Zur Geschichte des Urchristentullls JosefBlank Gerhard Dautzenberg Helmut Merklein Karlheinz Müller MariaWaibel Alfons Weiser Herausgegeben von Gerhard Dautzenberg Helmut Merklein Karlheinz Müller
Einer Rechtfertigung bedarf das Thema dieses Bandes kaum. Unter den zahlreichen Beiträgen zu neutestamentlichen Themen fehlen neuere Untersuchungen und Darstellungen zur Geschichte des Urchristentums ; die Problematik ist bekannt: die Quellenlage ist meht als schwierig. In sechs Beiträgen v on Schü.lern des bekannten Würzburger Neutestamentlers Rudolf Schnackenburg bietet dieser Band neue Impulse -für eine Weiterführung der Thematik anhand konkreter Einzelthemen und aufgrund einer engen Textorientierung.
G erhard Dautzenberg (Gießen) untersucht den Zeitraum bis zur Abfassung des Markusevangeliums in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht, Helmut Merklein (Wuppertal) unter christologischem A spekt, während Maria Waibel (Würzburg) die in immer neuen A nsätzen sich kundtuende Praxis der urchristlichen Gemeinden bei der Übersetzung der Willensrichtung Jesu - am Beispiel des Fasten- und Sabbatgebotes - herausarbeitet. A ljons Weiser (Vallendar) stellt sich dem redaktionsgeschichtlich interessa~ten Thema des ersten Versuchs einer urchristlichen Geschichtsschreibung bei Lukas, Karlheinz Müller (Würzburg) verdeutlicht die unterschiedlichen Versuche neutestamentlicher Schriftsteller, die Verurteilung Jesu zum Tod am K.reuz- bei , der Missionierung im Römischen Imperium v erständlich zu machen. Der abschließende Beitrag von fosef Blank (Saarbrücken) richtet den Blick auf die sich schon im Urchristentum ankündigende Unterscheidung und Scheidung von Orthodoxie und Häresie. Die Beiträge - Rudolf Schnackenburg von Schülern zur Vollendung des -65. Lebensjahres gewidmet - bieten exemplarische Zugänge zu den zentralen Problemen, die sich der Geschichtsschreibung des Urchristentums stellen.
ZUR GESCHICHTE DES URCHRISTENTUMS
QUAESTIONES DISPUTATAE lIerausgegeben von
KARL RAHNER UND HEINRICH SCHLIER t Theologische Redaktion
HERBERT VORGRIMLER
Internationale Verlags schriftleitung
ROBERT SCHERER
87 ZUR GESCHICHTE DES URCHRISTENTUMS
Internationaler Marken- und Titelschutz: Editiones Herder, Basel
ZUR GESCHICHTE DES URCHRISTENTUMS Josef Blank Gerhard Dautzenberg Helmut Merklein Karlheinz Müller Maria Waibel Alfons Weiser Herausgegeben von Gerhard Dautzenberg, Helmut Merklein, Karlheinz Müller
HERDER FREIBURG . BASEL· WIEN
RUDOLFSCHNACKENBURG DEM LEHRER UND FREUND ZUM 65. GEBURTSTAG AM 5. JANUAR 1979 VON SEINEN SCHüLERN
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1979
Imprimatur. - Freiburg im Breisgau, den 27. August 1979 Der Gener~lvikar: Dr. Schlund Herstellung: Freiburger Graphische Betriebe 1979 ISBN 3-451-02087-4
Inhalt
Vorwort
7
I Gerhard Dautzenberg Der Wandel der Reich-Gottes-Verkündigung in der urchrist-
lichen Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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11 Helmut Merklein Zur Entstehung der urchristlichen Aussage vom präexistenten Sohn Gottes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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111 Maria Waibel Die Auseinandersetzung mit der Fasten- und Sabbatpraxis Jesu in urchristlichen Gemeinden. . . . . . . . . . . . . . . . . ..
63
'IV Al/ons Weiser Die Nachwahl des Mattias (Apg 1,15-26). Zur Rezeption und Deutung urchristlicher Geschichte durch Lukas . . . . . . ..
97
V Karlheinz Müller J esus vor Herodes. Eine redaktions geschichtliche Untersuchung zu Lk 23,6-12. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
111
VI fose/ Blank Zum Problem "Häresie und Orthodoxie" im Urchristentum.
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Vorwort
Im Blick auf die derzeitige Situation der neutestamentlichen Forschung bedarf das Thema dieses Bandes kaum einer Rechtfertigung. Denn obwohl die literarische Produktion zu neutestamentlichen Themen immer umfangreicher wird, gibt es in jüngerer Zeit nur wenige und außerdem relativ schmale Darstellungen der Geschichte des Urchristentums. Im deutschsprachigen Raum wäre hier zunächst Hans Conzelmanns "Geschichte des Urchristentums" zu nennen, die für weitere Kreise bestimmt ist (NTD Ergänzungsreihe 5, Göttingen 1969). Zwei Abhandlungen wurden im Rahmen einer Kirchengeschichte vorgelegt: Leonhard Goppelt, Die apostolische und nachapostolische Zeit (in: K. D. Schmidt-E. Wolf [Hrsg.], Die Kirche in ihrer Geschichte II A, Göttingen o. J. [1962]), und Eduard Lohse Anton Vögtle, Geschichte des Urchristentums (in: R. Kottje- B. Moeller, Ökumenische Kirchengeschichte I, Mainz-München 1970, 1-69). Hinzuzufügen sind schließlich noch die "Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums" von Helmut Köster und James M. Robinson (Tübingen 1971). Während frühere Forschergenerationen die neutestamentlichen Schriften vor allem als "Quellen" im historischen Sinn behandelten und befragten, scheinen sich diese Schriften in der gegenwärtigen Phase der Forschung mit der zunehmend verfeinerten Anwendung literaturwissenschaftlicher Methoden immer mehr dem historischen Zugriff zu entziehen. Hier mag ein Grund für die gegenwärtig geübte Zurückhaltung auf dem Gebiet des Urchristentums liegen. Hinzu kommt, daß manche Voraussetzungen, unter denen bisher Geschichte des Urchristentums geschrieben wurde, immer mehr unter den Verdacht eines Postulates geraten. So wird man z. B. an die Ausgangsthese von Hans Conzelmann, "Leben und Lehre Jesu" seien lediglich "Voraussetzung der Kirchengeschichte" (a. a. O. 1), die Frage 7
richten müssen, ob es sich hier nicht um ein bestreitbares forschungsgeschichtliches Dogma handele. Auch die traditionsgeschichtliche Differenzierung des Urchristentums in palästinisches Judencru:istenturn, hellenistisches Judenchristentum und hellenistisches Christentum, an der die neuere Forschung festhält, wird - jedenfalls im Sinn einer chronologischen Abfolge - zunehmend fragwürdiger. Muß nicht für die erste, zum Teil auch für die zweite Generation mit gleichzeitigen Entwicklungen, mit gegenseitigen Wechselbeziehungen gerechnet werden, auch wenn diese nur gelegentlich nachweisbar sind und noch kein Modell der Geschichte des Urchristentums in diesem Sinn zur Verfügung steht? Die vorliegenden sechs Beiträge verstehen sich als Sondierung des Terrains anhand konkreter und - wie uns scheintwichtiger Einzelthemen, die sich überwiegend eng am Text der neutestamentlichen Quellen orientieren. Sie wollen die Bandbreite und Dichte objektiver. Schwierigkeiten, die heute dem Projekt einer Geschichte des Urchristentums entgegenstehen, verdeutlichen, die Diskussion neu anregen und - so hoffen wir - selbst den einen oder anderen Beitrag zur Lösung der Problematik beisteuern. Gerhard Dautzenberg (Gießen) versucht, in der Dunkelzone zwischen Jesus, Paulus, der Logienquelle und Markus den "Wandel der Reich-Gottes-Verkündigung" als überlieferungs geschichtliches Movens urchristlicher Missionstheologie von höchster Virulenz nachzuweisen. Unter demselben Aspekt, nur mit umgekehrtem Richtungsfaktor und mit vorwiegend christologischem Interesse, ist Helmut Merklein (Wuppertal) bemüht, die Sonde traditions geschichtlicher Forschung zurück bis zur "Entstehung der urchristlichen Aussage vom Präexistenten Sohn Gottes" zu führen. Und Maria Waibel (Würz burg) beobachtet im Spiegel der heftigen überlieferungs geschichtlichen Bewegungen das Ausmaß der Auseinandersetzung urchristlicher Gemeinden mit der Willensrichtung J esu von N azaret in der Fasten- und Sabbat-Praxis anläßlich sich ändernder Umweltverhältnisse. Dem Problem der kritischen Sichtung und Bewertung urchristlicher Geschichtsdeutung und -konstruktion wenden sich dann die beiden Beiträge von Alfons Weiser (Vallendar) zur "Nachwahl des Mattias" und von Karlheinz Müller (Würzburg) zur lukanischen Szene "Jesus vor Herodes" zu. Sie geben exemplarisch zu bedenken, daß es nicht angehen kann, im Dienste des Aufbaus einer Geschichte des Urchristentums die redaktionellen Leistungen neutestamentlicher 8
Autoren gegen eine Historie der reinen Fakten zu stellen, sondern daß es nur darum gehen kann, auch die urchristlichen Redaktionen als integrale Bestandteile ein und derselben Geschichte des Urchristentums verständlich zu machen. Keiner Rechtfertigung im Konzept des vorliegenden Sammelbandes bedürfen die forschungs geschichtlichen Anmerkungen von Josef Blank (Saarbrücken) "Zum Problem ,Häresie und Orthodoxie' im Urchristentum". Jede künftige Darstellung einer Geschichte des Urchristentums wird sich mit der traditionsgeschichtlichen Tatsache arrangieren müssen, daß im Falle urchristlicher Gruppenkonflikte die Begriffe "Häresie" und "Orthodoxie" auf die beiden Seiten der gleichen Medaille zutreffen können. Was die vorliegenden Beiträge über das gemeinsame Sachanliegen hinaus eint, ist, daß sie von Schülern Rudolf Schnackenburgs verfaßt sind, der am 5. Januar 1979 seinen 65. Geburtstag feierte. Aus diesem Anlaß versammelten sich seine Schüler aus aller Welt vom 27. bis 31. Dezember 1978 - wie bereits vor fünf Jahren - im Kloster Oberzell bei Würzburg, um mit ihrem Lehrer wieder einmal das zu tun, was sie früher unter seiner strengen methodischen Zucht an der Alma Julia getan hatten: nämlich über Neutestamentliches nachzudenken und zu streiten. Nicht zuletzt sollte dabei auch bilanziert werden, was unter den verschiedenartigen Bedingungen der inzwischen erreichten Berufsfelder von der ehedem obligaten Haltung "historischer Kritik" geblieben war. Dieses Ziel des Symposions kam über eine Reihe von Themen zur Sprache, die exemplarisch Grenzen sichtbar machten, auf welche ein schulgerechter "historisch-kritischer" Umgang mit der Bibel in der Nähe akuter pastoraler Praxis notwendig stoßen muß: Referate über "Religionspädagogik und Bibel" (Alex Stock, Köln) und über die "Biblischen Implikationen der südamerikanischen Befreiungstheologie" (Claus Bussmann, Duisburg), vor allem aber die biographischen Notizen eines engagierten Seelsorgers zur historisch-kritischen Methode (Karl Georg Reploh, Essen) lösten intensive Diskussionen aus und füllten derart einen ganzen Tag. Das Hauptziel des Symposions war jedoch, Beiträge zu einer Geschichte des Urchristentums auszutauschen. Diesem Thema wurde ein beträchtliches Pensum an engerer exegetischer Arbeit gewidmet, die sich mit Vorträgen, Arbeitskreisen und Plenumsdebatten über zwei Tage erstreckte. Aus der Vielzahl der dazu vorbereiteten und zur
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Tagung eingereichten Themen wurden die Beiträge dieses Bandes ausgewählt und zu einer Festgabe für Rudolf Schnacken burg zusammengefaßt. Unter diesem Aspekt versteht sich der vorliegende Band als Zeichen herzlicher Hochschätzung und aufrichtigen Dankes des gesamten "Schülerkreises Rudolf Schnackenburg", wie er sich am Ende des vergangenen Jahres in Würzburg traf. Jeder der Teilnehmer dieser Tagung konnte auf grund der lebendigen und intensiven Weise, in der sich unser Lehrer und Freund an den Diskussionen beteiligte und sie bereicherte, erfahren, daß "der Alte", wie wir ihn durchaus respektvoll im Sinne des "Presbyteros" seit annähernd 20 Jahren zu nennen pflegen, doch der alte geblieben und wie wenig er trotz der inzwischen erreichten 65 Lebensjahre bereits zum "Jubilar" geworden ist. Wir wünschen ihm im Namen der vielen Schüler, daß es - ihm und uns zugute - mit Gottes Hilfe noch lange so bleiben möge. An der Herstellung des Manuskripts haben unsere studentischen Mitarbeiter und Assistenten, Herr Christof Bärhausen, Herr Klaus Dorn, Frau lnge Lehmenkühler, und vor allem unsere Sekretärinnen, Frau Greta Erhard, Frau Hannelore Ferner und Frau Gisela Vogelsang, erheblichen Anteil. Als Herausgeber danken wir ihnen dafür noch einmal an dieser Stelle.
Die Herausgeber
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I Der Wandel der Reich-Gottes-Verkündigung in der urchristlichen Mission Von Gerhard Dautzenberg, Gießen
1. Vorüberlegungen 1.1 Die Fragestellung in R. Schnackenburgs "Gottes Herrschaft und Reich" Als R. Schnacken burg im dritten Teil seiner vor nunmehr 20 Jahren erschienenen Studie" Gottes Herrschaft und Reich" 1 den Versuch unternahm, nach der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu auch die ReichGottes-Verkündigung des Urchristentums zu beschreiben, wies er am Anfang seiner überlegungen auf eine "erstaunliche Wende" hin, welche derjenige, der bis dahin die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu mit dem Autor verfolgt hatte, erleben müsse. Entgegen der Erwartung, daß die Jünger J esu nach dessen Tod "ebenfalls die Botschaft von der kommenden und hereinbrechenden Gottesherrschaft zum Mittelpunkt ihrer Predigt" machten, sei festzustellen: "Die Gottesherrschaft tritt unverkennbar in der apostolischen Heilsverkündigung zurück, und etwas anderes rückt ins Zentrum: die Botschaft von Jesus, dem Messias und Herrn."2 Mit diesem Urteil stand er durchaus nicht allein. Aus der Rückschau von heute her ist es sehr interessant, zu beobachten, daß R. Buhmann in seiner "Theologie des Neuen Testaments"3 eine ähnliche Position vertreten hat. Buhmann geht zunächst sogar von einer W eiterverkün-
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Freiburg i.Br. 1959; 4., um einen Nachtrag erweiterte Auflage 1965. A.a.O. 182. Tübingen 1953; im Folgenden zitiert nach der 5. Auflage (Tübingen 1965).
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digung der Verkündigung Jesu durch die Urgemeinde aus; in dieser Hinsicht sei Jesus für sie der Lehrer und Prophet gewesen. Er sei aber auch mehr gewesen, nämlich der Messias. Und so habe sie - "und das ist das Entscheidende- zugleich ihn selbst" verkündigt ... "Aus dem Verkündiger ist der Verkündigte geworden." 4 Es ist bekannt, daß Bultmann auf Grund dieser Einsicht die Verkündigung Jesu nur unter die Voraussetzungen einer Theologie des Neuen Testaments gerechnet und sie entsprechend knapp behandelt hat. Dagegen behält die ReichGottes-Verkündigung J esu in der offenbarungs- und heilsgeschichtlichen Konzeption R. Schnackenburgs durchaus ihre eigene Dignität innerhalb einer biblischen Theologie. Der Autor verfolgt sorgsam ihre Nachwirkungen auf die urchristliche Theologie, ja er ist bestrebt, sie -unter Anerkennung der mit dem urchristlichen Bekenntnis zu Jesus als dem erhöhten Herrn der Gemeinde erreichten "offenbarungs geschichtlichen Entwicklung" 5 - zum Maß urchristlichen und heutigen theologischen Denkens zu machen 6 . 1.2 Die "apostolische Heilsverkündigung" in differenzierter traditionsgeschichtlicher Betrachtung Das - wenn auch nicht immer geradlinige - Fortschreiten der neutestamentlichen Exegese, die weitere Verfeinerung ihrer Methoden und Fragestellungen in den letzten 20 Jahren scheint es zu erlauben, ja vielleicht sogar dazu zu nötigen, die Frage nach der nachösterlichen Reich-Gottes-Verkündigung erneut anzugehen. Die im Mittelpunkt der exegetischen und theologischen Diskussionen der SOer und anfangenden 60er Jahre stehende Größe "apostolische Heilsverkündigung" oder "urchristliches Kerygma" ist uns heute sehr fragwürdig geworden 7. Sie ist weder über die Apostelgeschichte und ihre Reden noch
4
A.a.O. 35.
R. Schnackenburg, Gottes Herrschaft und Reich (Freiburg i. Br. 41965) 185. Vgl. die Bemerkungen zum Verhältnis von Reich Gottes und Kirche a.a.O. 155.16lf; zur "theologischen Sprachregelung" a.a.O. 247f. 7 Bereits H. E. Tödt, Der Menschensohn in den synoptischen Evangelien (Gütersloh 1959, zitiert nach der 2. Auflage 1963) hat nachdrücklich auf die von Bultmann zwar erkannte, aber in seiner Konzeption außer acht gelassene Spannung zwischen der Weiterverkündigung der Verkündigung Jesu und der als entscheidend angesehenen christologischen Verkündigung hingewiesen: "Freilich zerbricht man mit diesem Gedanken die 5
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über die Analyse der vorpaulinischen Glaubensformeln zu erreichen. Damit soll keineswegs die Bedeutung dieser Zeugnisse für den urchristlichen Glauben in Frage gestellt, wohl aber darauf hingewiesen werden, daß wir vor einer Berufung auf das "Kerygma" den mühsamen und oft nur zu Hypothesen führenden Weg der traditionsgeschichtlichen Untersuchung und Rekonstruktion der ältesten Verkündigungsformen gehen müssen. Auch wenn 1 Kor 15,11 in nicht leicht bezweifelbarer Weise behauptet, daß alle Osterzeugen Tod und Auferstehung Jesu nach der Weise von 1 Kor 15,3-5 verkündigen, nötigt uns die traditionsgeschichtliche Analyse der neutestamentlichen überlieferung dennoch, mit unterschiedlichen nachösterlichen Verkündigungsformen zu rechnen. Unstreitig haben die neue ren Untersuchungen zur Logienquelle 8 , allen voran die Arbeiten von P. Hoffmann 9 , eine von den Traditionen der paulinischen Verkündigung wesentlich differierende Form urchristlicher Verkündigung, ja urchristlicher Reich-Gottes-Verkündigung freigelegt. Weniger einmütig ist die Forschung in der Frage, welcher Verkündigungsform sich die mit dem Markusevangelium einsetzende urchristliche Evangelienschreibungverdankt, die ebenfalls ein aktuelles Interesse an der Reich-Gottes-VerkündigungJ esu zeigt 1o . Die extreme - und extrem unwahrscheinliche - Lösung, daß das Markusevangelium aus einer Synthese zwischen einer paulinischen kerygmatischen Verkündigungsform und der palästinischen J esustradition entstanden sei, hat aber an Einfluß verloren 11. Ich werde im Folgen-
herrschende Auffassung, daß einzig das Passionskerygma die älteste und zentrale Gestalt der Verkündigung gewesen ist" (226). Zum Stand der Diskussion vgl. S. Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten (Zürich 1972) 28-31. 8 D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle (Neukitchen 1969); A. Polag, Die Christologie der Logienquelle (Neukirchen 1977); ferner die beiden in A.7 genannten Arbeiten. 9 P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (Münster 1972); deTS., Die Anfänge der Theologie in der Logienquelle, in: J. Schreiner - G. Dautzenberg (Hrsg.), Gestalt und Anspruch des Neuen Testaments (Würzburg 1969) 134--152; deTS., Jesusverkündigung in der Logienquelle, in: W. Pesch (Hrsg.), Jesus in den Evangelien (Stutt- , gart 1970) 50-70; ders., Rezension zu S.Schulz, Q (A.7): BZ 19 (1975) 104--115. 10 V gl. dazu G. Dautzenberg, Zur Stellung des Markusevangeliums in der Geschichte der urchristlichen Theologie: Kairos 18 (1976) 282-291. 11 Zur Diskussion vgl. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus I (Zürich-Neu kirchen 1978) 17-24.
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den einen anderen Lösungsweg andeuten. Schließlich wird auch die Vorgeschichte des paulinischen fvayyfAwv 'tOU XQLO'tOU meiner Meinung nach häufig zu schnell mit dessen aus den paulinischen Briefen erheb barer Gestalt gleichgesetzt, und dieses fvayyfAwv selber nahezu ausschließlich unter christologischem, aber zu wenig unter soteriologischem und eschatologischem Aspekt bewertet 12 . Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, so scheint durchaus Raum für eine Neuaufnahme der Frage nach der Reich-Gottes-Verkündigung im Urchristentum entstanden zu sein. Gerade am Wandel dieser Verkündigung müßte sich, wenn er feststellbar ist, ablesen lassen, wie "lebendig" sie war, in welcher Beziehung sie zur urchristlichen Christologie stand, welche Bedeutung ihr bei der Ausbildung der urchristlichen Theologie zukam.
1.3 Methodische Probleme Die genaue Beschreibung dieses "Wandels" wird durch die Eigenart unserer überlieferung und durch die Forschungslage insofern erschwert, als die Abgrenzung zwischen der mit den historischen Methoden und nach den anerkannten Kriterien 13 gewonnenen ältesten - sozusagen "authentischen"Schicht der Jesustradition von der unmittelbar anschließenden und diese in einen nachösterlichen Verkündigungsentwurf integrierenden urchristlichen Schicht nur mit einer methodisch kaum ausschließbaren beträchtlichen Unschärfe möglich ist, so daß unterschiedliche Urteile bzw. Echtheits-Urteile über so wichtige Logien wie Mk 1,15; Lk 10,9; Lk 7,22 par Mt 11,5 kaum vermeidbar erscheinen 14. Im allgemeinen wird man sich damit zufriedengeben
12 V gl. den leider nicht weiter methodisch reflektierten Einspruch von J. Schmid: "Es ist aber nicht zu übersehen, daß das Evangelium im übrigen Neuen Testament nicht bloß Kunde vom schon geschehenen Heilswerk Christi ist, sondern daß die Verkündigung des erst Kommenden, des endgültigen Anbruchs der Basileia und der Parusie Christi mit zu seinem Inhalt gehärt", in: A. Wikenhauser - J. Schmid, Einleitung in das Neue Testament (Freiburg i. Br. 61973) 205. Zu EvayyfA.LOv vgl. P. Stuhlmacher, Das paulinische EvangeliumI (Gättingen 1968); P.Hoffmann, Rezension zu Stuhlmacher: ThRv 70 (1974) 370-373; zu meiner eigenen Sicht vgl. vorläufig: G. Dautzenberg, Die Zeit des Evangeliums: BZ 21 (1977) 219-234; 22 (1978) 76-91, hier 76-83. 13 Vgl. zum Folgenden F. Hahn, Methodologische überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K. Kertelge (Hrsg.), Rückfrage nach Jesus (Freiburg i. Br. 1974) 11-77.32-40. 14 Zur Echtheitsdiskussion vgl. zuletzt H. Merklein, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (Würz burg 1978) 31-35.162-164 und die dort angegebene Literatur.
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müssen, daß sich Einzelergebnisse als möglich oder als wahrscheinlich erweisen lassen und daß sich das entworfene Gesamtbild bei zu fordernder innerer Widerspruchslosigkeit und .Wahrscheinlichkeit zu den übrigen Daten der Geschichte Jesu und des Urchristentums in Beziehung setzen läßt und Antworten auf in diesem Bereich diskutierte Fragen ermöglicht. Analoge Schwierigkeiten bestehen bei der Abgrenzung und Interpretation der späteren Stufen der Logienüberlieferung (Q). Man vergleiche nur die unterschiedlichen Entwürfe zur Redaktion der Logienquelle von D. Lührmann, P. Hoffmann, s. Schulz und A. Polag. Sofern es sich aber dort um die Auswertung von Beobachtungen an Logienkompositionen handelt, besteht doch ein breiterer Diskussionsspielraum und damit eine größere Wahrscheinlichkeit einer allmählichen Klärung.
2. Beobachtungen zur nachösterlichen Reich-Gottes- Verkündigung 2.1 Zum Verhältnis von Reich-Gottes-Verkündigung und christologischer Aussage in der Logienquelle
. Nachdem bereits eingangs zitierten Interpretationsmodell von "historischem Jesus" und "kerygmatischem Christus" wäre jede urchristliche Verkündigungsform erst dadurch als christlich ausgewiesen, daß die Verkündigung des Gekreuzigten und Auferstandenen ihr eigentliches Zentrum ausmachte. Das ist aber bei der Logienquelle nicht so. Für Q ist, wie P. Hoffmann lS feststellte, "die konsequente Bindung der Verkündigung an den irdischen J esus charakteristisch". Q sieht die eigene Verkündigung als Fortsetzung des Verkündigungswirkens Jesu in Israel. Seine Verheißung des Reiches Gottes für die Armen (Lk 6,20) leitet die programmatische Rede - und in der Endredaktion von Q die Darstellung seiner Verkündigung überhaupt - ein. In der Botenrede (Lk 10,2-16) erscheint die Nähe des Reiches Gottes ebenfalls als der eigentliche Gegenstand der Verkündigung und der Erwartung. Die christologischen Aussagen der Logienquelle bilden keinen zweiten Verkündigungs schwerpunkt, sondern sind der Ausrichtung
15 }esusverkündigung67; vgl. D. Lührmann, Redaktion (A. 8) 96f, der aber zu einseitig das Moment der Gerichtsankündigung in den Vordergrund stellt.
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der Reich-Gottes-Botschaft zugeordnet. Die Botschaft der Verkündiger ist durch die Autorität Jesu legitimiert. Jesus wird als der von seinem Volk und von J erusalem abgelehnte Prophet und Bote der Weisheit und vor allem als der kommende endzeitliche Richter, der Menschensohn, gesehen. In der Deutung seines Todes als Prophetenschicksal im Horizont der geschichtstheologischen Konzeption vom gewaltsamen Geschick der Propheten 16 zeigt sich, daß Reich-GottesVerkündigung und Christologie in einem einander bedingenden und stützenden Verhältnis stehen 17. Ohne die Botschaft des Boten brauchte man nicht von seinem Geschick zu sprechen und andererseits ist sein Geschick auf das engste verbunden mit seiner Ausrichtung des Willens und des Heilsratschlusses Gottes. Wenn freilich Lk 13,35 der von Jerusalem abgelehnte "Weisheits bote" Jesus als der kommende, endzeitliche Richter dargestellt und so die Prophetenaussage vom Menschensohnbekenntnis überformt wird 18, dann zeichnet sich auch in Q die Möglichkeit ab, daß statt der Botschaft Jesu Person und Geschick des mit dem Menschensohn identifizierten Propheten J esus in den Mittelpunkt theologischen Denkens und eines heilsgeschichtlichen Entwurfs rücken. Dieser Weg ist aber in Q nicht beschritten worden, vielmehr gewinnt zunächst einmal die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu durch die christologischen Aussagen erhöhte Dringlichkeit und, wenn möglich, verstärkte Gültigkeit 19, was ja auch durch die Wiederaufnahme und Intensivierung der Gerichtsverkündigung in Q bestätigt wird (vgl. Lk 10,10-15; 11,30-32; 12,8-10; 13,35). Dieses an Q gewonnene Ergebnis trifft sich in entscheidenden Punkten mit dem Ergebnis der Rückfrage nach der Geschichte der vorpaulinischen Auferstehungsaussage, wie sie zuletzt J. Becker 20 unter16 Vgl. die Monographie von O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten (Neukirchen 1967); zum Ertrag der jüngeren Forschungsgeschichte: M. L. Gubler, Die frühesten Deutungen des Todes Jesu (Freiburg/Schweiz - Göttingen 1977) 10-94. 17 P. Hoffmann, Jesusverkündigung 64; ders., Studien 187ff. 18 P. Hoffmann, Jesusverkündigung 56; Studien 189. 19 Vgl. P. Hoffmann, Studien 157f. 20 Das GottesbiJd Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in: G. Strecker (Hrsg.), Jesus Christus in Historie und Theologie. Festschrift H. Conzelmann (Tübingen 1975) 105-126.124f; auf die Bedeutung der partizipialen Auferweckungsaussage (vgl. Röm 4,24; 8,11; 2 Kor 4,14; Ga11, 1) hat meines Wissens zuerst G. Delling, Die Bedeutung der Auferstehung Jesu für den Glauben an Jesus Christus, in: W. Marxsen u.a. (Hrsg.),
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nommen hat. Becker stellt mit Recht fest, daß die (im Griechischen) partizipiale Wendung: "Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat" - die älteste Form der Auferweckungsaussage darstellt, daß sie primär Gottesaussage und nicht eine christologische Aussage ist und daß in ihr die Auferweckung Jesu als Ja Gottes zu dem am Kreuz hingerichteten Propheten J esus und zu seiner Reich-Gottes-Verkündigung, d. h. zu seiner Heilsansage und zu seiner Gottesbotschaft verstanden wird. Von einer Diskontinuität zwischen dem irdischen J esus und dem kerygmatischen Christus könne daher nur auf der primären Basis der Kontinuität gesprochen werden. 2.2 Die. Reich-Gottes-Verkündigung und die Erfüllung der Schrift. Zur Ausbildung eines theologisch geprägten Geschichtsverständnisses in Q Während Paulus die Verkündigung des endzeitlichen Evangeliums Gottes auf die mit dem Kommen Christi eingetretene heilsgeschichtliche Wende zurückführt (Röm 1, 1-4.16f; Gal1,4; 4,4), setzt Q diese Wende mit dem Auftreten Johannes des Täufers an. Nach Mt 11,13 haben alle Propheten und das Gesetz auf J ohannes hin geweissagt, nach Mt 11,12 ist die Zeit von J ohannes an durch die Gegenwart des Reiches Gottes inder Verkündigung Jesu und seiner Boten bestimmt. Q findet mit dieser hermeneutischen Regel zu einem eigenen expliziten Geschichtsverständnis, das einmal durch die auch schon die Verkündigung Jesu bestimmende Naherwartung des Reiches Gottes, andererseits aber auch durch die theologische Reflexion über die Qualität des vom Auftreten des Täufers bis zum Ende reichenden Zeitablaufs charakterisiert ist 21 . So kann dann auch die Reich-Gottes-Verkündigung selber als heils geschichtliches und endzeitliches Erfüllungsgeschehen verstanden und beschrieben werden, wie es in Mt 11,5 in deutlicher Anspielung auf jesajanische Endzeitdarstellungen (vgl. J es 26,19 f; 29,18f; 35,4-6; 61, lf) geschieht: "Blinde sehen und Lahme gehen;
Die Bedeutung der Auferstehungsbotschaft für den Glauben an Jesus Christus (Gütersloh 31966) 65-90.76 hingewiesen; vgl. jetzt ders., Geprägte partizipiale Gottesaussagen in der urchristlichen Verkündigung, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum (Göttingen 1970) 401-416.405-408. 21 Vgl. P. Hoffmann, Studien 60-79.
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Aussätzige werden rein und Taube hören; und Tote stehen auf und Armen wird frohe Botschaft verkündet." Dieses Logion knüpft an das Wirken und an die Botschaft Jesu an und versteht Jesus als den endzeitlichen Propheten nach Jes 61, 1f22, ohne daß auf dieser Ebene die oben festgestellte Relation von Verkündigung und Verkündiger verändert würde. P. Hoffmann 23 hat dieses Verhältnis mit dem Satz: "nicht der Bote schafft die Basileia, sondern die Basileia schafft ihn" - zu umschreiben versucht. In der Endredaktion von Q war dieses Logion in den stärker von der christologischen Frage bestimmten Kontext Mt 11,2-6 eingebunden. Das zeigt nicht nur der Makarismus Mt 11,6: "Heil dem, der an mir nicht Anstoß nimmt", sondern auch schon die einleitende Frage: "Bist du der Kom.,. mende?" (Mt 11,2). Sie soll zu der Einsicht führen, daß Jesus mit der von Johannes dem Täufer angekündigten endzeitlichen Richtergestalt, und d. h. für Q mit dem Menschensohn, identisch ist 24 • In der Perspektive des Verses Mt 11,5 wie auch der Komposition Mt 11,2-6 besteht zwischen christologischer Aussage und Reich-Gottes-Verkündigung ein denkbar enges und kaum aufheb bares Beziehungsverhältnis : die Gegenwart ist durch Werk und Botschaft des endzeitlichen Propheten Jesus selber als Endzeit, als letzte von der Reich-Gottes-Verkündigung geprägte Heilszeit vor dem Gericht des kommenden Menschensohnes Jesus bestimmt. Das bedeutet, daß sich im Horizont der nachösterlichen Reich-Gottes-Verkündigung in eigenständiger Weise ein endzeitliches Geschichtsverständnis entwickelt hat, welches dem paulinisehen, scheinbar nur christologisch orientierten Geschichtsverständnis entspricht. Diese sicher noch weiterer Präzisierung bedürfenden Beobachtungen lassen danach fragen, welche möglicherweise untergründigen Beziehungen zwischen dem Geschichtsverständnis der Logienquelle und dem der Paulusbriefe bestehen. Vorläufig mag es genügen, daß diese Frage überhaupt gestellt wird, auch wenn sie noch nicht beantwortbar ist. Wesentlich offener scheinen in dieser Hinsicht die Beziehungen zwischen dem Geschichtsverständnis von Q und dem ersten Teil des Summariums der Botschaft Jesu inMk 1, 15 zusein: "die Zeit ist erfüllt.
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P. Hoffmann, Studien 211; P. Stuhlmacher, Evangelium 219f. P. Hoffmann, Studien 204. Studien 21lf.
Nahegekommen ist das Reich Gottes". Im Unterschied zu gewissen vergleichbaren Aussagen aus der zeitgenössischen Apokalyptik (Tob 14,5; 4 Esr 4,36f; syrBar 40,3) spricht Mk 1,15 -wie Ga14,4- nicht von der Erfüllung von "Zeiten" im Plural, sondern von der Erfüllung der "Zeit" im Singular. Es werden nicht mehr einzelne Zeitstrecken bis zum Eintreten der Äonenwende in der Zukunft unterschieden 25 , sondern angesichts der Verkündigung des nahen Reiches Gottes rücken alle "Zeiten" zu der einen erfüllten Weltzeit zusammen, die der Endzeit vorausgeht oder vorausgegangen ist. Es mag auffallen, daß dieses heilsgeschichdiche Schema, das im Grunde mit dem aus Mt 11,5.12f erschlossenen identisch ist, in Mk 1, 15 ohne ausdrücklichen Schriftbezug erscheint (vgl. Ga14,4). Diese Beobachtung gilt aber ebenso für den ganzen Zusammenhang von Mk 1, 14f und ist daher (weiter unten) noch einmal aufzunehmen. In diesem Zusammenhang möchte ich nur nachdrücklich darauf hinweisen, daß die Formulierungen von Mk 1,14f, wenigstens wenn man von weiteren überlegungen über die Theologie des Markusevangeliums absieht, eine ähnliche Verhältnisbestimmungvon Christologie und Reich-Gottes-Verkündigung nahelegen, wie sie sich für Q ergeben hat. 2.3 Formeln der missionarischen Reich-Gottes-Verkündigung und ihr theologischer Hintergrund Vorgehen und Selbstverständnis der palästinischen Reich-Gottes-Verkündigung lassen sich, wie P. Hoffmann 26 in seiner gründlichen Analyse der Botenrede der Logienquelle gezeigt hat, wenigstens teilweise aus dem Q-Zusammenhang Lk 10,2-16 erschließen. Der älteste Kern der sorgfältig und mit großer inhaltlicher Konsequenz 27 gestalteten Botenrede stellt die Ankündigung des Reiches Gottes in einen bestimmten, an palästinischen Verhältnissen und an dem für Q charakte-
25 Dazu W.Harnisch, Verhängnis und Verheißung der Geschichte (Göttingen 1969) 277-283. R. Peseh, Das Markusevangelium I (Freiburg i. Br. 1976) 102, verwischt gerade die entscheidende Differenz zwischen Mk 1,15; Gal 4,4 und den jüdischen Belegen, wennerzuMk 1, 15 schreibt: "Die Vorstellung der ,erfüllten Zeit' (GaI4,4) ist im Frühjudentum weit verbreitet und insbesondere für das apokalyptische, den Geschichtsablauf nach Gottes Setzungen terminierende Denken charakteristisch". 26 P. Hoffmann, Studien 235-311. 27 Vgl. Studien 288.
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ristischen Erfüllungsdenken orientierten Zusammenhang. Die Boten sollen in "Häusern" wirken und dort wirksam den Friedensgruß ausrichten, am Leben und am Mahl der Hausgemeinschaften teilnehmen, die Kranken heilen und verkünden: "das Reich Gottes ist nahegekommen" (Lk 10,4b-7b.9). Mir scheinen folgende Beobachtungen wesentlich zu sein: Friedensgruß und Basileiaansage sind nach Jes 52,7; Nah 2,1 und nach dem zeitgenössischen Verständnis dieser Texte Aufgabe des endzeitlichen Boten bzw. der end zeitlichen Boten (vgl. Röm 10,15-17) 28. Di~ Jünger werden also in Analogie zum Verständnis J esu als des endzeitlichen Propheten als seine Mitarbeiter oder Nachfolger in der Reich-Gottes-Verkündigung gesehen. Ihre Mission gehört zum endzeitlichen Erfüllungsgeschehen. Und so wird auch durch die Verbindung von Heilungs- und Verkündigungs auftrag ein von Q festgehaltenes (vgl. Lk 11,20) und mit Hilfe der Schrift als Erfüllungsgeschehen gedeutetes (vgl. Mt 11,5) Charakteristikum des Wirkens Jesu auf das Wirken der Boten übertragen. Die Botschaft ~YYL'X.EV (Eep' 'Öl-tä.~) ~ ßaoLAELa 'tüV {}WV, die Mk 1, 15 im Munde Jesu erscheint, wird in Q (Lk 10,9) mehr oder weniger ausdrücklich der missionarischen Reich-Gottes-Verkündigung der Boten zugewiesen. Für ihre tatsächliche Ausformulierung im Zusammenhang der urchristlichen Mission sprechen in der Tat verschiedene überlegungen: das ~YYL'X.EV differiert von dem schwierigen und aller Wahrscheinlichkeit nach jesuanischen eep{}aoEv Lk 11,20. Diesem gegenüber könnte das ~YYL'X.EV auf eine Verschiebung der eschatologischen Perspektive von der betonten und provozierenden Gegenwartsaussage Jesu zur naheschatologischen Zukunftsaussage der frühen palästinischen Gemeinde hindeuten 29 . Die Annahme einer Gemeindebildung wird auch dadurch gestützt, daß EyY(~(J) in Deutero-J esaja gewöhnlich (Ausnahme: Jes 41,21) das Herannahen der Heilszeit bezeichnet (Jes 56,1; vgl. 50,8; 51,5)3°, so daß der Gebrauch des Verbums an dieser Stelle mit der in der Botenrede eingeschlossenen Deutung der ReichGottes-Verkündigung als eines endzeitlichen Erfüllungsgeschehens zusammenhängen könnte. Schließlich dürfte es wohl kein Zufall sein, sondern in der je unterschiedlichen Eigenart der Reich-Gottes-Ver28 Dazu G. Friedrich, EuaYYEW;,o~UL: ThWNTII 712-714.716; P. Stuhlmacher, Evangelium 137-153.247. 29 P. Hoffmann, Studien 300; A. Polag, Christologie (A.8) 29.69.175 Anm. 532. 30 H. Preisker, mur;,: ThWNT II 330f.
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kündigung Jesu und der urchristlichen Mission begründet sein, wenn eine solche lehrhafte und auf die zeitliche Komponente der Botschaft bezogene Interpretation und missionarische Ausformulierung der Reich-Gottes-Verkündigung J esu nicht zur ältesten J esusüberlieferung, sondern zur nachösterlichen Reich-Gottes-Mission gehört. Die Botenrede in Q mündet in eine Gerichtsdrohung gegen jene Städte aus, welche den Boten die Aufnahme verweigern (Lk 10,10-12). Diese Betonung der Gerichtsansage ist für die Israelmission der Gruppe Q charakteristisch 31 • Sie gründet, nach Ansätzen in der Verkündigung Johannes des Täufers und Jesu, auf der erfahrenen Ablehnung J esu und seiner Boten (Lk 11,49-51), auf der für Q bestimmend bleibenden apokalyptischen Naherwartung, auf der Erwartung des zum Gericht kommenden Menschensohns (Lk 12,8). Da die Boten nach Lk 10,16 die Sendung Jesu durch Gott weiterführen, droht den Städten, welche ihre Botschaft ablehnen, das gleiche Gericht wie den Städten, die angesichts der Machttaten Jesu die Umkehr verweigerten (Lk 10,13-15). Die Reich-Gottes-Verkündigung der Gruppe Q scheint mit ihrer Ansage des Heils, ähnlich wie Jesus selbst, ursprünglich keine eigentliche Umkehrforderung verbunden zu haben (vgl. aber Lk 11,3lf). Die Erfahrungen der Mission und die Reflexion über die Rolle der Verkündiger haben aber dann doch über die Gerichtsandrohung zu einer engeren Verbindung von Reich-Gottes-Verkündigung und Umkehr geführt. In Mk 1, 14f sind die Ansage der Nähe des Reiches Gottes samt der ihr vorausgehenden und sie ergänzenden Aussage von der Erfüllung der Zeit und die Umkehrforderung samt dem sie weiterführenden Aufruf zum Glauben an das Evangelium in einem knappen Summarium der Reich-Gottes-Verkündigung unter der überschrift "das Evangelium Gottes" zusammengefaßt. Dieses Summarium ist aller Wahrscheinlichkeit nach vormarkinisch 32• Wenigstens im heutigen Kontext will es zunächst als Zusammenfassung der Verkündigung J esu gelesen werden. Da diese aber als das "Evangelium Gottes" eingeführt wird, welches vom Auftreten J esu an bis zum Ende der Zeit unter allen 31 P. Hoffmann, Studien 307; D. Lührmann, Redaktion (A. 8) 99; zum Folgenden vgl. P.Hoffmann, Studien 185.187. 32 R. Schnackenburg, "Das Evangelium" im Verständnis des ältesten Evangelisten, inj P. Hoffmann (Hrsg.), Orientierung an Jesus. Festschrift J. Schmid (Freiburg i. Br. 1973) 309-324.318-321; R. Peseh, Markus Il00;}. Gnilka, Markus I 64f.
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Völkern (Mk 13,10; 14,9) verkündet werden soll und den Einsatz und das Zeugnis der Nachfolger Jesu fordert (Mk 8,35; 10,29), handelt es sich zugleich um eine programmatische Formulierung der vormarkinischen Reich-Gottes-Mission 33 . Im theologischen Ansatz ist Mk 1, 14f durchaus der für Q bestimmenden Reich-Gottes-Verkündigung verwandt 34 • Das konnten auch die bisherigen überlegungen zu 3tEJtA~Qo.)1:aL 6 XatQo~ xai. ~Y'YLXEV ~ ßaOLAELa 'tou il'wu und zum Thema der Umkehr zeigen. Der wesentliche Unterschied zwischen der Reich -Gottes-Verkündigung nach Mk 1, 14 f und nach Q liegt darin, daß sich die Reich-Gottes-Verkündigung in Mk 1, 14 f wenigstens scheinbar völlig aus der für die Reich-GottesVerkündigung Jesu und teilweise auch für die Reich-Gottes-Verkündigung der Gruppe Q typischen Verklammerung mit Verkündigungsund Lebenssituationen gelöst hat und als reine Lehre bzw. als reines "Kerygma" formulierbar geworden ist. So fehlen die für Q typischen Querverweise auf das palästinische Milieu (Mission in den Häusern), auf die gespannte politische Situation (Friedensgruß), die Begleitung der Botschaft durch die Zeichen der Heilszeit, durch Heilungen und Exorzismen, und schließlich die Bezeichnung der Adressaten der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu als der "Armen" (Lk 6, 20; 7,22; vgl. 10,21f), in deren Erwählung sich ebenfalls die prophetische Verheißung (Jes 61, lf) zu erfüllen beginnt. Wenn in Mk 1, 14 f nach dieser erkennbaren Konzentration auf den begrifflich formulierbaren Lehrgehalt der Reich-Gottes-Verkündigung J esu schließlich auch diese selbst die Bezeichnung 'to EuayyeALov 'tou il'wu = "das Evangelium Gottes" erhält, dann zeigt sich in formaler Hinsicht, daß erst mit der Reich-Gottes-Verkündigung der markinischen Tradition der überlieferte und komplexe Zusammenhang von Verkündigung und Wirken Jesu auf den Begriff der "Botschaft" gebracht werden konnte. Bei der inhaltlichen Betrachtung der Bildung 'to EuayyeALov 'tou il'EOU scheint sich zu ergeben, daß zwischen der verbalen, schrifttheologisch begründeten Aussage 3t'twxoi~ EuaYYEAL~E 'tat Mt 11,5 und dem EuaYYEALOv 'tOU il'wu von Mk 1,14 ein ähnlicher Abstraktionsprozeß stattgefunden hat wie zwischen den übrigen Bestandteilen der Reich-Gottes-Verkündigung nach Mk 1,14 fund ih33 34
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Vgl. G. Dautzenberg, Zeit CA. 12) 77-79.85f. Vgl. j. Gnilka, MarkusI 65.67.
ren Entsprechungen in der Reich-Gottes-Verkündigung der Gruppe Q. Der Anlaß zu dieser tiefgreifenden Umgestaltung der Reich-Gottes-Verkündigung muß in der Geschichte dieser Verkündigung 35 , näher hin in der urchristlichen Mission gesucht werden, und zwar in einer Mission, die sich von den palästinischen Entstehungs- und Verständnisbedingungen der Reich-Gottes-Verkündigung J esu und der Gruppe Q zunehmend entfernte. Dieser Schluß wird nicht nur durch den oben durchgeführten Vergleich mit der Reich-Gottes-Verkündigung von Q nahe gelegt, sondern ebenso durch die universale missionarische Ausrichtung der EuaYYEALOv-AussagenMk 13, 10; 14,9. Ja, ich glaube, daß schon in der Bildung 't0 EuaYYEALOv 'tou tl-EOU dieser universale Anspruch der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu enthalten ist. Das "Evangelium Gottes" gilt immer schon der gesamten Weh, seit J esus zum ersten Mal den göttlichen Heilsratschluß in Galiläa verkündete. So erklärt sich auch die im Rahmen der urchristlichen Reich-Gottes-Verkündigung einmalige Glaubensforderung JtLO'tEVE'tE EV't4'> EuaYYEALqJ Mk 1,15 d. Sie fordert im Unterschied zu Q (Lk 10,8.10) nicht ein "Aufnehmen" der Boten, was ja auch die Annahme der Botschaft (Lk 10,16: "wer euch hört") und ihrer Konsequenzen für das Verhalten oder besser: die Zustimmung zu dem an vielerlei Momenten erkennbaren prozeßhaften Geschehen der Reich-Gottes-Verkündigung einschließt, sondern unmittelbar gläubige Annahme der Botschaft, die von einer Wirklichkeit spricht, die nicht anders als durch Glauben erreicht werden kann. Es scheint mir in der inneren Logik dieser Gestalt der Reich-Gottes-Verkündigung begründet zu sein, daß in ihr, die auf so viele indirekte Hinweise der prophetischen und messianischen Evidenz der Reich-Gattes-Verkündigung J esu verzichten mußte, die urchristliche Christologie in einer viel offeneren Weise als in Q zur Autorisierung und Veranschaulichung der Botschaft herangezogen worden ist, wie sich aus einer Verhältnis bestimmung von Reich Gottes und Christologie im Markusevangelium ergibt 36 . Wenn diese Analyse auch nur einigermaßen zutreffend ist, würde uns Mk t, 14 f auf die Spur einer außerpalästinischen urchristlichen Missionsbewegung führen, die ähnlich wie Q die Reich-Gottes-Ver3S Zu Fragestellung und Methode vgl. die überlegungen von K. Müller, Apokalyptik III, in: TRE III 207-210. 36 Dazu vorläufig G. Dautzenberg, Zeit 83-87.
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kündigung Jesu weitertrug, die, was ja auch durch die Berührungen zwischen der markinischen Logientradition und der Q-Tradition nahegelegt wird, zunächst ein Stück gemeinsamen missionarischen und theologischen Weges mit den vor oder hinter Q stehenden palästinischen" überlieferungs trägern gegangen ist, sich aber dann gerade auf Grund eines weiterwachsenden Verständnisses der universalen Bedeutung der Reich-Gottes-Verkündigung J esu zur Mission unter den Völkern entschloß. Diese Gruppe muß nach unserer geläufigen Nomenklatur zum hellenistischen Judenchristentum bzw. zu dessen Anfängen gehört haben. Wenn sie das Konzept vom f1JayyfA.LOV m'Ü {}W'Ü ausgebildet hat, dann dürfte sie es auch an Paulus bzw. an die vorpaulinische Gemeinde weiter gereicht haben, mit den zu seinem Verständnis notwendigen Bezügen auf Deutero-Jesaja (Röm 10,15-17; Gal1, 15f), seinem Universalismus (vgl. Röm 15,14-21) und den das Verhalten der Missionare betreffenden Weisungen (1 Kor 9,14; vgl. auch Mk 10,29: "wegen des Evangeliums" mit 1 Kor 9,23: rtav1:a öi:. rtOLW ÖUl1:0 f1JayyEALOv). Diese Bewegung ist aber nach dem Ausweis des Markusevangeliums nicht in der paulinischen Mission aufgegangen, sondern hat ihre an der Reich-Gottes-Verkündigung orientierte überlieferung weitergetragen, bis sie Basis und theologischer Rahmen des Markusevangeliums und damit der synoptischen Evangelien geworden ist. Ich weiß, dies ist eine ungewöhnliche und zum Widerspruch reizende Behauptung. Sie ermöglicht es immerhin, einen großen Teil der in den neutestamentlichen Schriften dokumentierten Entwicklung der urchristlichen Theologie unter dem von Jesus selbst in den Mittelpunkt seines Wirkens und seiner Verkündigung gestellten Thema des Reiches Gottes zu sehen. Die noch folgenden Beobachtungen können eine sorgfältige traditionsgeschichtliche Untersuchung des Weges der urchristlichen Reich-Gottes-Verkündigung nicht ersetzen, sondern allenfalls auf einige ihrer Charakteristika aufmerksam machen. 2.4 Die Reich-Gottes-Verkündigung als Movens urchristlicher Gemeindebildung P. Hoffmann hat in seinen Studien zur Logienquelle die Reich-Gottes-Verkündigung in Q vor allem im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gruppe der Verkündiger untersucht und erschlossen. Es kann aber 24
kaum ein Zweifel daran bestehen, daß sich um diese Verkündigung Gemeinden bildeten, auch wenn deren Interessen sich nicht in der Redaktion der überlieferung abgezeichnet haben. Die "Häuser" und "Städte" der Botenrede (Lk 10, 5ff.8), in denen die Boten Aufnahme und Versorgung finden, weisen auf jeden Fall in diese Richtung 37 • Im Markusevangelium haben sich einige Traditionen erhalten, an welchen sich die gemeinde bildende Kraft der nachösterlichen Reich-GottesVerkündigung erkennen läßt. Am eindruckvollsten, und wenn wir die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu als Kriterium heranziehen, vielleicht auch am problematischsten, ist in diesem Zusammenhang die sogenannte "Parabeltheorie" Mk 4, 10-12. Sie lautet in ihrer vormarkinischen Fassung etwa so: "Und als er allein war, fragten ihn die, die um ihn waren, nach der Bedeutung der Gleichnisse. Und er sagte ihnen: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes übergeben (oder mit Mt 13,11 par Lk 8,10: euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu erkennen)38. Jenen, die draußen sind, geschieht alles in Gleichnissen, damit sie sehen und doch nicht sehen, hören und nicht verstehen, damit sie nicht umkehren und ihnen vergeben würde." Dieser Text ist aller Wahrscheinlichkeit nach schon vor der Redaktion des Markusevangeliums in die Gleichnissammlung eingeschoben worden 39 • Bereits die Gleichnissammlung als solche zeugte von einer intensiven Beschäftigung mit der 37 V gl. die religionssoziologischen überlegungen von G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung (München 1977) 21-26. Auf die Komposition und Redaktion der programmatischen Rede Lk 6,20-49 Q hatten zunehmend Gemeindeinteressen Einfluß. 38 Die Entscheidung darüber, welche der beiden Fassungen traditionsgeschichtlich älter ist, sollte nicht vorschnell gefällt werden. Für eine Priorität oder Gleichursprünglichkeit der MtlLk-Fassung gegenüber der Mk-Fassung könnte eine analoge Beobachtung an den paulinischen und deuteropaulinischen f!UOTT]QLOV- Aussagen sprechen: am Anfang steht die dem jüdischen Sprachgebrauch näherstehende Redeweise von den Geheimnissen (1 Kor 4, 1; 13,2; 14,2; 15,51); die Konzentration auf das eine Geheimnis der Offenbarung (Röm 16,25; Eph 1,9; 3,3.3f.9; 6,19; KoI1,26f; 2,2; 4,3) steht erst am Ende einer längeren innerchristlichen theologischen Entwicklung. "Geheimnisse kennen" entspricht wie "Geheimnisse verkünden" apokalyptischem und urchristlichem Sprachgebrauch; vgl. G. Dautzenberg, Urchristliche Prophetie (Stuttgart 1975) 152-156.234-238. TO f!UOTi]QLOV öEÖOTUL ist elliptische Ausdrucksweise gegenüber öEÖOTaL YVWVUL TU f!UoTi]QLa vgl. 1 QH 7,26f: "Denn du hast mich unterwiesen in deiner Wahrheit und deinen wunderbaren Geheimnissen mir Wissen gegeben". 39 Vgl. H. Räisänen, Die Parabeltheorie im Markusevangelium (Helsinki 1973) 114-127; die Zuweisung der Verse zur Markusvorlage bzw. zur markinischen Redaktion ist umstritten: H. J. Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten (Münster 1978) 245; R. Peseh, Markus I 227f; J. Gnilka, Markus I 162f.
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Frage von Gegenwart und Zukunft des von Jesus inaugurierten Reiches Gottes. Der Einschub zeigt nun, daß wenigstens von einem bestimmten Zeitpunkt an die Gleichnisse Jesu analog zu ähnlichen Vorstellungen in der Apokalyptik als geheimnisvolle Darstellung des Geheimnisses bzw. der Geheimnisse des Reiches Gottes verstanden wurden, die zu ihrem Verständnis der inspirierten und autorisierten Auslegung bedurften 40. Zugleich markiert die Teilhabe am so verstandenen "Geheimnis des Reiches Gottes" die Grenze zwischen der Gemeinde und "denen draußen". Die Frage nach den Geheimnissen 41 des Reiches Gottes legte sich in einer Gemeinde nahe, in deren Mittelpunkt die Reich-Gottes-Botschaft J esu nach Mk 1, 14 gerückt war. Die lehrhafte und fast ausschließlich zeitliche Akzentuierung der Reich-GottesBotschaft Jesu erforderte, je länger die Zeit bis zum Ende andauerte, um so mehr eine Deutung des ~YYL'X.EV, der geheimnisvollen Nähe des Reiches, der mit dem Kommen des Reiches zusammenhängenden Pläne Gottes. Diese Fragestellung ist auch schon in einer missionierenden Gemeinde denkbar. Die scharfe Trennung zwischen der Gemeinde und denen draußen und das angehängte Verstockungszitat in Mk 4, 11 f jedoch zeigen, daß für diese Gemeinde auf Grund von enttäuschenden Erfahrungen zumindest die Gefahr besteht, sich aus der Mission zurückzuziehen und sich nach Art apokalyptischer Konventikel abzuschließen 42 • Nach Ausweis der markinischen Redaktion ist der Evangelist nicht diesem esoterischen und exklusiven Verständnis der
Vgl. H.f. Klauck, Allegorie 257. Wenn auch weder für die Q- noch für die Markustradition eine Reich-Gottes-Verkündigung ohne christologische Aussagen denkbar ist, empfiehlt es sich doch, Mk 4,11 zunächst einmal von der Reich-Gottes-Thematik, die auch in den Gleichnissen erörtert wird, und nicht vom sog. "Messias geheimnis" her zu verstehen; vgl. S. Brown, The Secret of the Kingdom of God: JBL 92 (1973) 60-74; Peseh, Markus I, 240; Räisänen, Parabeltheorie 126: "Das Messiasgeheimnis muß als ein markinisches Theologumenon ohne die Parabeltheorie auskommen"; ders., Das "Messiasgeheimnis" im Markusevangelium (Helsinki 1976) 160. 42 Eine ähnliche Scheidung zwischen Gemeinde und Welt (äQXOvtE~ m'Ü aLiiivo~ 'toll1:ou) und dann noch einmal zwischen "Pneumatikern" und "Psychikern" entsteht auch in 1 Kor 2,6-16 an Offenbarung, Verkündigung und Verständnis der eschatologischen Geheimnisse, zu welchen Themen der Reich-Gottes-Botschaft gehört haben werden; vgl. G. Dautzenberg, Botschaft und Bedeutung der urchristlichen Prophetie nach dem ersten Korintherbrief, in: j. Panagopoulos (Hrsg.), Prophetie Vocation in the New Testament and Today (Leiden 1977) 131-161.140-151. 40
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Reich-Gottes-Verkündigung Jesu gefolgt 43 , obwohl er wie seine Gemeinde in der Erkenntnis des Geheimnisses des Reiches Gottes einen ihrer entscheidenden Unterschiede zur Welt gesehen haben wird. Von der gemeindebildenden Kraft der Reich-Gottes-Verkündigung zeugt in anderer Weise Mk 10,28-31. Wer um Jesu und um des Evangeliums, d. h. um der Reich-Gottes-Verkündigung willen (vgl. Lk 18,29: ELVEXEV Lfj~ ßaOLAELa~ LO'U {}wu), alles verlassen hat, gewinnt in dieser Zeit "Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder (zur Zugehörigkeit von Kindern zur Gemeinde und zur Begründung dieser Zugehörigkeit aus der Eigenart der Reich-Gottes-Verkündigung vgl. Mk 10,13-16) und Äcker", d.h. neue soziale und wirtschaftliche Bezüge, in denen er leben kann, Menschen als neue Verwandte, die gerade deshalb für ihn "Brüder und Schwestern" werden können, weil sie ebenfalls von der Reich-Gottes-Verkündigung bestimmt sind. H. Merklein hat in seiner Würzburger Habilitationsschrift "Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip"44 das Verhältnis von ReichGottes-Verkündigung und Ethik in der Botschaft Jesu gründlich untersucht und auf die im Titel der Arbeit genannte Formel gebracht. Wenn diese Verhältnisbestimmung in der ältesten Schicht der Jesusüberlieferung eingeschlossen und vorausgesetzt ist, so hat die nachösterliche Reich-Gottes-Verkündigung sie expliziert. In Q ist dies zum Beispiel durch die Komposition der programmatischen Rede (Lk 6,20-49) geschehen, in welcher nach der Intonation der Heilsbotschaft in den Seligpreisungen mit dem Gebot der Feindesliebe ebenso programmatisch die Forderung Jesu und das der Reich-Gottes-Verkündigung entsprechende Handeln genannt werden. In ähnlicher Weise drückt sich die Orientierung des Handeins an der Basileia in Traditionen des Markusevangeliums aus, deren Entstehung von der neueren Exegese in der nachösterlichen Gemeinde angesetzt wird; so z. B. in der Perikope vom großen Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, in der Jesus dem Schriftgelehrten, der ihm zustimmt,
43 Vgl. die auf den Evangelisten zurückgehende Relativierung der "Parabeltheorie" durch den Hinweis auf die Verständnislosigkeit der Jünger 4,13 b; die Verwendung des Verstockungszitats Jes 6, 9f (= Mk 4,12) in Mk 8,14-21; seine Voraussetzung, daß die Gegner die Parabeln verstehen Mk 3,23; 12,1.12; H. Räisänen, Parabeltheorie 110-127; ders., Messiasgeheimnis 50-56. 44 Vgl. A. 14.
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bestätigt, er sei nicht weit vom Reiche Gottes (Mk 12,34; vgl. Mk 10,23-27)45. In diese übersicht über die Bedeutung der Reich-Gottes-Verkündigung für die urchristlichen Gemeinden bzw. über den Wandel, den diese Verkündigung dabei erfahren hat, ordnen sich zwei paulinische Belege ein, deren Eigenart R. Schnackenburg in "Gottes Herrschaft und Reich"46 beschrieben hat. Sie sprechen in Analogie zu den zur Verkündigung Jesu gehörenden Gegenwartsaussagen (vgl. vor allem Lk 11,20: "Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist das Reich Gottes zu euch gekommen") vom Reich Gottes als einer das Leben der Gemeinde in der Gegenwart bestimmenden und normierenden Wirklichkeit. 1 Kor 4,20 - "denn nicht in Rede besteht das Reich Gottes, sondern in Kraft" - stellt an bestimmte Gruppen in Korinth die Frage, ob ihr zuversichtliches -Paulus sagt: "aufgeblasenes" - Auftreten von der Kraft des Reiches Gottes zeugt oder nur in Reden besteht. Röm 14,17 - "das Reich Gottes ist ja nicht Speise und Trank, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist"nennt Qualitäten des Reiches Gottes, die in der Gemeinde vor allem anderen Wirklichkeit werden sollen. Angesichts dieses Ziels (Röm 14,19: 'tu 'tii~ dQ~v'YJ~ ÖlW",oflcV) sind Streitigkeiten über erlaubte und verbotene Speisen, ja über Speisen überhaupt unangemessen. Wer sich um Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geist bemüht, wer sie und damit das Reich Gottes in der Gemeinde zur Wirkung und Wirklichkeit kommen läßt, dient Christus dem Herrn der Gemeinde (Röm 14,18). Zweifellos stehen diese Aussagen nicht im Zentrum der paulinischen Ekklesiologie. Paulus formuliert sie zwar neu, aber wohl doch in Anlehnung an Traditionen, in denen die Wirklichkeit der Gemeinde an der Reich-Gottes-Verkündigung J esu gemessen, von ihr her bestimmt und in denen die urchristliche Geisterfahrung als Gabe der schon wirksamen Basileia verstanden wurde 47 • Hier zeigt sich ein weiteres und m. E. wichtige Indiz dafür, daß die paulinische Christusver45 Vgl. H. Merk/ein, Gottesherrschaft 105; zu Mk 15,43 vgl. G. Dautzenberg, Zeit (A. 12) 8M. 46 202-204. 47 Zum Geist als Kraft der Basileia vgl. Mt 12,28diff. Lk 11,20; Mk 3,28f par Lk 12, 10: Mk 13,11. 1 Kor -I, S: "Ihr seid schon satt, ihr seid schon reich, ihr seid schon ohne uns zur Herrschaft gelangt" variiert einerseits die an der Basileiabotschaft Jesu orientierten
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kündigung aus einer allmählichen Transformation der urchristlichen Reich-Gottes-Verkündigung hervorgegangen ist bzw. -theologisch gesprochen- eine Neuformung der Reich-Gottes-Verkündigung darstellt. 2.5 Die Reich-Gottes-Verkündigung und das Jesusbild der synoptischen Tradition Die nachösterliche, urchristliche Reich-Gottes-Verkündigung ist, wie schon in den überlegungen zu 2.1 (Christologie) und 2.2 (Erfüllungsgedanke) deutlich wurde, auch dadurch von der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu unterschieden, daß sie sich auf Jesus als den ersten Verkünder und göttlich legitimierten Garanten der Botschaft beruft und berufen muß. Die Art und Weise dieser Berufung kann schon im Traditionsbereich von Q sehr unterschiedlich sein: Jesus kann als der von Israel abgelehnte "Prophet" bzw. als Bote der Weisheit oder als der abgewiesene und zum Gericht kommende Menschensohn begriffen werden. Diese christologischen Ansätze schließen einander nicht aus, sie ergänzen sich vielmehr und sind in Q miteinander verschmolzen. Die Verbindung zwischen der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu und der Propheten- oder Menschensohn-Christologie ist in der Person und im Werk des Verkündigers gegeben. Noch näher rücken christologische Aussage und Inhalt der Verkündigung zusammen in Lk 6,20 f und Mt 11,5. Hier erscheint J esus als der endzeitliche Prophet nach J es 61,1 f seine Reich-Gottes-Verkündigung wird als die dort geweissagte Heilsbotschaft für die Armen charakterisiert. Ähnliches gilt wohl auch für die Aufnahme von Motiven aus Jes 52,7 in der Botenrede Lk 10,4--9, durch welche die Reich-Gottes-Verkündigung als Erfüllung der jesajanischen Endzeitverheißung vom Herrschaftsantritt Gottes und die Boten Jesu als Boten des endzeitlichen Freudenboten Jesus ausgewiesen werden 48 • Seligpreisungen Lk 6,20f, ist aber andererseits von dem in 1 Kor 3,1-3 erkennbaren korinthischen Anspruch auf besondere pneumatische Qualitäten zu verstehen. Nimmt man das oben A.42 zu 1 Kor 2,6--16 Beobachtete und 1 Kor 4,20 hinzu, vielleicht auch noch die Bezeichnung der Missionare als oL%Ov6flOL flUOTrjQLOJV ÖEoii, dann läßt sich darüber· nachdenken, ob die Differenzen zwischen Paulus und den Korinthern nicht auch durch ein unterschiedliches Verständnis der Basileia-Thematik bedingt sind. 48 P. Hoffmann, Studien (A.9) 296--301.
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Die hier von Jesus entworfene Sicht ist nicht auf die genannten Traditionen beschränkt geblieben, sie hatte vielmehr entscheidenden Einfluß auf die Sammlung und Redaktion der Jesusüberlieferung. Wenn Q die Darstellung der Verkündung Jesu mit der sog. programmatischen Rede beginnt, dann steht nicht zufällig seine im Lichte von J es 61, 1f verstandene Reich-Gottes-Verkündigung am Anfang der Komposition, gleichsam als Vorwort und Rahmen für die gesamte Rede, die ihrerseits die für Q maßgebende Sicht Jesu und seiner Verkündigung angibt. Auch in der anschließenden Komposition über das Verhältnis Jesu zu Johannes dem Täufer Lk 7,18-28.31-35 wird mit Lk 7,22 par Mt 11,5 auf diese von Deutero-Jesaja bestimmte Sicht Jesu zurückgegriffen. In Mt 11,12 par Lk 16,16 wird die Reich-Gottes-Verkündigung als das entscheidende Kriterium der Endzeit genannt. Die Christologie des Markusevangeliums unterscheidet sich in mannigfacher Hinsicht von der Christologie der Logienquelle. Dennoch steht auch am Beginn der markinischen Darstellung des Wirkens Jesu mit Mk 1,14f eine programmatische Zusammenfassung der ReichGottes-Verkündigung J esu, auf welche die späteren Verweise auf das Verkündigen (1,38f) und Lehren (1,2lf; 2,13; 4, lf; 6,2.34) Jesu Bezug nehmen. Darüber, daß hinter Mk 1,14f eine längere Traditionsgeschichte liegt, in welcher Jes 52,7 und 61, 1f auf die Formung der Tradition eingewirkt haben, habe ich schon gesprochen. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, daß das Markusevangelium auf seine Weise und unabhängig von Q die Annahme bestätigt, daß J esus im Bereich der urchristlichen Reich-Gottes-Verkündigung zunächst und vor allem als der endzeitliche Bote des Reiches Gottes verstanden und dargestellt worden ist 49 • Es ist sicher kein Zufall, daß die moderne Jesusforschung zwar deutlicher zwischen vor- und nachösterlichen Traditionen zu unterscheiden gelernt hat, daß sie aber das von der urchristlichen Reich-Gottes-Verkündigung her gezeichnete Jesusbild eher aufgedeckt und gesichert, als es in Frage gestellt hat. Diese Tatsache spricht m. E. für eine große und lang andauernde Kontinuität zwischen der urchristlichen Reich-Gottes-Verkündigung, deren letzter Zeuge für uns das Markusevangelium ist, und der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu 50. In ihr hatte dieses Jesusbild seinen "Sitz im Leben", 49 Vgl. meine überlegungen zum Markuseingang: Zeit (A.12) 231-234. so Umgekehrt läßt sich gerade vom Versuch her, die nachösterliche Reich-Gottes-Ver-
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während dort, wo eine Neufassung oder Neuorientierung der urchristlichen Botschaft geleistet wurde wie in der johanneischen Tradition, auch ein neues, dem neuen Verkündigungs schwerpunkt entsprechendes Jesusbild generiert wurde. übrigens haben auch das Mattäus- und das Lukasevangelium je auf ihre Weise J esus als den endzeitlichen Boten des Reiches Gottes vorgestellt. Mattäus, indem er nach einer kurzen Wiedergabe von Mk 1, 14f in Mt 4,17 die Markusakoluthie verläßt, um von Mt 5,1 an mit der Bergpredigt Jesu auf das Reich Gottes bezogene Lehre darzustellen. Lukas, indem er J esus in Anlehnung an Q als endzeitlichen Propheten nach Jes 61, 1f vorstellt (Lk 4, 1Sf) und in der großen Komposition Lk 4,16-43 einen Eindruck von der jesuanischen Verkündigung des Reiches Gottes in Galiläa zu geben versucht 51.
3. Abschließende Uberlegungen Fassen wir die bisher gesammelten Beobachtungen zusammen: Die urchristliche Reich-Gottes-Verkündigung hat sich als ein eigener, zunächst von missionarischen Impulsen geprägter Traditionsbereich erwiesen. Sie hat die Botschaft und das Wirken Jesu, seinen Tod und seine österliche Rechtfertigung von seiten Gottes zur Voraussetzung. Die ältesten christologischen Aussagen im Bereich der synoptischen Tradition dienen der Legitimation der Botschaft. Nirgendwo zeigte sich, daß eine Weiterentwicklung der Christologie die Reich-GottesVerkündigung in den Hintergrund gedrängt hätte. Vielmehr wird die Reich-Gottes-Verkündigung selber in den Reflexionsprozeß der urchristlichen Theologie einbezogen. Wenn Jesus in Mt 11,5 als der endzeitliche Prophet nach J es 61, 1f beschrieben wird, dann wird zugleich die von ihm inaugurierte Reich-Gottes-Verkündigung als endzeitliches Erfüllungsgeschehen charakterisiert. Von der Reich-Gottes-Verkündigung her wird die Gegenwart als Heilszeit charakterisiert und von der alten Weltzeit abgehoben. kündigung zu beschreiben, auch die Eigenart der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu besser bestimIIien. 51 H.f. Michel, Heilsgegenwart und Zukunft bei Lukas, in: P.Fiedler - D. Zeller (Hrsg.), Gegenwart und kommendes Reich. Festschrift A. Vögtle (Stuttgart 1975) 101-115.109.
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Im Verlauf der urchristlichen Mission gewinnt die Reich-GottesVerkündigung einen stärker lehrhaften und begrifflichen Charakter, die zeitliche Ausrichtung (Naherwartung) wird stärker betont - besonders, als auf Grund der Erkenntnis der universalen Implikationen der Reich-Gottes-Verkündigung der palästinensische Missionsbereich überschritten und die Botschaft Jesu als das aller Welt geltende "Evangelium Gottes" bezeichnet wurde. In Q, in der markinischen und in der paulinischen Tradition läßt sich die Reich-Gottes-Verkündigung und Reich-Gottes-Erwartung als Movens urchristlicher Gemeindebildung erweisen. Sie ist der "Oit" bzw. der "Sitz im Leben" für die synoptische Tradition, wenigstens für die Logientradition und für die Wortüberlieferung des Markusevangeliums, und schließlich auch der "Sitz im Leben" für das von Q und im Eingang des Markusevangeliums entworfene Jesusbild. Diese Beobachtungen erweisen die Reich-Gottes-Verkündigung als ein eigenes Zentrum der urchristlichen Theologie, welches uns in den synoptischen Evangelien, deren Endredaktion ebenfalls vom "Wandel der Reich-Gottes-Verkündigung" zeugt, zugänglich ist und in einer Theologie des N euen Testaments den ersten Platz beanspruchen darf. Ungeklärt ist weiterhin das Verhältnis der Reich-Gottes-Verkündigung zur paulinischen Verkündigung, obwohl wichtige theologische Gemeinsamkeiten zwischen beiden Bereichen aufgedeckt werden konnten. Hier ist vor allem auf das Konzept vom "Evangelium Gottes" hinzuweisen, das sich nur in der missionarischen Tradition von Mk 1,14 f und in der paulinischen Mission findet - beide Male mit universalem Anspruch. über die besprochenen Gemeinsamkeiten hinaus gibt es weitere Berührungen zwischen diesen beiden Traditionskreisen 52 , welche, wenn sie weiter untersucht würden, die paulinische Theologie als Neuinterpretation und Fortsetzung des von der urchristlichen Reich-Gottes-Verkündigung gespannten Rahmens erscheinen lassen und als solche in einer Theologie des Neuen Testaments darstellbar machen könnten. Vgl. die für die Jesustradition typischen Einlaßsprüche Mk 9,47; 10,15.23.24.25 mit 1 Kor 6,9f; 15,50; Ga15,21; Schnackenburg, Gottesherrschaft 199; zu 1 Kor 15,24-28 ebd. 205-209; 1 Thess 2,12: Gott hat die Thessalonicher zur Basileia berufen. 52
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11 Zur Entstehung der urchristlichen Aussage vom präexistenten Sohn Gottes Von Helmut Merklein, Wuppertal
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die grundsätzliche Unterscheidung zweier Aussagenkreise innerhalb der neutestamentlichen Sohneschristologie. Der eine spricht von der Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes (vgl. Röm 1,3f) und wurzelt in der messianischen Deutung alttestamentlicher Stellen wie 2 Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27 1 . Der andere bezieht seine Begrifflichkeit vorwiegend aus dem hellenistischen Judentum (Weisheits- und Logosspekulation)2 und bezeichnet Jesus von allem Anfang an, also bereits vor seiner irdischen Existenz, als Sohn Gottes. Mit der Frage nach der Genese dieser Präexistenzchristologie befassen sich die folgenden Ausführungen.
1 Zu den alttestamentlichen Stellen: W. Schlißke, Gottessöhne und Gottessohn im Alten Testament (Stuttgart 1973) 88-94.105-111; vgl. P.A. H. de Boer, The Son of God in the Old Testament: OTS 18 (1973) 188-207; H. Haag, Sohn Gottes im Alten Testament: ThQ 154 (1974) 223-231. - Ein anderes Konzept verfolgt K.Berger, Die königlichen Messiastraditionendes Neuen Testaments: NTS 20 (1973/74) 1-44; ders., Zum Problem der MessianitätJesu: ZThK 71 (1974) 1-30. Ps 2,7 sei möglicherweise "lediglich ,sekundär' zitiert" (Problem 16). Der Gottessohntitel sei "primär weisheitlichen Ursprungs" (a.a.O. 22), wobei Berger vor allem Weish im Auge hat (a.a.O. 17ff). 2 Dazu: U. Wilckens: ThWNT VII 465-475.497-529, hier: 497-510; E. Schweizer, ThWNT VIII 355-357.364-395, hier: 355-357; H. Kleinknecht: ThWNT IV 76-89, hier: 86-88; O. Cullmann, Die Christologie des Neuen Testaments (Tübingen 41966) 260-264; R.H.Fuller, The Foundations of New Testament Christology (New York 1965) 72-81 ; H. Hegermann, Die Vorstellung vom Schöpfungs mittler im hellenistischen Judentum und Urchristentum (Berlin 1961) 67-87; F. B. Craddock, The Pre-existence of Christ in the New Testament (Nashville - New York 1968) 31-41; R. G. HamertonKelly, Pre-existence, Wisdom, and the Son of Man (Cambridge 1973) 15-21; B. L. Mack, Logos und Sophia (Göttingen 1973); M. Hengel, Der Sohn Gottes (Tübingen 1975) 87-89; vgl. ,W.Kelber, Die Logoslehre (Stuttgart 1976) 85-132.
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1. Das neutestamentliche Material
1.1 Die Stellen GaI4,4f; Röm 8,3f; Joh 3, 1M; 1 Joh 4,9 dürften auf eine traditionelle Sendungsformel zurückgreifen 3 • Zwar könnte man zunächst auch vermuten, hier sei nur von einer Sendung in Analogie zur Prophetensendung und nicht von einer Sendung des Präexistenten die Rede 4 • Doch ist zu beachten, daß die Formel sowohl bei Paulus wie bei Johannes im Zusammenhang der Präexistenzchristologie erscheint. E. Schweizer macht außerdem darauf aufmerksam, daß "Sendung durch Gott und Gottessohntitel ... sich nur im Bereich der Logosund Weisheitsspekulation des ägyptischen Judentums verbunden" finden 5 • Dort findet sich im übrigen auch die für die neutestamentliche Sendungsformel bezeichnende Angabe der Finalität der Sendung (mit Lva [= damitJ-Satz): Weish 9,10 6 • 1.2 Zwar nicht den Titel "Sohn Gottes", dafür aber um so deutlicher die Präexistenz bezeugen einige traditionelle Hymnen: Phil 2,6-11 7 ; Ko11, 15-20 8 ; Joh 1,1-16 9 • Hierzu zu rechnen sind wohl auch: Hebr 1,2f 1o ; 1 Tim 3,16 11 .
A. Seeberg, Der Katechismus des Urchristentums (1903) (München 1966) 59-61; F. Hahn, Christologische Hoheitstitel (Göttingen 31966) 315--317; W. Kramer, Christos-Kyrios-Gottessohn (Zürich - Stuttgart 1963) 108-112; G. Dautzenberg, Christusdogma ohne Basis? (Essen 1971) 27f. Vgl. vor allem die Arbeiten von E. Schweizer: Zur Herkunft der Präexistenzvorstellung bei Paulus, in: Neotestamentica (Zürich 1963) 105--109, hier: 108; ders., Zum religions geschichtlichen Hintergrund der "Sendungsformel" GaI4,4f; Röm 8,3f; Joh 3,16; 1 Joh 4,9; in: Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments (Zürich 1970) 83-95; ders., Jesus Christus im vielfältigen Zeugnis des Neuen Testaments (Hamburg 31972) 83-87; deTS., ThWNT VIII 376-378. 4 Skeptisch: R. Schnackenburg, Christologie des Neuen Testaments, in: Mysterium Salutis HI/l (Einsiedeln - Zürich - Köln 1970) 227-388, hier: 327; W. Thüsing, Neutestamentliche Zugangswege zu einer transzendental-dialogischen Christologie, in: K. Rahner - W. Thüsing, Christologie - systematisch und exegetisch (Freiburg i. Br. 1972) 79-315, hier: 245. 5 ThWNT VIII 377,3f. 6 Vgl. G. Dautzenberg, Christus dogma (A.3) 28. 7 Vgl. J. Gnilka, Der Philipperbrief (Freiburg i. Br. 1968) 131-147 (mit Besprechung von E. Lohmeyer, J. Jeremias, L. Cerfaux, Th. Boman, G. Strecker, D. Georgi); weiter: R. P. Martin, Carmen Christi (Cambridge 1967) (Lit.); J. T. Sanders, The New Testament Christological Hymns (Cambridge 1971) 9-12; R. G. Hamerton-Kelly, Pre-existence (A.2), 156-168; O.Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6-11 (Tübingen 1976) (Lit.). 8 E. Käsemann, Eine urchristliche Taufliturgie, in: Exegetische Versuche und Besinnun3
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1.3 Sophia-Logien: Zu berücksichtigen sind ferner die überwiegend aus der Tradition der Logienquelle (Q) stammenden Worte, die Jesus mit der (präexistenten) Sophia in Zusammenhang bringen: Lk 7, 31-35 par Mt 11,16-19; Lk 11,49-51 par Mt 23,34-36; Lk 13,34f par Mt 23,37-39 12 ; Mt 11,28-30 13 (vgl. Lk 10,21f par Mt 11,25-27). Nach
gen I (Göttingen 1964)34-51; H.Hegermann, Vorstellung (A.2) 88-157;H.]. Gabathuler, J esus Christus, Haupt der Kirche - Haupt der Weh (Zürich 1965) (Lit.); E. Schweizer, Kolosser 1,15-20, in: EKK. Vorarbeiten 1 (Zürich - Neukirchen 1969) 7-31; R. Schnakkenburg, Die Aufnahme des Christushymnus durch den Verfasser des Kolosserbriefes, in: EKK. Vorarbeiten 1 (Zürich - Neukirchen 1969)33-50;]. T. Sanders, a.a. o. 12-14; K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (Gütersloh 1972) 170-180; R. G.Hamerton-Kelly, a.a.O. 168-177. 9 R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (Göttingen 91964) 1-5; R.Schnackenburg, Logos-Hymnus und johanneischer Prolog: BZ NF 1 (1957) 69-109; ders., Das Johannesevangelium I (Freiburg i.Br. 1965) 200-205; E.Käsemann, Aufbau und Anliegen des johanneischen Prologs, in: Exegetische Versuche und Besinnungen II (Göttingen 31968) 155-181; S. Schulz, Komposition und Herkunft der johanneischen Reden (Stuttgart 1960); E. Haenchen, Probleme des johanneischen "Prologs": ZThK 60 (1963) 305-334; J. Jeremias, Der Prolog des J ohannesevangeliums (Stuttgart 1967); Ch. Demke, Der sogenannte Logos-Hymnus im johanneischen Prolog: ZNW 58 (1967) 45-68; ]. T. Sanders, a.a.O. 20-24; K. Wengst, a.a.O. 200-208; R. G.Hamerton-Kelly, a.a.O. 200-215; H. Zimmermann, Christushymnus und johanneischer Prolog, in: ]. Gnilka (Hrsg.), Neues Testament und Kirche. FS R.Schnackenburg (Freiburg i.Br. 1974) 249-265. Die Einheitlichkeit des Prologs vertreten: E. Ruckstuhl, Die literarische Einheit des Johannesevangeliums (Freiburg/Schweiz 1951) 67-97; W. Eltester, Der Logos und sein Prophet, in: Apophoreta. FS E. Haenchen (Berlin 1964) 109-134. 10 G. Bornkamm, Das Bekenntnis im Hebräerbrief, in: Ges. Aufs. 11 (München 1970) 188-203; G. Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit (Göttingen 1967) 137-140; K. Wengst, a.a.O. 166-170; J. T.Sanders, .a.a.O. 19f; E. Gräßer, Hebräer 1,1-4, in: EKK. Vorarbeiten 3 (Zürich - Neukirchen 1971) 55-91; O. Hofius, Christus hymnus (A.7) 76-88. 11 R. Deichgräber, a.a.O. 133-137; J. T.Sanders, a.a.O. 15-17; K. Wengst, a.a.O. 156-160; W.Stenger, Der Christus hymnus in 1 Tim 3,16: TIhZ78 (1969) 33-48. 12 Zur Rekonstruktion: F. Christ, Jesus Sophia (Zürich 1970); S. Schulz, Q - Die Spruchstelle der Evangelisten (Zürich 1972). F. Christ hält die Authentie der Logien für möglich bzw. wahrscheinlich, aber nicht beweisbar (a. a. 0.74.92.117.148). Demgegenüber gehen die neueren Arbeiten zu Q (m. E. zu Recht) vorn nachösterlichen Charakter der Worte aus. S. Schulz rechnet sie insgesamt zur jüngeren hellenistisch-jüdischen Schicht; P.Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (Münster 1971), führt zunächst die jetzige Komposition auf Q zurück (102-142.164-180.224-233), und D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle (Neukirchen 1969), bringt diese noch stärker mit der Redaktion von Q in Verbindung (29-31.45-48.64-68). 13 Zur Diskussion über die Zugehörigkeit zu Q vgl. P. Hoffmann, a. a. O. 104 Anm. 6; D. Lührmann, a. a. O. 67.99.
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F. Christ tritt Jesus hier "als Sprecher und Träger der Weisheit, darüber hinaus aber auch als die Weisheit selbst auf" 14. Möglicherweise ist diese Aussage zu kategorisch, doch dürfte die gegenteilige Behauptung von D. Lührmann, daß "Jesus nirgends in Q ... mit der Weisheit selbst identifiziert" wird 15, noch weniger zutreffen. Am ehesten könnte man noch bei Lk 7,31-35 par; 11,49-51 par vermuten, daß Jesus (nur) als Bote der Weisheit auftritt 16. Anders ist dies bei Lk 13,34f par. Die Vorstellungen sind so massiv weisheitlich geprägt, daß man sogar (wohl nicht zu Unrecht) vermutet hat, daß hier ein jüdisches Wort vorliegt, dessen Sprecherin die Weisheit ist 17 . Im Kontext von Q ist durch V. 35 b 18 aber eindeutig, daß jetzt Jesus der Sprecher ist und damit die Attribute der Weisheit auf sich gezogen hat. Unter dieser Voraussetzung bleibt zumindest zu fragen, ob die "Kinder der Weisheit" Lk 7,35 par nicht die Anhänger Jesu (Q-Gemeinde) sind 19 F. Christ, a. a. 0.153; vgl. E. Schweizer, Aufnahme und Korrektur jüdischer Sophiatheologie im Neuen Testament, in: Neotestamentica (Zürich-Stuttgart 1963) 110-121, hier: 110; U. Wilckens, Weisheit und Torheit (Tübingen 1959) 197-200; J. M. Robinson, LOGOI SOPHON, in: H. Köster - J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums (Tübingen 1971) 66-106, hier: 105; A.Feuillet, Jesus et la sagesse divine d'apres les evangiles synoptiques: RB 62 (1955) 161-196; P.-E. Bonnard, La Sagesse en personne annoncee et venue: Jesus Christ (Paris 1966) 124-133; W. A. Beardslee, The Wisdom Tradition and the Synoptic Gospels: JA1\R 35 (1967) 231-240; W. Grundmann, Weisheit im Horizont des Reiches Gottes, in: R. Schnackenburg (Hrsg.), Die Kirche des Anfangs. FS H. Schürmann (Freiburg i.Br. 1978) 175-199, hier: 179-183. 15 D. Lührmann, Redaktion (A. 12) 99. H. Köster, Grundtypen und Kriterien frühchristlicher Glaubensbekenntnisse, in: ders. - J. M. Robinson, Entwicklungslinien (A. 14) 191-215, geht (in Anschluß an M. J. Suggs) davon aus, daß erst Mattäus Jesus mit der Weisheit identifiziert habe (206). 16 P. Hoffmann, Studien (A.12) 230.170f.183ff; U. Wilckens: ThWNT VII 516; vgl. S. Schulz, Q (A. 12) 352 Anm. 208; R. G. Hamerton-Kelly, Pre-existence (A. 2) 22-47, bes. 29-32 (bei Lk 13,34fpar schließt er nicht aus, daß eine Identifikation vorliegt [33.35f]). 17 O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten (Neukirchen 1967) 53-58; F.. Christ, Jesus Sophia (A.12) 138ff; S.Schulz, a.a.O. 348 (Lit.). 18 V. 35 bistchristliche Bildung (gegen O. H. Steck, a. a. O. 56f): U. Wilckens: ThWNT VII 516 Anm. 350; P. Hoffmann, Studien (A.12) 176f; S. Schulz, a. a. O. 19 F. Christ, Jesus Sophia (A. 12) 71 f (vgl. 65f); P. Hoffmann, a. a. 0.229. - Daß Johannes und Jesus einfach parallel (als Boten der Weisheit) gesehen werden dürfen, verbietet schon die Bezeichnung Jesu als "Menschensohn"; so auch: R. G. Hamerton-Kelly, Preexistence (A.2) 30.35.46f; und bes.: W. Grundmann, Weisheit (A.14) 180f. Von der Sache her ist eher eine Parallelität von Weisheit und Menschensohn anzunehmen, der ja ebenfalls präexistent gedacht werden kann: vgl. äthHen 46-47; 48,2-7; dazu: E. Sjöberg, Der Menschensohn im äthiopischen Henochbuch (Lund 1946); U. B . Müller, Messias und Menschensohn in jüdischen Apokalypsen und in der Offenbarung des J ohannes (Gütersloh 1972) 47-51; K.Müller, Menschensohn und Messias: BZ NF 16 (1972) 161-187; 17 (1973) 56-66; hier: 163-167 (weitere Konvergenzen zur Weisheit bei:
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bzw. ob das Wort der Weisheit Lk 11,49-51 par (i) aocpCu "tou th,ou dJtEV = die Weisheit Gottes sprach V. 49a) in Q nicht als Jesuswort verstanden wurde 20, so daß auch diese beiden Logien die übertragung der Vorstellung von der Weisheit auf Jesus voraussetzen. Das Fehlen einer expliziten, formalen Identifikation in Q besagt wenig, wenn davon ausgegangen werden muß, daß Aussagen, die sonst von der Weisheit gemacht wurden, nun auf Jesus angewendet werden (gegen Lührmann). Das gilt noch mehr von Mt 11,28-30, wo die Para1lelität zu Aussagen und Funktionen der (besonders sirazidischen) Weisheit eklatant ist 2 !. (Zu Lk 10,21fpar s.u. 3.2.2.3)
1.4 Vorausgesetzt, rezipiert und mit je eigenen Akzenten versehen ist die Präexistenzchristologie schließlich bei Paulus und Johannes. Doch kann darauf hier, wo es um ihre Genese geht, nicht im einzelnen eingegangen werden.
2. Die Genese der Präexistenzchristologie in der neueren Forschung (Auswahl)
Für eine traditionsgeschichtliche Erklärung der Genese der Präexistenzchristologie ist sicher schon viel gewonnen, wenn man die religionsgeschichtlichen Voraussetzungen ihrer Begrifflichkeit und ihrer Inhalte näher deklarieren kann (etwa: palästinisches Judentum, hellenistisches Judentum, Hellenismus etc.). Doch muß man sich darüber im klaren sein, daß damit die wichtigere Frage nach dem Grund für die - wie anzunehmen ist - interpretativ verändernde übertragung vorgegebener Vorstellungen auf Jesus noch nicht beantwortet ist 22 . F. Christ, a. a. O. 69f). A. Feuillet, Jesus etla sagesse (A. 14) 168, meint, die Stelle tendiere "vers l'identification du Fils de I'Homme avec la Sagesse" ; vgl. O. Cullmann, Christologie (A.2) 166. R.G.Hamerton-Kelly, a.a.O. 47, folgert aus der Verbindung mit der Menschensohntradition, daß Q J esus verstanden habe als "heavenly being, not protologically pre-existent like Wisdom or Enoch's Son of Man, but nevertheless pre-existent before his coming as Wisdom's eschatological envoy". 20 Dies wäre noch deutlicher, wenn Lk 13,34f par die ursprüngliche Fortsetzung von Lk 11,49-51 par (aus frühjüdischer Weisheitstradition) sein sollte (vgl. Mt 23,34-36.37-39); so: R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen 61964) 120f; weitere Lit. bei S. Schulz, Q (A.12) 348 Anm. 186. Zum traditionellen Charakter von Lk 11,49-51 par: O.H.Steck, Israel (A.17) 51-53.223-237 (anders: S.Schulz, a.a.O. 341). 21 Vgl. Sir 6,23-31; 24,19-22; 51,23-30 (auch: Spr 1,23; 8, 32f); weiteres Material bei: F. Christ, Jesus Sophia (A. 12) 102-117 (Lit.). 22 Vgl. M. Hengel, Sohn (A.2) 92f.
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Welche Erfahrung führte dazu, daß das Urchristentum Jesus als "Sohn Gottes" bezeichnen konnte oder mußte? Dabei wird es für eine differenzierte Würdigung eines so komplexen Phänomens notwendig sein, auf die historischen, soziologischen und theologischen Bedingungen zu achten. M. a. W.: Die Entstehung der Präexistenzchristologie ist einzuordnen der Geschichte des Urchristentums. 2.1 Einem weitgehenden exegetischen Konsens zufolge ist Ostern als der eigentliche Grund der Christologie anzusprechen. Stellvertretend für viele andere sei G. Dautzenberg zitiert, der am Ende seiner kleinen Studie "Christusdogma ohne Basis?" zu dem Ergebnis kommt: "Voraussetzung und Ursprungs ort des christologischen Denkens im Neuen Testament ist die Erfahrung der Auferweckung des Gekreuzigten, des Bekenntnisses Gottes zu dem, der im Namen Gottes gehandelt hatte, aber irdisch gescheitert war. Der Auferstandene wurde ... als der ,Sohn Gottes' erkannt" 23. Die Präexistenzchristologie bezeichnet Dautzenberg als "eine Konklusion, einen letzten Gedanken" 24. Sie eröffnet der Gemeinde "die Möglichkeit, die Sendung Jesu von der Sendung der Propheten abzugrenzen, die Einmaligkeit dieser Sendung und ihre eschatologische Bedeutung auszudrükken"25. Die übertragung des messianischen Sohn-Gottes-Titels auf den irdischen Jesus wie die Ausbildung der Präexistenzchristologie siedelt Dautzenberg im hellenistischen Judenchristentum an 26. 2.2 Nach E.Schweizers Artikel über lJt6~ (Sohn) im ThWNT liegt "die Wurzel" der Präexistenzchristologie "im Bereich der Logosund Weisheitsspekulation des ägyptischen Judentums" 27. Die Sendungsformel wird "vor Paulus auf die Menschwerdung des präexistenten Sohnes gedeutet" und erst "von Paulus auf den stellvertretenden Tod Jesu am Kreuz ... bezogen"28. Für die Frage nach dem Grund der Christologie gibt der Artikel Schweizers wenig ab 29 . 2.3 Eine deutliche Tendenz, neben Ostern auch die Bedeutung des irdischen J esus für die Entwicklung der Christologie herauszustellen, läßt R. Schnackenburg in seinem Beitrag "Christologie des Neuen G. Dautzenberg, Christusdogma (A.3) 36. Ebd. 25 A.a.O. 28. 26 A.a.O. 18.28. 27 ThWNT VIII (A.2) 377. 28 A.a.O·. 385,25ff; vgl. 386,26ff. 29 Daß auch für Schweizer Ostern den entscheidenden Faktor darstellt, vgl. Herkunft (A.3) 109; Aufnahme (A.14) 120. 23
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Testaments" in "Mysterium Salutis" erkennen 30. Die Auferstehung Jesu markiert zwar "den geschichtlichen Anfang des Christllsglaubens"; das heißt aber nicht, "daß auch sein eigentlicher Ursprung oder Urgrund erst in jenem Ereignis liegt"31. Schnackenburg verweist auf "die irdische Geschichte Jesu"32. Dennoch ruht das eigentliche Schwergewicht auf Ostern. Die Auferweckung wird "als theologischer Ansatzpunkt der urchristlichen Christologie" gewürdigt 33 ; sie war "nicht nur das auslösende Moment für den Christusglauben der Jünger", sondern wurde "auch zum Quellgrund der Christologie" 34. In seiner neuesten einschlägigen Veröffentlichung "Der Ursprung der Christologie" faßt Schnackenburg zusammen: "Für die im Neuen Testament nachweisbaren christologischen Artikulationen und Entwürfe gibt es zwei Ansätze bzw. Erkenntnisquellen, die aber nicht unverbunden nebeneinander stehen: Der irdische Jesus mit allem, was er gesagt, getan und indirekt von sich selbst bezeugt hat, und der auferweckte J esus, insofern er sich den Jüngern in neuer Weise und doch als der ihnen bekannte J esus erschlossen hat" 35. 2.4 M. H engel nimmt in seinem sehr materialreichen Büchlein "Der Sohn Gottes" bereits im Hinblick auf Röm 1,3f eine "zweifache Wurzel der Christologie" an 36. "Die erste Wurzel ist der irdische Jesus aus dem Geschlecht Davids"37, die zweite bildet "das Auferstehungsgeschehen"38. Ein gewisses übergewicht behält Ostern allerdings insofern, als es sich "bei dem Bekenntnis zu dem ,Sohn Gottes'" zunächst "um eine ausgesprochene Erhöhungsaussage" handelt 39 . Die Präexi30 Siehe R. Schnackenburg, Christologie (A.4); vgl. auch ders.: LThK2 V 932-940. Christologie 233. 32 Ebd. 33 A.a.O. 237. 34 A.a.O. 238. 3S R. Schnackenburg, Der Ursprung der Christologie, in: ders., Maßstab des Glaubens (Freiburg i.Br. 1978) 37-61, hier: 58. - Zur Weisheits-Präexistenz-Christologie stellt Schnacken burg fest: Sie "wird sich weder auf Weisheitslogien Jesu noch auf unmittelbare Reflexionen über den auferweckt-erhöhten Herrn zurückführen lassen, sondern beruht wahrscheinlich auf früher nachösterlicher Reflexion über die eschatologische Sendung Jesu" (Ursprung 57). 36 M. Hengel, Sohn (A.2) 95. 37 Ebd. 38 A.a.O. 97. Für die Wahl der Bezeichnung "Sohn Gottes" nennt er vier "gute historische Gründe": das einzigartige Gottesverhältnis J esu, den messianischen Schriftbeweis, die Rede Jesu vom kommenden Menschensohn, und die Möglichkeit, das hebräische äbäd mit :rtaLS zu übersetzen und dieses dann als "Sohn" zu deuten (99-104). 39 A.a.O. 104. 31
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· stenzchristologie versteht Hengel als eine "Weiterentwicklung der Christologie"40. Aus dem "Bekenntnis zur Erhöhung Jesu als Menschen- und Gottessohn in der Auferstehung" ergab sich die Notwendigkeit, "nach dem Verhältnis J esu zu anderen Mittlerwesen " (Engel, Weisheit-Tora) und seiner Relation zu den bisherigen Heilsmitteln des Judentums (Tempeldienst, Tora) zufragen 41 . So stellte sich der Präexistenzgedanke "aus innerer Notwendigkeit" ein 42 . Eine weitere Folge war, "daß der erhöhte Gottessohn auch die Schöpfungs- und Heilsmittlerfunktion der jüdischen Weisheit an sich zog" 43. Was die Herkunft der Sohneschristologie anbelangt, so vermutet Hengel für Röm 1,3 f "die erste judenchristliche Gemeirtde in J erusalern" 44. Für die Präexistenzchristologie rechnet er damit, "daß sie erst in den Kreisen jener griechisch sprechenden Judenchristen entfaltetwurde, die, aus Jerusalem vertrieben, in den hellenistischen Städten Palästinas, Phöniziens und Syriens die Heidenrnission begannen"45. 2.5 Ein ganz anderes Konzept verfolgt F. Mußner in seinem Beitrag "Ursprünge und Entfaltung der neutestamentlichen Sohnes christologie" 46. "Die Auferweckung Jesu von den Toten" habe "weder unmittelbar zu einer Messiaschristologie und erst recht nicht unmittelbar zu einer Sohneschristologie" geführt47~ Ausgangspunkt ist für Mußner der irdische Jesus bzw. die Erfahrung, welche die Jünger mit J esus machten. Die daran anknüpfende Reflexion ging zunächst "in Richtung einer Prophetenchristologie"48. In Anlehnung an U. Mauser 49 versteht Mußner die Propheten als Stellvertreter (repraesentatio)
A. a. O. 105; vgl. R. Schnackenburg, Christologie (A.4) 322. A.a.O. 106. 42 A.a.O. llH. 43 A.a.O. 113. 44 A.a.O. 95; vgl. 93. Etwas anders (Hellenisten Jerusalems) in: Zwischen Jesus und Paulus: ZThK 72 (1975) 151-206, hier: 20H. 45 M. Hengef, Sohn (A.2) 105. Einen unmittelbaren heidnischen Einfluß hält er für höchst unwahrscheinlich (ebd.); vgl. O. Cullmann, Christologie (A.2) 282-284. 46 F. Mußner, Ursprünge, in: L. Scheffczyk (Hrsg.), Grundfragen der Christologie heute (Freiburg i.Br. 1975) 77-113. Vgl. auch ders., Christologische Homologese und evangelische Vita Jesu, in: B. Wefte (Hrsg.), Zur Frühgeschichte der Christologie (Freiburg i.Br. 1970) 59-73. 47 Ursprünge 101. 48 A. a. O. 84. Die vorösterliche Erfahrung der Jünger führte "nicht unmittelbar zum christologischen Sohnesprädikat" (86). 49 Gottesbild und Menschwerdung (Tübingen 1971). 40
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J ahwes 50. Im Unterschied zu der nur fragmentarischen Aktionseinheit der Propheten mit Jahwe 51 beinhaltete die Erfahrung der Jünger "eine bis zur Deckungsgleichheit gehende Aktionseinheit Jesu mit Jahwc. Um diese Erfahrung in der nachösterlichen Reflexion sprachlich zu ar - . tikulieren, stellte sich das Sohnesprädikat wie von selbst ein" 52. Die Sohneschristologie ist also eine Transformation der Prophetenchristologie 53 . Als maßgeblich dafür nennt Mußner "die vorösterliche Erfahrungdes [taA.Aov und [tEL~OV" (= des überragenden) und "die ebenfalls vorösterliche Erfahrung des ,Rätselhaften' an J esus"; dazu noch "die nachösterliche Erinnerung an bestimmte ,Weisheits' -Logien J esu", die in der·Reflexion in Verbindung mit dem aus dem Alten Testament "vorgegebenen Weisheits modell sehr früh eine Weisheitschristologie" begründeten 54.
3. Versuch einer pO$itiven Darstellung
3.1 Grundsätzliche überlegungen und exegetische Beobachtungen 3.1.1 Die Bedeutung der Ostererfahrung Daß Ostern der eigentliche Grund für die Christologie gewesen ist, sollte man wenigstens für die Aussage vom messianischen Sohn Gottes nicht bezweifeln. Hier spricht Röm 1,3f eine zu deutliche Sprache 55. Inwieweit weitere Faktoren aus dem Leben des Irdischen noch maßgeblich waren 56, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Im übrigen dürfte die Ostererfahrung auch für die Ausbildung der
Ursprünge 93.95. A.a.O. 96. 52 A.a.O. 97. 53 Letztere ist "kein christologischer ,Nebenkrater' , der alsbald verdrängt wurde, sondern sie führte von ihrem Wesen her in der weiteren christologischen Reflexion der Urkirche konsequent zur Sohneschristologie" (a.a.O. 97). 54 A. a. O. 100f. - Ähnlich wie F. Mußner meint auch R. G. Hamerton-Kelly, Pre-existence (A.2) 101, daß "the initial impulse for the Christology of pre-existence ... came ... from the historical Jesus"; er verweist bes. auf die Selbstbezeichnung "Menschensohn": "he and his hearers understood it to imply his pre-existence". 55 Vgl. R. Schnackenburg, Ursprung (A.35) 57. 56 Vgl. etwa die Erklärung M. Hengels oben A. 38. 50
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Präexistenzvorstellung eine wichtige Rolle gespielt haben. Mit Sicherheit stellt sie den "geschichtlichen Beginn" im Sinne des terminus a quo dar 57. Doch ist Ostern kaum der unmittelbare Ansatzpunkt wie bei der messianischen Sohnesaussage. Tatsächlich spielt in der Formel von der Sendung des Sohnes der Gedanke der Auferweckung keine Rolle. Dasselbe gilt für den Johannesprolog und für die synoptischen JesusSophia-Worte 58 • Direkt genannt wird die Auferstehung bzw. Erhöhung allerdings im Kolosser- und Philipperhymnus (kol 1,18; Phil 2,9) sowie in 1 Tim 3,16. Doch ist zu beachten, daß aus der Auferstehungs- bzw. Erhöhungsaussage die Präexistenz des Irdi~hen weder gefolgert werden kann noch in den Texten gefolgert wird. Vielmehr wird die Präexistenz für die Erhöhungs- bzw. Auferweckungsaussage vorausgesetzt, und das nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich, was sich am deutlichsten in der kosmisch-universalen Qualifikation der Auferstehung bzw. Erhöhung in den drei Texten niederschlägt. Ostern dürfte also kaum der unmittelbare Ansatzpunkt für die Vorstellung von der Präexistenz Jesu gewesen sein, was nicht ausschließt, daß "die Auferweckung Jesu von den Toten ... den hermeneutischen Prozeß" entscheidend vorangetrieben hat 59. 3.1.2 Transformation der Prophetenchristologie? Von der Sache her stellt die Sohneschristologie eine Sprachkategorie zur Verfügung, die das Nicht-Verrechenbare, das Rätselhafte, das überragende des irdischen J esus adäquat umschreiben kann. Dies wird man F. Mußner bereitwillig zugestehen. Auch wird man kaum bestreiten können, daß entsprechende Erfahrungen mit J esus inhaltlich für die Ausbildung der Sohneschristologie eine wichtige Rolle gespielt haben. Zu fragen bleibt aber, ob diese Erfahrungen den traditionsgeschichtlichen Ansatzpunkt der Sohneschristologie darstellen. Hätten sie in diesem Fall nicht einen stärkeren Niederschlag in den Sohnesaussagen finden müssen?60 Auch der Umweg über die Transformation der Vgl. R. Schnackenburg, Christologie (A.4) 230. Zu Lk 10,21 f par s. u. 3.2.2.3 (Ende). 59 F. Mußner, Ursprünge (A. 46) 101. 60 Es ist bezeichnend für die Präexistenztexte, daß sie auf die rätselhafte, alle Kategorien sprengende, machtvolle Erscheinung Jesu nicht eingehen, sondern im Gegenteil neben dem Daß seiner irdischen Existenz gerade seine Niedrigkeit bzw. seinen Tod betonen (s.u.). 57
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Prophetenchristologie dürfte hier nicht weiterhelfen. Denn gerade, wenn man von der Erfahrung der "bis zur Deckungsgleichheit mit Jahwe gehende(n) totale(n) Aktionseinheit" Jesu ausgeht, ist zu bezweifeln, ob sich diese "zunächst in der nachösterlichen Prophetenchristologie" versprachlichte 6 1, schon wegen des notwendig mit dem Prophetischen verbundenen Gedankens fragmentarischer Stellvertretung. Hätte die erfahrene Aktionseinheit nicht eher eine Prophetenchristologie verhindern müssen? Die Prophetenchristologie muß kein Nebenkrater der Christologie sein, aber sie läßt sich auch kaum auf eine Linie mit der Sohneschristologie bringen 62, womit nicht geleugnet werden soll, daß zwischen beiden vielfältige Berührungen und Verbindungen bestehen. Daß die Erinnerung an bestimmte Weisheitslogien Jesu die nachösterliche Reflexion in Richtung einer Weisheits christologie beeinfluß t haben könnte, ist denkbar, doch wird man schon in der Beurteilung der Authentie der Worte vorsichtig sein müssen 63. Am ehesten könnte noch Lk 11,31 par Mt 12,42 (vgl. Lk 11,32par) authentisch sein 64 • Doch wird man an diesem Wort allein kaum eine Weisheits christologie aufhängen können. Im Folgenden sei daher versucht, einen Ansatzpunkt zu finden, der sich aus den Präexistenztexten selbst ergibt. 3.1.3 Präexistenz und Tod Jesu 3.1.3.1 Die Sendungsformel: Es fällt auf, daß die Sendung des präexistenten Sohnes Ga14,4f; Röm 8,3f; Joh 3,16f; 1 Joh 4,9 immer mit Lva[ = damitJ-Sätzen verbunden ist, also die Heilsbedeutsamkeit der Sendung zum Ausdruck bringt. Die Präexistenzaussage hat demnach soteriologische Finalität. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Präexistenzchristologie und Soteriologie: Ist eine bestimmte Soteriologie Voraussetzung der Präexistenzchristologie, oder hat die Präexistenzchristologie eine bestimmte Soteriologie zur Folge, die dann mit der Menschwerdung zu verbinden wäre 65 . F. Mußner, Ursprünge (A.46) 108. Vgl. O. Cullmann, Christologie (A.2) 48. 63 Siehe o. A. 12. 64 Zur Authentie: F. Mußner, Wege zum Selbstbewußtsein Jesu: BZ NF 12 (1968) 161-172, hier: 169-171. Anders: R. Bultmann, Geschichte (A.20) 118; D. Lührmann, Redaktion (A.12) 38.64; S. Schulz, Q (A. 12) 253. 6S Vgl. E. Schweizer, oben 2.2. 61
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Nun ist nicht mehr bekannt, wie der Lva-Satz der traditionellen Formel ursprünglich gelautet hat. Auffallend aber ist, daß die Formel nach den jetzigen Kontexten immer mit der Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu in Verbindung gebracht wird 66 . Dies gilt sowohl für Paulus wie für Johannes. Diese Tatsache dürfte sich - trotz zugegebener redaktioneller Formulierung der einschlägigen Wendungen - am besten dadurch erklären, daß bereits die traditionelle Formel entweder direkt einen Hinweis auf den Tod J esu enthielt oder wenigstens assoziativ mit dem Tod Jesu (als ihrem situativen Kontext in der Sprachkompetenz ihrer Sprecher und Rezipienten) verbunden war 67 . Es dürfte also nicht erst Paulus gewesen sein, der die Formel auf den stellvertretenden Tod Jesu bezogen hat (gegen E. Schweizer)68. Daß tatsächlich die Präexistenzaussage mit dem Tod J esu in engster Verbindung steht, bestätigt eine Reihe weiterer Beobachtungen. 3.1.3.2 Die Hymnen: Die Entäußerung des F:v /loQCPfj {}wu uJtaQXwv (der in der Daseinsweise Gottes sich befand) im Philipperhymnus erschöpft sich nicht in der Menschwerdung als solcher, sondern hat ihr letztes Ziel in der Aussage der Erniedrigung: YEv6/lEVO~ {JJtip(Oo~ /lEXQL t}avamu (gehorsam geworden bis zum Tod) (2,8)69. Ausdrücklich soteriologisch endigt der Kolosserhymnus : ÖL' mhou
66 Dies betont ausdrücklich auch E. Schweizer (!), Jesus Christus (A. 3) 86f ("An allen vier Stellen ... steht nicht etwa seine Menschwerdung im Mittelpunkt der Aussage, sondern sein Kreuzestod": 86). Ga! 4,5 '(va tOU~ U3tO V6J.10V t!;ayoQuon bezieht sich eindeutig auf den Heilstod Jesu am Kreuz, vgI. Gal 3,13. Derselbe Bezug ergibt sich aus Röm 8,3, wenn die Sendung Ev 0J.lOLcOJ.latL aaQKo~ (uJ.laQtLa~) als 3tEQL uJ.laQtLa~ KatEKQLvEV tT)V uJ.laQtL
44
U3tO'Xa1:uAA.6.;m 'ta 3t
La 'to'Ü ULJlU'tO~ 1:O'U o'tUlJQOU mhou (Frieden schaffend durch das Blut seines Kreuzes) (1,20)1°, und dies wohl kaum gegen die ursprüngliche Intention der traditionellen Aussage 71. Das gleiche dürfte für die Wendung 'XU{)UQLOJlOV 'tWV UJlUQ'tLWV 3tOLT]OaJlEVO~ (nachdem er Reinigung von den Sünden bewirkt hatte) im Hebräerhyrnnus gelten (1,3), sofern sie nicht schon zum ursprünglichen überlieferungsmaterial gehörte 72. Keinen direkten Bezug zum Tod Jesu scheinen der Johannesprolog und 1 Tim 3, 16 herzustellen. Doch dürfte dies im letzten Fall durch die pointiert auf die weltweite Mission gerichtete Zielsetzung bedingt sein. Darüber hinaus bleibt zu überlegen, ob die Gegenüberstellung von Erscheinung tv OUQ'XL (im Fleisch) und Rechtfertigung tv 3tVEUJlUn (im Geist) nicht den Gedanken des Todes Jesu impliziert, wie dies z. B. sicher in 1 Petr 3, 18 der Fall ist 73 • Ähnlich ist es im Falle des Johannesprologs immerhin erwägenswert, ob oaQ; EyEVE'tO (ist Fleisch geworden) nicht wenigstens assoziativ den Kreuzestod im Auge hat, was mit einiger Sicherheit für den Evangelisten gelten dürfte 74 • So die opinio communis. B. Klappert, Die Auferwecku.!1gdes Gekreuzigten (Neukirchen 21974) 283 Anm. 68; vgl. R. Schnackenburg, Aufnahme (A.8) 45f; H. Hegermann, Vorstellung (A.2) 120-123. K. Wengst, Formeln (A. 8) 172f, möchte die Wendung sogar zum ursprünglichen Bestand des Hymnus rechnen. 72 So: G. Bornkamm, Bekenntnis (A. 10) 197f; R. Deichgräber, Gotteshymnus (A.10) 137-140;J. T. Sanders, Hymns (A. 7) 19f;K. Wengst, a.a.O. 166-170. Gelegentlich wird die Wendung dem Verfasser zugeschrieben: G. Theißen, Untersuchungen zum Hebräerbrief (Gütersloh 1969) 50f; E. Gräßer, Hebräer 1, 1-4 (A. 10) 66f, der aber gegen Theißen das Glied nicht völlig eliminieren will (a. a. O. Anm. 96); vgl. O. Hofius, Christushymnus (A.7) 84. 73 Vgl. J. T.Sanders, a.a.O. 25.94f; J. Jeremias, Die Briefe an Timotheus und Titus (NTD 9) (Göttingen 1975) 29; R. Deichgräber, a. a. O. 134; O. Hofius, Christushymnus (A. 7) 14f. - R. Deichgräber, a. a. O. 163f, stellt überhaupt fest, daß keiner der christologischen Hymnen (wobei er allerdings Joh 1 nicht behandelt) "Jesu irdisches Leben, und zwar speziell sein Leiden und sein Sterben, ausläßt". Dazu weiter: B. Klappert, Auferweckung (A. 71) 282. 74 R. Schnackenburg, Joh I (A. 9) 243; vgl. W. Thüsing, Zugangswege (A. 4) 245; anders: H. Zimmermann, Christushymnus (A. 9) 262f. - Ich folge hier der Rekonstruktion von R. Schnackenburg, Logos-Hymnus (A. 9); vgl. ders., Johl 200-205 (ähnlich: R. Bultmann, Joh [A.9] 3f). Andere lassen den Hymnus schon mit V.tl bzw. 12 endigen: J. T. Sanders, a. a. 0.20-24; E. Käsemann, Aufbau (A.9); eh. Demke, Logos-Hymnus (A. 9); G. Richter, Die Fleischwerdung des Logos im Johannesevangelium: NT 13 (1971) 70
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3.1.3.3 Jesus-Sophia-Logien: Bemerkenswert ist auch, daß der überwiegende Teil der synoptischen Jesus-Sophia-Worte von der Ablehnung Jesu bzw. von der Tötung der Boten der Weisheit spricht (Lk 7,31-35;11,49-51; 13,34fpar)15. Ablehnung Jesu und Tötung der Boten sind dabei parallel zu sehen. Die Ablehnung der Boten der Weisheit ist eine Ablehnung der Weisheit selbst, als deren Sprecher J esus auftritt bzw. mit ihr identisch ist 76. In Lk 13,34 f par ist denn auch die Tötung der Boten und die Ablehnung Jesu direkt verbunden 77 • Man wird deshalb nicht fehlgehen, wenn man die Ablehnung der Weisheit bzw. Jesu in Analogie zum Schicksal der Boten sieht, also auf Jesu Tod bezieht1 8 • 3.1.3.4 Paulus: Explizit ist dieser Zusammenhang von (präexistenter) Weisheit und Jesu Tod bei Paulus in 1 Kor 1.2 gegeben. Die meistgegebenen Hinweise, daß der hier massiert auftretende Begriff "Weisheit" sich aus der Polemik gegen eine Weisheits theologie der Gegner und die besondere Betonung des Kreuzes sich aus der spezifischen Denkstruktur des Paulus verstehen 79, sind ohne Zweifel richtig, erklä-ren aber noch nicht befriedigend, warum Paulus beides zusammen bringen kann. Es sollte zumindest mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Paulus an vorgegebene Gedanken, die Weisheit und Jesu Todesgeschick in Verbindung brachten, anknüpfen kann 80 • 3.1.3.5 Das Winzergleichnis: Schließlich ist noch auf das sog. Winzergleichnis Mk 12,1-12 aufmerksam zu machen, wo ebenfalls die Sendung des Sohnes (V. 6) in engem Konnex mit seinem Tod (V.7f) steht. Die Präexistenz ist hier zwar nicht direkt ausgesprochen, doch 81-126. In diesem Fall wäre der Bezug auf den Tod m. E. noch deutlicher, weil dann V. 11 nicht mehr auf das vorinkarnatorische Sein des Logos (vgI. R. Schnackenburg, Joh I 243), sondern auf die Inkarnation zu beziehen ist; die Ablehnung durch die Seinigen schließt den Tod wenigstens implizit mit ein (vgI. M. Rissi, Die Logoslieder im Prolog des vierten Evangeliums: ThZ 31 [1975] 321-336, hier: 329). 75 Zu Lk 10,21 f par s. u. 3.2.2.3 (Ende). 76 Siehe o. 1.3. 77 Dem entspricht, daß Jesus einerseits sendet, andererseits selbst gesandt ist: Lk 7,31-35 par; Mt 10,40par (vgI. F. Christ, Jesus Sophia [A.12] 130). 78 VgI. F. Christ, a. a. O. 146f. 79 VgI. dazu: U. Wilckens, Weisheit und Torheit (Tübingen 1959); D. Lührmann, Das Offenbarungsverständnis bei Paulus und in den paulinischen Gemeinden (Neukirchen 1965) 113-117.133-140; H.-W.Kuhn, Jesus als Gekreuzigter in der frühchristlichen Verkündigung: ZThK 72 (1975) 1-46, hier: 30f. 80 Siehe u. 3.2.2.3 (Ende).
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kann sie auf grund der Parallelität der Sendung der Knechte (Propheten) und der Sendung des Sohnes auch nicht ausgeschlossen werden 81 • Auf die "Verbindung von Weisheitstradition und Tradition des dtr GB (deuteronomistischen Geschichtsbildes), die schon in der asidäischen Bewegung begonnen hat", hat bereits O. H. Steck aufmerksam gemacht 82 . Unmittelbare neutestamentliche Belege hierfür sind die o. a. Jesus-Sophia-Logien 83 • Unter dieser Voraussetzung wird man fragen müssen, ob die qualitativ der Sendung der Knechte überlegene Sendung des Sohnes und insbesondere die Qualifikation des Gesandten als des Sohnes im Winzergleichnis sich ausreichend mit der eschatologischen Qualität des Gesandten erklärt 84 oder ob die eschatologische Bedeutung seiner Sendung nicht dadurch zustande kommt, daß der Gesandte von vornherein in besonderer Nähe zu Gott steht, also Sohn ist. Damit wäre aber ein mittelbarer Bezug zum Präexistenzgedanken gegeben, der m.E. wenigstens implizit im Winzergleichnis vorausgesetzt ist 85 . 3.1.3.6 Festzuhalten bleibt, daß nach Ausweis der angeführten Texte die Präexistenzchristologie in einem engen Zusammenhang mit dem Tode Jesu steht, dessen soteriologische Qualität häufig herausgestellt wird, teils direkt (Sendungsformel; Kolosser- und Hebräerhymnus ), teils wenigstens indirekt, indem J esu Ablehnung zur Gerichtsaussage gewendet wird (Lk 11,49-51; 13,34f par;Mk12, 1-12) 86. Da der Zusammenhang von Präexistenz und Tod Jesu nahezu durchgängig - trotz der sonst nicht unerheblichen Unterschiede der einzelnen Autoren und Traditionen - zu beobachten ist, ist zu vermuten, daß die Vorstellung von J esus als der präexistenten Weisheit bzw. dem präexistenten Sohn von allem Anfang an im Zusammenhang mit dem Tode Jesu gedacht wurde. Bezüglich der Frage nach dem Verhältnis von 81 Gegen F.Hahn, Hoheitstitel (A.3) 315f; ]. Blank, Die Sendung des Solmes, in: ]. Gnilka (Hrsg.), Neues Testament und Kirche. FS R. Schnackenburg (Freiburg i.Br. 1974) 11-41, hier: 17.22. 82 O. H. Steck, Israel (A. 17) 224. 83 Lk 11,49-51; 13,34f par werden auch von]. Blank, Sendung (A. 81) 22-25, als Parallelen zu Mk 12,1-12 herausgestellt. 84 Vgl. J. Blank, a.a.O. 17.22. 85 So auch R. H. Fuller, Foundations (A.2) 194. 86 Zu betonen bleibt außerdem, daß das Fehlen einer ausdrücklichen Artikulation des soteriologischen Bezuges keineswegs berechtigt, ihn auch sachlich auszuschließen. Grundsätzlich dürfte]. Blank, Paulus und Jesus (München 1968) 265, im Recht sein, wenn er feststellt, daß das Neue Testament "vom konkreten Heilsgeschehen losgelöste Präexistenzvorstellungen" nicht kennt.
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Soteriologie und Präexistenzchristologie (s. o. 3.1.3.1) ist eher ein Primat der Soteriologie anzunehmen 87, da eine traditions geschichtlich vorgängige Präexistenzchristologie eher eine Soteriologie der Menschwerdung "produziert" haben dürfte. Damit ist natürlich noch nicht bewiesen, daß eine bestimmte Soteriologie, nämlich der Gedanke der Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu, die Voraussetzung für die Präexistenzchristologie darstellt. Doch läßt sich für diese Annahme ein theoretisches Modell erstellen, das sich der Geschichte des Urchristentums relativ gut zuordnen läßt. 3.2 Die Entstehung der Präexistenzchristologie im Rahmen der Geschichte des Urchristentums 3.2.1 Der religions geschichtliche Rahmen: Das weisheitliche Denken der Hellenisten J erusalems Die Ausbildung der Präexistenzchristologie dürfte religions geschichtlich gesehen besonders stark vom hellenistischen Judentum beeinflußt sein 88 . Dort - unsere Belege beziehen sich vor allem auf das ägyptische Judentum -liegt ein Großteil der präexistenzchristologisch relevanten Begriffe und Vorstellungen bereit. Zu verweisen ist insbesondere auf die alexandrinische Sapientia Salomonis und die LogosSpekulation des Phil0 89 . Dies bedeutet keineswegs, daß die Präexistenzchristologie in Ägypten oder auch nur außerhalb Palästinas entstanden sein muß. Auf palästinisches Milieu verweist u. a. die Verbindung der Weisheitstraditionmit dem deuteronomistischen Geschichtsbild 90 , die zum Teil für die Jesus-Sophia-Logien typisch ist (s.o. 3.1.3.5). Im übrigen ist das hellenistische Judentum keine Größe, die man geographisch vom palä87 Ahnlich B.Klappert, Auferweckung (A.71) 283: "Die Präexistenz- und Inkarnationsaussage der Hymnen ist traditionsgeschichtlich als Ausweitung der auch isoliert auftretenden Passions- und 'Erhöhungsaussage zu begreifen." 88 Zumindest bezüglich des religions geschichtlichen Materials wird sich dies kaum bestreiten lassen. Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von E. Schweizer: Hintergrund (A. 3); Aufnahme (A.14); Herkunft (A. 3); ThWNT VIII 364-395; weiter: R. Schnackenburg, Joh I (A.9) 257-269.290--302; H.Hegermann, Vorstellung (A.2); M.Hengel, Sohn (A.2) 104-120. 89 Vgl. dazu unten 3.2.3.1; Lit. oben A.2. 90 Vgl. O. H. Steck, Israel (A. 17) 164 Anm. 5; 205ff.222.
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.stinischen Judentum absetzen könnte, wie man sich denn auch von dem immer noch nachwirkenden Dogma freimachen muß, das hellenistische Judenchristentum stelle traditions geschichtlich eine auf das palästinische Judenchristentum folgende Phase der Geschichte des Urchristentums dar. Die Gruppe der "Hellenisten" Jerusalems (Apg 6, 1), als deren Exponenten Stephanus und die Sieben anzusehen sind, beweist zur Genüge, daß das hellenistische Judenchristentum eine Größe der ersten Tage des Urchristentums gewesen ist 91 . Angesichts des engen Kontaktes, den Paulus mit diesen Hellenisten nach ihrer Vertreibung in Antiochien gehabt hat, ist damit zu rechnen, daß ihm die Präexistenzchristologie, die er ja voraussetzt, über diese Quelle wenigstens vermittelt wurde. Daß darüber hinaus die Entstehung der Präexistenzchristologie mit den hellenistischen Judenchristen Jerusalems zusammenhängen könnte, wird dadurch nahe gelegt, daß für diese weisheitliches Denken eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben muß. Immerhin dürfte es schwerlich ein Zufall sein, daß die Apostelgeschichte das Wort oo
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24,8-12 94 -, bedarf keiner Diskussion. Zu Recht betont M. Hengel: "Die aus der Diaspora nach Jerusalem zurückgekehrten Juden hatten für ihre Heimkehr in erster Linie religiöse Motive, sie waren in der Regel gerade nicht ,liberal' und standen wohl häufig jener geistigen Haltung nahe, die Paulus für seine vorchristliche pharisäische Zeit von sich bezeugt. Man fühlte sich als Rückkehrer mit Tempel und Tora auf das Intensivste verbunden, sonst wäre man nicht in das wirtschaftlich und kulturell wenig anziehende Judäa zurückgekehrt und hätte sich einen anderen Wohnort als J erusalem herausgesucht." 95 Sofern die Präexistenzchristologie weisheitliches Denken voraussetzt, stellt das hellenistische Judenchristentum J erusalems religionsgeschichtlich gesehen den denkbar besten Nährboden für ihre Entstehung und Entwicklung zur Verfügung, da sich hier die hellenistischjüdische (uns vorwiegend aus ägyptischen Belegen bekannte) Weisheits spekulation mit dem Weisheits denken des palästinischen Judentums auf das Innigste verbinden konnte, ja, das besondere Interesse der Hellenisten an Tempel und Tora vorausgesetzt, sogar verbinden mußte. Daß es in diesem Milieu auch zur Adaption deuteronomistisch gefärbter Aussagen, gerade sofern sie bereits mit der Weisheitstradition verquickt waren, kommen konnte, ist zumindest gut denkbar.
3.2.2 Der traditionsgeschichtliche Ansatzpunkt: .Der Gedanke der Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu 3.2.2.1 Die religions geschichtliche Möglichkeit, die Präexistenzchristologie mit den Hellenisten Jerusalems in Verbindung zu bringen, ist noch keine traditionsgeschichtliche Erklärung ihrer Entstehung. Hierfür ist vor allem die an den Texten beobachtete Nähe von Präexistenz und Tod Jesu mit zu berücksichtigen. D. h., die Präexistenzchristologie muß in einem Milieu entstanden sein, wo dem Tod Jesu eine besondere Bedeutsamkeit beigemessen wurde. Auch hier stößt man wieder auf die Hellenisten Jerusalems, sofern
94 Zur Entstehung und zur hebräischen Herkunft von Baruch und Sirach: L. Rost, Einleitung in die alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen (Heidelberg 1971) 47-53; zur Sache vgl. M. Hengel, Sohn (A. 2) 78-80;]. Marbäck, Gesetz und Weisheit: BZ NF 20 (1976) 1-21 (Lit.). 9S M. Hengel, Jesus (A.44) 185; vgl. 189.
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man für sie die Aussage von der Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu, etwa im Sinn der alten Formel von 1 Kor 15,3-5, voraussetzen darf. Im Hinblick darauf vermutet M. Hengel sogar, "daß ihr eigentlicher Ursprungs ort in der Gemeinde der ,Hellenisten' in Jerusalem zu suchen ist"96. Unabhängig davon ist aber der Gedanke von der Heilsbedeutsamkeit des Todes J esu zum theologischen Inventar der ältesten Christenheit allgemein zu rechnen 97. Jedenfalls würden sich unter der Voraussetzung, daß diejenigen, die die Präexistenzchristologie ausgebildet haben, von der Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu ausgingen, die oben 3.1.3 gemachten Textbeobachtungen hervorragend erklären: a) Es würde verständlich, warum in den Präexistenztexten durchgängigdie Ablehnung bzw. der Tod Jesu und nicht das Leben des Irdischen im allgemeinen (oder gar ein bestimmtes Ereignis daraus) von elementarem Interesse ist. b) Noch eindeutiger begründbar würde die Tatsache, daß in nicht wenigen Texten die Sendung des Präexistenten direkt mit der Heilsbedeutsamkeit seines Todes in Zusammenhang gebracht wird. c) Allerdings wird man sich die Verbindung von Soteriologie und Präexistenzchristologie nicht so vorstellen dürfen, daß letztere traditionsgeschichtlich eine Transformation der Aussage vom heilsbedeutsamen Tod Jesu darstellt. Doch würde, das Wissen von dieser Aussage vorausgesetzt, sehr gut verständlich, warum das deuteronomistische Geschichtsbild gerade in Verbindung mit der (heilsmittlerischen) Weisheit rezipiert wird. Dies ist im Folgenden weiter zu entfalten. 3.2.2.2 Zunächst läßt sich aus dem Gedanken der Heilsbedeutsamkeit des Todes J esu nur folgern, daß er - konsequent gedacht - zur Konfrontation mit den bisherigen Heilsmitteln des Judentums, das sind insbesondere Tempeldienst und Tora, führen mußte. Auf diese Konfrontation mit den jüdischen Heilsmitteln hat bereits M. Hengel hingewiesen 98. Allerdings sieht er - anders als hier - das Bekenntnis A. a. O. 20t. Wahrscheinlich hat Jesus selbst diesen Gedanken (beim Abendmahl) initiiert; vgl. H. Merklein, Erwägungen zur Uberlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen: BZ NF 21 (1977) 88-101.235-244, bes. 236f; H. Schürmann, Jesu ureigener Tod (Freiburg i. Br. 1975) 56--63.73-96; P. Stuhlmacher, Achtzehn Thesen zur paulinischen Kreuzestheologie, in: J. Friedrich u. a. (Hrsg.), Rechtfertigung. FS E. Käsemann (Tübingen 1976) 509-525, hier: 522. 9B M. Hengel, Sohn (A.2) 106. 96
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zum Gottessohn als Ausgangspunkt und nicht als Folge der (soteriologisch bedingten) Konfrontation an. Tatsächlich findet sich bei den Hellenisten J erusalems Tempel- und Torakritik (vgl. Apg 6,11.13.14). Letztere wird man sich allerdings noch nicht so antithetisch wie bei Paulus vorstellen dürfen. "Der Jesus, der ,die Gesetze, die uns Mose überliefert hat, ändern wird' ... , scheint eher ein neuer Gesetzgeber als ,des Gesetzes Ende' (Röm 10,4) zu sein"99. Darauf ist später noch einzugehen. Vorab ist festzuhalten, daß eine christologisch bedingte Tempel- und Torakritik den Hauptstreitpunkt mit den hellenistischen Synagogen darstellt. Daß die aramäisch sprechende Christengruppe unter der Führung der Zwölf in Jerusalem verbleiben kann (vgl. Apg 8,1), liegt einerseits daran, daß die Streitigkeiten ein vorwiegend innerhellenistisches Problem darstellen 100, ist andererseits aber auch sachlich darin begründet, daß die "Hebräer" Tempel und Tora gegenüber eine "loyalere" Haltung eingenommen haben. Dies aber ist auf dem Hintergrund der "hellenistischen" Stellungnahme zunächst verwunderlich, da der Gedanke der Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu für die Hebräer in gleicher Weise vorauszusetzen ist. Die Art .des Theologisierens speziell der Hellenisten muß also eine Komponente enthalten haben, die ihnen eine grundsätzlichere Formulierung der Konsequenz der Aussage von der soteriologischen Bedeutung des Todes J esu bezüglich der bisherigen jüdischen Heilsmittel ermöglichte, ja sie dazu nötigte. Diese Komponente dürfte im weisheitlichen Denken des hellenistischen Judentums zu suchen sein, das im Falle der hellenistischen Rücksiedler nach Jerusalem und ihres ausgeprägten Eifers für Tora und Tempel vor allen Dingen an einer weisheitlichen Reflexion von Tempel und Tora interessiert war (s. o. 3.2.1). Ergab sich doch von hier aus die Möglichkeit, die Offenbarungs- und Heilsmittlerfunktion von Tempel und Tora in umfassender, einzigartiger und nicht mehr zu überbietender Weise zu artikulieren. Jede Debatte um Tempel und Tora mußte sich in diesem Milieu auf einem noch grundsätzlicheren Forum bewegen, als dies ohnehin im Judentum schon üblich war. In diesem Denkschema mußte insbesondere das Bekenntnis zur Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu zu einer 99
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M. Hengel, Jesus (A.44) 191, in bezug auf Apg 6,14. Vgl. M.Hengel, a.a.O. 187-190.
tiefgreifenden Erschütterung führen. Denn durch die Identifizierung der Tora mit der Weisheit bzw. mit deren Lokalisierung im Tempel war die Heilsmittlerfunktion von Tora bzw. Tempel so exklusiv-umfassend und endgültig, da bereits präexistent und damit ewig, formuliert, daß sie eine Heilsmittlerschaft daneben oder gar darüber hinaus nicht zulassen konnte. In diesem Milieu konnte eine Frage nach dem Verhältnis von Heilsmittlerschaft von Tempel bzw. Tora zur Heilsmittlerschaft Jesu nicht aufkommen bzw. mußte, wenn sie aufkam, unweigerlich zur Konfrontation führen. Wenn Jesu Tod das endgültige Heil verkörperte, war nicht mehr der bestehende Tempel der Ort der Erwählung und der Gegenwart Gottes, war nicht mehr die Mose-Tora die Offenbarung Gottes zum Heil der Menschen, sondern J esus selbst, und zwar in paradoxer Weise gerade in der Niedrigkeit seines Todes. Das Bekenntnis zum Heilstod Jesu mußte unter den weisheitlich orientierten hellenistischen Juden J erusalems zur Krise führen, sei es, daß man das Bekenntnis übernahm und damit Tora und Tempel kritisch relativierte, sei es, daß man diesem Bekenntnis und seinen Anhängern den Kampf ansagte. Beides ist unter den hellenistischen Juden Jerusalems geschehen. Wenn es richtig ist, daß weisheitliches Denken als Motiv für Tempelbzw. Torakritik der Hellenisten anzusprechen ist, dann war ein weiterer Schritt nur die notwendige Folge. Daß Jesu Heilstod die Heilsmittlerfunktion von Tempel und Tora in Frage stellte, konnte ja nicht als Infragestellung der Heilsmittlerfunktion der Weisheit ausgelegt werden. Vielmehr mußte indem Maße, als man Tempel und Tora aus ihrer Verbindung mit der Weisheit löste, Jesus selbst das Gepräge der Weisheit bekommen: Jesus mußte als Verkörperung und Offenbarung der. Weisheit bekannt werden. Damit war die Idee der Präexistenzchristologie geboren, und die grundsätzlichen Möglichkeiten ihrer weiteren, sicher noch einige Zeit erfordernden Ausgestaltung waren vorgegeben. Daß mit der Idee von der Verkörperung der präexistenten Weisheit inJ esus auch eine Sprachkategorie gefunden war, die das Unverrechenbare und Unerfaßbare im Wirken und Auftreten des irdischen Jesus zu artikulieren vermochte, steht außer Frage 101. Religions- und traditionsgeschichtlich aber dürfte 101 Siehe o. 3.1.2. Eine gewisse katalytische Funktion könnte Lk 11,31 par zukommen, doch dürfte eine direkte übertragung der Weisheitsvorstellung auf Jesus eine Präzisierung jenes "mehr als Salomo" voraussetzen.
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sich die Präexistenzchristologie als eine Transformation der an Tempel und Tora orientierten Weisheitsspekulation des hellenistischen judentums jerusalems aufgrund des Bekenntnisses zur Heilsbedeutsamkeit des Todes jesu darstellen 102. 3.2.2.3 Dies wird weiter dadurch bestätigt, daß im Umkreis der neutestamentlichen Präexistenzaussagen immer wieder der Gesetzesgedanke auftaucht. Ausdrücklich in Konfrontation mit dem Gesetz wird die Christologie bei Paulus, besonders im Galater- und Römerbrief, entfaltet. Doch ist dies keine exklusiv paulinische Idee, die der Apostel etwa in Reaktion auf seine pharisäische Vergangenheit entwikkelt. Paulus tritt hier vielmehr - freilich unter Zuspitzung des Gedankens (dazu unten) - das Erbe der Hellenisten Jerusalems an. Bemerkenswert ist, daß die Sendungsformel kontextuell mit der Gesetzesthematik verbunden ist. Ganz unmißverständlich ist dies in Ga14,4 und Röm 8,3 f der Fall. Doch auch im johanneischen Schrifttum finden sich entsprechende Zusammenhänge. Joh 3, 16f ist mit einer Mose-Typologie verbunden (vgl. 3,13-15); 1 Joh 4,9 wird im Rahmen einer Paränese zur Liebe eingebracht (vgl. 4,7-12), die nach johanneischer Sprechweise als das "neue Gebot" zu verstehen ist 103 . Trotz eindeutig redaktionellen Charakters der jeweiligen Wendungen wird dies schwerlich nur zufälliges redaktionelles Arrangement sein,sondern dürfte einen bereits traditionellen Motivzusammenhang von Präexistenzaussage und Gesetzesthematik wiedergeben. Parallel zu 1 Joh 4,9 steht übrigens der Philipperhymnus im Rahmen einer Mahnung zur Liebe (2,1-5), die nach Paulus die Zusammenfassung des Gesetzes ist (vgl. Ga15, 14; Röm 13,9). Und ganz auf der Linie von Joh 3, 13-15.16f bewegt sichJoh 1,17, wo im Anschluß an die traditionelle Präexistenzaussage des Logos-Prologes Jesus Christus als Uberbietung des Mose-Gesetzes hervorgehoben wird. Schwerlich zufällig dürfte es auch sein, daß in den synoptischen jesus-Sophia-Logien der Gesetzesgedanke eine wichtige Rolle spielt, 102 Vgl. P.Stuhlmacher, Thesen (A.97) 520: "Interpretierte man ... Kreuz und Auferweckung Jesu als von Gott gestiftetes, eschatologisches Sühneereignis und stellte man dieses Ereignis in den Zusammenhang der genannten Traditionen hinein (gemeint sind priesterlich-weisheitliche Traditionen, u. a. Sir 24; Anm. d. Verf.), dann durfte und muß te lPan sogar den Gekreuzigten und Auferstandenen als Verkörperung der ... Weisheit Gottes, als Mittler der ... neuen Schöpfung ... verstehen". 103 Vgl. 1 Joh 3,23 (verbunden übrigens mit dem Glauben an den "Sohn"); 4,21.
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nun allerdings nicht in polemischer Distanz, sondern in Identifikation mit J esus. Daß die Logien eine Identifizierung J esus-Weisheit-Tora voraussetzen, hat besonders F. Christ herauszuarbeiten gesucht 104. Auf die Logien im einzelnen kann hier nicht eingegangen werden, doch sind wenigstens einige Hinweise angebracht: Besonders deutlich ist die Identifikation in Mt 11,28-30, wo Jesus wie die (sirazidische ) Weisheit zu sich einlädt: "Er wirbt für sich als das Gesetz, indem er sich selbst als Joch und Last anbietet, gleichwie die Weisheit, die als Gesetz auftritt." 105 In bezug auf Lk 11,49-51 par hat bereits O. H. Steck herausgestellt, daß die Verbindung der deuteronomistischen Prophetenaussage mit der Weisheitstradition (s. o. 3.1.3.5) die Identifikation von Weisheit und Gesetz voraussetzt 106. Besonders interessant ist das Jerusalem-Wort Lk 13, 34fpar. In dem aus jüdischer Tradition stammenden Wort (s. o. 1.3) ist das ursprüngliche Subjekt "die in Jerusalem wohnende Weisheit von Sir24, die Israel von Gott zur Bleibe erhalten hat ... und die mit dem Gesetz identisch ist"107. Angewandt auf Jesus besagt dieses Wort dann: "Wie die präexistente Weisheit wohnt Jesus-Sophia als Schekina in Jerusalern, wirbt als Gesetz durch Boten (Propheten und Gesandte) um Israel, wird von den Juden abgelehnt und entzieht sich, bis er als Menschensohn zum Gericht wiederkommt" 108. Im Zusammenhang dieser Untersuchung ist das Jerusalem-Wort besonders deshalb bemerkenswert, weil es eine Vielzahl von Momenten enthält, die es nahelegen, es mit den Hellenisten Jerusalems in Verbindung zu bringen. a) Jesus wird mit der präexistenten Weisheit identifiziert. b) Der Tod J esu wird als Auszug der Weisheit aus dem Tempel 109 gedeutet, was durchaus zur Tempelkritik der Hellenisten passen könnte. Jesus Sophia (A. 12), vgl. die Zusammenfassung: 153. F. Christ, a. a. O. 116f. 106 O. H. Steck, Israel (A.17) 224f; vgl. F. Christ, a.a.O. 127f. 107 O. H. Steck, a. a. 0.232. 108 F. Christ, Jesus Sophia (A. 12) 152. Zur Identifizierung des "Kommenden" mit dem Menschensohn s. a.a.O. 141. 109 Zur Bedeutung von or,(Q~ vgl. die übersicht bei F. Christ, a. a. O. 140. O. H. Steck, Israel (A. 17) 237-239, bezieht Lk 13,35 auf die Zerstörung des Tempels (so auch F. Christ, a.a.O. 141) und datiert dann das Wort "zwischen 66 und 70 n. Chr." (238). Demgegenüber ist zu betonen, daß acpCETuL'ulliv ö Or%O~ uwöv, wenn man es nicht schon von Mt 24 her deutet, von einer Zerstörung des Tempels nichts sagt. Richtig G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit (Göttingen 31971) 113: " ... die politischen Ereignisse der 104
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c) Die vorausgesetzte Identifizierung J esu mit dem Gesetz könnte die Vermutung M. Hengels stützen (zu Apg 6, 13f; s.o. 3.2.2.2), wonach Jesus nach Auffassung der Hellenisten nicht das Ende des Gesetzes markiert (vgl. Röm 10,4), sondern eher als neuer Gesetzgeber _auftritt. Die Torakritik würde sich dann nicht grundsätzlich gegen das Gesetz wenden, sondern der Mose-Tora das Gesetz Jesu bzw. Jesus als Gesetzgeber gegenüberstellen. Die Antithese Christus-Gesetz wäre dann erst von Paulus ausgebildet worden, wobei aber ein Ausdruck wie 6 v6flO~ TüV XQLOTüV (das Gesetz Christi) Gal 6,2 noch seine traditionsgeschichtliche Herkunft erkennen läßt. d) Die Erwartung des Menschensohnes findet ihre Parallele in der Stephanus-Vision Apg 7,55f llO . e) Daß die Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu, die nach der hier vorgetragenen These die Voraussetzung für die Anwendung weisheitlicher Vorstellungen auf J esus bildet, in einem aus jüdischer Tradition stammenden Wort nicht explizit ausgesprochen ist, ist selbstverständlich. Doch dürfte es kein Zufall sein, daß eine Tradition rezipiert wird, welche die deuteronomistische Prophetenaussage mit der Weisheit verbindet 111. Jesu Ablehnung bekommt dadurch eine, das Prophetengeschick übersteigende, nämlich eschatologische Bedeutung; die Soteriologie kehrt sich in die Ansage des Gerichtes um 112. Jahre 66 bis 70 sind in unserem Text nicht einmal angedeutet .... Daß ,euer Haus' verlassen wird, bedeutet nichts anderes, als daß die Juden selbst allein gelassen werden". Zeitlichdürfte Lk 13,34.35aindie Nähe des sachlich verwandten Wortes Lk 11,49-51 gehören, das o. H. Steck, a. a. O. 226 "zwischen 150 v. Chr. und Q" einordnet (vgl. auch oben 1.3 und A.20). 110 H. Langkammer, Der Ursprung des Glaubens an Christus den Schöpfungsmittler: SBFLA 18 (1968) 55-93, hier: 62-65, möchte Apg 7,56 sogarfür ein authentisches Wort des Stephanus halten. - Vielleicht stellt die Verquickung von apokalyptischer Menschensohnvorstellung und Weisheits tradition (vgl. auch Lk 7,31-35 par) die speziell hellenistisch-jerusalemische Menschensohnrezeption dar (vgl. R. G. Hamerton-Kelly, Pre-existence [A.2] 275, und unten A.133). M.Hengel, Jesus (A.44) 202f, vermutet, daß die ungewöhnliche übersetzung des berä' änas(ä) mit 6 ULO~ TüV (lvt}Qc.O:n:OU auf die Hellenisten Jerusalems zurückgeht. o. Cullmann, Christologie (A.2) 168f.l87-189, möchte überhaupt die Menschensohnchristologie mit den Hellenisten zusarnmenbrin111 Siehe o. 3.2.2.1 unter c. [gen. 112 Richtig stellt H. Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu (Düsseldorf 21971) 239, fest: "Die Ablehnung dieses Boten bekommt ... einzigartige Relevanz: ... Seine Ablehnung bedeutet. .. Unheil im kommenden Endgericht". Wenn er aber fortfährt: "Daß der Tod Jesu selbst dieses Gericht sei, läßt sich im Sinne von Q nicht behaupten", so ist dies zwar nicht falsch, spielt aber doch den sachlichen (kausalen) Zusammenhang von Ablehnung Jesu und Gericht zu sehr herunter.
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f) Inwieweit man darüber hinaus noch fragen darf, ob die konkrete Erfahrung der Verfolgung, die die Hellenisten machen mußten, und die Steinigung des Stephanus die Rezeption eines jüdischen Traditionsstückes beflügelte, das von der Tötung der Propheten und der Steinigung der Gesandten sprach, sei nur zur Erwägung gestellt. Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, so dürfte eine Zuordnung von Lk 13,34f par zu den Hellenisten Jerusalems gerechtfertigt sein. Das gleiche wird für die übrigen J esus-Sophia-Logien gelten 113, die damit - neben der Aussage von der Sendung des Sohnes (s. u. 3.2.3) - die älteste Schicht der Präexistenzchristologie darstellen. Sofern die Jesus-Sophia-Logien mit den Hellenisten Jerusalems zusammenhängen, wäre die Traditionsgeschichte der Spruchquelle Q neu zu durchdenken 114. Auf keinen Fall könnte die gängige Hypothese, einer älteren palästinischen Schicht würde eine jüngere hellenistisch-jüdische folgen 115, aufrechterhalten werden. Vielmehr wäre davon auszugehen, daß die Redaktion zwei nebeneinander laufende Traditionsströme - die Tradition der palästinischen (aramäischen) Gemeinden und die Tradition der Hellenisten, die über Antiochien vermittelt sein könnte - vereinigt (wohl im syrischen Raum). Erneut zu überprüfen wäre auch der sog. Jubelruf Lk lO,21fpar, der in den nämlichen (hellenistischen) Traditionsbereich gehören dürfte 116. Vor allem das viel umrätselte mih:a (dies), das vor den Weisen und Klugen verborgen, den Einfältigen aber geoffenbart ist (Lk V. 21 par), wäre dann nicht auf die Erkenntnis zu beziehen, daß Jesus "zu Recht Gottes Vollmacht in Anspruch nimmt" 117, noch auf "Jesu Menschensohnwürde" 118, sondern würde primär das Geheimnis der Ablehnung Jesu und seines Todesgeschickes im Auge haben 119. Dies würde einerseits mit den übrigen Jesus-Sophia-Logien überein-
113 Daß die Sophia-Christologie "schon vor Q" zurückreicht und "zu den allerältesten Christologien" gehön, betont auch F. Christ, Jesus Sophia (A.12) 154. Als Träger vermutet er "judenchristlich-,gnostisierende' Kreise in Palästina" (ebd.). 114 überlegungen zum Verhältnis Q - Hellenisten: H. R. Balz, Methodische Probleme der neutestamentlichen Christologie (Neukirchen 1967) 171-174. 115 Vgl. etwa S. Schulz, Q (A.12). 116 Auf die traditions geschichtliche Problematik des Logions kann hier im einzelnen nicht eingegangen werden. Wahrscheinlich ist Lk V. 22 als Interpretament zu V.21 zu verstehen: vgl. P.Hoffmann, Studien (A.12) 109.118ff; S.Schulz, a.a.O. 215. 117 P. Hoffmann, a.a.O. 110. 118 Ders., Jesusverkündigung in der Logienquelle, in: W.Pesch (Hrsg.), Jesus in den Evangelien (Stuttgart 1970) 50--70, hier: 60. 119 Zunächst mag es verwunderlich erscheinen, daß die Gemeinde ein Wort gebildet haben soll, in dem Jesus selbst seine eigene Ablehnung (den Tod einschließend) ausspricht;
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stimmen, in denen "Jesu Ablehnung als eschatologisches Zeichen" erscheint 120, und würde andererseits bestätigt durch die dem Jubelruf m. E. verwandte Stelle 1 Kor 2,6-10, wo Paulus die Offenbarung der verborgenen Weisheit Gottes mit dem Kreuzestod Jesu zusammenbringt, möglicherweise unter Aufnahme "hellenistischer" Denkstrukturen (s.o. 3.1.3.4). Die Offenbarung des Sohnes in Lk 10,22 par kann durchaus mit der Ostererfahrung zusammenhängen. Doch wird man bei "Sohn" nicht primär an den Menschensohn zu denken haben, sondern an den Präexistenten in Analogie zur Weisheit l2l , wobei sich beides nicht ausschließen muß 122. Mit der Bezeichnung "Sohn" ist bereits die letzte Frage angeschnitten, auf die noch kurz einzugehen ist.
3.2.3 Die Rede vom präexistenten "Sohn" ' 3.2.3.1 Bereits das Judentum kennt innerhalb der Weisheitsspekulation bestimmte Relationsangaben, die das Verhältnis der Weisheit bzw. der Tora zu Gott bzw. zur Welt oder zu den Menschen angeben 123 • Zu erinnern wäre an die (alexandrinische) Sapientia Salomonis, die die Weisheit als Gnuuyuo!!U (Abglanz) und cLXWV (Abbild) Gottes be-
S. Schulz, Q (A.12) 217, meint daher;taü"tu könne sich "nur auf seine (= Jesu) eschatologische Geschichte beziehen, in der die Gegenwart der Basileia sich ereignet hat". Doch kann auf die Parallele in Lk 13,34 f par verwiesen werden. Die traditionsgeschichtliche Parallelität wäre übrigens nahezu perfekt, wenn man auch für Lk 10,21 par jüdische Tradition annehmen könnte, wie es R. Bultmann, Geschichte (A. 20) 172, schon einmal vermutet hat (zur palästinisch-jüdischen Prägung des Wortes vgl. P. Hoffmann, Studien [A. 12J 11 Of; S. Schulz, a. a, O. 217). Die religions geschichtlich unvergleichliche, negative Wertung der "Weisen und Klugen" könnte sich aus der weisheitlich geprägten Theologie der hellenistischen Juden Jerusalems erklären, mit denen sich die christlichen "Hellenisten" auseinandersetzen. 120 F. Christ, Jesus Sophia (A. 12) 153. 121 Zur "weisheitlichen" Funktion des Sohnes: A.Feuillet, Jesus (A. 14); D. Lührmann, Redaktion (A.12) 65f; F. Christ, a.a.O. 87-91; S.Schulz, Q (A.12) 222-228; vgl. O. Cullmann, Christologie (A2) 294f; P,Hoffmann, Studien (A.12) 136-138. 122 Von der Menschensohn-Konzeption geprägt ist Lk 10,22 a par: S. Schulz, a. a. o. 222f; P.Hoffmann, a.a.O. 119-122; F. Christ, a.a.O. 86f. Zur Verquickung von MenschensohnvorsteIlung und Weisheitstradition vgl. auch Lk 13,34f; 7,31-35 par. Richtig stellt F. Christ, a. a. O. 88, fest: "Der ,Sohn' erscheint auch hier als Menschensohn. Auch hier aber genügt der Menschensohn allein nicht zur Erklärung. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist in (Mt 11,)27b,c streng exklusiv, Diese absolute Exklusivität erklärt sich ausschließlich von der Weisheitstradition her". 123 Belege bei: M. Hengel, Sohn (A.2) 78-89; E.Schweizer: ThWNT VIII 356f.376-378; U. Wilckens: ThWNT VII 498-510.
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zeichnet (Weish 7,26) 124. Sie lebt in vertrauter Gemeinschaft mit Gott (8,3), nach 9,4 ist sie sogar Throngenossin Gottes. Nach 8, 1 durchwaltet sie - analog zum stoischen Logos - das ganze All12s. Ähnlich spricht Philo von der Weisheit 126. Nach Fug 109 hat der göttliche Logos Gott, den Vater des Alls, zum Vater, und die Weisheit, durch die das All in Erscheinung trat, zur Mutter 127. Andererseits kann Philo die Weisheit auch "Tochter Gottes" nennen 128 • Diese Bezeichnung findet sich auch bei den Rabbinen für die Tora, die mit der Weisheit identifiziert wird 129. Noch bemerkenswerter ist der phiionische Logos, der einerseits die Weisheit zur Mutter hat (s. 0.), andererseits aber genau die Funktionen der Weisheit übernimmt 130 als Mittler, Gesandter, Bote, Abbild und Organ Gottes, ja als Gottes erstgeborener Sohn 131. Es bestand offensichtlich gerade innerhalb der hellenistisch-jüdischen Weisheits spekulation eine starke Tendenz zur Personifizierung der Relationen von Weisheit bzw. Logos, wobei die Identifikationsgestalten eine reiche Variationsbreite, je nach Aussageintention und -funktion, aufweisen. 3.2.3.2 Unter dieser Rücksicht wird man damit rechnen müssen, daß unter den Hellenisten J erusalems auch für J esus, nachdem einmal weisheitliche Kategorien auf ihn angewandt waren, sehr bald entsprechende Relationen angegeben wurden, sofern der Vorgang nicht mehr oder minder gleichzeitig mit der Weisheitsidentifikation anzusetzen ist. Dabei lag die Bezeichnung "Sohn" schon als Analogie zur Weisheit als "Tochter Gottes" nahe. Jesu unvergleichliche Nähe zu Gott und seine damit gegebene offenbarungsmittlerische Funktion konnten adäquat artikuliert werden (vgl. Lk 10,22 par). Sehr früh, wenn nicht von Anfang an, dürfte die Bezeichnung
124 Im Neuen Testamentvgl. Hebr 1,3; Kol1, 15; 2 Kor 4,4; zur Sache: J.Jervell, Imago Dei (Göttingen 1960); F.-W.Eltester, Eikon im Neuen Testament (Berlin 1958). 125 Im Neuen Testament vgl. Kol 1, 16f; Joh 1,3. 126 Vgl. U. Wilckens: ThWNT VII 50H, bes. 502,6f. 127 Ahnlich ist die Vorstellung in Ebr 30f; vgl. Det 54. 128 Fug 50--52; vgl. Virt 62; Quaest in Gn 4,97. 129 Bill. II 355f; vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus (Tübingen 1969), 310 Anrn.404. 130 Vgl. H. Kleinknecht: ThWNT IV 87,29ff (mit Anm. 88). 131 E. Schweizer: ThWNT VIII 357,8-13; vgl. M.Hengel, Sohn (A.2) 83.
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"Sohn" mit der Vorstellung von der Sendung durch Gott verbunden gewesen sein (vgl. Sendungsformel). Religionsgeschichtlich gesehen könnte hier eine Beeinflussung durch die ägyptisch-jüdische Logosund Weisheits spekulation vorliegen 132, was für die Hellenisten J erusalems durchaus denkbar ist (s. o. 3.2.1). Traditionsgeschichtlich dürfte aber der Gedanke der Sendung durch die deuteronomistische Prophetenaussage beeinflußt sein, mit deren Hilfe man Jesu Ablehnung bzw. Todesgeschick deuten konnte. Die Rezeption dieser Aussage bei den Hellenisten kann aufgrund von Lk 11,49-51; 13,34f par (vgl. 7,31-35 par) vorausgesetzt werden. Hatte im Falle dieser Logien die Verbindung mit der Weisheits tradition verhindert, Jesu eschatologische Bedeutung zu nivellieren, so konnte jetzt, nachdem die auf Jesus übertragenen Funktionen der Weisheit ihre angemessene Personifizierung in der Sohnes-Bezeichnung gefunden hatten, unbedenklich die deuteronomistische Aussage von der Sendung der Propheten - nun als Sendung des Sohnes -auf Jesus angewandt werden 133. Man könnte die Sendungsformel als eine christlich-eigensprachliche Weiterführung einer zunächst mit traditionellen Aussagen operierenden Weisheitschristologie verstehen. Daß zwischen den Jesus-Sophia-Logien und der Sendungsformel ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang angenommen werden darf, bestätigt das Winzergleichnis Mk 12,1-12. Besonders mit Lk 11,49-51; 13,34f par ist es
132
Nur dort finden sich Sendung durch Gott und Gottessohntitel verbunden: s.o.
1.1. 133 Ein ähnlicher Vorgang könnte hinter der Bezeichnung "Menschensohn" in Lk 7,34 par stehen. Das Verhältnis von Menschensohn- und Sohnes-Bezeichnung bei den Hellenisten kann hier nicht näher verfolgt werden, wiewohl es dringend notwendig wäre. Die Klammer stellt wahrscheinlich die Weisheitsvorstellungdar (vgl. oben A. 110). In Lk 13,34f par jedenfalls wird die Vorstellung (der aramäischen Gemeinde?) vom kommenden Menschensohn im weisheitlichen Kontext rezipiert: Der "Kommende" ist identisch mit Jesus, der in V. 34.35a als Weisheit auftritt (vgl. auch Lk 10,22 par und oben A. 122). Dies erlaubt dann auch die Aussage vom Gekommensein des (präexistent gedachten? vgl. oben A.19) Menschensohnes in Lk 7,31-35par. "Menschensohn" und "Sohn" wären funktional sehr angenähert. Unter dieser Rücksicht könnte 1 Thess 1,9f mit den Hellenisten in Verbindung gebracht werden (zum hellenistisch-jüdischen Hintergrund: P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium I [Göttingen 1968] 260f), und man müßte nicht erst Paulus für die Ersetzung des Menschensohnes in V. 10 verantwortlich machen (so E. Schweizer: ThWNT VIII 372, 11 ff). Von daherfiele dann auch neues Licht auf die eigentümliche Pose des Menschensohnes in Apg 7,56 (zur Problematik: H. E. Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen überlieferung [Gütersloh 1959] 274--276).
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wegen der deuteronomistischen Prophetenaussage verwandt, verbindet aber diese bereits mit der Sendung des Sohnes.
Inhaltlich ist die Sendungsformel eine genuin christliche Sprachleistung. Mit der Bezeichnung "Sohn" blieb die eschatologische Qualität der Sendung Jesu gewahrt 134. Zugleich ergab sich die Möglichkeit, die Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu, die den Ausgangspunkt für die übertragung weisheitlichen Denkens auf Jesus bildete (s. o. 3.2.2.2), unmittelbar für die Präexistenzaussage fruchtbar zu machen im Sinne der auf den Heilstod Jesu abzielenden Sendung des Präexistenten. Im übrigen zeigt gerade letzteres, daß die übertragung der Weisheitsvorstellung auf J esus zu einer nicht unerhe blichen, innovierenden Veränderung der Vorstellung selbst führen mußte, bedingt durch "die historische Einmaligkeit wie die eschatologische Bedeutung der Sendung" 135. Ob die hellenistisch-judenchristliche Aussage von Jesus als dem Sohn bzw. von der Sendung des Sohnes schon in Jerusalem oder erst später (in Antiochien?) gemacht wurde, ist nicht mehr sicher zu entscheiden 136. Jedenfalls setzt Paulus sie bereits voraus. Im übrigen ist eine Entstehung in J erusalem selbst nicht unwahrscheinlich, wenn man die Aussage vom messianischen Sohn Gottes - wie M. Hengel annimmt - für die aramäisch sprechende Urgemeinde voraussetzen darf (s. 0.2.4). Diese Bezeichnung könnte geradezu der Katalysator gewesen sein, um die im Lichte der Weisheit verstandene Sendung J esu als Sendung des Sohnes zu artikulieren. Allerdings handelt es sich auch dann nicht um eine Weiterführung der messianischen Christologie (gegen Hengel), sondern um eine Präzisierung des der Präexistenzvorstellung immanent und unabhängig innewohnenden Bedeutungsgehaltes. 3.2.3.3 Die Ausgestaltung der präexistenzchristologischen Hymnen (s.o. 1.2) wird man einem späteren traditionsgeschichtlichen Stadium zurechnen müssen. Wahrscheinlich unterscheidet R. H. Puller zu 134 Mit der eschatologischen Qualität der Sendung Jesu hängt möglicherweise die Bezeichnung Jesu als des Sohnes im absoluten Sinn zusammen (vgl. Lk 10,2lfpar), was dann im Rahmen der Vorstellung von der Sendung durch Gott die Rede von "seinem Sohn" ergibt (vgl. Sendungsformel). 135 E. Schweizer: ThWNT VIII 377,17; vgl. dazu auch~ H. Leroy, Jesus von Nazareth - Sohn Gottes: ThQ 154 (1974) 232-249, hier: 238-242.244. 136 In jedem Fall dürfte Mk 12, 1-12 in seiner jetzt vorliegenden Ausgestaltung nicht zur ältesten Traditionsschicht zählen.
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Recht zwischen einer "conception of inactive pre-existence and sending" (vgl. Sendungsformel) und einem "type of pre-existence ... which postulates an activity of the pre-existent One, and his Own initiative in the incarnation" 137. Erwägungen über das präexistente Verhältnis Jesu zu Gott und seiner präexistenten Aktivität (Schöpfungsmittlerschaft) scheinen erst eine Konsequenz der Aussagen zu sein, die Jesu irdische Sendung und Todesgeschick bzw. seinen heilsbedeutsamen Tod durch Identifikation mit der präexistenten, von Gott gesandten Weisheit (Sohn) als auf göttliche Initiative zurückgehend deuten wollen 138. Doch lassen auch die Hymnen, teils direkt, teils wenigstens indirekt, noch den ursprünglichen Ansatzpunkt der Präexistenzaussage beim Tode Jesu erkennen (s.o. 3.1.3.2). Ob diese Hymnen mit den aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten in Verbindung zu bringen sind, ist eine andere Frage 139. Auf Jerusalern selbst dürften sie kaum zurückgehen. Eher könnte man an Antiochien denken. Doch ist ihre Entstehung auch überall sonst im hellenistischen Judenchristentum denkbar (Kleinasien?). In jedem Fall ist der Beitrag der Jerusalemer Hellenisten als Initialzündung nicht hoch genug einzuschätzen. Foundations (A.2) 194f. H. Hegermann, Vorstellung (A. 2) 124, bemerkt, "daß eine konsequente Ausgestaltung der Schöpfungsmittler-Christologie nicht am Anfang der Entwicklung stand, sondern ein späteres Stadium darstellt". Vgl. dazu auch: H. Langkammer, Ursprung (A. 110), wobei jedoch fraglich bleibt, ob die Schöpfungsmittler-Christologie sich "aus der Erhöhungs-Christologie" entwickelt hat (86); mehr Gewicht dürfte der "Glaube an Christus den Heilsmittler" (89) gehabt haben. G. Schneider, Präexistenz (A.69), bemerkt zu 1 Kor 8,6: "Erst von dem soteriologischen ,durch Christus' her konnte das auf die Schöpfung bezogene ÖL(i gefunden werden" (404), und bestimmt "die Schöpfungsmittlerschaft als Interpretament der als Neuschöpfung verstandenen Erlösungstat, die Christus vermittelte" (412). 139 R. H. Ful/er, Foundations (A. 2) 203-242, weist sie generell der hellenistischen Heidenmission, genauer gesagt, der Heidenmission durch hellenistische Judenchristen zu; eine Verbindung mit den "Hellenisten" wäre damit nicht ausgeschlossen (vgl. a. a. O. 203). 137 138
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III Die Auseinandersetzung mit der Fasten- und Sabbatpraxis Jesu in urchristlichen Gemeinden Von Maria Waibel, Würz burg
Die Einheiten vom Nicht-Fasten der Jünger Jesu und vom Ahrenraufen am Sabbat folgen in der Akoluthie des Markus- und Lukasevangeliums sowie in der sogenannten galiläischen Streitgesprächesammlung aufeinander. In beiden überlieferungen steht das Jüngerverhalten im Kontrast zur geltenden jüdischen Gesetzespraxis und wird die Gültigkeit des Gesetzes von Jesus hinterfragt. Die Traditionen sind deshalb von besonderem Interesse, weil jeweils der Ursprung der überlieferten Gesetzesübertretung im Verhalten Jesu selbst festzumachen ist und weil traditionsgeschichtlich beobachtet werden kann, wie in differierenden Situationen die Gemeinden in unterschiedlicher Weise zur Praxis J esu stehen und eine Anpassung an die veränderten Bedingungen vornehmen. Außerdem ist aus dem traditionsgeschichtlichen Werdegang zu ersehen, daß die überlieferungsgeschichte der Texte jeweils mit geschichtlichen Veränderungen innerhalb der christlichen Gemeinden und deren Bewältigung korreliert.
1. Das Streitgespräch über das Fasten (Mk 2,18-22)
Mk 2,18-22 parr ist die dritte Einheit innerhalb der sogenannten galiläischen Streitgesprächesammlung. Es wird hier Jesus das Nicht-Fasten seiner Jünger im Gegensatz zur Fastenpraxis der Johannesjünger und der Pharisäer (-jünger: so Markus) zum Vorwurf gemacht. Jesus verweist auf das Nicht-Fasten-Können der Hochzeitsgäste, auf die Gegenwart bzw. Abwesenheit des Bräutigams und gebraucht die beiden Bildworte vom ungewalkten Flicken und vom Wein in den Schläuchen. Die Perikope setzt voraus, daß das anstößige Nicht-Fasten der Jünger J esu seine Legitimation im Nicht-Fasten J esu selbst hat. Das zeigen 63
der Vorwurf, der an Jesus gerichtet ist, die Antwort Jesu mit dem Bild von den Hochzeitsgästen und dem Bräutigam, und dasselbe wird auch vom Begriff der Jüngerschaft her nahe gelegt. Aus den Entgegnungen Jesu in V. 19f geht hervor, daß christliche Gemeinden die jüdische Sitte des Fastens grundsätzlich wieder pflegten und einen positiven Sinn darin sahen. Die in der Perikope mehrfach feststellbaren literarkritischen Spannungen signalisieren, daß der markinischen überlieferung eine lange traditions geschichtliche Entwicklung vorausging, die durch sich verändernde Einstellungen von Gemeinden zum Fasten und durch entsprechend neue Begründungen ihrer Fastenpraxis bedingt wurde. Mk2, 18-22 ist formgeschichtlich als Apophthegma zu begreifen. Damit ist nach R.Bultmann der "Sitz im Leben" der Perikope in gemeindlichen Problemen und Auseinandersetzungen zu suchen. Gleichwohl ist zu betonen, daß diese formgeschichtliche Klassifizierung nicht bedeuten darf, daß die Möglichkeit eines Haftpunkts im Leben Jesu verneint wird. Die traditions geschichtliche Analyse beschränkt sich zunächst auf die Verse 18-20. Das Doppelbildwort V. 21 f wirkt als sekundäre N achklappung. Die Frage seiner Traditionszugehörigkeit soll erst nach der Rekonstruktion der ältest-erreichbaren überlieferung erörtert werden. Es wird zunächst versucht, nach der Darlegung der beobachtbaren Unstimmigkeiten in der Perikope die Traditionsgeschichte bis zu einem eventuellen Anhalt im Verhalten J esu selbst zurückzuverfolgen und mit den Handlungsweisen der jeweiligen Gemeinden zu korrelieren. 1.1 Unstimmigkeiten innerhalb der Perikope Mk 2,18-22
v. 18. 18ba 18bß
19. 19ba 19bß 19c
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Und die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasteten. Da kamen (Leute) und sprachen zu ihm: Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, deine Jünger aber fasten nicht? Da sprach Jesus zu ihnen: Können etwa die Hochzeitsgäste ... fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten.
20a
20bu 20bß
Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam ihnen entrissen sein wird, und dann werden sie fasten, an jenem Tage.
2lf
An erster Stelle ist also auf Unstimmigkeiten aufmerksam zu machen, die die Uneinheitlichkeit des Apophthegmas 1 indizieren und Impulse vermitteln, um den Werdegang der Tradition zu erheben. a) Im Unterschied zu den weiteren Streitgesprächen der Sammlung, die inder Situations angabe zuerst vom Verhalten Jesu bzw. seiner Jünger berichten, beginnt die Perikope mit einer Angabe über die Praxis der Gegner. b) Literarkritisch betrachtet, sind die Bildworte vom Flicken und vom neuen Wein formkritisch wie inhaltlich deutlich als Neuansatz kenntlich. Formal handelt es sich in V. 21 f um "gleich strukturierte ... und inhaltlich parallelisierte ... Klugheitsregeln"2, die den vorausgegangenen Konfliktfall des Fastens nicht verbalisieren, in denen auch konkrete Personenangaben fehlen. Die Verse 18-20 hingegen stellen ein in sich abgeschlossenes und verständliches Fasten-Streitgespräch dar. Die Antwort Jesu auf die Gegnerfrage bildet jedoch auch keine vollkommene literarische Einheit. c) Auffällig sind in V. 20 die miteinander unvereinbaren Zeitangaben: Das künftige Fasten "an jenem Tage" aus V. 20bß stößt sich mit "jenen Tagen", "wo der Bräutigan von ihnen genommen sein wird" in V. 20a. Hier dokumentiert sich eine literarische Spannung, die stark auf unterschiedliche Traditionsschichten verweist. d) V. 19 ist zweigliedrig in Frage und Antwort strukturiert. Der erste l'eil impliziert bereits, was der zweite Teil ausspricht. Diese indirekte Doppelung der Aussage deutet einen sekundären Traditionszuwachs an. e) Schließlich sind die unterschiedlichen Bezeichnungen "die Pharisäer" (V. 18a) und "die Jünger der Pharisäer" (V. 18bß) zu beachten. Daß nicht heide Angaben der gleichen Traditionsstufe entstammen, ist Gegen J. Schniewind, Das Evangelium nach Markus (Göttingen '°1963) 64f. R. Peseh, Das Markusevangelium. I. Teil. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1 bis 8,26 (Freiburg - Basel- Wien 1976) 176.
1
2
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sehr zu vermuten. Welche Formulierung jedoch ist älter? Wie ist das merkwürdige Wort von den "Jüngern der Pharisäer" überlieferungsgeschichtlich einzuordnen, wo doch - historisch gesehen - nur die Gruppe der Schriftgelehrten unter den Pharisäern "Schüler" hatte? 1.2 "Pharisäer" und "Jünger der Pharisäer" In Mk 2,18-22 sind keine markinischen Sprach- und Stilelernente festzustellen. Im Zusammenhang des wohl markinischen Abschlußverses der Streitgespräche 3,6 allerdings, in dem die Pharisäer und Herodianer als die Todfeinde Jesu erklärt werden, könnte V. 18a eine bewußt erfolgte Eintragung und Vorwegnahme des traditionellen V. 18b durch den Evangelisten sein 3. Der Evangelist hätte damit die Gegnerschaft der Pharisäer akzentuiert und die vorgegebene Nennung der "Jünger der Pharisäer" (V. 18b) 4 korrigiert. Die weitere traditionsgeschichtliche Untersuchung geht also zumindest ab V.18b vom Text der vormarkinischen Sammlung aus. 1.3 "Tage" und "Tag" des Fastens (V. 20a-V.20bß) In V. 20 steht der Formulierung von "den Tagen, da der Bräutigam von ihnen genommen sein wird", die Wendung von "jenem Tag, an dem sie dann fasten werden" gegenüber. Außerdem klingt in V.20ba das "dann" hart neben dem "an jenem Tage". Die Unvereinbarkeit der beiden Zeitangaben "Tage-Tag"5 wurde von den Seitenreferenten bemerkt und in der Weise korrigiert, daß sie die chronologische Bezeichnung im Singular wegließen (so Mattäus) bzw. den Singular in den Plural abänderten (so Lukas), wodurch sich jeweils eine in sich sinnvolle Satzeinheit ergibt. Gerade die schwierigere Lesart des Markus jedoch bezeugt die Priorität gegenüber Mattäus/Lukas. Sie verlangt nach einer Erklärung. 3 w. Thissen, Erzählung der Befreiung. Eine exegetische Untersuchung zu Mk2, 1- 3,6 (Würzburg 1976) 65-68. 4 ]. Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus (Göttingen 21973) 234, und W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus (Berlin 51971) 64f, dagegen sehen in der Nennung der Pharisäer-Jünger markinische Redaktionstätigkeit. 5 Gegen]. Roloff, Kerygma 232, der diese Widersprüchlichkeit bagatellisiert, indem er auf. einen analogen Sprachgebrauch von "an jenem Tag" in Joh 14,20; 16,23.26 verweIst.
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Im Zusammenhang mit V. 19c, in dem V. 20a zweifellos gelesen werden muß, werden die "Tage" eindeutig bestimmbar. Durch die Angabe "solange sie den Bräutigam bei sich haben" in V. 19c, in der in verhüllter Weise die begrenzte Dauer der irdischen Präsenz Jesu ausgesprochen ist, werden die Tage nach der Wegnahme des Bräutigams als die gesamte Zeit nach der irdischen Anwesenheit Jesu, also nach seinem Tod, qualifiziert. Auf diese Zeit nach Jesu Tod müßte sich auch das Fasten beziehen, das das Nicht-Fasten während der Jesus-Zeit ablöst. Die Beschränkung des Fastens auf "jenen Tag" kann nur als nachträgliches Interpretament verstanden werden, zumal die Formulierung auch neben dem "dann" von V.20ba seltsam erscheint 6. Hier spiegelt sich die Situation einer jüngeren Gemeinde wider. Diese legte Wert auf das Fasten an einem bestimmten Tag und suchte diese Festlegung von der Vorausschau Jesu her zu legitimieren. Die genau begrenzte und doch nicht datumsmäßig festgelegte Zeitangabe für das Fasten hat in der Forschung verschiedene Deutungen erfahren. H.-W. Kuhn 7 hat vier erwägenswerte Deutungsformen (und ihre Vertreter) in einer Zusammenstellung aufgeführt: das wöchentliche Freitagsfasten, das Passafasten entsprechend dem Brauch der Quartadezimaner, das Karsamstagsfasten und das Karfreitagsfasten. Das wahrscheinlichste Verständnis "jenes Tages" dürfte sich, wie H.W. Kuhn gut begründ~t und belegt, auf ein wöchentliches Freitagsfasten beziehen 8, das in Erinnerung an den Wochentag des Todes Jesu erfolgte. Als ältestes Zeugnis dieses Freitagsfastens gilt Didache 8, 1, wonach allerdings auch die Anweisung zum Fasten am Mittwoch ergeht. Der Zusatz in Mk 2,20bß wird also einer Gemeinde zuzurechnen sein, die das Freitagsfasten stark betonte und dazu die vorgefundene Tradition von der künftigen Hinwegnahme benützte, um ihr Freitagsfasten zum Tod J esu in Beziehung zu setzen.
Die übersetzung von V. 20 bß mit "in jener Zeit" - so W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur (Berlin 51963) Sp. 687 - ist unwahrscheinlich, da dann eine Tautologie vorläge, die gleiche Wiedergabe von "Tag" im Singular und Plural nicht erklärlich und diese übersetzung philologisch sehr problematisch wäre. Vgl. H.- W. Kuhn, Altere Sammlungen im Markusevangelium (Göttingen 1971) 63-65. 7 Sammlungen 66f. 8 H.- W. Kuhn, Sammlungen 68-71; vgl. auch R. Pesch, Markus I 175.
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Falls V. 18a nicht auf das Konto der markinischen Redaktion geht, wäre die Formulierung des Satzes auch im Zusammenhang der Ergänzung "jenes Tages" in V.20bß gut vorstellbar. Dem wöchentlichen zweitägigen Fasten der Pharisäer wäre dann das eintägige Freitagsfasten der christlichen Gemeinde gegenübergestellt. 1.4 Nicht-Fasten, während und solange der Bräutigam bei den Jüngern ist Die ältere Tradition hat höchstwahrscheinlich mit: "und dann werden sie fasten" geendet 9. Es ergibt sich so ein einheitliches Sinn ganzes der Verse 19c.20aba. Der Zeit, in der der Bräutigam bei den Söhnen des Hochzeitssaales ist, stehen die künftigen Tage seines Entrissen-Seins gegenüber. Die Allegorie des Bräutigams, die Zeitbestimmung in V.19bß, die auch schon auf das Ende der Hochzeitstage zielt, der Autoritätsanspruch Jesu in der Frage der Annullierung des Fastens und die für die Zeit nach seinem Tod angekündigte Wiederaufhebung dieser Praxis lassen die Sätze kaum als eine Äußerung des historischen Jesus zu 10. Es ist die Gemeinde, die ihre Fastenpraxis, die offensichtlich entsprechend der jüdischen Umwelt (V. 18b) erfolgt, durch ein "vorösterliches" Wort Jesu begründet. "Sitz L'll Leben" dieser von V.18b bis V.20ba reichenden überlieferung dürfte eine Gemeindesituation gewesen sein, die durch eine selbstverständliche Fastenpraxis geprägt war. Diese wurde dadurch legitimiert, daß man sich auf Jesu Voraussage für die Zeit nach seinem Tod berief.
9 So auch W. Thissen, Erzählung 68. H.- W. Kuhn, Sammlungen 66 A. 87, läßt die Frage offen. E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus (Göttingen 21968) 37, erwägt auch die Möglichkeit einer nachmarkinischen Ergänzung. Auf markinische Redaktion dürfte V.20bß kaum zurückgehen: Gegen W.Grundmann, Markus66; E.Lohmeyer, Das Evangelium nach Markus (Göttingen 161963) 60f. 10 Vgl. R. Pesch, Markus I 174f. Gegen F. G. Cremer, Die Fastenfrage Jesu. Mit 2,20 und Parallelen in der Sicht der patristischen und scholastischen Exegese (Bonn 1965) 5f.147f.176f, der V. 20 für ein echtes Jesuswort hält und "fasten" durch "mit Trauer entbehren" wiedergeben will; und gegen]. B. Muddiman, Jesus and Fasting. Mark ii. 18-22, in: ].Dupont (Hrsg.), Jesus aux origines de la christologie (Gembloux-Louvain 1975) 271-281, hier 277-280, der bei einer Veränderung des Passivs "entrissen sein wird" ins Aktiv die Verse 18-20 (+ 21 f) als literarische Einheit betrachtet und auf Jesus zurückführt.
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Stellt die überlieferung V.18(a)b-V.20: " ... und dann werden sie fasten" schon die älteste Traditionsstufe dar? Die bereits genannte Wiederholung von V.19bß in V. 19c ist ein Indiz für das eventuelle Vorhandensein zweier Traditionsschichten. Die Konjunktionen "während" in V. 19bß und "solange" iri V. 19c erscheinen als sprachliche Varianten, die jedoch auf dieselbe Aussage hinzielen. In V. 19c wird auf grund des "solange" und des anschließenden V. 20 klar eine Zeitbegrenzung ausgesprochen: "Solange sie den Bräutigam bei sich haben ... da der Bräutigam von ihnen genommen ist". Dem Autor geht es mit dieser doppelten Zeitbestimmung "während - solange" demnach darum, die alleinige Gültigkeit der NichtFasten-Praxis in der limitierten Zeit des irdischen Jesus im Bewußtsein seiner Leser zu verankern. Gleichermaßen wird auch das Fasten der Gemeinde in der Situation nach Jesu Tod massiv christologisch untermauert, so daß Fastenfreiheit und Fastenpraxis nicht unvereinbare Gegensätze darstellen. Im Begriff des Bräutigams ist ja eine verhüllte messianische Selbstprädikation ausgesagt. Die Gegenwart Jesu wird somit als messianisch-eschatologische Heilszeit bestimmt, während die Zeit nach seinem Tod als Verlust dieser Messiaszeit verstanden werden muß. Diese überlegungen machen es sehr wahrscheinlich, daß eine zuerst nur bis V.19ba reichende überlieferung sekundär durch V.19bß und V. 19c ergänzt wurde 11. V.19b besteht aus zwei Gliedern mit unterschiedlichen Subjekten: die Söhne des Hochzeitssaales und der Bräutigam. V.19ba bietet eine in sich verständliche Aussage: Können etwa die Söhne des Hochzeitssaales, d. h. die Freunde des Bräutigams, die Hochzeitsgäste 12 fasten? Angesichts der Hochzeit wäre die Forderung des Fastens töricht. Die Bedeutung der Person J esu ist in seinem Wort von der gegenwärtigen Hochzeit impliziert. In V.l9bß dagegen wird die Person des Bräutigams als konstitutive:; Element, ja wichtigste Gestalt der Hochzeit akzentuiert und in diesem Bild des Bräutigams J esu Rolle besonders herF. Hahn, Christologische Hoheitstitel (Göttingen 41974) 127 Anm. 4; W. Thissen, Erzählung (A.3) 193f; H.-W. Kuhn, Sammlungen (A.6) 62, und ders., Enderwartung und gegenwärtiges Heil (Göttingen 1966) 198, lassen offen, ob die Zeitbestimmung in V.19bß zur ältesten Fassung gehört. 12 Vgl. R. Pesch, Markus 1173 Anm. 8; unter Bezugnahme auf P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und MidraschI (München 51969) 500-518; J.Jeremias: ThWNTIV i096 und dort Anm.40. 11
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vorgehoben. Der Blick auf Gleichnisüberlieferungen aber zeigt, daß die ältesten Traditionen der Verkündigung Jesu offenbar nicht seine Person thematisieren, sondern allein Gott und seine Herrschaft, und daß die Bedeutung der Person Jesu nur indirekt von seinem Auftreten her erschlossen werden kann (vgl. Mk 4,3-32; Lk 14,15-24; u. a.).
Gegen R. Pesch ist festzuhalten, daß die gewisse sprachliche Unterscheidung "während - solange" nicht auch einen Bedeutungswandel von V. 19bß zu V. 19c und eine traditionsgeschichtliche Scheidung mit sich bringt. R. Pesch unterscheidet eine ältere Tradition, die bis V. 19bß reiche 13 und das "Bild der andauernden Hochzeitsfeier" 14 ohne den Blick auf das Ende dieser Feier darbiete und dabei "auf guten historischen Grundlagen beruh(e)" 15, sowie eine jüngere überlieferung, die die V~rse 19c.20 ergänze und" vom Standpunkt der Zukunft der J ünger, der nachösterlichen Kirche" 16 aus formttliert sei, "die ihre Gegenwart nicht wie die Jesuszeit als messianische Heilszeit begreift" 17. Traditionsgeschichtlich ist der sprachliche Wechsel von "während" zu "solange" innerhalb derselben überlieferung erklärlich. V.19bß wie V.19c dienen in dieser jüngeren überlieferung demselben Ziel: der Begründung des Fastens in der Zeit der Kirche ohne die irdische Anwesenheit Jesu. V.19bß muß die Person Jesu im Bild des Bräutigams überhaupt erst einführen, und V.19c betont anschließend das Verhalten der Kirche in der Zeit der Abwesenheit des Bräutigams. Es dürfte deshalb sinnvoller sein, den traditionsgeschicht-
13 R. Pesch, Markus I 174 f. So auch J. Roloff, Kerygma (A. 4) 225--229 und offensichtlich R. Schnackenburg, Das Evangelium nach Markus. 1. Teil (Düsseldorf 1966) 68f. F. Hahn, Hoheitstitel 127 Anm. 4, führt V.18.19ab im "Grundbestand" auf Jesus zurück. Die Priorität von V. 19 b gegenüber V. 19 c.20 vertreten auch R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen 61964) 17f.96.215; M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums (Tübingen 61971) 62f; W. Grundmann, Markus (A.4) 66; W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung (Zürich 31956) 70; J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu (Göttingen 71965) 49 Anm. 3.67. Jeremias sieht in V.19bß nur eine Umschreibung für "während der Hochzeitsfeier" (ebd. 49 Anm. 3). J. Schmid, Das Evangelium nach Markus (Regensburg 51963) 66f, dagegen bezeichnet den ganzen V.19 als ursprünglich. E. Schweizer, Markus (A.9) 37, hält V.20 sicher, V.19c eventuell für Gemeindebildung. 14 R. Pesch, Markus I 174 Anm. 15. 15 A.a.O. 174. - So auchJ.Roloff, Kerygma (A.4) 225-229. 16 R. Pesch, Markus I 175. 17 Ebd.
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lichen Zuwachs zur ältesten überlieferung schon bei V. 19bß und nicht erst ab V.19c anzusetzen 18. 1.5 Die älteste erreichbare Tradition über das Nicht-Fasten Die älteste überlieferung schloß also vermutlich mit der Antwort Jesu: "Können etwa die Hochzeitsgäste fasten?" (V. 19ba). Dieser Erwiderung muß V. 18b vorausgegangen sein: Leute kommen und lasten J esus das Nicht-Fasten seiner Jünger angesichts des Fastens der Johannes(und Pharisäer)jünger an. Allerdings wird man V. 18b nicht im ganzen dieser ältesten Tradition zuschreiben können. Vermutlich wird analog der Gegenüberstellung Johannes/Jesus in der überlieferung der Logienquelle (Q) Mt 11,16-19 par auch in der ältesten Tradition Mk2, 18 nur von Johannesjüngern die Rede gewesen sein 19. Die früheste überlieferung der Fastenfrage umfaßt folglich sicher V. 18b (ohne "die Jünger der Pharisäer") und V. 19aba. (Zur Frage der Zugehörigkeit der Bildworte zur ältesten Tradition siehe unter 1.8.) Die Verse lauten: "Und es kommen Leute zu Jesus und sagen ihm: Warum fasten die Jünger des Johannes, deine Jünger aberfastennicht? Da sprach Jesus zu ihnen: Können etwa die Hochzeitsgäste fasten?" Es handelt sich hier formgeschichtlich um ein Streitgespräch, das in knappster Darstellung den Anlaß für den Konflikt, den Vorwurf und die Entgegnung J esu in einer Gegenfrage berichtet. Daß hier die christliche Gemeinde den Sachverhalt in dieser literarischen Gattung des Streitgesprächs vermittelte, ist mehrfach zu begründen: 1. J esus ist we-
18 Wenn R. Pesch, Markus I 173, als Beleg für die Einheit von V.19ba und 19bß Bill. I 517f anführt, wo nach der rabbinischen Stelle ExR 15 (79 b) "in den Tagen des Messias die Hochzeit sein" wird, so postuliert er für Jesus eine nahezu explizite messianische Selbstdarstellung. Unhaltbar ist auf alle Fälle die These von K. Th. Schäfer, " ... und dann werden sie fasten, an jenem Tag" (Mk 2,20 und Parallelen), in: J. Schmidt-A. Vögtle (Hrsg.), Synoptische Studien. Festschrift A. Wikenhauser (München 1953) 124-147, hier 145, "daß bereits die älteste uns vorliegende Fassung der Perikope Mk 2,19 a und Mk 2,20 untrennbar miteinander verbunden zeigt". 19 Vgl. auch R. Bultmann, Geschichte (A.13) 17 Anm.3; E. Lohmeyer, Markus 59; J. Roloff, Kerygma (A. 4) 224; E. Schweizer, Markus 36; W. Thissen, Erzählung (A. 3) 67 Anm. 69. H.-W. Kuhn, Sammlungen 70; ders., Enderwartung (A.11) 198 Anm. 24, hält sekundäre Gemeindebildung des gesamten V.t8 für möglich.
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gen des Nicht-Fastens nur seiner Jünger angefragt. 2. Das Verhalten der Jesus-Jünger wird dem der Jünger des Johannes entgegengesetzt. 3. Jesus reagiert mit einer Gegenfrage. 1.6 Das Anhalt des Apophthegmas im Verhalten Jesu von Nazaret Trotz ihrer form geschichtlichen Einbindung hat die älteste Erzählung ihren Ursprung nicht erst in der Praxis einer sehr frühen christlichen Gemeinde, sondern im Verhalten und im Wort Jesu selbst 20. a) Zunächst entspricht die Angabe über die Gegner Jesu den Realitäten des zeitgeschichtlichen Milieus. Es steht außer Zweifel, daß Johannes (und vermutlich auch seine Jünger) eine strenge Fastenpraxis beobachtete(n). Das Auftreten Johannes' des Täufers als asketischer Gerichts- und Bußprediger ist in den synoptischen Evangelien bezeugt (vgl. Mk 1,6; vor allem Mt 11, 18par Lk 7,33). Wenn in Mk 2,18 vom Fasten der Jünger des Johannes die Rede ist, so entspricht das der geforderten übernahme der Lebensweise des Lehrers durch die Schüler 21. Die Jünger dürften dennoch wahrscheinlich erst genannt worden sein, als die Szene als Streitgespräch formuliert wurde. b) Besonders historisches Gewicht im Sinne des Konvergenzbeweises hat in diesem Zusammenhang die aus der Q-Tradition stammende Gegenüberstellung des Fastens des Täufers und der Lebensweise Jesu (Mt 11, 16-19par). Sie sagt etwas über Verhaltensweisen beider ausVerhaltensweisen, die sich der Erinnerung des Volkes einprägten und deshalb wohl als typische Züge gelten können. Gerade die Derbheit und Unverblümtheit der sprachlichen Ausdrucksweise über Jesu
20 R. Peseh, Markus I 174, hält den ganzen V.19b für einen authentischen Ausspruch Jesu; ebenso H. Schürmann, Das Lukasevangelium. 1. Teil. Kommentar zu Kap. 1,1 bis 9,50 (Freiburg-Basel-Wien 1969) 297. F.-W. Kuhn, Sammlungen (A.6) 62, läßt offen, ob der ganze V.19b oder nur V.19ba authentisch ist. Ders., Enderwartung 198, formuliert seine Stellung zur Authentie des V.19f noch zurückhaltender. R. Bultmann, Geschichte 17, hält V.19ba für ein authentisches, allerdings ursprünglich isoliert überliefertes Logion. Dagegen zu Recht W. Thissen, Erzählung 194f. T. A. Burkill, Should Wedding Guests Fast? A Consideration of Mark 2:18-20, in: ders., New Light on the Earliest Gospel. Seven Markan Studies (London 1972) 39-47, hier 40f.44, hält V.19b für eine mögliche tatsächliche Äußerung Jesu. 21 Vgl. J. B. Muddiman, Jesus and Fasting (A. 10) 275. Er wendet sich gegen das Argument, daß wegen der Kritik allein des Jüngerverhaltens der Vorgang in die Zeit der frühen Kirche datiert werden muß.
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Nicht-Fasten ist hier Beleg für die Echtheit der überlieferung und ihre authentische Basis, wenngleich die Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn sicherlich christologische Reflexion der Gemeinde verrät. Wenn auch in Mk 2, 18b nicht Johannes und Jesus, sondern die Jünger des Johannes und die Jünger Jesu konfrontiert werden, so bedeutet dies doch, daß der Vorwurf bezüglich der Jünger auf J esu eigene Praxis im Sinne der Ermöglichung und Legitimation solchen Handelns zurückfällt. c) Dieses aus Mt 11, 16-19par direkt und aus Mk 2,18 indirekt entnehmbare Nicht-Fasten Jesu steht nun nicht nur im Widerspruch zum Verhalten des J ohannes und der zeitgenössischen Pharisäer. Es steht offensichtlich auch außerhalb der Fastensitten des Judentums zur Zeit Jesu überhaupt, wo Fasten als notwendige und Gott wohlgefällige übung galt 22. d) Das Bild der gegenwärtigen Hochzeit, das Jesu Wort von den Hochzeitsgästen zugrunde liegt, ist in der frühjüdischen Literatur ein gebräuchliches Bild für das eschatologische Heil 23. Die Rede von den Hochzeitsgästen paßt somit auch in den Kontext von Jesu Verkündigung vom anbrechenden Reich Gottes. e) Weder die jüdische Umwelt noch erst die christliche Gemeinde nach Jesu Tod konnte wohl die gegenwärtige Zeit seines Wirkens :l.ls eschatologische Freudenzeit verständlich machen. Hier zeigt sich eine genuin jesuanische Einschätzung seiner Zeit, seines Auftretens und seiner Verkündigung. f) "Die Hochzeitsgäste" , genauer übersetzt: "die Söhne des Hochzeitssaales" , ist semitische Sprachform und verrät zumindest palästinische Herkunft 24. g) Das überlieferte Nicht-Fasten Jesu und seiner Jünger steht nicht nur quer zum Fasten der zeitgenössischen jüdischen Umwelt. Die christlichen Gemeinden entfernten sich bald von der freien Auffassung Jesu und beachteten wieder das Fasten, wie aus dem Neuen Testament und außerneutestamentlichen Quellen zu entnehmen ist 25. Allein das Siehe dazu Bill. IV 77-114 und ebd. II 241-244;]. Behm: ThWNT IV 925-935. Vgl. Bill. I 696f; ebd. II 393; ]. Jeremias, Gleichnisse (A.13) 117; E. Stauffer: ThWNT I 646-655, hier 652. 24 Vgl. Bill. 1500-518. 25 Zum frühjüdischen und frühchristlichen Fasten vgl. auch]. B. Muddiman, Jesus and Fasting (A. 10) 276. 22 23
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weitere Fortschreiben der Fastenperikope in Mk 2 zeigt, daß Jesu fehlende Fastenpraxis sogar als Ausgangspunkt genommen werden konnte, um die inzwischen wieder aufgenommene Fastenpraxis zu begründen und zu betonen. In Mt 6,16-18 innerhalb der Bergpredigt, einem nicht authentischen J esuswort 26, spiegelt sich die christliche übernahme der jüdischen Fastensitte wider. Dabei wird der christliche Modus des Fastens von dem der "Heuchler", der Pharisäer, abgehoben. In der Versuchungs geschichte nach Q wird von den christlichen Q-Autoren über Jesus selbst ausgesagt, daß er 40 Tage in der Wüste gefastet habe (Mt 4,2par Lk 4,2). In Mk 9,29par Mt 17, 21, einem vermutlich redaktionellen Anhang zur vormarkinischen Wundererzählung, sind Gebet und Fasten als alleiniges Mittel zur Bekämpfung von Dämonen genannt. In 2 Kor 6,5; 11,27 stellt Paulus der korinthischen Gemeinde sein Fasten als Erweis dafür vor Augen, daß er sich zu Recht als Diener Christi bzw. Gottes bezeichnet. Vor allem aber die Apg bezeugt sowohl den regelmäßigen Brauch des Fastens (27,9) als auch die Verbindung von Fasten und Gebet anläßlich der Aussendung von Aposteln (13,2f) und der Einsetzung von Presbytern in den Gemeinden (14,23). Ebenso dürften die variae lectiones in 1 Kor 7,5 und Apg 10,30 als Beleg für die christliche übernahme der jüdischen Sitte, Gebet durch Fasten zu verstärken, gelten. Als frühester außerneutestamentlicher Beweis für die regelmäßige übung des Fastens gilt Did 8,1, wonach in Abhebung vom Judentum das Fasten nicht mehr am Montag und Donnerstag, sondern am Mittwoch und Freitag erfolgen soll. Gefastet wurde in nachjesuanischer Zeit von Juden wie von Christen. Die Tatsache des Fastens an sich bildete keinen Streitpunkt in der jüdisch-christlichen Auseinandersetzung. Mk 2,18-20 in seinem ältesten Bestand wird zwar wohl wegen seiner Streitgesprächsform als christliche Bildung zu gelten haben. Doch verdankt die Perikope ihre Entstehung letztlich nicht einem jüdischchristlichen oder innerchristlichen Disput 27. Es liegt die Erinnerung zugrunde, daß Jesus nicht fastete und daß er dies mit dem Hinweis auf das Nicht-Fasten-Können der Hochzeitsgäste, auf die schon in die
26 Gegen R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments (München 21962) 51. J. Ralaff, Kerygma (A.4), betrachtet einerseits Mt 6, 16-18 als eine jesuanische Fastenordnung (226), andererseits als Beleg für die judenchriscliche Praxis (23Of). 27 Vgl. R. Peseh, Markus I 176; J. Ralaff, Kerygma 232.
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Gegenwart hereinreichende eschatologische Hochzeitsfeier begründete. 1.7 Nicht-Fasten als Zeichen der mit Jesus angebrochenen eschatologischen Heilszeit In enger Verbindung mit der Klärung der Frage nach der historischen Basis der ältesten überlieferung steht die Frage nach dem Sinn dieses Verhaltens Jesu. Zunächst kann festgestellt werden, daß Jesus mit seinem Nicht-Fasten keine Verurteilung der Fastensitte beabsichtigte. Weder aus der überlieferung des Apophthegmas noch aus den sonstigen Evangelienüberlieferungen über das Fasten (Lk 2,37; Mt 4,2par; Mk 9,29par; Mt6, 16-18; Lk 18,2) läßt sich eine apodiktische generelle Ablehnung des Fastens durch den historischen Jesus herauslesen. Damit geht es J esus ganz offensichtlich nicht um ein Verbot. Es liegt Jesus vielmehr daran, am Beispiel seiner (sporadischen?) AußerKraft-Setzung der Fastenpraxis aufzuzeigen, daß das mit seinem Auftreten anbrechende Eschaton Grund zur Feier ist. Vom Alten Testament her ist den Zeitgenossen Jesu Fasten als Zeichen der Trauer (vgl. 1 Sam 31,13; 2 Sam 1,12; 3,35; 12,21), als vorbereitende übung zum "Empfang von Offenbarungen" (vgl. Ex 34,28; Dtn 9, 9; Dan 9,3; 10,2f.12), "zur Besänftigung des Zornes Gottes und als nachdrückliche Bitte zur Erfüllung von Wünschen" (vgl. 2 Sam 12,16-23; 1 Kön 21,27; Ps 35,13; 69,11; - Ri 20,26; 1 Sam 7,6; 1 Kön 21,9; Jer 36,6.9; 2 ehr 20,3f; Jon 3,5) bekannt 28 . Im Frühjudentum gab es eine zweifache Fastenform 29: das öffentliche Fasten am Versöhnungstag, zum Gedächtnis an nationale Unheilstage, bei allgemeinen Landnöten und nach der Tempelzerstörung auch am Tage jenes Datums, sowie das sich als fester Brauch durchsetzende freiwillige, private Einzelfasten. "Man fastete, ... um ein Unrecht gutzumachen u. ein Vergehen zu sühnen, oder um sich die Erfüllung eines Wunsches, die Erhörung eines Gebetes zu sichern, oder um zeitliches u. ewiges Unheil von sich abzuwenden, oder auch bloß um zu fasten, weil das Verdienst des Fastens vor Gott unendlich hoch eingeschätzt wurde." 30 28 29 30
Vgl. W. Thissen, Erzählung (A. 3) 169 und dort Anm. 265-267. Siehe dazu Bill. II 241-244; ebd. IV 77. Ebd. II 242.
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Für beide Fastenarten bildete sich als Sitte heraus, daß Montag und Donnerstag als Fasttage gewählt wurden. Jesu Nicht-Fasten und sein Verweis auf die Hochzeitsgäste muß bestimmte Assoziationen im Zusammenhang dei eschatologischen Erwartung hervorgerufen haben. Das Bild der Hochzeit ist eine anthropomorphe Vorstellungsweise des Eschaton 31. Jes 62,5 wird das Verhältnis Jerusalem/Gott in der Endzeit im Bild der Eheschließung VOI! Bräutigam und Braut dargestellt. Nach Joh 3,29f bezeichnet Johannes der Täufer sich selbst als den Freund des Bräutigams, der sich über die Stimme des Bräutigams, dem die Braut gehört, freut. In Offb 19,7.9 sind die Hochzeit und das Hochzeitsmahl des Lammes Bilder der eschatologischen Freude. In Offb 21,2.9 wird die eschatologische Gegenwart Gottes bei seinem Volk im Bild des neuen Jerusalem geschildert, das wie eine Braut, als die Frau des Lammes, für ihren Mann geschmückt ist. In Offb 22,17 wird die Gemeinde als die Braut, die das baldige eschatologische Kommen Jesu ersehnt, bezeichnet. In Mt 25,1-13 wird das Himmelreich im Bild der Hochzeit vorgestellt. J esus beansprucht, daß mit seinem Auftreten das Reich Gottes schon im Anbruch begriffen ist (vgl. Lk 11,20par; 10,23fpar). Jesu Rede von den Hochzeitsgästen, die nicht fasten können, ist ebenfalls bildhafte Darstellung der Aussage, daß in seiner Gegenwart und in seinem Wirken das Reich Gottes zum Vor-Schein kommt. Es wird gedeutet als Ereignis der Freude 32, angesichts dessen man nur feiern, nicht jedoch fasten kann. J esu Verhalten und seine offene Erwiderung in Mk 2, 19ba wollen wohl dazu provozieren, die Wirklichkeit z~ erkennen und anzunehmen, die das Nicht-Fasten Jesu begründet. 1.8 Das Problem einer ursprünglichen Zugehörigkeit der beiden Bildworte zur Fastenfrage
Die literarkritische Spannung zwischen V.20 und V.21 wie auch die Trennung von Hochzeitslogion und Bildworten im Thomasevangelium 104.47 33 legen zunächst den Schluß nahe, daß die Fastenthematik 31 Zur Verwendung des Bildes im eschatologischen Sinn siehe H.-W. Kuhn, Enderwartung (A.ll) 199 Anm. 2. 32 Zum Zusammenhang von eschatologischer Heilszeit und Freude siehe auch 1 QS 3,30b-32b; 11,10. Vgl. H.-W.Kuhn, Enderwartung 115.199 Anm.1. 33 Die Tatsache allein, daß auch im Thomasevangelium 104.47 die Fastenfrage und die
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durch V. 21 f sekundär erweitert wurde. Diese Zufügung müßte dann, da die Bildworte ohne eine für Markus typische überleitungs formel angeschlossen sind, wohl auf einer vormarkinischen Stufe erfolgt sein 34. Die Betonung des Fastens durch jene Redaktionen, die V.19b~20bß formulierten, steht allerdings gerade im Widerspruch zur Aussage der Bildworte, wenn man diese so versteht, daß das Neue mit dem Alten unverträglich ist. Sieht man jedoch den Sinn der Bildworte darin, daß das Neue das Alte gefährdet - wozu allerdings das Ende von V.22 nicht paßt -, so ergäbe sich ein besserer Verständniszusammenhang. Unter Umständen könnte auch H.-W. Kuhn 35 im Recht sein, wenn er in den Versen 18-22 die in den Bildworten ausgesagte Neuheit auf den neuen Freitags-Fastentag der christlichen Gemeinde im Gegensatz zur alten jüdischen Fastenpraxis bezieht. Wahrscheinlicher aber 1st der literarische Zusammenhang der Bildworte mit der ältesten überlieferung. Vergleicht man die älteste Tradition mit dem Doppelbildwort, so stellt man übereinstimmungen fest, aufgrund deren man auch die Möglichkeit einer ursprünglichen literarischen Zusammengehörigkeit in Betracht ziehen kann 36. Jeweils stehen Bilder für eine Wirklichkeit, in V.19 das Bild der Hochzeit, in Logien in zersagtel' Form getrennt enthalten sind, ist jedoch noch kein ausreichender Grund, die Bildworte einer vormarkinischen primären Zugehörigkeit zur Fastenfrage abzusprechen. Gegen E. Haenchen, Der Weg Jesu (Berlin 1966) 115, der diesem Faktum offensichtlich zu viel Gewicht beilegt; ebenso W. Thissen, Erzählung 69 und dort Anm.74. 34 So M. Steinhauser, Neuer Wein braucht neue Schläuche. Zur Exegese von Mk 2,2lf par, in: J. Lange-H. Merk/ein (Hrsg.), Biblische Randbemerkungen. Schülerfestschrift R. Schnackenburg (Würzburg 1974) 113-123, hier 119f; R. Pesch, MarkusI 177. Für markinische Ergänzung der Verse 21-22: R. Bultmann, Geschichte 18.365; W. Grundmann, Markus 66; E. Lahmeyer, Markus 61; f. Ralaff, Kerygma 234; K. L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu (Darmstadt 21969) 88 (möglicherweise). M. Dibelius, Formgeschichte 62, und H.-W. Kuhn, Sammlungen 72.89, lassen die Frage eines markinischen oder vormarkinischen Anschlusses von V.2lf offen. Nach W. Thissen, Erzählung 68f. 205-207, erfolgt der Anschluß der Bildworte an die älteste Tradition V.18b (ohne Pharisäer).19aba auf einer Zwischenstufe zur vormarkinischen Sammlung. 35 Sammlungen 72. 36 Anders H. Schürmann, Lukas 1299, der wegen der "bedeutend prinzipieller(en) Aussage" der Bildworte für eine ursprünglich isolierte Tradierung plädiert, und H.W. Kuhn, Sammlungen 71, der "keinen Anhaltspunkt" für eine ursprüngliche Verbindung von V.19b und V.2lf sieht und in diesem Zusammenhang "auf die getrennte Stellung der Fastenfrage und des Bildwortes in EvThom 104 und 47" (Anm. 108) verweist.
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V. 2lf die Bildhandlungen vom Flicken und vom neuen Wein. Beide Bilder sind Darstellungen des Neuen, das mit Jesus gekommen ist, das keine Kontinuität zum Alten aufweist, das den Abschied vom Alten ermöglicht, geradezu verlangt, damit die Qualität des Neuen hinreichend erfaßt werden kann. Dieses Neue, das im Bild der Hochzeit eindeutig auf das mit Jesus angebrochene Reich Gottes zu beziehen ist, wird auch in dem Doppelbildwort im Blick auf das Reich Gottes gut verständlich. Mehrfach wird daher wohl zu Recht V.21f auf Jesus selbst zurückgeführt 37 und sogar im Zusammenhang mit der ursprünglichen Fastenszene gesehen 38. Wenn V. 21f mit der ältesten überlieferung (und mit dem Fastenkonflikt Jesu) gekoppelt war, dann bedeutete der Gebrauch dieses Doppelbildworts noch eine Bestätigung der Aussage Jesu über das Nicht-Fasten-Können angesichts des anbrechenden eschatologischen Heils. Daß dann die Erweiterung der Perikope im Laufe der Traditionsgeschichte nicht am Ende, also nach den Bildreden, sondern unmittelbar nach V. 19ba vorgenommen wurde, ist nicht verwunderlich, da sich das Umdenken der Gemeinden ja an der konkreten Realität des Fastenproblems vollzog und deshalb eine Ergänzung nur an das Wort Jesu vom Fasten angehängt werden konnte. 1.9 Jesu Praxis und die Handlungsweisen der Gemeinden In der vorliegenden Analyse der Fastenperikope Mk2, 18-22 wurde auf die älteste Tradition und ihren Ursprung im Leben Jesu zurückgefragt. Als Ergebnis wurde festgestellt, daß Jesus sich über zeitgenössische Fastengepflogenheiten hinwegsetzte und sich bezüglich des Fastens deutlich vom Kreis um Johannes unterschied. Diese NichtFasten-Praxis Jesu hat als Handlungsweise zu gelten, womit Jesus den Anbruch des Reiches Gottes als Heilszeit proklamierte'. Sie erreicht den Menschen ohne eigene ethisch-religiöse Vorleistung des Fastens bereits schon in der Gegenwart. So R.Pesch, Markus I 177; E.Schweizer, Markus 36. Vorsichtig äußert sich dazu M. Steinhauser, Neuer Wein (A.34) 121. Nach H. Schürmann, Lukas I 300, läßt sich über die "Anwendung und Form" des Wortes bei Jesus nichts aussagen. 38 So J. B. Muddiman, Jesus and Fasting (A.10) 279f. R. Schnacken burg, Markus I 68-70, läßt die Frage offen. K. Th. Schäfer, " ... und dann werden sie fasten" (A.18) 137f, verneint sie. 37
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Die älteste Tradition hat dieses anstößige Verhalten J esu in seiner positiven Ausrichtung noch voll verstanden und - falls nicht Jesus selbst schon in diesem Zusammenhang die Bildworte gebrauchte - vermutlich sogar die Frage des Fastens oder Nicht-Fastens durch das Doppelbildwort auf die allgemeinere Problemebene von "Alt - Neu" transponiert. Auf einer zweiten überlieferungsstufe vollzog sich eine Uminterpretation der Perikope. Es sind nicht mehr Gegenwart Jesu, anbrechendes Reich Gottes und frühjüdische Praxis entgegengestellt, sondern die Zeit der Kirche nach Jesu Tod und die Jesuszeit, die jeweils eine andere Einstellung zum Fasten bedingen. Kriterium des NichtFastens ist damit nicht mehr das anbrechende Eschaton, sondern die vorübergehende Anwesenheit Jesu. Sein Tod setzt den Schluß stein jener fastenfreien Praxis und begründet die Wiederaufnahme des Fastens. Die ehemals theologisch-eschatologische Begründung der Fasten-Freiheit ist abgelöst durch eine christologische Begründung. Diese neue Darstellung entspricht der Situation einer Gemeinde nach Jesu Tod. Die Nicht-Fasten-Praxis Jesu hat ihre Gültigkeit für die Gemeinde in ihrer Situation verloren. Diese Gemeinde begründet ihr Wieder-Fasten aber nicht dadurch, daß sie sich den Motiven jüdischer Kreise - z.B. Fasten als übung der Buße angesichts des drohenden Zorngerichts (vgl. bei Johannes dem Täufer), Fasten als Zeichen der Trauer über die Sünde (vgl. 1 Kön 21,27; Esth 4,3; Neh 9,1; Jes 58,5; Jon 3, 5; Dan 9,3) - anschließt. Sie macht ihre Fastenpraxis im Zusammenhang ihrer Kreuzes- und Todes-Christologie verständlich. Auf der letzten vormarkinischen Redaktionsstufe erfuhr die Einheit dann noch den Zusatz "an jenem Tag", der eine terminologische Präzisierung der gemeindlichen Fastenpraxis bedeutet. Der Freitag als der Todestag Jesu wird zum Argument für die Beachtung des Fastens am Freitag. In dieser Gemeindesituation bedurfte das Fasten als solches keiner eigenen Motivierung mehr, es wurde bereits praktiziert. Allein die Frage des Wann wurde unter Berufung auf eine Voraussage Jesu geregelt und fixiert. Während also ursprünglich J esus um den Aufweis der mit ihm angebrochenen Heilszeit bemüht war, wofür sein Nicht-Fasten Zeichen sein sollte, ging es in der zweiten und dritten (schriftlichen) überlieferungsphase nicht mehr um die Ablehnung des Fastens an sich, sondern um die Begründung bzw. Darstellung eines gegenüber Jesu Praxis dif79
ferierenden christlichen Verhaltens und seinen Bezug zu J esu Tod sowiewohl auch um die Abhebung gegenüber den jüdischen Fastendaten. Für die mattäischen und lukanischen Gemeinden schließlich war Fasten sicherlich kein Problem eines bestimmten Wochentages mehr, was zur Weglassung von "an jenem Tag" (so Mattäus) bzw. zur Korrektur (so Lukas) führte. Es war eine selbstverständlich geübte Sitte, die keiner Begründung bedurfte und die nicht als spezifisch christliche Sitte deklariert wurde, wie aus Mt 6, 16-18 und Apg 13,2; 14,23; 27,9 hervorgeht. Am Beispiel der Fastenfrage konnte also aufgezeigt werden, wie in einer relativ kurzen Zeitspanne die J esusüberlieferung starke Veränderungen erfuhr. Gleichzeitig wurde deutlich, daß diese (literarischen) Veränderungen durch gewandelte Situationen in den Gemeinden veranlaßt waren, die zwischen der Bindung an das Verhalten und Wort Jesu und der Adaption (nicht jedoch Angleichung!) an die je neue geschichtliche Problemstellung lebten. Vergleichbare Beobachtungen können auch anhand der traditionsgeschichtlichen Untersuchung der Perikope vom Ahrenraufen am Sabbat gewonnen werden. 2. DasAhrenraufen der Jünger am Sabbat (Mk 2,23-28)
Alle Synoptiker und J ohannes berichten, daß J esus in Konflikt mit dem Sabbatgebot gekommen ist (Mk2,23-28; 3, 1-6 par Mt 12, 1-8. 9-14par Lk 6, 1-5.6-11; Lk 13,10-17; 14,1-6; Joh 5, 1-47; 9,1-39). Diese relativ breite überlieferung kann zunächst als Hinweis darauf gewertet werden, daß hier die Erinnerung an einen tatsächlichen Bruch der Sabbatobservanz durch Jesus festgehalten wird. Jedoch die allen Perikopen gemeinsame Form des Streitgesprächs, die in den Berichten jeweils feststellbare Diskrepanz zwischen dem konkreten Sabbatkonflikt und der prinzipiell gehaltenen Legitimation dieses Verhaltens durch J esus sowie die erst nachträgliche Erwähnung des Sabbats als Tag der Heilung in den joh Erzählungen 39 dokumentieren ebenso das starke ge39
Vgl. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (Göttingen
18 1964)
181.249.253;
E. Lohse, J esu Worte über den Sabbat, in: W. Eltester (Hrsg. ), Judentum, Urchristentum,
Kirche. Festschrift J. Jeremias (Berlin 1960) 79-89, hier 79f; R. Schnacken burg, Das Johannesevangelium. 11. Teil. Kommentar zu Kap. 5-12 (Freiburg - Basel- Wien 1971) 117.313.
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meindliche Eigeninteresse an der Vermittlung von Sabbatkonflikten Jesu. Am Beispiel der Perikope vom Ahrenraufen sollen einmal die traditionsgeschichtlichen Stationen von der markinischen Redaktion bis zur ältesten überlieferung zurückverfolgt werden: und deren historische VerwlirzelunginderJes\lszeit bedachtwerderi, zum. anderen sollen·die gemeindlichen Situationen, die zu'r jeweiligen Weiterinterpretation der überkommenen Sabbatüberliefening fü~ten·, kurz angefragt werden. Die Geschichte vom Ahrenraufen am Sabbat läßt aufgrund ihrer uneiilheitliChe·n Antworten Jesu eine weit zurückreichende und differenzierte Traditions geschichte sowie unterschiedliche Intentionen der jeweiligen christlichen Gemeinden vermuten. Mk 2, 23~28 beginnt mit einer Situations angabe : dem Wandern Jesu durch die Saatfelder und dem Ahrenraufen der Jünger. Die Pharisäer treten - wie häufig in Streitgesprächen - als Gegner auf und stellen Jesus wegen des Sabbatbruchs seiner Jünger zur Rede. Jesus erwidert zuerst mit einem Schriftverweis, der das gesetzeswidrige Verhalten des David in einer Notsituation beinhaltet. Er macht dann eine prinzipielle Aussage über den Bezug Mensch - Sabbat. Diese wird in V.28 auf die Vorrangstellung des Menschensohnes über den Sabbat bezogen. Dadurch wird die Aussage von V.27 eingeschränkt 40 und zugleich überstiegen.
v. 23 24
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Und es begab sich, daß er am Sabbat dahinzog durch die Getreidefelder; und seine Jünger fingen an, unterwegs Ähren zu raufen. Und die Pharisäer sagten ihm: "Sieh, warum tun sie am Sabbat, was nicht erlaubt ist?" Und .er sagt ihnen: "Habt ihr niemals gelesen, was David tat, als er Mangel litt und ihn hungerte und die mit ihm? Wie er hineinging in das Haus Gottes unter Abjatar, dem Hohenpriester, und die Schaubrote aß, die zu essen nicht erlaubt ist, außer den Priestern, und sie auch denen gab, die bei ihm waren?" Und er sagte ihnen: "Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden, und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Daher ist Herr der Menschensohn auch des Sabbats!"
40 Gegen A. Subl, Die Funktion der ~lttestament!ichen Zitate und Anspielungen im Markusevangelium (Gütersloh 1965) 83f, der in V.28 keine Einschränkung gegenüber V.27 erkennt.
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2.1 Thesen aus der Sekundärliteratur zur Traditionsgeschichte Die Tatsache, daß die Erwiderung Jesu an seine Gegner in zwei durch die Einleitungsformeln "und er sagt ihnen" bzw. "und er sagte ihnen" voneinander abgesetzten Antworten erfolgt, daß die zweite Antwort sich wiederum aus zwei nicht kongruenten Sprüchen zusammensetzt und daß das Verhalten der Jünger so eine jeweils unterschiedliche Legitimation erfährt dies alles hat in der Forschung zu den verschiedensten traditionsgeschichtlichen Thesen geführt. So wird die Genese des Textes in differierenden Traditionsschritten vorgestellt 41, z.B.: Mk 2,23f.27+28+2Sf oder: 2,23--2Sf+27+28 oder: 2,23f.27 + 2Sf + 28 oder: 2,23f.27 + 2sf oder: 2,27f + 2Sf + 23f. Dabei wird auch die Frage der jeweiligen Redaktoren (vormarkinisch/markinisch) uneinheitlich geklärt. Nach R. Pesch umfaßt die älteste Tradition das Streitgespräch der Verse 23-26, das noch vormarkinisch im Zuge der Streitgesprächesammlung um die Spruchfolge V. 27 f (authentische Jesusworte) erweitert wurde 42. W. Thissen rechnet wie R. Pesch die Perikope ganz der vormarkinischen überlieferung zu. Er hält es für denkbar, daß den Anfang der Jesusüberlieferung die beiden Sprüche der Verse 24.27 gebildet haben 43, denen als "adäquate Szene" 44 V. 23 zugeordnet wurde. Die frühest erreichbare Form sei in der Zwischenstufe der vormarkinischen Sammlung festgehalten und habe die Erzählung der Verse 23f.27 umfaßt 45 . Der Sammler und Redaktor habe durch die Ergänzung von V. 2sf und V.28 christologische Akzente gesetzt 46. c_
2.2 "Und er sagte ihnen" - eine markinische Ergänzung von V.27f? Unter literarkritischem Aspekt fällt der Neuansatz der Entgegnung Jesu in V. 27: "Und er sagte ihnen" auf; er läßt eine jüngere Ergänzung von V.27f vermuten. "Und er sagte ihnen" ist eine Reihungsformel, die für das Markusevangelium typisch ist (vgl. Mk 4,11.21.24; 7,9.14;
41 42
43 44 45
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Vgl. dazu R. Pesch, Markus I 178. Vgl. ebd. 178-186. W. Thissen, Erzählung (A:3) 200 Anm. 23 a. Ebd.248. Vgl. ebd. 201.245. Vgl. ebd. 212f.
8,21; 9,1.31) und in den Evangelien des Mattäus und Lukas fehlt. Sie wird von den meisten Exegeten zu Recht für eine redaktionelle Wendung des Markus gehalten 47 • Zwar ist diese spezifisch markinische Anreihungsformel kein zwingendes Indiz für eine redaktionelle Bearbeitung. Innerhalb der galiläischen Streitgesprächesammlung variiert die Einleitung zur Erwiderung Jesu, so daß die Wendung auch der Abwechslung wegen formuliert sein könnte. In Verbindung mit der weiteren Reihungsformel V.25 und der gleich dreiteiligen Antwort J esu ist der Verdacht markinischer Redigierung jedoch sehr stark. Wo aber ist eine markinische Eintragung zu eruieren? Der weisheitliche Spruch V. 27 verrät weder markinische Stil eigenheiten noch markinische christologisch-theologische Intentionen 48. Auch V.28 ist kaum als markinische Ergänzung nachzuweisen. Im Markusevangelium kann ein spezifisches Interesse des Evangelisten am Menschensohntitel nicht festgestellt werden. Zudem ist eine erst markinische Anfügung von V. 27f unwahrscheinlich, da V. 27f im Gegensatz zu V. 25 f der Situation und dem Vorwurf der übertretung des Sabbats V. 23 f direkt durch Sabbat-Logien entgegnet und ein zeitlich erst so spät erfolgter expliziter Bezug auf den Bruch des Sabbats kaum vorstellbar ist. Eine markinische redaktionelle Anfügung von V. 27 f muß also wohl ausgeschlossen werden 49 . Dagegen ist V.28 als Abschluß oder auch im Rahmen der vormarkinischen Sammlung ausgezeichnet verständlich. 2.3"Und er sagt ihnen ... Und er sagte ihnen": V. 25f als markinische Zwischenschaltung in die vormarkinische Tradition der Verse 23f.27f Da die Antworten in den Versen 27.28 kaum von Markus ergänzt sein dürften, die überleitungswendung "und er sagte ihnen" aber doch auf markinische Redaktionstätigkeit schließen läßt, ist nun die erste Antwort aus V. 25f zu überprüfen. Grundsätzlich ist ja eine sekundäre Ergänzung nicht nur am Ende als Anfügung, sondern auch als ZwiSiehe Vertreter bei R. Pesch, Markus I 184 Anm. 25; anders R. Pesch, ebd. 178.184. Dennoch vermutet R. Schnackenburg, Markus I 72, eine eventuelle Einfügung durch Markus; ebenso J. Ralaff, Kerygma (A. 4) 58 f. 49 Vgl. H.-W. Kuhn, Sammlungen 75. Anders offensichtlich R. Bultmann, Geschichte 14; J.Schmid, Markus 70f. 47
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scheneinsatz denkbar und angesichts der markinischen Vorliebe für Schachteltechnik in Betracht zuziehen. Markus hätte dann zwischen die vorgefundene Einleitungswendung "und er sagt ihnen" sowie die. Antwort Jesu"der Sabbat. .. " (V. 27f) redaktionell die Schriftargumentation eingebracht und diese durch die ihm eigene Formel "und er sagteihnen"mit den.vormarkinischen Sabbatsätzen V. 27f verknupft. In der Tat bestätigt sich diese Vermutung, da man deutlich machen kann, daß V. 25 f gegenÜber V.27f sekundäre Züge aufweist 50. R. Pesch 51 betont zwar, daß die erste Antwort auf di~ Exposition V. 23 verwiesen sei, während die Verse 27-28 selbständig tradierbar seien, und daß die Verbindung durch die Stichworte "ist nicht erlaubt", "machen", "am Sabbat" (Plural) nur von V. 23 bis V. 26 reiche. Auch könne die Form der Gegenfrage in V. 25 f als stilgemäßer Abschluß eines Streitgespräches gelten. Doch ist hier kritisch zu bemerken, daß V. 2sf - im Gegensatz zu V. 27 f - für sich genommen die Kultthematik, nicht aber die Sabbatproblematik enthält 52 und daß die Verse von der Tempelthematik her ursprünglich gar nicht mit einem Sabbatkonflikt assoziiert gewesen sein müssen 53. In 1 Sam 21, 7, worauf Mk 2,2Sf anspielt, geht es gar nicht um eine Sabbatverletzung, sondern höchstens um eine Mißachtung von Kultvorschriften 54 . Die rabbinischen Texte, auf die E. Lohse 55 bei P. Billerbeck 56 verweist, legen zwar 1 Sam 21,7 als einen legitimen Sabbatbruch Davids aus. Doch wird das Schaubrotessen des David in Verbindung mit der Sabbatverletzung in Mk 2,2Sf gerade nicht thematisiert, sondern es wird nur von der übertretung der kultischen Gebote wegen seines und seiner Begleiter Hunger gesprochen. Die rabbinischen Stellen haben schon deshalb, nicht nur wegen ihres jüngeren Alters, keinen Einfluß auf das Verständnis von Mk 2,25 f. Die Motive des Hungers und des Essens sind wohl in V. 2sf genannt, sie müssen in V.23 jedoch keineswegs als selbstverständlich impliziert Vgl. H.-W. Kuhn, Sammlungen 75. Anders A. Suhl, Funktion (A. 40) 82; J. Roloff, Kerygma 58. E. Haenchen, Markus 120f, stellt den sekundären Charakter von V. 25f gegenüber V. 27 heraus; in V.28 sieht er offenbar einen markinischen Zusatz. 51 Markus I 179. 52 Vgl. auch E. Schweizer, Markus 39. 53 V gl. H. -W. Kuhn, Sammlungen 77. 54 Zur wöchentlichen Erneuerung der Schaubrote und ihrer Verteilung an die Priesterschaft: Bill. III 730-733. 55 Jesu Worte (A.39) 82 Anm. 11. 56 1618f. 50
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sein 57. Der sachliche Zusammenhang (Hunger, Essen) ist also nicht so eng, wie R. Pesch postuliert. Das Argument von R. Pesch für eine ursprüngliche Einheit der Verse 23-26, daß "die Exposition in V. 23 ... in der ersten Antwort Jesu notwendig vorausgesetzt (V 25: Hunger; V 26: Essen)" werde, "nicht in der zweiten"58, stimmt nur insofern, als V. 27f den konkreten Fall des Ahrenraufens übersteigt, nicht aber, daß "Hunger" (V. 25) und "Essen" (V. 26) in der Situation V. 23 vorgegeben sind. Die gemeinsamen Stichworte "machen" und "es ist nicht erlaubt" in V. 24 und V. 25 können ebenso auf die bewußte Arbeit eines späteren Redaktors wie auf eine frühere überlieferung hindeuten 59. Die sprachliche Unterscheidung "am Sabbat" (Plural- V. 23f) gegenüber "der Sabbat" (Singular-V.27f) muß nicht auf sekundäre Anfügung von V. 27f schließen lassen. Schließlich aber weist die Berufung auf die Schrift selbst - und zwar zusätzlich zu weiteren Argumenten Jesu - auf einen gegenüber V. 27 jüngeren Eintrag hin. In keinem der übrigen Streitgespräche der vormarkinischen Sammlung wird die Schrift bei einer Erwiderung Jesu eingesetzt. Dies signalisiert, daß erst nach dem Abschluß und der Redigierung der Sammlung der Schriftverweis erfolgte. Die Streitgespräche in Mk 7,1-13; 10,1-12 und 12,18-27, in denen jeweils auf Mose rekurriert wird, weisen eine andere Struktur als Mk 2,23-28 auf. In Mk 10,1-12 ist im Vergleich zu Mk 2 der Schriftbeweis sachlich integral mit der Gegnerfrage assoziiert; inMk 7, 1-13 und 12,18-27 ist die Antwort mittels der Schrift durch die Schriftbenützung der Gegner bzw. den Verweis auf die überlieferung bereits vorgegeben.
Die Schriftargumentation in V. 25f wird daher auf Markus zurückgehen 60 • Während die vormarkinische überlieferung die Priorität des Menschen vor dem Sabbat und die Souveränität des Menschensohnes gegenüber dem Sabbat betont, setzt Markus diese Vollmacht des Menschensohnes zu der des David in Analogie 61 und erweitert und gene57 Vgl. E. Lohmeyer, Markus 65; E. Neuhäusler, Jesu Stellung zum Sabbat. Versuch einer Interpretation: BiLe 12 (1971) 1-16, hier 7. 58 R. Pesch, Markus I 179. 59 Gegen R. Pesch, Markus I 179. 60 Gegen W. Thissen, Erzählung (A.3) 71-73.201.212f, der V.25f zwar als sekundär gegenüber V.27 beurteilt, aber V. 25f wie V.28 der Tätigkeit des vormarkinischen Sammlers und Redaktors zuschreibt. 61 Vgl. J. Roloff, Kerygma (A.4) 56-58.
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ralisiert indirekt durch die Darstellung eines Gesetzesbruchs - nicht speziell des Sabbatbruchs - durch David auch die Befugnis des Menschensohnes über die Sabbatproblematik hinaus auf das Gebiet der Gesetzesgeltung allgemein. Dadurch stellt der Evangelist das Streitgesprächindie Nähe des Apophthegmas Mk 7,1-23, das die Geltung des Gesetzes insgesamt kritisch dem ursprünglichen Willen Gottes unterwirft. 2.4 Mk 2,23f.27f: das vormarkinische Streitgespräch und dessen Uneinheitlichkeit In der vormarkinischen Sammlung enthält das Streitgespräch die Entgegnung Jesu mit dem weisheitlichen Spruch V. 27 und dem christologischen Folgesatz V. 28. Aus literarkritischem wie traditionsgeschichtlichem Grund kann man diese vormarkinische überlieferung noch nicht als älteste zusammengehörige Einheit bezeichnen. V. 27 62 ist ein Spruch, zu dem vergleichbare Sätze aus dem Judentum bekannt sind. Der rabbinische Spruch des Tannaiten Jonathan bar Joseph um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. ehr. 63 lautet ähnlich: ",Der Sabbat ist euch heilig' (Ex 31,14). Er ist in eure Hände gegeben, und nicht ihr seid in seine Hände gegeben" (b J oma 85 b) 64. Doch besagt dieser Satz nur, daß der Sabbat in akuter Lebensgefahr vom Menschen gebrochen werden darf 65 • Demgegenüber ist Mk 2,27 im Kontext von V.23 sehr viel grundsätzlicher zu verstehen. Durch das Verbum "wurde geschaffen" wird die Interpretation des Logions festgesetzt: Der Sabbat ist Schöpfungswerk Gottes für den Menschen, nicht umgekehrt. Dieser Bezug Sabbat-Mensch ist also Teil der Schöpfungsordnung Gottes, die zeitlich und rangmäßig vor der Festsetzung der Gebote steht, und er kann durch Gebote nicht annulliert werden. Trotz dieser Differenz im Geltungsbereich beider Aussagen ist doch die strukturale Ähnlichkeit und der genuin jüdische Verständnishorizont 62 Zur literarkritischen Beurteilung und zum Inhalt von V. 27 vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei F. Neirynck, Jesus and the Sabbath. Some Observations on Mk II,27 (A. 10) 227-270, hier 227-254. 63 Vgl. W. Thissen, Erzählung 202 Anm. 28; J. Maier-K. Schubert, Die QumranEssener. Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (München-Basel 1973) 125. 64 Siehe Bill. I 623; vgl. auch syrBar 14,8; W. Thissen, Erzählung 202 Anm. 28. 65 Vgl. Bill. II 5; E. Lohse, Jesu Worte (A.39) 85; W. Thissen, Erzählung 245f.
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beider Sprüche gegeben. Der "antiessenische Satz liegt ... noch in der Linie pharisäischer Argumentation" 66. Zeitgenossen Jesu hätten prinzipiell die Aussage affirmieren können 67 . Die Beachtung der Sabbatvorschriften sollte ja von ihrer "Intention her der Befreiung des Menschen, der seine Zeit J ahwe als dem Herrn der Zeit übergibt und damit Gott allein als Herrn anerkennt"68, dienen. Im Unterschied zu V. 27 wird V. 28 nur die Person des Menschensohnes in seiner Vorrangstellung in den Blick genommen und wird das Funktionsverhältnis Sabbat- Mensch zu einem essentiellen Verhältnis: der Menschensohn als Herr des Sabbats 69. V.28 ist als spezifisch christliche Formulierung zu verstehen 70; der "Menschensohn" ist christologischer HoheitstitePl. Dies bezeugen einmal die Seitenreferenten Mattäus par Lukas, die den markinischen V.27 wohl deshalb weglassen, weil er den christologischen Duktus von V. 25 f zu V. 28 unterbricht und weil sich V.28 keineswegs so geradlinig aus V.27 ableiten läßt, wie das "Deshalb ... " vermuten läßt. Zum anderen ist auf das erste Streitgespräch Mk 2, 1-12 in der vormarkinischen Sammlung hinzuweisen. In Mk 2,1-12 ist der Menschensohn in der sekundären vormarkinischen Erweiterung der ursprünglichen Wundergeschichte eingeführt und als der qualifiziert, der auf Erden die Macht hat, Sünden zu vergeben. Auf dieser gleichen Stufe der vormarkinischen Sammlung wird auch V.28 entstanden sein. Insbesondere, wenn V.28 den Abschluß der vormarkinischen Sammlung darstellte 72, ist die bewußt vollzogene christologische Klammer evident. Gerade im Blick auf 2, 1-12 ist die These kaum haltbar, daß V. 27 und V. 28 eine ursprüngliche Einheit gebildet hätten. Dabei hätte "Menschensohn" nicht einen Christllstitel, sondern ein Synonym zu "Mensch" in V.27 bedeutet und hätte erst im Kontext der Streitgesprächesammlung 73 eine christo66, ]. Maier - K. Schubert, Qumran-Essener 125. 67 Vgl. auch]. Roloff, Kerygma 60f. 68 R. Pesch, Markus I 185. 69 Vgl. auch E. Lohmeyer, Markus 65. 70 Vgl. H. Braun, Jesus (Gütersloh 1973) 60; M. Dibelius, Formgeschichte 62; W. Grundmann, Markus 70f; E.Haenchen, Markus 121; F.Hahn, Hoheitstitel 42; E. Käsemann, Exegetische Versuche und BesinnungenI (Göttingen 61970) 207; E. Lohmeyer, Markus 66. GegenR. Pesch, Markus I 186;]. Roloff, Kerygma 58-61; E. Schweizer, Markus 39, die auch V. 28 Jesus zuschreiben. 71 Gegen W. G. Kümmel, Verheißung (A. 13) 40, der in dem Begriff ein authentisches "verhüllende(s) Hoheitsprädikat" Jesu selbst sieht. 72 So H.-W. Kuhn, Sammlungen 73.76. 73 So R. Pesch, Markus I I85f.
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logische Umdeutung durch die Gemeinde erfahren. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß Mk 2,10 und 2,28 der vormarkinischen überlieferungsstufe zuzuordnen sind, als daß der ursprünglich schon als logischer Folgesatz zu V.27 bestehende V.28 mit der Bedeutung Menschensohn = Mensch = Adamssohn 74 vormarkinisch zum christologischen Satz umgedeutet worden ist. 2.5 Die älteste überlieferung: Mk 2,23f.27 Die überlieferung vom Ahrenraufen, wie sie der vormarkinischen Fassung vorausging, bestand also aus einem Streitgespräch, das die Situationsangabe V.23, den Widerspruch der Pharisäer und die Entgegnung J esu in dem Sabbat-Sprichwort V. 27 enthielt 75. Als Einzelerzählungwird sie in V. 23 die Person Jesu namentlich eingeführt haben. Ansonsten stellt sich das Apophthegma als einheitliche Tradition dar. Es darf daher als älteste überlieferung gelten. 2.6 Die Grundlegung des Streitgesprächs Mk 2,23 f.27 im Leben J esu Die Form des Streitgesprächs und sein "Sitz im Leben" der urchristlichen Gemeinde treten besonders darin deutlich zutage, daß die Pharisäer als die feindlich gesinnten Fragenden unvermittelt auftauchen und die Jünger in ihrem Verhalten diejenigen sind, die den Anstoß erregen. Auch ist die Erzählung weder örtlich noch zeitlich genau festgelegt 76. Kann angesichts solch typischer Gemeindeverweise 77 die überlieferung in einem konkreten Ereignis im Leben Jesu grundgelegt sein? Es gibt trotz der Anzeichen, die den Sitz der ältesten überlieferung im Leben der Gemeinde nahelegen, gute Gründe dafür, daß diese Tradition in einer konkreten Situation im Leben Jesu verwurzelt ist 78 • So R. Pesch, Markus I I85f; J. Roloff, Kerygma61. Gegen A. Suhl, Funktion (A. 40) 83-85, der von der ursprünglichen überlieferung der Verse 23-26 ausgeht, als vormarkinische Ergänzung V.28, als markinische Zufügung V.27 mit der Anreihungsformel "und er sagte ihnen", sowie in V.25f "und die mit ihm" und "er selbst und die mit ihm" betrachtet. H.-W. Kuhn, Sammlungen 76, bezeichnet als "ältestes Apophthegma" die Verse 23f.27f. 76 Vgl. K. L. Schmidt, Rahmen (A. 34) 89. 77 Vgl. auch E. Schweizer, Markus 38. 78 Vgl. H.-W. Kuhn, Sammlungen 75f; auch E. Neuhäusler, Jesu Stellung (A. 57) 6f, der die Historizität allerdings für die Verse 23-26 behauptet. Gegen W. Thissen, Erzählung (A.3) 247: "über die Historizität der Rahmenszene wird man kein sicheres Urteil fällen können." Zur Diskussion der ältesten Erzählung vgl. F. Neirynck, Jesus and the Sabbath (A.62) 254-270. 74
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a) Bemerkenswert ist, daß die Konfliktsituation ausführlich und sehr konkret beschrieben ist. "Die Zeitangabe ,am Sabbat' und die Orts angabe ,durch ein Ährenfeld' sind in der Erzählung selbst verankert." 79 Gegen R. Bultmann 80 ist festzustellen, daß diese anschauliche Beschreibung keineswegs als künstlich aufgebaute Szenerie zu verstehen ist. Ihre überlieferung überrascht den Leser gerade wegen der anscheinenden Belanglosigkeit. Auch betraf das Verhalten Jesu und seiner Jünger die Umgebung nicht unmittelbar, so daß es schwer vorstellbar ist, daß ausgerechnet diese Situation als Konfliktstoff für jüdische Zeitgenossen ausgewählt wurde. Wie sollte die Gemeinde gerade darauf verfallen, ein solch abseitiges Beispiel zu erfinden, um daran die Priorität des Menschen vor dem Sabbat zu demonstrieren 81? Dies ist eher ein Indiz für die authentische Erinnerung an einen Vorfall im Leben J esu. Die Situation des Wanderns entspricht zudem dem Tatbestand, daß Jesus (und seine Jünger) als Wanderprediger durch Palästina zogen (vgl. Mk 10,28; Mt 8,20; Lk 8,3)82. Daß sie - eventuell im Rahmen ihrer missionarischen Tätigkeit - auch am Sabbat durchs Land zogen, kann als möglich angenommen werden. Ebenso darf als glaubwürdig gelten, daß es Pharisäer waren, die gegen die Sabbatverletzungprotestierten, auch wenn "die Pharisäer" (vgl. Mk 3,6; 7,1.5; 8,11; 10,2; 12,13) "in der urkirehlichen überlieferung global die Hauptgegner Jesu in Galiläa"83 sind. Die Aussage hingegen, daß nur die Jünger - Jesus offenbar nicht - Ähren rauften und Jesus allein wegen des Verhaltens der Jünger zur Rede gestellt wird, dürfte nicht authentische Wirklichkeit widerspiegeln. Hier könnte sich der prägende Einfluß der literarischen Streitgesprächsform und das Interesse der Gemeinde geltend gemacht haben. J. Roloff 84 andererseits betont die Entsprechung der Situation des Ährenraufens der Jünger und des Vorwurfs gegenüber J esus und dem rab binischen Lehrer-Schüler-Verhältnis und hält von daher die überlieferte Situation für historisch wahrscheinlich. K. L. Schmidt, Rahmen 89. Geschichte 40; ähnlich z. B. auch F. W. Beare, "The Sabbath was Made for Man?": JBL 79 (1960) 130-136, hier 133; E. Schweizer, Markus 38f. 81 Vgl. auch E. Haenchen, Markus 122. 82 Vgl. R. Pesch, Markus I 183. 83 R. Pesch, Markus I 180. 84 Kerygma (A.4) 55f. 79
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b) Im Zusammenhang mit dem Sabbatbruch durch den Weg durch die Felder und dem Xhrenraufen wird Jesu Antwort in V.27 eindeutig als Aufhebung jüdischer Sabbatordnung, als Verletzung des Gesetzes ausgewiesen. Der Terminus "wurde geschaffen" erfährt eine Bedeutung, die das Logion als Ausdruck des Anspruchs J esu verstehen läßt. Der souveräne Rückbezug Jesu auf den Schöpfungswillen Gottes als die Norm seines Handelns, an der auch die Gültigkeit bedeutender religiöser Gesetze gemessen wird, ist offenbar ein Spezifikum für Jesu Auftreten (vgl. die Frage zur Ehe [-scheidung] Mk 10,1-12 und die Frage zum Reinheitsgesetz Mk 7,1-24). Es ist nicht absolut sicher auszumachen, ob das \VIort tatsächlich eigene PrägungJesu ist, oder eventuell von Jesus aus der vorgefundenen Tradition aufgegriffen wurde und dann im Zusammenhang der Handlung seinen spezifischen Sinn erfuhr. Allerdings spricht der Vermerk des Geschaffenseins durch Gott (passivum divinum) doch stark für die Authentie des weisheitlichen Spruchs 85.
c) J esu Interpretation der Sabbatvorschriften im Handeln und Wort nach Mk 2,23f.27 hebt sich nicht nur deutlich von der allgemeinen zeitgenössischen Sabbatobservanz ab. Sie steht in besonders krassem Widerspruch zu den Forderungen der Qumrangemeinde, wie sie CDX, 14- XI,18 erhalten sind 86 • Danach erlaubten die QumranEssener nicht einmal die Lebensrettung an einem Sabbat, sofern dafür ein Gerät gebraucht wurde (CD XI, 16f). d) Schließlich ist auch noch zu bemerken, daß die Frage der Sabbatobservanz in den frühen urchristlichen Gemeinden zumindest nicht ein generelles Problem in der Auseinandersetzung darstellte. Für die aramäisch sprechende Urgemeinde jedenfalls scheint die Sabbatobservanz fraglos gegolten zu haben. Ebenso hielten die späteren strengeren Gruppierungen der Judenchristen am Sabbat fest (vgl. Mt 24,20). Für den Kreis der "Hellenisten" um Stephanus und im späteren hellenistischen Christentum des ersten Jahrhunderts dagegen scheint das Festhalten am Sabbat zum Gegenstand des Konflikts bzw. der unterschiedlichen Beurteilung geworden zu sein 87. 85 Die Historizität des Logions vertreten z. B. H.-W. Kuhn, Sammlungen 75; E. Lohse, Jesu Worte (A. 39) 84f;]. Roloff, Kerygma 58-60 (V. 27f historisch); R. Schnackenburg, Sittliche Botschaft (A.26) 41; W. Thissen, Erzählung 245-247. 86 VgI. auch J. Maier - K. Schubert, Qumran-Essener 125. 87 VgI. H.-W. Kuhn, Sammlungen 77-80.
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Die weit zurückreichende überlieferungsgeschichte der Perikope vom Ahrenraufen, das palästinische Szenenbild, semitische Sprachanklänge 88 deuten indes auf die Tradierung der Erzählung im frühen urgemeindlichen Bereich hin. Daß dort die Sabbatfrage zu einem solchen Problemfall wurde, daß die Szene vom Ahrenraufen zur Legitimierung des christlichen Sabbatbruchs ohne historischen Anhalt in der Jesusüberlieferung geschaffen wurde, dürfte ausgeschlossen sein. Die vorgebrachten, sich gegenseitig stützenden Argumente berechtigen zu der Annahme, daß die Ursprungs situation des ältesten Streitgesprächs in einem Sabbatkonflikt Jesu und seiner Jünger mit jüdischen Zeitgenossen gesehen werden kann, ohne daß der genaue Anlaß der Sabbatübertretung Jesu und seiner Jünger noch genau rekonstruierbar wäre. Dem Vorwurf der unerlaubten Sabbattätigkeit begegnet Jesus mit einer prinzipiellen Aussage, wonach der Sabbat nach dem ursprünglichen Schöpferwillen Gottes für den Menschen erschaffen worden ist. 2.7 Die zeichenhafte Deutung der Konfliktszene vom Ahrenraufen durch Jesus Das Ahrenraufen der Jünger (und J esu?) muß te den Protest von Gesetzestreuen hervorrufen. "Das Sabbatgebot gehört(e) für die Frommen des Frühjudentums zu den Herzstücken des ganzen Gesetzes."89 Es "wiegt ... so schwer wie alle übrigen Gebote der Thora zusammen" 90. Der Sabbat wurde nicht nur in enger Verbindung mit der Schöpfungsordnung gesehen (vgl. Ex 20,8-11; Dtn 5,12-15), er wurde "in der weiteren Entfaltung der Weltzeitalterlehre in Anlehnung an Ps 90,4 immer mehr auch zur Bezeichnung eschatologischer Hoffnung" 91. Von Rabbi Schirnon ben Jochai (um 150 n. ehr.) ist der Satz bekannt: "Wenn ganz Israel nur zwei Sabbate lang die vorgeschriebenen Gebote hält, wird die Erlösung kommen."92 Ahrenraufen aber zählte nach
Vgl. R. Pesch, Markus I 183 und dort Anm. 24. R. Pesch, Markus I 184; vgl. auch E. Lohse: ThWNT VII 1-35, hier 5-20; Ch. Hinz, ,,]esus und der Sabbat": Kerygma und Dogma 19 (1973) 91-108, hier 91. 90 E. Lohse: ThWNT VII 8. 91 W. Thissen, Erzählung 150; vgl. auch Ch. Hinz, ]esus und der Sabbat 92-94. 92 Vgl. E. Lohse: ThWNT VII 8. BB
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pharisäischer Auffassung "unter die 39 am Sabbat verbotenen Tätigkeiten, weil es als ,Ernte arbeit' angesehen wurde"93. Der Sabbatbruch Jesu und seiner Jünger konnte jedoch von den Gegnern in verschiedener Weise aufgefaß t und interpretiert werden: als absolute Ablehnung der Sabbatvorschriften, ja der religiösen Gesetze überhaupt, als bewußte Mißachtung des Sabbats in diesem konkreten Einzelfall- wobei jedesmal die Frage des Warum sich stellen mußte -, als mehr oder weniger gedankenlose Nicht-Beachtung der Sabbatruhe. Jesus begegnet in seiner Antwort der Anschuldigung und erklärt sein und seiner Jünger provozierendes Verhalten in dem weisheitlichen Spruch. Mit diesem Wort deutet J esus den konkreten Vorfall in einem das Einzelereignis übersteigenden Sinn. Jesus interpretiert das Verhältnis Mensch-Sabbat-Gott in neuer Weise. Er begrenzt die Reichweite der Sabbatvorschriften, die er autoritativ seinen Zeitgenossen nahebringt. Er schafft den Sabbat und die Sabbatgebote schlechthin nicht ab. Aber er ruft autoritativ den Sabbat als Geschöpf Gottes in Erinnerung, das in der Hierarchie des Geschaffenen nicht nur unterhalb des Menschen steht, sondern sein Werden der Hinordnung auf den Menschen verdankt, dem Menschen zur Hilfe und Humanisierung seines Lebens (vgl. Ex 23,12; Dtn 5,12-15)94, "als umfassender Schutz ... , als Erholung von der Arbeit für jeden, gerade für den Abhängigen"95 dienen soll. Jesus wendet sich gegen die Vergesetzlichung des Gesetzes, gegen ein Einhalten des Gesetzes um des Gesetzes willen. Die Gültigkeit ist jeweils daraufhin zu hinterfragen, ob die Vorschrift den Menschen knechtet oder befreit, ihm schadet oder guttut. In dieser souveränen Sichtweite der Korrelation Sabbat-Mensch tut sich wiederum etwas von dem Selbstverständnis Jesu kund: Er beansprucht, den Willen Gottes bezüglich des Sabbats zu wissen, wie er "vor" den in der Tradition festgelegten Bestimmungen sich artikuliert, und er macht diesen Willen Gottes seiner Umwelt in der souveränen Auslegung des Ahrenraufens zeichenhaft erfahrbar. Im Kontext der umgreifenden Reich-Gottes-Verkündigung Jesu bekommt diese anthropologische Sinnspitze des Sabbats definitive und letztgültige, theologisch legitimierte Maßgeblichkeit. 93 R. Schnackenburg, Markus 173; vgl. BilLI 615-617; R. Pesch, Markus I 181 und dort Anm.11. 94 Anders die theologische Begründung des Sabbatgebots in Ex 20,11. 95 H. Schüngel-Straumann, Der Dekalog - Gottes Gebote? (Stuttgart 1973) 76.
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2.8. Von der zeichenhaften Deutung des Ahrenraufens durch Jesus zur markinischen Redaktion Das konkrete Ereignis des Ahrenraufens am Sabbat wurde in der ältesten· überlieferung als Streitgespräch dargestellt .. Damit wurden die drei wesentlichen Elemente auch des geschichtlichen Geschehens: Situation des Sabbatbruchs ...:. Vorwurf --: Legitimation und zeichenhafte Deutung des Ereignisses gerafft festgehali:en, allerdings mit typischen Streitgesprächselemeriten verbunden. Ob die frühe Gemeinde, die dieses Streitgespräch tradierte, tatsächlich schon unter Berufung auf die Jesustradition den Sabbat übertreten hat, ist wohl nicht zu klären. Die Form des Apophthegmas spricht einerseits für die Diskussion konkreter Sabbatvorfälle in der Gemeinde. Das 'vollkommene Fehlen einer christologisch-ekklesiologischen Transformation des weisheitlichen J esus-Logions andererseits läß t eher darauf schließen, daß die Tradierung mehr aus dem Bewußtsein der Verpflichtetheit gegenüber der Jesusüberlieferung als aus reflektierter aktueller Gemeindeproblematik heraus erfolgte. Im Zuge der vormarkinischen Sammlung wurde an die ursprüngliche Deutung eine weitere Sinngebung angeschlossen: Im Sabbatbruch zeichnet sich nun die Herrschaft des Menschensohnes über den Sabbat ab. Jetzt erfährt das Ereignis eine eminent christologisch akzentuierte Sinnspitze. Jesus, der Menschensohn, ist Herr - so wie über die Sünde und über das Fasten - auch über den Sabbat. Diese pointiert christologische Legitimation des Sabbatbruchs verrät, daß die Gemeinde ihre eigene Praxis gegen Vertreter der Sabbatobservanz verteidigt. Der Menschensohn als der Herr der Gemeinde ist auch in der Sabbatfrage die Instanz der Rechtfertigung der Gemeindepraxis. Offensichtlich bestimmt die Gemeinde unter Berufung auf J esus nun darüber, was am Sabbat erlaubt ist. Zuzustimmen ist W. Thissen 96 sicher darin, daß die Gemeinde in diesem Text die Befreiung vom Gesetz durch Jesus zum Ausdruck bringt. Ob allerdings die Gemeindefeier der Taufe den spezifischen "Sitz im Leben" dieser überlieferung wie der ganzen Sammlung überhaupt darstellt 97 , kann wohl nicht zwingend bewiesen werden.
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Erzählung 190 f. So W. Thissen, Erzählung 188.
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Der Evangelist Markus hat in diese vormarkinische überlieferung nochmals eingegriffen. Er ordnete eine zweite Antwort Jesu der ursprünglichen Entgegnung vor. In dieser Antwort wird der autoritative souveräne Anspruch J esu dadurch modifiziert und bestärkt zugleich, daß auf die Schrift als die objektive Legitimationsquelle Bezug genommen wird. Gleichzeitig erfolgt eine Parallelisierung der Situation Jesu und des Jüngerverhaltens mit der Davidsituation und -tat. So wird einerseits das Verhalten Jesu und seiner Jünger als ein Ereignis aus einer Notsituation heraus sozusagen entschuldigt und andererseits die Autorität J esu mit der des David identisch gesetzt. Das Ahrenraufen wird also in einem apologetischen und implizit christologisch-eschatologischen Sinn interpretiert. Der Evangelist hat weiterhin - sofern man 3,1-6 als Zufügung zur und nicht als Bestandteil der vormarkinischen Sammlung beurteilt (ansonsten gilt die Aussage schon für die vormarkinische Tradition) - die Sabbatverletzungen 2,23 - 3,5 wie auch die vorangegangenen Apophthegmata als solch starken Konfliktstoff für die Gegner J esu beurteilt, daß sie den Beschluß des Todes J esu zur Konsequenz hatten. Markus verweist zur Rechtfertigung des Verhaltens seiner Gemeinde, die sich sicher von der Sabbatobservanz gelöst hatte, auf die davidisch-messianische Qualifikation Jesu und auf die Schrift als Niederschlag göttlicher Autorität. Der Blick auf 3,6 signalisiert - sofern er als markinische Abschlußsentenz akzeptiert wird -, daß die markinische Gemeinde nicht nur in Jesu Stellung zum Sabbat mit eine Ursache für J esu Tod sieht, sondern vielleicht auch selbst Vorwürfen gegenüber jüdischen bzw. judenchristlichen Kreisen ausgesetzt ist und durch die Jesusüberlieferung gestärkt werden soll. 2.9 Die traditions geschichtliche Weiterführung der markinischen überlieferung in Mt 12,1-8 und Lk 6,1-5 Mattäus wie Lukas verzichten auf die übernahme der authentischen Jesusantwort Mk 2,27 98 , lassen das Wort "und" im Anschlußsatz Mk 2,28 aus und schließen dadurch das Menschensohn-Logion enger an die Schriftargumentation an. Die überlieferung erfährt so noch eindeutiger eine konsequent christologische Ausrichtung 99 auf den Men98 99
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Vgl. E.Käsemann, Versuche 1207; H.-W.Kuhn, Sammlungen (A.6) 73f. Vgl. auch J. Roloff, Kerygma 77; A. Suhl, Funktion (A.40) 83.
schensohn als Herrn über den Sabbat. Außerdem schaffen beide Evangelisten einen org2.nischeren Vergleich zwischen dem Handeln der Jesusjünger und dem des David durch den Zusatz des Essens der Ahren. Mattäus verbindet das Verhalten der Jünger mit dem des David und seiner Gefolgschaft zudem durch das Motiv des Hungers (Mt 12,1). Außerdem wird der bei Markus in der Schriftargumentation nicht enthaltene "Sabbat" von Mattäus in seinem zweiten, redaktionell eingebrachten Schriftbezug ausdrücklich genannt. In diesem Prophetenwort Hos 6,6 kommt ein weiterer Vergleichspunkt zur Sprache: Das "Hier" -Sein Jesu wird als ein qualitatives "Mehr" gegenüber dem Priesterdienst im Tempel am Sabbat bezeichnet (V. 6a), Jesus und die Jünger werden als" Unschuldige" (V. 6 Ende) charakterisiert. An Stelle von Opferdarbringung soll Mitleid den Hungernden entgegengebracht werden, weil hier "der erbarmende Wille Gottes offenbar" 100 wird. Das Ahrenraufen wird somit bei Mattäus durch "Gesetz und Propheten" 101 legitimiert. Es ist Zeichen der Vollmacht Jesu und ein Geschehen, das zu einer religiös positiven Stellungnahme auffordert. Lukas hält sich mehr als Mattäus an die markinische Vorlage. Er bezeugt durch die unmittelbare Verknüpfung der Schriftargumentation und des Menschensohn-Logions das Sabbatereignis als Demonstration der E;OlJo(a des Menschensohnes am konsequentesten. Beide Seitenreferenten halten also wie Markus noch an einer zeichenhaften Auslegung des Ereignisses fest. Sie schränken allerdings im Unterschied zu Markus und erst recht zur ursprünglichen Deutung die Geltung des Sabbatvorfalls ein, indem sie ihn nur als Erweis der Vollmacht der Person Jesu deuten. Die eigentliche Brisanz und explosive Dynamik des mit dem ursprünglichen Ereignis verbundenen Sinns jedoch, daß für jeden Menschen gilt, der Sabbat sei seinetwillen Schöpfungswerk Gottes, ist verlorengegangen. Die Darstellung der Seitenreferenten impliziert allerdings auch, daß indirekt über die Vollmacht des Menschensohnes die christliche Gemeinde zur Aufhebung der Sabbatobservanz befugt 1st.
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J. Roloff,
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K. L. Schmidt, Rahmen 98.
Kerygma (A.4) 78.
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3. Schluß Die Beschäftigung mit dem Werdegang der Perikopen vom Fasten und vom Ahrenraufen zeigte, daß die urchristlichen Gemeinden sich dem Verhalten und Wort J esu verpflichtet wußten und sich· zugleich doch zu einer U minterpretatio·n angesichts der veränderten Verhältnisse befugtsahe~. Jesu Verhalten und Wort stellten also für die Christen in der Nachfolge Jesu kein starres Gesetz dar, das siegleichsam buchstabengetreu realisieren mußten. Beide Texte sind aufschlußreiche Zeugen dafür, wie gewandelte Umweltverhältnisse zum Neu-Bedenken und Weiterdenken der Jesusüberlieferung führten, die unter Umständen eine veränderte Praxis erlaubten, ja erforderten. Dieser Befund sollte auch für eine heutige Theologie und kirchliche Praxis Impuls sein, nicht starr auf ein überliefertes Verhalten oder Wort Jesu oder auf eine kirchliche Interpretation, die zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgte, zu blicken, wenn es darum geht, heutige Probleme dogmatischer, moraltheologischer, sozialethischer oder pastoraler Art zu bewältigen. Statt dessen gilt es, die hinter einem Verhalten oder Wort J esu liegende Willensrichtung J esu bzw. die geschichtliche Bedingtheit bestimmter christlicher Interpretationen und Praktiken zu ergründen und - auch gegen festgeschliffene Traditionen - in unserer Gegenwart eine Neuintegration von Jesu Intentionen und aktueller geschichtlicher Situation zu versuchen.
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IV Die Nachwahl des Mattias (Apg 1,15-26) Zur Rezeption und Deutung urchristlicher Geschichte durch Lukas Von Al/ans Weiser, Vallendar
Die Wahl des Mattias ist eines der wenigen Einzelereignisse, die aus der U rgemeinde zu Jerusalem überliefert sind. Die einzige Darstellung darüber verdanken wir Lukas. Mit ihr verhält es sich aber ebenso wie mit dem Gesamtphänomen "Urgemeinde" überhaupt: sie tritt uns aus der Apostelgeschichte des Lukas nur in Form einer "historische(n) und theologische(n) Größe" 1 entgegen. Zu den Forschungsaufgaben, die hinsichtlich der Apostelgeschichte bestehen, hat R. Schnackenburg, dem dieser Band gewidmet ist, immer darauf aufmerksam gemacht, daß es - trotz vieler bereits geschehener Anstrengungen - weiterhin gelte, "noch deutlicher zu zeigen, wieweit Geschichte und Geschichtsdeutung zusammenfließen oder auseinandergehalten werden können" 2. Dieser Bemühung gilt auch der folgende Beitrag. Er geht aus von einer vorangestellten übersetzung des Textes (1), skizziert seinen Aufbau (2), fragt nach dem Traditionsgut und seiner Verarbeitung in der redaktionellen Komposition des Lukas (3) und versucht schließlich, in einer Auslegung die wichtigsten Aussagegehalte zu erheben (4).
1. Der Text Apg 1,15-25 1sUnd in diesen Tagen erhob sich Petrus inmitten der Brüder - es war eine Schar von ungefähr hundertzwanzig - und sprach: 16Brüder, es mußte sich das Schriftwort erfüllen, das der Heilige Geist durch den Mund Davids vorausgesagt hat über Judas, den Anführer derer, die Jesus gefangennahmen. 17 Denn er war uns zugezählt und hatte das Los die-
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K. KeTtelge, Gemeinde und Amt im Neuen Testament (München 1972) 55. R. Schnackenburg, Neutestamentliche Theologie. Der Stand der Forschung (München
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ses Dienstes empfangen. 18 Dieser. nun erwarb sich ein Grundstück mit dem ungerechten Lohn, stürzte vornüber, barst mitten durch und alle seine Eingeweide traten heraus. 19Und es wurde allen Bewohnern Jerusalems bekannt, so daß jenes Grundstück in ihrer Sprache Hakeldamach genannt wurde, das heißt: Blutacker. 2°Denn es steht im Buch der Psalmen geschrieben: Sein Gehöft soll öde werden, und niemand soll in ihm wohnen (Ps 68 [69], 26), und: Sein Amt soll ein anderer erhalten (Ps 108 [109], 8). 21 Es muß also einer von den Männern, die mit uns zusammen waren in der ganzen Zeit, in der der Herr Jesus bei uns ein- und ausging, 22angefangen von der Taufe des J ohannes bis zu dem Tag, da er von uns weg aufgenommen wurde - von diesen muß einer zusammen mit uns Zeuge seiner Auferstehung werden. 23Und sie stellten zwei auf: Josef, genannt Barsabbas, mit dem Beinamen Justos, und Mattias. 24Und sie beteten und sprachen: Du, Herr, kennst die Herzen aller; zeige, welchen von diesen beiden du erwählt hast, 25den Platz dieses Dienstes und Apostelamtes zu erhalten, von dem Judas abgetreten ist, um an seinen Ort zu gehen. 26Und sie gaben Lose für sie, und es fiel das Los auf Mattias, und er wurde den elf Aposteln zugerechnet.
2. Aufbau Der Abschnitt stellt in der vorliegenden Gestalt eine geschlossene Erzähleinheit dar. Sie behandelt ein eigenes Thema und ist durch die Neueinsätze 1,15 und 2, 1 nach vorn und hinten abgegrenzt. Aufgebaut ist der Abschnitt aus folgenden Elementen: einleitende Situationsangabe V.15; Rede des Petrus VV.16-22 mit dem Inhalt: Ankündigung eines Schriftwortes über Judas V. 16, Charakterisierung des Judas als Apostel, Hinweis auf seinen Tod, die aus seinen Todesumständen entstandene Flurbezeichnung VV.17-19, das angekündigte Schriftwort V. 20 und die Folgerung aus ihm: Ergänzung des Zwölferkreises und Voraussetzung der Kandidaten VV. 21 t; es folgen: die Aufstellung der Kandidaten V.23; ein Gebet der Versammelten VV.24f; der Losvorgang, das Ergebnis der Wahl und die Zurechnung des Gewählten zu den Aposteln V.26.
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3. Tradition und redaktionelle Komposition
3.1 Forschungsstand 3 Es gilt heute durchweg in der Forschung als anerkannt, daß Lukas die Angaben über den Tod des Judas und die Nachricht von der Wahl des Mattias aus der überlieferung empfangen hat. Daß es sich bei der J udas-Blutacker-Thematik um überlieferungs stoff handelt, geht vor allem aus Mt 27,3-10, dem Papiasfragment3 (s. u.) und der Flurnamen-Ätiologie (Mt 27,8; Apg 1,19) hervor. Daß die Mattias-Wahl - obwohl sonst nicht bezeugt - ebenfalls aus überlieferungs gut entstammt, ist vom Thema selbst her anzunehmen und wird gestützt durch die überlieferten jüdischen Namen der Kandidaten und den jüdischen Wahlvorgang durch Los. Auch sprachliche Indizien weisen auf überlieferungsstoff hin, und die Art der Verarbeitung durch Lukas läßt vermuten, daß es sich bereits um schriftliche 4 überlieferung handelte. Umstritten sind Anzahl, Umfang und nähere Beschaffenheit der vorlukanischen Traditionen sowie der Anteil der lukanischen Redaktion und Komposition. Folgende traditions geschichtlichen Modelle werden vertreten: a) Die überlieferung bestand aus einem "einzeln überlieferte(n), gute(n) Stück" 5. Die Petrusrede, die vom Ausscheiden des Judas und 3 vg!. außer den Kommentaren: P. Benoit, Der Tod des Judas, in: ders., Exegese und Theologie (Düsseldorf 1965) 167-181. - S. Brown, Apostasy and Perseverance in the Theology of Luke (Rom 1969). - W. Dietrich, Das Petrusbild der lukanischen Schriften (Stuttgart 1972) 166-194. - H. R. FuUer, The Choice of Matthias, in: StudiaEvangelica VI = TU 112, hrsg. v. E. A. Livingstone (Berlin 1973) 140-146. - P. Gaechter, Die Wahl des Matthias (Apg 1, 15-26): ZKTh 71 (1949) 318-346. - E. Gräßer, Acta-Forschung seit 1960: ThR NF 41 (1976) 141-194, hier: 173f. - eh. Masson, La reconstruction du college des Douze d'apres Actes 1, 15-26: RThPh sero 3 Bd. 5 (1955) 193-201. - Ph.-H. Menoud, Les additions au groupe des douze apötres d'apres le livre des Actes: RHPhR37 (1957) 71-80. - E. NeUessen, Tradition und Schrift in der Perikope von der Erwählung des Matthias (Apg 1, 15-26): BZ NF 19 (1957)205-218. -Ders., Zeugnis für Jesus und das Wort. Exegetische Untersuchungen zum lukanischen Zeugnisbegriff (Köln 1976) 128-178.K. H. Rengstorf, DieZuwahl des Matthias (Apg 1, 15ff): StTh 15 (1961) 35-67. - J. Renie, L'election de Mathias (Act. I, 15-26). Authenticite du recit: RB 55 (1948) 43-53.W. Wiater, Komposition als Mittel der Interpretation im lukanischen Doppelwerk (Diss. masch. Bonn 1972) 73-90. - M. Wilcox, The Judas-Tradition in Acts I, 15-26: NTS 19 (1972/73) 438--452. 4 So z. B. E. Schweizer, Zu Apg. 1,16--22, in: ders., Neotestamentica (Zürich - Stuttgart 1963) 416f; W. Wiater, Komposition (A.3) 77. 5 H. W. Beyer, Die Apostelgeschichte (NTD 5) (Göttingen 41947) 11.
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der Notwendigkeit eines Ersatzes sprach, bildete schon vorlukanisch eine Einheit mit der überlieferung von der Wahl des Ersatzapostels. Diese Auffassung wird den Tatsachen nicht gerecht, daß die JudasTod-überlieferung weder bei Mattäus noch bei Papias eine Hinordnung auf eine Ersatzwahl aufweist und somit auf eigenen Füßen steht, weiterhin, daß in der ersten Hälfte unseres Abschnitts VV. 15-19 ebenfalls nur von Judas, nicht aber von der Ersatzwahl die Rede ist, und schließlich, daß die lukanische Gestaltung einige deutliche Spuren hinterlassen hat. b) Die überlieferung bestand aus drei Strängen, die erst Lukas miteinander verbunden hat: aus der palästinischen Judas-Tod-Tradition, aus einer hellenistisch-christlichen Psalmendeutung und aus der Mattias-Wahl-Tradition 6 • Auch diese Lösung befriedigt nicht. Die Psalmendeutung muß inhaltlich mit einem bestimmten Thema verbunden gewesen sein. Dies führt zu dem heute am häufigsten vertretenen und überzeugendsten Lösungsversuch: c) Lukas hat zwei überlieferungen aufgenommen und miteinander verbunden: die Judas-Tod -überlieferung und die Mattias-W ahlüberlieferung. Bei der Annahme dieses Modells ist allerdings kontrovers, ob beide Psalm-Zitate V. 20 bereits zum vorlukanischen Bestand gehörten 7, ob erst Lukas beide Zitate eingefügt und mit ihrer Hilfe beide Traditionen verbunden hat B oder ob das Zitat aus Ps 68 (69) mit der Judas-Tod-Tradition bereits vorlukanisch verbunden war, aber erst Lukas das Zitat aus Ps 108 (109) im Blick auf die Ersatzwahl eingefügt hat 9. Der zuletzt genannte Lösungsversuch erscheint am überzeugendsten. Für ihn sprechen folgende Gründe: Ps 68(69),26 dürfte schon vorlukanisch mit der Judas-Tod-Tradition verbunden gewesen sein, weil Ps 68 (69) als Lied vom Leiden des unschuldigen Gottesknechtes schon früh auf das Wirken und Leiden Jesu bezogen worden ist (vgl. Mk 15,36; Joh 2,17; 15,25); weil auch bei Mt 27,9 fein Schriftzitat begegnet und weil auch das PapiasfragSo z.B. G. Stählin, Die Apostelgeschichte (NTD 5). (Göttingen 21966) 30; E. Haenehen, Die Apostelgeschichte (Göttingen 71977) 167. 7 So Ph.-H. Menoud, Additions (A.3) 71-80; E. Schweizer, Zu Apg 1 (A.4) 416f; Nellessen Tradition (A.3) 211.217. B So W. Wiater, Komposition (A. 3) 75; ähnlir:h H. R. Fuller, Choice (A.3) 14l. 9 So erwogen von T. Holtz, Untersuchungen über die alttestamentlichen Zitate bei Lukas (Berlin 1968) 44-48. 6
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ment Anklänge an Ps 68 (69) enthält. üb das Zitat aus der Septuaginta oder aus dem hebräischen Alten Testament entnommen ist, ist ungewiß. Daß der hebräische Text zugrunde liegen könnte, hat Nellessen 10 gegenüber Haenchen 11 überzeugend nachgewiesen. - Ps 108 (109),8 dürfte erst von Lukas eingefügt worden sein, denn: die Zitation entspricht - wie auch sonst bei Lukas --: sehr genau der Septuaginta; das Zitat selbst hat nichts mit dem Tod des Judas zu tun, und daß es zur Mattias-Wahl-Tradition gehärt hätte, ist durch nichts erwiesen; Ps 108 (109) wird im Neuen Testament sonst nie zitiert l2 . üb der Psalm auf das Papiasfragment eingewirkt habe und darin ein Indiz für die außer- und vorlukanische Zitation zu sehen sei, wie Schweizer 13 meint, ist fraglich; denn die Topoi des Papiastextes erklären sich vollständig ohne direkten Bezug auf Ps 108 (109), man vergleiche nur J os Ant XVII 6,5 (s. u.). Die Funktion des Zitates läßt sich am besten verstehen als kompositionelles Verbindungsglied beider Traditionen und als Erweis für die Gottgewolltheit der Ersatzwahl. An beidem ist gerade Lukas gelegen. 3.2 Lukanische Zusammenfügung und Bearbeitung Im übrigen läßt sich das Verhältnis von Tradition und Redaktion ungefähr 14 folgendermaßen bestimmen: Erst von Lukas dürften geschaffen sein VV.15-16a.17.19a und zum Teil 19b.20ac (als Zitat). 21-22.24. zum Teil 25; aus vorlukanischer Tradition dürften stammen VV. 16b.18. zum Teil 19b.20b.23. zum Teil 25.26. Das heißt: Ein Traditionsstück berichtete davon, daß Judas von seinem Verräterlohn ein Grundstück kaufte, auf ihm eines schrecklichen Todes starb und das Grundstück daraufhin den Namen Blutacker erVg!. E. Nellessen, Tradition (A.3) 215. Vg!. E. Haenchen, Apg (A.6), hier die 6. Auf!., 126. 12 Vg!. J. Dupont, Etudes sur les actes des Ap6tres (Paris 1967) 300; T. Holtz, Untersuchungen (A.9) 46. 13 Zu Apg 1 (A.4) 416f. 14 Die Unschärfe ergibt sich daraus, daß der antike Schriftsteller seine Ehre darein legte, "die ihm vorliegenden Quellen so umzugießen, daß seine Vorlage kaum mehr erkennbar blieb, die Handschrift seines eigenen individuellen Stils dagegen um so deutlicher hervortrat ... Lukas, dieser überaus fähige Stilist (und d. h. zugleich Stilimitator), macht hier keine Ausnahme." (M. Hengel, Zwischen Jesus und Paulus: ZThK 72 [1975] 151-206, hier: 156). 10
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hielt. Die Aussage war mit Ps 68 (69),26 verbunden. Dieses Traditionsstück faßte Lukas in eine von ihm geschaffene Petrusrede mit entsprechender Situationsangabe ein. - Für die lukanische Gestaltung des Rahmens sprechen: (a) Die Zeitangabe "in diesen Tagen". Sie begegnet im Neuen Testament nur bei Lukas 1S, und zwar meist in Perikopenanfängen. Sie entspricht einer ähnlichen Wendung der Septuaginta. (b) Daß Petrus die Versammlung leitet und das Wort ergreift, entspricht insofern lukanischer Gestaltung, als Lukas die in den geschichtlichen Verhältnissen wurzelnde und in vor- und außerlukanischer überlieferung mehrfach bezeugte Vorrangstellung Petri 16 auch sonst hervorhebt 17, und VV.23.26 im Traditionsbestand das handelnde Subjekt - ähnlich wie 6,1-7 - im Plural angeben 18. Außerdem sind auch die zugeordneten Ausdrücke gut lukanisch: der Ausdruck "er erhob sich" steht bevorzugt in der Apostelgeschichte; der Ausdruck "inmitten der Brüder" nimmt bewußten Bezug auf Lk 22, 32 und ist ähnlich formuliert wie Apg 17,22; 27,21. Schließlich gibt sich (c) die Angabe über die Zahl der anwesenden Personen als lukanisch zu erkennen: Durch Anlehnung an die Ausdrucksweise der Septuaginta, durch die Vorliebe des Lukas für Zahlenangaben allgemein und darüber hinaus speziell durch die aufeinander abgestimmten Zahlen 1,15; 2,41;4,4 19 . In der Petrusrede erweisen sich durch Sprache und Gedankenführung als lukanische Bildungen: die Anrede "Brüder" 20; die Betonung der Schrifterfüllung und ihre Bezug zum Heiligen Geist V.16a 21 ; die Vgl. z.B. Lk 1,39; 6,12; 23,7; 24,18; Apg 6,1. Vgl. Mk 1,16--20; 3, 16; 8,29; 9,2-8; 10,28; 14,53-65; 1 Kor 15,5; Gal1, 18; 2,1-14; Joh 21, 1-1l. 17 Vgl. Lk 5,1-11; 8,45.51; 9,32f; 12,41; 22,8.31-34; 24,34 Apg 1,13; 2,14--40; 3,1-10.11-26; 4,8-22; 5,1-11.15.29-32; 8,14-25; 9,32-43; 10,1-11.18; 12,1-18; 15,7. 18 Daß die Rolle des Petrus zum Uberlieferungsbestand der Erzählung gehörte, vertreten - allerdings ohne Einzelbegründung - K. Rengstorf, Zuwahl (A. 3) 43; E. Nellessen, Tradition (A. 3) 206; W. Dietrich, Petrusbild (A. 3) 170-176; 323. - W. Wiater, Komposition (A.3) 280 vermutet Redaktion. 19 50 auch G. Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu. Untersuchungen zu den Himmelfahrtsund Erhöhungstexten bei Lukas (München 1971) 178f; P. Zingg, Das Wachsen der Kirche. Beiträge zur Frage der lukanischen Redaktion und Theologie (Freiburg/5chweizGöttingen 1974) 161f; -anders M. Wilcox, Judas-Tradition (A. 3) 440; W. Wiater, Komposition (A. 3) 74.78.80. 20 Vgl. Apg 2,29; 7,2; 13,15.26.38; 15,7.13; 22,1; 23,1; 28,17. 21 Vgl. z. B. Lk 1,1; 4,21; 18,31; 21,22; 22,37; 24,25-27.44-47; Apg 3,18; 4,25; 7,5lf; 13,27.29; 28,25. 15
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Charakterisierung des Judas als" uns zugezählt" (vgl. Lk 22, 3 diff Mk) und die Bezeichnung seiner Aufgabe als "Los des Dienstes" - ein Ausdruck, der vorher in der Rede kein Bezugswort hat und aus V. 25 entnommen ist, wobei Lukas den urchristlichen Begriff ,diakonia'f (Röm 11; 2 Kor 3-6; Eph 4) zur Beschreibung des Apostolates einführt und betont 22 • Im Anschluß an die aus der überlieferung stammende Erwähnung des Judas-Todes folgt der lukanische Zusatz V.19a "und es wurde allen Bewohnern Jerusalems bekannt". Die Aussage entspricht den lukanischen Formulierungen Apg2, 14; 4, 10; 13,38; 19,17; 28,22. Daß sodann der Ausdruck "in ihrer Sprache" V. 19b nicht einer Rede des Petrus in Jerusalem angehört haben kann, ergibt sich von der Sache her, und daß er erst von Lukas gebildet wurde, läßt der Vergleich mit 2, 6.8.11 annehmen. - Das erste so bearbeitete Traditionsstück verband Lukas noch innerhalb der Petrusrede unter Zuhilfenahme des Zitats Ps 108 (109), 8 mit einem zweiten Traditionsstück, nämlich dem von der Wahl des Mattias. Auch dieses hat Lukas stark bearbeitet. Struktur, Wortschatz, Stil, inhaltliche Motive und gedankliche Linienführung der VV. 21 f weisen so stark auf lukanische Gestaltung hin, daß eine dahinterliegende überlieferung in diesen Versen nicht erkennbar ist 23 • Insbesondere sind die sprachliche und inhaltliche Nähe zu Apg 1,1 f sowie die spezifisch lukanische Zusammenfassung der Wirksamkeit J esu 24 und der lukanische Apostelbegriff25 zu beachten. - V. 23 läßt keine Anzeichen lukanischer Bearbeitung erkennen. Auf seine Herkunft aus vorlukanischer überlieferung weisen dagegen hin: der parataktische Anschluß mit "und", die Namen und die Pluralform "sie stellten auf". - Die Formulierung des Gebetes V.24 wird unter Aufnahme urchristlich-liturgischer Elemente auf Lukas zurückgehen;
22 V gl. }. Roloff, Apostolat - Verkündigung - Kirche. Ursprung, Inhalt und Funktion des kirchlichen Apostelamtes nach Paulus, Lukas und den Pastoralbriefen (Gütersloh 1965) 175. - M. Wilcox, Judas-Tradition (A. 3) 447-452, und E. Nellessen, Tradition (A. 3) 212-214, rechnen den Hauptteil des V. 17 wegen des sprachlichen Anklangs an das T argum D zu Gen 44, 18 zur Tradition, Wilcox zur Judas-Tradition, N ellessen zur Mattias-Wahl-Tradition. 23 So G. Klein, Die zwölf Apostel (Göttingen 1961) 205; E. Nellessen, Tradition (A. 3) 206; G. Lohfink, Himmelfahrt (A.19) 223; anders H. Elender, Heil und Geschichte in der Theologie des Lukas (München 21968) 110. 24 Vgl. G. Lohfink, Himmelfahrt (A.19) 223. 25 Vgl. die neuere Literatur bei R. Schnackenburg, Apostel vor und neben Paulus, in: ders., Schriften zum Neuen Testament (München 1971) 338-358.
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denn Lk 6, 12 schiebt er im Unterschied zu Mk 3,13 ebenfalls vor der Apostelwahl eine Gebetsszene ein, und außerdem handelt es sich ja um die stilisierte Zusammenfassung eines Gebetes mehrerer Personen. In das Gebet hat Lukas die aus der überlieferung stammende Zielangabe V.25 aufgenommen: "den Platz dieses Dienstes· ... zu erhalten, von dem Judas abgetreten ist". Sie würde sich sinngemäß bereits gut an V. 23 anschließen. Lukas hat sie in das Gebet untergebracht, als nähere Bestimmung des Dienstes noch "Apostelamt" hinzugefügt und in Anlehnung an 1,11 kontrastierend ergänzt: "um an seinen Ort zu gehen". - In V. 26 wird die Zahlenangabe "elf" dem Traditionsstück angehören 26; denn die Aussage des Traditionstückes, daß überhaupt ein Ersatz für Judas geschaffen werden sollte und geschaffen worden ist, setzt ein Bewußtsein über eine bestimmte Zahl voraus. Existenz und Bedeutung der "Zwölf", auf die sich die durch das Ausscheiden des Judas notwendig gewordene Ergänzung bezieht, sind vorlukanisch mehrfach belegt (z.B. 1 Kor 15,5; Mt 19,28 par Lk 22,30). "Apostel" jedoch dürfte lukanischer Zusatz sein: im Traditionsstück kam der Apostelbegritf sonst nicht vor. Es gibt zwar in der vorlukanischen synoptischen überlieferung Ansätze einer Identifizierung der "Zwölf" mit den "Aposteln"; aber konsequent durchgeführt hat sie erst Lukas, und gerade den vorliegenden Abschnitt hat er u. a. dieser seiner Aussageabsicht dienstbar gemacht.
4. Historische und theologische Relevanz des lukanischen Textes
4.1 Die Einleitung
W: 15f
Lukas kennzeichnet die Ersatzwahl des Mattias als ein von Gott vorgesehenes und gewolltes Geschehen der Heilsgeschichte. Darauf machen aufmerksam: die im Septuaginta-Stil gefaßte einleitende Zeitangabe "in diesen Tagen" V. 15, der ausdrückliche Hinweis auf die Schrifterfüllung V. 16, die Schriftzitate V.20, die mit "es muß also" gezogene Schlußfolgerung W. 21 f, die Anrufung Gottes im Gebet V. 24, die als Entscheidung Gottes verstandene Wahl durch das Los W. 24.26.-
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Anders W. WiateT, Komposition (A.3) 80.280.
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Die mit 120 Personen angegebene Zahl der Versammelten ließ in der Forschung den Gedanken aufkommen, sie beziehe sich auf die San 16 gegebene Vorschrift, daß zum rechtsgültigen Zustandekommen eines jüdischen Orts-Synedriums 120 Männer gehören mußten. Demnach hätte die lukanische Angabe den Gesichtspunkt der Rechtsgültigkeit des Wahlvorgangs im Sinn, ja sie würde möglicherweise die rechtliche Verfassung der Urkirche erkennen lassen 27 . Das ist kaum anzunehmen; denn Lukas spricht nur von "ungefähr" 120 und bezieht wohl auch die Frauen von V.14 mit ein ("Brüder" VV. lsf ist entsprechend griechischem Stil umfassender gemeint). Er hat lediglich den personellen Rahmen für das folgende Ereignis geschaffen, indem er die Apostelzahl verzehnfachte und so eine runde, überschaubare Zahl der Beteiligten angab. 4.2 Die Judas-Tod-überlieferung VV.17-20.2S Die überlieferung vom Tod des Judas ist von Lukas nicht nur aufgenommen und bearbeitet worden. Er hat sie darüber hinaus so in das Ganze der Darstellung eingefügt, daß das Judas-Geschick als Voraussetzung und Anlaß für die Ersatzwahl erkennbar wird und sogar selbst als Erfüllung göttlichen Ratschlusses gilt. Außer der lukanischen Wiedergabe gibt es noch zwei weitere Versionen des Judas-Todes: Mt 27,3-10 und das Fragment 3 des Bischofs Papias von Hierapolis aus seinem Werk "Worte des Herrn", geschrieben etwa 120-130 n. ehr. Dort heißt es: "Als hervorragendes Beispiel von Gottlosigkeit wandelte Judas in dieser Welt, der zu einem solchen Fleischesumfang angeschwollen war, daß er nicht einmal, wo ein Wagen leicht durchfährt, hindurchgehen konnte, ja nicht einmal die Masse seines Kopfes. Denn seine Augenlider, heißt es, seien dermaßen angeschwollen gewesen, daß er überhaupt das Licht nicht sah, und seine Augen konnten auch nicht von einem Arzt mit Hilfe eines Augenspiegels erblickt werden; so tief lagen sie von der äußeren Oberfläche. Sein Schamglied erschien aber durch Mißgestaltung überaus widerlich und groß, und es gingen dadurch
27 So u. a. Bo Reicke, Die Verfassung der Urgemeinde im Lichte jüdischer Dokumente: ThZ 10 (1954) 95-112, hier: 98; ders., Glaube und Leben der Urgemeinde. Bemerkungen zu Apg 1-7 (Zürich 1957) 23. - Dagegen u. a. H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte (Tübingen 1963) 23; E.Haenchen, Apg (A.6) 163 Anm. 1; 168.
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aus dem ganzen Körper zusammenfließend Eiterteile und Würmer zu (seinem) Schimpf ab, allein schon durch die natürlichen Bedürfnisse. Als er dann nach vielen Qualen und Strafen an privatem Orte, wie es heißt, gestorben war, sei der Ort von dem Geruch bis jetzt öde und unbewohnt gewesen; ja es könnte bis zum heutigen Tage nicht einmal einer an der Stelle vorübergehen, ohne sich die Nase mit den Händen zuzuhalten. So stark erfolgte der Ausfluß durch sein Fleisch auch auf die Erde." 28
Als historischer Kern aller drei überlieferungen läßt sich ermitteln: Judas, einer der Zwölf, spielte bei der Gefangennahme und übergabe J esu eine besonders wichtige Rolle (so auch Mk, J oh). Ein Grundstück, das vom Verräterlohn gekauft worden war, erhielt den Namen Hakeldamach = Blutacker. Ungewiß ist, ob diese Grundstücksbezeichnung erfolgte, weil die Hohenpriester mit dem zurückerhaltenen Blut-Geld den Acker als Begräbnisplatz für Fremde kauften (so Mt) oder weil Judas ihn kaufte und auf ihm starb (so Apg; Papias) oder dort begraben worden war. Alle weiteren Angaben über die Todesart und die schrecklichen Begleitumstände entstammen volkstümlicher Ausgestaltung und der Anlehnung an alttestamentliche und sonstige antike Darstellungen des Todes von Menschen, die als gottlos und verwerflich galten. Schon in der Todesart zeigte sich nach damaliger Vorstellung das göttliche Strafgericht 29 . JosAntXVII6,5 schildert den Tod des Herodes (4 v. Chr.): Zu seiner schon vorhandenen Krankheit kamen hinzu "Geschwüre in den Eingeweiden und besonders quälten ihn grausame Schmerzen in den Därmen. Die Füße waren ebenso wie der Unterleib von einer wässerigen, durchscheinenden Flüssigkeit aufgetrieben, und an den Geschlechtsteilen entstandt ein fauliges Geschwür, welches Würmer erzeugte. Wenn der Kranke sich aufrichtete, litt er an quälender Atemnot, und der Gestank des Atems machte ihm ebenso viele Beschwerden als das angestrengte Atemholen. Endlich wüteten in fast allen Gliedern seines Körpers Krämpfe, die ihm eine unwiderstehliche Kraft gaben. Die Wahrsager, welche sich auf die Deutung solcher Heimsuchungen verlegten, waren der Meinung, Gott habe dem König für seine Bosheit diese schwere Strafe zuerkannt."
.
28 Griech. und lat. Text: F. X. Funk, Patres Apostolici I (Tübingen 1901) 360-362; übersetzung: D. Haugg, Judas Iskarioth in den neutestamentlichen Berichten (Freiburg i. Br. 1930)39f. - Vgl. auch H. L. Goldschmidt-M. Limbeck, Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testament (Stuttgart 1976) 66-68. 29 Vgl. 2 Makk 9,7-12; Weish 4,19 ("kopfüber hinabstürzen!"); Sir 10,9-18; Apg 12,23.
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Am Schluß der Schilderung der Todeskrankheit des Catullus, der 73-74 n. Chr. römischer Prokonsul von Kyrene war, sagt Jos Bell VII 11,4: "Das übel nahm immer schneller zu, bis ihm infolge von Fäulniserscheinungen die Eingeweide aus dem Leib brachen, und so schließlich sein Tod eintrat - ein Beweis wie kaum ein anderer, daß die Vorsehung Gottes den übeltätern gerechte Strafe auferlegt."
Im Verlauf des urchristlichen überlieferungsprozesses nehmen die Ausgestaltung der schrecklichen Todesumstände des Judas, die Distanzierung von ihm und die Artikulation der von Gott über ihn verhängten Strafe zu 30 : Markus sagt nur, daß Judas, einer der Zwölf, Jesus "übergibt"; er berichtet aber nichts über den Tod. Mattäus und Lukas distanzieren sich entschiedener von Judas und erzählen aus unabhängigen überlieferungen von seinem Ende. Lukas nennt ihn diff MkJMt ausdrücklich "Verräter" (z. B. Lk 6,16) und erklärt die Ursache des Verrats als satanischen Einfluß (Lk 22,3). Dieser Tendenz entspricht auch die lukanische Beurteilung des Judasschicksals Apg 1, die mit dem Ausdruck "er ging an seinen Ort" V. 25 das ewige Verderben meint. In der johanneischen überlieferung waltet eine ähnliche Tendenz: Johannes sagt zwar nichts vom Tod, identifiziert Judas aber direkt mit dem Teufel (Joh 6, 70). Sieht man alle diese Aussagen innerhalb des Denkhorizonts der Antike und zeitgebundener Elemente des biblischen Weltbildes, dann wird man in ihnen den wachsenden Abscheu der Urkirche vor der Tat des Judas erkennen. Man wird indes aus ihnen nicht den Schluß ziehen dürfen, daß mit diesen Urteilen das ewige Unheil des Judas besiegelt und verbindlich ausgesagt sei. Denn so unbegreiflich seine Tat auch erscheinen mochte und so hart das urchristliche Urteil über ihn auch ausfiel, die zentrale Heilsbotschaft von der alle Menschen umfassenden Erlösung durch Jesus Christus und der unbegreiflichen Barmherzigkeit Gottes wurde selbst dadurch nicht beeinträchtigt. So sind auch in der lehr amtlichen Verkündigung der katholischen Kirche trotz des Ernstnehmens der Möglichkeit einer ewigen Verwerfung niemals verbindliche Aussagen über die Verdammnis eines konkreten einzelnen Menschen gemacht worden.
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Vgl. H. L. Goldschmidt - M. Limbeck, Verrat (A.28) 53-85.
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4.3 Die Zwölf Apostel als Zeugen W.21-22 Die Verse gelten als "Magna Charta des Zwölferapostolats" 31. Sie geben programmatisch das lukanische Apostel-Verständnis 32 wieder: Apostel ist, wer während der ganzen öffentlichen Wirksamkeit Jesu - nach Lukas von der Taufe bis zur Himmelfahrt! - mit ihm und den übrigen der Zwölf zusammen war und nun die Taten und Worte Jesu - besonders aber seine Auferstehung - bezeugt. Die lukanischen Akzente dieses Apostelbegriffs liegen (a) in der Identifizierung der "Apostel" mit den "Zwölf"; (b) in der Charakterisierung des Apostolates als Dienstamt (W.17.25); (c) in der Angabe der Funktion: Apostel-sein heißt Zeugnis-geben; (d) in Erwählung, Geistbegabung und Sendung. Lukas hat im allgemeinen dieses Verständnis konsequent durchgehalten. Es gibt aber Ausnahmen: der weiter gefaßte Apostelbegriff Apg 14,4.14 und die relativ spät erwähnte Auswahl der Zwölf Lk 6, 13. Gemäß dieser Angabe waren die Zwölf nicht schon anwesend bei den vorher dargestellten Ereignissen. 4.4 Aufstellung der Kandidaten - Gebet - Wahlvorgang W. 23-26 Der erste Kandidat heißt Josef. Nach jüdischer Gepflogenheit trägt er noch Beinamen 33 • Barsabbas bedeutet "Sohn des Sabbas" oder vielleicht "am Sabbat geboren". Der Name begegnet im Neuen Testament nur noch Apg 15,22, und zwar als Beiname eines Judas. Justos ist die griechische Form des lateinischen JUStllS - der Gerechte, ein bei Juden (KoI4, 11) und Proselyten (Apg 18,8) häufig geführter Beiname. Außer an unserer Stelle ist über den Kandidaten sonst nichts bekannt. Die spätere christliche Legende rechnet ihn zu den 70 Jüngern, und das Papiasfragment 2 berichtet, er habe ohne Schaden tödliches Gift getrunken 34 • - Auch der zweite Kandidat, Mattias (Kurzform von Mattatias), wird im Neuen Testament nur hier erwähnt. Außer seiner jüdischen Herkunft ist über ihn nichts bekannt. Freilich hat auch hier die spätere Legendenbildung zu ergänzen versucht, so z.B. das Evangelium des Mattias (3. Jh.) und die Andreas- und Mattiasakten G. Klein, Apostel (A.23) 204. Vgl. G. Schneider, Das Evangelium nach Lukas I (OTK 3/1) (Gütersloh-Würzburg 1977) 146-148. 33 Vgl. Bill. II 595.712. 34 Text: F. X. Funk, Patres Apostolici (A.28) 356f. 31
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(6. JhY s. - Die Gebetsanrede "Herzenskenner" wird Gott meinen. DaraufweisenhinApg 15,8; Lk 16, 15; 1 Thess 2,4; Röm 8,27 und das Vorkommen in der altchristlichen Literatur 36. Sollte Jesus gemeint sein, so hätte es der Verdeutlichung bedurft. - Der Losvorgang 37 ist als Gottesentscheid verstanden. Das ergibt sich aus dem Gebet: "zeige, wen du erwählt hast", und aus der alttestamentlich-jüdischen Institution des Losentscheides, z. B. bei der Festlegung der Reihenfolge der 24 Priesterklassen für den Tempeldienst 1 Chr 24 und bei der Auslosung der beiden Böcke am Versöhnungstag Lev 16. Nach Jos Bell IV 3,7f wird widerrechtlich sogar der Hohepriester durch das Los ermittelt: Pinehas (67 n. Chr.). In Qumran werden Aufnahme und Rangstufe der Mitglieder durch Los entschieden 1 QS 6,16-23. Wie Lohfink gezeigt hat 38, dürfte es sich Apg 1,26 um einen ähnlichen Vorgang gehandelt haben wie Lev 16. Zwei Lose wurden in ein Gefäß gelegt. Auf dem einen stand "Für Josef", auf dem anderen "Für Mattias". Das durch Schütteln (oder Ziehen) zuerst herauskommende zeigte den Gewählten. Es besteht kein hinreichender Grund, die Historizität der Ersatzwahl des Mattias zu bestreiten. Die Tatsache, daß zwar Judas ersetzt worden ist, aber für den später ermordeten Jakobus (Apg 12,2) kein Ersatz geschaffen wurde, läßt erkennen: Im Bewußtsein der Urgemeinde hatten die Zwölf eine auf die Anfangszeit der Kirche begrenzte Funktion. Lukas knüpft an diese historische Gegebenheit an, indem er die Ergänzung des Zwölferkreises in die Phase der Grundlegung der Kirche einordnet und noch vor seiner Darstellung des Pfingstereignisses geschehen sein läßt. Er geht aber in seiner Deutung über die historischen Anfänge hinaus, indem er betont die "Zwölf" mit den "Aposteln" identifiziert. Sie sind für Lukas Garanten, die durch den Dienst ihres Zeugnisses die Brücke von Jesus zur Kirche bilden 39 , und zwar soweit, bis durch Paulus die Brücke weitergeschlagen wird zur nachapostolischen Kirche. Nach Lukas führen dementsprechend "die Apostel" in dieser Phase der Grundlegung alle Aufgaben in der Kirche aus, 35 Texte: E. Hennecke - W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen I (Tübingen 31959) 224-228, 11 (31964) 403. 36 Belege bei E. Haenchen, Apg (A. 6) 166 A. 8. 37 Vgl. G. Lohfink, Der Losvorgang in Apg 1,26: BZ NF 19 (1975) 247-249. 38 Losvorgang 248. 39 Ahnlich E. Haenchen, Apg (A.6) 167; anders K. H. Rengstorf, Zuwahl (A.3) 39f.
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auch die, die später von anderen übernommen werden 40: Sie lehren, wirken Wunder, erfüllen die karitativen Aufgaben, vermitteln den Heiligen Geist, senden Beauftragte aus, gründen und anerkennen neue Gemeinden. senden Beauftragte aus, gründen und anerkennen neue Gemeinden. Die unmittelbar nächstliegende literarisch-theologische Funktion, die Lukas der vorliegenden Perikope und damit den Zwölf Aposteln, ergänzt durch den Ersatzapostel Mattias, zugewiesen hat, dürfte freilich darin bestehen, daß die Zwölf - als Repräsentanten des Zwölfstämmevolkes (Lk 22,30) und als Keimzelle der werdenden Kirche - nun bereit sind, den Heiligen Geist zu empfangen. Der von Lukas geschaffene unmittelbare Anschluß des Pfingstberichtes Apg 2 läßt diesen inhaltlichen, engen Zusammenhang vermuten. 40
Vgl. W. Wiater, Komposition (A. 3) 250; 379 A.31.
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v Jesus
vor Herodes
Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung zu Lk 23,6-12 Von Karlheinz Müller, \Vürzburg
Die Bewegungen innerhalb der neutestamentlichen Erinnerungen an den Prozeß gegen J esus von N azaret sind intensiv. Sie signalisieren ein unterschiedliches und sich wandelndes Verhältnis der urchristlichen Gemeinden zum zeitgenössischen Judentum ebenso wie zum römischen Imperium. Besonders Lukas ist dafür ein beredter Zeuge. Seine Darstellung weicht vielfach und erheblich von derjenigen des Markus ab. So berichtet er von nur einer Zusammenkunft des Synedrion 1, die er zudem in die frühen Morgenstunden verlegt 2 und dabei nicht nur auf jede Zeugenvernehmung, sondern auch auf eine Verurteilung Jesu durch die jüdische Behörde verzichtet: nach dem Willen des Lukas ging es gar nicht um einen wirklichen Prozeß, sondern lediglich um ein (notwendiges Vor-)Verhör 3. Die Mitglieder des Hohen Rates erscheinen bei ihm auch dadurch in einem besseren Licht, als nicht sie es sind, die Jesus nach ihrer Urteilsfindung verhöhnen und mißhandeln 4 • Vielmehr bemüht Lukas zu diesem Zweck noch in der Nacht vor dem Zusammentreffen "des Ältestenrates des Volkes, der Hohenpriester und Schriftgelehrten" eine Wachmannschaft 5, die wiederum keineswegs identisch ist mit jener Truppe von "Hohenpriestern, Tempelhauptleuten und Ältesten", welche eben auf dem Olberg die Festnahme Jesu mitangesehen hatten 6 . Darüber hinaus unternimmt Lukas Anstrengungen, die Schmach zu mildern, welche die ältere überlieferung dem Petrus durch einen bedeutungsschweren Synchronismus zu1 2 3 4
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Lk 22,66-7l. Zu Lk 22,66a: "und als es Tag wurde" vgl. Apg 4,3.5. Unten S. 16f. Vgl. Mk 14,65: "einige"; Mt 26,67 verschärft: "sie". Lk 22,63-65. Lk 22,52.
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mutete: Markus hatte dem Sprecher des Zwölferkreises die Last einer dreimaligen Verleugnung im zeitlichen Kontext eines Prozesses auferlegt, welcher vom zweimaligen Auftreten falscher Zeugen gegen Jesus bestimmt war und schließlich mit einem Todesbeschluß des Synedrion geendet hatte, der aufgrund eines Vorwurfs der Gotteslästerung nur mühsam zustandegekommen war 7. Lukas dagegen verlegt das Versagen des Petrus in die Nacht vor der Zusammenkunft des Hohen Rates und verschont derart den Erstberufenen vor dem diskriminierenden Zwang der Analogie falscher Zeugenschaft 8. Auch dadurch setzt sich Lukas von Markus ab, daß er die Klage der Führer des Volkes vor Pilatus in strengerer Eindeutigkeit auf rein politische Anschuldigungen revolutionären Umtriebs reduziert 9. Und weiterhin ist auffallend, mit welcher Umständlichkeit und mit wieviel stärkerem Nachdruck Lukas an der Vorstellung arbeitet, daß der römische Prokurator Jesus für unschuldig hielt 10. Vor allem aber legt Lukas Wert auf eine Szene, die Jesus zusätzlich noch vor das Tribunal des Herodes führt, obwohl die vOrlukanische Tradition darüber keinerlei Wissen zu erkennen gibt 11. Die Einlassungen des Lukas auf den Prozeß tragen ein unverwechselbares Etikett. Um so heftiger stellt sich die Frage, wie angesichts der einschneidenden Differenzen das Verhältnis zu Markus beurteilt werden darf. Ist man tatsächlich genötigt, wenigstens vorübergehend das vertraute Terrain der Zweiquellentheorie zu verlassen und auf den höchst hypothetischen Pfad einer Sonderquelle überzuwechseln, um unter dem Vorzeichen einer vermutlich umfassenderen Unterrichtung des Lukas nach einer Erklärung für die eigenwillige Gestaltung der lukanischen Prozeßnachrichten zu fahnden?12 Muß man darüber hinMk 14,66-72. Lk 22,55-62. 9 Lk 23,2f.5 vgl. unten S.124-126. 10 Lk 23,4.13-15.20-24; vgl. unten S. 133-137. 11 Lk 23,6-12.15. 12 So: V. Taylor, Behind the Third Gospel (Oxford 1926) 50-75; ders., The Formation of the Gospel Tradition (London 1933) 5lf; A. M. Perry, Luke's Disputed PassionSource: ET 46 (1934) 256-260; P. Winter, The Treatment of his Sources by the Third Evangelist in Luke 21-24: StTh 8 (1954) 138-172;].Jeremias, Perikopen-Umstellungen bei Lukas?: NTS 4 (1957) 115-119;]. B. Tyson, The Lukan Version ofthe Trial of Jesus: NT3 (1959) 249-258; F.Rehkopf, Die Lukanische Sonderquelle. Ihr Umfang und Sprachgebrauch (Tübingen 1959) 84f; A. F. Klijn, De wordinggeschiedenis van het Nieuwe Testament (Utrecht - Antwerpen 1965) 53. Zur Kritik: H. van der Kwaak, Het Pro ces van Jesus (Assen 1969) 128-132. 7
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aus dem Lukas einen "Proto-Lukas" vorschalten, um dem gleichfalls auffälligen Befund gerecht zu werden, daß die lukanische Leidensgeschichte überhaupt und der Prozeß des Lukas im besonderen eine ganze Reihe bewußter Verankerungen im übrigen Evangelium ebenso wie in der Apostelgeschichte aufweisen, die sich nicht nur als stilistische Markierungen verifizieren lassen, sondern durchaus auch inhaltliche Relevanz besitzen? 13 Wie aber soll dann jener "Proto-Lukas" von Lukas noch unterschieden werden? Vor allem aber, wie wäre damit die Beobachtung zu koordinieren, daß der lukanische (Passions- und) Prozeßbericht an anderen Stellen eindeutig nur von Markus abhängt ?14 Und zwar so, daß sich die von Markus stammenden Verse derart funktional auf ihren lukanischen Kontext angewiesen zeigen, daß sie dort nicht ohne Schaden für die Darstellung des Lukas herausgelöst werden können? 15 Liegt es unter solcher Rücksicht nicht näher, Markus als Ausgang ernster zu nehmen und stärker als bisher mit dem historischen Beschaffungseifer des Lukas zu rechnen, der angesichts des Zustands der ihm überkommenen Traditionen mit gesteigerter Anstrengung hinter den eigenen interpretatorischen Motiven herlief und gerade für den Fall des Prozesses mit seinem Evangelium selbständige Ziele verfolgte? 16 Es versteht sich von selbst, daß sich die skizzierte exegetische Problematik dort verschärfen muß, wo Sondergut des Lukas vorliegt. Insofern nimmt die Szene "Jesus vor Herodes" in Lk 23,6-12 eine 13 Klassisch: B. H. Streeter, The Four Gospels (London 1924) 201-222. Zur Kritik: ]. Finegan, Die überlieferung der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu (Gießen 1934) 53;]. M. Creed, The Gospel according to 5t. Luke (London 51957) LVI-LXX sowie die übersicht: V. Taylor, Important Hypotheses Reconsidered. I. The Proto-LukeHypothesis: ET 67 (1955) 12-16. 14 Vor allem Lk 22,67.69.71; 23,3.22a. 15 ]. M. Creed, The 5upposed ,Proto-Lukan' Narrative of the Trial before Pilate: A Rejoinder: ET 46 (1934) 378f mit Blick auf Lk 23,2 vgl. Mk 15,2. 16 50 schon mit Recht:]. C. Hawkins, 5t. Luke's Passion-Narrative Considered with Reference to the 5ynoptic Problem, in: W. Sanday (Hrsg.), Oxford Studies in the 5ynoptic Problem (Oxford 1911) 76-94. Vgl. außerdem: H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit (Tübingen 41964) 66-86.186-188; ]. Blinzler, Passionsgeschehen und Passionsbericht des Lukasevangeliums : BiKi 24 (1969) 1-4; A. Stöger, Eigenart und Botschaft der lukanisehen Passionsgeschichte: ebd. 4-8; G. Scbneider, Verleugnung, Verspottung und Verhör Jesu nach Lukas 22,54-71 (München 1969) 156-163; F. Schütz, Der leidende Christus (5tuttgart 1969) 42-112: D. R. Catchpole, The Trial of]esus (Leiden 1971) 153-220; G. Schneider, Die Passion Jesu nach den drei älteren Evangelien (München 1973) 164-169.
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Schlüsselstellung ein. Wie nirgends sonst erweist sich hier Richtigkeit oder Mangel jeder Einschätzung der lukanischen Prozeßredaktion. Im folgenden wird es deshalb einmal mehr darum gehen, anhand der Perikope Lk 23,6-12 Ausmaß, Qualität und Sinn der einschneidenden Umformungen exemplarisch verständlich zu machen, welche der dritte Evangelist dem von Markus überkommenen Bild des Prozesses gegen Jesus von Nazaret zumutete.
1. Der lukanische Sprachgebrauch
Es empfiehlt sich, von der Erkenntnis auszugehen, daß Vokabular und Stil der Episode zu überwiegenden Teilen von Gepflogenheiten geprägt werden, an die sich Lukas auch sonst in Evangelium und Apostelgeschichte gehalten zeigt. Von dieser Beurteilung ist in Lk 23,7 nicht nur das Substantiv Esouo(a = "Machtbereich" 17, sondern auch das Verbum avanEllnELv betroffen 18, welches "der überweisung an eine zuständige Behörde" 19 das Wort redet. Auf derselben Rechnung darf die lukanische Vorliebe für jenen "Septuagintismus" verbucht werden, der xal mho~ für die dritte Person des Personalpronomens setzt und damit das Interesse verfolgt, einem "betonten ,er'" zum Ausdruck zu verhelfen 20. Ebenso ist es gute lukanische Gewohnheit, mit Hilfe der (Septuaginta-)Wendung "in diesen Tagen" chronologische Klammern zu schaffen und um historische Kontinuität besorgt zu sein 21. Im Blick auf Lk 23, 8 entspricht XaLQELV = "sich freuen" dem geläufigen Sprachgebrauch des Lukas 22, vor allem aber erweist sich der unmittelbar anschließende Satzteil als durch und durch lukanisch: ~v yaQ ES Lxav&v XQOVffiV'frEA.ffiV lDELV al'rtov DLa LO axovELv nEQI, mhoii = "denn er (sc. Herodes) wollte ihn (sc. Jesus) schon lange einmal sehen, weil er von ihm gehört hatte". Bereits die periphrastische Kon17 Lk4,6;22,53; Apg26, 18. Im Neuen Testament sonst nur noch in Eph 2,2; Kol1, 13. 18 Lk 23,7.11.15; Apg 25,21. Sonst nur noch in Philemon 1l. 19 W. Grundmann, Das Evangelium nach Lukas (Berlin 71974) 424. 20 F. Blass - A. Debrunner - F. RehkopJ, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch (Göttingen 1976) § 277,3 (Anm.), und f. C.Hawkins, Horae Synopticae (London 21909) 41f. 21 Lk 1,39; 6,12; 24,18; Apg 1,15; 6,1; 11,27. 22 Nicht im Sinne von "grüßen". Dazu f. C. Hawkins, Horae (A. 20) 49.
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struktion einer solchen Zwischenbemerkung gibt einen sicheren Hinweis auf Lukas 23. Aber dem dritten Evangelisten darf zudem eine exzessive Verwendung des Adjektivs Lxavo~ nachgesagt werden 24, und er bevorzugt die W ortverbindung XQovo~ txavo~ - sei es im Singular oder im Plural 25 • Darüber hinaus ist der substantivierte Infinitiv nach Öta 1:0 als eine Stilfigur identifizierbar, deren sich Lukas gerne bedient, um Grund und Ursache zu benennen 26. Auch Lk 23,9 signalisiert genuin lukanische Wortwahl. Denn die Aussage EJt'Y]Quna ÖE mhov EV A6yot~ Lxavoi:~ muß übersetzt werden: "so stellte er (Sc. Herodes) viele Fragen an ihn (sc. Jesus)". Dabei trifft die lukanische Entscheidung für die Wendung fv A6yot~ Lxavoi:~ exakt mit dem Sprachgebrauch der jüngeren Bücher der Septuaginta zusammen, die gleichfalls die Absicht verfolgen, die semantische Abnutzung der Adjektive ~Eya~ und JtOA:U~ durch die Gleichung txavo~ = "groß, viel" zu kompensieren 27. Für Lukas darf außerdem das Adverb fln:ov(ü~ = "heftig" beansprucht werden. Es ist ausschließlich in Lk 23,10 und Apg 18,28 belegbar. Lk 23,11 verrät nicht nur durch die abermalige (vgl. V.7) Verwendung des Verbums avaJtE~Jtftv zur Umschreibung des Vorgangs einer amtlichen übersteIlung (vgl. V.15) die Hand des Lukas. Mehr noch ist hier die mit einem einfachen xaL gleichwertige Präposition ouv einschlägig, welche den verächtlich spottenden Herodes an die Seite seiner Soldateska stellt. Kein neutestamentlicher Schriftsteller entscheidet sich häufiger für ouv als Lukas 28. Schließlich läßt sich die Spur spezifisch lukanischer Formulierung auch in Lk 23, 12 verfolgen. Schon die Stellung des korrelativen 1:E hinter dem Artikel vor Herodes vermag auf eine Sprachgebärde des Lukas aufmerksam zu machen 29. Als noch eindeutiger lukanisch gibt sich alE. Haenchen, Die Apostelgeschichte (Göttingen 61968) 116f Anm. 7 (zu Apg 1,10). 24 Mt 3x; Mk 3x; Paulus 7x; vgl. dagegen Lk 9x; Apg 18x. 25 Singular: Lk 8,27; Apg 8,11; 14,3; 27,9. Plural: Lk 20,9; 23,8; vgl. Apg 9,23.43; 18,18; 27,7. 26 Bl.-Debr. § 402, 1. 27 E. Haenchen, Apostelgeschichte 69. 28 W. Bauer, Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur (Berlin 51971) 1548 unter 4b. Abwegig ist die Gleichung oUv = "gestützt auf", "sich verlassend auf", wie sie A. W. Verall, Christ bef0re Herod: JThS 10 (1909) 322-355 zur Stelle vorschlägt. 29 Bl.-Debr. §444,5 und 6. 23
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lerdings der Einsatz von alJ't6~ anstelle des ferndeiktischen Pronomens b'ELVO~ zu erkennen: die Wortverbindung f;v a'Ötft tft ~!-lEQc;t bedarf einer Wiedergabe durch "an jenem Tage"30. Und nur im lukanischen Doppelwerk (Lk 23,12; Apg 8,9) stößt man auf das Verbum nQollJtuQXElV, dessen Präfix JtQo - dem von Lukas ebenso favorisierten vJtUQXElV 31 den markanten zusätzlichen Sinn von "zuvor"-sein verleiht. Bereits die Sonde einer nur sehr begrenzt schlüssigen Wortstatistik und Stilkritik bringt somit an den Tag, daß sich der lukanische Gestaltungswille nicht bloß der Ränder der Szene annimmt, sondern alle wesentlichen Aspekte und Stufen ihres Ablaufs erfaßt. Dieses vorläufige Resultat gewinnt an Zuverlässigkeit und Präzision, sobald man den redaktionellen Stellenwert der Perikope mitbedenkt. Die Verankerungen des Vorgangs im restlichen Evangelium des Lukas, aber auch in der Apostelgeschichte, sind bewußt und erweisen sich als erheblich.
2. Der Zusammenhang mit Evangelium und Apostelgeschichte Einschlägig ist zunächst die Beobachtung, daß Lk 23,6 f nahtlos an den vorausgehenden V.5 anschließt. Dort war davon die Rede, daß "die Hohenpriester und die Volksmassen" von J erusalem um so hartnäckiger auf ihrer Anklage bestanden, je mehr sich der römische Prokurator von der Unschuld Jesu überzeugte (V.4). Die Anschuldigung selbst wird in Lk 23,5 mit den Worten wiedergegeben: "er bringt das Volk in Aufruhr mit seiner Lehrtätigkeit in ganz J udäa, von Galiläa angefangen bis hierher". Dabei ist erinnernswert, welch starken Nachdruck Lukas auch sonst auf die Feststellung legt, daß Jesu öffentliches Auftreten von Galiläa seinen Ausgang nahm 32. Noch in Apg 10,37 findet sich der ganz ähnlich lautende Vermerk: "ihr kennt das Geschehen, das sich zugetragen hat in ganz Judäa, von Galiläa angefangen mit der Taufe, die Johannes verkündete". Auf diese Anfangsphase der Tätigkeit Jesu wird Lukas
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31 32
Ebd. § 288,2 Anm. 4. Mt 3x; Lk 15x; Apg 25x. Vgl. H. Conzelmann, Mitte (A.16) 21-52.
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den Deuteengel im Grabe zurückverweisen lassen: "denkt daran, wie er zu euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war" (Lk 24, 6). Und Lukas begnügt sich auch nicht, mit Mk 15,41 die Frauen unter dem Kreuz als solche hervorzuheben, "die ihm von Galiläa her gefolgt waren" (Lk 23,49). Sondern er legt darüber hinaus Wert darauf, von denselben Frauen, welche schließlich Jesu Grablegung mitansehen, ein weiteres Mal festzuhalten, daß sie "mit ihm aus Galiläa gekommen waren" (Lk 23,55). Auf der Linie derselben Tendenz liegt es endlich, wenn Lukas den Zeugen der Erscheinungen des Auferstandenen attestiert, daß sie "mit ihm von Galiläa nach Jerusalem hinaufgezogen" seien (Apg 13,31). Aber der Verfasser des dritten Evangeliums ist nicht nur auffallend an der Feststellung interessiert, daß J esus sein Werk in Galiläa begann. Er zeigt zudem gesteigertes Interesse an der Information, daß Galiläa das Machtgebiet des Herodes Antipas war. So billigt Mk 6, 14 dem Herodes den Titel "König" zu, ohne daß Markus hier oder an einer anderen Stelle seines Evangeliums Anstrengungen unternimmt, die territoriale Zuständigkeit jenes "Königs Herodes" zu klären. Mattäus korrigiert in 14,1 zwar seine MarkusVorlage und schreibt"Tetrarch" für "König", aber auch er schweigt sich beharrlich über das Herrschaftsgebiet des Herodes aus. Ganz anders liegen die Dinge bei Lukas, der schon in 3,1 den Herodes ein für allemal als "Tetrarch über Galiläa" eingeführt hatte und unter dieser Voraussetzung in 3,19 ebenso wie in 9,7 (par Mk 6,14 vgl. Mt 14,1) sorgfältig die Titulatur eines "Tetrarchen" registriert 33. Kam aber Jesus aus Galiläa (vgl. Lk 1,26; 2,4.39) und war Galiläa das Hoheitsgebiet des Herodes Antipas, dann mußte für Lukas gleichfalls feststehen, daß Jesus seine Tätigkeit in einem Landstrich auszuüben begann, der von diesem "Tetrarchen" auch aktuell kontrolliert wurde. Nur einen schwachen und indirekten Hinweis auf eine solche Präsenz des Herodes vermag die Nachricht in Lk 8,3 zu geben, derzufolge "Johanna, die Frau des Chuza, eines Verwalters des Herodes" zu einer Schar von Frauen gehörte, welche Jesus und die Zwölf "aus ihrem Vermögen versorgte". Deutlicher fällt bereits die Aussage in Lk
33 Vgl. Apg 13, 1 undF. F. Bruce, HerodAntipas, Tetrach of Galilea and Perea: ALUOS 5 (1963-1965) 6-23.
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9,7 aus, wonach der "Tetrarch Herodes" sorgfältig die Aktivitäten Jesu observierte: "er hörte alles, was (sc. von seiten Jesu) geschah". Daß Lukas Jesus buchstäblich in der Rolle eines Untertanen des Hero~ des sah und ihn als solchen auch dessen gewalttätiger Jurisdiktion un~ terstellte, geht dann aus Lk 13,31 hervor, wo ausgerechnet "Pharisäer" J esus mit der Begründung zur Flucht raten: "Herodes will dich töten"! Für Lukas selbst, aber auch für seine gut vorbereiteten Leser war es also ein notwendiger Akt administrativer Korrektheit, daß der rö~ mische Prokurator in Lk 23,6f die Frage nach der Kompetenz einer Schulderhebung aufwarf, nachdem er selbst an Jesus "keine Schuld" hatte finden können und sich trotzdem der erneuten Anklage der "Hohenpriester und Volksrnassen" (vgl. Lk 23,4f) konfrontiert sah. Es entsprach der lukanischen Vorstellung von einer fairen und gerech~ ten Prozeßführung, daß Pilatus aus der Klage der "Hohenpriester und Volks massen" heraushörte, die aufrührerische Lehrtätigkeit Jesu habe "von Galiläa aus ihren Anfang genommen" (Lk 23, 5)34. Die Nachfrage des Antipas inLk23,6, ob Jesus "Galiläer" sei, bringt also nichts Neues hinzu, sie hat ihre solide Basis im unmittelbar voranstehenden Vers. Und es kam dem Gedanken des Lukas an ein untadeliges Zusammen~ spiel zwischen der römischen Oberbehörde und der jüdischen Klien~ telverwaltung 35 entgegen, wenn der Prokurator seine Verantwortlich~ keit bei der Schulderkennung dadurch einschränkte, daß er der Herkunft Jesu "aus dem Herrschaftsgebiet des Herodes" Rechnung trug und ihn "an die Zuständigkeit" des Antipas "überstellte" (Lk 23, 7ab) 36. Dabei mußte Lukas allerdings auf ein Problem stoßen, das ihm die eigene Redaktion zur Lösung aufgab. Er hatte bislang in seinem Evangelium den "Tetrarchen Herodes" so sehr auf "GaliIäa" fixiert,
Siehe unten S. 130f. Unten S. 124-126. 36 J. B. Tyson, Jesus and Herod Antipas: ]BL 79 (1960) 239-246, geht davon aus, daß Lukas über bessere Informationen verfügt haben muß als Markus. Er tritt dafür ein, daß Antipas ein aktiver Feind Jesu war. Jesu sogenannte Nord-Reise (Mk 7 und 8) sei eine Flucht vor Herodes gewesen. Auch sein Plan, durch Samaria nach Jerusalem zu reisen (Lk 9,51-56), erkläre sich aus Jesu Furcht, Territorium des Antipas zu betreten. Die Annahme eines Proto-Lukas und vor allem die Absage an redaktionsgeschichcliche Aspekte verführen ihn schließlich dazu, Herodes eine erhebliche Rolle bei der Aburteilung Jesu zuzubilligen: "he was the one person who was in a position to know about Jesus almost firsthand and the one ruler who is known to have attempted to arrest Jesus on previous occasions". Vgl. deTS., The Lukan Version of the Trial of Jesus (A.12) 258. 34
3S
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daß seine Leser diesen Landesherren Jesu nur dort vermuten konnten. Es war für Lukas daher nicht ohne Umstände erschwinglich, seinem Publikum eine Anwesenheit des Herodes in Jerusalem verständlich zu machen. Aus diesem Grunde mußte ihm die Notiz in Lk 23,7c unerläßlich erscheinen, Antipas habe sich gerade "in diesen Tagen in Jerusalem" aufgehalten 37. Zu den wortstatistischen und stilkritischen Beobachtungen treten damit kompositorische Aspekte, welche die Versfolge Lk 23, 6-7 sicher als redaktionelle Bildung des Lukas zu erkennen geben. Ganz ähnlich stellt sich der Befund für Lk 23,8 dar: "als aber Herodes Jesus sah, freute er sich sehr; denn er wollte ihn schon lange einmal sehen, weil er von ihm gehört hatte; er hoffte nämlich, ein von ihm gewirktes (Wunder-)Zeichen zu sehen". Zunächst erweist sich die redaktionelle Klammer, die Lk 23,8 mit Lk 9,7-9 verbindet, als außerordentlich eng und absichtsvoll. Während dort Markus vom "König Herodes" nur zu berichten wußte, daß er "hörte", wie "man sagte: Johannes der Täufer ist von den Toten auferstanden" (Mk 6,14), ist die Lukas-Parallele um eine Reihe von Einzelheiten bemüht, welche jenes "Hören" des "Tetrarchen Herodes" zu einem ständigen, von Furcht und Angst diktierten Nachforschen machen. So heißt es in Lk 9,7: "der Tetrarch Herodes aber hörte alles, was geschah, und er war in Besorgnis, weil manche sagten: Johannes ist von den Toten auferstanden". Aber damit nicht genug. Nur in Lk 9,9 findet sich der Vermerk, welcher Herodes Antipas endgültig zu einem furchtsam ausdauerndenBeobachter Jesu macht: "wer ist der, von dem ich solche Dinge höre? Und er suchte ihn zu sehen". Es ist also offenkundig, daß Lukas in 23,8a bei seinen Lesern eine hohe Bereitschaft für die Nachricht voraussetzen durfte, daß Herodes "sich sehr freute", als er J esus endlich gegenüberstand. Der Verfasser des dritten Evangeliums hatte in Lk 9, 7-9 den Antipas längst und penibel als einen Machthaber eingeführt, der ununterbrochen darauf aus war, etwas von Jesus zu "hören" und "ihn zu sehen". Mit Fug und Recht konnte daher Lukas auch anläßlich der Formulierung von 23, 8 b
Dieses redaktionsgeschichtliche Argument wird in seiner Schluß kraft nicht durch den Umstand beeinträchtigt, daß Flavius Josephus wiederholt berichtet, Antipas habe sich zuweilen in Jerusalem aufgehalten und dann im Palais der Hasmonäer gewohnt: Ant 18,122; 20,189f; Bell 2,344.
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hohes Vertrauen in die eigene redaktionelle Strategie setzen: er durfte sicher sein, daß er bei seinem Publikum offene Türen einrannte, als er anmerkte, Herodes Antipas habe Jesus "schon lange einmal sehen wollen, weil er von ihm gehört hatte". Bis in die gewählten Aktionsarten der Verben hinein scheint Lk 23, 8b auf Lk 9, 9c verwiesen zu werden. Während in Lk 9, 9c ein iteratives Imperfekt die Wortfolge xaL ES~TH tÖEIV mh6v darauf abstellt, einer eben von Herodes begonnenen, dann aber wiederholten und schließlich gewohnheitsmäßigen Handlung zur Sprache zu verhelfen 38, gibt die coniugatio periphrastica ~v yaQ {}€AWV töEiv aus Lk 23, 8b einer inzwischen zurückliegenden, anhaltenden Haltung 39 des Sehen-Wollens Ausdruck: in Lk 23,8b geht das seit Lk 9, 9c ungebrochene Verlangen des Herodes, Jesus zu "sehen", in Erfüllung - und es korrespondiert durchaus dem kompositorischen Perspektivplan des Lukas, daß der Tetrarch darüber "sich sehr freute" (V.8a). In solchem Zusammenhang wird man des weiteren nicht übersehen dürfen, daß der dritte Evangelist die Vokabel tÖdv = "sehen" immer dann nahezu terminologisch gebraucht, wenn er sie - wie in Lk 23, 8b in Verbindung mit einem Verbum des Wünschens oder Wollens zum Einsatz bringt 40. Bemerkenswert ist vor allem Lk 10,23f, wo Lukas um des Akzentes auf dem "seligen Sehen" der Augenzeugen willen die Erwähnung des "Hörens" aus der Logienquelle (Q) strich und las: "selig die Augen, die sehen, was ihr seht. Denn ich sage euch: viele Propheten und Könige wollten sehen (tWtA'Yjoav tÖEiv), was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört". Der lukanischen Konzeption der Augenzeugenschaft zufolge sind es die Jünger, unter denen sich die vergebliche Hoffnung von Propheten "und Königen" realisiert 41. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Lukas diese unvermuteten und kaum identifizierbaren 42 "Könige" seiner Q-Vorlage deswegen stehen ließ, weil er an Herodes Antipas dachte (Lk 9,9; 23,8b), dem er - ebenso wie den Verwandten Jesu (Lk Bl.-Debr. § 325. Ebd. § 353. 40 Vgl. H. Conzelmann, Mitte (A. 16) 42.44.129.179, und A. Büchele, Der Tod Jesu im Lukasevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zu Lk 23 (Frankfurt a. M. 1978) 31 Anm.39. 41 P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (Münster 21975) 105. 42 Vgl. die Diskussion bei]. Schmid, Matthäus und Lukas (Freiburg i. Br. 1930) 297-299.
38 39
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8,20: l,ÖEiv {}€AOV't€~ OE) - die fragwürdige Ambition unterstellte, Jesus zu "sehen". In jedem Falle erweist sich auch unter dieser Rücksicht die redaktionelle Klammer zwischen Lk 9,7-9 und Lk 23,8 als besonders stabil und bewußt. Denn Lk 23, 8c gibt sich keineswegs damit zufrieden, dem Herodes noch einmal ein durch seine Bedenklichkeit vergleichbar gewordenes "Sehen" -Wollen einzuräumen. Sondern mit Hilfe eines xaL epexegeticum, zu dessen Wiedergabe man am besten eine "kausale Periode" wählen wird 43, nennt Lukas jetzt das eigentliche Objekt und den engeren Anlaß jenes andauernden Bemühens des Tetrarchen um Jesus: "er hoffte nämlich ein von ihm gewirktes Zeichen zu sehen". Bereits die Wahl des iterativen Imperfekts ~Am~Ev dokumentiert die Bewußtheit, mit der Lukas hier die Explikation des dubiosen Ansinnens des Herodes betreibt. Hinzu kommt, daß es schwerlich als absichtslos abgetan werden darf, wenn ausgerechnet Lk 23,8c das Partizip Präsens (1m' mholi) YLVOf1EVOV wieder aufgreift, das erstmals in Lk 9,7 und dann nur noch in Lk 13, 17 die Wundertaten des öffentlichen Wir kens J esu mit geradezu technischer Emphase kenntlich macht. Zum einen drängt sich der Eindruck auf, der Hinweis, daß Antipas ein" von ihm gewirktes" Zeichen zu sehen hoffte, sei schon deswegen überflüssig, weil im vorausgesetzten Ablauf der Szene niemand außer J esus als Wundertäter zur Disposition steht. Zum anderen erschließt bereits die Wendung xat ~Am~€v 'tL O'Y]f1ELOV töEiv sachlich ausreichend und ohne ersichtliches Ergänzungsbedürfnis die Sinnhaftigkeit der Erklärung, welche Lukas mit V. 8c nachzureichen gedachte: Lukas hatte die Leser seines Evangeliums längst darüber aufgeklärt (vgl. Lk 11,16.29-30), daß auch er jene überzeugung der gesamten älteren Jesusüberlieferung teilte, derzufolge jede "Zeichen"-Forderung oder -Erwartung als Ausdruck einer Gesinnung sich verweigernden Unglaubens zu verwerfen war 44. Wenn somit in Lk 23,8c schon die Wortfolge ~AJtL~€V 'tL O"Y]f1Eiov tÖEiv auf die Unbilligkeit der Zuversicht des Herodes aufmerksam machen konnte, dann wird das sonst unnötige und überzählige, attributive Partizip Präsens 1m' Q.1holi YLVOf1EVOV am ehesten als gezielter Rückverweis der Redaktion auf Lk Bl.-Debr. § 442,6a und Anm. 18. Hierzu: A. Vögtle, Der Spruch vom Jonaszeichen, in: ders., Das Evangelium und die Evangelien (Düsseldorf 1971) 112f. 43
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9,7 zu begreifen sein, wo das einschlägig vergleichbare 45 part.praes. 'ta ytVO/lEVa Jtav:ra ohnehin "relativ zukünftigen Handlung(en)" 46 Jesu
zur Sprache verhalf. Als Zweck einer solchen Rückbindung von Lk 23,8c an Lk 9,7 (bis 9) liegt die Aussage des dritten Evangelisten zutage, daß Herodes vom ersten Augenblick an, da er anfing, "alles zu hören, was geschah" (Lk 9, 7a), bis zum Zeitpunkt seiner schließlichen persönlichen Begegnung mit J esus (Lk 23,8) dessen öffentliche Machttaten fortgesetzt als spektakuläre Beglaubigungswunder mißverstand. Unter diesem Vorzeichen blieb kein Spielraum für alternative Reaktionen Jes~ auf die Schaulust des Herodes. Nach Lk 23, 8c war der diesbezügliche Fortgang der Geschichte ganz eindeutig und brauchte nicht weiter notiert zu werden. Wieder durfte Lukas auf die längst geleistete Vorarbeit bauen (vgl. Lk 11,16.29-30) und seine Leserschaft mit der Frage allein lassen, ob sich die beharrliche "Hoffnung" des Antipas, "ein von" Jesus "gewirktes Zeichen zu sehen", zu guter Letzt doch noch erfüllte. Im Ganzen hat Lk 23,8 die Funktion einer unverzichtbaren biographischen Zwischenbemerkung. Ihre vorgeordnete Aufgabe ist es, pointiert die Sachkompetenz des Tetrarchen innerhalb des amtlichen Vorgangs abzugrenzen, der in den Versen 6-7 damit seinen Anfang nahm, daß Pilatus den "Galiläer" Jesus an den für die Schulderkennung juristisch als mitzuständig gedachten Landesfürsten "überstellte" 47. Die Qualifikation, welche Lukas dem persönlichen Verhältnis des Herodes zu Jesus schließlich durch die Bemerkung zuteil werden läßt, Antipas habe während der ganzen Zeit von dessen öffentlichem Auftreten danach getrachtet, "ein von ihm gewirktes Zeichen zu sehen" (Lk 23,8c vgl. 9,7a. 9bc), schränkt zwar in den Augen der Leser des dritten Evangeliums den theologischen Sachverstand .des Tetrarchen von vornherein beträchtlich ein. Sie läßt aber keinen Zweifel daran, daß die Maßnahme des Prokurators auch insofern ihre Berechtigung hatte, als Herodes Jesus "schon lange" kannte und "von ihm gehört hatte" (Lk 23,8b vgl. 9, 7b). Erst nachdem durch Lk 23,8 diese sachlichen Voraussetzungen geklärt waren, konnte Lukas mit V.9 die
45 Vgl. H. Schürmann, Das Lukasevangeliurn I (Freiburg - Basel- Wien 1969) 508 Anm.80. 46 Bl.-Debr. 339,213. 47 Vgl. unten 5.128-131.
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Fortsetzung des Verfahrens vor Antipas in Angriff nehmen: Herodes "stellte viele Fragen an ihn (sc. Jesus). Er aber gab ihm keine Antwort." Lk 23, 9 ist in anderer Weise auf die Redaktion und den Kontext des dritten Evangeliums angewiesen als die vorausgehenden Verse 6-8. Es liegt nahe, zunächst die zweite Vers hälfte ins Auge zu fassen. Ihre Formulierung verweigert die Erkennung lukanischer Spracheigentümlichkeiten - und das mit gutem Grund. Denn es kann schwerlich bestritten werden, daß ihre Einlassung auf das Schweigen J esu Abhängigkeit von Markus verrät. Darauf macht vordergründig bereits der im N euen Testament äußerst seltene Gebrauch des Aorist Medium (OUöEV) arrExQ(vm:O (at'rt0) 48 anstatt des geläufigen Aorist Passiv aufmerksam. Kein neutestamentlicher Schriftsteller pflegt zudem einen ähnlich umständlichen und unverwechselbaren Umgang mit diesem Aorist Medium von arroxQ(vELV wie Markus. Er konzentriert die besagte ungewöhnliche Konstruktion des genus verbi auf drei zentrale Stellen seiner Wiedergabe des Prozesses, wo es ihm jeweils darauf ankommt, mit Hilfe einer verstärkend gedachten doppelten Negation dem Schweigen Jesu auf die Aussagen falscher Zeugen vor dem Synedrion (Mk 14,60.61) sowie Jesu Verstummen angesichts der hartnäckigen Anklagen "der Hohenpriester" vor dem Prokurator (Mk 15,4) einen eindringlichen sprachlichen Ausdruck zu geben 49 . Interesse verdient in solchem Zusammenhang jedoch vor allem die Tatsache, daß Lukas weder das NichtAntworten Jesu auf die Frage des Hohenpriesters während des Synedrialverhörs noch das Schweigen Jesu vor dem römischen Forum unter Pilatus an Ort und Stelle aus Markus übernimmt. Man wird sogar sagen müssen, daß es der Prozeßkonzeption des Lukas fundamental widersprochen hätte, den Begebenheiten aus Mk 14,60.61 und Mk 15,4.5 einen Platz in seinem Evangelium einzuräumen. Vielmehr verfolgt Lukas mit erkennbarem Engagement das Ziel, die überlieferung von der nächtlichen Verhandlung des Hohen Rates der Juden gegen Jesus, welche bei Markus mit den unzweideutigen Merkmalen eines förmlichen Prozesses ausgestattet war, zu einem bloßen 48 Abgesehen vonMk 14,60.61 undMk 15,4par Mt27,12 nur noch in Lk3,16; 23,9; Apg 3,12 sowie Joh 5,17.19. 49 Bl.-Debr. § 431,2.
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(Vor-)Verhör zu demontieren. Deshalb treten nach Lk 22, 66-71 keine (falschen) Zeugen gegen Jesus auf (vgl. Mk 14,55-61), und es kommt zu keinem Todesurteil der jüdischen Behörde (vgl. Mk 14,64). Akribiös tilgt Lukas daher auch aus der dritten Leidensweissagung alle Elemente, die einer Aburteilung J esu durch das Synedrion das Wort redeten. Hieß es in Mk 10,33: "siehe, wir ziehen nach Jerusalern hinauf, und der Menschensohn wird den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten überliefert werden, und sie werden ihn zum Tode verurteilen und ihn den Heiden überliefern" - so wird daraus in Lk 18,31b.32: "siehe, wir ziehen nach Jerusalem hi.nauf, und es wird alles vollendet werden, was durch die Propheten über den Menschensohn geschrieben ist. Denn er wird den Heiden überliefert, verspottet, mißhandelt und angespien werden." Es ist kein Zweifel daran möglich, daß Lukas, der die Kompetenz der alten Synedrialversammlung im Blick auf die römische Rechtspraxis seiner Zeit offensichtlich realistischer einschätzte als die Tradition vor ihm 50, aus dieser alle Einzelheiten herausbrach, welche die Meinung unterstützten, das Verfahren des Hohen Rates gegen Jesus sei mehr als ein (Vor-)Verhör (vgl. Apg 22,30; 23,28f) gewesen. Dann aber mußte im Zuge der Streichung der Zeugeneinvernahme (vgl. Mk 14,55-61) auch die schweigende Reaktion Jesu aus Mk 14,60.61 der Korrektur des Lukas anheimfallen. Spätestens hier drängt sich jedoch die Frage auf, ob sich der dritte Evangelist dazu bereitfinden konnte, auf das von Markus so eindrucksvoll formulierte Schweigemotiv völlig zu verzichten. Dies um so mehr, als Lukas aus Gründen seiner eigenen Prozeßredaktion gezwungen war, darüber hinaus noch die zweite Position der überlieferung aufzugeben, die von einem Nicht-Antworten Jesu zu berichten wußte: Mk 15,4f. Es ist immer aufgefallen, daß Lukas die im Kontext gänzlich unvorbereitete Frage, mit der nach Mk 15,2 (par Mt 27,11) der Statthalter das Verfahren vor der römischen Behörde eröffnete: "bist du der König der Juden?" - als notwendige Reaktion des Prokurators begreiflich zu machen versucht, indem er zunächst "die Hohenpriester und die Volksrnassen" (vgl. Lk 23,4) eine Reihe konkreter politischer Anklagen gegen Jesus vorbringen läßt (vgl. Lk 23,2). Weniger aufge50
H. van der Kwaak, Proces (A.12) 139f.
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fallen ist bislang, daß Lukas auf diesem Wege innerhalb der älteren synoptischen Tradition eine Prozeßregel etablierte, die er an den römischen Kapitalgerichten seiner Zeit offensichtlich mit beträchtlichem Respekt beobachtete. Ihr zufolge waren die Ankläger zuallererst daran gehalten, ihre Beschuldigung mit äußerster Sorgfalt und Präzision im Beisein des Angeklagten vorzutragen 51. Wie bewußt sich Lukas auf die Seite dieser Verfahrenspraxis stellte und welch großen Wert er ihr beimaß, geht aus Apg 25, 16 (vgl. Apg 23,30.35) hervor, wo er dem römischen Prokurator Festus die Chance zubilligt, mit einigem Stolz gegenüber dem Urenkel Herodes' des Großen - dem letzten jüdischen "König" Marcus Iulius Agrippa lI-den Standpunkt des römischen Rechtsstaates zu vertreten: "die Römer haben nicht die Sitte, einen Menschen preiszugeben, bevor der Angeklagte die Kläger nicht persönlich vor sich hat und Gelegenheit zur Verteidigung wegen der Anklage bekommt". So gesehen durfte sich Lukas nicht damit abfinden, wenn er in Mk 15,3b las, daß "die Hohenpriester" Jesus vor Pilatus nur äußerst vage (JtOAAU) "verklagten". Unter derselben Voraussetzung ging es aber auch nicht an, daß sich ein römischer Statthalter auf eine solche verschwommene Anklagevertretung einließ und mit der Frage an Jesus reagierte: "antwortest du nichts? Sieh, was sie alles gegen dich vorbringen!" (Mk 15,4). Eine derartige Einlassung widersprach dem Reglement eines römischen Gerichtshofs, wie es Lukas seinen Lesern im Falle des Paulus noch einmal mit unverhohlener Zustimmung vor Augen führt, wenn er dem Prokurator Festus überdies Gelegenheit gibt, die mangelnde Sachrelevanz jüdischer Anschuldigungen (gegen den Apostel) zu monieren: "die Kläger stellten sich um ihn (sc. Paulus), brachten aber keine Beschuldigungen mit Schandtaten vor, wie ich vermutet hatte" (Apg 25,18). Hängt aber der Fortgang eines Prozesses vor einer römischen Kapitalinstanz von der Eindeutigkeit und Konkretion der Klageerhebung sowie davon ab, ob dem Angeklagten das Recht verbürgt ist, sich im Beisein seiner Ankläger ebenso detailliert gegen deren Vorwürfe zu verteidigen (vgl. Apg 25,16), dann paßten die dem Lukas aus Mk 15,3-5 überkommenen Nachrichten nur schlecht zur Vorstellung einer rechtsstaatlichen rö-, 51 Dazu: H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte (Tübingen 21972) 145, und E.Haenehen, Apostelgeschichte 599. Vor allem: A. N. Sherwin - White, Roman Society and Roman Law in the New Testament (Oxford 31969) 13-23.
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mischen Gerichtsbarkeit, welche der Achtung des dritten Evangelisten gewiß sein konnte. Der von Markus überlieferte Vorgang gegen Jesus von Nazaret bedurfte vor allem insofern einer Verbesserung, als er keine für die Aufnahme eines römischen Kapitalprozesses einschlägige Anklage zu berichten wußte 52. Und darüber hinaus mußte das Schweigen Jesu aus Mk 15,4f für Lukas auch deswegen suspekt sein, weil es unterstellte, daß Jesus ausgerechnet vor einem Gericht die Antwort verweigerte, das schon aufgrund seiner Verfahrensordnung dazu verpflichtet war, ihn gegen die unscharfen und undurchsichtigen Anschuldigungen seiner jüdischen Gegner in Schutz zu nehmen. Der dritte Evangelist behob diese Mängel der Tradition, indem er Lk 23,2 vorschaltete - und Mk 15,3-5 strich. So sicher damit die Gründe auf dem Tisch liegen, die Lukas veranlaßten, das Schweigen Jesu zweimal aus seiner Markus-Vorlage zu tilgen, so wenig ist dadurch darüber entschieden, warum das Motiv des Verstummens Jesu in Lk 23,9b wieder auftaucht. Hier dürfte die Beobachtung nicht ohne Bedeutung sein, daß für Lukas die jüdische Synedrialversammlung schon deswegen nicht als prozeßführende oder römischen Kapitalgerichten Rechtshilfe leistende Behörde in Frage kam, weil er zutiefst von ihrer Dekadenz überzeugt war. Er wird sie, später noch ausführlich in seiner Apostelgeschichte dokumentieren: Petrus und Johannes (Apg 4,15-22), Petrus und die Apostel (Apg 5,27-33), Stephanus (Apg 6,12-15) und endlich Paulus (Apg 22,30--23, 11.15-22) - sie alle müssen sich der befangenen Rechtsbeugung des Hohen Rates der Juden zu Jerusalem erwehren. Wenn aber das Synedrion ausschied, mußte Lukas um eine andere Instanz besorgt sein, die als Experte in innerjüdischen Belangen in Frage kam und von deren beträchtlicher Autorität die Leser des lukanischen Doppelwerkes überzeugt sein konnten. Das war um so notwendiger, als die Prokuratoren Roms von Gallio (Apg 18,15) bis Festus (Apg 25,20) immer wieder freimütig ihre fehlende sachliche und juristische Zuständigkeit in Dingen der jüdischen Religion bekennen. Im Prozeß des paradoxerweise (Apg 26,32) an den römischen Kaiser appellierenden Paulus wird diese Rolle eines jüdischen Rechtshilfeinsti52 Anders: R. Peseh, Das Markusevangelium II (Freiburg - Basel- Wien 1977) 458 zu Mk 15,3-5: die "karge Gerichtsszene" zeichnet "zutreffend den römischen Gerichtsprozeß als Befragung des Angeklagten".
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tuts "König" Agrippa II (Apg 25,23 - 26,32) übernehmen 53. Für eine ganz analoge Aufgabe während des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret mußte sich der Tetrarch Herodes um so mehr empfehlen, als Lukas ihn gewissenhaft und von langer Hand auf eine solche Rolle vorbereitet hatte. Das Problem jedoch, das dann noch für den Verfasser des dritten Evangeliums zur Lösung anstand, lag in der Frage, mit welchem Stoff das Verhör gestaltet werden sollte, dem Antipas Jesus zu unterziehen hatte, sollte er der ihm zugedachten Aufgabe gerecht werden. Was aber lag näher, als daß sich Lukas an das Schweigen Jesu erinnerte, von dem Markus mit soviel sprachlichem Aufwand nicht nur in Mk 14,60.61, sondern vor allem auch in Mk 15,4.5 zu erzählen gewußt hatte und das Lukas aufgrund seiner hohen Meinung von der Zuständigkeit und Qualität römischer Rechtsprechung eben erst gestrichten hatte? Und weiter: mußte sich das von der Tradition in anderen Kontexten vorgegebene Nicht-Antworten Jesu für den Aufbau der Szene vor Herodes nicht auch deshalb besonders eignen, weil es der lukanische Respekt vor der Besonnenheit und Gerechtigkeit römischer Urteilsfindung in Kapitalsachen gar nicht zuließ, den Herodes stärker zu engagieren? Zudem wird man den Umstand nicht unterschätzen dürfen, daß sich für die Redaktion des Lukas beim Vollzug einer übernahme des Motivs vom Verstummen Jesu in die Verhandlung vor Antipas keinerlei nennenswerte Schwierigkeiten ergaben. Zwar entsprach die affirmative Doppelung der Negation in Mk 14,60.61; 15,4.5 nicht vollständig lukanischer Stil attitüde 54. Im übrigen aber konnte Lukas der Zustimmung seiner Leser absolut sicher sein, wenn er annahm, daß ein hartnäckiges Schweigen J esu vor dem Tribunal seines Landesherrn (vgl. Lk 23,9b) unabdingbar voraussetzte, daß dieser an Jesus "viele Fragen stellte" (vgl. Lk 23,9a): die lukanische Notiz über die intensive Befragung Jesu durch Herodes ist nichts weiter als eine logische Folgerung des Redaktors, die sich ihm nahelegte, nachdem er sich entschlossen hatte, das Wissen des Markus um ein "Nicht-Antworten" Jesu (Mk 15,4.5) nach Lk 23,9b zu übernehmen. Auch Lk 23,10 ist integral mit der lukanischen Redaktion des weite-
Die Parallelität des Prozesses gegen Jesus zu demjenigen gegen Paulus bedarf einer gründlichen Untersuchung. Sie reicht bis in den Wortlaut. Anfänge bei: H. van der Kwaak, Proces (A.12) 130-132. S4 Vgl. Bl.-Debr. § 431,2 Anm. 3. 53
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ren Textumfeldes verklammert: "es standen aber die Hohenpriester und die Schriftgelehrten (sc. dabei) und verklagten ihn heftig". Die gleichen "Hohenpriester und Schriftgelehrten" werden in dem sicher lukanischen Vers 22,66 genannt. Und es ist denkbar, daß eine Entfaltung ihrer Anklage deswegen unterblieb, weil Lukas mit einiger Zuversicht davon ausgehen durfte, sein Publikum würde sich darauf besinnen, daß eben in Lk 23,2 das Verbum xU't'l']YOQELV schon einmal begegnete und in seinem Gefolge die diversen Anklageaspekte ausführlich beschrieben worden waren - ganz abgesehen von Lk 23, 5, jenem Vers, der im lukanischen Regiekonzept für die Eröffnung des Geschehens vor Antipas (vgl. Lk 23,6f) eine nicht leicht zu überschätzende Rolle gespielt hatte 55. Diskutabel ist aber auch eine Erklärung, die damit rechnet, daß Lk 23,10 - ebenso wie das Schweigen Jesu aus Lk 23, 9b - der MarkusVorlage des dritten Evangelisten verpflichtet ist. Immerhin stößt man nur noch in Mk 15,3-5 auf einen ähnlichen Ablauf: auf das "heftige" Verklagen der "Hohenpriester", demgegenüber es sich Jesus versagt zu antworten. Es steht somit die Vermutung zur Debatte, daß Lukas die ganze Versfolge Mk 15,3-5 zum Aufbau der Szene vor Herodes heranzog, nachdem sie ihm unbrauchbar erschien, einen Tatbestand vor einem römischen Kapitalgericht abzubilden. Eine Entscheidung hängt unter anderem vom Grad der Plausibilität ab, mit der es möglich sein wird, die unverkennbaren Abweichungen von Mk 15,3-5 als notwendige Modifikationen der lukanischen Bearbeitung begreiflich zu machen. Zunächst fällt jedoch auf, daß Lk 23,10 kein Vers ist, der in seinem derzeitigen Textverband unverzichtbar erscheint. Nur in Lk 23,10 tauchen "die Hohenpriester und die Schriftgelehrten" vor Antipas auf. Sie leisten keinen weiteren Beitrag zum Geschehen, als daß sie den bereits schweigenden Jesus "heftig verklagen". Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Lk 23, 10 stellt sich mit Nachdruck. Sie zeigt sich sofort in einem anderen Licht, wenn man neben dem terminus technicus der Prozeßsprache xU't'l']YOQELV 'ttvO~ 56 den Umstand bedenkt, daß Lukas in jenem anderen Falle, anhand dessen er seinen Lesern ein zweites Mal
55
56
Siehe oben $.116-119. W. Bauer 836.
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das Ideal eines gelingenden Zusammenwirkens zwischen einem jüdischen Herrscher und dem römischen Prokurator demonstrieren wird - mit dem Verhör des Paulus durch Agrippa -, offenkundig den Zweck verfolgt, eine gerichtliche Untersuchung zu etablieren. Aufschlußreich ist dabei die verhaltene Art und Weise, wie er dort diesen Akzent placiert. Zwar heißt es in Apg 25,26 von dem Statthalter Festus, den der fällige Appellations bericht an die kaiserlichen Gerichte in Verlegenheit gebracht hatte: "dazu habe ich ihn" (Sc. Paulus) "dir vorgeführt, König Agrippa, damit ich nach stattgefundener Untersuchung (tij~ ava'XQ(oEUl~ YEvOI!EV'rl~) weiß, was ich schreiben soll". Im übrigen jedoch treibt Lukas den Gedanken an einen gerichtlichen Vorgang nicht weiter: in Apg 26,1-32 gibt es keine Zeugen und kein Urteil. Worauf es allein ankommt, ist der Hinweis, daß sich die Verhandlung vor Agrippa keineswegs der Ratlosigkeit und Beliebigkeit von Roms Prokurator verdankt, sondern insofern verfahrensrechtliche Bedeutung besitzt, als der jüdische Regent als gerichtlicher Sachverständiger eine "Untersuchung" zu führen hat. Expressis verbis bescheinigt deshalb Paulus nach Apg 26,2 f dem Agrippa seine diesbezügliche Sachkompetenz: "ich schätze mich glücklich, König Agrippa, mich wegen aller Anklagen, welche die Juden gegen mich erheben, heute vor dir verteidigen zu dürfen, da du ein hervorragender Kenner aller jüdischen Sitten und Fragen bist" (vgl. Apg 26,26). Auf ähnlichem Wege erreicht der dritte Evangelist mit Lk 23,10 dasselbe Ergebnis - etwa dadurch, daß er hier darauf insistiert, die "Hohenpriester und Schriftgelehrten" hätten "dabeigestanden" (ELot~'XELoav), während Herodes an J esus "viele Fragen richtete" und sie selbst "ihn heftig verklagten". Der gleiche, auf den ersten Blick einfallslose und nebensächliche Umstand wird im Zuge der Durchführung des Prozesses gegen Paulus wiederholt von den Juden berichtet - bezeichnenderweise immer dann, wenn diese dem römischen Statthalter ihre Klage vortragen. In solcher Absicht "standen sie um" Paulus "herum" (Apg 25,7: JtEQLEOt'YIOav) oder "stellten sie sich um ihn herum" (Apg 25, 18: JtEQL oiS Otm(}EVtE~). Mit Sicherheit geht es dort ebensowenig wie in Lk 23,10 lediglich darum, die feierliche Pose jüdischer Ankläger zu dokumentieren. Eher schon ist es Lukas darum zu tun, seine Leser mit der feindlichen und aggressiven Haltung der Juden bekanntzumachen57 • Entscheidend dürfte je57
E. Haenchen, Apostelgeschichte 599f.
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doch für Lukas wieder die Erinnerung an jene Vorschrift der römischen Prozeßordnung gewesen sein, die seine rückhaltlose Sympathie besaß (vgl. Apg 25, 16; 23,30.35) und die ein Kapitalverfahren gar nicht erst in Gang kommen ließ, wenn die Kläger nicht persönlich zur Stelle waren und sich der Gegenrede des Angeklagten stellten. Im Einklang mit dieser rechtsstaatlichen Norm stellt Antipas seine "vielen Fragen" an Jesus (Lk 23, 9a) - dauernd und persönlich konfrontiert mit dessen Anklägern (Lk 23, 10). Mit überlegung wählt Lukas dazu das Tempus d01:rpu,wuv: da das Plusquamperfekt bei Verben, deren Perfekt präsentischen Sinn anzunehmen pflegt, ein Imperfekt vertritt 58, wird das "Dabei-Stehen" der "Hohenpriester und Schriftgelehrten" als Wahrnehmung einer anhaltenden, den Vorgang kontinuierlich begleitenden Funktion in Erinnerung gebracht. Sind aber in Lk 23,10 Rücksichten auf das Prozeßrecht der Römer erkennbar, dann darf klum bezweifelt werden, daß damit der ditte Evangelist das Sachverständigengutachten über Jesus, welches von Antipas angesichts der Klage führenden Mitglieder des Hohen Rates (vgl. Lk 22,66) verlangt wurde, als integrierenden Bestandteil jener Kapitalverhandlung gewertet wissen wollte, die mit einer ordnungsgemäß vorgebrachten Anklage (vgl. Lk 23, 2) vor einem römischen Tribunal begonnen hatte 59. Auf diesen Gesichtspunkt konnte das Publikum des Lukas bereits bei der Lektüre von Lk 23,6-7a aufmerksam werden. Denn schon die Frage des Prokurators nach der Heimat des Angeklagten (vgl. Apg 23, 34) entsprach nur allzu deutlich römischer Rechtsgewohnheit 60 • Klarer werden die Konturen des Zieles, das Lukas mit der ganzen Szene vor Herodes verfolgte, allerdings erst in Lk 23, 10. Es kam ihm darauf an, der Sachverständigenrolle des Antipas die Dignität einer verfahrensrechtlich einschlägigen Amtshilfe von hoher Autorität zu geben: als gerichtlich relevante
Bl.-Debr. § 347,2 Anm. 3 und § 327, l. N. G. Veldhoen, Het Proces van den Apostel Paulus (Alphen aan den Rijn 1924) 44-47 meint, daß die überstellung (ava:n:Ef.iJtELv) Jesu durch Pilatus an Herodes (Lk 23,7 vgl. 23,10.15) impliziert, daß der Prokurator dem forum originis (forum domicilii) den Vorrang vor dem forum delicti einräumte, weil der zuständige Richter, Herodes, bequem zu erreichen gewesen wäre. Er übersieht, daß es sich sowohl im Falle Jesu als auch bei Paulus nach der lukanischen Konstruktion nur je um ein, nämlich ein römisches Verfahren handelt, in dem ein jüdischer Sachverständiger seinen ihm zugewiesenen Part übernimmt. 60 Quellen und Literatur bei H. Conzelmann, Apostelgeschichte 140. 58
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Untersuchungsinstanz in einem römischen Kapitalprozeß sollte Herodes die Anklage der höchsten jüdischen Behörde 61 überprüfen. Nachdem sich - entgegen dem ersten Anschein - Lk 23,10 als Träger erheblichen sachlichen Gewichts und damit als unverzichtbar erwiesen hat, ist es angebracht, die Frage wieder aufzunehmen, ob und inwiefern die Versfolge Lk23, 9b-10 auf Mk 15,3-5 zurückgeht. In summa ergab sich bislang, daß Lk 23,9b mit einiger Wahrscheinlichkeit Mk 15,4 (und 5) zum Vorbild hat. Dazu lassen sich jetzt alle Abweichungen des Wortgebrauchs und des Stils, die Lk23, 10 gegenüber Mk 15, 3 aufweist, zwingend und sinnvoll aus den Sprachgepflogenheiten, vor allem aber aus der Darstellungstendenz des Lukas ableiten. Das gilt für Eta't~'XEL<Jav (vgl. Apg 25,7.18 und 25,16) in gleicher Weise wie für die "Hohenpriester und Schriftgelehrten" (vgl. Lk 22,66). Davon ist zudem der Ersatz von J'tOAAa. (Mk 15,3 b) durch Elh6v(O~ (Lk 23,10 b) betroffen: an allen Stellen, wo der dritte Evangelist bei Markus den als Adverb 62 gebrauchten Akkusativ Neutrum PluralJ'toAA6.las, strich er ihn entweder oder er tauschte ihn gegen eine andere Formulierung aus 63. Was der Vermutung einer stofflichen Abhängigkeit von Mk 15,3-5 an redaktions geschichtlicher Rechtfertigung auf der Seite des Lukas dann noch fehlt, ist eine Begründung des Tatbestandes, daß im Markusevangelium das "heftige Verklagen" der "Hohenpriester" dem "Nicht-Antworten" Jesu vorausgeht, während Lk 23,9b-10 die Abfolge umkehrt. Der inzwischen erkennbare Stellenwert der Szene im lukanischen Prozeßkonzept gibt einen unmißverständlichen Hinweis darauf, wo eine solche Erklärung gesucht werden muß. Denn mit Gewißheit ist es nach der überzeugung des Lukas nach wie vor ein römisches Tribunal, vor dem Jesus steht. Antipas ist ein Sachverständiger von beträchtlicher Kompetenz und rechtlicher Maßgeblichkeit, aber er ist kein Richter und nicht der Vorsitzende eines Gerichts. Vor Herodes handelt es sich nicht um einen selbständigen Prozeß, der noch einer eigenen Eröffnung durch eine ordnungsgemäße Anklage bedurft hätte. Sondern das Verfahren läuft bereits - eine vorschriftsmäßige Anklage vor dem Prokurator hat es längst in Gang gebracht (Lk 23,2). Die sich 61
62 63
Vgl. Lk 23,10 mit Lk 22,66. W. Bauer 1366 unter 2bß und Bl.-Debr. § 160,3. So in Mk 1,45; 3,12; 5,10.23.38.43; 9,26 vgl. 15,3.
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an der aktuellen Praxis Roms orientierende Vorstellung des Lukas ließ es nicht zu, daß die einem übergeordneten Rechtsgeschehen unterstellte gerichtliche Untersuchung des Antipas in Lk 23,9 mit einer erneuten förmlichen Anklageerhebung ihren Anfang nahm. Wieder verdienen die parallelen Vorgänge um den Prozeß gegen Paulus Aufmerksamkeit. Auch in Apg 26,1 beginnt der jüdische König Agrippa seine Recherchen nicht als Richter, sondern als Sachverständiger, indem er dem Apostel die Genehmigung erteilt, zu reden - genauer: sich gegen die "Anklagen der Juden" (vgl. Apg 26, 7) zu "verteidigen" (vgl. Apg 26, 1.24): ",es wird dir erlaubt, für dich zu sprechen!' Da streckte Paulus die Hand aus und verteidigte sich". Hier beginnt kein Prozeß, sondern Agrippa nimmt lediglich seine Aufgabe als konzessionierter Sachverständiger eines römischen Gerichts in Angriff. Denn ebenso wie in Lk 23,9-10 fehlt in Apg 25,26 - 26,1 bewußt das prozeßrechtliche Merkmal einer einleitenden Anklagevertretung. Das aber heißt, daß die Rekonstruktion des Ablaufs der Kapitalverfahren gegen J esus und Paulus nach Maßgabe der Prozeßordnung Roms der Dramaturgie des dritten Evangelisten in Lk 23,9-10 keine Alternative zur Umkehrung der Reihenfolge aus Mk 15,3-5 ließ. Wenn Lukas Mk 15,3-5 zum Aufbau der Handlung vor Herodes heranziehen wollte, mußte er dafür Sorge tragen, daß die "heftige" Anklage der "Hohenpriester" (Mk 15,3) nicht vor der schweigenden Reaktion Jesu (Mk 15,4-5) rangierte. Im anderen Falle wäre seine sonst äußerst besonnene und beflissene Prozeßstrategie in erhebliche Unordnung geraten: ein diesbezügliches Versehen bei der Durchsicht der markinischen Tradition hätte die juristisch kaum vollzieh bare Vorstellung zweier selbständiger, in ihren Aktionen miteinander verschränkter Prozesse zur Folge gehabt. Während somit die Verse 6-10 nichts weiter voraussetzen als die lukanische Redaktion selbst, scheint es in Lk 23,11.12 erstmals um neue und konkrete Informationen zu gehen. Weder die Verspottung J esu durch Antipas (V. 11) noch die 'Freundschaft zwischen Herodes und Pilatus (V. 12) lassen sich aus anderen Passagen des dritten Evangeliums oder der Apostelgeschichte ohne weiteres ablesen. Keines dieser beiden Daten löst sich dort auf.
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3. Die Verspottung Jesu Besonders schwierig ist es, den Sinn von Lk 23, 11 zu erfassen: "Herodes aber bekundete ihm mit seinen Offizieren seine Verachtung und verspottete ihn, ließ ihm ein Prunkgewand anziehen und schickte ihn zu Pilatus zurück." Genügt es hier, von einer höhnenden Antwort des Antipas auf das Schweigen Jesu auszugehen? Darf man sich damit zufriedengeben, dem Tetrarchen wütende Enttäuschung über Jesu Weigerung zu unterstellen, sich auf eine "Zeichen"-Forderung einzulassen? Ist das "Prunkgewand" 64 die Achse der ganzen widerlichen Verspottungsprozedur , der Herodes J esus unterzieht, und soll man die Auslegung an emer übersetzung festmachen, die sich wie die Vulgata zu folgender Wiedergabe entschließt: "sprevit autem illum Herodes cum exercitu suo et inlusit, indutum veste alba, et remisit ad Pilatum"?65 Gegen die Richtigkeit und Vollständigkeit solcher oder ähnlicher exegetischer Stellungnahmen spricht vor allem der unmittelbare Kontext, der noch einmal auf das gesamte Geschehen vor Antipas Bezug nimmt und dessen Ergebnis resümiert. So heißt es in Lk 23,14-15: "und er (sc. Pilatus) sprach zu ihnen: Ihr habt mir diesen Menschen vorgeführt, weil er das Volk aufwiegle, und siehe, ich habe ihn in euerer Gegenwart verhört, aber ich habe an diesem Menschen keine Schuld in den Dingen gefunden, deren ihr ihn anklagt. Ja sogar H erodes nicht; denn er hat ihn uns zurückgeschickt. Es ist wirklich nichts Todeswürdiges von ihm begangen worden." Pilatus, der bereits in Lk 23,4 für Jesu Unschuld eingetreten war und der dasselbe in Lk 23,22 noch ein letztes Mal mit den gleichen Worten tun wird, fügt mit Lk 23,15 seinem anhaltenden Plädoyer zugunsten Jesu ein wichtiges Argument hinzu. Der jüdische Landesfürst Jesu, der eben als gerichtlicher Sachverständiger von hoher Zuständigkeit eine Untersuchung durchgeführt hatte, ist zu demselben Resultat wie der römische Prokurator gekommen. 64 Die Diskussion bei]. Blinzler, Der Prozeß Jesu (Regens burg 41969) 290f Anm.18. Grammatikalisch ist das Partizip 1tEQLßaAwv dem verbum finitum aVE1tEf.L'ljJEV unterzuordnen und nicht dem vorausgehenden Partizip EfJJta(~a~. Vgl. G.Rudberg, Zu den Partizipien im Neuen Testament: CNT 12 (1948) 1-38, und E.Klostermann, Das Lukasevangelium (Tübingen 21929) 222. Absurd ist die Wiedergabe von K. Bornhäuser, Die Beteiligung des Herodes am Prozesse Jesu: NKZ 40 (1929) 714-718: "und nachdem er sich ein prächtiges Kleid angezogen hatte, geleitete Herodes Jesus zurück zu Pi/atus". 65
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Ganz ohne Zweifel ist das die Aussage, welche Lukas den Vorgängen in Lk 23, 6-12 letztlich entnimmt. Um dieses Zeugnis herum organisiert er die Szene vor Antipas. Sein diesbezügliches Resümee in Lk 23,15 zieht er mit einigem Bedacht und erkennbarer Rücksicht auf andere einschlägige Nachrichten in seinem Evangelium. Darauf gibt die "starke Einführung des Hinzukommenden" 66 durch 6.J,,"A.' ovöE = "ja sogar" einen willkommenen Hinweis. Denn auch für den dritten Evangelisten und seine Leser ist Herodes ein gewalttätiger und verschlagener Herrscher. Nur in Lk 3,19 f findet sich die Notiz: "der Tetrarch Herodes aber, der von ihm (sc. dem Täufer) wegen der Herodias, der Frau seines Bruders, und wegen alles Bösen, das Herodes getanhatte, getadelt wurde, fügte zu all dem auch noch dies hinzu: er ließ Johannesins Gefängnis sperren". Ausschließlich Lk 13,31-32 überliefert die Absicht des Antipas, Jesus zu töten - und nirgends sonst wird Herodes ein "Fuchs" genannt. Aber "sogar" dieser übel beleumdete Tetrarch ist von Jesu Unschuld überzeugt: dem gründlich über seinen Charakter aufgeklärten Publikum des Lukas mußte Herodes, der J esus schon einmal ans Leben wollte, in der Tat als unbedenklicher und glaubwürdiger Zeuge erscheinen. Darüber hinaus hatte Lukas schon von langer Hand dafür gesorgt, daß Antipas von der Nachrede schwächlicher Beeinflußbarkeit freiblieb. Er strich die gespenstischen Einzelheiten vom Ende des Täufers mit der heimtückischen Intrige der Herodias und ihrer Mutter, die Markus mit einiger Genüßlichkeit überliefert hatte (Mk 6, 17-29 vgl. V. 26). Wenn aber Lk 23, 15 mit solchem Nachdruck darauf besteht, daß sich neben Pilatus (Lk23, 4.14.22) schließlich "sogar" Herodes als zweiter zuverlässiger Zeuge für Jesu Schuldlosigkeit zu erkennen gibt - und wenn außerdem kein Zweifel daran möglich ist, daß Lk 23, 15 mit Lk 23, 11 nicht bloß durch den gemeinsamen terminus technicus für eine dienstliche "überstellung" avaJtE!!JtfLv 67 auf das engste verklammert ist, dann kann es nicht angehen, hinter Lk 23, 11 nichts weiter als eine abstoßende Verhöhnungsorgie des Antipas und seiner Offiziere zu sehen 68 • Jede Auslegung, der es nicht gelingt, mit Lk 23, 11 die Bekanntgabe des für Jesus vorteilhaf-
Bl.-Debr. § 448,6 Anm. 7. Vgl. E. Bickermann, Utilitas crucis. Observations sur les recits de proces de Jesus dans les Evangiles canoniques: RHR 112 (1935) 206-208. 68 So auch P.Jouon, Lk 23,11: E<Jl'!ij,;U AUf.lJtQUV: RSR 26 (1936) 80-85. 66 67
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ten Ertrags der offiziellen Bemühungen des Herodes in Lk23, 15 sachlich plausibel zu koordinieren, bleibt notwendig unbefriedigend. Damit spitzt sich das exegetische Problem zunächst auf die Frage zu: wo wird in Lk 23, 11 das vom Kontext her geforderte Signal des Tetrarchen für die Unschuld Jesu sichtbar? Unter solcher Rücksicht bietet sich nur Lk 23,11 b als Antwort an: Antipas "ließ ihm (Sc. Jesus) ein Prunkgewand anziehen und schickte ihn zu Pilatus zurück". Denn es kann kaum bestritten werden, daß die Wahl der Wortverbindung E01(}it~Aaf.t:rtQa = "Prunkgewand" eine ehrende und auszeichnende Sinngebung impliziert. Nirgends im Neuen Testament hat das Adjektiv Aaf.t:rtQ6~ eine despektierliche Bedeutung. Es bezeichnet inApg 10,30 (vgl. Apk 15,6) die Pracht der Gewandung von Engeln. Und der Jakobusbrief benennt damit die aufwendige Kleidung eines Reichen (Jak 2,2-3). Apk 19,8 ist zudem ein Beleg dafür, daß sich Aaf.t:rtQ6~ für den semantischen Wert von "weiß", als der Farbe der "Gerechtigkeit" und Unschuld, zu öffnen vermag (ßu(JOtvO~ Aaf.t:rtQo~ ?<.m(taQ6~ vgl. Apk 19,14: ßU(JOtvO~ AE'U?<.O~ ?<.a{I'aQ6~). Darüber hinaus meint E(Jfrf)~ niemals einen gewöhnlichen und alltäglichen Aufzug, sondern ein" Gewand", welches dem Begriff der Würde nicht abgeneigt ist: auch Herodes Agrippa I, der Enkel Herodes' des Großen, legt bei Amtshandlungen eine E(J{tT)~ ßa(JLAl?<.~ an (Apg 12,21). Der dritte Evangelist verbindet also eine rundum positive Aussage mit der Nachricht in Lk 23, 11 b, daß Antipas J esus "ein Prunkgewand anziehen ließ", bevor er ihn wieder an Pilatus "überstellte" und dadurch den Kreis der Amtshilfe schloß. Auf der lukanischen Redaktionsebene kann nur in diesem "Prunk gewand " der für den Fortgang der Handlungunverzichtbare Hinweis des Herodes an den Statthalter Roms gesucht werden, daß "sogar" er Jesus für unschuldig hielt (vgl. Lk 23, 15). Dann aber muß weiter gefragt werden, warum sich Lukas ausgerechnet für einen solchen Weg der Darstellung entschied und nicht für einen anderen, der weniger durch Zweideutigkeit und Mißverständlichkeit belastet war. Denn ebensowenig ist ein Zweifel daran erlaubt, daß gerade für den Fall, daß jenes "Prunkgewand" des Antipas den römischen Prokurator auf die Schuldlosigkeit Jesu aufmerksam machen soll, Lk 23,11 b denkbar abrupt an das vorausgehende Geschehen der Verhöhnung J esu durch Herodes und dessen Soldateska anschließt. Warum begnügte sich Lukas nicht mit V. 11 b, der doch alle logischen und szenischen Erfordernisse ausreichend und widerspruchslos ab135
deckte, welche sich der lukanischen Redaktion von ihrer Zielaussage in Lk23, 15 her stellten? Worin besteht der Beitrag, den Lk 23, 11a darüber hinaus zu leisten vermochte und der dem Verfasser des dritten Evangeliums offensichtlich wichtig genug war, um ihn den Eindruck der Zwiespältigkeit in Kauf nehmen zu lassen, welchen die Verleihung eines "Prunkgewandes" in unmittelbarem Anschluß an Verachtung und Verhöhnung hinterlassen mußte? 69 Wieder ist ein Blick auf den Kontext des ganzen Evangeliums aufschlußreich. Das Bild, welches Lukas hier bislang vom Verhältnis des Antipas zu Jesus gezeichnet hatte, umriß weit über die ältere Tradition hinaus die Konturen einer subtilen Feindschaft. Seine Leser kannten Herodes als den Tetrarchen von Galiläa, der mit Besorgnis die Ereignisse um Jesus überwachte (Lk 9,7.9) und schließlich die Absicht verfolgte, Jesus zu töten (Lk 13,31). Wie glaubwürdig hätte einem derart vorbereiteten Publikum Antipas als Zeuge der Schuldlosigkeit J esu erscheinen können, wenn dieser seine bisherige feindselige Einstellung plötzlich und unmotiviert in dem Augenblick verleugnete, da er Jesus erstmals persönlich gegenüberstand und dieser weder seinem Wunsch nach einem "Zeichen" entsprach noch seine Fragen als jüdischer Sachverständiger in einem römischen Kapitalprozeß beantwortete? Um jener Glaubwürdigkeit willen war es nicht nur geschickt, sondern vom Zusammenhang des Evangeliums her sogar verlangt, daß Lukas den Herodes in Lk 23, 11 a zunächst als einen gegen J esus eingenommenen Zeugen auftreten ließ, der nicht umhin konnte, seiner den Lesern bekannten Abneigung Rechnung zu tragen. Damit stellt sich die Frage, warum Lukas dieses begreifliche Ziel ausgerechnet mit Hilfe einer Verspottungsszene zu erreichen suchte. Hier ist der Ort, daran zu erinnern, daß Lukas mit Mk 15,16-20 ein ausgeführter Bericht über eine Verhöhnung Jesu zur Verfügung stand, in welchem unter anderem auch ein "Purpurmantel" (Mk 15,17) eine Rolle spielte 70. Für den dritten Evangelisten war es nicht opportun, jenes Verspottungsgeschehen in sein Evangelium aufzunehmen. Nach-
69 Da J. Blinzler, Prozeß 290f, in seinem informationsreichen Buch nicht zwischen den Stoffen, die Lukas verfügbar waren, und den Darstellungszielen unterscheidet, welchen der dritte Evangelist mit ihnen nachging, muß er die Szene für historisch halten und paraphrasieren: "er schickte den so als Spottkönig Ausstaffierten zu Pilatus zurück". 70 Hierzu: R. Peseh, Markusevangelium II 472.
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dem Pilatus Jesus ohne förmliches Todesurteil "ihren (sc. der Juden) Willen preisgegeben" (Lk 23,25) hatte und "sie ihn" sogleich zur Kreuzigung "abgeführt" hatten (Lk 23,26), blieb kein Raum mehr für eine Verhöhnung J esu durch eine ganze römische Kohorte (Mk 15, 16) - und auch im Interesse seiner Tendenz, Rom nach Möglichkeit aus der Verantwortung am Tode Jesu zu entlassen, strich Lukas Mk 15,16-20. Im Blick auf das Gesagte ist es jedoch wahrscheinlich, daß er - unter dem Zwang seiner Gestaltung einer notwendig zwiespältigen Reaktion des An.tipas - in Lk23, 11 auf diesen Bericht des Markus zurückgriff. Nicht mir weil auch in Lk 23, 11 a das "Stichwort" E!-lJta'~ELv = "verspotten" auftaucht, mit dem Mk 15,20a "die Szene zusammenfassend beschrieben" 71 hatte. Vor allem lassen sich die beträchtlichen Unterschiede zwischen Mk 15,16-20 und Lk 23,11 relativ leicht mit dem Umstand erklären, daß Lukas keinerlei an seinem Text verifizierbare Neigung zeigt, Jesus von Herodes als "König der Juden" (vgl. Lk 23,3) verspotten zu lassen: das "Prunkgewand" aus Lk23, 11 b hat die klar begrenzte Aufgabe (vgl. Lk 23, 15), dem römischen Prokurator die überzeugung des Antipas von der Schuldlosigkeit Jesu zu eröffnen. Die höhnische "Travestie" der königlichen Insignien durch Purpurmantel und Dornenkranz 72, aber auch die Proskynese der Soldaten, worüber Mk 15,16-19 detailliert zu erzählen wußte, brauchten dann aber im dritten Evangelium keine Berücksichtigung zu finden, ja sie widersprachen den Darstellungszielen des Lukas. Aus Mk 15,16-20 verblieb gerade jener charakteristische Vorstellungszusammenhang, welcher Lk 23, 11 bestimmt und als solcher zunächst nicht ohne weiteres durchsichtig ist. Darf man schließlich noch hinter dem Verbum E;OU6-EVELV = "verachten" aus Lk 23, 11a mit einiger Berechtigung ein Vorzugswort des Lukas vermuten 73, so ist die Folgerung unausweichlich, daß Lk 23, 11 im Ganzen ein Produkt der lukanischen Redaktion ist.
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Ebd. 473.
R. Delbrueck, Antiquarisches zu den Verspottungen Jesu: ZNW 41 (1942) 135-137.140-142. 73 Lk 18,9; Apg 4,11. Bei den Synoptikern nur noch Mk 9, 12: E~OlJitEvoiiv.
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4. Die Freundschaft des Herodes mit Pilatus
Nach Lk 23,12 hatte die Amtshilfe des Herodes eine überraschende Folge: "an jenem Tage wurden Herodes und Pilatus Freunde miteinander. Vorher nämlich hatten sie in Feindschaft gegeneinander gelebt". Der Lesergemeinde des Lukas dürfte es keine allzu große Anstrengung bereitet haben, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß Antipas und Pilatus "in Feindschaft gegeneinander gelebt hatten" (V. 12b). Der dritte Evangelist hatte ihre Aufmerksamkeit längst auf das tragische Schicksal jener "Galiläer" gelenkt, "deren Blut Pilatus mit dem ihrer Opfer vermischte" (Lk 13,1)14. Dieses brutale Vorgehen des römischen Statthalters gegen Untertanen des Tetrarchen von Galiläa mußte sich im Bewußtsein des lukanischen Publikums als ernsthafter Konfliktfall niederschlagen, der erbitterte Feindschaft auszulösen vermochte. Nichts jedoch im Evangelium unterstützte bislang die Möglichkeit, daß Herodes "an jenem Tage", da er Jesus ein Prunkgewand anlegen ließ und mit dieser Geste dem Pilatus seine überzeugung von der Schuldlosigkeit Jesu signalisierte (vgl. Lk23, 11 b.15),der "Freund" von Roms Prokurator wurde (Lk 23, 12a). Stammt dieser nur schwer vollzieh bare Gedanke von Lukas, oder entnimmt er ihn - entgegen dem Anschein von Wortgebrauch und Stil- der überlieferung? Einflußreich ist bis zur Stunde ein Vorschlag geblieben, der versuchte, Lk 23,6-12, vor allem aber V.12a, in einem Abhängigkeitsgefälle zu verankern, dessen Eigenart noch deutlich in Apg 4,24-28 sichtbar werde 75. Die Stelle enthält eine Deutung der Passion J esu im Lichte von Ps 2, 1 f LXX: "sie (sc. die Christen) erhoben einmütig ihre Stimme zu Gott und sprachen: Herr, der du Himmel und Erde geschaffen hast und das Meer und alles darin, der du durch den Mund deines Knechtes David (unseres Vaters, durch den heiligen Geist) gesagt hast: ,warum tobten die Heiden, und sannen die Völker Eitles? Aufgetreten sind die Könige der Erde, und die Herrscher haben sich versammelt zusammen gegen den Herrn und seinen Gesalbten'. Denn sie haben sich wirklich versammelt in dieser Stadt (sc. Jerusalem) gegen deinen heiligen Sohn ] esus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden 74 Vgl. J. BlinzleT, Die Niedermetzelung von Galiläern durch Pilatus: NT 2 (1957) 24--49. 7S Zuerst M. Dibelius, Herodes und Pilatus: ZNW 16 (1915) 113-126.
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und den Stämmen Israels, zu tun, was deine Hand und dein Rat geschehen zu lassen zuvor bestimmt hatte." Das Gebet erinnert an ein Zusammengehen des Herodes mit Pilatus im Prozeß gegen Jesus von N azaret, und es ist verständlich, daß sich von hier aus das Urteil etablieren konnte, Lk23,6-12 (16) sei letztlich das Ergebnis einer meditierenden Lektüre von Ps 2,1 f LXX: "die von Lukas eingefügte Episode Herodes und Pilatus (23,6-16) ist eine wohl aus Ps 2, 1f erwachsene Legende, die in Herodes und Pilatus die ßaOlAEi:I; und aQXOV1:E~ repräsentiert sieht, die nach dem Psalm gegen den Messias des Herrn Pläne schmieden, vgl. Act 4,27" 76. Dieses bestechende Lösungsangebot versagt jedoch gerade im Blick auf Lk 23,12. Denn der entscheidende Aspekt, der nach Apg 4,27 ein Bündnis zwischen Antipas und Pilatus zustandekommen ließ, war deren gemeinsames Vorgehen gegen J esus. In Lk 23, 11f geht es darum, die Freundschaft zwischen Herodes und dem Prokurator Roms damit zu begründen, daß sich beide als Zeugen der Schuldlosigkeit zugunsten J esu aussprechen. Der Unterschied ist so schwerwiegend, daß man trotz der deutlich lukanischen Verankerung der Versfolge in der Apostelgeschichte 77 das Gebet aus Apg 4,24-28 und seine interessante Psalmenexegese als eine überlieferung einstufen muß, die in ihrem Grundbestand älter als Lukas ist. Für Lk 23, 12a trägt der Vergleich mit Apg 4,24-28 nur wenig mehr aus als die Erkenntnis, daß die Rede von der "Freundschaft" des Antipas mit Pilatus ein Novum im lukanischen Doppelwerk ist. Wenigstens einen Eindruck von dem, was Lukas damit meinte, vermag sein Bericht über den Prozeß gegen Paulus in der Apostelgeschichte zu vermitteln. Es ist kein Zufall, wenn es der dortigen Erzählung unter anderem um Einzelheiten geht, deren sachliche Nähe zu Lk 23,11 f frappant ist. Wie J esus ist auch Paulus nach römischem Recht ohne Schuld. Dafür tritt der Tribun Claudius Lysias ebenso ein (Apg 23,26-29) wie der Prokurator Festus, der anläßlich eines freundschaftlichen Empfangs seine überzeugung an den jüdischen König Agrippa weitergibt (Apg 25,24-26). Schließlich kommt es zu einer amtlichen Feststellung der Schuldlosigkeit des Apostels, hinter der alles bisher Dagewesene weit zurückbleibt: Agrippa, der als Sachverständiger in jüdischen Fragen die Anhörung des Paulus geleitet hatte, und Festus, 76 77
R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen 71967) 294. E. Haenchen, Apostelgeschichte 185.
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der Statthalter Roms, der bei dieser "Untersuchung" (vgl. Apg 25,26) anwesend gewesen war, erheben sich gemeinsam von ihren Plätzen "und sprachen, indem sie sich entfernten, miteinander und sagten: ,Nichts, was Tod oder Kerker verdient, tut dieser Mann'" (Apg 26,30f). Der Vertreter Roms und der Repräsentant des Judentums stimmen nach einem Vorgang perfekt funktionierender Zusammenarbeit sowie nach aufwendigen Demonstrationen gegenseitiger Achtung 78 darin überein, daß das von Paulus vorgestellte Christentum nicht gegen das römische Recht verstößt und somit nicht staatsfeindlich ist. Man wird schwerlich bestreiten dürfen, daß in Apg 26,30f für den Fall des Nachfolgers bereits reibungslos gelingt, was in Lk 23,11 f für den Fall des Meisters nach dem Willen des dritten Evangelisten als "Freundschaft" zwischen Herodes und Pilatus beginnt: die Eröffnung einer Lebensmöglichkeit für das Christentum innerhalb des römischen Imperiums. "An jenem Tage" (Lk 23,12), da Antipas als Zeuge für J esu Unschuld an die Seite des Prokurators tritt und beide aus diesem Anlaß zu "Freunden" werden, befreien sie das im römischen Reich missionierende Christentum von der fatalen Hypothek eines jüdischen Religionsstifters, der von Rom rechtskräftig als Aufrührer (vgl. Lk 23,14) verurteilt und am Kreuz hingerichtet worden war. Aber noch in anderer Hinsicht ist der Blick des Lukas der Zukunft des Christentums seiner Zeit zugewandt. Dadurch daß er in Lk 23, 12 das Wort CPLAOL = "Freunde" verwendet, für welches er eine besondere Vorliebe hat 79, markiert er zugleich die gemeinsame Front der offiziellen Repräsentanten des Judentums und Roms gegen diejenige Gruppe von Juden, die durch ein stereotyp tumultuarisches Auftreten hartnäkkig den Tod Jesu fordern: "die Hohenpriester und die Obersten und das ganze Volk" (Lk23, 13) von Jerusalem. Es entspricht dem Interesse des dritten Evangelisten, daß sich die Schuld der Juden am Tode Jesu in Grenzen hält - und er unternimmt einiges, um dieses Anliegen seinen Lesern deutlich zu machen. So setzt er das Wort über "Jerusalem, das die Propheten tötet und die zu ihm Gesandten steinigt" (Lk 13,34), bezeichnenderweise in einen Kontext, der von der bewußten Aufnahme des Weges Jesu nach Jerusalem handelt (vgl. Lk 13,33)80. Daß
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Vgl. Apg 25, 13f.22.23f.26. Lk I5x; Apg 3x; Mt Ix. Mattäus setzt das Wort an das Ende seiner Rede gegen die Pharisäer (Mt 23,37).
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Lukas nicht an eine Kollektivschuld der Juden glaubt, zeigt er in seinem Sondergut (vgl. Lk 23,27-31) ebenso wie in der Apostelgeschichte. So heißt es in Apg 13,27f pointiert: "diejenigen, die in Jerusalem wohnen und ihre Obersten haben diesen (sc. Jesus) und die Sprache der Propheten nicht erkannt, die doch jeden Sabbat verlesen werden, und haben sie so durch ihr Urteil erfüllt. Und obgleich sie keine todeswürdige Schuld fanden, baten sie Pilatus, daß er hingerichtetwerde". Nicht die Juden haben die Verantwortung für Jesu Tod zu tragen, sondern nur eine bestimmte Gruppe in einer besonderen geschichtlichen Situation an einem spezifischen Ort. Selbst sie haben aus Unwissenheit gehandelt (vgl. Lk 23,34; Apg 3,17-19), und es steht ihnen die Bekehrung offen. Die Reaktion, welche Lukas noch von seiten der Juden Jerusalems erwartet, hat er unmißverständlich in Apg 2,37 beschrieben: "als sie das hörten, schnitt es ihnen ins Herz, und sie sprachen zu Petrus und den übrigen Aposteln: ,was sollen wir tun, Brüder?'" Nicht zuletzt in einem solchen Zusammenhang zeigt Lk 23, 12, daß das Zeugnis des Juden Herodes und des Römers Pilatus für die Schuldlosigkeit J esu im Sinne des Lukas keine Sache der Vergangenheit ist, sondern der Bewältigung eines Gegenwartsproblems im aktuellen Erfahrungsbereich des dritten Evangelisten dient: zwischen Judentum und Christentum sind seit "jenem Tage" des "Freundschafts"-Bündnisses eines jüdischen Tetrarchen mit dem Prokurator Roms nicht alle Brücken abgebrochen. Nichts spricht somit dagegen, daß Lk 23,6-12 ohne Abstriche eine Komposition des Lukas ist, der mit dieser kleinen literarischen Schöpfung viel erreicht.
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VI Zum Problem "Häresie und Orthodoxie" im Urchristentum!:Von fase! Blank, Saarbrücken
Wenn wir nach dem Häresienproblem im Urchristentum fragen, dann stellen wir im üblichen Themenkatalog der neutestamentlichen Exegese eine offenkundige Lücke fest. Zwar wird die Frage nach Irrlehren in den frühchristlichen Gemeinden im Zusammenhang mit der Briefliteratur, vor allem den späten Briefen, immer wieder gestellt. Man spricht von einer "Gnosis in Korinth", fragt nach der Eigenart der "Philosophie im Kolosserbrief" , nach den Irrlehrern, mit denen die Pastoralbriefe sich auseinandersetzen oder auch die Johannesbriefe, aber eine umfassende Darstellung des Problems gibt es meines Wissens bis heute nicht. Auch dieser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, die vorhandenen Lücken in jeder Hinsicht wettzumachen. Sein Ziel ist vor allem, die Problemfelder abzustecken und auf dieser Grundlage neue Lösungsversuche anzubahnen.
,. Der hier publizierte Text ist die ausgearbeitete Fassung von Kapitell und 2 einer sehr viel breiter angelegten Problemskizze "Zum Häresienproblem im Urchristentum", die ich auf der Tagung der Schnackenburgschüler vorn 27.-31. 12. 1978 (vgl. Vorwort) vorgelegt habe. Er bringt den einführenden überblick über den augenblicklichen Problemstand. - Außer der unten zitierten Literatur sei noch auf folgende Titel hingewiesen: Y. Congar, Vraie et fausse Reforme dans l'Eglise (Paris 1950);]. Danielou, Theologie du Judeo-Christianisme (Tournai 1958); A.v.Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2Bde. (Leipzig 1906); H.Küng, Die Kirche (Freiburg-Basel-Wien 1967); Rouet de Journel, Enchiridion Patristic\,m (Freiburg i. Br. 141947); H. Schlier: ThWNT 1179-184; M. Simon, Verus Israel. Etude sur les relations entre Chretiens etJuifs dans l'Empire Romain (135-425) (Paris 21964); deTS., La Civilisation de I' Antiquite et le Christianisme (Paris 1972); P. Stockmeier, Glaube und Religion in der frühen Kirche (Freiburg-Basel-Wien 1973). - Deutsche Kirchenväterzitate erfolgen - wenn nicht anders angegeben - nach BKV.
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1. Häresie und OrthodoxieLösungsversuche der Tradition Wer "Häresie, Ketzerei" sagt, der scheint offenbar auch zu wissen, was "Orthodoxie, Rechtgläubigkeit" bedeutet. Er hat einen Maßstab, ein Kriterium, um Orthodoxie und Häresie unterscheiden und auseinanderdividieren zu können. Denn die beiden Begriffe bedingen sich gegenseitig. Die Frage ist allerdings, ob wir wirklich so genau wissen, was die scheinbar so klare Distinktion besagt, und vor allem auch, ob wir bei einer historischen überprüfung der einschlägigen Probleme noch so unbefangen und naiv mit diesen Begriffen operieren können, wie es zuweilen geschieht. 1.1 Betrachten wir zunächst das herkömmliche Denkmodell, das auf die frühen Kirchenväter zurückgeht. Ich folge hier weitgehend der hervorragenden Darstellung von Henry Ernest William Turner "The Pattern of Christian Truth. A Study in the Relations between Orthodoxy and Heresy in the Early Church"l, die im deutschsprachigen Raum noch kaum die gebührende Beachtung gefunden hat. Turner beschreibt im ersten Kapitel die klassische Theorie des Ursprungs der Häresie und die modernen Alternativen 2 • Die klassische Theorie der Häresie sieht folgendermaßen aus: 1.2 Ursprünglich bewahrte die Kirche unbefleckt und in unverkürzter Reinheit die Lehre Christi und die apostolische Tradition. So berichtet nach Eusebius von Caesarea dessen Gewährsmann Hegesipp, daß es in der Kirche von Jerusalem bei der Amtsnachfolge des Jakobus des Gerechten zur Häresiebildung gekommen sei, durch einen Mann namens Thebutis. Es heißt dort: "Da die Kirche noch nicht durch eitle Lehren befleckt war, wurde sie als Jungfrau bezeichnet. Thebutis machte, da er nicht Bischof geworden war, den Anfang damit, sie zu beschmutzen." 3 Manche Autoren vermuten, daß das Bild der Kirche als einer unbefleckten Jungfrau, die durch die Häresien geschändet wurde, sich auf Marcion beziehe, der wegen Sexualverkehrs mit einer Jungfrau aus der Christengemeinde seiner Vaterstadt Pontus aus ge-
London 1934 (Nachdr. 1978). A. a. 0., Lecture I: The Classical Theory of the Origin of Heresy and its Alternatives 3-35. 3 Eusebius, HistEccl IV, 22,4. 1
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schlossen worden sei 4 • Entscheidend ist hier die Vorstellung von der urchristlichen Frühzeit des Neuen Testaments. Diese gewinnt in der Sicht der Kirchenväter des 2. und 3. Jahrhunderts immer mehr ideale Züge einer "reinen Urzeit", in der es keinerlei Konflikte und keine Irrlehren gab. 1.3 Allgemein angenommen ist der Grundsatz der Priorität der Orthodoxie vor der Häresie. Auch hier eine Aussage des Hegesipp: "Als der heilige Chor der Apostel auf verschiedene Weise sein Ende gefunden hatte und jenes Geschlecht, welches gewürdigt worden war, mit eigenen Ohren der göttlichen Weisheit zu lauschen, abgetreten war, erhob sich zum ersten Mal der gottlose Irrtum durch den Trug der Irrlehrer. Diese wagten nun, da keiner der Apostel mehr am Leben war, mitfrecher Stirne der Lehre der Wahrheit eine falsche sogenannte Gnosis entgegenzusetzen." 5 Xhnlichsagt Tertullian: "Später entstanden ist unsere Sache nicht, sondern sie ist vielmehr die, welche gegen alle die Priorität behauptet; das ist auch das Zeugnis der Wahrheit, die überall die erste Stelle einnimmt." 6 Hier wird einmal deutlich, daß als die eigentliche frühchristliche Häresie die Gnosis -angesehen wird. Sodann taucht hier das Argument auf, das sich im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder bemerkbar machen wird: Häresie ist eine Neuerung und damit ein Verstoß gegen die herrschende Tradition. Neuerungen werden, so vor allem bei Tertullian, generell verdächtigt. Häretiker sind per definitionem "innovatores homines". Jeder neue Gedanke ist zunächst einmal häresieverdächtig, und zwar so lange, bis er allgemein rezipiert worden ist. 1.4 Häresien sind Ableger, Sprößlinge, wenn auch entartete, der Orthodoxie. An dieser Stelle wird von den kirchlichen Autoren immer wieder 1 Joh 2, 19 zitiert: "Von uns sind sie ausgegangen, aber sie waren nicht aus uns; wären sie aus uns gewesen, dann wären sie auch bei uns geblieben, aber sie sollten offenbar werden, damit deutlich würde, daß nicht alle aus uns sind." Indem diese Leute - die Kirchenväter denken dabei in erster Linie an den Syrer T atian, an Marcion, und an den Gnostiker Valentin, die alle einmal eine "katholische Periode" durch-
Vgl. H. E. W_ Turner, a. a. O. 3. Eusebius, HistEccl III, 32,2. 6 Tertullian, Die Prozeßeinreden gegen die Häretiker (De praescriptione haereticorum) 35,3; vgl. 29,4 - 30,3.
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gemacht hatten - die Groß kirche verlassen, beweisen sie, daß sie innerlich niemals zu dieser gehört haben. Sie werden, wie Turner formuliert, als catholiques manques betrachtet 7, das heißt: als verfehlte, mißglückte oder auch frustrierte Katholiken, Immer wieder wird auch darauf hingewiesen, daß in den neutestamentlichen Texten die Heraufkunft der Häresien vorausgesagt worden ist 8. 1.5 Wo liegen die Motive und Ursachen der Häresie?Zunächstwird der Teufel für die Entstehung der Häresien in der Hauptsache verantwortlich gemacht. Nachdem der Teufel, so erfahren wir bei Eusebius, als ständiger und erbitterter Gegner der menschlichen Erlösung in seinem Kampf gegen die Kirche es zunächst vergeblich mit der Verfolgung versucht hatte, bediente er sich neuer Mittel. "Der Teufel ging neue Wege; nichts ließ er unversucht. Falsche, verführerische Männer sollten sich unseren christlichen Namen aneignen, um einerseits die von ihm eingefangenen Gläubigen in den Abgrund des Verderbens zu stürzen und andererseits solche, die unseren Glauben nicht kannten, durch ihre Handlungen vom Wege zur Heilslehre abzuhalten. "9 Dementsprechend heißt Marcion "der Erstgeborene Satans" 10. Als weitere Motive gelten Sektengeist und Neuerungssucht;manchen sei das Ansehen, das sie als Lehrer erlangt haben, zu Kopf gestiegen. Häresie gilt als Ehebruch oder Hurerei. Die biblischen Metaphern, die dafür verwendet werden, sind die folgenden: Die Häretiker haben am Glauben Schiffbruch gelitten (1 Tim 1,19); sie sind Diebe, die einbrechen und stehlen (Mt 6,19), oder Diebe und Räuber, die in den Schafstall einbrechen (Joh 10,1); oder reißende Wölfe, die in die Herde Christi eindringen (Apg 20,29)11. Seit Tertullian wird vor allem das Moment der Auswahl betont: haeresis = electio. "Häresien heißen sie mit griechi-
H. E. W. Turner, a. a. O. 4. Tertullian, Prozeßeinreden 29, 5-7: "Es ist übrigens albern genug, die Häresie für den rechtmäßigen Erben einer Lehre zu halten, schon deshalb, weil die letztere selbst es ist, welche im voraus ankündigte, vor den kommenden Häresien auf der Hut zu sein. An eine Kirche, die diese Lehren besaß, sind die Worte geschrieben worden, oder besser gesagt, die Lehre selbst hat sie der Kirche geschrieben: ,Wenn auch ein Engel vom Himmel ein anderes Evangelium verkünden sollte als wir, der sei vedlucht.'" 9 Eusebius, HistEccl IV, 7,1-2. 10 Eusebius, HistEccl IV, 14,7: "Als Marcion einmal dem Polykarp begegnete und ihm sagte: ,Erkenne uns an!' antwortete dieser: ,Ich erkenne, ich erkenne (= ich durchschaue) den Erstgeborenen des Satans'." 11 Vgl. H. E. W. Turner, a. a. O. 5. 7
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sehern Ausdrucke, so genannt nach der, Wahl', welche man mit besonderer Tragweite bei ihrer Aufstellung oder Annahme trifft." 12 Darüber hinaus gilt seit Hippolyts "Widerlegung aller Häresien" (Philosophumena) die griechische Philosophie als Mutterboden der Häresie. Hippolyts "Widerlegung" enthält deshalb einen knappen Abriß der griechischen Philosophiegeschichte vor der Darstellung der Häretiker und ihrer Lehren 13. Freilich sind nach Hippolyt die Häretiker eher als Eklektiker zu verstehen, die weder mit der Philosophie noch mit der Heiligen Schrift richtig umgehen können. Anders steht es bei Tertullian, der in seinen "Prozeßeinreden" eine scharfe Attacke gegen die Philosophie reitet: Der Herr hat nach Tertullian das "Ingenium der weltlichen Weisheit" als Torheit bezeichnet, "und das, was vor der Welt töricht ist, erwählt, um auch die Philosophie selbst zu beschämen. Denn sie ist eben das Feld, auf dem die Weisheit der Weh sich bewegt, sie, die voreilige Erklärerin der Natur und der Ratschlüsse Gottes. Auch die Häresien selbst empfangen durch die Philosphie ihre Ausrüstung". Danach folgen die berühmten Sätze: "Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche, was die Häretiker mit den Christen? Unsere Lehre stammt aus der Säulenhalle Salomos, der selbst gelehrt hatte, man müsse den Herrn in der Einfalt seines Herzens suchen. Mögen sie meinethalben, wenn es ihnen so gefällt, ein stoisches und platonisches und dialektisches Christentum aufbringen! Wir indes bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet worden. Wenn wir glauben, so wünschen wir über das Glauben hinaus 12 "Haereses dictae graeca voce ex interpretatione electionis quia quis maxime sive ad instituendas sive ad suscipiendas eas utitur" (Tertullian, De praescriptione haereticorum 6,2; vgl. SC 46, Traite de la Prescription contre les Heretiques, par R.F.Refoule-p. de Labriolle [Paris 1957]). 13 Hippolyt von Rom, Die Widerlegung aller Häresien, Buch 1. Vorwort: "Wir wollen also die Gottlosigkeit der Häretiker in ihrer Denkart, ihrem Charakter und ihrer Handlungsweise aufzeigen, sowie die Quellen, aus denen sie ihre Erfindungen schöpften. Sie sind ans Erfinden gegangen ohne Anlehnung an die HI. Schrift, und ohne sich auf einen Heiligen berufen zu können; ihre Lehren stammen aus der Griechenweisheit, aus philosophischen Anschauungen, aus Mysterien und aus der Irrwege gehenden Astrologie. Wir legen also zuerst die Lehren der griechischen Philosophen dar und werden unsern Lesern beweisen, daß diese Lehren älter und Gottes würdiger sind als die der Häretiker; dann wollen wir die einzelnen Sekten miteinander vergleichen und sehen, wie sich die Sektenstifter über die griechische Philosophie hermachten, deren Grundlagen für sicll verwerteten und immer tiefer sinkend ihre Lehre zusammenschmiedeten. "
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weiter nichts mehr. Denn das ist das erste, was wir glauben: es gebe nichts mehr, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben haben."14 1.6 Eine andere Gegenüberstellung liegt darin, daß auf seiten der Groß kirche die eine Wahrheit steht, während die Sekten sich in einer Vielzahl von Gruppen und Lehren zersplittern. Schließlich sei noch angemerkt, daß die alten Häresiologen die Häresien gewöhnlich mit Simon Magus beginnen lassen. Es folgen Menander, Satornil, Kerinth und Marcion 15. 1.7 Wir haben es hier mit einer relativ geschlossenen Auffassung zu tun, die uns in den Schriften der frühen Kirchenväter entgegentritt und die mit unveränderlicher Stereotypie weitertradiert wurde. Das Neue Testament bzw. das Urchristentum wird weithin als eine in sich geschlossene, homogene und harmonische Größe betrachtet, als die "Zeit Christi und der Apostel", in der es noch keine Häresien gab. Allerdings haben die Apostel, insbesondere Paulus in seiner großen Abschiedsrede in Milet und in den Pastoralbriefen, die Zeit vorausgesehen, in der die Häresien auftreten würden. Auch manche Jesus-Worte der Evangelien werden als Voraussagen der Häresien aufgefaßt; dies gilt den Kirchenvätern als erneute wichtige Bestätigung der Wahrheit des Evangeliums. Häresie ist also in erster Linie ein Phänomen der nachapostolischen Zeit und gilt als eine Erfindung des Teufels. Die Häresie (oder die Häresien und häretischen Gruppen), mit der die Kirchenväter des 2. und 3. Jahrhunderts sich vornehmlich auseinandersetzen müssen, ist "die Gnosis", die in einer Vielzahl von Variationen und Gruppenbildungen auftritt. Freilich hat schon Irenäus von Lyon das Problem gesehen, daß hinter der Vielzahl der gnostischen Sekten und Lehren eine einheitliche gnostische Grundhaltung oder Grundstruktur stehen könnte, die er vornehmlich im System der Valentinianer dargestellt sieht. Dieses System istfür Irenäus gleichsam eine "recapitulatio omnium haereticorum" 16. Hat man daher dieses System widerlegt, dann hat man ,im Grunde alle Systeme getroffen. Diese AufTertullian, Prozeßeinreden 7. Vgl. Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien I, 23ff.; Eusebius, HistEccl IV, 7. A. Hilgenfeld, Die Ketzergeschichte des Urchristentums (Leipzig 1884; Neuausgabe: Darmstadt 1966) 162ff. 16 Irenäus, Adversus haereses IV, Praefatio2, vgl. SC 100, Contre les Heresies, Livre IV, ed. sous la direction de A.Rousseau (Paris 1965). 14 15
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fassung von der strukturellen Einheit der gnostischen Systeme ist gerade durch die Funde von Nag Hammadi erneut bestätigt worden, wie sie auch bereits den berühmten Arbeiten von Hans Jonas über die Gnosis zugrundeliegt 17 • In der Auseinandersetzung mit der Gnosis, die uns noch öfter begegnen wird, gewinnt nun aber der Begriff der Orthodoxie überhaupt erst sein eigentümliches Profil. Turner betont sehr richtig, daß uns eine derart statische Auffassung von Orthodoxie, wie sie in der dargelegten klassischen Auffassung zutage tritt, heute nicht mehr befriedigen kann. Das älteste christliche Denken ist vielmehr selbst noch im Fluß begriffen. Darüber hinaus müsse man unter Orthodoxie im 2. Jahrhundert etwas ganz anderes verstehen als etwa im 4. und 5. Jahrhundert 18. Die Begriffe Orthodoxie/Häresie sind demnach nicht als apriorisch feststehende Begriffe aufzufassen, sondern es handelt sich um Begriffe, die sich beide in ihrer spezifischen Eigenart und Bedeutung in der Frühgeschichte des Christentums allererst herausgebildet haben, und die auch weiterhin geschichtlichen Wandlungen unterliegen. Man kann also nicht einfach sagen: Am Anfang war die "Orthodoxie" als die reine, von Christus und den Aposteln offenbarte Lehre, danach kam die Häresie, die das Durcheinander der Irrlehren brachte. Selbst wenn diese Auffassung richtig wäre, müßte man doch fragen, warum es nach der reinen Urzeit zu dieser verwirrenden Vielzahl von Irrlehren gekommen ist; hat das vielleicht etwas mit dem übergang von der " Urzeit" zur Nachfolgezeit zu tun? Das könnte durchaus der Fall sein. Es ist also das Bild der "reinen Urzeit", das unsere Zweifel erweckt; denn dieses Bild beruht ja auf einer Rekonstruktion, die ihrerseits mit dem entstehenden Kanon zusammenhängt. Typisch ist die Auseinandersetzung mit Marcion, der in seiner Fragestellung selbst schon um ein Bild der Urkirche und der ursprünglichen, unverfälschten Lehre ringt. Marcion ist der Auffassung, daß die reine Lehre Jesu und der Apostel schon sehr früh durch den Einfluß dämonischer Mächte verfälscht worden sei, die in die neutestamentlichen Texte wieder das Bild des gerechten alttestamentlichen
17
H.Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil I. Die mythologische Gnosis (Göttingen
1934); deTS., The Gnostic Religion (Boston 21963); - K. Rudolph, Die Gnosis. Wesen
und Geschichte einer spätantiken Religion (Göttingen 1977); deTS. (Hrsg.), Gnosis und Gnostizismus (Darmstadt 1975). 18 Vgl. H.E. W. Turner, a.a.O. 8f. 16.
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Gottes und seines Gesetzes eingetragen hätten 19. Beides wieder sauber voneinander zu scheiden, das ursprüngliche "reine Evangelium'; und die nachträglichen alttestamentlich-gesetzlichen Zusätze, ist ja ein Hauptgrund für die von Marcion geübte Bibelkritik. Auch bei diesem "Erz-Ketzer" geht es also um die Unterscheidung von Orthodoxie und Häresie; nur fällt seine Entscheidung anders aus als die der Großkirche. Von hier aus lautet unsere erste Frage: Ist die Unterscheidung von Orthodoxie und Häresie auf das Neue Testament überhaupt anwendbar? Oder gilt nicht gerade hier, daß man diese Begriffe zunächst völlig beiseite lassen muß, zumindest in ihrer späteren Bedeutung, um die neutestamentlichen Sachverhalte überhaupt erst einmal richtig wahrnehmen zu können? Wenn sie etwas bedeuten können, dann nur so, daß auch sie erst im Entstehen begriffen sind. So wie die Dinge gegenwärtig liegen, ist es gut, beim Neuen Testament, und vielleicht auch beim Judentum, noch nicht starr mit diesen Begriffen zu arbeiten, weil sie hier mehr verstellen als erhellen.
2. Moderne Verstehensmodelle Die moderne historische Kritik, die auch das Gebiet der Erforschung des frühen Christentums erfaßte, hat zu einer Revision des HäresienProblems geführt. Darüber soll im folgenden berichtet werden. 2.1 Adolfvon Harnack 20 steht insofern noch im Banne der älteren Auffassung der Kirchenväter, als für ihn der "griechische Geist" sowohl für die Entstehung des christlichen Dogmas als auch für das Häresienproblem bestimmend ist. "Das Dogma ist in seiner Conception und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums." 21 Es sind nach ihm hauptsächlich die Religionsphilosophie des hellenistischen Judentums und die griechische Philosophie, die eine tiefgreifende Transformation des Evangeliums einleiten. Diese Transformation war unter den gegebenen Voraussetzun-
19 Vgl. dazu A. v. Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott (Leipzig 21924; Neuausgabe: Darmstadt 1960) 35ff. 20 Lehrbuch der Dogmengeschichte 1. Die Entstehung des christlichen Dogmas (Tübingen 51931; Neuausgabe: Darmstadt 1964). 21 A.a.O. 20.
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gen unvermeidlich. Sie bezeichnet insgesamt den Prozeß der "Hellenisierung des Christentums". Das christliche Dogma, also die Orthodoxie, ist nach diesem Konzept ebenso ein Produkt der Hellenisierung wie die Häresie, wobei letztere historisch-zeitlich gesehen einen gewissen Vorsprung gegenüber jener einnimmt. Wendet man das bekannte Modell von Toynbee von "challenge and response", von "Herausforderung und Antwort" an, dann wäre also das Auftreten von Häresien jeweils die Herausforderung, auf die dann das Dogma der Orthodoxie zu antworten hatte. Dies zeigt sich vor allem bei der bekannten Beurteilung der Gnosis durch Harnack, "daß sich in den gnostischen Bildungen die acute Verweltlichung resp. Hellenisierung des Christentums darstellt (mit Verwerfung des AT)"22. Die Gnostiker sind für Harnack "kurzweg die Theologen des ersten Jahrhunderts gewesen. Sie haben zuerst das Christentum in ein System von Lehren (Dogmen) verwandelt; sie haben zuerst die Tradition und die christlichen Urkunden wissenschaftlich bearbeitet; sie haben das Christentum als die absolute Religion darzustellen unternommen und es deshalb den anderen Religionen, auch dem Judentum, bestimmt entgegengesetzt."23 Harnack hat erstmals deutlich gesehen, welche Bedeutung dem sprachlich-kulturellen und geistigen Milieu des Hellenismus in der Bestimmung von Häresie und Orthodoxie zukommt. Inzwischen weisen die Autoren auf die Wechselseitigkeit des Vorganges hin: der Hellenisierung des Christentums entspricht auf der anderen Seite eine christliche Beeinflussung des Hellenismus 24. 2.2 Martin Werner 25 ist Anhänger von Albert Schweitzer und vertritt in dessen Nachfolge die Auffassung der "konsequenten Eschatologie", die er auf die Dogmengeschichte ausdehnt. Die neutestamentlichen Schriften, zumal die Evangelien und die Paulusbriefe, sind von der Eschatologie in Verbindung mit der Naherwartung geprägt. "Die Erwartung der nahen Parusie hatte im Urchristentum eine besondere Bedeutung erhalten durch ihre enge Verbindung mit der ursprünglichen Form der Feier des Herrenmahls. Um so tiefer und fühlbarer A.a.O. 250. 23 A.a.O. 250f. Turner, Pattern (s. o. 1.1) 20: "The marriage of Hellenism and Christianity did not leave either partner unaffected, but the evidence for a radical modification of the Greek spirit by its new subject-matter is at least as strong as that which points towards the secularization of Christianity by the new terms in which it came to be expressed". 25 Die Entstehung des christlichen Dogmas (Tübingen 21953). 22
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mußte sich auf die Dauer die Verzögerung der Parusie auswirken."26 Im 2. Kapitel "Die Krisis der dogmengeschichtlichen Entwicklung des nachapostolischen Zeitalters" 27 stellt Werner die durch die Parusieverzögerung ausgelöste Krise dar, die nach seiner Ansicht gegen Ende des 1. Jahrhunderts und am Anfang des 2 . Jahrhunderts das U rchristenturn traf. Es handelt sich um "eine gefährliche Krise, in der das vom Ursprung her überlieferte Glaubensgut und damit die Kirche selber von Zersetzung und Zerfall bedroht wird"28. Die Reaktion auf diese Krise besteht in einem Prozeß der "Enteschatologisierung"; das kirchliche Dogma tritt mehr und mehr an die Stelle der Eschatologie. Aber auch die Häresie ist nach W erner in diesem Zusammenhang zu sehen. Für die Häresie ist es charakteristisch, daß sie jetzt als eine Massenerscheinung auftritt, zumal bei der Gnosis. Als solches Massenphänomen ist die Häresie "nicht nur ein weiteres, besonders deutliches Symptom der großen Krise des nachapostolischen Zeitalters, sondern in dem ganzen damit bezeichneten Komplex von dogmengeschichtlichen Tatsachen kommt diese Krise zum eigentlichen Ausdruck und spielt sich ab als ein langwieriger Prozeß chaotischer Wandlung, wobei der Kampf speziell um die Gnosis nur ein Teilgeschehen darstellt."29 Die Häresien sind also Symptom und Syndrom dieser gewaltigen Krise. Die Häretiker sind diejenigen, die die Veränderungen als erste bemerken und sie artikulieren. Sie verstehen sich selber, zumal in der Gnosis, als "die Suchenden". Das "Suchen" der Häretiker, meint Werner, "bedeutet nichts anderes als die Inangriffnahme der dem gesamten, auch dem großkirchlichen Christentum der nachapostolischen Zeit mit dem Zwang innerer Notwendigkeit auferlegten großen Aufgabe der grundlegenden Neuorientierung. Insofern bildet die Häresie einen höchst wesentlichen Faktor der dogmengeschichtlichen Entwicklung des nachapostolischen Christentums ... "30. Das heißt: die Häresien gehören notwendig zum Erscheinungsbild des sich entwickelnden Christentums; Werner spricht von einer "legitimen Zugehörigkeit der Häresie zum Christentum" 31. Die Häresien spielten eine wichtige Rolle, als es darum ging, die Krise des übergangs von der apostolischen zur nachapostolischen Zeit wahrzunehmen und zu bewältigen. So gesehen, haben die Häresien gleichsam eine prophetische Funktion; sie 26 29
A. a. O. 105. A. a. O. 127f.
27
A.a.O. 105-144. A. a. O. 129.
30
A.a.O. 116. Ebd.
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nehmen zuerst die Krise wahr und versuchen auch als Erste, die Krise zu bewältigen. Sie sind die wache Vorhut des Christentums. 2.3 Walter Bauer 32 vertritt die These: Während in der alten Kirche und bis in die moderne Theologie herein die Auffassung vorherrschend gewesen sei, die orthodoxe Kirchenlehre sei das Erste, das Primäre, die Häresie dagegen das Zweite, Spätere und Abgeleitete, zeige eine gründliche überprüfung der historischen Quellen, daß diese Auffassung sich nicht durchgängig verteidigen lasse. Vielmehr sind in der Frühzeit Häresie und Orthodoxie überhaupt keine fest umrissenen Größen, sie' laufen teilweise nebeneinander her, und für bestimmte Gebiete muß man nach Bauer sogar sagen, daß Häresie, oder besser eine nach späterer Ansicht häretische Form des Christentums zuerst da war und die Orthodoxie sich erst später durchgesetzt hat. Die Beispiele, auf denen Bauer seine These vor allem aufbaut, sind die Kirchen von Edessa/Osrhoene-Syrien und Ägypten. Bauer vermutet, daß die Kirche von Edessa in ihren Anfängen eine häretische Gründung gewesen sei und erst allmählich zur Orthodoxie gefunden habe 33 . Oder er sagt von Ägypten: "Man hat ja allen Grund, mindestens die Frage aufzuwerfen, ob sich am Ende des 2. Jahrhunderts in Ägypten überhaupt schon klare Grenzen zwischen Ketzertum und Kirchentum herausgebildet hatten." 34 Die Fragen dürften, gerade im Hinblick auf Ägypten, durchaus berechtigt sein, wie besonders die gnostischen Textfunde von Nag Hammadi belegen. Bei der Herausbildung der Orthodoxie und ihres Sieges hätte nach Bauer Rom von Anfang an eine führende Rolle gespielt. Schon der 1. KIemensbrief zeigt, "daß die römische Kirche es sich mit besonderem Nachdruck hat angelegen sein lassen, auf die , Gemeinden in den großen Weltstädten Einfluß zu gewinnen." 35 Dabei hat "Rom ... im Ringen mit den Ketzern, das zugleich ein Kampf um die eigene Geltung ist, allerlei Mittel in Anwendung gebracht, die uns die ganze Art dieser Auseinandersetzung und Roms Bedeutung für sie noch besser beleuchten können." 36 Diese Mittel sind nach Bauer in erster Linie die Durchsetzung des monarchischen Episkopats, der sich 32 Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (Tübingen 21964; hrsg. v. G. Strecker). 33 A. a. O. 6-48. 34 A. a. O. 62. 35 A.a.O. 112. 36 A. a. O. 115.
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selbst wieder auf apostolische Tradition beruft und gründet, in Rom auf die Apostel Petrus und Paulus. Ferner gewährte Rom den orthodoxen Gemeinden, die in Not waren, auch materielle Hilfe, Wohltaten und Unterstützung beim Loskauf gefangener Christen. Im Bußstreit hat Rom größere Milde walten lassen als andere Kirchen usw. "Und da das Glaubensleben der römischen Christenheit bis tief ins 2. Jahrhundert hinein von schweren Störungen verschont geblieben zu sein scheint, wuchs hier die einzige Kirche von zuverlässiger Orthodoxie heran, deren Gesundheit sogar den eingedrungenen marcionitischen Krankheitsstoff nach einem kurzen und heftigen Anfall wieder ausschied."37 Dementsprechend lautet das Fazit bei Bauer: "Rechtgläubigkeit, so kam es uns vor, stellte die Form des Christentums dar, die von der Mehrheit in Rom getragen wird, die freilich noch das ganze Jahrhundert hindurch und darüber hinaus schwer mit den Ketzern zu kämpfen hat. Ja, in der Mitte des 2. Jahrhunderts erhob sich der Streit zur Höhe einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod, deren Entscheidung nicht nur für Rom, sondern für das Christentum überhaupt von ausschlaggebender Bedeutung geworden ist." 38 Nach Bauer ist Rom "von Anfang an Mittelpunkt und Hauptkraftquelle der ,rechtgläubigen' Bewegung innerhalb der Christenheit" 39. "Rom besaß von vornherein die am festesten gefügte, vielleicht die einzige einigermaßen zuverlässige antiketzerische Mehrheit... Der nüchterne Sinn des Römers war nicht der richtige Nährboden für syrischen oder ägyptischen Synkretismus. Gewiß, auch seine Kirche hat die Erfahrung machen müssen, daß alle Gottlosigkeit am Mittelpunkt der Welt zusammenströmt. Aber das Verständnis für Ordnung und Zucht, Gesetz und Regel machte sich doch immer wieder geltend und gewann die Oberhand."40 Am Anfang steht also nach Bauer nicht die klare Differenz von Rechtgläubigkeit und Ketzerei, sondern beide stehen mehr oder minder "gleichberechtigt" nebeneinander; genauer gesagt, wir haben es mit einer "Pluralität" verschiedener Ausprägungen des Christentums zu tun. Das heißt aber, daß für die Frühzeit die Unterscheidung von Rechtgläubigkeit und Ketzerei keinen richtigen Sinn mehr ergibt.
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38 39 40
A. a. O. 132. A. a. O. 23l. Ebd. A. a. O. 232.
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Erst im Laufe der Zeit gewann diese Unterscheidung ein Gewicht; und bei dieser Entwicklung habe Rom die führende Rolle gespielt. Demnach wäre der Begriff der Orthodoxie auch - nach Bauer müßte man sagen: vorwiegend - ein kirchenpolitischer Begriff, der eng damit verquickt ist, daß und wie Rom in der alten Kirche allmählich seine gesamtkirchliche Führungsrolle wahrgenommen und ausgebaut hat. 2.4 Weitere Differenzierungen. Die von W. Bauer aufgeworfene Frage, was früher da war, die Orthodoxie oder die Häresie, hat eine weitere Zuspitzung erfahren durch zwei Problemfelder, nämlich a) durch das Problemfeld "Gnosis", und b) durch das Problemfeld "häretisches Judentum", das vor allem seit den Funden von Qumran zur Debatte steht. 2.4.1 Die moderne Gnosisforschung seit Wilhelm Bousset und Hans Jonas hat die Frage aufgeworfen, ob die als" Gnosis" bezeichnete religiöse Bewegung in ihren verschiedenen Ausprägungen nicht, wie man früher im Anschluß an die Kirchenväter glaubte, erst eine "nachchristliehe" häretische Bewegung sei, sondern als eine eigenständige "Religion" verstanden werden müsse, die vor dem Christentum da war und unabhängig vom Christentum entstanden sei, die sich auch zunächst einmal unabhängig vom Christentum entwickelt hätte, bis sie dann, und zwar schon in neutestamentlicher Zeit, mit dem Christentum in Berührung kam. So hat schon Rudolf Bultmann in seiner "Theologie des Neuen Testaments" die "Gnostischen Motive" ausdrücklich behandelt, da sie nach seiner Meinung bereits die vorpaulinisch-hellenistische Theologie des Urchristentums und darüber hinaus auch Paulus selbst beeinflußt hätten 41 • "Die Forschung erkannte mehr und mehr, daß die Gnosis in Wahrheit eine religiöse Bewegung vorchristlichen Ursprungs ist, die in verschiedenen Formen aus dem Orient als Konkurrentin des Christentums in den Westen eindrang... Gnosis und Christentum haben sich daher mannigfach beeinflußt, - von den Ursprüngen des Christentums an." 42 Das heißt: "das hellenistische Christentum steht im Strudel des synkretistischen Prozesses; das genuin christliche Motiv steht im Ringen mit anderen Motiven; die ,Rechtgläubigkeit' steht nicht am Anfang, sondern wird sich erst herR. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 11953) 162-182; deTS., Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen (Zürich 11949). 42 R. Bultmann, Urchristentum 181. 41
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ausbilden." 43 Mit dieser Problemstellung verschiebt sich die Frage nach der Häresie beträchtlich nach rückwärts in das Neue Testament selbst hinein. Die Gnosis wirkt nach dieser Auffassung bereits von den frühesten Anfängen auf Entstehung und Ausformulierung christlicher, zumal christologischer Aussagen sowie der christlichen Theologie positiv ein. Diese ist also von Anfang an mit der "Häresie" befaßt, und zwar in einem ganz neuen Sinn; sie muß zusehen, was sie an gnostischen Motiven, zumal in der Christologie und der Soteriologie, legitim rezipieren kann und was sie als nicht brauchbar verwerfen und abstoßen muß. Dabei wird die Kriterienfrage außerordentlich schwierig und wichtig zugleich. Wie dies faktisch aussieht, kann man vor allem dem Johannes-Kommentar von Bultmann entnehmen 44. Die Problematik des "gnostischen Mythos" und seines Einflusses auf die paulinische und johanneische Theologie ist noch immer nicht ausdiskutiert 45 • überhaupt ist das Problem der Gnosis noch immer mit einer Reihe großer Schwierigkeiten belastet, unter denen die Frage nach Ursprung und Geschichte der Gnosis zu den allerschwierigsten gehört 46 • Nach Kurt Rudolph ist die Gnosis ein "parasitäres Phänomen". "Einen reinen Gnostizismus finden wir nämlich nirgends vor, immer ist er angelehnt an fertige ältere Religionsgebilde bzw. deren überlieferungen." 47 Gleichwohl muß man von einer eigenständigen "Religion" mit ganz bestimmten Strukturmerkmalen sprechen. Diese eigentümlich strukturierte Religion wird man in der Tat neben und wohl auch vor dem R. Bultmann, Theologie 170f. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (Göttingen 1941); vgl. auch: Theologie § 41-50. 45 Vgl. etwa die Arbeiten von W. Schmithals, bes.: Die Gnosis in Korinth (Göttingen 21965); Das kirchliche Apostelamt (Göttingen 1961). Ferner: H.-M. Schenke, Der Gott "Mensch" in der Gnosis (Göttingen 1962); W. Eltester (Hrsg.), Christentum und Gnosis (Berlin 1969); C. Colpe, Die religions geschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythus (Göttingen 1961). 46 K. Rudolph, Die Gnosis (A. 17) 291, meint: "Es ist nicht übertrieben, wenn die Probleme der Entstehung und der Geschichte der Gnosis zu den schwierigsten der Gnosisforschung, ja der spätantiken Religionsgeschichte überhaupt gezählt werden." 47 K. Rudolph, Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus, in: Gnosis und Gnostizismus (A.17) 768-797, hier: 772. Der Gnostizismus, so heißt es weiter, "wuchert wie Parasiten (oder Pilze) auf fremdem Boden, den ,Wirtsreligionen', wenn man so sagen kann, wozu die griechische, jüdische, iranische, christliche und islamische gehören. Der Gnostizismus hat also keine eigene Tradition, sondern nur eine geborgte ... Der Gnostizismus ist also eine spätantike, parasitäre, kosmopolitische Religion" (ebd.). 43 44
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Christentum ansiede1nmüssen 48 • Ob man allerdings, wie dies im Hinblick auf Qumran geschehen ist, auch bereits von einer "jüdischen Gnosis" sprechen darf, ist höchst unsicher 49 • Was das re1igionsgeschichtliche Problem eines gnostischen Einflusses auf neutestamentliche Traditionen und Texte angeht, so dürfte sich hier neben der bislang vorwiegend praktizierten genetischen Betrachtungsweise vor allem eine strukturalistische Methodik am meisten empfehlen. Man wird also nicht nur zu fragen haben, ob Einze1begriffe und Vorstellungen möglicherweise aus einem gnostischen Hintergrund abzuleiten sind, sondern in welcher Gesamtstruktur die Begriffe jweils vorkommen. Man muß also den jeweiligen Stellenwert dieser Begriffe in ihrem genuinen Kontext, ihrem besonderen "System" mitberücksichtigen; denn diese "Systeme" können sehr verschieden sein. Es geht also um die Frage: Haben Gnosis und Christentum die gleiche oder doch eine ähnliche Gesamtstruktur, oder sind sie strukturell voneinander verschieden? Wird man diese Frage wohl im letzteren Sinne beantworten müssen, dann stellt sich auch die Frage einer gegenseitigen Beeinflussung in einer neuen Weise. 2.4.2 Eine weitere wichtige Komplizierung ist mit den Funden von Qumran erfolgt 50. Diese haben nicht nur die Bedeutung der jüdischen Apokalyptik ins Licht gerückt, sondern darüber hinaus gezeigt, daß man für die Zeit des "Frühjudentums" bis zum Ende des zweiten Tempels bzw. des Bar-Kochba-Aufstandes mit einer weit größeren Differenzierung des Judentums rechnen muß, als man dies früher angenommen hat. Es gibt verschiedene Religionsparteien mit ihren verschiedenen theologischen Positionen. Das hat manche Autoren dazu veranlaßt, die Begriffe Orthodoxie und Häresie auch auf das Judentum
Dafür sprechen vor allem die Texte von Nag Hammadi; vgl. dazu K.Rudolph, Die Gnosis (A. 17) 39-57. "Der Fund enthält sowohl stärker christliche als auch weniger christliche und nichtchristliche Schriften; er zeigt dadurch einerseits die Verwobenheit von Gnosis und Christentum, andererseits auch ihre Unabhängigkeit voneinander" (a. a. O. 56). 49 Vgl. dazu K.-W. Tröger, Spekulativ-Esoterische Ansätze (Frühjudentum und Gnosis), in: J. Maier- J. Schreiner (Hrsg.), Literatur und Religion des Frühjudentums (Würzburg 1973) 310-319. so Vgl. K. Müller, Art. Qumran: SM (D) IV 1-18; H. Braun, Qumran und das Neue Testament, 2 Bde. (Tübingen 1966); K. Schuhert, Die jüdischen Religionsparteien im Zeitalter Jesu, in: deTS. (Hrsg.), Der historische Jesus und der Christus unseres Glaubens (Wien-Freiburg-Basel1962) 15-101. 48
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anzuwenden und einem orthodoxen Judentum ein "esoterisches" oder "häretisches" Judentum gegenüberzustellen 51. Man muß sich allerdings fragen ob eine derartige Qualifizierung die Sache überhaupt trifft, oder ob man nicht doch eher sagen muß, daß es eine "jüdische Orthodoxie" zu dieser Zeit noch gar nicht gegeben hat, sondern daß diese erst im Entstehen begriffen war. Durchgesetzt hat diese sich erst nach dem Ende des zweiten Tempels unter der Führung der Pharisäer und ihrer Schriftgelehrten, die als die einzige Religionspartei den Untergang des Tempels überlebten. Darüber hinaus ist zu fragen, ob der Begriff der "Orthodoxie" für das Judentum überhaupt passend ist, da innerhalb des Judentums selbst die "Orthopraxie" immer schon eine größere Rolle gespielt hat als die Frage nach der "wahren reinen Lehre". Man wird also diese Begriffe im Bereich des Judentums nur cum grano salis verwenden dürfen. Auch die verschiedenen Strömungen der jüdischen Apokalyptik sind hier zu erwähnen 52. Karlheinz Müller hat neuerdings das methodische Postulat nach einem "integrierten traditionsgeschichtlichen Verfahren" aufgestellt, "in dessen Vollzug die geläufige Mißachtung der je besonderen Korrelation von Geschichte und überlieferung aufgehoben wäre" zugunsten "der faktischen Einheit des israelitischfrühjüdisch-urchristlichen Traditionsprozesses" 53. Das Postulat ist ohne Zweifel berechtigt. Doch sollte dabei auch das ebenso berechtigte Anliegen der Kanon-Frage nicht außer acht gelassen werden, weil gerade die Frage nach den besonderen Differenzen der verschiedenen Traditionen mit zu berücksichtigen ist. Auch hier empfiehlt sich, ähnlich wie bei der Gnosis, eine strukturale Methodik. Freilich läßt sich im Hinblick auf die neutestamentlichen Texte sagen, daß apokalyptische Begriffe, Vorstellungen und Denkweisen von den neutestamentlichen Autoren und den urchristlichen Gemeinden nicht in gleichem Maße als wesensfremd und damit als "häretisch" empfunden wurden, als dies bei den gnostischen Vorstellungen und Motiven der Fall war.
Vgl. etwa O. Cullmann, Der johanneische Kreis. Zum Ursprung des Johannesevangeliums (Tübingen 1975) 31-40, der von einern "heterodoxen Judentum" mit prägnostischen Zügen spricht (a. a. O. 36). 52 Zum Problemkreis Apokalyptik vgl. jetzt den großen Art. Apokalyptik: TRE III 189-289, bes.: K. Müller, III. Jüdische Apokalyptik, 202-251. 53 TRE III 207. 51
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3. Problemskizze Die Frage nach dem Häresienproblem im Urchristentum ist auf diesen Grundlagen neu zu stellen. Abschließend möchte ich noch in Grundzügen darstellen, wie ich mir die weitere Arbeit an diesem Problemkreis vorstelle. 3.1 Die Fragestellung hat auch hier einzusetzen bei der Begriffsgeschichte, wie sie für die Zeit des Urchristentums im Verhältnis zum hellenistischen und jüdischen Verständnis greifbar wird. Hier gibt es zwei Bedeutungsträger, nämlich einmal das Verständnis der griechischen Philosophie, wo aLQEOl~ (,hairesis') die philosophische Schulbildung und Schulrichtung bezeichnet, die philosophische Gruppe und die von dieser Gruppe jeweils vertretenen philosophischen Lehren, zumal die besonderen Schulmeinungen; sodann die Differenzierung der jüdischen Religionsparteien und ihrer verschiedenen Meinungen. Was letztere betrifft, so ist nach dem Sprachgebrauch des Flavius ]osephus 54 darauf zu achten, daß er die jüdischen Religionsparteien dem Bild der Philosophenschulen annähert, um seinen hellenistischen Lesern die Differenzen klarzumachen. Für ihn sind die jüdischen Religionsparteien ebenfalls Philosophenschulen, die z. B. eine unterschiedliche Auffassung vertreten im Hinblick auf das Problem von "Schicksal und Freiheit". Natürlich besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen den Philosophenschulen mit ihrer Meinungsvielfalt und den jüdischen Religionsparteien, deren Differenzen vom Hintergrund der jüdischen Gesamtproblematik her verstanden werden müssen. 3.2 Für das Verständnis des Häresiellproblems ist wesentlich die
Verbindung von Lehrmeinung einerseits und Gruppenbildung andererseits. Häresien sind immer beides zugleich, also niemals bloß "Irrlehren", sondern stets auch Gruppen- und Konventikelbildungen, so daß es niemals nur um "Wahrheitsfragen" geht, sondern stets auch um "Gruppenkonkurrenz", um Gruppenrivalität. Ist dies einmal klar erkannt, dann zeigt sich auch, daß das Häresieproblem nicht nur einen theoretisch-dogmatischen Aspekt hat, sondern auch einen wissenssoziologischen (ideologischen) Aspekt.
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Vgl. Bell 2, 118f; Vita 12.191.197; Ant 13,171.293.
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3.3 Ein besonderes Problem bildet die Frage, ob man vor dem Ende des zweiten Tempels von einer "jüdischen Orthodoxie" sprechen kann, oder auch von "häretischem und orthodoxem Judentum". Dies würde ja einen kanonischen Maßstab voraussetzen, der als Kriterium für solche Unterscheidung dient. Vor dem Ende des zweiten Tempels aber beanspruchen alle jüdischen Religionsparteien, das "wahre Israel" zu verkörpern. Sie stehen miteinander in Konkurrenz, aber keine dieser Parteien kann einen Ausschließlichkeitsanspruch auf Orthodoxie gegenüber den anderen Gruppen geltend machen. Erst als sich nach dem Ende des zweiten Tempels die pharisäisch-rabbinische Richtung durchgesetzt hat und Monopolcharakter gewinnt, werden alle Dissidentengruppen, darunter auch die Judenchristen, zu ,minim' (Häretiker) erklärt (vgl. die Einführung der 12. Bitte gegen die Häretiker ins Achtzehngebet) SS. 3.4 In diesem Rahmen ist darauf zu achten, daß sich das Urchristenturn als weitere jüdische Hairesis/Sondergruppe, als "Nazoräer-Sekte" (Apg 24,5.14; 28,22) in das bereits vorhandene Spektrum einfügt. Das Urchristentum hat also im Rahmen des Judentums zunächst selbst den Aspekt einer weiteren Hairesis, d. h. einer besonderen Gruppe neben anderen, und wird in der Apostelgeschichte auch von Lukas so gesehen. In der T.at, das Urchristentum war eine "jüdische Häresie", auch wenn es selbst sich als "Erfüllung" des Judentums verstanden hat. Daraus ergibt sich die wichtige Einsicht, daß im Christentum von Anfang an "Häresie" und "Orthodoxie" als zwei Aspekte notwendig miteinander verbunden sind. "Orthodoxie" hängt zusammen mit dem eigenen positiv formulierten Selbstverständnis der Gruppe; "Häresie" hängt zusammen mit dem Außenaspekt, der die jeweilige Gruppe mit den anderen Gruppen zusammensieht und sie mit diesen vergleicht. 3.5 Ein weiterer Schritt ist, daß wir auch für die Urkirche von Anfang an mit Gruppenbildungen zu rechnen haben, die einen theologischen Hintergrund haben. Um den historischen und theologischen Sachverhalt einigermaßen adäquat beschreiben und analysieren zu können, schlage ich vor, zu unterscheiden zwischen Konflikten, Spal-
Vgl. Bill IV/1 208.212f; I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung (Frankfurt 31931; Nachdr. Hildesheim 1967) 36-39; J. J. Petuchowski, Der Ketzersegen, in: M. Brocke - J. J. Petuchowski - W. Strolz (Hrsg.), Das Vaterunser (Freiburg - Basel- Wien 1974) 90-101.
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tungen und eigentlichen Irrlehren. Bis es von einem vorhandenen Konflikt zur Irrlehre mit Sektenbildung kommt, ist oft ein langer Weg. 3.5.1 Für das Urchristentum ist die Frage zu stellen nach der differentia specifica, die die U rgemeinde von allen anderen jüdischen Gruppen uiuerscheidet. Als Antwort legt sich an erster Stelle das Bekenntnis zu Jesus von Nazaret als Menschensohn/Messias nahe. Als weitere gruppenbildende Elemente kommen hinzu die regelmäßige Zusammenkunft der Gruppe zu eigenen Gottesdiensten (Herrenmahl) als dem sehr bald fixierten Gruppenritual und die Taufe als Initiationsri-· tus. 3.5.2 Die zweite Frage lautet: Gibt es nach dem Neuen Testament Anzeichen von Gruppenkonflikten im Urchristentum? Hier wäre an erster Stelle zu nennen der Konflikt zwischen Hebräern und Hellenisten in Apg 6,1-7 sowie der Konflikt zwischen Paulus und seinen judaistischen Gegnern. Weitere Aspekte bieten die Gruppenbildungen in der Gemeinde von Korinth (vgl. 1 Kor 1,10-17). Was das Problem der Paulus-Gegner angeht, so wird man sie wohl doch als eine einheitliche Front ansehen müssen, und zwar als judaistisch-judenchristliche Front. 3.5.3 Es scheint, daß man die Front der Paulus-Gegner zu Lebzeiten des Apostels auf keinen Fall mit solchen "Irrlehren" verbinden darf, wie sie nach dem Tod des Paulus und nach dem Ende des zweiten Tempels mehr und mehr auftreten. Hier geht es also um diejenigen Formen der Irrlehren, wie sie im Kolosserbrief bzw. in den Pastoralbriefen erwähnt werden. Dabei zeichnet sich in der Tat eine zunehmend gnostische Einfärbung der Häresien ab. Gegen Ende des ersten Jahrhunderts gewinnen die gnostischen Häresien immer schärferes Profil. In diesem Zusammenhang ist dann auch die Frage nach den Irrlehren der Johannesbriefe sowie des 2. Petrusbriefes und der Johannes-Apokalypse zu stellen. 3.6 Ein besonderes Problem bildet in diesem Komplex die Frage nach dem Judenchristentum und seiner Geschichte. Hier geht es einerseits um eigenständige Entwicklungen judenchristlicher Rest- und Sondergruppen, andererseits um Querverbindungen zwischen einem solchen Judenchristentum und der sich immer stärker entfaltenden Gnosis.
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