Schriftauslegung • lffi
Widerstreit Herausgegeben von Joseph Ratzinger
"Wie steht es um unsere Fähigkeit, die biblische Botschaft zu hören, sie zu verstehen und auszulegen, um aus ihr verläßliche Weisung für unseren Weg, einzeln und als Gemeinschaft, zu empfangen? Nach den großen Erfolgen der historisch-kritischen Exegese der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, nach dem hoffnungsvollen Aufbruch der biblischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit und bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil erscheint der Enthusiasmus des Aufbruchs zur Schrift heute ermüdet, in gegensätzliche Optionen zerspalten. Von der Zuversicht, durch die historische Methode die Bibel wieder quellfrisch zu verstehen, ist wenig geblieben. Neue Methoden werden entwickelt, die bessere Weisen des Zuhörens und der Vergegenwärtigung des Textes ermöglichen sollen; die Frage nach dem soziologischen Subjekt der Auslegung wird neu gestellt: Ist es der einzelne Spezialist, die Republik der Gelehrten, oder ist es ,das Volk', wie südamerikanische Theologen sagen - das Volk, das sich als wahren Besitzer dieses Buches entdeckt und ihm von seinen Erfahrungen her neue Gegenwart gibt? Mit solchen Fragen ist die Grenze gelehrter Auslegung und die Frage vitaler Urformen des Begegnens mit dem geschriebenen Wort berührt. Was dem Leser hierzu vorgelegt wird, ist eine wirkliche, Quaestio disputata', keine in sich abgeschlossene These. Sie lädt zum kritischen und weiterführenden Gespräch ein, das alle theologischen Disziplinen braucht - die historischen ebenso wie die systematischen und die praktischen."
Joseph Cardinal Ratzinger
Die Autoren: Raymond E. Brown, röm. - kath. Professor für N eues Testament am Union Theological Seminary, N ew York; William H. Lazareth, ev. -luth. Bischof in New York; George Lindbeck, ev.-Iuth. Professor für Theologie an der Yale University, New Haven; }oseph Cardinal Ratzinger, Präfekt der Römischen Glaubenskongregation.
IISBN 3-451-02117 -xl
SCHRIFTAUSLEGUNG IM WIDERSTREIT
QUAESTIONES DISPUTATAE Begründet von KARL RAHNER UND HEINRICH SCHLIER Herausgegeben von HEINRICH FRIES UND RUDOLF SCHNACKENBURG
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Internationaler Marken- und Titelschutz: Editiones Herder, Basel
SCHRIFTAUSLEGUNG IM WIDERSTREIT RAYMOND E. BROWN . WILLIAM H. LAZARETH GEORGE LINDBECK· JOSEPH RATZINGER
HERAUSGEGEBEN VON JOSEPH RATZINGER
HERDER FREIBURG . BASEL· WIEN
Deutsche Übersetzung der Beiträge von G. Lindbeck, R. E. Brown und W. H. Lazareth von SUSAN JOHNSON
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schriftauslegung im Widerstreit / Raymond E. Brown Hrsg. von Joseph Ratzinger - Freiburg im Breisgau; Basel; Wien: Herder 1989 (Quaestiones disputatae; 117) ISBN 3-451-02117-X NE:Brown, Raymond E. [Mitverf.]; Ratzinger [Hrsg.]; GT
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1989 Herstellung: Freiburger Graphische Betriebe 1989 ISBN 3-451-02117-X
Inhalt
Vorwort .
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I
Joseph Ratzinger Schriftauslegung im Widerstreit Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute. 1. Vorüberlegung: Situation und Aufgabe . . . . . . . .. 2. Selbstkritik der historisch-kritischen Methode am Paradigma der Methodenlehre von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann . . . . . . . . . . . . 3. Grundelemente einer neuen Synthese
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II
George Lindbeck Heilige Schrift, Konsens und Gemeinschaft 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die klassische Hermeneutik: Prämoderne Bibelauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Moderne: Verluste, aber auch Gewinne . . . 4. Die heutige Situation . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wiederentdeckung der klassischen Hermeneutik
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III Raymond E. Brown Der Beitrag der historischen Bibelkritik zum ökumenischen Austausch zwischen den Kirchen. . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4.
81 87 90 93
Die historische Bibelkritik . . . . . . . . . . . . . . . Der ökumenische Austausch zwischen den Kirchen Der Beitrag der historischen Bibelkritik Zusammenfassung und Schluß . . . . . . . . . . . .
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IV William H. Lazareth Das "sola scriptura"-Prinzip Martin Luthers Evangeliumstraditionen zur Bestimmung des christlichen Gerechtigkeitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Der himmelstürmende Verstand 2. Das lebendige Wort Gottes 3. Der göttliche Indikativ. . . . . .
98 100 107 118
Vorwort
Die Geschichte der hier vorgelegten "Quaestio disputata" begann, als mich Pastor Neuhaus vom lutherischen "Center on Religion and Society" zu New York einlud, dort die jährliche "Erasmus-Lecture" zu halten und sie anschließend in einem zweitägigen Workshop mit Gelehrten verschiedener christlicher Konfessionen zu diskutieren 1. Das Thema war mir freigestellt, aber es war mir klar, daß ich nach einer Frage suchen müsse, die alle Christen gleichermaßen angeht und daher Theologen unterschiedlicher kirchlicher Prägung im sachlichen und kritischen Gespräch verbinden kann. Dabei schien mir richtig, nicht eine der Kontroversfragen auszuwählen, in denen die Geleise des Denkens in Widerspruch und Annäherung schon weitgehend gelegt sind; für fruchtbarer und der gemeinsamen Bedrängnis des Glaubens der Christen in der Gegenwart gemäßer hielt ich es, ein Thema anzugehen, in dem wir alle gemeinsam neu um Antwort ringen müssen, weil sich uns allen die gemeinsamen Grundlagen zu entziehen drohen. Die uns verbindende Grundlage des Glaubens und der Theologie - das ist zuallererst die Heilige Schrift. Wie aber steht es um unsere Fähigkeit, sie zu hören, sie zu verstehen und auszulegen, um aus ihr verläßliche Weisung für unseren Weg, einzeln und als Gemeinschaft, zu empfangen? Nach den großen Erfolgen der historisch-kritischen Exegese der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, nach dem hoffnungsvollen Aufbruch der biblischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit und bis hin 1 Diesem Workshop lagen ferner die Referate von G. Lindbeck, R. Brown, W. Lazareth als Gesprächsunterlagen vor, die in diesem Band mitveröffentlicht werden und damit eine Vorstellung von der Spannweite der Diskussion geben sollen. Die amerikanische Ausgabe der Referate bietet außerdem eine Skizze des Gesprächsverlaufs.
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zum Zweiten Vatikanischen Konzil erscheint der Enthusiasmus des Aufbruchs zur Schrift heute ermüdet, in gegensätzliche Optionen zerspalten. Von der hochgemuten Zuversicht, durch die historische Methode die Bibel wieder quellfrisch zu verstehen, ist wenig geblieben. Neue Methoden werden entwickelt, die bessere Weisen des Zuhörens und der Vergegenwärtigung des Textes ermöglichen sollen 2; die Frage nach dem soziologischen Subjekt der Auslegung wird neu gestellt: Ist es der einzelne Spezialist, die Republik der Gelehrten, oder ist es "das Volk", wie süd amerikanische Theologen sagen - das Volk, das sich als wahren Besitzer dieses Bu,ches entdeckt und ihm von seinen Erfahrungen her neue Gegenwart gibt?3 Mit solchen Fragen ist die Grenze gelehrter Auslegung und die Frage vitaler Urformen des Begegnens mit dem geschriebenen Wort berührt. In der Tat ziehen immer mehr Menschen es vor, ohne Methode sich direkt von der Bibel anreden zu lassen, überzeugt, daß jede Generation von sich sagen kann, "für uns" sei dies geschrieben (vgl. 1 Kor 10,11; Röm 15,4) - weil der Heilige Geist im einen Wort zu jeder Zeit als ihr gleichzeitig spricht. So ist heute "Fundamentalismus" besonders im amerikanischen Protestantismus zu einer mächtigen Strömung geworden 4: Um 2 Eine hilfreiche Darstellung der verschiedenen heute angewandten Methoden bietet das Werk des Brixener Bischofs W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden (Freib].lrg 1987); vgl. auch W. Stenger, Biblische Methodenlehre (Düsseldorf 1987). Im deutschen Sprachraum noch wenig beachtet ist die besonders in Amerika an Gewicht zusehends gewinnende Theorie der "kanonischen Exegese", deren zentrale These besagt, daß der vom Exegeten zu verstehende und auszulegende Text der kanonische Text der Bibel als Einheit und Ganzheit ist. Vgl. bes. B. S. Childs, The New Testament as Canon. An Introduction (London-Philadelphia 1984). Eine erste Diskussion dieser Methode im deutschen Bereich findet man in der ThQ 1987, dort vor allem H. Gese, Der auszulegende Text: ThQ 167 (1987) 252-265. Im übrigen wächst - wiederum mehr außerhalb des deutschen Sprachbereichs - auch das Interesse an einem Verstehen der patristischen und mittelalterlichen Auslegungsprinzipien, wie die gründliche Bibliographie bei G. v. Reventlow, Grundzüge biblischer Theologie (Darmstadt 1987) zeigt. 3 Charakteristisch dafür sind vor allem die Veröffentlichungen von Carlos Mesters. Das Problematische an dieser Theorie liegt in ihrem einseitigen Verständnis von "Volk". 4 Das Wort Fundamentalismus hat allerdings heute durch seine Übertragung ins politische Vokabular eine Bedeutungserweiterung erfahren, die ihm jede inhaltliche Deutlichkeit genommen hat und es zu einem polemischen Schlagwort degra-
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der Schrift ihren Rang zu wahren, will man sie nur noch aus sich selber hören, unter bewußter Abweisung aller gelehrten Vermittlungen. In diesem Wirrwarr widersprüchlicher Stilnmen hat zwar die Schrift ihre wunderbare Kraft auch heute nicht verloren, dem menschlichen Herzen die Nähe des lebendigen Gottes mitzuteilen, aber was schriftgemäße Verkündigung und was schriftgemäße Theologie sei, also die Grundlage unseres gemeinsamen Glaubens und Handeins - das entzieht sich uns immer mehr hinter der Wolke des Streits der Theologen. So erschien mir auch im Sinne meines eigenen Auftrags für das Lehramt in der Kirche ein Anlauf auf eine Klärung in dieser Frage dringlich. Um es vorweg zu sagen - die südamerikanischen Theologen scheinen mir mit ihrer Frage nach dem Subjekt der Auslegung und ihrem Hinweis auf "das Volk" als eigentlichen Kommunikationspunkt zwischen Damals und Heute durchaus auf einer richtigen Fährte zu sein. Nur bleibt zu klären, wer oder was denn eigentlich "das Volk" sei, und da scheint mir allerdings jede Antwort zu kurz zu greifen, die nicht das ganze "Volk Gottes" in seiner synchronen und diachronen Erstreckung im Auge behält. Damit ist zunächst gesagt, daß bei der rechten Auslegung der Bibel Schichten des Verstehens im Spiele sind, die über den mikroskopischen Blick des Gelehrten hinausreichen. Vernunft ist mehr als Ratio - das haben die Alten mit ihrer Unterscheidung von "ratio", "intellectus", "mens" vielleicht deutlicher gewußt als wir. Der Logos - so könnten wir auch sagen - reicht weiter als die Ratio, aber - so müssen wir hinzufügen - er umfaßt auch diese. Wenn es so steht, kann und darf kirchliche Auslegung - Auslegung durch das "Volk Gottes" - niemals die "rationalen" Mittel und Wege der Auslegung gering achten - sie bedarf ihrer. Aber die Ratio in ihren verschiedenen Äußerungsformen muß sich in den größeren "Logos" integrieren lassen, um nicht jener Manipulierbarkeit des bloß Verstandlichen zu verfallen, von der die diert. Ursprünglich bezeichnet es eine genau umschriebene religiöse Orientierung auf protestantischer Grundlage, nämlich die Überzeugung, daß die Heilige Schrift in ihrer jedem zugänglichen Wörtlichkeit dem Leser unmittelbar die im Leben und Sterben tragende Wahrheit eröffnet, unter Ausschluß kirchlicher Vermittlung wie wissenschaftlicher Erklärungen, die zwischen Buchstabensinn und lebensbestimmender Offenbarungswahrheit unterscheiden.
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Scholastiker sprachen, wenn sie sagten, die Logik habe eine wächserne Nase, d. h., sie lasse sich immer nach verschiedenen Richtungen herumdrehen. Sind wir heute nicht alle Zuschauer bei diesem Drehspiel des aus seinen Lebensgründen gelösten Verstandes, gerade auch im Wechsel exegetischer Hypothesen? Mit diesen Überlegungen ist die Richtung angedeutet, in der ich mein Thema angefaßt habe. Als Student habe ich begeistert meinem exegetischen Lehrer J. W. Maier zugehört und die ganzen Jahre meines Studiums hindurch keine seiner Vorlesungen ausfallen lassen. Auch als ich selber Lehrer der Theologie geworden war, blieb der Umgang mit der Exegese immer das Herzstück meiner wissenschaftlichen Arbeit, wozu die Freundschaft mit meinen Regensburger Kollegen H. Groß und F. Mußner eine wichtige Hilfe war. Eine Abwendung von den großen Möglichkeiten kritischer Exegese stand und steht damit für mich nicht zur Debatte. Es geht nicht um Flucht vor der Kritik, sondern um eine kritischere Kritik, die die Bedingungen und Grenzen ihres eigenen Tuns sieht, so daß sich "Verstand" in "Vernunft" hinein zu übersteigen lernt und diese wiederum sich dem Licht des Logos öffnet. Wenn dies alles nicht nur Programm bleiben sollte, mußte ich meine Vorstellung von der Selbstkritik der kritischen Methode an Beispielen konkretisieren. Die unter der Leitung von Bo Reicke angefertigte Dissertation von R. Blank bot mir den Ansatz, um an zwei großen Gründern moderner Exegese Dibelius und Bultmann - ein Stück solcher kritischer Besinnung von innen darzustellen; für eine neue Beziehung auf die patristische und mittelalterliche Tradition theologischer Auslegung habe ich Hinweise aus Gregor von Nyssa und Thomas von Aquin entnommen. Es war mir von vornherein klar, daß das Paradigma DibeliusBultmann vordergründiger Kritik einen leichten Ansatz bietet. Denn man kann unschwer sagen, beide seien - bei allem Respekt für ihre Leistung - längst überholt, die kritisierten Positionen seien inzwischen ohnedies aufgegeben und insofern treffe das Gesagte die heutige Exegese überhaupt nicht, es könne in die Schublade des Gewesenen abgelegt werden. Wer so argumentiert, verkennt nicht bloß den paradigmatischen Charakter meiner Analyse, er täuscht sich auch über die Ebene der Fragestel~ 10
lung. Denn hier geht es nicht um exegetische Einzelpositionen und auch nicht um einzelne methodische Theorien. Das einzelne dient nur dazu, um den Ausblick auf die philosophischen Grundentscheide freizulegen, die ungeprüft den Weg des historischen Handwerks prägen und die im Wechsel der Einzelpositionen durchaus die gleichen geblieben sind, selbst über den Graben mehr "idealistisch" oder mehr "materialistisch" gestimmter Optionen hinweg. Die wichtigsten dieser leitenden Grundentscheide habe ich in meinem Beitrag "Schriftauslegung im Widerstreit" versucht, ans Licht zu bringen. Dazu gehört zunächst die Orientierung an naturwissenschaftlichen Modellen, besonders dem Evolutionsgedanken, den man nicht mit geschichtlicher Entwicklung verwechseln sollte: Während diese die Entfaltung innerhalb eines sich durchhaltenden Subjekts meint, geht es bei Evolution um das Hervortreten immer neuer Subjekte, die sich ohne wirkliche innere Kontinuität wesentlich durch den Zwang der Anpassung an neue Verhältnisse bilden. Weiter gehört zu diesen Grundentscheiden die Vorstellung von der Sinnlosigkeit des bloßen Faktums und - alles zusammenfassend - die N ormativität des im einzelnen nicht reflektierten sogenannten modemen Weltbildes. Hinter dem allen zeigt sich schließlich eine Rezeption der Grundentscheide Kants, die als endgültiger Abschied von der Metaphysik verstanden werden, so daß die Möglichkeit einer wirklichen Berührung zwischen Gott und Mensch streng auf den Bereich der praktischen Vernunft beschränkt werden muß. Vor allem aber kam es mir auf die Einsicht an, daß der Disput um die exegetische Methode (und insofern um die Exegese selbst) kein rein innerexegetisches Problem mehr ist, sondern ein wesentlich philosophisches und daher auch systematisch-theologisches Problem darstellt. Diese Einsicht könnte man grundsätzlich an jedem heute schreibenden Exegeten genauso darstellen, wie ich es an Dibelius und Bultmann getan habe; der "Fortschritt" der Exegese ändert daran gar nichts s. In dem zweitägigen Workshop hat mich die vollständige Zustimmung der evangelischen Kollegen der verschiedenen KonZum Problem Exegese und Philosophie P. Piret, L'Ecriture et l'Esprit. Une etude theologique sur l'exegese et les philosophies (Bruxelles 1987).
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fessionen und Denominationen zu allem Wesentlichen meiner Darstellung am meisten überrascht. Das Schriftprinzip setzt offenbar Gemeinden und Theologen ganz unverhüllt der Dramatik unserer Situation aus: Die Gemeinden sehen anscheinend weithin keine andere Möglichkeit, im Wechsel der Hypothesen festen Boden unter den Füßen zu behalten, als indem sie den Historikern die Auslegungskompetenz absprechen und Zuflucht zu einem fundamentalistischen Verstehen der Bibel suchen; die Theologen können darauf nicht einfach mit einem Plädoyer für die Segnungen der historischen Methode antworten - sie müssen sich dem Ernst der Einrede stellen und zeigen, wie die Beständigkeit der biblischen Aussage und der Disput der Exegeten zusammengehen können. Das bedeutet: Sie müssen sich über die Voraussetzungen ihres Handwerks, dessen rechten Weg und dessen Grenzen sorgfältig Rechenschaft ablegen. Das Gespräch im Workshop zeigte, daß dies in beeindruckendem Maß geschieht 6. Bei den katholischen Teilnehmern war - wenigstens anfangs noch eher ein Zögern zu verspüren. Hier besteht immer noch die Angst, daß die mühsam errungene Freiheit der Exegese wieder in den "Würgegriff' des Lehramtes genommen werden solle und daß alle Reflexion doch nur ein Vorwand für solche neuerliche Bevormundung sei. Die Not der Gemeinden drängt weniger als der Schutz der Freiheit gegenüber dem Lehramt - warum es so ist, warum letztlich überholte Frontstellungen so wirksam bleiben, darüber sollten im katholischen Raum wohl beide Seiten, Lehramt und Theologen, je auf ihre Weise eine Gewissenserforschung anstellen. Wie dem auch sei, im Lauf des Gesprächs stellte sich ein weitgehendes Einvernehmen auch mit den katholischen Gesprächspartnern her, je mehr deutlich wurde, daß der Exegese nicht ihr eigener Weg bestritten, ihr besonderer Rang genommen werden sollte; wenn ihr Ort im Ganzen geklärt wird, wird ihr Eigenes nicht gemindert, sondern gestärkt. 6 Ich möchte hier besonders auf die im Erscheinen begriffene Dogmatik des methodistischen Theologen Th. Oden verweisen, der - von Bultmann herkommend - sich immer mehr der patristischen Exegese genähert hat und theologische Auslegung der Schrift aus einer tiefen Reflexion der hier umschriebenen Fragen heraus betreibt. Besonders bereichernd waren im New Yorker Workshop übrigens auch die Gesprächsbeiträge des orthodoxen Theologen Hopko vom St. Vladimir's Orthodox Theological Seminary.
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Was mit diesem Band dem Leser vorgelegt wird, ist so eine wirkliche "Quaestio disputata", keine in sich abgeschlossene These. Sie lädt zum kritischen und weiterführenden Gespräch ein, das alle theologischen Disziplinen braucht. Denn auch darin sehe ich das Positive des Themas, daß es nicht nur alle christlichen Konfessionen gleichermaßen angeht, sondern daß an ihm die Einheit der Theologie sichtbar wird; am Ursprungs ort theologischen Fragens stehend, schließt es alle Dimensionen der Glaubenswissenschaft ein - die historische ebenso wie die systematische und die praktische. So hoffe ich, daß kein Exeget in diesen Versuchen eine ungebührliche Einmischung des Systematikers in seine Kompetenz sehen wird; daß man den Disput nicht als Herrschaftsanspruch der Dogmatik über die Exegese mißversteht. Es geht um die alle Kompetenzen aufsprengende Frage, wie wir das im Menschenwort sich bergende und zeigende Gotteswort recht verstehen können. Rom, am Fest des hl. Pfarrers von Ars 1988 Joseph Cardinal Ratzinger
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I
Schriftauslegung im Widerstreit Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute
Von Joseph Cardinal Ratzinger
1. Vorüberlegung: Situation und Aufgabe a) Die Problemlage In Wladimir Solowjews Geschichte vom Antichrist empfiehlt sich der endzeitliche Gegenspieler des Erlösers den Gläubigen nicht zuletzt mit dem Hinweis darauf, daß er in Tübingen den Doktor der Theologie erworben und ein von der Fachwelt als bahnbrechend anerkanntes exegetisches Werk geschrieben habe. Der Antichrist als berühmter Exeget - mit diesem Paradox hat Solowjew vor fast hundert Jahren die Zweischneidigkeit moderner Auslegungsmethoden der Bibel ins Licht gerückt. Heute ist es fast schon ein Truism geworden, von der Krise der historischkritischen Methode zu sprechen. Dabei hatte ihr Weg mit einem ungeheuren Optimismus begonnen. In der neuen Freiheit des Denkens, zu der die Aufklärung vorgestoßen war, erschien das Dogma als das eigentliche Hindernis rechten Verstehens der Bibel in sich selbst. Befreit von dieser unsachgemäßen Voraussetzung und ausgerüstet mit einem für strenge Sachlichkeit bürgenden methodischen Instrumentar, schien man nun endlich wieder die Stimme des Ursprungs rein und unverstellt hören zu können. In der Tat kam lang Vergessenes wieder zum Vorschein; die Polyphonie der Geschichte wurde hinter der Homophonie der traditionellen Auslegung wieder hörbar. Weil der menschliche Faktor der heiligen Geschichte immer plastischer hervortrat, zeigte sich zugleich auch Gottes Handeln größer und näher. Aber allmählich wurde das Bild immer verworrener. Die"'Hypothesen verzweigten sich, lösten einander ab und wurden zusehends zum Zaun, der dem Uneingeweihten den Zugang zur Bibel verwehrte. Der Eingeweihte aber liest gar nicht mehr die Bibel, 15
sondern zerlegt sie in die Elemente, aus denen sie geworden sein soll. Die Methode selbst scheint diese Radikalisierungen zu verlangen: Sie kann nicht irgendwo im Ausloten des menschlichen Vorgangs der Heiligen Geschichte stehenbleiben. Sie muß versuchen, den arationalen Rest wegzunehmen und alles zu erklären. Glaube ist kein Bestandteil der Methode und Gott kein Faktor historischen Geschehens, mit dem sie rechnet. Weil aber in der biblischen Darstellung der Geschichte alles durchtränkt ist von göttlichem Handeln, muß eine komplizierte Anatomie des biblischen Wortes beginnen: Man muß versuchen, die Fäden so auseinanderzunehmen, daß man schließlich das "eigentlich Historische", d.h. das bloß Menschliche des Geschehens, in Händen hält und andererseits erklärt, wie es zuging, daß dann überall die Idee Gott eingewoben wurde. So muß man gegen die dargestellte Geschichte eine andere, "wirkliche" konstruieren; hinter den bestehenden Quellen - den biblischen Büchern - anfänglichere Quellen finden, die dann zum Maßstab der Auslegung werden. Daß sich bei diesem Verfahren die Hypothesen immer mehr verzweigen und schließlich zu einem Dschungel voller Widersprüche werden, kann niemand wundernehmen. Am Ende erfährt man nicht mehr, was der Text sagt, sondern was er sagen sollte und auf welche Bestandteile man ihn zurückführen kann 1. Es konnte nicht ausbleiben, daß in einer solchen Lage Gegenreaktionen entstanden. Die Vorsichtigen unter den Systematikern halten Ausschau nach einer Theologie, die von der Exegese möglichst unabhängig ist 2 • Aber was kann eine Theologie schon 1 Mit erfrischender Direktheit, aber auch mit großem literarischen Sachverstand ist diese Situation dargestellt bei C. S. Lewis, Fern-seed and Elephants and other Essays on Christianity, ed. by W. Hooper Fontana/Collins 1975 (deutsch: Was der Laie blökt. Christliche Diagnosen [Einsiedeln 1977], bes. 11-35). Aus großer Sachkenntnis kommende Reflexionen zum Problem auch bei E. Kästner, Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos (Inselverlag 1956). Wichtig zur Diagnose der Situation ferner J. Guitton, Silence sur l'essentiel (Paris 1986) 47-58. Als Durchblick durch die Geschichte der historisch-kritischen Exegese eignet sich W. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (Freiburg-München 1958). 2 Als Beispiel kann auf evangelischer Seite die "Systematische Theologie" von P. Tillich dienen (Stuttgart 1956/66), bei der - nicht von ungefähr - das Schriftstellenregister für alle drei Bände knapp zwei Seiten beansprucht; auf katholischer Seite der späte K. Rahner, dem es darauf ankam, jedenfalls den
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wert sein, die zu ihren eigenen Grundlagen auf Distanz geht? So gewinnt der als "Fundamentalismus" bezeichnete radikale Weg Anhänger, die die Anwendung der historischen Methode auf Gottes Wort als in sich falsch und widersinnig bezeichnen und die Bibel wieder rein in ihrer Wörtlichkeit, so wie sie steht und wie der Durchschnittshörer sie versteht, als Wort Gottes vernehmen wollen. Aber wann höre ich eigentlich die Bibel "wörtlich"? Und welches Verstehen ist das "normale", das sie ganz in ihrem Eigenen beläßt? Gewiß, der Fundamentalismus kann sich darauf berufen, daß der Platz der Bibel, die von ihr selbst gewählte hermeneutische Perspektive, die Sehweise der "Geringen" ist, der Menschen des "einfachen Herzens" 3. Trotzdem bleibt bestehen, daß die Forderung der "Wörtlichkeit" und des "Realismus" keineswegs so eindeutig ist, wie es den Anschein hat. Ein anderer Ausweg bietet sich im Aufgreifen des Problems der Hermeneutik an: Das Erklären der historischen Werdeprozesse sei nur der eine Teil der Aufgabe des Auslegers, das Verstehen im Heute der andere. Demgemäß müsse man die Bedingungen des Verstehens untersuchen und so zu einer Vergegenwärtigung des Textes kommen, die über die historische "Anatomie am Gestorbenen" 4 hinausgeht. Das ist als Ansatz richtig, denn in der Tat hat man eine Sache noch lange nicht verstanden, wenn man den Hergang ihrer Entstehung zu erklären weiß. Aber wie kann es zu einem Verstehen kommen, das nicht auf der Willkür eigener Setzungen beruht, sondern mich die Botschaft des Textes hören läßt und mir gibt, was ich nicht aus mir selber habe? Hat die Methode erst einmal mit ihrer Anatomie die Historie zum Toten gemacht, wer kann sie dann wieder auferwecken, daß sie als Lebendige mit mir spricht? Anders gesagt: Wenn "Hermeneutik" überzeugen soll, muß der innere Zusammenklang zwischen historischer Analyse und hermeneutischer Synthese gefunden werden. Zweifellos gibt es in der hermeneutischen Debatte ernsthafte "Grundkurs des Glaubens" (Freiburg 1976) von der Exegese weitgehend unabhängig zu halten (vgl. z. B. 25). 3 Vgl. J. Guitton, a. a. O. 56 ff; R. Guardini, Das Christusbild der paulinischen und johanneischen Schriften (Würzburg 21961) 15. 4 So formuliert Kästner, a. a. O. 121; verwandte Gedanken bei L. Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos (München 1973) 95 f.
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Anläufe in dieser Richtung; eine überzeugende Antwort sehe ich freilich noch nicht. 5 Wenn Bultmann die Philosophie Heideggers als Vehikel der Vergegenwärtigung des biblischen Wortes einsetzte, dann stand das in Einklang mit seiner Rekonstruktion des Eigenen an der Botschaft Jesu. Aber war nicht diese Rekonstruktion selbst schon Produkt seiner Philosophie? Wie hoch ist ihre historische Glaubwürdigkeit? Hören wir am Ende Jesus oder Heidegger zu bei dieser Art des Verstehens ? Immerhin kann man Bultmann ein ernstes Ringen um den Zugang zur Botschaft der Bibel nicht absprechen. Heute aber treten Formen der Auslegung in Erscheinung, die man nur noch als Symptome für den Zerfall von Interpretation und Hermeneutik bezeichnen kann. Materialistische oder feministische Auslegung der Bibel können im Ernst nicht beanspruchen, ein Verstehen dieses Textes und seiner Absichten zu sein. Sie sind bestenfalls ein Ausdruck dafür, daß man den eigentlichen Sinn der Bibel entweder als gänzlich unerkennbar oder als bedeutungslos für die Wirklichkeit heutigen Lebens ansieht und daher überhaupt nicht mehr nach der Wahrheit fragt, sondern allein nach dem, was einer gewählten Praxis dienen kann. Die Kombination solcher Praxis mit Elementen biblischer Überlieferung rechtfertigt sich dann dadurch, daß der Zustrom religiöser Elemente den Schwung des Handeins verstärkt. Historische Methode kann dann sogar als Deckmantel für dieses Manöver dienen, insofern sie die Bibel in diskontinuierliche Einzelteile zerlegt, die nun neuer Anwendung fähig sind und in einer neuen Zu verweisen ist hier besonders auf die Arbeiten von P. Ricoeur, z. B. Hermeneutik und Strukturalismus I (1973); Hermeneutik und Psychoanalyse (1974). Eine hilfreiche Sichtung und Ortung des gegenwärtigen Fragestandes bietet P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (Göttingen 1986). Wichtige Anläufe findet man ferner bei P. Toinet, Pour une theologie de l'exegese (preface: I. de la Potterie) (Paris 1983); R. Laurentin, Comment reconci1ier l'exegese et 1a foi (Paris 1984); P. Grech, Ermeneutica e Teologia bib1ica (Roma 1986); P. Grelot, Evangiles et histoire (Paris 1985). Die Theologische Quartalschrift (Tübingen) hatte 1979 ein ganzes Heft (1-71) der Diskussion dieser Frage gewidmet, in der Form der Debatte über den Beitrag von J. Blank, Exegese als theologische Basiswissenschaft (2-23). Leider ist dieser Beitrag unergiebig, da er die um die Exegese entstandenen Probleme ausschließlich auf einen noch nicht zur Höhe historischen Denkens fortgeschrittenen Dogmatismus zurückzuführen scheint. 5
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Montage anders eingesetzt werden können. 6 Nur scheinbar seriöser sind tiefenpsychologische "Deutungen" der Schrift. Dabei werden die von der Bibel erzählten Ereignisse auf mythische Urbilder zurückgeführt, die in wechselnden Formen in der ganzen Religionsgeschichte aus der Tiefe der Seele aufgestiegen seien und uns den Weg zur erlösenden Fahrt in die heilenden Gründe unserer Seele weisen sollen 7. Auch hier wird die Schrift gegen ihren eigenen Willen gelesen: Nicht mehr Absage an die Götter soll sie sein, sondern die Weise, wie sich uns im Abendland der ewige Mythos der Erlösung mitteilt. Daß solche Formen der "Auslegung" heute begierig aufgenommen, ja, auch in der Theologie vielfach als wählbare Alternativen angesehen werden, ist vielleicht das dramatischste Zeichen für den Notstand, in den Exegese und Theologie geraten sind. Diese Situation gilt heute für die evangelische und die katholische Theologie im wesentlichen in gleicher Weise, auch wenn ihre Ausdrucksformen sich entsprechend den unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen in einzelnen Details unterscheiden. Was die katholische Seite angeht, so hat das H. Vatikanum zwar diese Situation nicht geschaffen, sie aber auch nicht verhindern können. Die Konstitution über die göttliche Offenbarung hat v'ersucht, die beiden Seiten der Interpretation, das historische "Erklären" und das ganzheitliche "Verstehen" in einen ausgewogenen Zusammenhang zu bringen. Sie hat zum einen das Recht, ja die Notwendigkeit der historischen Methode betont, die sie auf drei wesentliche Elemente zurückführt: auf das Beachten der literarischen Gattungen, auf die Erforschung des historischen (kulturellen, religiösen usw.) Umfelds und auf die Untersuchung dessen, was man "Sitz im Leben" zu nennen pflegt. Gleichzeitig hat aber das Konzilsdokument auch am theologischen Charakter der Exegese festgehalten und die Schwerpunkte der theologiBezeichnend dafür sind die neuen Formen materialistischer und feministischer Auslegung der Bibel, vgl. z. B. K. Füssel, Materialistische Lektüre der Bibel, in: Theologische Berichte XIII, Methoden der Evangelien-Exegese (Einsiedeln 1985) 123-163. 7 Der Hauptvertreter dieser immer mehr an Boden gewinnenden tiefenpsychologischen Exegese ist E. Drewermann. Vgl. dazu G. Lohfink - R. Pesch, Tiefenpsychologie und keine Exegese (Stuttgart 1987). 6
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schen Methode in der Auslegung des Textes benannt: Die Grundvoraussetzung, auf der theologisches Verstehen der Bibel beruht, sei die Einheit der Schrift; dieser Voraussetzung entspreche als methodischer Weg die "analogia fidei", d. h. das Verstehen der Einzeltexte aus dem Ganzen heraus. Dazu kommen zwei weitere methodische Hinweise. Die Schrift ist eins von ihrem durchgehenden geschichtlichen Träger her, von dem einen Volk Gottes. Sie als Einheit lesen, heißt daher, sie von der Kirche als von ihrem Existenzort her lesen und den Glauben der Kirche als den eigentlichen hermeneutischen Schlüssel ansehen. Das bedeutet zum einen, daß die Tradition den Zugang zu ihr nicht verbaut, sondern öffnet; es heißt zum anderen, daß der Kirche in ihren amtlichen Organen das entscheidende Wort in der Schriftauslegung zukommt 8 • Dieser theologische Methodenkanon steht nun allerdings zur methodischen Grundorientierung der modernen Exegese in Widerspruch; er ist gerade das, was zu überwinden sie ausgezogen ist. Entweder - so könnte man von ihr her sagen - geschieht Auslegung kritisch oder durch Autorität, beides zugleich geht nicht. Die Bibel "kritisch" auslegen heißt eine autoritative Auslegungsinstanz hinter sich lassen. "Tradition" muß dann zwar nicht unbedingt als Verstehenshilfe abgelehnt werden, zählt aber nur, soweit ihre Begründungen den "kritischen" Methoden standhalten. In keinem Fall kann "Tradition" ein Auslegungsmaßstab sein. Aufs Ganze gesehen gilt die traditionelle Auslegung als vorwissenschaftlich und naiv; erst die historisch-kritische Interpretation erscheint als wirkliche Erschließung des Textes. So wird zuletzt auch die Einheit der Bibel zum überholten Postulat. Historisch betrachtet, gelte nicht nur für das Verhältnis von Altem und Neuem Testament, sondern auch innerhalb beider Testamente Diskontinuität, nicht Einheit. Von einem solchen Ausgangspunkt her erscheint der exegetische Auftrag des Konzils als in sich widersprüchlich - "kritisch" und "dogmatisch" zugleich, was dem modernen theologischen Denken als unversöhnbar gilt. Ich bin zwar persönlich überVgl. bes. Dei Verbum 11 und 12, dazu J. Gnilka, Die biblische Exegese im Lichte des Dekretes über die göttliche Offenbarung, in: MThZ 36 (1985) 1-19.
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zeugt, daß eine sorgfältige Lektüre des ganzen Textes von Dei Verbum die wesentlichen Elemente für eine Synthese zwischen historischer Methode und theologischer "Hermeneutik" finden kann, aber ohne weiteres greifbar ist dieser Zusammenhang nicht 9 • So hat die nachkonziliare Rezeption praktisch den theologischen Teil der Aussage als Zugeständnis an die Vergangenheit beiseite gelassen und den Text lediglich als uneingeschränkte offizielle Bestätigung der historisch-kritischen Methode aufgefaßt. Daß auf diese Weise nach dem Konzil die konfessionellen Unterschiede zwischen katholischer und evangelischer Exegese praktisch verschwunden sind, mag man auf das Gewinnkonto solch einseitiger Rezeption des Konzils setzen. Das Negative an dem Vorgang besteht darin, daß nun auch im katholischen Bereich der Hiatus zwischen Exegese und Dogma total geworden ist und daß auch in ihr die Schrift zu einem vergangenen Wort wurde, das jeder auf seine Weise in die Gegenwart zu transportieren versucht, ohne daß er dem Floß allzusehr vertrauen kann, auf das er sich dabei setzt. Der Glaube sinkt herab zu einer Art Lebensphilosophie, die sich der einzelne aus der Bibel zu destillieren versucht, so gut er es eben kann. Das Dogma, dem der Boden der Schrift entzogen worden ist, trägt nicht mehr. Die Bibel, die sich vom Dogma gelöst hat, ist zu einem Dokument des Vergangenen geworden und gehört damit selbst der Vergangenheit an. b) Die Aufgabe Diese Lage ist nicht überall gleich offenkundig. Die Methoden werden nicht immer mit derselben Radikalität gehandhabt und die Suche nach korrigierenden Elementen ist seit langem im Gang. Insofern betritt man mit dem Mühen um eine bessere Synthese von historischer und theologischer Methode, von Kritik und Dogma nicht einfach Neuland. Andererseits wird wohl kaum jemand behaupten wollen, daß ein überzeugendes Gesamtkonzept bereits gefunden sei, das den unwiderruflichen Erkenntnissen der historischen Methode Rechnung trägt, zugleich Vgl. Gnilka a. a. O. 1-9; siehe auch den Kommentar zum 3. Kapitel, von A. Grillmeier, in: LThK, Ergänzungsband II, 528-558.
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aber ihre Begrenzungen überwindet und sie in eine sachgemäße Hermeneutik hinein öffnet. Um dies zu erreichen, wird wenigstens noch die Arbeit einer ganzen Generation nötig sein. Was im Folgenden ausgeführt wird, möchte sich in ein solches Bemühen einordnen und einige Schritte aufzeigen, die auf diesem Weg vorwärtsführen können. Es braucht dabei nicht eigens bewiesen zu werden, daß die Zuflucht zu einer vermeintlich reinen Wörtlichkeit des Verstehens nicht weiterhilft und daß auch eine bloß positivistisch festgehaltene Kirchlichkeit ungenügend wäre. Ein Bestreiten einzelner, besonders gewagter und fragwürdiger Hypothesen genügt gleichfalls nicht. Ebenso ist ein lauwarmer Standpunkt ungenügend, bei dem man sich die jeweils am ehesten mit der Tradition verträglichen Antworten aus dem Angebot der modernen Exegese heraussucht. Solche Vorsicht kann nützlich sein, aber sie faßt das Problem nicht an der Wurzel und bleibt willkürlich, wenn sie ihre Gründe nicht verständlich machen kann. Um zu einer wirklichen Lösung zu kommen, muß man über den Streit um Details hinausgehen und zur Wurzel vordringen. Was wir brauchen, ist eine Kritik der Kritik, die aber nicht von außen, sondern nur aus dem selbstkritischen Potential des kritischen Denkens, aus seinem Inneren entwickelt werden kann: eine Selbstkritik der historischen Exegese, die sich zu einer Kritik der historischen Vernunft in Fortführung und Abwandlung der kantischen Vernunftkritiken ausweiten läßt. Ich maße mir nicht an, eine so große Aufgabe allein und gleichsam im Handstreich durchführen zu können. Aber man muß mit ihr anfangen, auch wenn es sich zunächst nur um erste Erkundungsfahrten in ein noch wenig erschlossenes Gelände handeln kann. Selbstkritik der historischen Methode müßte damit beginnen, daß sie ihre eigenen Ergebnisse diachronisch liest und damit von dem Anschein einer quasi-naturwissenschaftlichen Gewißheit abrückt, mit der bisher ihre Interpretationen weithin vorgetragen werden. Tatsächlich liegt der historisch-kritischen Methode das Bemühen zugrunde, im Feld der Geschichte einen ähnlichen Grad von methodischer Genauigkeit und damit von Gewißheit in den Ergebnissen zu erreichen, wie sie in der Naturwissenschaft vorliegt. Was der Exeget entschie-
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den hat, kann nur noch von Exegeten in Frage gestellt werden das ist die praktische Regel, die meist als geradezu selbstverständlich gültig vorausgesetzt wird. Nun müßte freilich gerade das naturwissenschaftliche Modell selbst dazu führen, daß man die Geltung der Heisenbergschen Unsicherheitsrelation auch auf die historische Methode anwendet. Heisenberg hat gezeigt, daß der Ausgang eines Experiments wesentlich vom Standpunkt des Betrachters mitbestimmt wird, ja, daß sein Fragen und Zusehen selbst verändernd in den "Naturvorgang" miteingeht lO • Das gilt im gesteigerten Maß im Umgang mit den Zeugnissen der Geschichte: Auslegung kann niemals einfach reine Reproduktion dessen sein, "wie es gewesen ist". Das Wort "Inter-pretation" führt hier auf die Spur der Sache selbst: Jede Auslegung verlangt ein "Inter", ein Hineintreten und Dazwischensein, ein Mitsein des Interpreten. Die reine Objektivität ist eine absurde Abstraktion. Nicht der Unbeteiligte erfährt, sondern Beteiligung ist die Voraussetzung für Erkenntnis. Es fragt sich nur, wie man zu einer Beteiligung kommt, bei der nicht das Ich die Stimme der anderen überschreit, sondern ein inneres "Einverständnis" mit dem Damaligen die Ohren für deren Wort rein werden läßt 1l. Das von Heisenberg auf naturwissenschaftliche Experimente hin formulierte Gesetz drückt einen Sachverhalt aus, der für das Subjekt-Objekt-Verhältnis ganz generell gilt. Das Subjekt ist aus keiner Konstellation reinlich herauszuhalten; man kann nur versuchen, es in eine optimale Verfassung zu bringen. Im Umgang mit der Geschichte gilt dies - wie gesagt - verstärkt, denn physikalische Prozesse sind gegenwärtig und wiederholbar, geschichtliche Vorgänge sind vergangen und nicht wiederholbar. Sie tragen überdies die Undurchdringlichkeit und die Tiefe des Menschlichen an sich und sind insofern noch weit mehr von der Haltung des vernehmenden "Subjekts" abhängig als naturgesetzliche Abläufe. Aber wie kommt man den Konstellationen des Subjekts auf die Spur? An dieser Stelle sollte das einsetzen, was Vgl. W. Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik (Reinbek 1955), bes. 15-23. 11 Ich beziehe mich hier auf P. Stuhlmacher, a. a. O. (s. Anm. 5), der seine eigene Antwort auf die Probleme in einer "Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten" formuliert (222-256). 10
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ich vorhin diachronischen Umgang mit exegetischen Ergebnissen genannt habe. Nach rund zweihundert Jahren historisch-kritischer Arbeit an den Texten kann man deren Ergebnisse nicht mehr flächenhaft lesen; man muß sie perspektivisch im Zusammenhang ihrer eigenen Geschichte sehen. Dann zeigt sich, daß diese Geschichte nicht einfach als Geschichte des Fortschritts von ungenauen zu genauen und objektiven Ergebnissen dasteht. Es wird sichtbar, daß dies vielmehr auch und vor allem eine Geschichte subjektiver Konstellationen ist, deren Wege genau den geistes geschichtlichen Entwicklungen entsprechen und sie in Form von Textinterpretationen widerspiegeln. In der diachronischen Lektüre der Exegese werden deren philosophische Voraussetzungen von selbst sichtbar. Aus der Distanz stellt ger Betrachter mit Erstaunen fest, daß die scheinbar streng wissenschaftlichen, rein "historischen" Interpretationen doch mehr "der Herren eigenen Geist" als den Geist der vergangenen Zeiten widerspiegeln. Das muß nicht zur Skepsis führen, wohl aber zur Selbstbegrenzung und zur Reinigung der Methode.
2. Selbstkritik der historisch-kritischen Methode am Paradigma der Methodenlehre von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann a) Die Hauptelemente der Methode und ihre Voraussetzungen Um nicht ganz im Abstrakten allgemeiner Regeln zu verbleiben, möchte ich versuchen, das Gesagte an einem Beispiel zu verdeutlichen. Ich stütze mich dabei auf die Baseler Dissertation von Reiner Blank über "Analyse und Kritik der formgeschichtlichen Arbeiten von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann" 12. Dieses Buch scheint mir ein ausgezeichnetes Beispiel für die von mir angesprochene Selbstkritik der historisch-kritischen Methode zu sein: Eine solchermaßen selbstkritisch gewordene Exegese hört auf, "Ergebnisse" an Ergebnisse zu reihen, Hypothesen aufzustellen und zu bestreiten. Sie blickt auf ihren Weg, um ihre 12
Basel 1981, Bd. XVI der Theologischen Dissertationen, hrsg. von Bo Reicke.
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Grundlagen zu erkennen und sich von der Reflexion dieser ihrer Grundlagen her zu reinigen. Damit hebt sie sich keineswegs selber auf. Im Gegenteil: Mit der Selbstbegrenzung findet sie auch ihren richtigen Ort. Zweifellos sind die formgeschichtlichen Arbeiten von Dibelius und Bultmann inzwischen in mancher Hinsicht überholt und im einzelnen korrigiert worden. Ihre methodischen Grundorientierungen bestimmen indes auch heute Methode und Weg der modernen Exegese. Ihre wesentlichen Elemente liegen weiterhin deren historischen und theologischen Urteilen zugrunde, ja, sie haben großenteils eine geradezu dogmatische Geltung erlangt. Dibelius wie Bultmann ging es darum, die Willkür zu überwinden, in die die vorausgehende Phase kritischer Exegese - die sogenannte liberale Theologie - bei ihren Urteilen über "historisch" und "unhistorisch" hineingeraten war. Die bei den Gelehrten suchen daher nach streng literarischen Kriterien, die den Werdeprozeß der neutestamentlichen Texte in einer verläßlichen Weise klären und damit ein getreues Bild der Überlieferung ergeben sollten. Aus diesem Grund waren beide auf der Suche nach der "reinen Form" und nach den Gesetzen, die von den Formen des Anfangs bis zu den uns vorliegenden Texten geführt haben. Dibelius ging dabei wie selbstverständlich von der Meinung aus, das Geheimnis der Geschichte lasse sich aufdecken, indem man ihr Gewordensein erhelle 13. Aber wie kommt man an den damit postulierten Anfang und zu den Verlaufsgesetzen der weiteren Entwicklung? Bei allen Unterschieden im einzelnen kann man hier eine Reihe von Grundvoraussetzungen aufdecken, die Dibelius und Bultmann gemeinsam sind und von beiden unbefragt als verlässig angesehen werden. Beide gehen vom Vorrang der Predigt vor dem Ereignis aus: im Anfang war das Wort. Alles entwickelt sich aus der Predigt. Bei Bultmann ist diese These so weit getrieben, daß für ihn nur das Wort ursprünglich sein kann; das Wort erzeugt die Szene 14. Alles, was Ereignis ist, ist demgemäß bereits sekundär, ist mythische Ausgestaltung. 13 Vgl. R. Blank, a. a. O. 72. Demgegenüber spricht E. Kästner, a. a. O. 120, von dem "Aberglauben ... , es sei alles und jedes aus seinen Entstehungen zu verstehen ... " 14 Vgl. R. Blank, a. a. 0.97.
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Damit ist ein weiteres Axiom schon mitgegeben, das seit Dibelius und Bultmann für die moderne Exegese konstitutiv geblieben ist: die Idee der Diskontinuität, nicht nur zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Überlieferung, zwischen vorösterlichem Jesus und der sich bildenden Kirche, sondern in allen Phasen der Überlieferung gilt Diskontinuität - bis zu dem Punkt, daß R. Blank feststellen konnte: "Bultmann intendierte Zusammenhanglosigkeit um jeden Preis."15 Ein Vorteil dieser These war es, daß auf solche Weise das Problem des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament entschärft war. Denn wenn schon innerhalb der neutestamentlichen Überlieferung stetige Diskontinuität waltet, ist die Diskontinuität zum Alten Testament hin kein eigentliches Problem mehr. Die von den neutestamentlichen Schriften behauptete Kontinuität der beiden Testamente gehört dann eben zu den vom Historiker durchschauten mystifizierenden Elementen, aus denen sich die spätere Gemeinde ihr Haus zimmerte. Aber zugleich wird an diesem Punkt blitzartig deutlich, wie sehr dieses Zurückgehen auf das angeblich Ursprüngliche sich von der konkreten Aussage des Neuen Testaments entfernt. Denn für dieses ist es konstitutiv, sich in Einheit mit dem gesamten Zeugnis des Alten Testaments zu wis·sen, das erst jetzt als Einheit und als sinnvolle Ganzheit verstanden werde. Tatsächlich wird sich jede Auslegung des N euen Testaments daran messen lassen müssen, ob sie mit dieser seiner Grundüberzeugung in Einklang treten kann. Wo sie unvollziehbar bleibt, ist ein nachvollziehendes Verstehen der inneren Logik der neutestamentlichen Schriften vom Ansatz her ausgeschlossen. Kehren wir zu Dibelius und Bultmann zurück. Mit der These von der Ursprünglichkeit allein des einfachen Wortes und der Diskontinuität zwischen den einzelnen Phasen seiner Entwicklung verbindet sich die Auffassunq, daß nur das Einfache anfänglich, das Komplizierte notwendigerweise spät sei. So ergibt sich ein leicht zu handhabender Parameter für die Bestimmung von Entwicklungsstadien: Je theologisch reflektierter und anspruchsvoller eine Aussage ist, desto jünger ist sie, und je einfa15
Ebd., 154.
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cher etwas ist, desto mehr kann man es dem Ursprung zurechnen 16. Aber der Maßstab, nach dem man etwas als entwikkelt oder weniger entwickelt ansieht, ist keineswegs so offenkundig, wie es fürs erste den Anschein hat. Das Urteil darüber hängt wesentlich von den eigenen theologischen Einschätzungen des Exegeten ab; der Willkür wird hier breiter Raum gelassen. Vor allem aber muß der Grundgedanke bestritten werden, der auf einer einfältigen Übertragung des naturwissenschaftlichen Evolutionsmodells auf die Geschichte des Geistes beruht. Geistige Vorgänge folgen nicht dem Gesetz animalischer Stammbäume. Hier ist es häufig genau umgekehrt: Einem großen Durchbruch folgen Generationen von Epigonen, die das Kühne des neuen Anfangs ins Banale von Schultheorien herunterholen, es verschütten und verdecken, bis es durch vielerlei Verzweigungen . hindurch wieder neu zur Wirkung kommt. Wie fragwürdig die angegebenen Maßstäbe sind, kann man an Beispielen leicht sehen: Wer würde behaupten wollen, Clemens von Rom sei "entwickelter" und "komplizierter" als Paulus? lakobus fortgeschrittener als der Römerbrief? Die Didache weiter als die Pastoralbriefe? Blicken wir auf spätere Zeiten: Ganze Generationen von Schülern des heiligen Thomas haben die Größe seiner Gedanken nicht zu halten vermocht; die lutherische Orthodoxie ist weit "mittelalterlicher" als Luther selbst. Und auch zwischen Großen kann man ein derartiges Entwicklungsschema nicht aufrechterhalten. Gregor der Große z. B. schreibt lange nach Augustinus und kennt ihn, aber bei ihm ist alles aus der kühnen Schau Augustins ins Einfache gläubigen Verstehens übersetzt. Ein anderes Beispiel: Mit welchem Maßstab möchte jemand deklarieren, ob Pascal vor oder nach Descartes einzuordnen sei, welches Denken 16 Vgl. Ebd., 89-183. Bezeichnend für die praktisch allgemeine Annahme dieses Maßstabs ist - um nur ein Beispiel zu nennen - die unreflektierte Selbstverständlichkeit, mit der L. Oberlinner die "zweifellos (etwa gegenüber Paulus) vorangeschrittene(n) Reflexion, beispielsweise in der Ekklesiologie und in der Eschatologie", die er in den synoptischen Evangelien gegeben sieht, als Datierungskriterium einsetzt (Rezension zu J. Carmignac. La naissance des Evangiles Synoptiques, Paris 1984, in: Theol. Rev. 83 [1987]194). Nach welchem Kriterium ist eine Reflexion als mehr und die andere als weniger fortgeschritten zu bezeichnen? Das hängt doch wohl vom Standort des Betrachters ab. Und selbst wenn der Maßstab zuträfe, wer beweist, daß daraus ein Früher bzw. Später folgt?
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als entwickelter zu gelten habe? Die Beispiele ließen sich die ganze Geschichte hindurch darstellen. Alle Urteile, die auf der Theorie von der Zusammenhanglosigkeit der Überlieferungen und auf der evolutionistischen Behauptung des Primates des "Einfachen" vor dem "Komplizierten" beruhen, sind daher von ihrem Ansatz her als unbegründet in Frage zu stellen. Nun müssen wir aber noch konkreter erklären, nach welchen Maßstäben man das "Einfache" festzulegen versuchte. Dafür gibt es formale und inhaltliche Kriterien. Formal suchte man nach den ursprünglichen Formen. Dibelius fand sie im Paradigma, der mündlich vorgetragenen Beispielerzählung, die sich hinter der Predigt rekonstruieren lasse. Späte Formen seien demgegenüber die "Novelle", die "Legende", die Sammlungen erzählenden Materials, der Mythos 17. Bultmann erblickt die reine Form im Apophthegma: "Das ursprüngliche Einzelstück sei abgerundet, knapp; dem Wort Jesu am Ende der Szene sei das Interesse gewidmet; Situationsangaben lägen dieser Form ferne; Jesus trete nie als Initiator auf ... Alles, was dieser Form nicht entsprach, schrieb Bultmann der Entwicklung zu." 18 Das Willkürliche dieser Festlegungen, die noch immer die Entwicklungstheorien und die Echtheitsurteile prägen, springt in die Augen. Um gerecht zu sein, muß man freilich sagen, daß sie so willkürlich nicht sind, wie es beim ersten Zuhören scheinen mag. Die Bestimmung der "reinen Form" beruht nämlich auf einer inhaltlichen Idee des Anfänglichen, die wir nun prüfen müssen. Ein erstes Element davon ist uns schon begegnet: Die These von der Priorität des Wortes vor dem Ereignis. Sie verbirgt zwei weitere Gegensatzpaare: das Ausspielen von Wort gegen Kult und von Eschatologie gegen Apokalypse. In engem Zusammenhang damit steht die Antithese von jüdisch und hellenistisch. Hellenistisch war z. B. für Bultmann der Kosmosgedanke, die . mystische Gottesverehrung, die Kultusfrömmigkeit. Die Konsequenz ist einfach: Was hellenistisch ist, kann nicht palästinensisch, also nicht ursprünglich sein. Was mit Kult, mit Kosmos, mit "Mystik" zu tun hat, muß als spätere Bildung ausscheiden. 17 18
R. Blank, 11-46. Ebd., 98.
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Die Ablehnung der "Apokalyptik" als eines angeblichen Gegensatzes zur "Eschatologie" führt noch auf ein weiteres Element hin: auf den behaupteten Antagonismus des Prophetischen gegen das "Gesetzliche" und so wieder gegen das Kultische wie gegen das Kosmische. Das bedeutet dann auch, daß "Ethik" als unvereinbar mit dem Eschatologischen und Prophetischen angesehen wird; am Anfang habe nicht "Ethik", sondern ein "Ethos" gestanden 19. Hier wirken sicher auch Grundentscheide Luthers nach: die Dialektik von Gesetz und Evangelium, die es nahelegt, Ethik und Kult dem Bereich des Gesetzes zuzuschreiben und damit in einen dialektischen Gegensatz zu Jesus zu stellen, der als Bringer des Evangeliums die Linie der Verheißung vollendet und damit das Gesetz überwindet. Insofern müßte man, um die moderne Exegese zu verstehen und richtig zu beurteilen, Luthers Sicht vom Verhältnis der beiden Testamente neu reflektieren; an die Stelle des bisherigen Modells der Analogie hat er eine dialektische Struktur gesetzt. Vielleicht ist diese Wende sogar der eigentliche Graben, der alte und neue Exegese trennt. Aber wie dem auch sei, bei Luther blieb dies alles noch in einer sehr subtilen Balance; auch für Jesus selbst und somit auch für das christliche Leben bleiben beide Seiten der Dialektik wesentlich - Jesus ist nicht nur die reine Rechtfertigung aus Gnade, sondern auch "Beispiel", und insofern gehört das Ethische in seine Gestalt hinein. Bei Bultmann und Dibelius hingegen ist das Ganze zu einem Entwicklungsschema entartet, dessen Simplizität schwer erträglich ist, auch wenn sie mit zu seiner Durchschlagskraft beigetragen hat. Das Bild Jesu ist mit diesen Voraussetzungen im voraus festgelegt. Jesus muß demnach streng "jüdisch" aufgefaßt werden; alles "Hellenistische" muß man von ihm entfernen. Apokalyptische, sakramentale, mystische Elemente scheiden aus; es bleibt ein streng "eschatologischer" Prophet, der eigentlich nichts Inhaltliches. verkündet, sondern nur "eschatologisch" in die Wachheit für das Ganz-An-
19 M. Dibelius, Die Unbedingtheit des Evangeliums und die Bedingtheit der Ethik, in: Christliche Welt 40 (1926), Sp. 1103-1120, bes. 1107 und 1109; ders., Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum (Göttingen 1925); vgl. dazu R. Blank, a.a.O. 66-71.
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dere, für die Transzendenz ruft, die er in der Form der Naherwartung des WeItendes fordernd vor die Menschen hinstellt. Der Exegese erwuchsen aus dieser Sicht zwei Aufgaben: Sie mußte erklären, wie es von dem unmessianischen, unapokalyptischen, prophetischen Jesus zur apokalyptischen Gemeinde kam, die ihn als Messias verehrte; zu einer Gemeinde, in der sich jüdische Eschatologie, stoische Philosophie und Mysterienreligion zu einem synkretistischen Phänomen verbunden hätten: So nämlich beschreibt Bultmann das Urchristentum 20. Die zweite Aufgabe besteht darin, die ursprüngliche Botschaft Jesu auf die christliche Existenz heute zu beziehen und damit "Verstehen" seines Anrufs zu ermöglichen. Die erste Aufgabe ließ sich nach dem Entwicklungsschema im Prinzip verhältnismäßig leicht lösen, wenn auch im einzelnen ein hohes Maß an Gelehrsamkeit dazu aufgeboten werden mußte. Der produktive Faktor, dem die neutestamentlichen Inhalte zu verdanken sind, wird nicht in Personen, sondern im Kollektiv, in der "Gemeinde" gesehen. Romantische Ideen vom "Volk" und von seiner Weise der Ausgestaltung von Überlieferungen spielen hier eine große Rolle 21. Dazu kommt die Hellenisierungsthese und der Rückgriff auf die religionsgeschichtliche Schule. Die Arbeiten von Gunkel und Bousset behielten in diesem Zusammenhang entscheidende Bedeutung 22. Die zweite Aufgabe war schwieriger. Bultmann hat sich ihr mit seiner Entmythologisierungsthese gestellt und dabei nicht annähernd den Erfolg erzielt, den er mit seinen Theorien über Form und Entwicklung erreichen konnte. Wenn man Bultmanns Weg gegenwärtiger Aneignung von Jesu Botschaft etwas vergröbernd charakterisieren darf, könnte man sagen: Der Marburger Gelehrte stellt eine Entsprechung zwischen dem Unapokalyptisch-Prophetischen und Grundgedanken des frühen Heidegger her. Christsein im Sinn Jesu fällt dann im wesentlichen mit jener Weise des Existierens in Offenheit und Wachheit zusammen, die bei Heidegger geschil20 Vgl. R. Bultmann, Urchristentum (Zürich 21954), bes. !Olff.; vgl. R. Blank, 172ff. 21 Vgl. R. Blank, 111; 175. 22 Vgl. W. Klatt, Hermann Gunkel- Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode (1969).
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dert ist. Die Frage, ob man zu so allgemeinen und weitgehend rein formalen Aussagen nicht auch auf einfacherem Wege kommen könne, mußte sich aufdrängen 23. Aber was uns hier interessiert, ist nicht der Systematiker Bultmann, dessen Wirkung durch das Aufkommen der Marxismuswelle ohnedies ein abruptes Ende fand. Hier geht es um den Exegeten Bultmann, der seinerseits für einen noch immer wirksamen methodischen Grundkonsens der wissenschaftlichen Exegese steht. In unserer Analyse ist sichtbar geworden, daß auch der Exeget Bultmann Systematiker ist und daß seine exegetischen Ergebnisse nicht Produkt historischer Wahrnehmung sind, sondern aus einem Gefüge systematischer Vorentscheidungen stammen. Kar! Barth hat recht mit seiner Feststellung: "Bultmann ist Exeget. Aber ich denke nicht, daß man exegetisch mit ihm diskutieren kann, weil er zugleich ein Systematiker von solchem Format ist, daß es wohl keinen Text geben dürfte, in dessen Behandlung nicht sofort gewisse Axiome seines Denkens sichtbar werden, daß an der Frage ihrer Gültigkeit schlechterdings alles sich entscheidet." 24 b) Der philosophische Ursprung der Methode An dieser Stelle steht die Frage auf, warum für Dibelius und Bultmann ihre wesentlichen Urteilskategorien - reine Form, Gegensatz von semitisch und griechisch, von kultisch und prophetisch, von apokalyptisch und eschatologisch usw. - eine solche Evidenz hatten, daß sie glaubten, hier das reine Instrumentar geschichtlicher Erkenntnis vor sich zu haben. Warum wird dieses Kategoriengefüge im großen und ganzen auch heute unbefragt vorausgesetzt und angewandt? Inzwischen ist das meiste davon einfach Schulgewißheit geworden, die dem einzelnen vorausgeht und die durch die Selbstverständlichkeit ihrer Anwendung legitimiert zu sein scheint. Aber wie steht es bei den Begründern der Methode? Gewiß, auch Dibelius und Bultmann standen schon in Vgl. die in der Entmythologisierungsdebatte gestellten Fragen. Die wichtigsten Beiträge dieser Diskussion finden sich gesammelt in den fünf von H. W. Bartsch herausgegebenen Bänden Kerygma und Mythos (Hamburg 1948-1955). 24 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III 2 (1959) 534; hier zitiert nach R. Blank, a.a.O.148. 23
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einer Tradition; ihre Abhängigkeit von Gunkel und Bousset wurde schon erwähnt. Aber welches Denken leitete sie dabei? Mit dieser Frage geht die Selbstkritik der historischen Methode in eine Selbstkritik der historischen Vernunft über, ohne die unsere Analyse im Vordergründigen steckenbleiben würde. Zunächst kann man sagen, daß in der religionsgeschichtlichen Schule das Evolutionsmodell auf die Analyse der biblischen Texte übertragen wurde. Es ist der Versuch, Methoden und Modelle der Naturwissenschaft auch im Bereich der Geschichte zur Anwendung zu bringen. Bultmann hat diesen Gedanken genereller gefaßt, indem er dem sogenannten naturwissenschaftlichen Weltbild eine Art von dogmatischem Charakter verlieh. So war für ihn z. B. die Ungeschichtlichkeit der Wunderberichte überhaupt keine Frage mehr; man brauchte nur noch zu erklären, wie es zu Wundergeschichten kam. Die Vorstellung vom naturwissenschaftlichen Weltbild war einerseits vage und nicht reflektiert; andererseits bot es einen absoluten Maßstab für das, was gewesen sein konnte und für das, was nur in seiner Gewordenheit aufgeklärt werden mußte. Zu letzterem gehörte alles, was in der heutigen Durcl1schnittserfahrung nicht vorkommt 25. Es konnte nur das geben, was es immer gibt, und deshalb mußten für alles andere historische Prozesse erfunden werden, deren Rekonstruktion zur eigentlichen Aufgabe der Exegese wurde. Ich denke, man müsse aber doch noch einen Schritt tiefer vordringen, um den systematischen Grundentscheid zu verstehen, der die einzelnen Urteilskategorien gezeugt hat. Die eigentliche philosophische Voraussetzung des Ganzen scheint mir in der von 25 Brillante Analysen zu diesem Sachverhalt findet man bei P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz (Frankfurt 1970) (amerikanische Originalausgabe: A Rumor of Angels. Modern Society and the Rediscovery of the Supernatural (New York 1969). Hier nur ein Zitat: "Die Gegenwart aber ist offenbar immun gegen jegliche Relativierung. Den Autoren des Neuen Testaments wird ein falsches, in ihrer Zeit gegründetes Bewußtsein angekreidet. Der moderne Gelehrte dagegen scheint das Bewußtsein seiner, unserer Zeit ungeprüft als ungeteilten Segen hinzunehmen. Mit anderen Worten: intellektuell werden Elektriker oder Radiohörer über den Apostel Paulus gestellt." Zur Frage des Weltbildes wichtige Reflexionen bei H. Gese, Zur biblischen Theologie (München 1977) 202-222.
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Kant vollzogenen philosophischen Wende zu liegen. Danach kann die Stimme des Seins an sich vom Menschen nicht vernommen werden; er kann sie nur indirekt hören, in den Postulaten der praktischen Vernunft, die sozusagen der schmale Schlitz geblieben sind, durch den sich dem Menschen der Kontakt mit dem Eigentlichen, mit seiner ewigen Bestimmung zuträgt. Im übrigen, im Inhaltlichen seiner Vernunfttätigkeit muß er sich auf den Bereich des Kategorialen bescheiden. Daraus wird dann die Beschränkung aufs Positive, aufs Empirische, auf die "exakte" Wissenschaft, in der per definitionem das Ganz-Andere, der Ganz-Andere, ein neuer Anfang aus einer anderen Ebene nicht vorkommen kann. Ins Theologische übersetzt heißt dies, daß sich Offenbarung ins rein Formale der "eschatologischen" Haltung zurückziehen muß, die dem kantischen Spalt entspricht 26. Im übrigen aber hat sie alles zu "erklären": Was sonst als direkte Kundgabe des Göttlichen erscheinen mochte, kann nur Mythos sein, dessen Entwicklungsgesetze gefunden werden können. Von dieser Grundüberzeugung her liest Bultmann - und mit ihm der größere Teil der modernen Exegese - die Bibel. Sie ist sich gewiß, daß es so, wie es in der Bibel geschildert wird, nicht gewesen sein kann, und findet Methoden, durch die herausgestellt werden soll, wie es in Wirklichkeit gewesen sein muß. Insofern liegt in der modernen Exegese eine reductio historiae in philosophiam vor, eine Rückführung der Geschichte auf Philosophie und durch Philosophie. Die eigentliche Frage ist also: Kann man die Bibel auch anders lesp.n? Oder richtiger: muß man der Philosophie zustimmen, die zu solcher Art von Lektüre zwingt? Die Debatte um die moderne Exegese ist in ihrem Kern nicht eine Debatte unter Historikern, sondern eine philosophische Debatte. Nur so wird sie richtig geführt; im anderen Fall bleibt es bei einem Gefecht im Nebel. Insofern ist das exegetische Problem mit dem Grundlagenstreit unserer Zeit überhaupt identisch. Ein solcher Streit 26 Vgl. R. Blank, 137: "Die Ungeschichtlichkeit der Wundergeschichten war für ihn (= Bultmann) keine Frage." Zum kantisch-philosophischen Hintergrund und zu dessen Kritik vgl. J. Zöhrer, Der Glaube an die Freiheit und der historische Jesus. Eine Untersuchung der Philosophie Kar! Jaspers' unter christologischem Aspekt (Frankfurt 1986).
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kann nicht beiläufig geführt und nicht mit ein paar Andeutungen an sein Ziel gebracht werden. Er fordert, wie schon gesagt, den aufmerksamen und kritischen Einsatz einer ganzen Generation. Er kann sich auch nicht einfach auf das Mittelalter oder auf die Väter zurückziehen und sie dem Geist der Neuzeit entgegenhalten. Aber er kann umgekehrt auch nicht auf die Einsichten der großen Glaubenden aller Zeiten verzichten und so tun, als ob die Geschichte des Denkens im Ernst erst mit Kant beginne. An dieser Horizontbeschränkung leidet meines Erachtens weithin die neuere Debatte um das Problem biblischer Hermeneutik. Die Väterexegese ist nicht damit abgetan, daß man sie als "allegorisch" bezeichnet, und die Philosophie des Mittelalters nicht damit zu erledigen, daß man sie als "vorkritisch" einordnet.
3. Grundelemente einer neuen Synthese Nach den Hinweisen zur Aufgabe einer Selbstkritik der historischen Methode stehen wir so vor der positiven Aufgabe, deren Instrumente mit einer besseren Philosophie zu verbinden, die weniger textfremde Vorgaben enthält, weniger willkürlich ist und mehr Voraussetzungen für ein wirkliches Zuhören auf den Text bietet. Das positive Unternehmen ist zweifellos noch schwieriger als das kritische. Ich möchte am Schluß meiner Überlegungen nur versuchen, ein paar erste Schneisen in das Dickicht zu schlagen, die vielleicht andeuten können, wo und wie hier Wege zu finden wären. 1. Gregor von Nyssa hat im theologischen Methodenstreit seiner Zeit den theologischen Rationalisten Eunomius aufgefordert, Theologie nicht mit Physiologie zu verwechseln (9WAOYEtV ist nicht
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Theologie, ein anderes die Wissenschaft von den Naturen", sagt er. Man könne nun einmal nicht "gleichsam in der Spanne einer Kinderhand die unumfaßbare Natur Gottes einschließen". Gregor spielt damit auf einen berühmten Ausspruch Zenons an: "Die offene Hand ist die Wahrnehmung, die zuklappende Hand die geistige Zustimmung, die völlig über dem Gegenstand geschlossene Hand das urteilende Erfassen, die von der anderen Hand umschlossene Hand die systematische Wissenschaft." 28 Die moderne Exegese hat zwar, wie wir sahen, Gott ins gänzlich Unfaßbare, Unwe1tliche und damit nie Auszusagende verwiesen, aber nur, um dann den Text der Bibel selbst als ganz weltliche Sache nach naturwissenschaftlichen Methoden behandeln zu können. Dem Text gegenüber übt sie das
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göttlichen Worte, die die Augen der Seele überfunkeln ... Stieße nun aber auch unserer Seele zu, was wir von Elija hören, würde auch unser Sinnen emporgerissen in feurigem Wagen ... , so bräuchten wir die Hoffnung nicht aufzugeben, uns diesen Sternen zu nähern, den göttlichen Gedanken meine ich ... " 30 Damit soll nicht irgendeiner Schwärmerei das Wort geredet sein; wohl aber muß die Bereitschaft gefordert werden, sich der inneren Dynamik des Wortes zu öffnen, das nur in einer Sym-pathie zum Verstehen geführt werden kann, die bereit ist, Neues zu erfahren, sich auf einen neuen Weg mitnehmen zu lassen. Nicht die geschlossene Hand, sondern das offene Auge ist verlangt ... 2. Demgemäß darf der Exeget auch nicht mit einer fertigen Philosophie an die Auslegung des Textes herantreten, nicht mit dem Diktat eines sogenannten modernen oder "naturwissenschaftlichen" Weltbildes, welches festlegt, was es geben und was es nicht geben darf. Er darf nicht apriori ausschließen, daß Gott in Menschenworten als er selbst in der Welt sprechen könne; er darf nicht ausschließen, daß Gott als er selbst in der Geschichte wirken und in sie eintreten könne, so unwahrscheinlich ihm dies auch erscheinen mag. Er muß bereit sein, sich vom Phänomen belehren zu lassen. Er muß bereit sein, anzunehmen, daß es dies gebe in der Geschichte: den wirklichen Anfang, der als solcher nicht aus dem vorher Gegebenen abgeleitet werden kann, sondern sich aus sich selber öffnet 31. Er darf auch dem Menschen nicht die Fähigkeit absprechen, über die Kategorien der reinen Vernunft hinaus hörfähig zu sein, imstande, sich selbst in die offene und unendliche Wahrheit des Seins hinein zu übersteigen. Das von Kant scharfsichtig formulierte Problem, vor dem wir hier stehen, ist übrigens von den Vätern und den großen Theologen des Mittelalters durchaus gesehen worden. So sagt Gregor von Nyssa einmal: "Die gesamte Kreatur vermag nicht, sich ... außerhalb ihrer selbst zu versetzen. Sie bleibt stets innerhalb ihrer selbst. Was immer sie au<.:h erblicken mag, sie erblickt sich Gregor von Nyssa. horn. 10 in cant PG 44, 980 B- C. In der Ausgabe von W. Jaeger (ed. H. Langerbeck, [Leiden 1960]) VI 295,5-296,3. Deutsche Übersetzung von H. U. von Balthasar (s. Anmerkung 28!) 78. 31 Vgl. Guardini, a. a. O. 11. 30
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selbst ... " 32 Im gleichen Sinn sagt Thomas von Aquin, das menschliche Erkennen erreiche nicht die Wahrheit an sich, sondern immer eine menschliche Wirklichkeit, die freilich zur Entdeckung anderer Wahrheiten führt. Anders gesagt: Geistige Wahrheiten werden immer nur metaphorisch, mittels anderer Dinge erfaßt 33. Aber charakteristisch für die großen Theologen ist es, daß sie diese ihre philosophische Evidenz nicht zum Maßstab dessen machen, was an den biblischen Berichten wahr sein kann, sondern vom begegnenden Phänomen des biblischen Wortes her ihr Denken ausweiten. Gregor von Nyssa tut es auf zwei Wegen: Der Mensch, der sich im Kerker seines kreatürlichen Seins und Erkennens gefangen findet, trägt dennoch in sich die Sehnsucht nach Ausbruch, trägt in sich den Richtungspfeil auf die unendliche Liebe hin. Und gerade darin zeigt sich Gott in ihm selbst. Er ist in sich selbst Spiegel Gottes, und wenn er sich ganz wahrnimmt, nimmt er mehr wahr als sich: die Spiegelung des reinen Lichtes in seinem Inneren. Der Mensch kann zwar nicht über sich hinausdringen, aber Gott kann in ihn hineindringen. Der Mensch kann in der Dynamik seines Seins sich zugleich überschreiten; er wird Gott ähnlicher, und Ähnlichkeit ist Erkennen - wir erkennen, was wir sind, nicht mehr und nicht weniger. Dazu kommt bei Gregor ein zweiter Gedanke: dieses Hereintreten Gottes in den Menschen hat in der Menschwerdung geschichtliche Gestalt angenommen. Die einzelnen Menschmonaden sind aufgesprengt in das neue Subjekt des neuen Adam hinein. Gott verwundet die Seele - der Sohn ist diese Wunde, und damit sind wir geöffnet. Das neue Subjekt des in der Kirche eins werdenden Adam ist von innen her in Berührung mit dem Sohn und so mit dem dreifaltigen Gott selbst 34. Thomas von Aquin hat diese beiden Gedanken metaphysisch gefaßt in den· Prinzipien der Analogie und der Partizipation und damit eine offene Philosophie ermöglicht, die das biblische Phänomen in sei32 H. U. von Balthasar, a. a. O. 16; vgl. ders., Presence et Pensee, Essai sur la Philosophie Religieuse de Gregoire de Nysse (Paris 1942). 33 S. theol.l q 88 art I resp; vgl. q 84 art. 7; vgl. auch q 13 art. 6. Siehe dazu die wichtige Arbeit von M. Arias-Reyero, Thomas von Aquin als Exeget (Einsiedeln 1971) 176 und 204, auf die ich mich im folgenden stütze. 34 von Balthasar, a. a. O. 10-24.
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nem Radikalismus annehmen kann. Gegenüber dem Dogmatismus eines angeblich naturwissenschaftlichen Weltbildes müßte in der Richtung solcher offener Philosophie heute weitergedacht werden, um die Voraussetzungen für ein Verstehen der Bibel wiederzufinden 35. 3. Dementsprechend muß auch das Verhältnis von Ereignis und Wort neu gesehen werden. Für Dibelius, Bultmann und den Hauptstrom der modernen Exegese ist das Ereignis das Irrationale; es liegt im Bereich der reinen Faktizität, die aus Zufall und Notwendigkeit zusammengesetzt ist. Das Faktum kann daher als solches nicht Sinn-Träger sein. Der Sinn liegt nur im Wort, und wo Ereignisse selbst Sinnträger zu sein scheinen, müssen sie als Illustrationen des Wortes betrachtet, auf dieses zurückgeführt werden. Urteile, die aus diesem Denkansatz kommen, haben zwar für den heutigen Menschen ein hohes Maß an Evidenz, das unserer aktuellen Plausibilitätsstruktur entspricht, aber keineswegs in der Struktur der Wirklichkeit als solcher gründen muß. Solche Evidenz gilt nur unter der Voraussetzung, daß das methodische Prinzip der Naturwissenschaft, daß alles Vorkommende kausal, aus rein immanenten Wirkungszusammenhängen erklärt werden kann, nicht nur methodisch gilt, sondern in sich wahr ist. Dann gibt es in der Tat nur "Zufall und Notwendigkeit", nichts sonst, dann darf man Fakten nur als bruta facta betrachten. Aber was als methodisches Prinzip der Naturwissenschaft nützlich ist, ist als philosophisches Prinzip bereits eine Plattheit und als theologisches Prinzip ein Widersinn. Hier muß, auch schon der wissenschaftlichen Neugier wegen, mit dem genau umgekehrten Prinzip experimentiert werden: daß es auch anders sein kann. Wiederum kann hier Thomas von Aquin, der das philosophische Denken von mehr als eineinhalb Jahrtausenden zusammenfaßt, als Verweis auf ein Gegenmodell dienen. Für ihn gilt, daß die Natur, die Himmelskörper, die Dinge überhaupt, das Leben, die Zeit einen Lauf verfolgen, d. h. eine auf ein Ziel hin gerichtete Bewegung. Wenn die Dinge ihr Ziel erreicht haben, kann man den wahren Sinn entdecken, der gleichsam in ihnen verborgen lag. Dieser am Ende der Bewegung in Erscheinung tretende 35
Reiches Material dazu bei Arias, a. a. 0., bes. 192-206.
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Sinn übersteigt denjenigen Sinn, den man in den einzelnen Teilabschnitten des zurückgelegten Laufes erschließen konnte. "Dieser neue Sinn setzt damit die Existenz einer göttlichen Vorsehung voraus, die Existenz einer ans Ziel kommenden (Heils)- Geschichte." 36 Das Handeln Gottes erscheint also als Prinzip der Verständlichkeit der Geschichte. Das einheitsstiftende Prinzip der gesamten vergangenen und gegenwärtigen "Geschichte, das ihr erst Sinn verleiht, ist aber das historische Christus ereignis. Dieses gibt auch der Zukunft ihre Einheit." 37 "Die Epochen der menschlichen Geschichte sind durch eine Tat geeint" 38 - durch die Christustat ; auf ihr beruht die Beziehung des Menschen zu Gott. "Die ganze Geschichte und die gesamte Schrift müssen von dieser Tat aus betrachtet werden." 39 Das bedeutet dann, daß die im Alten Testament geschehenen Taten auf einer zukünftigen Tat fußen und erst von ihr her richtig verstanden werden können. Dies wiederum besagt, daß Wort, Wirklichkeit und Geschichte nicht voneinander getrennt sind. "Denn das Wort Gottes wirkt, was es bezeichnet; von ihm her kann es keine Trennung zwischen Tat und Wort geben."40 Anders gesagt: das Ereignis selbst kann ein " Wort" sein, wie es der biblischen Terminologie entspricht 41 . Daraus folgen zwei wichtige Grundregeln für die Auslegung: a) Wort und Ereignis müssen als gleich ursprünglich betr.achtet werden, wenn man in der eigenen Optik der Bibel verbleiben will. Der Dualismus zwischen Wort und Ereignis, der das Ereignis ins Wort-lose, d. h. ins Sinnlose verbannt, nimmt in Wirklichkeit auch dem Wort seine sinnvermittelnde Kraft, weil es dann in einer sinnleeren Welt steht. Er führt zu einer doketischen Christologie, in der die Wirklichkeit, d. h. die konkrete leibliche Existenz Christi und des Menschen überhaupt, aus dem Sinnbereich Arias, a. a. O. 85; dort ausführliche Belege aus den Schriften des hl. Thomas. Arias, 106. 38 Arias, 107. 39 Ebd. 40 Arias. 102. 41 VgJ. dazu J. Bergmann, H. Lutzmann, W. H. Schmidt, däbär, in: G. J. Botterweck, H. Ringgren (Hrsg.), Theol. Wörterbuch zum AT II (1977) 89-133; O. Procksch, Myro K'tA in: ThWNT IV, bes. 91-97. Zur Einheit von Wort und Wirklichkeit bei Thomas s. Arias. a. a. O. 102, 246f. u. Ö. 36
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herausgenommen wird. Damit wird das Wesentliche des biblischen Zeugnisses verfehlt. b) Ein solcher Dualismus schneidet aber auch das biblische Wort von der Schöpfung ab und hebt den Sinnzusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament aufzugunsten eines Prinzips der Zusammenhanglosigkeit. Wo der Zusammenhang von Wort und Ereignis fallengelassen wird, gibt es keine Einheit der Schrift mehr. Ein vom Alten getrenntes Neues Testament ist aber in sich selbst aufgehoben, weil es seinem eigenen Anspruch nach nur durch diese Einheit besteht. Dem Prinzip der Diskontinuität muß daher aus dem inneren Anspruch des biblischen Textes selbst heraus das Prinzip der analogia scripturae entgegentreten; dem mechanischen Prinzip ein teleologisches 42. Texte müssen gewiß zunächst auf ihren historischen Ort zurückgeführt und in ihrem geschichtlichen Kontext ausgelegt werden. Man muß sie aber dann in einem zweiten Auslegungsgang auch von der Ganzheit der geschichtlichen Bewegung und von der Ereignismitte Christus her sehen. Erst der Zusammenklang beider Methoden ergibt Verstehen der Bibel. Wenn den Vätern und dem Mittelalter der erste Auslegungsgang weitgehend fehlte und der zweite damit leicht ins Willkürliche geriet, so fehlt uns heute der zweite. Damit wird der erste belanglos, ja, auch hier führt die Leugnung des Sinnzusammenhangs dann zu methodischer Willkür. Die inneren Selbsttranszendierungen des jeweiligen geschichtlichen Wortes zu erkennen und damit das innere Recht der relectures, in denen in der Bibel Ereignis und Sinn progressiv ineinander verknotet sind, gehört zu den Aufgaben sachgemäßer Auslegung, für die entsprechende Methoden gefunden werden können und müssen. In diesem Sinn gilt die exegetische Maxime des Thomas von Aquin: "Aufgabe des guten Auslegers ist es, nicht Wörter zu betrachten, sondern den Sinn." 43 4. Um die Selbsttranszendierung der einzelnen Schrifttexte ins Ganze hinein zu begründen und methodisch zugänglich zu 42 Zum richtigen Verständnis von Teleologie R. Spaemann, R. Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des theologischen Denkens (München-Zürich 1981). 43 Officium est enim boni interpretis non considerare verba, sed. sensum. In Matth. XXVII, I n. 2321, ed. R. Cai (Turin-Rom 1951) 358; vgl. Arias. a.a. 0.161.
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machen, hat die Tradition über die christologische Zentrierung hinaus ein zweites Prinzip formuliert: "Die "christologische" Sicht wird durch eine eigentlich "theologische" im strengen Sinn des Wortes ergänzt 44. Das will sagen: Alle Schriftworte sind Menschenworte und zunächst als solche auszulegen. Aber sie beruhen auf "Offenbarung", d. h. auf dem Berührtwerden von einer Erfahrung, die über den eigenen Erfahrungsvorrat des Verfassers hinausgeht. In Menschenworten spricht Gott, und so entsteht die eigentümliche Inkongruenz des konkreten Wortes gegenüber dem, wovon es kommt. In heutiger Theologensprache ist es üblich, die Bibel einfach "die Offenbarung" zu nennen. Das wäre den Alten nie in den Sinn gekommen. Offenbarung ist ein dynamischer Vorgang zwischen Gott und Mensch, der immer wieder nur in der Begegnung Wirklichkeit wird. Das biblische Wort bezeugt die Offenbarung, faßt sie aber nicht so, daß sie darin aufginge und nun wie ein Ding in die Tasche gesteckt werden könnte. Die Bibel bezeugt die Offenbarung, aber der Begriff Offenbarung als solcher reicht weiter. Praktisch bedeutet dies: Ein Text kann mehr besagen, als sein Autor selbst sich dabei zu denken vermochte 45. Das gilt schon für große dichterische Texte und gilt erst recht für das biblische Wort. Es gibt einen Sinnüberschuß des Einzeltextes über seinen unmittelbaren historischen Standort hinaus, und darum bestand die Möglichkeit, ihn in einem neuen historischen Kontext aufzugreifen und in größere Bedeutungszusammenhänge zu stellen - das Recht der relecture. Deshalb hat die Ganzheit der Schrift ihren eigenen Rang; sie ist mehr als der zusammengestückelte Teppich dessen, was die einzelnen Autoren an ihrem jeweiligen geschichtlichen Ort selbst intendieren konnten. Man hat die Ganzheit noch nicht, wenn man alle Teile einzeln hat. Daher müßte für die Auslegung gelten, was M. Buber über seine gemeinsame Arbeit mit F. Rosenzweig an Vgl. Arias. a.a.O. 153-262. Ich darf dazu auf meine Analyse des Offenbarungs begriffs bei Bonaventura verweisen: J. Ratzinger, Die Geschichtstheologie des hl. Bonaventura (München-Zürich 1959) bes. 58-61; einige Hinweise auch in meinem Vortrag: Buchstabe und Geist des Zweiten Vatikanums in den Konzilsreden von Kardinal Frings, in: Internat. kath. Zeitschrift 16 (1987) 251-265. Vgl. auch K. RahnerJ. Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung (Freiburg 1965) 34-38. 44 45
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ihrer Bibelübersetzung berichtet. Sie achteten sehr wohl auf die heute festgestellten Quellenschichten, die sie mit den üblichen Abkürzungen bezeichneten. Aber sie wollten doch nicht einzelne Stimmen übersetzen, sondern letztlich maßgebend war für sie die konkrete Ganzheit des biblischen Textes, die sie mit der Kürzel R benannten. Exegetisch-technisch sollte dies schlicht "Redaktor" bedeuten. Aber für sich selbst übersetzten sie R mit "Rabbenu" - unser Meister. Der Text in seiner Ganzheit ist unser Meister". Er drückt in seiner Ganzheit eine Absicht aus, die über die vermuteten Intentionen der einzelnen Quellen hinausreicht. 46 Die Auslegung kann sich gewiß (und muß es vielleicht) mit J, P, E usw. befassen, aber das letzte Ziel rechter Auslegung muß sein R, d. h. den konkreten biblischen Text als in sich sinnvolle Ganzheit zu verstehen. 5. Die Exegese hat in den letzten hundert Jahren Großes geleistet, aber sie hat auch große Irrtümer hervorgebracht, und die sind noch dazu zum Teil zu Schuldogmen geworden, die anzugreifen von manchen geradezu als Sakrileg gewertet wird, besonders wenn dies von Nichtexegeten geschieht. Ein so großer Exeget wie H. Schlier hat seine Kollegen davor gewarnt, ihre Zeit mit Unnützem zu vergeuden 47. J. Gnilka hat kürzlich diese Warnung konkretisiert, indem er sich gegen eine übertriebene Betonung der Traditionsgeschichte wandte 48. In derselben Richtung möchte ich die folgenden Desiderate formulieren: a) Der Zeitpunkt für eine gründliche neue Methodenreflexion der Exegese scheint gekommen zu sein. Die wissenschaftliche Exegese muß das philosophische Element an einer Reihe ihrer Grundaxiome erkennen, und sie muß von da aus auch die Ergebnisse überprüfen, die auf diesen Axiomen beruhen. b) Exegese kann nicht mehr einlinig-synchron studiert werden, nach der Weise naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die nicht von ihrer Geschichte abhängen, sondern allein von der Genauigkeit ihrer Meßdaten. Die Exegese muß sich selbst als eine M. Buher, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift (Olten 1954) 7f. und 40f. H. Schlier, Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift? in: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge II (Freiburg 1964) 35-62, hier 62; vgl. J. Gnilka, a.a.O. (s. Anm. 8) 14. 48 A. a. O. 14.
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geschichtliche Disziplin erkennen. Ihre Geschichte gehört zu ihr selbst; in der kritischen Einordnung ihrer jeweiligen Positionen in das Ganze ihrer Geschichte wird sie zum einen die Relativität ihrer Urteile erkennen, zum anderen besser den Durchblick auf ein wirkliches, wenn auch immer unfertiges Verstehen des biblischen Wortes gewinnen. c) Philologische und literaturwissenschaftliche Methoden sind und bleiben für die rechte Exegese von entscheidender Bedeutung. Aber zu ihrer wirklich kritischen Anwendung gehört gerade bei einem Text dieses Anspruchs - auch eine Kenntnis der philosophischen Implikationen des Auslegungsvorgangs. Das selbstkritische Studium der eigenen Geschichte muß auch ein Studium der wesentlichen philosophischen Alternativen des menschlichen Denkens sein. Dabei genügt es nicht, auf die letzten hundertfünfzig Jahre zu schauen. Die großen Entwürfe des patristischen und des mittelalterlichen Denkens müssen miteinbezogen werden. Ebenso ist es unerläßlich, die Grundentscheidungen der Reformation mit ihren Entscheidungen für die Geschichte der Auslegung zu reflektieren. d) Wir brauchen im Augenblick keine neuen Hypothesen über Sitze im Leben, über mögliche Quellen und zugehörige Traditionsvorgänge. Wir brauchen eine kritische Sichtung der vorhandenen exegetischen Landschaft, um wieder zum Text zu kommen und die weiterführenden Hypothesen von den unbrauchbaren zu scheiden. Nur unter diesen Voraussetzungen kann auch eine neue fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Exegese und Systematischer Theologie aufkommen; nur so kann Exegese wirklich Dienst am Verstehen der Bibel sein. e) Endlich muß der Exeget erkennen, daß er nicht auf einem neutralen Ort oberhalb oder außerhalb der Geschichte und der Kirche steht. Eine solche vermeintliche Direktheit des rein Historischen kann nur zu Kurzschlüssen führen. Die erste Voraussetzung aller Exegese ist, daß sie die Bibel als ein Buch nimmt. Tut sie dies, so hat sie sich schon einen Ort erwählt, der aus dem bloß Literarischen nicht folgt. Sie hat diese Literatur als Produkt einer zusammenhängenden Geschichte und diese Geschichte als den eigentlichen Ort des Verstehens erkannt. Will sie Theologie sein, muß sie einen Schritt weitergehen: Sie muß anerkennen, 43
daß der Glaube der Kirche jene Art von Sym-pathie ist, ohne die sich der Text nicht öffnet. Sie muß diesen Glauben als Hermeneutik, als Ort des Verstehens anerkennen, der die Bibel nicht dogmatisch vergewaltigt, sondern die einzige Möglichkeit bietet, sie sie selber sein zu lassen. Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angelangt. Die Sackgassen der kritischen Methode haben wieder deutlich werden lassen, daß das Verstehen den Verstehenden verlangt den Schlüssel, ohne den ein Text der Gegenwart nichts zu sagen hat. Es bleibt die große Leistung Bultmanns, die Notwendigkeit der Hermeneutik klar herausgestellt zu haben, auch wenn er in Voraussetzungen gefangen blieb, die seine Lösungen weitgehend entwerten. Vielleicht kann die Aporie der gegenwärtigen Versuche dazu dienen, nun auch neu zu begreifen, daß tatsächlich der Glaube jener Geist ist, aus dem die Schrift geboren wurde und daher die einzige Tür, um in ihr Inneres einzutreten.
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Heilige Schrift, Konsens und Gemeinschaft Von George Lindbeck
1. Einleitung Das Thema, mit dem sich der folgende Beitrag befaßt, ist die Notwendigkeit und Möglichkeit, in einem postkritischen Kontext jenes Grundmuster von Lektüre und Gebrauch der Bibel wiederzugewinnen, das von der Frühzeit der Kirche bis weit ins 17. Jahrhundert vorherrschte. Diese Hermeneutik verlieh der Bibel ein konsens- und gemeinschafts bildendes Potential, das immer wieder verwirklicht wurde, aber an dem es in neuerer Zeit sehr gefehlt hat. Sie brachte Interpretationen hervor, die sich von denen der modernen Bibelwissenschaft zwar unterscheiden, aber ihnen nicht notwendigerweise widersprechen. Ihr Hauptfeind , war der rationalistische und empiristische Literalsinn der Moderne, ihr Ende fand vor dem Einsetzen der historisch-kritischen Forschung im 18. Jahrhundert statt, und in den letzten zwei Jahrhunderten ist.sie eher mißverstanden denn abgelehnt worden. So ist eine Neuaufnahme dieser Hermeneutik in unserer postmodernen Zeit vielleicht möglich; ihr konsens- und gemeinschaftsbildendes Potential ist auf jeden Fall nötig. Diese Notwendigkeit tritt besonders deutlich an den Tag, wenn man den gegenwärtigen Zustand des "sensus fidelium" in den meisten großen christlichen Glaubensgemeinschaften betrachtet. Ein Gemeinschaftsgefühl für das, was christlich bzw. nicht christlich ist, scheint immer mehr im Schwinden begriffen zu sein. Die orthodoxen Ostkirchen stellen vielleicht teilweise eine Ausnahme dar, aber auch ihr Gemeinschaftsgefühl wird durch moderne Entwicklungen angegriffen. Mit dem Abschwächen ethnischer, kultureller und religiöser Traditionen zerfällt der Konsens, und die Autorität der Gemeinschaft nimmt ab. Die 45
öffentliche Meinung muß manipuliert werden, um Zustimmung zu erlangen; aber die öffentliche Meinung ist in der Kirche wie auch anderswo pluralisiert und polarisiert. (Ich benutze den Begriff "öffentliche Meinung" im Sinne dessen, was Meinungsumfragen ermitteln; der "sensus fidelium" hingegen besteht letztlich aus den Überzeugungen, die "Kernchristen" - um die Terminologie Joseph Fichters zu übernehmen - in Krisenzeiten in sich entdecken und für die sie zu sterben bereit wären.) Auch in einzelnen Kirchengemeinden wird es schwer oder unmöglich, gemeinsame Ansichten über das, was wesentlich bzw. unwesentlich ist, zu entdecken oder zu entwickeln. Die Kenntnis der Bibel (die durch allgemeine Kultur und Volkstum, Sprichwörter, Katechese und Liturgie vermittelt wird) nimmt immer mehr ab. Der Gebrauch der Hl. Schrift hat keinen Platz im Leben der Menschen, so daß sie eine nur geringe Wirkung hat, wenn sie sie tatsächlich lesen oder hören. Vielleicht ist dies der Grund dafür, daß die Einführung der Volkssprache und das größere Gewicht, das seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Schrift erneut zugemessen wird, wenig dazu beigetragen haben, den "sensus fidelium" der römisch-katholischen Kirche mehr von der Bibel her zu durchdringen. Noch schwerwiegender ist das Fehlen einer allgemein verständlichen und eindeutig christlichen Sprache, in der Meinungsunterschiede erörtert und Streitfragen diskutiert werden können. So kann man sich auch dann, wenn er eigentlich wie in demokratischen Gesellschaften - eine größere Rolle spielt, weniger auf den "sensus fidelium" verlassen. Wenn das, was im folgenden ausgeführt wird, zutrifft, hängt die Krise mit dem Verlust des einst klassischen hermeneutischen Rahmens zusammen. Ganz gleich wie die Ursachen diagnostiziert werden, wird kaum jemand die Notwendigkeit einer besseren und tieferen Bibelkenntnis leugnen. Auf diese Notwendigkeit werde ich zurückkommen, wenngleich das Schwergewicht meiner Ausführungen auf dem Nutzen der klassischen Hermeneutik in der Vergangenheit und gegebenenfalls auch in der Gegenwart liegt. Um es knapp und fachlich auszudrücken, geht es um folgende Frage: Inwiefern kann die Bibel heutzutage gewinnbringend als ein kanonisch und narrativ einheitliches, auf sich selbst bezogenes und
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sich selbst auslegendes Ganzes aufgenommen werden, ein Ganzes, das Jesus Christus zum Mittelpunkt hat und die Geschichte des Umgangs des Dreieinigen Gottes mit seinem Volk und seiner Schöpfung in einer Art und Weise, die typologisch (aber zumindest in der Meinung der Reformatoren nicht allegorisch) auf die Gegenwart anwendbar ist? Ich werde dabei ausführlich auf die Vergangenheit zurückkommen, weil ein Verständnis der historischen Rolle dieser Interpretations- und Benutzungsweise der Schrift das beste Argument für ihre Notwendigkeit und ihre mögliche Anwendung in der Gegenwart bietet 1. Zunächst werde ich die Ursprünge des klassischen hermeneutischen Musters und die Bedingungen, die einen biblisch geprägten und gemeinschaftsvereinigenden "sensus fidelium" am meisten förderten. Im zweiten, dritten und vierten Teil werde ich mich der Reihe nach mit dem Zerfall dieses Musters, der gegenwärtigen Situation und den Zukunftsaussichten befassen. Die in diesem Beitrag vertretene Analyse ist - wie ich hoffe relativ konfessionsunabhängig, obwohl das Plädoyer für die wichtige Rolle bibelkundiger Laien für eine gesunde Kirche eindeutig vom Erbe der Reformation geprägt ist. Vielleicht werden auch Katholiken inzwischen diesem Standpunkt beipflichten können; sollte dies nicht der Fall sein, sind sie von einem reformatorischen Standpunkt her gesehen weiterhin reformbedürftig. Das soll jedoch kein Selbstlob sein: In dieser Hinsicht und auf vielen anderen Gebieten sind die heutigen Protestanten, nicht zuletzt die Lutheraner, ebenso reformbedürftig wie die Katholiken. Die Arbeit meines Kollegen Hans Frei, vor allem sein Werk "Eclipse ofBiblical Narrative" (New Haven 1974) hat mein Denken über diese Fragen einschlägig geprägt, aber auch anderen Kollegen verdanke ich viele Anregungen: David Ke1sey und Bard Childs sowie allen, die ausgehend von Henri de Lubac und Jean DanieIou zu einern besseren Verständnis der Funktionen der Typologie in der patristischen und der mittelalterlichen Exegese beigetragen haben. Da es sich bei diesem Aufsatz in der vorliegenden Fassung nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern lediglich um ein Nachdenken aus reformatorischer Sicht über die Rolle der Bibel und ihre Interpretation im Leben der Kirche handelt, habe ich mir erlaubt, auf ausführliche Fußnoten zu verzichten. Genauere Angaben über die Quellen meiner Überlegungen zu diesen Fragen finden sich in meinem Buch "The Nature of Doctrine" (Philadelphia 1984); bei den sonst ohne nähere Angabe benutzten Quellen gehe ich davon aus, daß sie genügend bekannt sind und keiner näheren Quellenangabe bedürfen. 1
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2. Die klassische Hermeneutik: Prämoderne Bibelauslegung In der Frühzeit unterschieden sich Kirche und Synagoge - um bekannte Tatsachen hier zu wiederholen - nicht durch einen unterschiedlichen Kanon, sondern durch unterschiedliche Auslegungsmethoden. Die Christen lasen die Bibel, die sie mit den Juden gemeinsam hatten, im Licht der zunächst mündlich überlieferten Erzählungen über den gekreuzigten und auferstandenen Messias, in dessen Namen sie beteten und in dessen Leib sie durch Taufe und Eucharistie eingegliedert wurden. Für sie war Jesus Höhepunkt und Erfüllung der Geschichte Israels. Mit ihm verbunden, wurden auch Nichtjuden Mitglieder des erweiterten Gottesvolks, Mitbürger, wie es im Epheserbrief heißt, der Gemeinde Israels. Die Geschichte Israels wurde ihre Geschichte, die Bibel der Juden wurde ihre Bibel, die ihnen nicht einfach als Quelle von Geboten und Wahrheiten, sondern als Rahmen für die Interpretation der gesamten Wirklichkeit diente. Sie benutzten typologische und - weniger grundlegend - allegorische Techniken, die aus ihrer jüdischen und griechischen Umgebung stammten, um die kanonisch festgelegten Worte auf ihre sich stets verändernde Situation anzuwenden. Im Lauf der Zeit entstanden eine explizite Glaubensregel und ein erweiterter Kanon. Die bei den Entwicklungen waren zeitgleich und miteinander verbunden. Die Glaubensregel artikulierte in ihren verschiedenen Versionen die liturgisch eingebettete christologische und trinitarische Interpretation der hebräischen Schriften; und die Wahl bestimmter Schriften aus der Vielzahl derer, die damals im Umlauf waren, die einen apostolischen Status für sich beanspruchten, beruhte auf ihrer Nützlichkeit im Kontext des "sensus fidelium", der von dieser impliziten oder expliziten Glaubensregel geprägt war. (Es ist besonders zu erwähnen, daß sich der Nutzen und daher die Bedeutung des Textes nach der Situation der Entstehung des Kanons und nicht nach irgendeiner historisch rekonstruierten mutmaßlichen ursprünglichen Situation richtete.) So war eine bestimmte Deutung der Schrift (nämlich als christozentrisches, narrativ und typologisch einheitliches Ganzes in Übereinstimmung mit der trinitari-
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sehen Glaubensregel) bei der Festlegung des christlichen Kanons konstitutiv und scheint eine Autorität zu besitzen, die sich nicht von der der Bibel selbst trennen läßt. Die Bibel anders zu lesen heißt, sie nicht als Hl. Schrift, sondern in derselben Weise wie irgendein anderes Buch zu lesen; etwa vergleichbar mit einer Lektüre von Homers "Odyssee" zu philologischen oder historischen Zwecken, die zur Folge hat, daß das Gedicht zu etwas anderem als einem Epos wird. Im Licht dieser Wechselbeziehung zwischen Kanon, Hermeneutik und "sensus fidelium" scheinen die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten über die Frage, ob die Schrift der Kirche vorausging oder umgekehrt, ohne Bedeu-. tung zu sein. Die in der oben angeführten Weise gedeuteten Schriften Israels waren für die Gemeinschaften bestimmend, die einen erweiterten Kanon hervorbrachten, um ihre eigene Identität gegenüber gnostischen, markionitischen und anderen Gruppen, die sich christlich nannten, zu festigen. Als historische Entwicklung betrachtet, bestand das, was wir jetzt als die katholische * Kirche der ersten Jahrhunderte bezeichnen, aus jenen christlichen Gruppen (zu manchen Zeiten und an manchen Orten vielleicht nur einer kleinen Minderheit), denen die christologisch gedeutete hebräische Bibel von besonderer Bedeutung war. (Die Donatisten des 4. Jahrhunderts stellten vielleicht die erste größere schismatische Bewegung dar, die die katholische Ehrfurcht gegenüber dem Alten Testament bewahrten.) Obwohl diese alttestamentlich orientierten Kirchen bald· überwiegend aus nichtjüdischen Mitgliedern bestanden, entwickelte sich unter den Christen ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem einzigen Volk, das dem jüdischen analog war. Ihre weitverstreuten Gemeinden wurden mit Banden gegenseitiger Hilfe, der Verantwortung füreinander sowie der Offenheit für brüderliche Zurechtweisung zusammengehalten. Aus diesem Grund war es ihnen möglich, bei der Entwicklung nicht nur von übereinstimmenden Versionen einer einzigen Glaubensregel und eines gemeinsamen erweiterten Kanons, sondern auch von untereinander übereinstimmenden * In diesem Abschnitt wird "katholisch" im Sinne des griechischen gebraucht [Anm. d. Übers.].
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wenn auch nicht uniformen - Mustern und Strukturen auf dem Gebiet der Seelsorge, der Liturgie und der Disziplin zusammenzuarbeiten. Ein großflächiges, flexibles, aber verläßliches Netz sich gegenseitig unterstützender Gemeinden breitete sich im ganzen Mittelmeerraum aus. Es ist nicht verwunderlich, daß diese Gemeinden sich gegenüber anderen Gruppierungen, die einen Anspruch auf die Bezeichnung katholisch erhoben (die Markioniten und andere Gemeinschaften behaupteten, sie allein seien die wahre katholische Kirche), durchsetzen konnten. Ihre Schriften und kein anderer Kanon bildeten die Grundlage der christlichen Bibel; in diesem Sinn geht die Kirche der Bibel voraus. Andererseits war es die Schrift - zunächst die christologisch gedeutete hebräische Schrift -, die die Kraft besaß, einen Konsens herzustellen und Gemeinschaften und Institutionen entstehen zu lassen, die es ermöglichten, daß diese Gemeinden die Vorherrschaft errangen und folglich die katholische Kirche bildeten. Es scheint nicht weithergeholt zu sein, wenn man behauptet, daß es die Bibel war, die das Reich eroberte, und zwar ungeachtet der üblichen Gesetze, die das Gewicht einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft bestimmen, d.h. trotz Verfolgung, ohne Gewalt und ohne besondere wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle oder ethnische Unterstützung. Andere Texte - z. B. der Koran und die buddhistischen Schriften - haben in anderen Umgebungen auch große Gemeinschaften über ethnische Grenzen hinaus entstehen lassen und aufrechterhalten, doch geschah dies nie in vergleichbarer Weise ohne Unterstützung von außen. So scheint die Vorrangstellung der Bibel gegenüber der Kirche zumindest plausibel zu sein. Es ist jedoch nicht nötig, sich für die eine oder andere Vorrangstellung zu entscheiden: Vielmehr sollte man von einer Koinhärenz von Bibel und Kirche, von einer Wechselseitigkeit, bei der die eine die andere bedingt, ausgehen. Außerdem war es die Kirche als "sensus fidelium" und nicht als eine getrennte, institutionalisierte lehramtliche Autorität, die dabei eine ausschlaggebende Rolle spielte. Jene Schriften, die sich im tatsächlichen Gebrau.ch unter den Gläubigen als nützlich erwiesen, wurden in den Kanon aufgenommen. Der Kanon ist nun für alle, die an die eschatologische Endgültigkeit des Wirkens Jesu Christi glauben, nicht mehr erweiterbar. 50
Das Gewicht hat sich sozusagen verlagert. Die Kirche - sei es als institutionalisiertes Lehramt oder als Glaubenssinn der Gläubigen - prägt die Schrift nicht mehr, sondern wird von ihr geprägt. Dennoch ist die gemeinschaftsbildende Rolle der Bibel selbstverständlich nicht gemeinschaftsunabhängig. Sie trägt nur dann zum Bau der "ecclesia" bei, wenn sie gemäß einer gemeinschaftsbildenden Hermeneutik gemeinsam ausgelegt wird. Über lange Jahrhunderte hinweg blieb eine solche Hermeneutik die klassische. Wie sich im Mittelalter zeigte, kann die klassisch interpretierte Bibel die gemeinschaftliche und persönliche Identität auch dann prägen, wenn die meisten Laien (im Gegensatz zur Situation in der Urkirche) nicht lesen und schreiben können. Die Laien lernten die wesentlichen Umrisse und Episoden des biblischen Geschehens durch Liturgie, Katechese und gelegentliche Predigten kennen. Dieses Geschehen definierte für sie die wahrhaft wirkliche Welt und prägte ihre eigene Wirklichkeit, wie die Produkte der volkstümlichen Phantasie - Gemälde, Skulpturen und Mysterienspiele bis hin zu Flüchen und Sprichwörtern - zeigen. Das Durchdrungensein des Alltagslebens von der Bibel beschränkte sich auch nicht auf die Phantasie. Als z. B. Karl der Große sich typologisch als ein christlicher König David sah, der als Herrscher über das Gottesvolk eingesetzt war, stellte dies keine leere Metapher dar, sondern eine Trope, die die Geschichte veränderte. Die außergewöhnliche Einheit der abendländischen Kultur im Mittelalter -eine weit größere, als dies heutzutage der Fall ist - wäre ohne die Entwicklung von Institutionen wie dem Papsttum und dem Heiligen Römischen Reich unmöglich gewesen, aber sie beruhte in erster Linie auf der wirklichkeitsdefinierenden Macht eines einzigen überragenden Textes, nämlich der Bibel in ihrer klassischen Interpretation. Damit soll nicht geleugnet werden, daß die Bibel auch in grober Weise falsch interpretiert wurde: die klassische Hermeneutik bietet keine Garantie für eine treue christliche Auslegung. Abweichungen auf dem Gebiet der Frömmigkeit, der Theologie und der kirchlichen Strukturen können als seit unvordenklichen Zeiten bestehende christliche Traditionen behandelt und nach rückwärts in die Bibel oder die Urkirche hineinprojiziert werden, wie 51
es z. B. im Falle der Konstantinischen Schenkung geschah. Verfolgung und Inquisition wurden biblisch legitimiert. Auch jene, die persönlich aus selbstlosen christlichen Motiven handelten und sogar dafür ein Kreuz auf sich nahmen, blieben nicht gegen solche Verzerrungen der biblischen Botschaft gefeit: Der heilige Bernhard von Clairvaux z. B. rief in seinen Predigten zu jenem Zweiten Kreuzzug auf, der die ersten großen antisemitischen Pogrome entfesselte. (Man muß hier sofort hinzufügen, daß solche Verfälschungen sich nicht auf das Mittelalter beschränkten: Luther verfaßte einige der peinlichsten Hetzschriften gegen die Juden, die es jemals gegeben hat.) Dennoch läßt sich die innerhalb des klassischen Rahmens interpretierte Bibel auch dann nicht dauerhaft eigennützig falsch auslegen, wenn dies im Interesse einer Gemeinschaft ist. Die zentrale Rolle der Jesusgeschichten und die typologische Anwendung (gemäß 1 Kor 10) auf die zeitgenössische Kirche der alttestamentlichen Erzählungen über den Zorn wie auch die Barmherzigkeit Gottes gegenüber seinem ständig untreuen Volk funktionieren als Korrektiv bei jeder gemeinschaftlichen Auslegung. Jene, die von der Gemeinschaft autorisierte Fehlinterpretationen anprangern, werden durch das Beispiel der Propheten, Jesu und der Apostel ermahnt, der Gemeinschaft treu zu bleiben und, wie Paulus nach dem Bericht der Apostelgeschichte ausdrücklich sagt, ihre Vorsteher auch dann nicht zu schmähen, wenn diese ungläubige Hohepriester sind (Apg 23,5). Eine wirksamere Strategie zur Aufrechterhaltung der Einheit bei allen Meinungsverschiedenheiten läßt sich schwer vorstellen. Diese Strategie versagte zur Zeit der Reformation. Wie die frühen Christen aus der Synagoge hinausgeworfen wurden, obwohl sie gern darin geblieben wären, so wurden Luther und seine Gefährten von Rom exkommuniziert. Diese Parallele hinkt zwar etwas - nicht zuletzt, weil die Sprache Luthers in bezug auf den Papst den paulinischen Rat in Apk. 23,5 nicht befolgt -, doch geht es uns hier nicht um eine Untersuchung der geteilten Schuld am Schisma, sondern um die einigende Rolle der Schrift während der Reformationszeit. Selbstverständlich kommt diese Rolle hauptsächlich auf protestantischer Seite zum Vorschein; die katholischerseits durchgeführte Reform war zwar groß, aber 52
sie beruhte eher auf geläuterter Tradition als unmittelbar auf der Schrift. Im 16. und im frühen 17. Jahrhundert kommt die konsensund gemeinschaftsbildende Kraft eines biblisch durchdrungenen "sensus fidelium" bei den Reformierten mehr als bei den Lutheranern zum Tragen. An der Spitze der Reformierten stand eine Geistlichkeit, die den höchsten Bildungsstand der ganzen Christenheit besaß, und sie sprachen vor allem den des Lesens und Schreibens kundigen Handwerker sowie den aufstrebenden Mittelstand an; zugleich stellten sie aber auch eine umfassende Volksbewegung dar, die z. B. in einer verarmten, ländlichen Gegend wie Schottland auch die Bauern und die Adeligen mitreißen konnte. Ihre Kirchen waren zwischen Ungarn und Neuengland verstreut und befanden sich in höchst unterschiedlichen Situationen, dennoch bildeten sie eine selbstbewußt geeinte Gemeinschaft, die ausschließlich durch eine gemeinsame Einstellung zu der Schrift verbunden war. Sie besaßen weder übergreifende Strukturen, die alle Reformierten umfaßten, noch eine Entsprechung des "Book of Common Prayer" der Anglikaner, noch etwas mit dem einheitlichen Korpus von Bekenntnisschriften der Lutheraner Vergleichbares. Aber auch so bildeten sie eine einzige Interpretationsgemeinschaft, die zwar unterschiedlich ausgeprägt war, aber auch eine beständige Einheit aufwies. Die Bibelauslegung der Reformierten orientierte sich im großen und ganzen am klassischen Muster: Sie deuten sie als die allumfassende Geschichte des Umgangs des Dreieinigen Gottes mit seinem Volk und seiner Welt in der Gegenwart wie auch der Vergangenheit. Obwohl sie die mittelalterliche aristotelische Beschränkung einer allegorischen Auslegung auf ein Minimum, die bereits bei Thomas weit gediehen war, weiterführten, waren sie keine Verfechter des Literalsinns in dessen modernen Ausprägung, da Typologie und typologische Anwendungen für sie eine entscheidende Rolle spielten. Durch endlose Predigten und das ständige Lesen der Schrift lernten die Laien in vielen Gemeinden die Bibel vom Buch Genesis bis zur Geheimen Offenbarung mit einer noch nie dagewesenen Gründlichkeit kennen, die es seither auch nicht mehr gegeben hat. Unter der Anleitung ihrer Prediger - man las die Bibel gemeinsam, nicht jeder für sich - durch53
forschten sie die Schrift auf der Suche sowohl nach Einzelheiten als auch nach allumfassenden Mustern, um ihr Leben und Denken dem Willen Gottes gehorsam gestalten zu können. Die Kommentare und die "Institutio Calvins" dienten bei der Bibelauslegung zwar als Leitlinien, beherrschten sie aber nicht; dennoch entwickelten sich ihre Theologie, Kirchenorganisation und Praxis innerhalb eines breiten Konsenses über mehrere Generationen hinweg in ähnlicher Richtung. Einige Entwicklungen waren, wie die Reformierten selbst heute fast ausnahmslos zugeben, in hohem Maße fehlgeleitet. Eine Hauptschwierigkeit lag darin, daß sie sich mehr als andere Glaubensgemeinschaften der damals herrschenden Leidenschaft hingaben, in der Bibel ein einziges, allumfassendes, unwandelbares Glaubenssystem suchen zu wollen. Ausgehend von ihren augustinischen Prämissen (die sie wiederum im großen und ganzen mit den Lutheranern und zumindest denjansenistischen Katholiken teilten), begingen sie den tödlichen Fehler einer Übersteigerung des augustinischen Ansatzes bis zur Lehre der individualistischen, supralapsaristischen doppelten Prädestination. Die sich daraus ergebenden furchtbaren Erlasse verdunkelten die Barmherzigkeit Gottes und unterminierten, wie die Lutheraner einwandten, die "sola gratia"- und "sola fide"-Lehren der Reformation. Darüber hinaus verarmten die Reformierten zunehmend hinsichtlich ihrer Riten - trotz des sakramentalen Realismus' Calvins - nicht nur im Vergleich zu den Katholiken ihrer Tage, sondern auch zu den Lutheranern und zur Frühkirche. Aber sie kompensierten das Fehlen liturgischer Leitlinien (nicht nur hinsichtlich der Riten, sondern auch in bezug auf Perikopen) durch begrifflich disziplinierte Leser der Schrift, die sie inhaltlich gründlich kannten und geschickt anwenden konnten. Daraus schöpften sie eine Dynamik, die sie (wie David Lawson, ein römisch-katholischer Historiker, bemerkt hat) die Moderne in viel größerem Umfang als Katholiken, Lutheraner oder Anglikaner prägen ließ. Seit der Konstantinischen Wende bietet die Geschichte kein vergleichbares Beispiel der vereinigenden und gemeinschaftsbildenden Kraft eines biblisch durchdrungenen "sensus fidelium". Der Erfolg der Reformierten war räumlich und zeitlich be54
grenzt. Es gelang ihnen nicht, die reformierten Kirchen zu einen. Ihr rationalistischer (allerdings biblisch begründeter) antitraditionalistischer Hang zu Lehrsystemen widersprach dem kirchlichen Traditionalismus der Anglikaner und auch der sakramentalen Traditionsverbundenheit der Lutheraner. Überdies wurde die flexiblere Hermeneutik des 16. Jahrhunderts (und erst recht der Frühkirche) im Laufe der Zeit durch Debatten über das vermeintlich alleingültige System der biblischen Lehre (am ausführlichsten in der "Westminster Confession" und der "Formula Consensus Helvetica" dargelegt) ersetzt. Die meisten Spaltungen im Protestantismus nach dem 16. Jahrhundert entstanden unter den Reformierten, wofür der Verlust des klassischen Interpietationsmusters weitgehend verantwortlich war. Dieser Verlust beschränkte sich allerdings nicht auf die Reformierten. - Hier erscheinen mir ein paar Bemerkungen über das Verschwinden des klassischen Interpretationsmusters in der ganzen abendländischen Christenheit angebracht.
3. Die Moderne: Verluste, aber auch Gewinne Neuere Arbeiten über die Geschichte der Exegese 2 deuten an, daß der entscheidende Wandel in der Moderne in der Vernachlässigung des narrativen Sinns der Schrift liegt. In realistischen Erzählungen, wie sie in der Bibel enthalten sind, werden Identität und Charakter der handelnden Personen, um die es in erster Linie geht (d. h. Gott und die Menschen), durch die aufgezeich2 Siehe bes. das in Anm. 1 erwähnte Werk von H. Frei. Mehr als viele andere mir bekannte theologische Kommentatoren dieser Entwicklungen ist H. Frei mit den ausführlichen Diskussionen vertraut, die vor allem seit Erich Auerbachs Werk, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Bern 1946, 51971) über die Logik und auch die literarischen Merkmale von narrativen Texten entfacht wurden; im Gegensatz zu den meisten Kommentatoren (z. B. P. Ricoeur) hat er der Neigung widerstanden, eine allgemeine hermeneutische Theorie (manchmal sogar eine Anthropologie) narrativer Texte zu entwickeln, die dann auf die Bibel angewandt wird. Jeder Text sollte für sich interpretiert werden; die Bibel hat eine eigene Hermeneutik. Von dieser Überzeugung, für die Frei in seinem neueren Aufsatz, The ,Literal Reading· of Biblical Narrative in the Christian Tradition, in: F. McConnell, (Hrsg.), The Bible and the Narrative Tradition (Oxford 1986) reichliche Beispiele angeführt, geht der vorliegende Aufsatz aus.
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nete Interaktion von Intention und Umständen dargestellt. Dies ist das bevorzugte Mittel der Bibel, um den Lesern Mitteilungen über sich selbst, ihre Welt und ihren Gott zu machen. Definitionen von Wesen und Attributen sowie Beschreibungen innerer Erfahrungen und Bewußtseinszuständen mögen vielleicht gelegentlich aus den biblischen Stoffen geschlossen werden können, aber wenn man sich in erster Linie auf diese Folgerungen verläßt, geht vieles von dem, was die Bibel über Gott und Menschen mitteilt, verloren. Ferner schwächt der Verlust des narrativen Sinns die Bindung, die den Kanon zusammenhält, und erschwert die typologische Verwendung der biblischen Geschichten zur Gestaltung der gemeinschaftlichen und persönlichen Identität der Christen heute. Schließlich verlieren die trinitarischen und christologischen Lehren ihre Funktion als Anweisungen zur Bibelauslegung (z. B. Christus ist im Licht der ganzen Bibel und die ganze Bibel im Licht Christi zu verstehen) und werden vor allem für Protestanten, die dem "sola scriptura"-Prinzip anhangen, zu zerbrechlichen und hermeneutisch nicht wirksamen Schlußfolgerungen aus dem Text. Wenn also der narrative Sinn vernachlässigt wird, bricht das ganze klassische Interpretationsmuster zusammen. Anscheinend wurde der narrative Sinn deswegen vernachlässigt, weil er mißverstanden wurde: Er wurde in eine andere Art von Sinn verwandelt. Anstatt zu fragen, was die biblischen Erzählungen über Gott und die Menschen aussagen und wie sie bei der Gestaltung des Lebens und dem Verstehen der Wirklichkeit verwendet werden sollen, fragte man sich in erster Linie, ob sie über die von ihnen erzählten Ereignisse eine den Tatsachen entsprechende Berichterstattung darstellten. Der narrative Sinn der Geschichte wurde mit ihrem faktischen (d. h. wissenschaftlichen und historischen) Sinn vermengt und ging dadurch verloren. Wie sich bald zeigen wird, blieb nicht das Interesse aller auf den faktischen Sinn gerichtet. Doch jene, die sich weiterhin dafür interessierten, teilten sich in zwei Lager: in Anhänger der Irrtumslosigkeit der Schrift und in Anhänger der historisch-kritischen Methode. Beide neigten zu der Überzeugung, daß Fakten (deren Definition den zur jeweiligen Zeit geltenden rationalen und empirischen Maßstäben unterliegt) die wichtigen Inhalte ei56
nes jeden Dokuments und vor allem des Buches aller Bücher, der Bibel, darstellen. Sie unterscheiden sich in bezug auf die wahrheitsgetreue Wiedergabe von Tatsachen im Text, bzw. auf einer allgemeineren Ebene über die Art und Weise, wie der faktische Sinn festzulegen sei. Die Anhänger der Irrtumslosigkeit neigten zu der festen Behauptung, daß alles, was unter Aufbietung aller Phantasie als eine faktische Behauptung aufgefaßt werden könnte, als eine solche interpretiert und als den Tatsachen entsprechend angenommen werden müsse. Die historisch-kritische Methode dagegen benutzte den Text als eine D,atenquelle zur Rekonstruktion von (nach den zur Zeit allgemein gängigen, aber nie ganz beständigen Maßstäben gemessen) plausiblen Ausgangsereignissen, -persönlichkeiten oder -situationen (z. B. des historischen Jesus). Zwischen diesen beiden Extremen gab es viele Abstufungen, aber für alle Beteiligten an den Auseinandersetzungen zwischen rigorosen Fundamentalisten und überskeptischen Liberalen war der narrative Sinn in den faktischen Sinn aufgegangen und somit verschwunden. Eine Folge dieser Entwicklung zeigte sich darin, daß die Bibel selbst uninteresant zu werden drohte: Tatsachen lösen, selbst wenn es sich um Wunder handelt, nicht automatisch Teilnahme aus. Wenn manche Anhänger der Irrtumslosigkeit der Schrift behaupteten, es habe seit der neutestamentlichen Zeit keine Wunder mehr gegeben, bewirkten sie, daß die Wundergeschichten nicht mehr als auf die Gegenwart anwendbar erschienen. Es überrascht nicht, daß der Schriftsinn anderweitig gesucht wurde. Man meint ihr Sinn liege in ihren Aussagen über Glaubenserfahrungen oder über allgemeine Wahrheiten in bezug auf Menschlichkeit und Göttlichkeit, in der von ihr verkündeten Sittlichkeit oder in ihrer symbolischen oder mythologischen Bedeutung. Pietisten (und in ihrer Nachfolge romantische Schwärmer wie Schleiermacher und moderne Existentialisten wie Bultmann) betonten die Glaubenserfahrung; Rationalisten, ob orthodox oder unorthodox, legten Wert auf allgemeine Wahrheiten; Denker der Aufklärung wie Kant hoben die Sittlichkeit hervor; und diejenigen, welche nicht mehr an die Irrtumslosigkeit glaubten, verloren ihr Interesse an historischen Rekonstruktionen und verlagerten sich auf Mythologie und Symbolik. Aber bis in die heutige Zeit 57
beschäftigte sich kaum jemand mit der biblischen Erzählung als selbständiger narrativer Gattung. Die klassische Hermeneutik war effektiv tot. Die eigentlichen Gründe für diesen Tod liegen, wie bereits angedeutet, schon vor der Blüte der historisch-kritischen Methode. Sie gehen einerseits auf die interkonfessionellen Rivalitäten, die in die Glaubenskriege mündeten, und andererseits auf die modernen naturwissenschaftlichen Entwicklungen zurück. Beide Erscheinungen hängen miteinander zusammen 3. Sichere Überzeugungen von Glaubensgemeinschaften wurden durch den Brudermord an Mitchristen, der für das Abendland um so beunruhigender war, weil er einen Kampf zwischen etablierten Kirchen darstellte, erschüttert. Dies führte dazu, daß viele Christen einen sicheren Halt im eigenen Verstand und in der persönlichen Erfahrung suchten. Rationalisten suchten, von Descartes ausgehend, das nicht mehr zu verbessernde Selbstverständliche im Bewußtsein der vom Verstand eingegebenen Wahrheiten, während Empiriker wie Locke dieses in der bewußten Sinneserfahrung zu entdecken meinten. Diese Betonung des individuellen Bewußtseins markiert den Anfang der Moderne und stellt bei Kant und seinen Nachfolgern die Wende zum transzendenten, autonomen Subjekt dar. Diese Mißachtung der gemeinschaftlichen, unbewußten Dimensionen des Erkenntnisprozesses, die eine solche Betonung mit sich bringt, wäre Aristoteles naiv vorgekommen und dürfte auch in den Augen moderner Wissenssoziologen als naiv gelten. Doch mit dem Zusammenbruch der Einheit des abendländischen Christentums breitete sich eine intellektuelle und politische Schreckensherrschaft aus, die dem Einzelnen anscheinend nur die Möglichkeit ließ, sich dem eigenen Verstand und der eigenen Erfahrung zuzuwenden oder, wie es bei der römisch-katholischen Kirche der Fall war, sich auf ein Lehramt zu berufen, das sich zunehmend von der Schrift und sogar von der Tradition selbständig machte. Im Fall des Protestantismus führte die Suche nach Sicherheit zu Vorstellungen wie dem Recht und der Pflicht des Einzelnen zu einer persönlichen Auslegung der Schrift sowie einer auf Fakten bezogenen Irrtums3
J. Stout, The Flight from Authority (Notre Dame, Ind. 1981).
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losigkeit und einer vollkommenen Verbalinspiration. Die Schriftauslegung wurde nicht mehr als gemeinschaftliches Unterfangen gesehen; der Einzelne bedurfte angeblich keiner hermeneutischen Anleitung; das Christentum wurde als Glaube ohne verbindliche Glaubenssätze aufgefaßt. "Die Bibel und die Bibel allein ist das Glaubensbekenntnis der Protestanten." Diese Vorstellungen stammten alle aus dem 17. Jahrhundert, begünstigten die spätere Entwicklung der Bibelkritik (auch wenn diese eine Reaktion gegen die Extrempositionen von Irrtumslosigkeit und Plenarinspiration darstellte) und standen der klassischen Hermeneutik antithetisch gegenüber. In einer Welt, die jener Art von Sicherheit nachjagte, die der Faktizität, der unmittelbaren Erfahrung und - vor allem auf katholischer Seite - rationaler, institutioneller und juristischer Klarheit entspringt, bestand kein Interesse am narrativen Sinn der biblischen Geschichten. Dennoch brachten diese Entwicklungen, vor allem die historisch-kritische Methode, nicht nur Verluste, sondern auch Gewinne. Indem diese ihr Hauptaugenmerk auf Faktizität richtete, ermöglichte sie schließlich die Erkenntnis, daß der faktische und narrative Sinn der biblischen Geschichten unterschiedlich und bis zu einem gewissen Grad (aber keineswegs vollkommen) voneinander abhängig ist 4 • Sie hat auch den Weg für die Wiedergewinnung der biblischen Botschaft bereitet, indem sie verschiedene Arten des Mißbrauchs der Schrift entlarvt hat, die teilweise bis in die ersten Jahrhunderte zurückgehen. Denken wir z. B. an die Vorstellung, daß die Kirche die Juden als auserwähltes Volk ablöste, die fast unmittelbar nach dem Konflikt mit der Synagoge entstand. Sie wurde auf die Schrift (manche sagen in die Schrift) zurückprojeziert und zeitigte, als die Kirche nicht mehr verfolgt, sondern selber zum Verfolger wurde, zunehmend grauenhafte Folgen. Dies führte nicht nur zu einer Vergiftung der Beziehungen zwischen Juden und Christen, sondern auch in mancher Hinsicht zu einer Verfälschung der grundlegenden Struktur des Glaubens. Unter dem Druck einer antijüdischen Auslegung wurde z. B. die offenkundige Bedeutung von Röm 94 Zur Art dieser Verflechtung siehe den am Schluß von Anm. 2 erwähnten Aufsatz von H. Frei.
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11 geleugnet und, ausgehend von Augustinus, in eine individualistische Prädestinationslehre verwandelt, die seitdem das Abendland belastet. In ähnlicher Weise hat das antijüdische (im Unterschied zum antijudaisierenden) Verständnis der paulinischen Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium zu einem fatalen Schwanken zwischen Legalismus und antinomistischer "billiger Gnade" (um eine Wendung Bonhoeffers zu benutzen) geführt. Die Vorstellung von der Ablösung der Juden als auserwähltes Volk hat außerdem den kirchlichen Triumphalismus gesteigert. Trotz Bibelstellen wie 2 Kor 11, 1-4 und 1 Kor 10,5-11 haben sowohl Katholiken als auch Protestanten in jeweils sehr unterschiedlicher Weise geleugnet, daß die Kirche, solange sie die wahre Kirche bleibt, die "sponsa meretrix" sein könne, die zu einer so großen Treulosigkeit wie der Israels fähig sei. Dies ist nur der Anfang eines langen Katalogs von tief verwurzelten Verzerrungen der Schrift, bei denen die historisch-kritische Bibelwissenschaft einen Beitrag leisten kann, uns von ihnen zu befreien. Hierbei handelt es sich jedoch im Grunde genommen um einen negativen Beitrag. Die moderne Bibelwissenschaft kann uns zwar vieles über das, was Texte in der Vergangenheit nicht bedeuteten, sagen und - mit etwas weniger Sicherheit - ihren damaligen Sinn rekonstruieren, aber solange sie kritisch und historisch ausgerichtet bleibt, bietet sie uns keine Leitlinien zur Feststellung dessen, was sie in den sehr unterschiedlichen Situationen, in denen wir uns gegenwärtig befinden, bedeuten sollten. Sie sagt uns höchstens, was Gott damals sagte, aber nicht, was er heute sagt. Eine exegetische Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart scheint es nicht zu geben. Diese Lücke bildet, viel mehr als Fragen von Irrtumslosigkeit oder Inspiration, den Kern der heutigen Krise der Autorität der Schrift und die Quelle der sich widerstreitenden Auslegungen.
4. Die heutige Situation Wenn die Exegese keine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart bieten kann, nimmt sich die Theologie dieser Aufgabe an. Dies ist zwar immer der Fall gewesen, aber Theologen 60
waren in der Vergangenheit auch "doctores sacrae paginae" und keine Zunft für sich. Noch wichtiger ist die Tatsache, daß ihre Aufgabe strukturell andersartig war. Die narrative und typologische Interpretation ließ die Bibel mit ihrer eigenen Stimme in neuen Situationen sprechen. Die Schrift konnte in den Worten Calvins als die Brille oder die Linse dienen, durch die der Glaube die gesamte Wirklichkeit betrachtet; der Leser konnte, um die Metapher zu wechseln, in die biblische Welt aufgesogen werden. Der Platonismus und Aristotelismus wurden z. B. in den biblischen Rahmen assimiliert und dadurch christianisiert. (Die Unvermeidlichkeit der Aufgabe, nichtchristliches Denken christlich in Dienst zu nehmen, muß hervorgehoben werden. Selbst Theologen, die ausschließlich von der Bibel ausgehen wollen, können sich dieser Aufgabe nicht entziehen. Obwohl Luther Aristoteles verabscheute, benutzte er weiterhin - oft ganz bewußt die von Ockham geprägte Variante des Aristotelismus, die er während seiner Ausbildung kennengelernt hatte; im Denken Calvins finden sich etliche Spuren des Platonismus.) Heute verläuft die Interpretationsrichtung jedoch umgekehrt: Die biblische Botschaft wird in die Begrifflichkeit der Gegenwart umgesetzt. Unbewußt geschieht dies immer, allerdings in unterschiedlichem Maß (in subtiler Weise bei Luther und Calvin, viel offenkundiger bei vielen christlichen Platonisten); seit Schleiermacher geschieht die Umsetzung in einen nicht biblischen Sprachgebrauch - über Karl Rahner bis zu den Befreiungstheologen - jedoch bewußt und systematisch. Die Ergebnisse erbrachten nicht immer einen Verstoß gegen die christliche Rechtgläubigkeit im Sinne des Glaubensbekenntnisses. Sie haben ferner denjenigen, die gern Christen sein wollten, es erleichtert, beim christlichen Glauben zu bleiben (wie es Paul Tillich für viele Mitglieder meiner Generation tat), obwohl ihr Beitrag zur Bekehrung der kulturell Entchristlichten zweifelhaft ist. Dennoch ist ihr Einfluß hinsichtlich der Bildung des im vorliegenden Beitrag im Vordergrund stehenden "sensus fidelium" gering, wenn nicht sogar vielleicht negativ gewesen. Das Hauptproblem ist darin zu sehen, daß ihre Interpretationen weniger zur Schrift hinführen als sie ersetzen. Bei der Lektüre der Väter und der Reformatoren - oder selbst eines 61
mittelalterlichen Scholastikers wie Thomas von Aquin - wird das Verständnis ihrer Aussagen bereichert, wenn man ihre zahlreichen Hinweise auf die Schrift genauer studiert (wobei die Bereicherung freilich recht mager ist, wenll sie sich auf "dicta probantia" berufen). Dies ist bei den meisten modernen Theologen nicht der Fall. Bei Karl Rahner - um einen Theologen zu zitieren, dem ich viel zu verdanken habe - kommen Hinweise auf die Bibel selten vor, beziehen sich fast immer auf gelehrte Interpretationen und nicht auf den Text selbst, fungieren mehr oder weniger wie "dicta probantia" und tragen bei näherem Hinsehen kaum zu einem besseren Verständnis seines Denkens bei. Rahner mag zwar eine authentisch christliche Weltanschauung, die idealistisch, existentialistisch und evolutionär geprägt ist, entwickelt haben, aber diese scheint wie alle guten Übersetzungen nur eine äußerliche Beziehung zum Ausgangstext zu besitzen. Man kann vollkommen ohne Schriftkenntnisse lernen, in seinen Kategorien gut zu denken. Dasselbe ließe sich im Falle von Augustinus, Luther (ohne Ebeling nahetreten zu wollen) oder Thomas (ohne den Neothomisten oder selbst Gilson nahetreten zu wollen) nicht behaupten. Die Schwierigkeit kann nicht dadurch beseitigt werden, daß man zur Bibellektüre auffordert oder darauf hinweist, daß man den theologischen Kommentar nicht mit dem Kommentierten verwechseln dürfe. Ihr wird auch kaum dadurch abgeholfen, daß Theoiogien, deren Rahmen ausschließlich von der Gegenwart geprägt ist, unser Bewußtsein des biblischen Zeugnisses evtl. erweitern und korrigieren können (wie es, um nur zwei der vielen Beispiele zu nennen, im Falle der" bevorzugten Option für die Armen" und der feministischen Erinnerung an die Tatsache, daß die ersten Zeugen der Auferstehung Frauen waren, geschehen ist). Das Problem liegt vielmehr in der begrifflichen Struktur: Je mehr eine Theologie die biblische Botschaft in eine fremde Sprache (und nicht umgekehrt) übersetzt, desto eher neigt man zu der Annahme, damit seien die Kernaussagen des Evangeliums erfaßt worden, so wie man, um einen haarsträubenden Vergleich heranzuziehen, häufig davon ausgeht, daß die psychoanalytische Interpretation von "Ödipus Rex" im Sinne der Ansichten Freuds das Wesen dieser Tragödie erfasse. Eine solche Interpretation kann Kennern des von Sophokles verfaßten 62
Stücks eine Bereicherung ihres Verständnisses bringen, aber Nichtfachleute werden zu der Annahme neigen, diese Interpretation stelle seinen wichtigen Inhalt besser als der Text selbst dar, deswegen den Originaltext nie anschauen. Aus diesem Grund ist zu bezweifeln, daß die Übertragung des Glaubensguts in die Begrifflichkeit der Gegenwart zu einem biblisch geprägten "sensus fidelium" beitragen könne. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Tatsache, daß die "Translationstheologie" in doppelter Weise pluralistisch ist, so daß es doppelt unwahrscheinlich ist, sie würde zur Bildung eines kohärenten "Glaubenssinns der Gläubigen", sei diese biblisch oder nicht biblisch, beitragen. Die einzige wichtige Quelle theologischer Verschiedenartigkeit in der prämodernen Theologie ist in der historischen Situation zu suchen. In ihrer klassischen Auslegung bleibt die biblische Botschaft relativ beständig: Was sich hauptsächlich verändert, sind die Philosophien und andere kulturell bedingte Anschauungen, die innerhalb dieses Rahmens interpretiert werden. Im Kontext der modernen Exegese gibt es hingegen zwei weitere Quellen der Verschiedenartigkeit. Theologen gehen von historischen Rekonstruktionen der biblischen Botschaft aus, die unvermeidlich verschiedenartig, vorläufig und veränderlich sind, und versuchen dann, diese Rekonstruktionen in zeitgenössische Begrifflichkeiten zu übertragen, die gleichfalls verschiedenartig und veränderlich sind. Es überrascht nicht, das die Ergebnisse oft gegenseitig unverständlich sind. Es gibt keine einheitliche, übergreifende Welt des biblischen Diskurses, innerhalb derer die Unterschiede diskutiert werden könnten. Wenn man die Bibel dagegen als ein einheitliches Ganzes lesen würde, das die Geschichte des Umgangs Gottes mit seiner Welt erzählt, dann teilten so strukturell unterschiedliche Theologien wie die von Jonathan Edwards, Thomas von Aquin und Irenäus (Irenäus weist, wie oft festgestellt wird, eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem modernen Evolutionismus auf) eine gemeinsame sprachliche Begrifflichkeit. Aus dieser Perspektive gesehen, verstärkt der zeitgenössische nicht theologische Pluralismus das Problem - allerdings ohne es grundlegend zu ändern. Gewiß leben wir in einem Zeitalter des Übergangs, der erweiterten Horizonte und des enorm beschleu63
nigten Wandels, in dem die Theologie aufgrund der Notwendigkeit, den Glauben mit neuen Situationen und außerabendländischen Kulturen in Beziehung zu bringen, eine angemessen pluralistische Gestalt angenommen hat; aber wenn die klassische Hermeneutik wieder in Gebrauch käme, hätte man Grund zur Hoffnung, daß diese Vielfalt nicht in jene gegenseitige Unverständlichkeit verfiele, die jetzt unvermeidlich erscheint. Diese theologische Kakophonie ergibt sich z. T. eher aus der Theologie selbst als aus der nicht theologischen Situation, und ihr Einfluß, insofern sie überhaupt einen hat, führt zwangsläufig zum Zerfall. Zum Glück besteht der "sensus fidelium" relativ unabhängig von Berufstheologen fort. Er nährt sich aus der Schrift, wie sie durch Liturgie, Predigt, Katechese, persönliche Lektüre und die allgemeine Kultur überliefert wird, und wird durch Gemeinschaftsbande nicht nur kirchlicher, sondern auch gesellschaftlicher und ethnischer Natur aufrechterhalten. Wäre dem nicht so, könnte eine Kirche den "furor theologicus" überleben. Dennoch gibt es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Um zu unserem Ausgangspunkt zu Beginn dieses Beitrags zurückzukehren, schwächen sich die soeben genannten Quellen der Ernährung und Aufrechterhaltung des "sensus fidelium" ab. Selbst die biblische Erneuerung, die man von der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils und dem Gewicht, das der Predigt und dem Studium der Bibel einberaumt wurde, in der römischkatholischen Kirche erhoffte, scheint auf der Ebene des Volks dem Tode geweiht zu sein. Nach meinen eigenen Erfahrungen verfügen die katholischen Christen, die heute an der Universität, an der ich lehre, Religion studieren, über schlechtere Bibelkenntnisse, als dies vor etwa zwanzig Jahren der Fall war, als sie anhand vorkonziliarer Katechismen ausgebildet worden waren. Selbst für Protestanten und Katholiken, die sich um ein besseres Verständnis der Bibel bemühen, wird sie zunehmend zu einem "Buch mit sieben Siegeln". Insofern sich diese Unterweisung von der historischen Kritik leiten läßt, wie es bei den meisten gebildeten Laien heutzutage der Fall ist, zieht man daraus die Lehre, daß die Interpretation der Bibel ein technisches Unterfangen sei, das eine langjährige fachliche Ausbildung voraussetze. Wenn ihr Interesse an der Bibel diese Entmutigung übersteht, greifen ge64
bildete Laien (und auch Geistliche) mit Vorliebe zu populärwissenschaftlichen Kommentaren, deren Verfasser, Berufsexegeten und Theologen man für fähig hält, den Text auszulegen. In jenen Kreisen, in denen ein fleißiges Studium des Textes selbst weit verbreitet ist - z. B. unter konservativen Protestanten, Charismatikern, in Basisgemeinden und spirituell interessierten Gruppen -, ist die Auslegung oft so weit von der klassischen Hermeneutik entfernt, so trennend und/oder individualistisch, daß jene historischen Rekonstruktionen, die innerhalb der Hauptrichtung der christlichen Lehre bleiben, ihm wohl vorzuziehen sind. Nun hält die wissenschaftliche und nicht mehr die hierarchisch-klerikale Elite die Bibel in Beschlag, so daß sie für das allgemeine Volk weithin unzugänglich ist. Die ursprünglichen Schmiede dieser wissenschaftlichen Ketten waren ironischerweise vorwiegend Protestanten, während die Aufgabe, die Fesseln straff zu halten, nunmehr ein interkonfessionelles Unterfangen ist (wobei es wiederum eine Ironie ist, daß die Reformatoren über die katholischen Teilnehmer sehr erfreut wären, da ihre Rekonstruktionen der biblischen Botschaft der von den Reformatoren so geschätzten "regula fidei" wahrscheinlich näher kommen als die protestantischen). Der "sensus fidelium" überlebt zwar noch, aber er hat es schwer - wobei der Widerstreit der Schriftauslegungen das Problem verschärft. Ein dritter Faktor muß aber auch hinzugefügt werden. Kirchen können Interpretationskonflikte und geschwächte Gemeinschaftsbande relativ leicht überleben, solange eine Nachfrage nach ihren Diensten besteht (obwohl sie evtl. ihr Dienstangebot ändern müssen) und solange sie grundlegende strukturelle Veränderungen vermeiden können. Die etablierten Kirchen in England und Skandinavien und, in geringerem Umfang, einige protestantische Konfessionen in Nordamerika dienten bis vor kurzem als gute Beispiele dieses Prinzips. Unsere Zeit stellt jedoch eine Wasserscheide dar: Nun gilt das Prinzip bei keiner Gemeinschaft mehr. Auch wo sie noch am stärksten ist, nämlich in den orthodoxen Kirchen des Ostens, kann Tradition nicht mehr einfach wiederholt werden. Die römisch-katholische Kirche hat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein tiefgreifendes Programm der Umstrukturierung bereits in Angriff genommen; die 65
aus der Vergangenheit ererbten protestantischen Muster genügen nicht mehr den heutigen Anforderungen. Das konstantinische Christentum scheint sich endgültig seinem Ende zu nähern, und eine Umgestaltung kirchlichen Denkens und kirchlicher Praxis, die einschneidender als die der Reformation ist und sich vielleicht eher mit den Umwälzungen des 4. Jahrhunderts vergleichen läßt, könnte unvermeidlich sein. Angesichts solcher Herausforderungen kommt die vom Interpretationskonflikt und von der Schwächung des "sensus fidelium" ausgelöste Lähmung einer seelischen Erschütterung gleich. Wenn man sich nicht bis zu einem gewissen Grad darüber einig ist, wie Veränderungen vorgenommen werden sollen und was bewahrt werden soll, erstarrt sowohl die Gemeinschaft als auch die gemeinschaftliche Autorität. .Somit rückt die Schriftauslegung in den Mittelpunkt der Krise, weil die Autorität der Gemeinschaft im christlichen Bereich von ihrer Übereinstimmung mit der Bibel abhängt. Darüber sind sich alle Haupttraditionen des Christentums trotz aller Unterschiede in bezug auf das Zusammenspiel zwischen Bibel, Tradition und Lehramt einig. Das Primat der Schrift ist ein grundlegender Bestandteil der von den Orthodoxen befolgten patristischen Tradition; die Reformatoren beriefen sich auf das "sola scriptura"-Prinzip; auf römisch-katholischer Seite sprach sich das Zweite Vatikanische Konzil in der dogmatischen Konstitution "Verbum Dei" eindeutig für die dienende Rolle des Lehramts gegenüber der Schrift (und auch - obwohl weniger explizit - für eine interpretative, im Gegensatz zu einer unabhängigen Autorität der Tradition) aus s. Daraus folgt, daß Entscheidungen einer christlichen Gemeinschaft, die als nicht im Einklang mit der Schrift (oder bei wichtigen Angelegenheiten als ohne biblische Begründung) gelten, keine Legitimität genießen. Das Problem verschärft sich, wenn nicht einmal die Führer der Gemeinschaft sich über die angemessenen hermeneutischen Maßstäbe zur Feststellung der Schriftgemäßheit ihrer Lehre und Politik im kla, Hier schließe ich mich der allgemeinen Meinung an, daß das Zweite Vatikanische Konzil eine Zweiquelleninterpretation der Aussagen des Konzils von Trient über Schrift und Tradition zwar nicht ausdrücklich verwirft, aber dennoch eine Einquellenauslegung bevorzugt.
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ren sind. In einem solchen Fall wird jede Entscheidung wahrscheinlich als willkürlich eingestuft werden, und alle Versuche, sie durchzusetzen, werden als tyrannisch gelten. Solange der "sensus fidelium" stark ist, behauptet sich die Autorität der Gemeinschaft gegenüber den hermeneutischen Auseinandersetzungen unter heutigen Lehrern der Kirche (zu denen heutzutage - trotz aller kirchenrechtlichen Bestimmungen auch Exegeten und Theologen gehören). Jene Auslegung, die dem Glaubensinstinkt am besten entspricht, wird sich dann letztlich durchsetzen, auch wenn sie ursprünglich nur von einer Minderheit vertreten wurde (in diesem Zusammenhang sei nur an den Sieg der Anhänger der von Athanasius vertretenen Lehre gegenüber der Übermacht der Arianer nach dem Konzil von Nizäa erinnert). Das Gegenteil trifft aber auch zu: Wenn der Glaubenssinn geschwächt wird, die Lehrer aber eine relativ einheitliche Lehre vertreten, kommt es zu keiner Krise. Diejenigen, die schwache oder verworrene Glaubensreflexe haben, werden kaum die mehrheitliche Meinung der Fachleute in bezug auf das authentisch Christliche (bzw. Katholische, Lutherische usw.) anfechten, auch wenn sie persönlich eine andere Meinung bevorzugen würden. Die Kombination der beiden Probleme des Interpretationskonflikts und des schwachen Glaubenssinns führt in Zeiten großer Veränderungen zur Auflösung der Legitimität. Die Demokratie rettet die Legitimität in einer solchen Situation nicht. Wenn eine erkennbare Untermauerung durch die Schrift (die vom Interpretationskonflikt unmöglich gemacht wird) fehlt, erscheinen den Protestanten die Abstimmungen und eingeschlagenen Richtungen ihrer gewählten Vertreter ebenso willkürlich wie die von Rom verkündeten Erlasse. Rom kann ja sogar im Vorteil sein, da dort Exegeten und Theologen (wenn auch in enger Auswahl) in einer ernsthafteren Weise, als dies bei den protestantischen Glaubensgemeinschaften der Fall ist, regelmäßig beratend herangezogen werden; und wenn die römischkatholischen Bischöfe sich beraten, versammeln sie sich nicht eine Woche lang, um irgendwelche von Beratern vorbereiteten Papiere zu verabschieden (oder in seltenen Fällen zu verwerfen), sondern tauschen über mehrere Jahre hinweg monatelang ihre
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Wirklichkeit die einer lautstarken Minderheit darstellt) werden Meinungen aus, bevor sie einen eigenen Entschluß fassen. Die Herrschaft der Bürokratien (die protestantische Entsprechung der Herrschaft der Kurie) besitzt in keiner Kirche ein verfassungsmäßiges Mandat und wird daher als illegitim empfunden. Die Anstellung von besserem Personal (das oft ohnehin sehr qualifiziert ist) trägt nicht zur Lösung des Problems bei, weil der Fehler im System liegt und letztlich auf die Hermeneutik zurückzuführen ist: Man bemüht sich kaum, das offizielle Handeln der Kirchen in Beziehung zu jenen Dokumenten zu bringen, die theoretisch ihre höchsten Instanzen darstellen, nämlich die Bibel und die Glaubensbekenntnisse, die als "reine Auslegung" der Schrift ihnen exegetische Richtlinien darbieten sollen. So gleicht die Situation - um einen weltlichen Vergleich heranzuziehen - jener, die entstehen würde, wenn die Amerikaner ihre Verfassung außer acht ließen. Die Nominierung des Richters Bork zum Obersten Gericht der USA hat im vergangenen Jahr zu landesweiten Auseinandersetzungen über die Auslegung der Verfassung geführt; eine vergleichbar ernsthafte Auseinandersetzung über die Auslegung der Bibel und der Glaubensinhalte innerhalb des Protestantismus, nicht zuletzt unter Lutheranern, ist unvorstellbar. Solche Fragen werden wegen ihrer potentiell trennenden Folgen geflissentlich gemieden, wenngleich dies dazu führt, daß die kirchliche Autorität ihrer Legitimität ebenso beraubt wird, wie dies bei der bürgerlichen Autorität der Fall ist, wenn sie nicht mehr von ihrer verfassungsmäßigen Grundlage ausgeht. Dieser weltliche Vergleich legt einen weiteren zu berücksichtigenden Punkt nahe: Beim Problem der Autorität handelt es sich z. T. um die Einhaltung der Spielregeln, was gewissermaßen vom intrinsezistischen Wert der Spielregeln selbst unabhängig ist. Man muß nicht einer Verfassung oder einer Regel den Status einer göttlichen Eingebung beimessen, um sich zu empören, wenn diejenigen, die danach handeln sollten, sie mißachten. Die vorliegende Schwierigkeit geht auf ein tiefer liegendes Problem als willkürliche Mißachtung zurück. Weil die offiziellen Spielregeln unverständlich sind, wird das Spiel während der Austragung geändert, und Prinzipien wie die Herrschaft der Mehrheit (die in 68
willkürlich ersetzt. Sich darüber zu empören, mag kindisch sein; Erwachsene, die nicht im Kirchendienst stehen oder besonderen Interessengruppen angehören, verlieren das Interesse und beschränken ihre Aufmerksamkeit auf die Ortskirche. Die Konfessionstreue ist nach den statistischen Erhebungen über die Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften weitgehend verschwunden; die Bemühungen der Amtskirchen sogar in bezug auf interkonfessionelle ökumenische Beziehungen erfreuen sich eines geringer werdendes Interesses. Kurz gesagt: Solange es keine grundlegende Übereinstimmung über die Schriftauslegung gibt, trägt die Demokratie innerhalb des Protestantismus nicht zur institutionellen Legitimation bei. Dennoch gibt es Arten und Weisen, in denen die Autoritätskrise in nicht demokratisch organisierten Kirchen schwerwiegender ist. Hier schafft der Schein der Illegitimität (ob diese nur scheinbar oder auch echt ist, mag dahingestellt sein) besondere Probleme. Der Grund dafür ist, daß ihre offiziellen Führer eine wichtigere Rolle spielen, mehr von ihnen abhängt und ihre tatsächliche Macht größer ist. Weil sie eine wichtigere Rolle spielen, werden sie zur Rechenschaft gezogen. Protestantische Führer sind teilweise durch die (unbiblische und anti-reformatorische) Annahme, daß ihre Rolle in der Durchführung der Mehrheitsmeinung liege, vor Tadel geschützt, aber in der römisch-katholischen Kirche ist dies nicht möglich. Bei letzterer wird die Obrigkeit sowohl vom rechten als auch vom linken Lager für alles verantwortlich gemacht, was als eine konstitutionelle Abweichung betrachtet wird: Abweichen von der Tradition, Nichtbefolgung des progressiven Geistes des Zweiten Vatikanischen Konzils, Mißachtung von Imperativen des Evangeliums. Der Legitimitätsverlust ist gravierender als im Protestantismus, weil mehr von ihr abhängt: Wenn ihre Anweisungen mißachtet werden, entsteht ein größeres Chaos als in Gemeinschaften, in denen eine lange Erfahrung mit einer schwachen Führung Gewohnheiten der örtlichen Verantwortung und/oder des laissez-faire hervorgebracht hat (ein Musterbeispiel dafür ist die Zivilverantwortung im Anglikanismus). Schließlich schafft die Möglichkeit, mit der Kompetenz der Macht zu sprechen und zu handeln, besondere Gefahren. Bemü-
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hungen, Ordnung durch Handeln von oben wiederherzustellen, werden als tyrannisch betrachtet (in den seltenen Fällen, in denen solche Bemühungen protestantischerseits unternommen werden - z. B. in letzter Zeit bei der verwickelten Lage der Lutheraner in Pittsburgh -, erwecken sie den Eindruck einer drolligen, nicht autoritativen Stümperei seitens der Geschäftsführung). Bischöfliche Verlautbarungen und päpstliche Enzykliken werden gleichermaßen mit unerhörter Heftigkeit von jenen angegriffen, die nicht mit ihnen einverstanden sind. Je lauter also die Obrigkeit durch Bischofskonferenzen oder vatikanische Äußerungen spricht, desto weniger wird ihr zugehört. Die erneute Behauptung hierarchischer Macht, wenn ein legitimierender Konsens unter Fachleuten und Gläubigen fehlt, bewirkt das Gegenteil des Beabsichtigten, wie das Musterbeispiel der Bulle "Unam sanctam" zeigt (kurz nach ihrer Promulgierung ließ Philipp der Schöne Bonifatius VIII. verhaften). Es ist vorstellbar, daß sie zu einer ähnlichen institutionellen Lähmung wie der am Ausklang des Mittelalters führen könnte (obwohl dieses Mal ein Schisma zwischen rivalisierenden Anwärtern auf den päpstlichen Thron nicht droht). So scheint sowohl für Katholiken als auch für Protestanten, allerdings in unterschiedlicher Art, die institutionelle Lebensfähigkeit der Kirchen, vor allem in unserer Zeit des Übergangs, von der Wiedergewinnung einer konsens- und gemeinschafts bildenden Hermeneutik ab. Wenden wir uns nun einigen Bemerkungen über diese Möglichkeit zu.
5. Wiederentdeckung der klassischen Hermeneutik In einem Beitrag zur jüngst erschienenen Festschrift für Professor Hans Frei spricht Ronald Thiemann, Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Harvard, von den biblischen Geschichten als "followable", als eine "followable" Welt bildend 6. Dieser Begriff der Verständlichkeit und Befolgbarkeit ist 6 Vgl. G. Green (Hrsg.), Scriptural Authority and Narrative Interpretation (Philadelphia 1987) 21-41.
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ein praktisches Etikett für das, was die Schrift wird, wenn die klassische Hermeneutik benutzt wird. In diesem Abschnitt geht es uns um die Frage nach dem Umfang, in dem die Bibel wieder "befolgbar" werden kann, und zwar nicht nur für Einzelne (das ist sie immer geblieben), sondern auch für Gemeinschaften, und nicht in einer trennenden, sondern in einer vereinigenden Weise. Ich werde zunächst darlegen, daß die postmoderne Situation dafür günstig ist, dann auf einige Ansätze dazu in den Bibelwissenschaften und der Theologie hinweisen und schließlich ein paar Bemerkungen über mögliche Auswirkungen auf den "sensus fidelium" machen. Mit dem Verlust des Vertrauens, den die Aufklärung in die Vernunft und den Fortschritt setzte, konzipiert man die Welten, in denen die Menschen leben, zunehmend als gesellschaftlich, sprachlich und sogar auf Texten aufgebaut. Soziologie, Anthropologie, Philosophie, Geschichts- und Literaturwissenschaften haben gemeinsam zu dieser Entwicklung beigetragen. Wir sind uns in einer noch nie dagewesenen Weise bewußt, in welchem Maße die Menschen und ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit gesellschaftlich und kulturell bedingt sind. Nichts kann sich dieser Bedingtheit entziehen, nicht einmal die Naturwissenschaften. Zu unseren Lebzeiten haben Wissenschaftshistoriker wie T. S. Kuhn und Philosophen wie Wittgenstein, Quine und Rorty (mit nur Beispiele aus dem englischsprachigen Bereich zu nennen) die im 19. Jh. übliche Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterminiert. Nach dieser Anschauung unterscheiden sich Physik und Dichtung weder ontologisch noch epistemologisch: Der Grund für ihre Verschiedenartigkeit liegt weder darin, daß sie sich auf unterschiedliche Weisen von Wirklichkeit beziehen, noch darin, daß sie aus unterschiedlichen Wegen der Erkenntnis hervorgehen. Sie sind vielmehr als Produkt gesellschaftlicher Bräuche zu sehen, die trotz unterschiedlicher Strukturen und Zwecke überlappende Merkmale aufweisen. Man hört strenge Wissenschaftler mit der Autorität des Gemeinplatzes behaupten, die epistemologische Begründung von Quarks und homerischen Göttern sei im Grunde genommen gleich. Die in den Bräuchen der Gemeinschaft verwurzelte rhetorische Kraft verleiht ihnen ihren 71
kognitiven Status, so daß dieser Status sich auch verändert, wenn die Rhetorik und die Bräuche sich verändern. Für die alten Griechen waren die homerischen Götter etwas Wirkliches, während die Quarks nicht existierten; für uns ist der Status dieser beiden umgekehrt, und es gibt keine endgültig formulierbaren, kontextfreien Kriterien für die Feststellung dessen, was richtig und was falsch ist (obwohl es nicht formulierte, implizite Kriterien dafür geben mag)? Auf diesem Hintergrund wird die in letzter Zeit im literarischen Bereich aufgekommene Betonung von Textkritik verständlich. Texte, die als in Riten, Mythen und anderen mündlichen Überlieferungen und Darstellungstraditionen eingebettete, feststehende Kommunikationsmuster verstanden werden, stellen schon in Gesellschaften, die des Lesens und Schreibens noch unkundig sind, etwas Grundlegendes dar. Sie können in unterschiedlichen Kontexten, zu unterschiedlichen Zwecken und mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden und bilden somit den Rahmen, innerhalb dessen einzelne Äußerungen ("Sprechakte") gesellschaftlich bedeutsam und wirksam werden. Wenn sie eine schriftliche Form annehmen, wird diese Fähigkeit gesteigert, weil sie dann einen Umfang, eine Komplexität und Stabilität erlangen, die für andere Medien (auch für moderne elektronische und kinematographische Medien) unerreichbar In ihrer anglo-amerikanischen Ausprägung geht diese Anerkennung einer radikalen Historizität nicht unbedingt mit Skeptizismus, Relativismus oder Irrationalismus einher. Die den Menschen im Diesseits zugängliche Wahrheit ist "gerechtfertigter Glaube", wobei die Tatsache, daß es unterschiedliche Maßstäbe zur Feststellung der Rechtfertigung gibt, die Wahrheitssuche und den Gebrauch der besten zur Verfügung stehenden Maßstäbe nicht weniger dringlich werden läßt. Die Art von Aristotelismus und Thomismus, die von Autoren wie Alisdair McIntyre, Victor Preller, David Burrell und Angus Kerr dargeboten wird, ist mit diesem Standpunkt vereinbar. In einem Beitrag in der Zeitschrift "The Thomist" behandelt Bruce Marshall diesen Standpunkt vor allem im Zusammenhang mit Thomas von Aquin: Die darin vorgebrachte Argumentation lautet in sehr vereinfachter Form, daß Thomas eine zwar völlig unrelativistische Haltung in bezug auf Wahrheit einnahm (Gott kennt die Dinge, wie sie tatsächlich sind), aber in bezug auf Erkenntnis einen Relativismus gelten ließ (kreatürliches Wissen entspricht der "Art des Empfängers"), der die Möglichkeit einer Anerkennung der Historizität, die weder skeptisch noch irrational geprägt ist, einberaumt. Selbstverständlich ist das im besagten Aufsatz vertretene Argument auch mit anderen philosophischen Standpunkten vereinbar. 7
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bleibt. Kurz gesagt: Die Texte entwerfen Welten, in denen ganze Kulturen leben können und gelebt haben 8. Ferner können sich ausgedehnte Diskursgemeinschaften ohne solche Texte schwerlich und vielleicht überhaupt nicht entwikkeIn. Die Ausbreitung der chinesischen Kultur von China nach Eine KlarsteIlung kann in diesem Zusammenhang hilfreich sein, um eine Verwechslung zwischen "Textkritik" im hier gemeinten Sinn und dem von Jacques Derrida vertretenen Dekonstruktionismus zu vermeiden. Trotz mancher Übertreibung behauptet Derrida nicht ganz zu Unrecht, daß das Schreiben dem Sprechen, die Mehrdeutigkeit der Eindeutigkeit vorausging. Nicht der Text, sondern das "gegenwärtige" Wort, d. h. das in einem situationsspezifischen Sprechakt gebrauchte Wort, besitzt eine einzige festgelegte Bedeutung. Der theologische Fehler Derridas liegt in der Annahme, daß Christen den Logos, das fleischgewordene Wort, im Sinne der Metaphysik der Gegenwart, gegen die er polemisiert, historisch verstanden hätten. Jesus Christus ist in der Praxis (trotz aller Glaubensaussagen der kirchlichen Lehre und der Theologie) nie als einem Sprechakt gleich, d. h. mit einer einzigen, unwandelbaren Bedeutung, betrachtet worden, sondern ist nun als der auferstandene Herr ebenso eine lebendige Person wie während seines Erdenlebens. Seine gegenwärtige Bedeutung - seine Botschaft an die Gläubigen durch die Schrift, den Gottesdienst usw. - ist weiterhin jeden Morgen neu. Ferner muß man berücksichtigen, daß die Betonung von Textkritik nur dann zu einem endlosen und nicht zu entscheidenden dekonstruktiven Bedeutungsspiel führt, wenn man sich (wie die Dekonstruktionisten) weigert, einem gegebenen Text und einer gegebenen Hermeneutik einen Vorrangstatus einzuberaumen. Diese Weigerung ist jedoch willkürlich. Es ist, als wollte man leugnen, daß die geometrische Bedeutung von Euklids "Elemente" legitimerweise als ihre Primärbedeutung zu betrachten sei, nur weil dieses Werk auch als intertextuell mit der gesamten Literatur verwandt betrachtet und mit einer unbegrenzten Zahl von Zwecken und Bedeutungen, einschließlich solcher, die sich selbst untergraben, gelesen werden kann. Diese Betonung von Textkritik kann jedoch für sich genommen werden, und wenn dies der Fall ist, weist sie deutlich daraufhin, daß ein textgebundener Glaube keineswegs erstarrt ist, sondern offene Ohren für das Sprechen Gottes in vielfältiger Weise durch die Schrift hat. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die prämoderne Bibelauslegung mit dem Dekonstruktionismus die Weigerung gemeinsam hat, vom Text abgeleitete Dinge wie Lehren (verstanden z. B. als universelle lehrsatzmäßige Wahrheiten über die Wirklichkeit), historische Rekonstruktionen oder existentielle Beschreibungen des menschlichen Zustands als primär zu betrachten (wobei alle drei eine Art "Metaphysik des Gegenwärtigseins" einschließen, wenn sie den tieferen Sinn des Textes erfassen sollen). Mit dem Dekonstruktionismus teilt sie auch das große Gewicht, das sie einer engen Auslegung und mehrfachen Bedeutungen beimißt. Der Unterschied liegt darin, daß es für prämoderne Christen einen privilegierten Text und einen privilegierten Interpretationsmodus gab, wobei der Dekonstruktionismus größtenteils gerade diesen privilegierten Status leugnen will. Innerhalb der angedeuteten Grenzen stellt die Betonung von Textkritik seitens des Dekonstruktionismus jedoch eine Entwicklung dar, die die Möglichkeit der Wiedergewinnung der klassischen Hermeneutik steigert. 8
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Korea, Japan und Vietnam hing vom konfuzianischen Korpus ab; die verschiedenen Arten des Buddhismus beruhten auf einem jeweils unterschiedlichen, aber ineinandergreifenden buddhistischen Kanon; bei Judentum, Christentum und Islam kam es selbstverständlich auf ihre jeweiligen heiligen Schriften an. Ohne einen zentralen Kern von privilegierten und vertrauten Texten läßt sich gesellschaftliche Kohäsion schwerer aufrechterhalten und hängt in einem größeren Maß von bürokratischer Leitung, Manipulation der öffentlichen Meinung und letztlich vielleicht totalitärer Machtausübung ab. Die Vernunft in Form von Naturwissenschaft oder Philosophie ist in ihrer Reichweite zu beschränkt (sie vernachlässigt z. B. die Phantasie) und bietet zu widersprüchliche und wechselnde Bilder des kosmischen Schauplatzes des menschlichen Lebens, als daß sie einen befriedigenden Ersatz darstellen könnte. Was not tut sind Texte, die eine von der Phantasie und Praxis her gesehen bewohnbare Welt entwerfen. Ein "bewohnbarer" Text muß nicht unbedingt eine in erster Linie narrative Struktur aufweisen (mit Ausnahme der Bibel besitzt keiner der bisher erwähnten Kanonarten eine solche), doch muß er in irgendeiner Weise als Denk- und Handlungsleitlinie bei der Begegnung mit sich verändernden Umständen auslegbar sein. Er muß befolgbare Anweisungen für kohärente Lebensund Denkmuster in neuen Situationen bieten. Wenn er dies tut, kann man es für vernünftig halten, innerhalb des von ihm abgesteckten Rahmens zu leben; keine weiteren Grundlagen sind notwendig oder bei dem heute herrschenden Meinungsklima auch möglich. Vieles im gegenwärtigen Geistesleben kann als eine Suche nach solchen Texten verstanden werden. Heutige Marxisten und Freudianer z. B. versuchen kaum noch, die Schriften ihrer Lieblingsautoren naturwissenschaftlich oder philosophisch zu begründen. Sie verlangen von ihnen lediglich, daß sie befolgbar, in einer Weise auslegbar sein sollten, die in dem einen Fall für die Gesellschaft, im anderen für das Leben des Einzelnen einen Leitfaden bietet. So sind die Systeme der Aufklärung, die einst eine rationale Grundlage für sich beanspruchten, nun zu grundlagenlosen hermeneutischen Unterfangen geworden.
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Die klassische biblische Hermeneutik entstand in einer ähnlich grundlagenlosen Ära, als befolgbare Texte Mangelware waren. Die Juden besaßen einen großen Vorteil: Der monotheistische Charakter ihres heiligen Buches verlieh ihm eine universelle Reichweite und Einheit; die lange Geschichte und die Verschiedenartigkeit der darin enthaltenen Schriften verlieh ihm eine außerordentlich breite Anwendbarkeit unter wechselnden Umständen; ferner besaß es eine anweisende und gemeinschaftsbildende Kraft, die jener der philosophischen Systeme, die seine einzigen wirklichen Konkurrenten darstellten, weit überlegen war. Sobald die Schrift durch die christliche Bewegung von ihrer Beschränkung auf ein einziges Volk befreit wurde, konnte sie aufgrund einer lebensverwandelnden gemeinschaftlichen Auslegung den Lauf der Geschichte ändern. Die göttliche Vorsehung war nach christlicher Überzeugung die Erstursache dieser Entwicklung, aber aus der Perspektive von Zweitursachen bewirkte die Bibel diese in einem beachtenswerten Umfang aus eigener Kraft. Es war ein hervorragend "bewohnbarer" Text in einer Welt, die Wohnstätten nötig hatte, und die Völker strömten in Scharen zu ihm. Wir leben, wie gesagt, in einer Zeit, in der alte Grundlagen und legitimierende Strukturen zusammengebrochen sind. Selbst die Verfechter der Vernunft halten es für unvernünftig, von einer Lebensphilosophie oder einer Religion, bzw. von den Texten, die Philosophien und Religionen Reichhaltigkeit, Weite und Beständigkeit verleihen, mehr als Befolgbarkeit zu verlangen. Es gibt immer weniger intellektuelle Einwände gegen die Legitimität oder Möglichkeit der Behandlung eines klassischen Textes, sei er religiöser oder nicht religiöser Art, als verständlichen Wegweiser für Leben und Denken. Es dreht sich nur noch darum, ob man Interesse daran hat und erfolgreich danach handeln kann. Es gibt zweitens einige Entwicklungen, die die Möglichkeit eines solchen Erfolgs nahelegen. Bibelwissenschaftler interessieren sich zunehmend für die literarischen Merkmale, die gesellschaftliche und gemeinschaftliche Funktion sowie für die kanonische Einheit des Schrifttextes. Andere sind jedoch besser qualifiziert als ich, diese Ansätze zu kommentieren. Statt einer näheren Erör75
terung möchte ich nur die Namen Karl Barth und Hans Urs von Balthasar anführen. Beide sind Theologen des 20. Jahrhunderts, deren Umgang mit der Bibel dem klassischen Gebrauch näher kommt, als dies seit einigen Jahrhunderten der Fall gewesen ist, die jedoch deutlich als modem einzustufen sind (d. h. sie lehnen die historisch-kritische Methode nicht ab). Beide zögern, die Bibel in fremde Begrifflichkeit zu übertragen; beide suchen vielmehr, die Welt (oder die Welten), in der sie leben, in biblischen Begriffen neu zu beschreiben 9; beide behandeln die Schrift als ein narrativ (bzw. bei H. U. von Balthasar "dramatisch") und typologisch einheitliches Ganzes; und beide verweisen den Leser durch exegetische Studien, die einen integralen Bestandteil des theologischen Programms darstellen, auf den Bibeltext selbst zurück. Kurzum: Diese beiden Theologen bewohnen dieselbe Welt des theologischen Diskurses wie die Väter, das Mittelalter und die Reformatoren in einem größeren Ausmaß, als dies bei den meisten modemen Theologen der Fall ist. Eine Diskussion unter ihnen ist mit Rückgriff auf den Text möglich - vielleicht sogar wünschenswert -, weil sie in einer grundsätzlich ähnlichen Weise an den Text herangehen. Bei anderen Theologen dagegen ergeben sich wichtige Differenzen aus den außerbiblischen Begrifflichkeiten (idealistisch, marxistisch usw.), die sie zur Bibelauslegung anwenden; die Differenzen können dann nicht beigelegt Wenn Wale und Fledermäuse als Säugetiere neu beschrieben werden, reiht man sie in eine andere Kategorie als Fische und Vögel ein, aber sie bleiben voneinander und von anderen Säugetieren durchaus verschieden. In ähnlicher Weise bleiben die Welten von Christen der Frühzeit, des Mittelalters, der Reformation oder der Gegenwart vollkommen unterschiedlich, wenn sie in biblischen Begriffen neu beschrieben werden. "Die zeitgenössische Wirklichkeit in den Schrifttext aufzunehmen", um einen früheren Ausdruck zu wiederholen, ist das logische Gegenteil der Umsetzung der biblischen Botschaft in heutige Denkweisen, muß jedoch nicht unbedingt ein archaisierendes Unterfangen darstellen. Barth und von Balthasar unterscheiden sich allerdings in bezug auf ihre N eubeschreibungen, insofern dieser eine positivere Einstellung als Barth gegenüber dem Beitrag des Glaubens der "christianisierten" Weltanschauungen oder Philosophien (z. B. des Platonismus) einnimmt. Er scheint mir jedoch mit ebensoviel Nachdruck (z. B. gegen Rahner) die grundsätzliche "Unübersetzbarkeit" der biblischen Botschaft zu vertreten. Die Argumentation des vorliegenden Aufsatzes ist in diesen Punkten sowohl mit Barth als auch mit Balthasar vereinbar, obwohl sie in jenen Fällen, in denen es zwischen den beiden Unterschiede gibt, vielleicht eher zum Standpunkt Balthasars neigen. 9
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werden, und manchmal gibt es nicht einmal eine gemeinsame Sprache, in der sie überhaupt besprochen werden können. Die Ansätze Barths und von Balthasars in bezug auf die Schrift haben jedoch keinen großen Anklang gefunden. Selbst die Anhänger Barths (über die Anhänger von Balthasars bin ich nicht informiert) sind größtenteils durch seine Theologie und nicht durch seine Exegese beeinflußt worden. Dies ist verständlich, weil seine Exegese gravierende (allerdings verbesserungsfähige) Makel aufweist 10. Was wir bei diesen beiden Autoren vorfinden, ist lediglich ein erster, wenn auch wichtiger Schritt im Hinblick auf die Aufgabe, die Bibel heute befolgbar, klassisch, aber nicht antikritisch auslegbar zu machen. Der Versuch, eine analoge Aufgabe in der griechisch-römischen Welt zu erfüllen, bedurfte einiger Jahrhunderte, und obwohl es bei Augustinus und den Kappadoziern zu einer Art Höhepunkt kam, wurde sie angesichts der Veränderlichkeit jener und jeder anderen Welt nie vollständig erledigt. Wir stehen vielleicht am Anfang einer Rückbesinnung in der Theologie und der Bibelwissenschaft, aber eben nur am Anfang. Die dritte und schwierigste Frage liegt jedoch in der Überlegung, ob die klassisch aber nicht anti-kritisch ausgelegte Bibel den "sensus fidelium" durchdringen könne. Die Voraussetzung dafür ist die Entstehung von Interpretationsgemeinschaften, in denen Seelsorger, Bibelwissenschaftler, Theologen und Laien gemeinsam in der Schrift von Gott gegebene Leitlinien für ihr Leben als Gemeinschaft wie auch als Einzelmenschen suchen. Ihre Schriftauslegung wird im Kontext eines gottesdienstlichen Lebens erfolgen, das in seinen grundlegenden Mustern von Eucharistie, Taufe und Verkündigung dem Leben in den ersten christlichen Jahrhunderten entspricht. Es mag zwar Unterschiede hinsichtlich des de jure divino-Status. der Dreiteilung des Dienstes und der institutionellen Zuordnung des Petrusamtes zum Papsttum geben, aber weder in bezug auf die Legitimität dieses verschie10 Einige Bemerkungen über die Stärken und Schwächen der Exegese Barths finden sich in meinem Beitrag "Barth and Textuality", in: Theology Today XLIII (1986) 361-376.
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denartig ausgeübten Amtes als Diener des Gotteswortes noch in bezug auf die grundsätzliche Natur des göttlichen Auftrags an die Hirten, die Schafe zu weiden und zu führen, gibt es Meinungsverschiedenheiten. In diesen Gemeinschaften wird erneut das Gefühl erwachen, daß alle Christen ein einziges Volk bilden, das dazu auserkoren wurde, in allem, was es ist, sagt und tut, unter den Völkern für das Heilsangebot in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Zeugnis abzulegen und getreu oder nicht getreu nach Ratschluß der göttlichen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit der verheißenen Vollendung entgegenzustreben. Sie werden sich um die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft kümmern und gleichzeitig um das Heil aller Christen zutiefst besorgt sein. Empfänglichkeit für Hilfe und Korrektur sowie die Verantwortung, diese Dienste anderen Kirchen anzubieten, werden in ihrem institutionellen und organisatorischen Gefüge fest verankert sein. Das alles ist ein Traum, ein Lichtstreif am Horizont, doch würde man anfangen, ihn selbst nur an einigen wenigen verstreuten Orten zu verwirklichen, dann würde das den lebendigen Beweis dafür liefern, daß die Schrift ein zur Einheit führender und befolgbarer Text ist. Die Nachricht würde schnell bekannt werden (das geschieht heutzutage immer), und ihr Einfluß würde sich ausbreiten. Die öffentliche Meinung könnte in allen Religionsgemeinschaften weitgehend - und vielleicht sogar schnell beeinflußt werden, und die Wandlung des "sensus fidelium" (die länger braucht) könnte im Laufe der Zeit auch folgen. Nicht alle Probleme der Umgestaltung der Kirche in dieser Zeit des Wandels könnten durch eine solche Entwicklung gelöst werden. Es wird weiterhin zwischen Christen unterschiedliche Meinungen geben, und zwar nicht nur hinsichtlich der politischen Fragen von Frieden und Gerechtigkeit oder Sozialismus und Kapitalismus, sondern auch in Angelegenheiten von unmittelbar kirchlichem Belang wie der Ordination von Frauen. Ist die Tradition der Ablehnung der Frauenordination im Grunde genommen kulturell bedingt und daher mit dem langen Hinnehmen der Sklaverei seitens der Kirche vergleichbar? Eine Wiederentdeckung der klassischen Hermeneutik, auch wenn sie in Verbindung mit der historisch-kritischen Methode auftritt,
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entscheidet diese Frage nicht. Dennoch verändert sie den Kontext der Debatte. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich nicht auf Rechte, Privilegien und Geschlecht, sondern auf das Amt des Seelsorgers selbst als Instrument Gottes, um sein Volk mit dem Wort und den Sakramenten zu nähren. Was zählt, ist das, was die Kirche aufbaut. Vom soziologischen und historischen Standpunkt her gesehen, werden solche Fragen letztlich ohnehin vom "sensus fidelium" entschieden, aber in dem Maße, wie der Instinkt der Gläubigen (ihr angeborenes Wissen, wie der Aquinate diesen bezeichnet) von der Schrift geprägt ist, entscheidet diese und soll es auch tun. Es gibt vieles in der theologisch orientierten ökumenischen Diskussion, das in Richtung dieser Bemerkungen weist. Das gottesdienstliche und seelsorgliche Leben, das den notwendigen (nicht hinreichenden) Kontext für eine vereinigende gemeinschaftliche Bibelinterpretation bildet, entspricht im Grunde genommen den im "Lima-Papier" über Taufe, Eucharistie und Amt Beschriebenen. In ähnlicher Weise markiert der jüngste Bericht der Internationalen Lutherisch/Römisch-Katholischen Studienkommission "Facing Unity" den Anfang gemeinsamer Überlegungen über die mögliche Entstehung von interkonfessionellen Interpretationsgemeinschaften (ohwohl sie nicht so genannt werden), die zur Umgestaltung und Erneuerung, im Gegensatz zur Zerschlagung, der heute bestehenden Kirchenordnungen beitragen würden. Es muß jedoch zugegeben werden, daß die Hoffnung auf eine Verwirklichung des konsens- und gemeinschaftsbildenden Potentials eines prämodernen Musters der Bibelauslegung noch als unerfüllbarer Traum erscheint. Davon wird nicht einmal geredet und erst recht nicht der Versuch unternommen, diese Vision in die Praxis umzusetzen. In jenen Kreisen, in denen ernsthafteste Bibellektüre gepflegt wird - unter konservativen Protestanten, Charismatikern, Cursillo-Teilnehmern und Mitgliedern von Basisgemeinden -, kann dieses Muster oft auf aktiven Widerstand stoßen. Andererseits gibt es keinen Grund zur Entmutigung. Die Schrift erlaubt uns, ermutigt uns vielleicht sogar, Träume zu träumen und Visionen zu haben. Schranken sind abgebaut worden, 79
die Wiederentdeckung hat begonnen, und wir können uns viel eher, als dies vor nur einer Generation möglich war, ansatzweise vorstellen, daß Katholiken, Orthodoxe und die Erben der Reformation lernen werden, die Bibel als einen christuszentrierten Leitfaden für sich und ihre Gemeinschaften gemeinsam auszulegen. Die göttliche Lenkung der Welt und der Kirchengeschichte hat die Saat für eine Neugeburt des geschriebenen Wortes gesät; jetzt liegt es an den Gläubigen zu beten, zu arbeiten und gegen alle Hoffnung zu hoffen, daß Gott durch das Wirken des Heiligen Geistes das Saatgut aufgehen lassen werde 11. 11 Da ich nun ans Ende meines Beitrags komme, wird mir deutlich bewußt, daß er genau das, was er ermpfiehlt, nicht tut: Es venveist den Leser nicht auf den biblischen Text. Er mag ohnehin zu lang geraten sein, und ich habe - nicht immer mit Erfolg - versucht, Bibelzitate zu vermeiden. Wenn jedoch die Form der Bot· schaft angepaßt werden sollte, müßte dieser Beitrag neu abgefaßt werden, und zwar in einer prämodernen Form als Kommentar sich gegenseitig erklärender Stellen wie Dt 6,4-9, 2 Tim 3, 15-17 und Lk 2,45-47. Die historisch-kritische Methode würde dazu beitragen, die Anschauungen, gegen die sich diese Stellen (ursprünglich und auch kanonisch) richteten, herauszustellen, während die Typologie das Entdecken von Analogien (und folglich von Leitfäden) in der späteren Kirchengeschichte sowie in der Gegenwart rechtfertigen würde. Man müßte die Richtlinien des Augustinus in bezug auf die interpretative Anwendung, vor allem das Gebot der Liebe, beobachten und das Prinzip der Selbstkritik als simuljustus et peccatorberücksichtigen. Der sich daraus ergebende Aufsatz wäre zwar länger, aber auch interessanter. Er wäre ein echter theologischer Aufsatz, ein zur ersten Ordnung gehörender Versuch, Leitlinien aus der Schrift ab~uleiten, anstatt ein zur zweiten Ordnung gehörender Bericht über die Möglichkeit, dies zu tun. Trotz· dem hätten alle Aussagen dieses Aufsatzes auch in einer solchen Neufassung ih· ren entsprechenden Platz.
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111 Der Beitrag der historischen Bibelkritik zum ökumenischen Austausch zwischen den Kirchen Von Raymond E. Brown,
s. s.
Alle drei im Titel meines Beitrags enthaltenen Begriffe, nämlich die historische Bibelkritik, der ökumenische Austausch zwischen den Kirchen und der Gedanke, daß der eine zum anderen beiträgt, sind wichtige Elemente meiner Darlegungen. Daher gliedert sich dieser Beitrag in diese drei Punkte, auf die wir der Reihe nach eingehen werden.
1. Die historische Bibelkritik Die rationalistischen Ursprünge der historisch-kritischen Methode im 18. und 19. Jahrhundert führten oft dazu, daß diese im Prinzip übernatürliche Erklärungen ausschloß und eine theologisch unfruchtbare Analyse von Quellen, Aufbau und Geschichte hervorbrachte. Nach meiner Erfahrung gilt dies alles nicht für die Rolle der historischen Bibelkritik in modemen ökumenischen Studien. Aus diesem Grund glaube ich, daß die meisten theologischen Befürchtungen in bezug auf die historisch-kritische Methode etwas Vergangenes betreffen und für die gemäßigte, adaptierte Form der Kritik, die ich hier vortragen möchte, ohne Belang sind. Was verstehe ich also unter historischer Bibelkritik? Bei der Art von Kritik, auf die ich mich in diesem Beitrag beziehe, geht es in erster Linie um das, was der biblische Autor seinen Lesern in dem von ihm geschriebenen Text vermittelte. a) Der biblische Autor Da die Antike den Begriff ,Autor' in einem viel weiteren Sinn, der an Autorität grenzte, verstand, schränke ich den Begriff nicht 81
auf den des Schriftstellers ein. Im Gegensatz zur fundamentalistischen Behauptung hängt nichts von der sicheren Kenntnis der persönlichen Identität des Verfassers ab. Die Autorität der Evangelien beruht z. B. nicht auf der Tatsache, daß sie von Aposteln, die Augenzeugen waren, geschrieben wurden. Im Gegensatz zur übertrieben kritischen Analyse verleiht die Überzeugung, daß die Verfasser von Gott geleitet wurden, ihrer Interpretation selbst dann Autorität im ökumenischen Austausch, wenn sie über ihre Quellen hinausgehen. Die historische Kritik zeigt z. B., daß die Evangelisten sich nicht darauf beschränkten, die Worte Jesu wortwörtlich zu berichten, sondern gelegentlich in Wortlaut und Sinn darüber hinausgingen. Dies mindert nicht die Autorität der Evangelien bei unseren Diskussionen. Die historische Kritik zeigt auch, daß einige authentische paulinische Texte durch Glossen ergänzt worden sind und daß einige Paulus zugeschriebene, neutestamentliche Werke tatsächlich erst in der nachpaulinischen Zeit verfaßt wurden; damit wird ihre Autorität als biblische Werke nicht negiert. (Diese Feststellungen tun dem persönlichen Status von Jesus und Paulus keinen Abbruch, sondern erkennen lediglich, daß die Kirchen in ihrem Kanon die Schriften selbst und nicht einfach die Quellen, aus denen die biblischen Schriftsteller ihre Ideen schöpften, anerkannt haben.) Dazu möchte ich einige konkrete Beispiele anführen, um die Bedeutung dieser Gedanken für den Austausch zwischen Religionen und Kirchen zu illustrieren. Die Bibelkritik hat deutlich gemacht, daß eine gewisse Gegnerschaft gegen "die Juden" bei Johannes und gegen die Pharisäer bei Matthäus die Situation der Kirche in den 80er und 90er Jahren widerspiegelt und somit über das Leben und Wirken Jesu auf Erden hinausgeht. Dennoch müssen sich Christen mit solchen, in der biblischen Botschaft enthaltenen Haltungen auseinandersetzen und sie nicht als unwichtig abtun, weil sie nicht in ihrer Fülle von Jesus selbst geteilt wurden. Bibelkritiker argumentieren manchmal auch damit, daß der Abschnitt 1 Kor 11,2-16, in dem die untertänige Stellung der Frau beim gemeinsamen Gebet beschrieben wird, eine nachpaulinische Hinzufügung sei; dem Ton nach kommt er auch tatsächlich jener mit größerer Sicherheit aus nachpaulinischer Zeit stammender Stelle in 1 Tim 2,12 näher, die Frauen verbietet, zu
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lehren und über den Mann zu herrschen. Der chronologisch betrachtet spätere Sitz im Leben mag diesen Stellen eine neue Nuancierung verleihen, so daß sie auf andere Situationen im Verlauf der paulinischen Entwicklung hinweisen, doch kann man ihnen nicht einfachhin jegliche Autorität absprechen, weil sie nicht von Paulus selbst verfaßt wurden. Der weit gefaßte Begriff der biblischen Autorenschaft wird diese Stellen vielleicht als eine Interpretation des paulinischen Denkens in einer späteren Zeit deuten. (Wie die Kirche auf die Autorität biblischer Stellen reagieren sollte, erörtern wir in Abschnitt 4 dieses Beitrags.) b) Der im Text des Autors vermittelte Inhalt Wenn wir über die biblische Situation nachdenken, fragen wir uns unvermeidlich über die Reichweite des Wissens des biblischen Autors. Doch sollte dies nicht unser Hauptanliegen sein: Vielmehr sollten wir festzustellen suchen, welche Inhalte er in seinem geschriebenen Text eigentlich vermittelte. Allzu oft haben sich sehr konservative Exegeten auf die Analogie anderer biblischer Schriften berufen, um das vermutliche Wissen des Verfassers festzustellen: Paulus müsse z. B. von den Berichten über die jungfräuliche Empfängnis bei Matthäus und Lukas gewußt haben. Darin liegt eine sehr gefährliche Vereinfachung, denn die neutestamentliche Zeit weist eine Vielfalt von Meinungen auf. Die einfache Tatsache ist, daß Paulus die jungfräuliche Empfängnis nie ausdrücklich erwähnt und die Empfängnischristologie nicht zu der Sicht Jesu gehört, die er in seinen Briefen vermittelt. Andererseits haben einige sehr liberale Exegeten sofort daraus geschlossen, daß Paulus und die anderen neutestamentlichen Schriftsteller, die die jungfräuliche Empfängnis nie erwähnen, davon nichts wußten. Auch sie gehen über das, was im Text enthalten ist, hinaus. Für das Nichterwähnen bestimmter Punkte in Gelegenheitsschriften wie in Episteln (die den größten Teil des NT bilden) lassen sich verschiedene Gründe anführen. Der ökumenische Austausch gewinnt, wenn er der Kontrolle des geschriebenen Textes unterworfen ist und nicht auf Spekulationen beruht, die weit über den Text hinausgehen. Eine solche Kontrolle kann bei der Auseinandersetzung mit einigen heiklen Fragen unserer Zeit sehr wichtig sein. Es ist anzunehmen, daß 83
Frauen eine viel wichtigere Rolle bei der Ausbreitung des Christentums und im Leben der frühchristlichen Gemeinden spielten, als in unseren Dokumenten berichtet wird. Die ganze Art der Geschichtsschreibung und die Tatsache, daß die Schriftsteller Männer waren, führte unvermeidlich zu einer stärkeren Betonung der Taten von Männern. Aber der Text selbst liefert uns keinen Stoff zur Rekonstruktion der Rolle der Frauen, und wir müssen uns hüten, auf "Vermutungen" beruhende Rokonstruktionen als Modelle für Entscheidungen in der gegenwärtigen Kirche zu benutzen. (Solche Bemerkungen sollen die Kirche nicht lähmen und von neuen Schritten abhalten, aber man soll anerkennen, daß solche Schritte im Licht unserer schriftlichen Beweise neue Wege darstellen.) Ein weiteres Beispiel der vom Text ausgeübten Kontrolle läßt sich aus den Theorien ableiten, die von Konservativen wie auch Liberalen in bezug auf den Zelebranten der Eucharistie in neutestamentlicher Zeit vorgebracht werden. Einige behaupten ganz verbindlich, daß nur die Apostel und die von ihnen Beauftragten (meist als Bischöfe verstanden) der Eucharistie vorstanden, während andere nicht weniger kühn behaupten, daß das Oberhaupt des Hauses diese Rolle übernahm. Tatsächlich wird kein Christ jemals als Vorsteher der Eucharistie im NT dargestellt. Es mag wohl Vorsteher gegeben haben, aber die Ehrfurcht vor dem von den biblischen Autoren Geschriebenen müßte zum Eingeständnis unseres Unwissens sowie zum offen Bekennen der Waghalsigkeit jeglicher Rekonstruktion führen. c) Der dem Leser vermittelte Inhalt Der gesunde Menschenverstand wird uns nahelegen, daß unsere Bemühungen, die Inhalte zu erkennen, die ein Autor in Büchern, die 3000 bis 1900 Jahre alt sind und in heute nur unvollkommen beherrschten Sprachen verfaßt wurden, seinen damaligen Lesern vermittelte, nur teilweise zum Erfolg führen können, zumal die Weltanschauung sowohl des Verfassers als auch des Lesers sowie der jeweilige psychologische Kontext sich weitgehend von unseren heutigen unterscheiden. Bibelkritiker müssen zugeben, daß ihre Interpretationen des vermittelten Sinns als unterschiedlich gesichert gelten, wobei die Palette von sicher über wahr84
scheinlich und möglich bis höchst unsicher reicht. Dennoch bleibt der vermittelte Sinn, den wir im Rahmen unserer Möglichkeiten zu rekonstruieren versuchen, der grundlegende Ausgangspunkt für alle Interpretationen sowie für den ökumenischen Austausch. Damit soll keineswegs großmächtig behauptet werden, der von der historischen Bibelkritik herausfindbare Sinn erschöpfe sich in der inhaltlichen Deutung des biblischen Textes. Jüdische und christliche Leser haben ihre heiligen Schriften in nachfolgenden Jahrhunderten in anderen Kontexten als denen des ursprünglichen Verfassers und Publikums ausgelegt und darin einen Sinn entdeckt, der dem jeweiligen neuen Kontext entsprach. Das ist schön und gut, zum al es schlicht eine Anerkennung der weiteren Bedeutung der Schrift darstellt. Dabei ist es belanglos, ob diese in der Sprache der Kirchenväter und der Theologen des Mittelalters als "geistigen Sinn" bezeichnet wird oder einen Sinn darstellt, der von modernen Formen der ,Kritik', die über die historische hinausgehen - z. B. rhetorische, literarische und Rezeptionskritik usw. - entdeckt wird. Im ökumenischen Austausch muß man sich jedoch der Beschränkungen dieses breiteren Rahmens der Bibelkritik bzw. Bibelinterpretation bei der Lösung bestimmter historischer Fragen und lehramtlicher Unterschiede, die die Kirchen getrennt haben, bewußt sein. Historische Fragen sind nicht die einzigen, die an die Schrift gestellt werden können; aber sobald sie erhoben werden, muß die historische Forschung in die Lösung der jeweiligen Frage einfließen. Diese Forschung befaßt sich mit der Bedeutung der Worte des Autors bei der ursprünglichen Abfassung und Lektüre des Textes. Eine Stelle wie Joh 3,5: "Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen", nahm für Leser in späteren Jahrhunderten angesichts der Diskussion über ungetauft gestorbene Kinder gewiß einen neuen Sinn an. Dieser neue Sinn kann jedoch die historische Frage nach der Bedeutung des Textes in den Augen seiner ursprünglichen Leser nicht lösen und uns auch nicht darüber aufklären, ob sein Verfasser sich im geringsten über das Schicksal ungetaufter Kinder Gedanken gemacht hatte. - Der Spruch Jesu beim letzten Abendmahl "Tut dies zu meinem Gedächtnis" (Lk 22, 19 mit einer Parallele in 1 Kor 11,25) war bei der Heraus85
bildung eines sich fortpflanzenden kirchlichen bzw. priesterlichen Amts selbstverständlich von größter Bedeutung. Für den ökumenischen Austausch ist es jedoch äußerst wichtig festzustellen, ob man das Vorhandensein eines solchen Begriffs vom christlichen Priestertum in bezug auf die Eucharistie entweder im Kontext des letzten Abendmahls oder beim Publikum von Paulus und Lukas plausibel annehmen kann. Eine Bibelkritik, die sich mit dem eng umrissenen Inhalt beschäftigt, den die biblischen Autoren ihren ursprünglichen Lesern in ihren Schriften vermitteln, wird vielleicht zu atomistisch und splitterhaft erscheinen, um der umfassender angelegten theologischen Sicht dienlich zu sein, die die Kirchen anstreben müssen. Dennoch haben Bibelkritiker in Studien, die bewußt in ökumenischer Absicht unternommen wurden, dieses Problem annähernd bewältigt. Das Buch "Mary in the New Testament", das gemeinsam von Katholiken und Lutheranern herausgegeben wurde und zu dem ein Dutzend Wissenschaftler verschiedener Konfessionen beigetragen haben, befaßt sich z. B. mit der eingeschränkten und unterschiedlichen Sicht Mariens bei den vier neutestamentlichen Autoren, die sich mit ihr befassen (Markus, Matthäus, Lukas, Johannes - mit zusätzlicher Erörterung von Paulus sowie der Apokalypse). Nachdem sie die einzelnen Stellen in chronologischer Sicht behandelt haben (wobei sie der Meinung der Mehrheit der kritischen NT-Exegeten in bezug auf Datierung folgen), versuchen die Verfasser die Entwicklungslinien bzw. die Entwürfe des Bildes der Mutter Jesu im NT herauszuarbeiten. Sie stellen fest, daß sich bei Matthäus eine positivere Darstellung Mariens als bei Markus findet, während Lukas und Johannes die einzigartige Jüngerschaft Mariens deutlicher als Matthäus herausstellen. Damit öffneten sich Wege, die nachfolgenden Entwicklungen in der kirchlichen Marieniehre im Hinblick auf ihre Verbindung zu bereits im NT vorhandenen Entwicklungslinien zu untersuchen und festzustellen, ob sie sogar als eine Weiterentwicklung dieser Linien betrachtet werden könne. Einige Christen können Lehren als autoritativ annehmen, die in der nachbiblischen Zeit artikuliert wurden und nicht mit dem kritischen Apparat in der Bibel aufzuspüren sind - die Autorität der späteren Kirche wird als hinreichend angeführt (egal ob jene,
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die sie anführen, mit wünschenswerter Klarheit erkennen, daß die Lehre über das biblische Verständnis hinausgeht. Viele Christen akzeptieren nur das, was sie bei den biblischen Autoren deutlich artikuliert vorzufinden meinen (auch wenn sie etwas naive Vorstellungen hinsichtlich der Grenzen biblischer Beweise hegen). Es ist sehr schwer, für diese beiden christlichen Standpunkte eine gemeinsame Grundlage zu finden. Ein Studium des Neuen Testaments, das nicht nur die Grenzen einzelner TextsteIlen respektiert, sondern auch Entwicklungslinien innerhalb frühchristlicher Vorstellungen sucht, unterstützt eine zwischen diesen Standpunkten angesiedelte Gruppe heutiger Christen, die über den biblischen Stoff hinausgehende Lehren annehmen kann, solange eine Verbindung oder eine Entwicklungslinie zu finden ist, die die jeweilige Lehre als Widerspiegelung der in der Bibel bezeugten Offenbarung verständlich macht. In meiner eigenen Erfahrung auf dem Gebiet von ökumenischen Studien über Maria, Paulus, kirchliche Strukturen usw. hat sich diese Zwischen position als sehr fruchtbar bei der Aufhebung seit langem bestehender Antipathien erwiesen.
2. Der ökumenische Austausch zwischen den Kirchen Der Kontext, in dem die historische Bibelkritik benutzt wird, ist von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang sehe ich die Zunft der Bibelwissenschaftler nicht als vorrangigen Ort der Auseinandersetzung über Texte: Einzelne Wissenschaftler können ja vor allem in bezug auf den göttlichen Ursprung und die theologische Relevanz der Schrift von sehr unterschiedlichen und unberechenbaren Annahmen ausgehen. In der interkirchlichen Diskussion gehen wir jedoch von einer kirchlichen Akzeptanz von Inspiration und kanonischer Autorität der Schrift aus (auch wenn es leichte Unterschiede bei der Auslegung dieser Begriffe gibt). Wir können auch einen Kontext des liturgischen Gebrauchs der Bibel und die Überzeugung, daß die Schrift für das Leben der Gläubigen ist und auch sein soll, als gegeben voraussetzen. Die kirchliche Dimension des ökumenischen Austausches ist auch deswegen wichtig, weil sie die Frage auf die 87
Versöhnung offizieller Positionen hinsichtlich der Lehre beschränkt und die idiosynkratischen Standpunkte von Theologen (auch der wichtigsten Theologen wie Thomas von Aquin und Luther in seinen jungen Jahren oder alten Tagen) aus der Diskussion ausklammert. Daraus möchte ich nun einige Folgen ziehen. a) Wenn man von dem ausgeht, was in den jeweiligen Seminaren gelehrt wird, muß man schließen, daß die meisten christlichen Kirchen des Abendlandes (z. B. die Episkopalisten, Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Katholiken und die United Church ofChrist * die historische Bibelkritik als ein gültiges (allerdings, wie oben ausgeführt, beschränktes) Werkzeug akzeptieren; so muß man die Anwendung der historischen Methode bei der Kritik biblischer Texte nicht als legitim verteidigen. Ich weise deswegen auf diese Tatsache hin, weil es in den meisten der genannten Kirchen auch eine ultrakonservative Gruppe gibt, die aufgrund eines falsch verstandenen oder falsch konzipierten Prinzips der Irrtumslosigkeit der Bibel eine solche Kritik ablehnt. Der Versuch, beim ökumenischen Austausch auf die Einwände dieser Ultrakonservativen einzugehen, würde zu einer endlosen Ablenkung von den eigentlichen Kernfragen führen; dennoch nehmen solche Gruppen aufgrund ihrer Verteidigung des Literalsinns einen sehr kritischen Standpunkt gegenüber ökumenischen Übereinkommen ein. Zuweilen wird eingewandt, daß die ökumenischen Übereinkommen, die sich aus kirchlich unterstützten theologischen Gesprächen ergeben, nicht für alle Mitglieder der daran beteiligten Kirchen akzeptabel seien. Diese Ablehnung mag teilweise auf den soeben genannten Grund zurückzuführen sein; persönlich kenne ich sie am ehesten in ultrakonservativen katholischen Kreisen, die trotz der unmißverständlichen offiziellen Zulassung der historisch-kritischen Methode bei der Auslegung der Evangelien, die demnach nicht unbedingt den genauen Wortlaut der Aussagen Jesu wiedergeben müssen (Erklärung der Päpstlichen Bibelkommission über die Historizität der Evangelien [1964]), am Literalsinn festhalten. b) Einige der großen Kirchen des Ostens haben bisher keine * Zusammenschluß der evangelisch-reformierten Kirchen mit den Kongregationalisten in den USA (Anm. d. Übers.). 88
bedeutsamen Versuche einer Anwendung der historischen Bibelkritik unternommen. Einige abendländische Christen, ob sie sich nun als Kirche (bestimmte Baptisten) oder einfach als Evangelikale bezeichnen, kennen zwar die historische Bibelkritik, aber lehnen sie ab, weil sie meinen, sie untergrabe die im Literalsinn verstandene Irrtumslosigkeit der Schrift. In der angelsächsischen Welt und vor allem in den USA können die Kirchen oder christlichen Gemeinden, die dem Literalsinn anhangen, groß sein, so daß man sich bei jeder Diskussion, auch der im vorliegenden Referat erörterten, vor Augen halten muß, daß unsere Vorstellung der inter kirchlichen Ökumene sie eigentlich nicht tangiert hat. Folglich hat die Bibelkritik ihnen kaum geholfen, es sei denn, daß Professoren an Seminaren, die von solchen Gruppen unterstützt werden, einige Einsichten aus der Anwendung dieser Methode anerkannt haben. Es läßt sich nachweisen, daß solche Professoren aus dem Lehrkörper der jeweiligen Seminare ausgeschlossen werden; dies wiederholt sich gewöhnlich in einem Zyklus von etwa zehn Jahren, bis die Kirche bzw. Konfession sich in dieser Frage der Hauptströmung christlichen Denkens nähert. c) Am anderen Extrem des christlichen Spektrums befinden sich diejenigen, die nur marginal zu ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft gehören. Für sie mag die Ökumene darin bestehen, daß man ähnlich gesonnene Christen annimmt, die die traditioneHen Unterschiede hinsichtlich der Lehre als irrelevant abtun. In einer solchen Atmosphäre kann sogar die Bibel selbst als zeitbedingt und daher irrelevant betrachtet werden. Die Bibelkritik und die sich daraus ergebende FeststeHung von Entwicklungslinien, die einen Zusammenhang zwischen dem biblischen Text und späteren Lehren herstellen, werden als eine seltsame archaisierende Blüte abgetan. So ist die historische Bibelkritik für manche Christen zu radikal, für andere jedoch zu konservativ. Ich habe auf diese ziemlich selbstverständlichen Punkte aufmerksam gemacht, damit wir, die wir uns zu einem ökumenischen Meinungsaustausch treffen, nicht vergessen, daß wir wahrscheinlich eine Minderheit bilden. Wenn ich in meinem Beitrag von der Bedeutung der Bibelkritik spreche, möchte ich zugleich anmerken,daß ich mir der Grenzen des hier vorgestellten Kontextes durchaus bewußt bin. 89
3. Der Beitrag der historischen Bibelkritik
Aus den ersten bei den Abschnitten dieses Beitrags geht deutlich hervor, daß ich der Überzeugung bin, die historische Bibelkritik habe zur ökumenischen Diskussion zwischen den Kirchen Wichtiges beigetragen und könne dies auch in Zukunft tun. Es wäre jedoch töricht, die weiterhin bestehenden Probleme nicht anzuerkennen. Bibelkritiker sind nicht immer unvoreingenommen und geben manchmal Analysen, die zwar ihre sympathischen Ansichten unterstützen, aber die nicht eindeutige biblische Situation keineswegs berücksichtigen. Um hilfreich zu sein, muß die Bibelkritik angemessen und repräsentativ sein - ein Desiderat, das selten ohne das Zusammenspiel entgegengesetzter Meinungen erreicht werden kann. Dazu ein Beispiel: Der Versuch der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, das nizänische Glaubensbekenntnis zu einem Hauptgegenstand ihrer Beratungen zu machen, wurde in einer dieser Kommission vorgelegten Studie implizit in Frage gestellt. In dieser Untersuchung wurde nämlich behauptet, daß die nizänische Christologie hinsichtlich der Präexistenz eine Fortentwicklung der neutestamentlichen johanneischen Christologie sei, die daher etwas Sektenhaftes und Bibelfremdes an sich habe. Für mich stellt dies eine unzulängliche Auslegung der neutestamentlichen Christologie dar. Die synoptischen Evangelien bieten zugegebenermaßen keine Christologie, die die Präexistenz ausdrücklich darlegt, aber man kann vernünftige Gründe anführen, um Formen der Präexistenz im paulinischen Korpus zu entdecken (ganz gleich, ob die jeweiligen Stellen von Wissenschaftlern als vor- oder nachpaulinisch eingestuft werden). Die meisten Bibelkritiker wären wohl der Meinung, die Bezeichnung Jesu als "Gott" gehe über das johanneische Korpus, wie es bei Paulus und im Hebräerbrief erscheint, hinaus. Es ist also nicht klar, ob sich das Denken des Konzils von Nizäa ausschließlich aus dem fortentwickelten johanneischen Gedankengut speist; eine sowohl chronologisch als auch geographisch weiter verbreitete Präexistenztheologie widerlegt den Verdacht, die johanneische Theologie könne eine sektiererische
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Auslegung darstellen. Deshalb möchte ich argumentieren, daß die Bibelkritik das von Athanasius vertretene Argument, die nizänische Definition sei eine getreue Widerspiegelung im NT enthaltener Ansätze, untermauern könne. Eine so unterschiedliche Sicht wirft zwangsläufig die Frage auf, welche Art von Bibelkritik als Grundlage bei ökumenischen Diskussionen dienen solle. Eine mögliche Lösung wäre die Beteiligung einer größeren Anzahl kirchenorientierter Bibelkritiker an den Diskussionen, die gleichsam als Schiedsrichter fungieren könnten und gewährleisten würden, daß die biblischen Informationen, die in die Entscheidung einfließen, repräsentativ und nicht idiosynkratisch sind. Ich hoffe, daß es nicht als lieblos verstanden wird, wenn ich an dieser Stelle anmerke, daß ich bei den Diskussionen über das Thema "Glaube und Kirchenverfassung" öffentlich einwandte, die biblische Exegese habe zwischen einem unkritischen und einem überkritischen Ansatz geschwankt. Glücklicherweise trifft dies nicht für das wichtige Dokument über "Taufe, Eucharistie und Amt", das "Lima-Papier", zu. Bei ökumenischen Diskussionen geht es nicht nur um aus der Vergangenheit stammende Streitfragen, sondern auch um Fragen heutigen Wandels, mit denen sich alle Kirchen konfrontiert sehen. Auch hier ist eine repräsentative Bibelkritik dringend notwendig. Da auch Bibelkritiker Kinder ihrer Zeit sind, läßt sich denken, daß objektive Studien von Problemen der Vergangenheit eher möglich sein könnten als Objektivität in bezug auf die Gegenwart. Einige radikale Änderungswünsche, die an die Kirchen herangetragen werden, scheinen die eigentliche Existenz und Legitimität der jeweiligen Kirche in Frage zu stellen. Wenn solche radikalen Herausforderungen als der Wille Gottes oder Jesu für die heutigen Christen dargestellt werden, muß man sich fragen, wie sie zu bewerten sind. Letzten Endes lassen die Evangelien selbst eine radikale Herausforderung zu: "Wer sein Leben retten will, wird es verlieren." Von dem Prinzip ausgehend, daß Jesus Christus gestern, heute und in Zukunft derselbe ist, kann die Frage, ob die Herausforderungen mit den im NT zu erkennenden Haltungen Jesu und der Apostel im Einklang sind, eine große Rolle bei der Beurteilung solcher Ansprüche spielen. Es wird z. B. häufig behauptet, Jesus wäre nicht mit gegliederten 91
Kirchen oder mit Ämtern, die ihren Inhabern erlauben, über andere Autorität auszuüben, einverstanden, weil er sagte, daß alle vor Gott gleich seien und daß unter seinen Jüngern keine Unterschiede gemacht werden sollen. Dennoch stellt sich die Frage, ob eine repräsentative Bibelexegese tatsächlich nachweist, daß Jesus in Struktur- oder Autoritätsfragen einen Egalitarismus vertrat. Lehnte er die Herrschaftssysteme der römischen Statthalter bzw. des jüdischen Sanhedrin ab? Lehnte er die jüdische Ordnung der Priesterschaft ab, um statt dessen auch Nichtleviten als Opferpriester zuzulassen? Stellen seine Worte in Mt 23,8-10, wenn er sagt, daß niemand Rabbi, Vater (ein rabbinischer Titel) oder Meister genannt werden dürfe, ein Ideal dar, das gegen Ämter in einer gegliederten Kirche spricht, oder richteten sich diese Worte vielmehr, wie im darauf folgenden Vers zum Ausdruck kommt ("Der Größte von euch soll euer Diener sein"), einfach gegen eine Ausschmückung jener Unterschiede, die sich zwangsläufig ergeben, mit Macht und Pracht? Impliziert nicht die Aussage von Mt 10,24 ("Ein Jünger steht nicht über seinem Meister und ein Sklave nicht über seinem Herrn") eine Anerkennung künftiger Unterschiede, auch wenn Anweisungen über die Funktion dieser Unterschiede bei jenen, die das angekündigte Gottesreich annehmen, im Vordergrund stehen? Welche Gültigkeit genießt die sehr frühe paulinische Auslegung der christlichen Botschaft, die einigen Gläubigen die Ausübung von Autorität über andere Gläubige zugesteht (1 Thess 5, 12)? Was ich mit diesen Beispielen nahebringen möchte, ist die Tatsache, daß eine Bibelkritik, die die breitere wissenschaftliche Meinung vertritt, sich nicht ganz so leicht davon überzeugen lassen werde, daß die egalitaristische Herausforderung an alle kirchlichen Strukturen in der schriftlich festgelegten Meinung Jesu oder im biblischen Bild begründet sei. Damit soll nicht gesagt werden, daß ich der Meinung sei, eine solche Bibelkritik könne das Gegenteil der modernen Herausforderung beweisen, indem sie z. B. nachweisen könnte, daß Jesus eine bestimmte Kirchenstruktur wollte oder sogar, daß das NT eine bestimmte Kirchenstruktur gegenüber allen anderen sanktionierte. Sehr oft entwirft die Bibelkritik ein nicht eindeutiges Bild. Dies mag jene Kreise enttäuschen, die sich gegen die Herausforderungen der
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modernen Welt stemmen und eine unanfechtbarere Unterstützung ihrer Überzeugungen in der Bibel suchen. Allzuoft wird die Bibelkritik als Erzeuger von Unklarheiten abgetan. Auf diesen Vorwurf möchte ich mit drei Feststellungen antworten: a) Moderne Herausforderungen an die Kirche werden oft (ähnlich wie die Herausforderungen, die in der Vergangenheit an sie gestellt wurden) als gesicherte Erkenntnisse dargestellt. Eine Antwort, die besagt, daß die Situation nachweislich nicht eindeutig gewesen ist, enthält eine Warnung in bezug auf die Glaubwürdigkeit, die solch kühnen Behauptungen über den einzuschlagenden Weg geschenkt werden darf; b) der Wunsch, in der Bibel vollkommen eindeutige Aussagen zu entdecken, impliziert häufig eine Abstempelung der Vertreter eines gegenteiligen Standpunkts als Dummköpfe oder Gauner und versperrt somit den Weg zu einem Dialog; c) die Anerkennung der Zweideutigkeit der Bibel in bezug auf wichtige Fragen stellt m. E. den einzigen Weg dar, der jenen, die ihre Vorfahren in den getrennten Kirchen achten, aber deren Meinungsverschiedenheiten überwinden wollen, offen steht. Der Gebrauch der Bibelkritik im Dialog zwischen Lutheranern und Katholiken, an dem ich persönlich teilnahm, führte zu der Einsicht, daß im 16. Jahrhundert sowohl die Anhänger Luthers als auch die Theologen des Konzils von Trient einen zu absoluten Standpunkt in bezug auf die wahre biblische Lehre einnahmen; dabei stellte sich heraus, daß man, ohne der jeweiligen Tradition untreu zu werden, eine differenzierte Auslegung heranziehen kann, die unseren Vorfahren nicht einfiel.
4. Zusammenfassung und Schluß In diesem Beitrag habe ich versucht, mein Verständnis gemäßigter Bibelkritik, die der heutigen ökumenischen Diskussion tatsächlich zugrundeliegt, zu erklären. Es handelt sich freilich um einen anspruchsvollen historischen Ansatz, doch ist dieser von den rationalistischen und atomistischen Extr~mpositionen der Vergangenheit weit entfernt. Als nächstes wurde hervorgehoben, daß es wichtig ist, diese Bibelkritik im Rahmen eines Austausches 93
zwischen den Kirchen vorzunehmen, d. h. in einem Kontext, der uns von der Aufgabe befreit, gegenüber der einen Extremposition die tatsächliche Relevanz der Bibel erklären und gegenüber der anderen Extremposition einen nicht fundamentalistischen Ansatz verteidigen zu müssen. Schließlich ging ich auf die Bedeutung einer Offenheit gegenüber dem Beitrag einer repräsentativen Bibelkritik ein, die die verschiedenen Meinungen von Wissenschaftlern berücksichtigt und somit ihre Bereitschaft zeigt, die Uneindeutigkeit des biblischen Bildes auch dann anzuerkennen, wenn die Verfechter bestimmter Anliegen und Adepten des Dogmatismus darüber bestürzt sind. Welcher Schluß ist aus diesen Überlegungen zu ziehen? Ich bin überzeugt, daß eine solche Bibelkritik, in den Dienst der Kirchen gestellt, eine große Rolle spielen kann, wenn es darum geht, die Theologie der jeweiligen Kirche (nicht einfach einzelner Theologen) zu zwingen, sich mit Faktoren auseinanderzusetzen, die zu einer größeren Nuancierung und Reife führen dürften. Keine Kirche, die sich den Ergebnissen der ernsthaften Bibelkritik gestellt hat, kann leugnen, daß sie in ihrer Theologie über die neutestamentlichen Kirchen mit ihrer beginnenden Unterschiedlichkeit in beträchtlichem Maße hinausgegangen ist. Diese Erkenntnis führt zu Überlegungen über die Art und Weise, wie Standpunkte, die nun als endgültig gelten - und einst als eindeutig vom NT eingeschärft erklärt wurden -, von der Entwicklung im Laufe der Geschichte geprägt wurden. Für die Kirchen ist es freilich ein Trost, wenn sie bei der Prüfung ihrer traditionellen Standpunkte eine "Entwicklungslinie" oder "Flugbahn" (s. 0) aus der Bibel entdecken können, die für diese Standpunkte eine verständliche, biblische Grundlage bietet. Aber unterschiedliche Entwicklungslinien gingen aus den neutestamentlichen Verschiedenheiten hervor, so daß die Bibelkritik die jeweilige Kirche bewegen sollte, ihre Gründe für die Wahl der einen Entwicklungslinie im Gegensatz zu einer anderen zu überprüfen. Dies kann zu der Erkenntnis führen, daß eine andere Kirche einer anderen Entwicklungslinie gefolgt ist und dadurch einen anderen biblischen Wert bewahrt hat. Damit soll nicht der Bestätigung eines Relativismus das Wort geredet werden, vielmehr sollen die Kirchen ermutigt sein, im Ökumenismus eine we-
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sentliche Bereicherung und nicht ein unwillig gemachtes Zugeständnis zu erblicken. Die Beurteilung der Kraft und Geradheit einer Entwicklungslinie kann einer Kirche vielleicht auch dabei helfen, traditionelle Standpunkte unterschiedlich zu gewichten und somit eine "Hierarchie der Lehren" zu erkennen. Ohne diesen Schritt wird es den Kirchen niemals gelingen, zu einer Einheit zu gelangen, die bei Fragen, die in dieser Hierarchie einen niederen Rang haben, Verschiedenheit toleriert. Wenn die Kirchen dazu gebracht werden, die Frage ihrer nachbiblischen Traditionen sorgfältig zu prüfen, werden sie vielleicht in die Lage versetzt, mit den laufenden, kirchenprägenden Entwicklungen unserer Zeit klüger umzugehen. Heute gibt es Versuche, echte Bestandteile des biblischen Erbes, die in der jeweiligen Tradition verlorengegangen oder auf ein Minimum reduziert worden sind, wieder zu entdecken. (Hier unterscheide ich zwischen diesen Versuchen und den oben geschilderten, die in einer idealistischen und beinahe monolithischen Weise eine neutestamentliche Situation zu rekonstruieren suchen, die einen Großteil der kirchlichen Tradition als ungültig erscheinen ließen.) Zwangsläufig enthalten solche Versuche eine Herausforderung, die die etablierten Kirchen beunruhigt, aber sie können sich auch belebend und bereichernd auswirken. Außer dem Ökumenismus, der bestrebt sein muß, die Wunden der Trennung der Kirchen horizontal, d. h. synchron, zu heilen, gibt es eine weitere Art des Ökumenismus, die sich dem Trennenden zwischen Vergangenheit und Gegenwart vertikal, d. h. diachron, zuwenden muß. Die erste Reaktion der Kirchen wird häufig eine Widerlegung der neuen Ansätze durch das Zitieren von Bibelstellen, die etwas über die Frage auszusagen scheinen, sein. Doch wird die repräsentative Bibelkritik die Relevanz der zitierten Stellen vielleicht anfechten oder andere Stellen entdekken, die in eine andere Richtung weisen. Damit stellt sich die Frage der Verpflichtung der Kirche, verschiedenen Elementen der Schrift (selbstverständlich im rechten Maße) treu zu sein. Die Entscheidung darüber, was das rechte Maß ist, wird nicht immer leicht sein. Eine solche Entscheidung schließt auch die Möglichkeit nicht aus, daß ein Schriftzeugnis, auf das man sich heute beruft, von zu flüchtiger Bedeutung oder zu sektiererisch erscheint, 95
um sich als neue oder vorherrschende Auslegung Gehör zu verschaffen. Andererseits kann die Kirche zu der Erkenntnis gelangen, daß der Hl. Geist sie mit einer seit langem brachliegenden Stimme der Schrift erneut anspricht. Die Hermeneutik, die in solche Entscheidungen einfließt, wenn sie ehrlich und weder überstürzt noch von Vorurteilen geprägt gefällt werden, kann zu einem ungeheueren Reifungsprozeß führen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten hat die Bibelkritik das Christentum zu einer reifen, wenn auch unbehaglichen Auseinandersetzung mit der intellektuellen Herausforderung der Aufklärung und mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft geführt. Was die römisch-katholische Kirche betrifft, hat die Bibelkritik und die wissenschaftliche Gemeinschaft mit Nichtkatholiken den Ökumenismus ermöglicht. Die Bibelkritik hat noch eine große Rolle bei der Reifung ökumenischer Beziehungen zwischen den Kirchen zu spielen. In meinem Beitrag stehen zwangsläufig offizielle ökumenische Beziehungen in der Bibelwissenschaft im Vordergrund. Abschließend möchte ich noch die Auswirkungen der Bibelkritik bei einfachen Mitgliedern der römisch-katholischen Kirche in den USA (die einzige Kirche, über die ich auf diesem Gebiet sprechen könnte) kurz eingehen. Vor den von der Enzyklika "Divino afflante Spiritu" (1943) bewirkten Veränderungen interessierten sich weder Priester noch Laiep für die Bibel, so daß Bibellektüre bzw. Bibelstudium als etwas Protestantisches betrachtet wurde. Innerhalb von vierzig Jahren hat sich das Bild unter Mitwirkung katholischer Bibelwissenschaftler, die sich von den Möglichkeiten der Öffnung anregen ließen, die von Pius XII. vollzogen und vom Zweiten Vatikanischen Konzil bestätigt wurde, drastisch verändert. Die biblische Theologie wurde in vielen Seminaren zum beliebtesten Fachgebiet; Sommerkurse wurden zur Fortbildung von Priestern, die ihre Studien bereits abgeschlossen hatten, eingerichtet; es gab eine große Bewegung für eine stärkere Berücksichtigung der Bibel im Religionsunterricht; Religionslehrer strömten in die Fortbildungskurse, die ihnen die Vermittlung einer fundierten Bibelkenntnis ermöglichen sollten. Nicht jeder Schritt zur biblischen Erneue-
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rung wurde im gleichen Maße mit Erfolg gekrönt: Eine Verbesserung der Qualität der biblischen Predigt bei der Eucharistiefeier hat länger als erwartet auf sich warten lassen, obwohl es zur weitverbreiteten Gewohnheit geworden ist, auch werktags in der Predigt oder Einführung, sei es in noch so lockerer und kurzer Weise, eine Erschließung der Perikopen des Tages zu geben, während das Sonntagslektionar, das seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erheblich erweitert worden ist, bei der Predigt viel stärker berücksichtigt wird. Mit anderen Worten, der Katholizismus in den USA hat innerhalb einiger Jahrzehnte eine Entwicklung durchgemacht, die sich von einer Situation, in der die Bibel kaum erwähnt wurde, zu einer Situation gewandelt hat, in der die Bibel zu einem grundlegenden Bezugspunkt von katholischer Theologie, Spiritualität und Glaubensdiskussion geworden ist. Dieser Wandel eröffnete Kommunikationslinien zwischen religiös interessierten Katholiken und Protestanten, die bis zu gemeinsamen Bibelstunden und gemeinsamer Bibellektüre reichten. Einige dabei vermittelte Informationen gingen nicht über Grundlagen hinaus, aber das Interesse bestand und besteht heute noch und kann ausgenutzt werden, wenn Klerus und Lehrer mit entsprechender Ausbildung sich dafür engagieren. In anderen christlichen Kirchen mag es sein, daß kritische Bibelwissenschaftler die Bibel den Lesern entfremdet haben; innerhalb der katholischen Kirche fällt ihnen jedoch die Rolle zu, Bibelleser hervorzubringen, wobei die Beziehung zwischen Bibellesern und Bibelwissenschaftlern eine gute geblieben ist (mit der möglichen Ausnahme einiger heftiger Angriffe seitens der Führer der charismatischen Bewegung, die sich durch jede Autorität bedroht fühlen, die sich besser als ihre eigene, die sie auf den Hl. Geist zurückführen, nachweisen läßt). Ironischerweise muß man also feststellen, daß heute möglicherweise ein größeres Interesse an der Bibel unter Katholiken als unter Protestanten besteht.
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IV Das sola scriptura-Prinzip Martin Luthers Evangeliumstraditionen zur Bestimmung des christlichen Gerechtigkeitsbegriffs 1 Von William H. Lazareth Der plötzliche Entschluß Luthers, im Jahre 1505 in den Eremitenorden der Augustiner einzutreten, ging viel weniger auf Donner und Blitz bei Stotternheim als auf das Glaubensgewitter in der eigenen Seele zurück. Das schicksalsträchtige Gelübde an die heilige Anna wurde freilich in einem Augenblick furchtbarer Angst abgelegt, und er erinnerte sich später lebhaft daran, daß er " ... unterwegs nach Stotternheim, nicht weit von Erfurt, von einem Donnerschlag so in Furcht versetzt wurde, daß er vor Schrecken ausrief: ,Hilf du, Sankt Anna, ich will ein Mönch werden'''2. Dennoch waren die tief liegenden Wurzeln der Panik Luthers im wesentlichen religiöser Natur. Der helle Blitz hatte in den geheimen Winkeln seiner Seele das Schuldliewußtsein und die Furcht, daß ein Gott des Zorns in Ewigkeit über ihn erzürnt sei, offenbart. Letztlich war es nicht der Donnerschlag, sondern der zornige Gott, der diesen gegen ihn schleuderte, der Luther vor unaussprechlicher Furcht in die Knie zwang. ",Wann wirst du einmal fromm werden und genug tun, daß du einen gnädigen Gott kriegst?' Und ich bin durch solche Gedanken zur Möncherei getrieben." 3 Einmal hinter sicheren Klosterrnauern, fing Luther fieberhaft an, "genug" Verdienste zu erwerben und Genugtuung zu leisten, um einen "gnädigen Gott" zu erhalten. Bald aber stand er vor dem unlösbaren Dilemma, nie zu wissen, wieviel genug sei. Er I Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung einer Untersuchung, die zuerst in meinem Buch "Luther on the Christian Horne" (Philadelphia 1960) S. 67ff., erschienen ist. - Zu den deutschen Lutherzitaten vgl. die Anmerkung des Herausgebers auf S. 123. 2 WA TR 4, 440. 3 WA 37, 661.
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häufte endlos "gute" Taten an, nur um schließlich entweder in Verzweiflung zu sinken oder vor Stolz zu prahlen. Seine Suche nach ethischer Sicherheit geschah immer auf Kosten seiner religiösen Gewißheit. Wahrscheinlich geschah der Durchbruch des Gotteswortes zur göttlichen Gerechtigkeit im Herzen und im Denken Luthers schließlich im Frühjahr 1513. Bedeutsamerweise wandelten sich sowohl sein Herz als auch sein Denken, denn nicht nur theologische, sondern auch persönliche Überlegungen spielten dabei eine Rolle. Persönlich suchte Luther immer noch einen gnädigen Gott, indem er Gott mit guten Werken bestürmte: "Ich gedachte, ich müßte so lange gute Werke tun, bis Christus mir dadurch zum Freunde und gnädig gemacht würde." 4 Theologisch beunruhigte ihn die Exegese gewisser Psalmverse, die er als Professor der Schriftauslegung an der Universität in Wittenberg behandeln mußte. Es war der so gefürchtete und gehaßte Begriff der "Gerechtigkeit Gottes" (iustitia Dei), der in den Psalmen und den Paulusbriefen häufig vorkommt und der Luther große Seelenqual bereitete. Während er in seinem kleinen Turmzimmer im Schwarzen Kloster fleißig die Heilige Schrift studierte, lauschte .r"uther mit angehaltenem Atem, als Gott ihm endlich das lebendige und vergebende Wort sprach. Ich hatte freilich mit einer außerordentlichen Begierde danach getrachtet, Paulus im Brief an die Römer zu verstehen. Nichts stand mir dabei im Wege als das einzige Wort: "Denn die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart" (Röm 1,17). Ich haßte nämlich dieses Wort: "Die Gerechtigkeit Gottes", weil mir beigebracht worden war, es im scholastischen Sinn als die formale oder tätige Gerechtigkeit zu verstehen, nach der Gott, der gerecht ist, ungerechte Sünder bestraft. [... ] So wütete ich in meinem bösen und beunruhigten Gewissen, doch klopfte ich ungestüm bei Paulus an diesen Stellen an, indem mich aufs heftigste danach verlangte, zu wissen, was er meinte. Nachdem ich Tag und Nacht darüber nachgedacht hatte, erbarmte sich Gott meiner, und ich erkannte den inneren Zusammenhang zwischen den beiden Stellen: "Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart" und: "Der Gerechte wird seines Glaubens leben." Da fing ich an zu verstehen, daß die Gerechtigkeit Gottes jene ist, von der der Gerechte durch die freie 4
WA 47,590.
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Gabe Gottes lebt, nämlich "durch den Glauben", und daß die Gerechtigkeit, die "im Evangelium offenbart" wird, die passive Gerechtigkeit Gottes ist, durch die er sich unser erbarmt und uns durch den Glauben gerecht macht, wie geschrieben steht, "Der aus Glauben Gerechte wird leben." Da habe ich empfunden, daß ich ganz wiedergeboren und durch die offenen Türen in das Paradies selbst eingegangen binP
Von diesem entscheidenden Augenblick an erkannte sich Luther als einen Menschen mit einer göttlichen Sendung, "das Heilige Evangelium wiederherzustellen". Bei seinem Ringen mit dem eigentlichen Kern der biblischen Theologie vernahm Luther erneut jene immerwährende Frohbotschaft, die die Kirche der Apostel so begeistert hatte. Das Evangelium war wieder als "eine Kraft Gottes, die jeden rettet" (Röm 1,16) entdeckt worden. Luther verkündete die unverdiente göttliche Gnade, die eine bedingungslose Vergebung der Sünden - und somit neues Leben und Heil - allen verspricht, die an Christus als Sohn Gottes und Erlöser der Menschheit glauben. Mit dieser Botschaft wurde das evangelische Triumvirat der göttlichen Gnade, des Kreuzes Christi und des persönlichen Glaubens wieder vereint und erneut zur unangefochtenen Herrschaft gebracht.
1. Der himmelstürmende Verstand Wenn die Barmherzigkeit Gottes "durch den Glauben allein" erworben wird, so muß eine intellektuelle Werkgerechtigkeit als Götzendienst betrachtet weiden. Bei seinem Angriff auf die religiösen Anmaßungen des menschlichen Verstands erkannte Luther die getaufte Philosophie "jenes lächerlichen und schädlichen Gotteslästerers Aristoteles" als seinen Hauptfeind 6. Der grundsätzliche Vorwurf, den er gegen Aristoteles erhob, lag in der Anklage, dieser habe keine Vorstellung des von den Christen als Sünde bezeichneten Aufstandes gegen Gott gehabt. Aufgrund des Fehlens dieser entscheidenden Vorstellung führte die Tatsache, daß die Scholastiker aristotelisches Gedankengut in ihr Heilssystem einbauten, in den Augen Luthers immer zu einer 5
WA 54,185.
100
6
Sm 26.
Überbetonung der menschlichen Macht und der menschlichen Werke, die in direktem Verhältnis zur verminderten Gewichtung des Gnadenwirkens Gottes in Christus stand. Auf diese Weise sei die menschliche Herrlichkeit an die Stelle des Kreuzes Christi als Kern des christlichen Glaubens getreten. Das Argument, daß ein sündiger Mensch von sich aus das rettende Gute in den Augen Gottes weder erkennen noch vollbringen könne, steht im Mittelpunkt der "Heidelberger Disputation" (1518). Darin läßt sich eine formelle Erklärung der lebenslangen Unabhängigkeit Luthers von der aristotelischen Metaphysik und Ethik erkennen. Hier werden wir unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich auf jene Thesen richten, die die Begründung der menschlichen Herrlichkeit in der angeblichen Freiheit, das Gute zu tun, verwerfen. Das Gesetz Gottes, die heilsamste Lebenslehre, kann den Menschen bei seinem Streben nach Gerechtigkeit nicht voranbringen, sondern behindert ihn dabei (1). Obwohl die Werke des Menschen immer reizvoll und gut erscheinen, werden sie dennoch wahrscheinlich Todsünden sein (3). Der freie Wille existiert seit dem Sündenfall nur dem Namen nach und solange er das tut, was er tun kann, begeht er eine Todsünde (13). Wer glaubt, er könne Gnade erlangen, indem er das tut, was in ihm ist, fügt der einen Sünde eine weitere hinzu, so daß er sich eine zweifache Schuld auflädt (16). Eine derartige Rede bietet auch keinen Grund zur Verzweiflung, sondern soll den Wunsch erwecken, sich zu erniedrigen und die Gnade Christi zu suchen (17). Das Gesetz bringt den Zorn Gottes, tötet, schmäht, beschuldigt, richtet und verurteilt alles, was nicht in Christus ist (23). Nicht jener ist gerecht, der viele Werke vollbringt, sondern jener, der ohne viele Werke inbrünstig an Christus glaubt (25)1.
Unter Berufung auf Paulus behauptet Luther, daß das Gesetz ein Hindernis bei der Suche einer natürlichen Person nach Gerechtigkeit darstelle. Er beruft sich zuversichtlich auf den Römerbrief, wenn er behauptet, daß die Gerechtigkeit in Christus den Menschen "unabhängig vom Gesetz" (3,21) offenbart werde, da das Gesetz in erster Linie dazu dient, daß "die Übertretung mächtiger werde" (5,20) und die "Sünde lebendig wird" (7,9), weil es den nicht Wiedergeborenen unmöglich sei, ihren Anforderungen zu entsprechen. Wenn nun auch ein mit dem "überna7
LW 31, 42ff.
101
türlichen Licht" des göttlichen Gesetzes ausgestatteter Mensch gutes nicht vollbringen kann, so muß doch jemand, der versucht, lediglich kraft seiner durch die Sünde korrumpierten Fähigkeiten Gutes zu tun, moralisch um so mehr versagen. Menschliche Werke sehen schön aus, aber innerlich sind sie voller Unreinheit, wie Christus in bezug auf die Pharisäer feststellt (Mt 23,27). Dem, der sie verrichtet, erscheinen sie nämlich als gut und anziehend, aber Gott richtet nicht nach dem Schein, sondern erforscht "Herz und Nieren" (Ps 7,9). Denn ohne Gnade und Glauben ist ein reines Herz unmöglich. "Er hat ihre Herzen durch den Glauben gereinigt" (Apg 15,9)8.
Zweifellos werden alle menschlichen Handlungen, die auf die gemischten Motive eines unreinen Herzens zurückgehen, also entsprechend verdreht und verzerrt: "Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde" (Röm 14,23). Auch wenn Gott durch die Gläubigen wirkt, verunreinigt ihre beharrliche Sünde das göttliche Wirken. "Hier ein Vergleich. Wenn ein Arbeiter, mag er ein noch so fähiger Handwerker sein, mit einer rostigen und stumpfen Axt schneidet, gibt es einen schlechten, unebenmäßigen und häßlichen Schnitt. So ist es auch, wenn Gott durch uns wirkt." 9 Dies gilt um so mehr, wenn die Bemühungen einer natürlichen Person nicht von der Gnade Gottes unterstützt werden. In bezug auf das Heil allein besteht Luther darauf, daß der Mensch absolut keinen freien Willen besitzt, d. h. die sündige Natur, die im Banne Satans steht, ist außerstande, von sich aus einen vollkommenen Glauben und eine vollkommene Gottesliebe vor allen anderen Dingen anzustreben 10. Kein Mensch ist religiös neutral: Wenn man sich nicht dem Gesetz Gottes unterwirft, ist man ein Sklave Satans. Ohne Gnade besitze ich nur die Freiheit zu sündigen. Ich kann nicht aufgrund des eigenen Verstandes oder aus eigener Kraft an Gott glauben. Die römische Ermahnung, "das, was in einem ist" (facere quod in se est) als natürliche Grundlage übernatürlichen göttlichen Wirkens zu tun, bedeutet demnach, die Gnade auf Sünde aufzubauen, was dem Erbauen eines Hauses auf sandigem Boden gleichkommt 11.
8
Ebd.,43.
102
9
Ebd.,45.
10
WA 56, 355.
11
LW 31,50-51.
Zu Gerechtigkeit gelangt man nämlich nicht, wie Aristoteles lehrte, mittels häufig wiederhalter Akte; sie wird einem vielmehr durch den Glauben zuteil (Röm 1,17); 10,10). Daher möchte ich die Worte "ohne Werke" in folgendem Sinn verstanden wissen: Es heißt nicht, daß der Gerechte nichts tut, sondern, daß seine Werke ihn nicht gerecht machen; vielmehr führt eben seine Gerechtigkeit zu Werken. Denn Gnade und Glaube werden ohne unsere Werke eingegeben. Nachdem diese verliehen worden sind, folgen auch die Werke 12.
Die volle Tiefe der hoffnungslosen Lage der natürlichen Person vor Gott kommt in Luthers früheren" Vorlesungen über den Römerbrief' (1515-16) zum Ausdruck. Seit dem Sündenfall Adams bei seiner stolzen Auflehnung gegen Gott stehen sich göttliche und menschliche Gerechtigkeit unversöhnlich gegenüber. "Dem Apostel geht es in diesem Brief in erster Linie darum, jede von uns ausgehende Gerechtigkeit und Weisheit zu zerstören [... ] und zu zeigen, daß Christus und seine Gerechtigkeit eine Voraussetzung für ihre echte Ausrottung sind. Diesem Ziel folgt er bis Kap. 12; danach belehrt er uns über die Zahl und Art der guten Werke, die wir aufgrund der empfangenen Gerechtigkeit Christi tun sollten." 13 Luther entwickelt das erste Kapitel des Pau1usbriefs über das Wesen der menschlichen Sünde weiter, indem er unsere verkehrten Reaktionen auf das göttliche Gesetz umreißt. Einerseits gibt es Menschen, die es vollkommen außer acht lassen; was diese Einstellung betrifft, teilt Luther die Abneigung des Apostels gegen die sündhaften Handlungen jener, die sich weigern, ihr Leben dem göttlichen Gesetz zu unterstellen. Andererseits gibt es auch Menschen, die vor Gott ebenfalls schuldig sind, aber ihre Ergebenheit an Satan paradoxerweise dadurch manifestieren, daß sie das Heil durch Werkgerechtigkeit zu erlangen suchen. Entgegen der paulinischen Lehre in Römer 1,17 suchen solche Menschen eine Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes und nicht durch die allein aus dem Glauben stammende Gnade. Diese sündhafte Hochmut führt zur Selbsttäuschung, denn der Gott der Liebe durchschaut die Unaufrichtigkeit der Werke eines kalten und selbstsüchtigen Herzens. Die zu verrichtenden Werke
12
Ebd., 55-56.
13
WA 56,3.
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werden nicht aus Liebe vollzogen. Es genügt nicht, wenn ein Mensch äußerlich dem Buchstaben des Gesetzes folgt, "wenn er es nicht frohen Herzens und aus freiem Willen tut" 14. Aber jene, die nicht wiedergeboren sind, "tun gute Werke einzig und allein aus Furcht oder aus einem Streben nach Belohnung und nicht aus eigenem frohen Willen" 15. Aus diesem Grund räumt eine evangelische Ethik der gnadenvollen Liebe Gottes immer den Vorrang gegenüber der Antwort der Gläubigen auf eben diese Liebe ein. "Nach Gnade soll gestrebt werden, damit der im Geist verwandelte Mensch alles, was er tut, frohen Herzens und bereiten Willens, d. h. nicht aus unterwürfiger Angst oder kindischer Habgier, sondern aus freier und männlicher Gesinnung, tut. Dies bewirkt der Geist allein." 16 Mit schonungsloser Logik führt Luther dann die menschliche Sünde auf einen korrumpierten Willen zurück, den er seinerseits als jenen bösen Möchten unterworfen betrachtet, die das ganze Wesen des unverbesserlichen Sünders beherrschen 17. In diesem Zusammenhang benutzt Luther den Begriff "Begehrlichkeit" (concupiscentia) zur Beschreibung des fleischlichen Charakters der Ursünde des Menschen in seiner Auflehnung gegen Gott. Obwohl dieser Begriff sicher unseren sinnlichen und sexuellen Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Willen miteinschließt, bezieht er sich insgesamt in strenger Bedeutung auf unsere sündhafte Selbstsucht anstelle der gebotenen Ausrichtung auf Gott, d. h. auf unseren stolzen Ungehorsam gegenüber dem ersten Gebot Gottes. Luther spielt auf denselben Tatbestand an, wenn er die natürliche Person als so auf sich selbst bezogen bezeichnet, daß alles, was zum Leben gehört, im Strudel des eigenen Ich untergeht. Die Schrift beschreibt den Menschen nämlich als in sich selbst verschlossen [incurvatus in se ipso], so daß er nicht nur körperliche Güter, sondern auch geistige Güter auf sich selbst ausrichtet und in allen Dingen sich selbst sucht [...]. Denn der Mensch macht sich selbst zum letzten und höchsten Ziel und Abgott [...]. Diese Selbstverschlossenheit, Verkommenheit und Sündhaftigkeit wird in der Schrift öfters unter dem Namen der Unzucht und Abgötterei [Huren nach falschen Göttern] be-
14
WA 56, 278.
104
15
Ebd., 235.
16
Ebd., 337.
17
Ebd., 312.
schrieben [... ] und liegt verwundet und gärend in den geheimen Tiefen unseres Wesens, ja sogar vielmehr in unserer Natur selbst, und durchzieht uns ganz, so daß es nicht nur unmöglich ist, sie ohne Gnade zu beheben, sondern auch unmöglich ist, sie vollständig zu erkennen 18.
So kann es für Luther nur zwei religiöse Alternativen im Leben geben: entweder Anbetung Gottes oder Selbstanbetung, Gottesliebe oder Eigenliebe, die Gerechtigkeit der Gnade durch den Glauben oder die Gerechtigkeit des Gesetzes durch Werke. Vor Gott muß man sich entweder in die fremde Gerechtigkeit Christi hüllen oder in der Schuld und Schmach der eigenen Sünde nackt dastehen. "Denn das Gericht Gottes ist von unendlicher Feinheit. Und es gibt nichts so Verfeindetes, daß es in seiner Gegenwart nicht plump wäre, nichts so Gerechtes, daß es nicht ungerecht wäre, nichts so Wahres, daß es nicht unwahr wäre, nichts so Reines und Heiliges, daß es in seiner Gegenwart nicht verschmutzt und profan wäre." 19 Auf diesem Hintergrund können wir den Grund für die lebenslange Polemik Luthers leichter verstehen, die sich gegen jeden Versuch richtet, in unseren religiösen Beziehungen zu Gott (coram Deo) den Glauben durch den Verstand zu ersetzen oder Verstand und Glauben miteinander zu verbinden, leichter verstehen. Der Gebrauch des Verstandes in gesellschaftlichen und politischen Dingen wurde von Luther hoch gerühmt. Er betrachtet seinen Gebrauch in Glaubensfragen jedoch als Ausdruck fehlenden menschlichen Vertrauens in der absoluten Suffizienz der gnadenvollen Selbstoffenbarung Gottes im Leben und Wirken Christi. In bezug auf das Heil ist es "unmöglich, Glauben und Verstand in Einklang zu bringen [... ]. Du mußt deinen Verstand aufgeben, ihn vollkommen ausrotten, sonst wirst du nie in den Himmel komm~n" 20.
Gerade die "himmelstürmende" Anmaßung des Verstandes wurde von Luther aufgrund ihres weitgehenden Eindringens in die Scholastik Roms so heftig angegriffen. Folgende Stellen sind typisch: "Fast die ganze ,Ethik' des Aristoteles ist der schlimmste Feind der Gnade [...]. Kurz gesagt, der ganze Aristoteles verhält sich zur Theologie wie die Finsternis zum Licht." 21 Oder auch: 18
Ebd.,356-61.
19
Ebd.,246.
20
EA 44,156-57.
21
LW 31, 12.
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"Aristoteles ist ein schamloser Verleumder, ein Komödiant, der listigste Verderber der Geister. Wenn er nicht in Fleisch und Bein gelebt hätte, hätte ich keine Bedenken, ihn für einen Teufel zu halten." 22 Was Thomas von Aquin betrifft, sagt er: " ... er verstand kein einziges Kapitel des Evangeliums oder des Aristoteles", wenn er wirklich meinte, er könne Offenbarung und Verstand, das Wort Gottes und das menschliche Wort miteinander versöhnen" 23. Die Verehrung, die Thomas in der katholischen Theologie genoß, beeinflußte Luther kaum mehr, seitdem er mit dem Wort Gottes bewaffnet war. "Ich denke, daß dieser große Mann zu bemitleiden ist, nicht nur weil er seine Meinungen in Glaubenssachen aus Aristoteles schöpfte, sondern auch weil er versuchte, sie auf diesen zu stützen, ohne dessen Sinn zu verstehen - ein unglücklicher Aufbau auf einem unglücklichen Fundament." 24 In solchen "Glaubenssachen" ist unser Verstand durch "eine große, zerstörerische und gefährliche Blindheit" korrumpiert 25. Dieser Verstand weigert sich nämlich stolz, die Ausübung seiner anerkannten Kompetenz in weltlichen Dingen auf diese zu beschränken, und "will vielmehr auch in göttlichen Dingen klug sein, z. B. wie wir die Gnade Gottes erlangen, wie wir von der Sünde befreit werden, wie wir zu einem guten Gewissen gelangen und wie wir mit Gott versöhnt werden."26 "Frau Hulda, die Hure des Teufels", blieb tatsächlich die beliebteste Bezeichnung Luthers für alle Verlockungen des menschlichen Verstandes, die versuchen, uns vom wahren Gott abzubringen, um unsere eigenen selbstgemachten Abgötter anzubeten. Wucher, Trunkenheit, Ehebruch und Mord können alle von der Welt als sündhaft erkannt werden. Aber wenn die Braut des Teufels, der Verstand, die hübsche Dime, in Erscheinung tritt und klug sein will, wird das, was sie sagt, von den Menschen sofort angenommen, als verkünde sie die Stimme des Heiligen Geistes [...]. Sie ist sicher die Haupthure des Teufels 27.
Luther konnte sich keinerlei Kompromiß mit irgend einer Theologie vorstellen, die in gleichem Maße auf dem endlichen und 22 26
WA, Br 1,34. Ebd., 128.
106
27
23 WA, Br 1,301. EA 16, 142.
24
PE 2, 188.
2S
EA 47, 129.
sündhaften Verstand des Menschen wie auf der Heiligen Schrift beruhte. "Ich glaube einfach, daß eine Refom der Kirche unmöglich ist, wenn nicht Kirchenrecht, scholastische Theologie, Philosophie und Logik in ihrer derzeit gelehrten Form von der Wurzel aus ausgemerzt werden [... ], damit das reine Studium der Bibel und der Kirchenväter wiederhergestellt werde." 28 Wieder werden wir also auf die biblische Botschaft "des allein auf dem Glauben beruhenden Heils" als Grundlage des evangelischen Gottesdienstes und der Frömmigkeit zurückverwiesen. "Dieses Wort Gottes ist der Anfang, das Fundament, der Fels, auf dem alle Werke, Worte und Gedanken des Menschen aufbauen müssen [... ]. Dieses Vertrauen und dieser Glaube sind Anfang, Mitte und Ende aller Werke der Gerechtigkeit29 •
2. Das lebendige Wort Gottes Luther griff die verschiedenen Elemente, die zur theologischen Machtstruktur Roms gehörten, so selbstbewußt an, weil er fest überzeugt war, seine Lehre stehe auf der soliden Grundlage der einzigen Autorität, die für den Christen letztlich verbindlich ist, das heißt auf dem lebendigen Wort Gottes. Der Reihe nach prüfte er Ablässe, das System der Sakramente, das Papsttum, die scholastische Metaphysik sowie die Aufopferung guter Werke und erklärte dann furchtlos, daß sie sich alle, gemessen an der Absolutheit des Gotteswortes in der Heiligen Schrift, als mangelhaft erweisen. Als er im April 1521 schließlich aufgefordert wurde, vor dem Wormser Reichstag seine Lehren zu widerrufen, legte Luther ein beredtes Zeugnis für die biblischen Grundlagen seines evangelischen Glaubens ab. Da also Euer Durchlaucht und Euere Eminenzen eine einfache Antwort begehren, werde ich eine solche ohne Hörner und Zähne abgeben: Wenn ich nicht durch das Zeugnis der Schrift oder durch den klaren Verstand (denn ich habe weder in den Papst noch in die Konzilien allein 28SJ1,83f. 2. PE 1,297.
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Vertrauen, da sie bekanntlich oft geirrt und sich widersprochen haben) überzeugt werde, bin ich an die von mir zitierte Heilige Schrift gebunden, und mein Gewissen ist ein Gefangener des Gottesworts. Ich kann und will nichts widerrufen, da es weder ungefährlich noch richtig ist, gegen mein Gewissen zu handeln. Ich kann nicht anders, hier stehe ich, so helf mir Gott. Amen 30.
Allzuoft ist diese wahrhaft heroische Szene so romantisch dargestellt worden, daß wir dem hier hervortretenden zentralen Paradoxon christlicher Freiheit nicht gerecht werden. Luther erweist sich als Überwinder des mittelalterlichen Roms nur, indem er sich als "Gefangener des Gottesworts" bekennt. In einem sehr aufschlußreichen Brief, den er einige Tage nach seiner Abreise aus Worms an Kaiser Karl schrieb, wiederholt Luther seine aufrichtige Überzeugung, daß hierin der "eigentliche Kern der Auseinandersetzung" zwischen ihm und Rom liege. Er beharrt darauf, "daß das Wort Gottes frei und ungefesselt bleiben soll [... ]. Unter keinen Umständen steht es dem Menschen frei, das Wort Gottes zu schmälern und zu gefährden, mögen die Menschen dem Rang, der Zahl, der Lehre und der Heiligmäßigkeit nach noch so hervorragend sein." 31 Nachdem wir eingangs das "Turmerlebnis" Luthers kurz angesprochen haben, wissen wir, daß es der Wahrheit entspricht, wenn er behauptet, daß die "Bevorzugung des Gotteswortes aufgrund der in der Schrift enthaltenen Verkündigung in mir geboren wurde". Das persönliche Angesprochensein - "das an mich gerichtete lebendige Wort Gottes" - ist Luther auch außerordentlich wichtig. Er legt öffentlich Zeugnis für den Augenblick, als er glaubte, der lebendige Gott verkünde ihm durch Röm 1, 17 das lebendige Wort, ab. In dieser persönlichen Begegnung ließen die Worte der Schrift die liebende Selbstoffenbarung Gottes "transparent" werden. Luther erkannte Gott als seinen eigenen Vater, der ihm seine Sünden vergibt, als die Bibel ihm in der Kraft der inneren Bezeugung des Heiligen Geistes das gnadenvolle Wort Gottes vermittelte. In Treue gegenüber dem, der gekommen ist, nicht um Wahrheiten zu lehren, sondern um zu erklären: "Ich bin die Wahrheit", konnte Luther kühn behaupten: "das Neue 30 31
LW 32,112-13. WA, Br 2, 401.
108
Testament sollte eigentlich nur lebendiges Wort und kein geschriebenes Wort sein; deswegen hat Christus auch nichts niedergeschrieben" 32. So wurden Wort und Schrift - trotz der Anforderungen des Verstandes - von Luther weder gleichgesetzt noch auseinandergerissen. Für ihn bezeugt der Glaube vielmehr einen sich selbst offenbarenden Gott, der sich unter den "dienenden Fetzen" des Zeugnisses jener, die an die mächtigen Taten Gottes in der Geschichte glauben, verbirgt. Luther gibt nicht vor, dieses göttliche Offenbarungsgeheimnis verstehen oder erklären zu können. In der Einfalt eines Glaubens, der alle kostbaren Gaben Gottes als Wunder annimmt, schätzt Luther die Heilige Schrift bezeichnenderweise als "die Windeln, in die Christus gewickelt, und die Krippe, in die er gelegt wurde" 33. Die Krippe ist nicht selbst das Kind, aber man muß sich zunächst an die Krippe begeben, um das Kind zu finden; so verhält es sich auch mit der Heiligen Schrift und dem Wort Gottes. Da in seinen Augen das Evangelium allein "die Macht Gottes zum Heil der Menschen" darstellt, verkündet Luther dieses Evangelium - die Frohbotschat der Heilstat Gottes in Christus kühn als "wahren Prüfstein" bei der Beurteilung des apostolischen Werts d.er Heiligen Schrift 34 • Die Frage, "ob sie von Christus handeln oder nicht", gilt demnach, wie Luther in seinen "Vorreden zu den Büchern des Neuen Testamentes" (1522) darlegt, als evangelischer Prüfstein. In der "Krippe" des Neuen Testaments müssen wir lernen, zwischen den eng um ihn gewickelten Windeln und dem Christkind selbst, zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Wort zu unterscheiden. Auf dieser Grundlage kann man nun alle Bücher beurteilen und sich entscheiden, welche die besten sind. Das Johannesevangelium, die Paulusbriefe, vor allemjene~ an die Römer, und der erste Petrusbriefbilden den Kern und das Mark aller Bücher [... ]. Der Jakobusbrief ist jedoch im Vergleich zu diesen aus Stroh, denn er hat nichts an sich, was dem Wesen nach an die Frohbotschaft erinnert [...]. Der Hebräerbrief legt keinen Grundstein für den Glauben, was eigentlich die Aufgabe eines 32 33 34
WA 101", 35, WA 10 1,1, 576. PE 6, 478.
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Apostels ist. Dennoch baut er dort in feiner Weise auf Gold, Silber und Edelsteinen auf [... ], auch wenn Holz, Stroh und Heu darunter gemischt sind 35.
Auf diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß Luther seine erzwungene Verbannung auf die Wartburg seiner ersten und letzten großen Liebe widmete, nämlich der Übersetzung und Auslegung der Heiligen Schrift zum heilsamen Nutzen seiner deutsprachigen Mitchristen, denen die lateinische Bibel weitgehend ein unbekannter Schatz mit sieben Siegeln darstellt. Dieser unerwartete Aufenthalt bot Luther die großartige Möglichkeit, sich jenem Bibelstudium zu weihen, das er in Rom, wo man sich seines Erachtens zu sehr mit der philosophischen Theologie befaßte und dem Bibelstudium zu wenig Beachtung schenkte, seit langem verrnißte. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an einen früheren Vorwurf Luthers: " Wenn versucht wird, sie aufgrund der Schrift zurechtzuweisen, entgegnen sie, daß die Auslegung der Schrift dem Papst allein zustehe." 36 Diesen päpstlichen Imperialismus findet Luther unerträglich. Wenn wir alle Priester sind und einen Glauben, ein Evangelium und ein Sakrament teilen, warum sollen wir nicht dieselbe Macht besitzen, in Glaubenssachen zu prüfen und zu urteilen, was richtig und nicht richtig ist? [...] Alle diese Texte wie auch viele andere machen uns kühn und frei, und wir sollen nicht zulassen, daß der Geist der Freiheit, wie Paulus ihn nennt, von den Erfindungen der Päpste verscheucht wird. Wir sollen vielmehr kühn voranschreiten und alles, was sie tun oder unterlassen, gemäß unserer Schriftauslegung, die auf dem Glauben beruht, prüfen und sie zwingen, nicht der eigenen, sondern der besseren Interpretation zufolgen 37.
Diese Stelle ist auch als Korrektiv wichtig, um einige herrschende Fehlinterpretationen über den Standpunkt Luthers zu widerlegen, die besagen, jeder Christ dürfe die Bibel so auslegen, wie er wolle. Luther wäre der erste, der irgendeine Art von biblischem "laissez faire", das auf dem angeblichen "Recht auf das private Urteil" basiert, verurteilen würde. Kein Reformator, der sich als "Gefangener des Gotteswortes" bekennt, könnte jemals 35 36
37
Ebd., 443-44, 477. PE 2, 65. Ebd., 75-76.
110
die Heiligkeit des privaten Urteils eines jeden Christen in bezug auf die Schrift befürworten. Luther sagt nämlich an dieser Stelle, daß "unsere Schriftauslegung" die bessere sei, weil sie "auf dem Glauben beruht". Mit anderen Worten, nicht Luthers persönliche Schriftauslegung, sondern die Selbstauslegung der Schrift ist hier entscheidend. Luthers Verständnis der "Gerechtigkeit Gottes" in den Psalmen kam ihm z. B. erst nach einem eingehenden Studium des Gebrauchs dieses Ausdruckes im neuen, deutlicheren Kontext des Römerbriefs. Er ist immer bereit, seine der Schriftauslegung korrigieren zu lassen - allerdings nur durch die Schrift selbst. Luther behauptet auch, daß wir erst dann über die Schrift reden können, wenn wir dem lebendigen Christus, der "König und Herr der Schrift ist", begegnet sind 38. Alle unsere menschlichen Bibelinterpretationen müssen in der Kraft des Heiligen Geistes Gefangene des Wortes werden. "In ähnlicher Weise weist der hl. Paulus den hl. Petrus als Irrenden zurecht. Daher obliegt es jedem Christen, für die Sache des Glaubens einzutreten, sie zu verstehen und zu verteidigen und alle Irrtümer zu rügen." 39 Selbstverständlich will Luther institutionelle TyranI'l4i nicht durch persönliche Anarchie auf dem Gebiet der Bibelauslegung ersetzen. Sein Hauptanliegen ist es, daß jeder die Schrift - bzw. Gott durch die Schrift - für sich sprechen lassen sollte. Dies geht aus der unablässigen Beteuerung Luthers hervor, seine Lehre sei keine neue persönliche Entdeckung, sondern eine Wiederentdeckung jener Wahrheit, die so alt - und verläßlich wie das Kreuz Christi selbst ist. Er hatte mehr als jeder andere Angst vor der Beliebtheit und Allbekanntheit, die ihm über Nacht zuteil wurde. "Ich hatte gehofft, daß man von nun an der Heiligen Schrift selbst mehr Aufmerksamkeit schenken und meine Bücher fallen lassen würde, da sie nun ihrem Zweck gedient und die Herzen der Menschen an und in die Schrift geführt haben. Deswegen schrieb ich diese Bücher überhaupt. Was fruchtet es, viele Bücher zu lesen, aber dem Hauptbuch immer fernzubleiben? Trinkt lieber aus der Quelle selbst als aus dem Rinnsal, das euch zur Quelle geführt hat." 40 38
WA 40 1 ,420.
39
PE 2, 76.
40
SJ 2, 189.
111
In ähnlich demütiger Einstellung bedrückte es Luther, daß seine Feinde angefangen haben, seine Lehren und seine Anhänger nicht "christlich", sondern "lutherisch" zu nennen. Wie seine Bücher sich der Heiligen Schrift beugen, erniedrigt Luther sich selbst vor seinem Herrn und Heiland. "Wer ist dieser Luther? Meine Lehre stammt nicht von mir, und ich bin auch für niemanden gekreuzigt worden [... ]. Warum sollte es mir, einem erbärmlichen, stinkenden Sack voller Würmer, geschehen, daß die Kinder Christi mit meinem unbedeutenden Namen bezeichnet werden? [...] Ich bin der Meister von niemandem und will es auch nicht sein. Mit der einen Kirche habe ich die Lehren Christi, der allein unser Meister ist, gemeinsam." 41 So war die Tatsache, daß Luther sich auf die Überlieferungen der in der Heiligen Schrift - und in der Schrift allein - verkündeten Botschaft als Regel und Maßstab allen christlichen Glaubens und Lebens berief, die seinen Anhängern eine so tröstliche Zuversicht schenkte und seine Gegner so furchtbar aufbrachte. Die Angriffe seitens der theologischen Fakultät der Pariser Universität tat er z. B. spöttisch ab, weil sie nicht biblisch begründet waren und in seinen Augen keinerlei Beachtung verdienten. "Wer hat je solchen Hochmut vernommen oder gelesen, daß die Esel in Paris sich mit den Aposteln und Konzilien vergleichen und mit unverschämter Stirn schreiben, daß sie ohne die Autorität der Schrift sprechen und urteilen werden, weil die Apostel dies auch so taten?" 42 Thomas Murner macht er den gleichen Vorwurf: "Ihr zitiert die Schrift überhaupt nicht, sondern schreibt einfach nach dem Diktat der Phantasie [... ]. Darum will ich die Schrift haben. Die Schrift, Murner; Murner, die Schrift! Sonst suchen Sie sich einen anderen Gegner aus; ich habe anderes zu tun, als mich mit Ihrem Schrift-losen Geschwätz zu beschäftigen."43 Diese Worte legen ein nur dünn verschleiertes Zeugnis der persönlichen Erfahrung Luthers bei seiner dramatischen Wiederentdeckung der christlichen Botschaft im Rahmen seines Bibelstudiums ab. Die Schriftstelle Röm 1, 17lieferte ihm nämlich den evangelischen Schlüssel zum Geheimnis der "Gerechtigkeit Got41
PE 3, 218-19.
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42
WA 8, 291.
43
PE 3, 394.
tes". Hier erfuhr Luther zum ersten Mal in aller Klarheit, daß das Wort Gottes sich sowohl als Gesetz als auch als Evangelium an uns richtet und daß Christen den Willen Gottes für unser Leben nur dann erkennen können, wenn sie zwischen dem, "was Gott von uns fordert" (das Gesetz), und dem, "was er uns verheißt" (das Evangelium), unterscheiden. Erst als Luther, vom Heiligen Geist erleuchtet, erkannte, daß die Gerechtigkeit Gottes ein allen Gläubigen verheißenes Geschenk ist, konnte er sich von der Vorstellung der Werkgerechtigkeit des mittelalterlichen Rom befreien und sich zu der im NT verkündeten Rechtfertigung durch den· Glauben durchringen. Bisher fehlte mir lediglich die richtige Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Ich meinte, sie seien sich gleich, und sah den Unterschied zwischen Christus und Moses als einen der Zeit und der Vollkommenheit. Erst als ich den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium entdeckte und erkannte, daß es sich um zweierlei Dinge handelt, gelang mir der Durchbruch 44.
Als er seine "Erklärungen" schrieb, konnte Luther die Dialektik von Gesetz und Evangelium bereits so scharf anwenden, daß es ihm gelang, die zweifache Herrschaft Gottes als Schöpfer und Erlöser der gefallenen Menschheit zu beschreiben. Diese Dialektik ist schnell zu einem wesentlichen Bestandteil seiner "Theologie des Kreuzes" geworden. Wenn Gott den Menschen zu rechtfertigen beginnt, richtet er ihn zunächst; den, den er erhöhen will, zerstört er; den, den er heilen will, sucht er heim; den, dem er Leben schenken will, tötet er 45 • Nach dem Wort des Apostels im Römerbrief 1,3-6 ist das Evangelium eine Verkündigung des fleischgewordenen Gottessohns, die uns ohne jeglichen Verdienst als Botschaft von Gerechtigkeit und Frieden geschenkt wird. Es ist ein Wort des Heils, ein Wort der Gnade, ein Wort des Trostes, ein Wort der Freude, eine Stimme des Bräutigams und der Braut, ein gutes Wort, ein Wort des Friedens 46 • Das Gesetz ist andererseits ein Wort der Zerstörung, ein Wort des Zorns, ein Wort der Trübsal, ein Wort des Grams, eine Stimme des Richters und für den Angeklagten ein Wort der Ruhelosigkeit, ein Wort des Fluches. Denn nach dem Wort des Apostels ist das Gesetz "die Macht der Sünde" (1 Kor 15,56) und "bewirkt Zorn" (Röm 4,15); es ist das Gesetz des Todes (Röm 7,5.13). Vom Gesetz bekommen wir nur ein 44
WA, TR 5, 5553.
45
LW 31,99.
46
Ebd., 231.
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schlechtes Gewissen, ein ruheloses Herz und eine besorgte Brust ob unserer Sünden, weil das Gesetz auf diese hinweist, ohne sie uns zu nehmen. Und wir selbst können sie uns nicht nehmen. So kommt die Frohbotschaft zu jenen von uns, die gefangen genommen, von Trübsal überwältigt und schier verzweifelt sind, und sagt [...]: "Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt" (Jo 1,29)47.
Dieses Zitat ist ein besonders anschauliches Beispeil ähnlicher Aussagen, die tatsächlich tausendfach in den Predigten, Ausführungen und Abhandlungen Luthers zu finden sind. Er empfand es als seine persönliche, gottgegebene Aufgabe, der Kirche die richtige Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium wieder zu schenken. Obwohl er die Fähigkeit, diese ausschlaggebende Unterscheidung auf dem Gebiet sowohl des Glaubens als auch der Ethik zu treffen, als "das Kennzeichen des wahren Theologen" erachtete, war Luther der aufrichtigen Überzeugung, daß "seit der Abfassung der Schrift kein Buch - auch von keinem Kirchenvater - geschrieben worden ist, in dem diese beiden Worte oder Predigten Gottes in angemessener Weise behandelt und differenziert betrachtet worden sind" 48. Auch wenn die Uneingeschränktheit dieser Aussage teil weis auf die Begeisterung Luthers für das lebendige Wort Gottes zurückzuführen ist, kann man dennoch zuversichtlich behaupten, daß seine dialektische Behandlung des "eigentlichen" (Evangelium) und des "fremden" (Gesetz) Ausdrucks der liebenden Herrschaft Gottes über die Menschheit in der christlichen Theologie einzigartig ist. Die einmalige Leistung Luthers bestand darin, daß er sich weigerte, den spannungs geladenen Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium als antithetische Heilswege im geringsten zu verändern oder in diesem Punkt Kompromisse zu schließen. Diese Art von Verkündigung hat etwas Nacktes, Dramatisches an sich, das nur zwei mögliche Antworten hervorruft: den Sprung in den Glauben oder vollkommenes Ärgernis. In einer "Theologie des Kreuzes" gibt es keinen Versuch zu erklären, zu verhandeln, zu beschwichtigen oder zu popularisieren. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Wie jeder für sich sterben muß, muß 47
Ebd.
114
48
WA 101", 155.
auch jeder für sich glauben 49. "Der historische Glaube sagt: ,Ich höre, daß Christus gelitten hat und gestorben ist.' [... ] Der wahre Glaube sagt jedoch: ,Ich glaube, daß Christus für mich gelitten hat und gestorben ist'."50 Es ist "dein Hals", d.h. deine ewige Seligkeit, die von einem vertrauensvollen Einsatz für Jesus Christus mit allem, was du hast und bist, abhängt. Wenden wir uns noch kurz zwei "Vorreden" Luthers zu den beiden biblischen Büchern zu, denen er wohl mehr als jedem anderen Buch der Bibel verdankte: den Psalmen und dem Römerbrief. Sie bieten uns einen Einblick in Luthers Umgang mit der Heiligen Schrift, der eine so geheimnisvolle Mischung von Ehrfurcht und Freiheit darstellt: Ehrfurcht, weil Christus in der Schrift allein zu finden ist; Freiheit, weil vieles, das nicht von Christus ist, auch in der Schrift zu finden ist. Seine Anschauung befriedigte weder die Spiritualisten noch die Verfechter des Literalsinns, die darauf bestanden, die Bibel müsse entweder Menschenwort oder Gotteswort sein. Luther dagegen behauptete, sie sei als die inspirierte Aufzeichnung der Selbstoffenbarung Gottes "wie Christus selbst" menschlich und göttlich zugleich. Luther liebte die Psalmen, weil sie die innersten Regungen seiner eigenen Seele in wahrer und getreuer Weise zu schildern schienen. Inmitten aller teuflischen Anfechtungen seines Gewissens in bezug auf seine zeitliche Berufung und sein ewiges Heil konnte er immer aus der demütigen Erkenntnis, daß andere Jünger Gottes in der Vergangenheit ähnliches empfunden hatten, Trost und Kraft schöpfen. Wenn Luther verrückt war, so auch der Psalmist; wenn Luther Seelenqualen erlitt, so auch der Psalmist; wenn Luther nach Gerechtigkeit und einem gnädigen Gott hungern und dürsten konnte, so auch der Psalmist! Als Mensch, der oft einen einsamen Weg gehen mußte, schöpfte Luther großen Trost aus diesem göttlich inspirierten Buch, denn "jeder, ganz gleich in welchem Zustand er sich befindet, findet darin Psalmen und Worte, die auf seinen Fall treffen und genau zu ihm passen, als stünden sie allein um seinetwillen dort. [... ] Dann wird er sich sicher, daß er zur Gemeinschaft der Heiligen gehört" 51. 49
PE 2, 391.
50
WA 44, 720.
51
PE 6, 387, 26ff.
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Während die Psalmen den Gläubigen "einen feinen, hellen, reinen Spiel" des ungestümen menschlichen Herzens bieten, schätzte Luther den Römerbrief vor allem, weil dieser das gnädige Herz Gottes offenbarte. Denn im Römerbrief finden wir "den Hauptteil des Neuen Testaments und das allerreinste Evangelium 52". Er enthält "die ganze christliche und evangelische Lehre" und lehrt "alles, was ein Christ wissen sollte, nämlich, was Gesetz, Evangelium, Sünde, Strafe, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Christus, Gott, gute Werke, Liebe, Hoffnung und das Kreuz sind und wie wir uns gegenüber allen Menschen, seien sie Gerechte oder Sünder, stark oder schwach, Freunde oder Feinde, verhalten sollen." 53 Luthers meisterhafte Zusammenfassung des Römerbriefs bietet uns zugleich eine kurze Zusammenfassung seines eigenen Verständnisses vom Glaubensleben eines Menschen vor Gott (coram Deo), das unserem sittlichen Leben unter anderen Menschen (coram hominibus) vorausgeht, uns dazu befähigt und die Maßstäbe setzt, um es zu beurteilen. 1. Sünde bezeichnet in der Schrift nicht nur die äußeren Werke des Leibes, sondern alle Aktivitäten, die die Menschen zu ihren äußeren Werken bewegen, nämlich das Innerste des Herzens mit all seinen Kräften. [...] Und die Schrift blickt besonders ins Herz und berücksichtig die Wurzeln und die Quelle aller Sünden, nämlich den Unglauben im innersten Herzen s4 • 2. Das Gesetz Gottes richtet nach dem, was im tiefsten Herzen ist, und deswegen stellt das göttliche Gesetz seine Ansprüche an das innerste Herz und kann also nicht mit Werken zufriedengestellt werden. [...] Die Werke des Gesetzes zu vollbringen und das Gesetz zu erfüllen, sind zwei ganz verschiedene Dinge. [...] Denn auch wenn man aus Angst vor Strafe oder aus Liebe zur Belohnung das Gesetz äußerlich mit Werken beobachtet, tut man dies dennoch nicht bereitwillig und freudig und würde anders handeln, wenn es das Gesetz nicht gäbe. Daraus ist zu schließen, daß man im Tiefsten seines Herzens das Gesetz haßt. [...] Das Gesetz zu erfüllen heißt jedoch, seine Werke mit Freude und Liebe zu vollbringen und von sich aus, d. h. ohne den Zwang des Gesetzes, ein gottgefälliges und gutes Leben zu führen. Aber diese Freude und Liebe .gegenüber dem Gesetz wird vom Hl. Geist, der nur in und mit dem Glauben an Jesus Christus sowie durch diesen Glauben geschenkt wer-
52
PE 6, 447, 1Of.
116
53
PE 6, 461, 35ff.
54
PE 6, 450, 11 ff.
den, in das Herz eingeflößt. Ohne den Heiligen Geist sind wir alle Sünder vor Gott 55. 3. Gnade heißt eigentlich die Gunst Gottes oder das Wohlwollen, das Gott bewegt, uns Christus zu schenken und uns den Hl. Geist mit all seinen Gaben einzugießen. [...] Die Gnade bewirkt so viel, daß wir als vollkommen gerecht vor Gott gelten. Seine Gnade läßt sich nicht wie seine Gaben trennen oder teilen, sondern nimmt uns um Christi willen, der unser Fürsprecher und Mittler ist, und aufgrund der Gaben, die in uns ansatzweise vorhanden sind, ganz und gar in seine Gunst auf5 6 • 4. Gerechtigkeit wird als "Gerechtigkeit Gottes" oder "die Gerechtigkeit, die vor Gott fruchtet", bezeichnet, weil Gott sie um Christi, unseres Mittlers, willen verleiht, als Gerechtigkeit annimmt und einen Menschen veranlaßt, jedem Menschen das zu geben, was er ihm schuldet. [...] Eine solche Gerechtigkeit kann nicht von unserer Natur, unserem freien Willen und all unseren anderen Fähigkeiten erzeugt werden. Niemand kann sich selber den Glauben schenken und niemand kann sich den eigenen Unglauben nehmen'57. 5. Glaube ist ein lebendiges, mutiges Vertrauen auf die Gnade Gottes, das so fest und sicher ist, daß ein Mensch tausendfach sein Leben darauf setzen würde. Dieses Vertrauen auf die göttliche Gnade sowie das Wissen um diese Gnade machen die Menschen froh und mutig und glücklich in ihrem Umgang mit Gott und all seinen Geschöpfen; dies ist das Werk des Hl. Geistes im Glauben. So ist der Mensch bereit und froh, ohne Zwang jedem zu dienen und alles zu erdulden, um seine Liebe zu Gott, der ihm diese Gnade erwiesen hat, und seinen Wunsch, ihn zu loben, zu verwirklichen 58. Der Glaube ist ein Werk Gottes in uns. Er verwandelt uns und bewirkt, daß wir aus Gott neu geboren werden (Jo 1,13). Er tötet den alten Adam, erschafft dem Herzen, dem Geist, dem Denken und den Kräften nach vollkommen neue Menschen und bringt den Heiligen Geist. Oh, er ist etwas Lebendiges, Rühriges, Tätiges und Mächtiges, dieser Glaube; und so ist es unmöglich, daß er nicht stets gute Werke vollbringt. Er fragt nicht, ob es gute Werke zu tun gebe; aber wenn die Frage auftaucht, hat er sie bereits verrichtet und ist immer dabei, sie zu tun. Wer solche Werke nicht verrichtet, ist ein glaubensloser Mensch 59.
55 S6 57
S8 S9
PE 6, 447, 3lff. PE 6, 450, 33 ff. PE 6, 452, 22ff. PE 6, 452. Ebd., 451.
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3. Der göttliche Indikativ Wie die zuletzt zitierten kraftvollen Worte andeuten, war die von der Schrift her begründete Auflehnung Luthers gegen das mittelalterliche Rom im wesentlichen religiöser Natur, hatte aber zwangsläufig auch eine ethische Dimension. Aus dem Opfer, das Christus ein für allemal für uns darbrachte, geht als Selbstverständlichkeit sofort hervor, daß wir Gott kein Opfer darbringen sollen. Nach einer evangelischen "Theologie des Kreuzes" leben wir aus dem Glauben an das von Gott Vollbrachte; alles, was wir tun können, ist die unvergleichlichen Gaben Gottes im eucharistischen Geist "des Gebets, des Lobs und der Danksagung" anzunehmen. Da Gott in Christus für unser Heil gesorgt hat, kommt Luther zu dem Schluß, es stehe uns frei, unsere Opfer dem Wohlergehen unserer Nächsten zu widmen, die sie wirklich brauchen. Wenn unsere Liebe zueinander die Liebe Gottes zu uns widerspiegeln soll, ist "unser Nächster jeder Mensch, vor allem jener, der unsere Hilfe braucht" 60. Die Sozialethik Luthers ist also zugleich Christus-zentriert als auch auf den Nächsten ausgerichtet. Da Christus für uns starb, sind wir von der Knechtschaft der Selbstgerechtigkeit befreit. Aber weil Christus auch in uns lebt, sind wir frei, der christlichen Gerechtigkeit zu dienen. Da der Christ kein Feind Gottes mehr ist, steht es ihm frei, ein Werkzeug der dienenden Liebe Gottes gegenüber der ganzen Menschheit zu sein. Luthers Ethik ist fest in der biblischen Verheißung begründet, daß Gott, der uns aufgrund der auf dem Glauben beruhenden Gnade für gerecht erklärt hat (Rechtfertigung), uns durch die auf der Liebe beruhenden Gnade gerecht macht (Heiligung). Es überrascht, daß derselbe Luther, der in bezug auf die Sittlichkeit natürlicher Menschen so pessimistisch ist, sich über die Ethik von Christen so begeistern kann. Der ausschlaggebende Unterschied liegt natürlich in der kraftvollen Intervention des Heiligen Geistes im und durch das Handeln von Christen. Diese Betonung des brandenden, anhaltenden, überfließenden Wir-
60
WA 4011,73.
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kens des innewohnenden Geistes Gottes stellt das charakteristische Merkmal der lutherischen Sicht des christlichen Lebens dar. Eine Ethik der Gnade stellt den "göttlichen Imperativ" der Anforderungen Gottes immer unter den "göttlichen Indikativ" der Taten Gottes. Wir lernen, den Willen Gottes zu tun, wenn wir in den Dienst Gottes im Kampf gegen die Macht des Bösen in dieser Welt eingetreten sind. Dem "Denken Christi" im Glauben angepaßt, können Christen ihre Aufgaben am besten dadurch feststellen, daß sie das Wirken Gottes erkennen. Im Gegensatz zur mittelalterlichen römischen Unterscheidung zwischen dem, was Gott getan hat, und dem, was wir tun müssen, gibt Luther Gott die ungeteilte Ehre und unterscheidet lediglich zwischen (1) dem, was Gott in Christus für uns und unser Seelenheil einmalig getan hat, und (2) dem, was er im Heiligen Geist weiterhin in und durch uns für das ethisch begründete Dienen bewirkt. Von der göttlichen Gnade ermächtigt, wird der wahre Jünger zu einem "Organ oder Instrument Christi", da "jeder, der aus dem Glauben handelt, von Anfang an weiß, daß solche Werke nicht von ihm, sondern von Gott stammen." 61 Es ist ein zentrales Paradoxon der Reformation - wie auch des Neuen Testaments -, daß ethisches Handeln am kräftigsten unter jenen ausgelöst wird, die einen rezeptiven Glauben ausüben. Dies war bei Luther ganz sicher der Fall. Wie die Propheten des Alten Bundes sah auch er sich immer "mehr als Empfänger denn als Handelnder", wenn das lebendige Wort Gottes ihn überwältigte und ihn in den Dienst Christi aufnahm. Sein mutiges Vertrauen, daß "Gott nicht lügt", war für Luther eine göttliche Quelle des Friedens sowie der Kraft, die seine Anhänger in Staunen versetzte. Sie wurden von ihm immer wieder ermahnt, bei der Reformation letztlich in Gott ihren Führer zu suchen. Um Himmels willen, Spalatin, wie aufgeregt seid Ihr! Mehr als ich oder jeder andere. Ich habe Euch bereits geschrieben, daß Ihr nicht annehmen sollt, daß diese Sache durch Euer Urteil oder durch das meinige oder das irgendeines anderen Menschen begonnen oder weitergeführt werden wird. Wenn sie von Gott ist, wird sie entgegen, außerhalb, über und Unter Euerem und auch meinem Verstand vollbracht werden. [... ]
61
LW 31, 56.
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Möge Gott dafür sorgen, denn ich bin sicher, daß keins dieser Dinge von mir gesucht worden ist, sondern daß sie ausnahmslos von einem nicht aus mir stammenden Drang aus mir herausgezogen wurden 62. Alles, was ich getan habe, ist, das Gotteswort zu fördern, zu predigen und zu lehren; sonst habe ich nichts getan. So kam es, daß, während ich schlief oder mit meinem Freund Philipp [Melanchthon] und mit Amsdorf ein Glas Wittenbergisches Bier trank, das Papsttum wie noch nie zuvor durch das Handeln eines Fürsten oder Kaisers geschwächt wurde. Ich habe nichts getan; das Wort hat alles getan und vollbracht. [... ] Ich lasse das Wort wirken 63.
Dieser lebendige Gott, der in den Gläubigen wirkt, stellt die göttliche Kraftquelle dar, die christliche Liebesdienste hervorbringt. Nur weil Gott uns zuerst liebt, sind wir imstande, diese Liebe an andere weiterzugeben (1 Ja 4, 10f.). Wenn Paulus sagt: "Ich, aber nicht ich, sondern Christus in mir", legt er nicht für sich selbst, sondern für seine Rolle als Werkzeug der dienenden Liebe Zeugnis ab. Er gibt für das Gute, das er - allerdings nicht er, sondern Christus in ihm - für andere vollbringen kann, Gott allein die Ehre. Hier geht es nicht darum, daß die von der Natur her bereits ansatzweise vorhandene Gnade sich, wie die Ethik des mittelalterlichen Roms behauptete, lediglich verwirklichte. Vielmehr geht es um eine radikale Reue und Umkehr, bei der die Natur sterben muß, um neu geboren und für Christus und die Mitmenschen neu zum Leben erweckt zu werden. Im Wunder des Glaubens bleibt der Mensch zwar Mensch, aber gelangt in den Besitz Gottes. Unser Wunsch ist es dann, den Willen Gottes zu erfüllen; im Dienst Gottes erleben wir vollkommene Freiheit. An die Stelle unserer sündhaften Unabhängigkeit treten eine vom Glauben getragene Abhängigkeit von Gott und eine von der Liebe getragene gegenseitige Abhängigkeit von unseren Mitmenschen.
62 63
SJ 1,286. WA 10 III, 18f.
120
NACHBEMERKUNG Als evangelische Katholiken fühlen bzw. fühlten sich lutherische Christen im 16. wie auch im 20. Jahrhundert dem dialektischen Zeugnis der Heiligen Schrift als schriftlichem Niederschlag des mündlich verkündeten Gotteswortes verpflichtet. Darin besteht eine große ökumenische Verheißung, was die Versöhnung der bestehenden Ansichten über das Verhältnis von Schrift und Überlieferung betrifft. Dies gilt vor allem in bezug auf jene Katholiken, ob sie sich nun als römisch oder evangelisch bezeichnen, die (1) die Tradition nicht als unabhängige Quelle der göttlichen Offenbarung von der Schrift trennen und (2) die Schrift nicht auf Kosten der Einzigartigkeit der sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der biblischen Aufzeichnungen sich befindlichen Frohbotschaft von der Tradition zu scheiden trachten. Im 16. Jahrhundert legten die im Augsburger Bekenntnis 1530 versammelten Christen am Schluß der Einleitung ihrer Artikel des Glaubens und der Lehre ihre evangelisch-katholische Absicht, dar: Dies ist in etwa eine Zusammenfassung der Lehren, die in unseren Kirchen zur rechten christlichen Unterweisung, zum Trost des Gewissens und zur Besserung der Gläubigen gepredigt und gelehrt werden. Wir möchten unsere eigenen Seelen und unser Gewissen bestimmt nicht vor Gott in ernsthafte Gefahr bringen, indem wir seinen Namen oder sein Wort mißbrauchen; wir möchten auch nicht unseren Kindern und der Nachwelt irgendeine andere Lehre vermachen als jene, die mit dem reinen Wort Gottes und der christlichen Wahrheit übereinstimmt. Da diese Lehre eindeutig auf der Heiligen Schrift beruht und weder der universellen christlichen Kirche noch sogar der Lehre der römischen Kirche (insofern sie sich in den Schriften der Väter widerspiegelt) widerspricht oder entgegengesetzt ist, glauben wir, daß unsere Gegner hinsichtlich der oben aufgeführten Artikel nicht einer anderen als unserer Meinung sein können. [...) Die Auseinandersetzung und Diskussion betreffen hauptsächlich verschiedene Traditionen und Mißbräuche. (Art. XXI)
In unseren Tagen bestätigt die Verfassung der neuen evangelisch-lutherischen Kirche in Amerika (1988) ebenfalls eine Hierarchie von Autoritäten, die das Wort Gottes und die Heilige Schrift weder voneinander trennt noch gleichsetzt. 121
Das Kapitel über das Wesen der Kirche bekräftigt ausdrücklich eine Ekklesiologie, die sowohl evangelisch ("Alle Macht in der Kirche gehört unserem Herrn Jesus Christus") als auch ka. tholisch ist ("Gemeinden finden ihre Erfüllung in der universellen Gemeinschaft der Kirche. [...] Im Längsschnitt erkennt sie an, daß sie in der historischen Kontinuität der Gemeinschaft der Heiligen besteht; im Querschnitt drückt sie die Gemeinschaft der Gläubigen und Gemeinden in unseren Tagen aus" (Kap. 3). Das Kapitel über das Glaubensbekenntnis steht auch fest zur evangelischen Katholizität im Bekennen des Dreieinigen Gottes, der Herrschaft Jesu Christi sowie des Evangeliums als der Macht Gottes zum Heil. Es enthält auch eine uneingeschränkte Bekräftigung des (fleischgewordenen, verkündeten, geschriebenen, inspirierten) Wortes Gottes und eine eindeutige Verpflichtung gegenüber der normativen Autorität der Bibel (norma credendorum), den ökumenischen Glaubensbekenntnissen und den lutherischen Bekenntnisschriften (norma docendorum). Zwischen der "Confessio Augustana invariata" (1530) und den anderen im "Konkordienbuch" (1580) enthaltenen Bekenntnisschriften wird auch bewußt unterschieden, wobei jene als wahres Zeugnis des Evangeliums sowie als evangelisch-katholische Grundlage für eine Gemeinschaft und Vereinigung mit anderen gleichgesinnten Kirchen gilt. Abschließend möchte ich den vollständigen Text des Glaubensbekenntnisses der evangelisch-lutherischen Kirche in Amerika (Kap. 3) zitieren. Diese Kirche bekennt den Dreieinigen Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Diese Kirche bekennt Jesus Christus als Herrn und Heiland und das Evangelium als die Macht Gottes zum Heil aller Gläubigen. a) Jesus Christus ist das fleischgewordene Wort Gottes, durch den alles erschaffen wurde und durch dessen Leben, Tod und Auferstehung Gott eine neue Schöpfung entstehen läßt. b) Die Verkündigung der Botschaft Gottes an uns als Gesetz und auch als Evangelium ist das Wort Gottes, das, ausgehend vom Schöpfungswort, über die Geschichte Israels fortgesetzt und in seiner ganzen Fülle in der Person und dem Wirken Jesu Christi seinen Höhepunkt findend, uns durch Wort und Tat sowohl das Gericht als auch die Barmherzigkeit Gottes offenbart.
122
c) Die kanonischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments sind das geschriebene Wort Gottes. Vom Geist Gottes, der durch die biblischen Schriftsteller spricht, inspiriert, sind sie eine Niederschrift und Verkündigung der göttlichen Offenbarung, in deren Mittelpunkt Jesus Christus steht. Durch sie spricht der Geist Gottes zu uns, um den christlichen Glauben sowie die christliche Gemeinschaft zum Dienst in der Welt zu schaffen und zu erhalten. Diese Kirche erkennt die kanonischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments als das inspirierte Wort Gottes und die autoritative Quelle und Norm ihrer Verkündigung, ihres Glaubens und ihres Lebens an. Diese Kirche erkennt das Apostolische, das Nizänische sowie das Athanasianische Glaubensbekenntnis als wahre Darlegungen ihres Glaubens an. Diese Kirche erkennt die Confessio Augustana in varia ta als wahres Zeugnis des Evangeliums an und sieht sich mit allen Kirchen im Glauben vereint, die ebenfalls die Lehren dieses Bekenntnisses annehmen. Diese Kirche erkennt auch die übrigen im Konkordienbuch enthaltenen Bekenntnisschriften, nämlich die "Apologie Melanchtons " , die "Schmalkaldischen Artikel", den "Großen Katechismus" und die Konkordienformel, als weitere gültige Interpretationen des Glaubens der Kirche, an. Diese Kirche bekennt das Evangelium, das in der Heiligen Schrift aufgezeichnet ist und in den ökumenischen Glaubensbekenntnissen sowie in den lutherischen Bekenntnisschriften bekundet wird, als die Macht Gottes, die Kirche für ihre göttliche Sendung in der Welt zu schaffen und zu erhalten.
Anmerkung des Herausgebers: Der Anmerkungsapparat des vorstehenden Beitrags stellte Herausgeber und Übersetzerin vor ein schwieriges Problem, insofern ein nicht geringer Teil der Lutherzitate aus englischen Übersetzungen (vgl. Verzeichnis der Abkürzungen auf S. 124) entnommen ist, deren Verifizierung am Original einen unverhältnismäßig hohen Arbeitsaufwand erfordern würde. Da es uns bei der Aufnahme dieses Beitrags in die.vorliegende Quaestio disputata nicht um Lutherforschung als solche ging, sondern darum, wie ein prominenter amerikanischer Lutheraner von Luther her das Methodenproblem der Exegese sieht, schien es uns vertretbar, auf eine solche der eigimtlichen Absicht der Übersetzung gegenüber ganz unproportionierte Unternehmung zu verzichten und die Belege so zu belassen, wie Bischof Lazareth sie bietet. Die aus englischen Ausgaben entnommenen Lutherzitate sind daher meist aus dem Englischen zurückübersetzt: Sie beleuchten eine Weise der Luther-Rezeption; nur das ist die Bedeutung, in der sie hier stehen.
123
Verzeichnis der Abkürzungen
Luther, Martin, Sämtliche Werke. 67 Bde (Frankfurt u. Erlangen 1826-57). LW -, Works. Arnerican edition. Edited by Pelkan, Jaroslav, and Lehmann, Helmut (Philadelphia und St. Louis 1955 ff.). -, Works.6 Bde (Philadelphia 1915-43). PE Sm Smith, Preserved. The Life and Letters ofMartin Luther(Boston 1911). SJ Smith, Preserved, and Jacobs, Charles (Hrsgg). Luthers's Correspondence and Other Contemporary Letters. 2 Bde (Philadelphia 1913-18). WA Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe. 58 Bde (Weimar 1883 ff.). WA, Br -, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel, 11 Bde (Weimar 1930ff.). WA, TR -, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden, 6 Bde (Weimar 1912ff.). EA
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QUAESTIONES DISPUTATAE 71 Gisbert Greshake/Gerhard Lohfink, Naherwartung - Auferstehung - Unsterblichkeit. Untersuchungen zur christlichen Eschatologie 5. Auflage. 232 Seiten. ISBN 3-451-02071-4 72 Grundfragen der Christologie heute H. Fries, A. Halder, P. Hünermann, W. Kasper, F. Mußner, L. Scheffczyk (Hg.). 184 Seiten. ISBN 3-451-02072-6 74 Der Tod Jesu. Deutungen im Neuen Testament J. Beutler, J. Gnilka, K. Kertelge (Hg.), R. Pesch, R. Schnackenburg, A. Vögtle. 2. Auflage, 240 Seiten. ISBN 3-451-02074-2 81 Kirchliche und nichtkirchliche Religiosität. Pastoraltheologische Perspektiven F. X. Kaufmann, K. Lehmann, N. Mette, R. Zerfaß, P. M. Zulehner. 128 Seiten. ISBN 3-45 1-02081-5 192 Seiten. ISBN 3-451-02083-1 83 Johannes B. Lotz, Person und Freiheit 85 Gegenwart des Geistes. Aspekte der Pneumatologie W. Kasper (Hg.), M. Kehl, W. Kern, G. Kretschmar, K. Lehmann, H. Mühlen, A. Nossol. 208 Seiten. ISBN 3-451-02085-8 87 Zur Geschichte des Urchristentums J. Blank, G. Dautzenberg, H. Merklein, K. Müller, M. Waibel, A. Weiser. 160 Seiten. ISBN 3-451-02087-4 89 Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften. ZurPaulusrezeption im NT. K. Kertelge (Hg.), G. Lohfink, K. Löning, H. Merklein, P.-G. Müller, A. Sand, W. Tril240 Seiten. ISBN 3-451-02089-0 Jing, P. Trummer. 90 Herbert Vorgrimler, Hoffnung auf Vollendung. Aufriß der Eschatologie 2. Auflage. 176 Seiten. ISBN 3-451-02090-4 91 Die Theologie und das Lehramt P. Eicher, F. Hahn, W. Kasper, W. Kern (Hg.), R. Schaeffler, M. Seckler. 240 Seiten. ISBN 3-451-02091-2 92 Offenbarung im jüdischen und christlichen Glaubensverständnis P. Eicher, B. S. Kogan, H.-J. Kraus, M. A. Meyer, J. J. Petuchowski, R. Rendtorff, M. Seckler, W. Strolz, Sh. Talmon, D. Wiederkehr. 264 Seiten. ISBN 3-451-02092-0 93 Mission im Neuen Testament N. Brox, H. Frankemölle, K. Kertelge (Hg.), J. Kremer, R. Pesch, G. Schneider, K. Stock, D. Zeller. 240 Seiten. ISBN 3-451-02093-9 94 Richard Schaefßer, Fähigkeit zur Erfahrung. Zur transzendentalen Hermeneutik des 128 Seiten. ISBN 3-451-02094-7 Sprechens von Gott 95 Die Frau im Urchristentum. Sonderausgabe J. Blank, C. Bussmann, M. Bußmann, G. Dautzenberg, R. Geiger, G. Lohfink, R. Mahoney, H. Merklein, K. Müller, H. Ritt, A. Weiser. 3. Auflage. 360 Seiten. ISBN 3-451-20841-5 96 Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament E. Haag, N. Lohfink, L. Ruppert, R. Schwager.
256 Seiten. ISBN 3-451-02096-3
97 Otto Hermann Pesch, Gerechtfertigt aus Glauben. Luthers Frage an die Kirche. 144 Seiten. ISBN 3-451-02097-1 98 Christliche Grundlagen des Dialogs mit den Weltreligionen A. Ganoczy, H.-W. Gensichen, C. J. v. Korvin-Krasinski, H. See baß, W. Strolz, C. Thoma, H. Waldenfels. 192 Seiten. ISBN 3-451-02098-X 99 Heilsgeschichte und ethische Normen K. Demmer, B. Fraling, F. Furger, K. Rahner (Vorw.), H. Rotter (Hg.). 160 Seiten. ISBN 3-451-02099-8
100 Heinrich Fries/Karl Rahner, Einigung der Kirchen - reale Möglichkeit Erw. Sonderausgabe mit einer Bilanz "Zustimmung und Kritik" von H. Fries. 3. Auflage, 192 Seiten. ISBN 3-451-20407-X 102 Ethik im Neuen Testament F. Böck1e, J. Eckert, W. Egger, F. Furger, P. Hoffmann, K. Kerte1ge (Hg.), G. Lohfink, R. Schnackenburg, D. Zeller. 216 Seiten. ISBN 3-451-02102-1 103 Stefan N. Bosshard, Erschafft die Welt sich selbst? Die Selbstorganisation von Natur und Mensch aus naturwissenschaftlicher, philosophi2. Auflage, 264 Seiten. ISBN 3-451-021 03-X scher und theologischer Sicht. 104 Gott, der einzige. Zur Entstehung des Monotheismus in Israel G. Brau1ik, E. Haag (Hg.), G. Hentschel, H.-W. Jüngling, N. Lohfink, J. Scharbert, E. Zenger. 192 Seiten. ISBN 3-451-02104-8 105 Auferstehung Jesu - Auferstehung der Christen I. Broer, P. Fiedler, H. Gollinger, I. Maiseh, J. M. Nützei, L. Oberlinner (Hg.), D. Zeller. 200 Seiten. ISBN 3-451-02105-6 106 Seele - Problembegriff christlicher Eschatologie W. Breuning (Hg.), R. Friedli,- G. Greshake, E. Haag, G. Haeffner, O. H. Peseh, H. Verweyen. 224 Seiten. ISBN 3-451-02106-4 107 Liturgie - ein vergessenes Thema der Theologie? A. Angenendt, D. Emeis, M. M. Garijo-Guembe, A. Kallis, K. Kertelge, A. Th. Khoury, K. Lüdicke, F. Merkei, J. J. Petuchowski, K. Richter (Hg.), R. Sauer, H. Vorgrimler, 2. Auflage, 192 Seiten. ISBN 3-451-02107-2 P. Weimar. 108 Das Gesetz im Neuen Testament J. Beutler, I. Broer, G. Dautzenberg., P. Fiedler, H. Frankemölle, K. Kertelge (Hg.), J. Lambrecht, K. Müller, F. Mußner, W. Radl,A. Weiser. 240 Seiten. ISBN 3-451-02108-0 109 Theorie der Sprachhandlungen und heutige Ekklesiologie L. Averkamp. (Einf.), W. Beinert, N. Brox, E. Coreth, F. Courth, K. Demmer. A. Halder, 184 Seiten. ISBN 3-451-02109-9 F.-L. Hossfeld, P. Hünermann, R. Schaeffler.
110 Unterwegs zur Kirche. Alttestamentliche Konzeptionen W. Breuning, H. F. Fuhs, W. Groß, F.-L. Hossfeld, N. Lohfink, J. Schreiner (Hg.) Th. Seid!. 200 Seiten. ISBN 3-451-02110-2 160 Seiten. ISBN 3-451-02111-0 111 Hans-Josef Klauck, Judas - ein Jünger des Herrn 112 Der Prozeß gegen Jesus J. Blank, I. Broer, J. Gnilka, K. Kertelge (Hg.), F. Lentzen-Deis, K. Müller, W. Radi, H. Ritt, G. Schneider. 240 Seiten. ISBN 3-451-02112-9 113 Tiefenpsychologische Deutung des Glaubens? Anfragen an Eugen Drewermann H. Bürkle, E. Dassmann, F. Furger, A. Görres, W. Kasper, R. Schnackenburg, J. Splett, J. Sudbrack. 176 Seiten. ISBN 3-451-02113-7 114 Jürgen Moltmann, Was ist heute Theologie?
104 Seiten. ISBN 3-451-02114-5
115 Vorsehung und Handeln Gottes G. Bachl, H. Häring, F.-L. Hossfeld, H. Jorissen, Th. Schneider (Hg.), R. Schulte, B. Stu208 Seiten. ISBN 3-451-02115-3 der, L. Ullrich (Hg.),J. Wanke, L. Weimer. 116 Erzählter Glaube - erzählende Kirche. E. Arens, G. Fuchs, O. Fuchs, K. Müller, B. Sill, H. P. Siller, A. Stock, L. Wachinger, E. Zeller, R. Zerfaß (Hg.). 206 Seiten. ISBN 3-451-02116-X
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