zurückkehrende und Abreisende betreffen; es sind Feststellungen bejahenden Inhalts. Dann aber sagt Vater: »Wenn es allen gutgeht, so wird es auch 268
uns gutgehen. Eine jede Zeit bringt ihre eigenen Sitten zu den Menschen«, fährt er fort, »wer klug ist, überlegt, bevor er sich ihnen fügt. Ich habe von der städtischen Sitte gehört, wie man dem Tod begegnet: mit viel Tränen, lauter Klage und großen Ausgaben. Das kann den Nachbarn gut zusagen, uns Tuwinen aber nicht. Wir meinen, das, was man Tod nennt, muß sein und ist sogar gut, wenn er rechtzeitig, vor allem aber nicht vorzeitig erscheint. Ihr seht uns beide. Der Körper gleicht welkem Gras, das Gedächtnis einem Sieb. Der Mensch muß sich immer wieder erneuern, wie alles ringsum in der Welt auch. Ich sehe, wo einer stirbt, werden zwei geboren. Also denkt daran, mein Sohn Galdar-Urug und meine Schwiegertochter Nordshmaa, was ich jetzt sage, wenn euch die Nachricht ereilt, daß einer von uns beiden den Aufenthalt unter den Menschen beendet hat. Weder Tränen noch Klagen, noch große Ausgaben helfen uns dann. Wenn ihr uns Gutes tun wollt, so tut es, solange wir am Leben sind. Und solltet ihr dennoch nicht mehr zu allem kommen, was ihr mit uns vorhabt, so wißt ihr, daß es Menschen gibt, die uns kennen, und die Erde, die uns birgt. Solange diese dasind, werden auch wir dasein, in unseren Namen und in unseren Wünschen werden wir fortleben. Aber nicht nur das. Wir werden immer dasein als Teile dessen, zu dem andere ›Volk‹ sagen oder ›Heimat‹. So ist es immer: Es gibt den tötenden, den vernichtenden Tod nicht, vor dem sich die Menschen so fürchten.« Mutter stimmt ihm zu und spricht zu mir: »Ich habe es Gakaj, deinem Bruder, schon gesagt. Nun laß es auch dir sagen, Dshurug. Sperrt uns nur nicht in ein Betongefängnis ein, wie mancher es auch hierzulande mit seinen Eltern macht. In der Stadt, wo die Leute vornehm leben, mögen sie dann auch vornehm liegen, abgeschieden von der Muttererde und einander unerreichbar und uneinnehmbar. Wir aber hier, die wir wissen, daß wir nicht vom Himmel gefallen sind, wollen im Schoß unserer Muttererde ruhen und so leicht wie nur möglich in sie 269
einwachsen, um wieder als Gras zu sprießen, als Erde zu stauben und als Wind zu wehen!« Wir sind mit dem Morgentee noch nicht fertig, als der erste Besuch erscheint. Es ist Dedij. Die Eltern rufen wie aus einem Mund: »Uj, Darga!« Ich habe gehört, daß er der Nordshmaa ein Daaj sein soll. Aber Nordshmaa reagiert anders, als alle von ihr erwarten. Sie steht nicht auf, tritt nicht an den Daaj heran, um ihm die Backe hinzuhalten und sich beriechen zu lassen. Sie bleibt sitzen. Das irritiert alle, am meisten aber den, der ein Darga gewesen ist und nun auch noch ein Daaj sein möchte. Doch geht er schließlich zu dem Platz, der ihm als Gast gebührt, und läßt sich dort nieder. Später äußert sich Nordshmaa dazu: »Vielleicht ist er mir tatsächlich ein Daaj, wer weiß. Doch da er sich nicht gemeldet hat, solange ich Hilfe benötigte, so hat er sein Recht verloren, mit mir verwandt zu sein!« Etwas Stockendes und darum auch Quälendes lastet auf der Runde. Die pflichtgemäßen Fragen, welche die Eltern an den Besuch richten, vermögen es nicht davonzuscheuchen. Ein lebhaftes Gespräch kommt nicht zustande. Es folgen ihm andere Besuche. Sie bringen alle Briefe an ihre Verwandten mit, die in und um Ulan Bator leben. Es sind insgesamt neun Briefe, fünf davon sind mit Begleitendem versehen. Das sind weiße Speisen, Wacholder, Altaierde und Altaisteine, alles in winzigen weißen Stoffbeuteln, alle zugenäht und mit Adressen versehen. Die Bitte ist bei allen dieselbe: »Gib dem oder der dies oder das und richte ihm oder ihr aus, daß du mich gesehen hast!« »Kann man denn die Dinger nicht per Post schicken?« fragt Nordshmaa ungehalten, als ich ihr das dritte oder vierte Beutelchen gebe, auf daß sie es irgendwie wegverstaue in den längst prallen Reisesack. »Man kann es natürlich«, sage ich kleinlaut, »aber man tut es nicht, wie du siehst.« 270
Darauf erkläre ich ihr, weshalb das so ist: Der Postdienst ist neu, und man traut ihm nicht. Die bewährte Praxis dagegen, einem Reisenden etwas mitzugeben, hält an. Außerdem hat der Empfänger des Briefes oder der Sendung gleich jemanden, der weitere Auskünfte geben kann. So dient ein jeder Reisende als eine Brücke zwischen der Heimat und ihren ausgesäten Bewohnern. Allmählich versammelt sich die Verwandtschaft. Die Kinder halten sich im Hof auf. Denn die Jurte und die Hütte sind überfüllt. Die Frauen kochen einen Tee nach dem anderen. Ein Nudeleintopf wird gemacht, fünf Paar Hände beteiligen sich daran. An der Brust von dieser und jener hängt ein Baby. Mutter humpelt zwischen Jurte und Hütte hin und her und fragt immer wieder, was noch zu tun sei. Vater gibt mir das Fahrtenmesser mit den Worten zurück: »Ich werde es dir schärfen, sooft du kommst und solange ich noch da bin. Aber nachher mußt du es selber schärfen lernen, den passenden Schleifstein für den Stahl werde ich dir noch zukommen lassen.« Dann wendet er sich dem Sack zu, der prallvoll neben ihm liegt und darauf wartet, zugeschnürt zu werden. Auch ich hätte es machen können, indem ich den Rand zusammenspießte und dicht darüber mit einem dünnen Lederstrick umschnürte. Aber ich möchte meinem alten Vater die Freude lassen, die ihn jedesmal ergreift, wenn er auf diese Weise einen vollen Sack zuschnürt. Es so zu machen, hat er erfunden, und im Volk wird schon seit vielen Jahren sein Name damit verbunden. Nordshmaa hat mit den Kindern zu tun. Sie hat Waantschi gebadet, nun ist sie bei Aibora. Um zehn Uhr fahre ich mit dem Motorrad zu der Poststation, um zu erfahren, ob und wann das Postauto fährt. An dem Häuschen ist kein Mensch und auch kein Pferd, und an seiner Außentür hängt das große Schloß, das mir seit vielen Jahren bekannt ist. Ich fahre langsam auf der Hauptstraße und erkundige mich bei 271
jedem, den ich sehe, wann das Postauto wohl kommen könnte. Ich bekomme verschiedene Antworten. Es könne frühestens gegen zehn Uhr vormittags, spätestens gegen fünf Uhr nachmittags auftauchen. Als ich zurückfahre, höre ich: »Halt, Sohn des Tschynykbaj!« Es wurde tuwinisch gerufen, doch erkenne ich an der Aussprache des Namens meines Vaters, daß der Ruf von einem Kasachen kommen muß. Und da sehe ich auch den alten Sanabaj, der die Treppe seiner Wächterwarte heruntersteigt. Ich begrüße ihn auf kasachisch, er erwidert mir den Gruß auf tuwinisch. So geht es weiter, bis ich mit einem Mal doch ins Tuwinische überspringe. Ich tue es wohl aus Dankbarkeit, die viele Tuwinen ihm gegenüber empfinden müssen, weil er einer der wenigen Kasachen ist, die mit uns in unserer Sprache zu reden bereit sind. Ich erkundige mich nach seiner Gesundheit, nach der seiner Kinder und Enkelkinder, seiner Verwandten und aller in seinem Ail, nach dem Wohlergehen des Viehs, nach seiner Arbeit und nach dem Wetter in diesem Jahr und wie es nach seiner Voraussicht noch werden könnte. Er gibt auf alle Fragen bejahende und dankende Antworten. Damit hätte ich zu fragen aufhören, auf seine Gegenfragen antworten und weiterfahren können. Doch ich setze die Fragen fort, nun sind es aber konkrete Fragen. Ich will wissen, wie es seinem Sohn und meinem Gurdas Rakat geht, wo er ist, was er macht und wieviel Kinder er hat. Dann erkundige ich mich noch nach seiner Tochter Nasikat, die um zwei Jahre jünger als ich sein müßte, wenn auch sie mit acht Jahren in die Schule gekommen war. In den Augen des alten Mannes glänzen Tränen. »Dank dir, Sohn des Tschynykbaj!« spricht er mit zitternder Stimme. »Mich freut, daß du dich an meine Kinder immer noch mit Namen erinnern kannst!« Nun stellt er Fragen an mich, die ich gerne beantworte. Doch bald darauf fahre ich zurück zum Ail. Ein jeder kommentiert die Neuigkeit, die ich mitbringe, auf seine Weise. Aber dann einigt man sich darauf, daß ich nach 272
dem Essen noch einmal hinfahre und darum bitte, das Postauto auf unsere Ankunft warten oder sogar hierher fahren zu lassen. Dynggyj begründet die Richtigkeit dieses Vorschlages: »Höhergestellte auch nur schon aus unserem Aimak lassen sich dort abholen, wo sie abgestiegen sind. So braucht man doch nur zu sagen, daß ihr aus der Hauptstadt seid und dazu noch eure Dienststellungen zu nennen – der Postautofahrer wird schon hierherkommen!« Der gußeiserne Kessel, den man auch den Hammelkessel nennt, weil ein ganzer Hammel hineinpaßt, steht randvoll mit Nudeleintopf. Alle Schalen werden gefüllt, aber es sind ihrer zu wenig. So schickt man die Kinder zu den nächsten Jurten nach weiteren Schalen. Doch scheinen mehr Menschen da zu sein als Schalen, denn ich höre Dynggyj, die als die Älteste unter den Töchtern und Schwiegertöchtern im Ail die entscheidende Stimme hat, sagen: »Nun soll der Rest warten, bis Schalen frei werden!« Die Mütter füttern die jüngsten der Kinder, die größeren essen selbständig, oder sie warten darauf, daß Schalen frei werden. Dabei gehen sie vor der Haustür, die offen steht, hin und her und werfen dann wie zufällig einen Blick hinein. Die Esser schlürfen, einer lauter als der andere. Die Kinder, die auf Schalen gewartet haben, kommen eines nach dem anderen endlich an die Reihe, und auch sie schlürfen den Nudeleintopf wie um die Wette. Aibora ist unter ihnen. Dem Ausdruck ihres erhitzten Gesichts nach muß sie großes Vergnügen empfinden. »Eßt, meine Kinder, eßt!« ermuntert die Mutter. »Je sauberer ihr den Kessel aufeßt, um so eher wird euer Bruder Dshuruduwaa zurückkehren!« Ich fahre noch einmal zur Poststation und erfahre, daß die telefonische Verbindung mit dem Aimak gestört ist, daß man nun ununterbrochen an dem Apparat kurbelt, um zu erfahren, ob und wann das Postauto dort abgefahren sei. Ich hätte sagen können, daß ich vor einer Stunde hiergewesen 273
bin, und da hat an der Tür das Vorhängeschloß gehangen, das jetzt auf dem Fensterbrett liegt. Aber ich weiß, der Postangestellte würde sagen, ohne dabei auch nur mit der Wimper zu zucken, er sei die ganze Zeit dagewesen, er würde sogar die Anwesenden als Zeugen heranziehen, und alle würden seinen Diensteifer bezeugen. So lasse ich das und frage, wie lange es dauert, bis das Postauto wieder abfährt. Das sei völlig dem Fahrer überlassen, erfahre ich. Ich habe keine weiteren Fragen, kann die Unterhaltung, die ich unterbrochen habe, nicht länger stören. Ich verlasse das Häuschen. Und ich fahre langsam und auf einem Umweg nach Hause. Es ist wieder ein greller Tag. Die Horizontlinien zeichnen sich stechend scharf auf dem Blau des Himmels ab, an dem hier und da ein paar helle Wolken reglos stehen, gleich einer auseinandergescheuchten Lämmerherde. Der Altai liegt so nackt in der Sonne, daß ich den Abprall der Lichtstrahlen über Berg und Steppe zu sehen glaube wie das Fließen eines Flusses. Der Himmel und die Erde werden auf alle Fälle bleiben, denke ich mit Zuversicht. Der Gedanke fegt den Ärger über die Poststation endgültig aus meiner Brust, und ich fange an, laut zu singen: Behaltet mich im Blick bei Sonn und Schatten Meine Schneegipfel, ihr Ursprung des Wassers Erhör mich aus der Nähe und der Ferne Mein Himmel über allen Bergen und Seen Es ist die Melodie der Ulug-Garak, die zuerst eine Schamanin, dann uns eine Dshenge werden sollte, aber zum Schluß weder das eine noch das andere hat werden können. Eines Tages war das Mädchen verschwunden, die Menschen suchten es mehr als einen ganzen Tag, sie suchten viele Tage lang, und als man es fand und in den Ail brachte, schien es nicht wahrzunehmen, was ringsherum vor sich ging: Sie sang nur, sie sang in dieser Melodie, die vorher noch keiner gehört hatte, und die Worte waren an den Himmel und an den Altai und an alles gerichtet, 274
was dazwischen war: die Berge, die Steppen, die Täler und vor allem aber an die dreizehn großen Schneegipfel, die die drei Meere, dreiunddreißig Seen und dreihundertdreiunddreißig Flüsse speisten. Die Lippen des Mädchens waren aufgesprungen, die Augen und Wangen waren eingefallen, aber es wollte weder essen noch trinken, weder schlafen noch eine Rast sich gönnen: Es sang und sang. Ihre Stimme war heiser, doch die Worte waren zu verstehen. Alle hörten ihr zu. Manche alte Menschen weinten. Sie taten es wohl vor Mitleid mit dem Mädchen, aber auch vor Freude darüber, daß Tuwa nun eine neue Schamanin hatte. Diese war eine verfrühte Freude, da man noch nicht wußte, daß jegliches seine Zeit hatte und die Zeit der Schamanen erst einmal vorüber war. Vater steht auf der Hütte. Er hat nach mir Ausschau gehalten. Aibora kommt mir entgegengeflitzt und fragt, noch bevor ich das Motorrad zum Stehen bringen kann: »Hast du dich verfahren, Dshurugwaa-Aga?« »Nein, ich habe mich nicht verfahren«, antworte ich feierlich. »Ich kann mich nicht verfahren, solange ich im Altai bin, und auch nicht, solange ich weiß, wo und wie der Altai ist, Aibora!« Aibora lacht, wohl weil sie noch nicht verstehen kann, was ich damit meine. Mutter aber, die unserem Gespräch zugehört hat, fragt: »Hast du getrunken, Dshuruk?« »Nein, Mutter. Aber gesungen hab ich! Gesungen und bin dabei so schnell gefahren, wie ich wohl noch nie gefahren bin!« »Gut, daß du gesungen hast. Aber nicht gut, daß du so schnell gefahren bist. Das solltest du lieber nicht machen!« Vater, der auf einer Leiter von der Hütte heruntergestiegen ist, steht bei mir: »Bist du, Galdar-Urug, einem Fuchs oder einem Hasen nachgejagt? Die Staubfahne blieb stets eine ganze Stricklänge hinter dir!« »Ich bin keinem Fuchs, auch keinem Hasen, sondern einem 275
Gesang nachgejagt, Vater!« »Einem Gesang?« »Ja, einem Gesang! Dem Schamanengesang der Ulug-Garak! Er flog vor mir her, und ich mußte so schnell fahren, um ihn einzufangen!« »Es ist nichts anderes als Reiten.« Das ist Vater. Mutter aber gibt zu bedenken: »Wieso Ulug-Garak, wo wir unsere Pürwü haben? Du kannst doch ihre Gesänge singen, wenn es dich danach verlangt!« »Ich weiß nicht, Mutter, warum. Aber mit einem Mal hörte ich die Ulug-Garak singen. Ich sah sie noch als junges Mädchen mit zersprungenen Lippen und eingefallenen Augen und Wangen vor mir stehen. Ich sah sie, hörte ihre Stimme, nur die Worte ihrer Gesänge waren nicht zu verstehen, es war, als ob sie von einem Sturmwind fortgeweht wurden, so daß ich schnell fahren mußte, um sie einzuholen und einzufangen!« Ein Ruf ertönt, alle blicken auf. Es ist Schöödün-Aga, auf einem hinkenden, dunkelbraunen Pferd herangaloppierend: »Beeilt euch! Das Postauto ist da und will gleich wieder abfahren!« Wir laufen in die Jurte, unser Gepäck steht griffbereit. Nordshmaa und Waantschi sind angezogen, sind bereit aufzustehen und zu gehen. Aber Mutter bittet, daß wir noch etwas bleiben. Wir setzen uns, doch keine zehn Sekunden vergehen, da ertönt Schöödün-Agas Ruf von neuem, der uns zur Eile drängt. Ich schicke den Eltern einen fragenden Blick Vater sagt: »Nun, denn gut!« »Bleibt doch sitzen!« meint Mutter und ruft nach draußen: »Dynggyj, Tawak!« Ich höre, wie das »Tawak« von Mund zu Mund weitergegeben wird, wir hören auch das schwerfällige Schlürfen von Stiefelsohlen. Ich erkenne, es sind Erwachsene, Frauen, die hin und her 276
hasten. Für nichts und wieder nichts, denke ich. Aber ich versuche, Ruhe zu bewahren. Es dauert wieder nur wenige Sekunden, doch kommt mir jede dieser Sekunden quälend lang vor, so lang, daß die Geduld, die ich mir aufgezwungen habe, zu schwanken beginnt. Aber da erscheint schon Dynggyj, sie trägt die Speiseschüssel zum Frühtee auf beiden Händen. Das ist das Tawak. Nun kommt sie direkt auf mich zu und hält mir die Schüssel hin. Ich breche mir ein Stück Aarschy ab und stecke es in den Mund. Die Schüssel wandert weiter zu Nordshmaa, sie folgt meinem Beispiel. Waantschi, der zwischen seinem Großvater und seiner Großmutter hockt, verfolgt dies mit einem alles aufnehmenden Blick. Als die Schüssel zu ihm kommt, entnimmt er ihr, ohne zu zögern, einen Würfelzucker. »Ja, auch das ist weiß!« bemerkt Vater. Nun dürfen wir aufstehen und gehen. Der Hof ist voller Menschen. Ich sehe die aufgeregten Gesichter der Verwandten, sehe darunter aber auch ein paar andere, junge und alte: Es sind Kasachen, die vielleicht aus Neugier, aber auch aus verpflichtendem Gefühl gegenüber Nachbarn, mit denen man zwar abgegrenzt, aber ständig in Frieden und ab und zu in Freundschaft lebt. Ich trete an Vater heran, er faßt mich beidhändig am Hinterkopf und schaut mir in die Augen. Ich sehe winzige Tränen in seinen Augen, die heller geworden sind seit dem letzten Mal, als ich sie mir angeschaut habe. »Was alles auch geschehen mag, mein Kind«, spricht er leise, aber deutlich, »ich bin ruhig, da ich weiß, du bist nun erwachsen genug und wirst den richtigen Weg nicht nur für dich, sondern auch für alle finden, die auf dich angewiesen sind.« Darauf beriecht er mich an der rechten Backe. Als ich von Vater abwende, um meiner Frau und seiner Schwiegertochter Platz zu machen, die hinter mir steht und darauf wartet, von ihm berochen zu werden, klingen mir die Worte, die ich soeben gehört habe, noch in den Ohren, und ich 277
denke, daß er mit »Was alles auch geschehen mag« sein Ende meint, das nicht mehr fern sein kann. Später aber glaube ich, daß er damit mehr gemeint haben muß. Ich muß mich bücken, damit mich Mutter beriechen kann, ich spüre ihre zittrigen Hände an den Ohren und höre sie sagen: »Vergiß deinen Altai und deinen Homdu nicht, mein Kind, sie werden dir die Eltern ersetzen. Und sei zu deiner Nordshmaa immer gut, das ist ein Mädel, das eine Gabe des Himmels sein muß!« Dabei versuche ich, nicht in Mutters Augen zu blicken, da ich weiß, sie werden in Tränen schwimmen. Daraufhin wende ich mich meinen älteren Verwandten zu und einer nach dem anderen beriecht mich. Nun bleiben die jüngeren, sie warten darauf, von mir berochen zu werden. Ich erfülle meine Pflicht und stelle fest, daß die scharfen Gerüche, die ich bei der Ankunft so deutlich empfunden habe, sich für mich gemildert haben. Als ich die Kinder, eines nach dem anderen, mit beiden Händen am Hinterkopf fasse und am Gesicht berieche, flüchten die kasachischen Kinder. Ich habe Verständnis, denn auch ich hätte mich als Kind von keinem Fremden beriechen lassen wollen. Schon im stillen habe ich mich gewundert, warum SchöödünAga nicht wieder zum Aufbruch drängt. Nun erfahre ich, nachdem ich mich von allen verabschiedet habe, daß er mit unserem Gepäck bereits unterwegs ist, was für uns die Sache sehr erleichtert. Denn nun brauche ich mich nur auf das Motorrad zu setzen, Nordshmaa und Waantschi hinter mir aufzuladen und davonzufahren. Aber da fällt mir ein, daß ich mich von einer nicht verabschiedet habe: von meiner Tochter! »Wo ist Aibora?« rufe ich und beginne in der Menschenmenge nach ihr zu suchen. »Uj, ihr meine Guten!« erschallt Tante Galys Stimme. »Wo ist denn die Aiboraldang?« Diese Frage wiederholt sich wie ein Echoruf von hier und von dort wieder und wieder. Die Kinder 278
flitzen auseinander, gehen auf die Suche. Aber sie kommen zurück, ohne sie gefunden zu haben. »Was machen wir nun? Sollten wir nicht die Reise verschieben?« fragt Nordshmaa, und ihre Stimme verrät große Aufregung. Dieselbe Frage habe ich mir auch gestellt. Da entscheidet Vater: »Das Kind wird sich versteckt haben. Fahrt ab!« Während ich den Zündschlüssel ins Schloß stecke und Nordshmaa und Waantschi hinter mir auf das Motorrad aufgestiegen sind, fällt mir ein, daß ich mich auch einmal versteckt habe. Das war an dem Morgen, als die beiden Geschwister nach den Ferien wieder zur Schule mußten. Ich verließ die Jurte, während Vater die Pferde sattelte und Mutter die Geschwister fütterte. Ich versteckte mich in der Hürde. So sehr auch alle nach mir riefen, ich blieb unter den Schafen versteckt und weinte bittre Tränen, da ich nicht begreifen konnte, weshalb die beiden mich wieder alleine zurücklassen und zur Schule zurückkehren mußten. Mutter fand mich erst, als sie später die Herde auf die Weide trieb. »Ich habe mich als Kind auch versteckt«, rufe ich Nordshmaa zu. Sie versteht mich, ich spüre den Druck ihrer Hände an meinen Hüften und denke an Vaters Schale, die, am Morgen zerbrechend, mich aus dem Schlaf gerissen hat. Warum gerade heute? Und warum hat Aibora sie fallen lassen? Eine Antwort weiß ich nicht, aber ich weiß, wir werden zurückkehren in die Heimat, die im Kreuzwinde der leuchtenden Gletschergipfel des Altai ewig dasein wird.
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Glossar Aarschy (tuw.) getrockneter Quark in kleinen Brocken Aga (tuw.) Bruder, Onkel, Anrede für einen älteren Mann Ahurmasta Gottheit, mit dem tuwinischen »Dök Deeri«, »Blauer Himmel«, weitgehend identisch Ail (tuw.) Jurtengehöft Aimak (mong.) Verwaltungseinheit, Bezirk; in tuwinischer Redeweise ist jeder gemeint Altai/Homdu-Altai tuwinischer Teil des Altaigebirges, berühmt wegen seines Reichtums an Bodenschätzen, besonders Gold, Silber, Kupfer und Eisen Aragy (tuw.) Branntwein aus gegorener Milch Arate (mong.) armer Viehzüchter, tragende Säule der ehemals sozialistischen Gesellschaft Artel (russ.) Handwerkergenossenschaft, Manufaktur Aschgyjak (tuw.) Greis, Alter Attas (kas.) Namensvetter Awaj (tuw.) Schwester, Tante; Anrede für weibliche Verwandte väterlicherseits Baj (tuw., kas.) Reicher Barwa (tuw.) steifer Sack aus dem Fell eines ganzen Pferdes zum Aufbewahren von Jurtenutensilien beim Umzug Bata (kas.) Segensspruch Beg (kas.) Fürst; ältere männliche Verwandte des Ehemanns Bergen (mong.) Schwägerin, tuw.: »Dshenge« 280
Bödej (tuw.) die erste Jurte von Jungvermählten Boorsak (tuw.) in Fett gebackene harte Weizenfladen Buuds (tuw.) Nudelteigtaschen mit Fleischfüllung Byschtak (tuw.) Weichkäse, oft als festliche Speise verwendet Daaj (tuw.) Verwandte mütterlicherseits, die älter sind als der Sprecher; mongolisch: »Nagaz« Darga (mong.) Chef, Vorsteher, Befehlsgeber Deel mongolische Volkstracht Deeshi (tuw.) erster Tropfen oder Biß, »das Beste«, das es dem Himmel und den Geistern zu opfern gilt Dör (tuw.) gegenüber der Tür gelegene Seite der Jurte, gilt als Ehrenplatz Dombra (kas.) zweisaitiges Zupfinstrument Dongurtba (tuw.) mit kaltem Wasser verdünnte, durstlöschende gegorene Yakmilch Dshada (tuw.) gepolstertes Gestell aus zwei Stangen zum Beladen von Kamelen Dshele (tuw.) Bindestrick für Yakkälber und Fohlen Dshenge (tuw.) Schwägerin Dshesde (tuw.) Schwager Dshula (tuw.) Leuchte für kultische Zwecke, die mit zerlassener Butter zum Brennen gebracht wird Dshula-Fest ein großes Fest im Spätherbst Düüleesch (tuw.) Hochgebirgspflanze mit starker Wurzel und weicher, buschiger Krone Ej baj Aldajim (tuw.) Oh, mein reicher Altai 281
Enej (tuw.) Großmutter Eshej (tuw.) Großvater Gadaj (tuw.) höfliche Anrede zu einer hochbetagten Frau Gashyk (tuw.) Knöchel von Schafen und Ziegen, die dem Spiel, aber auch kultischen Zwecken dienen Gök Deeri (tuw.) Blauer Himmel, gilt bei den Nomaden als das Höchste Gögeer (tuw.) steifer Sack aus dem Fell eines ganzen Yaks zum Aufbewahren von gegorener Milch Großer Volkshural Präsidium des Parlaments der Mongolischen Volksrepublik Güpü (tuw.) wattierte, mantelartige Tracht Güüj (tuw.) Frau eines Daaj Gurud (tuw.) getrockneter Quark in größeren Stücken Hadak (tuw.) hellblaues, manchmal auch weißes Segenstuch für feierliche Anlässe. Es erfüllt in der Mongolei auch die Rolle des Blumenstraußes westlicher Kulturen Halcha (mong.) der größte und angesehenste ethnische Stamm in der Mongolei; seine Sprache ist heute Literatur- und Amtssprache Hendshe (tuw.) letztgeborene Schafe, die in einer eigenen Herde von Kindern beaufsichtigt werden; auch: jüngstes Kind Höne (tuw.) Bindestrick aus Yakhaaren für Lämmer, Zicklein Huda (tuw.) verschwägerte Verwandte Hürde (tuw.) geflochtene, meist tragbare Einzäunung für Schafe Hürgen-Ach (mong.) Schwager Huraj (tuw.) Segen wünschender Ruf 282
Jurte (mong.) transportable, zeltähnliche Zentralasiens; mit Filz gedecktes hölzernes Gerüst
Behausung
Konak (kas.) Gast, der in der Jurte übernachtet Kudaj (kas.) Himmel Kudaj-Konak (kas.) »himmlischer Gast«, als solcher gilt jeder in der ersten Nacht seines Aufenthalts Küpü (kas.) siehe Güpü Kulak (russ.) wörtlich: Faust; so wurden in der Sowjetunion Großbauern bezeichnet, übertrug sich auf wohlhabende Viehzüchter in der Mongolei Kumys (türk.) gegorene Stutenmilch, ein beliebtes Getränk bei vielen Nomadenvölkern, wirkt erfrischend und heilend Lawschak (tuw.) mantelähnliches Gewand für den Sommer Meschbet (kas.) Jacke, Weste, meist wattiert Naadam (mong.) wörtlich: Spiel; gemeint ist das Staatsfest der Mongolei am 11. und 12. Juli, die drei männlichen Spiele Ringen, Bogenschießen und Pferderennen sind die wichtigsten Elemente und der Höhepunkt des Naadam Nagaz (mong.) Verwandte mütterlicherseits, die älter sind als der Sprecher; tuwinisch: »Daaj« Nazagdordsh, Daschdordshijn Begründer der modernen mongolischen Literatur, geboren 1906, gestorben 1937; er studierte von 1927 bis 1930 in Deutschland, was ihm später große Schwierigkeiten einbrachte, u. a. Gefängnisstrafen Oshuk (tuw.) Feuergestell aus runden Eisenringen mit vier Beinen, nach dessen Vorbild wurde im Freien aus drei runden Steinen eine Feuerstelle hergestellt Salemdeme (kas.) Geschenk, oft in ein Tuch gewickelte Süßigkeiten, Fladen, getrocknete Quarkstücke 283
Schagaa (tuw.) Opfersäule aus Steinen, zugleich Neujahrsfest nach dem Mondkalender Schietscheeng (chin.) Auto Schoor (tuw.) flötenähnliches Blasinstrument aus dem hohlen Stiel einer Pflanze oder aus ausgehöhltem Weidenholz Schoralga (tuw.) ehrerbietender Gruß an die heimkehrenden Jäger, der zugleich das Recht auf den Anteil des Sprechers kundtut Sudur (mong.) Buch aus losen Blättern, meist in ein Seidentuch eingebunden Süjinschi (kas.) eine als Gegenleistung gedachte Gabe für eine gute Nachricht Sumun (mong.) Verwaltungseinheit, Landkreis Tamyr (kas.) wörtlich: Ader, Wurzel; im übertragenen Sinn: Freund, Gefährte Tangdy (tuw.) die tuwinische Bezeichnung für »Urianchai« Tarak (tuw.) Sauermilch, Dickmilch Tugrik Währung der Mongolei, ein Tugrik = 100 Möngö Tulup (tuw.) Sack aus einer nicht beschnittenen Ziegenhaut Ular (tuw.) Berghuhn, dessen Fleisch eine heilende Wirkung zugeschrieben wird Urianchai (mong.) eine ethnische Gruppe in der Mongolei, es handelt sich um Tuwinen, die ihre Muttersprache aufgegeben haben und mongolisch sprechen Usha (tuw.) Hammelrücken mit dem Fettsteiß, bildet den Mittelpunkt einer festlichen Tafel Yak langhaarige Rinderart des zentralasiatischen Hochgebirges
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