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Rückfrage nach Jesus Ferdinand Hahn Karl Kertelge Fritzleo Lentzen-Deis F ranz M ußner Rudolf Pesch Rudolf Schnackenburg Herausgegeben von Karl Kertelge
Die Frage nach dem historischen Jesus bleibt ein Schwerpunkt der theologischen Diskussion. Ihre Bedeutung liegt heute aber nicht mehr nur in der exegetischen Erforschung der Evangelien, sie erweist sich auch als Kernproblem im Gespräch zwischen den theologischen Disziplinen, ja sogar zwischen Christen und Nichtchristen. Im vorliegenden Band zeigen sechs namhafte deutsche Exegeten, daß sich die gegenwärtige Diskussion um diese Frage nicht mehr auf das bloße Aufspüren historischer Fakten des Lebens Jesu einengen läßt, sondern daß sie sich auch mit den methodischen Schwierigkeiten der Rückfrage nach dem historischen Jesus und mit der Frage nach genau faßbaren Kriterien zur Beurteilung des Historischen auseinandersetzen muß. So werden hier nicht nur wesentliche Teilfragen exemplarisch behandelt; vielmehr wird in einem gemeinsamen Bemühen versucht, einen Weg aus den Engführungen der historischen Rückfrage und zugleich einen Weg der Annäherung zu einer möglichst ursprünglichen Ganzheit von Gestalt und Geschichte J esu aufzuzeigen. Alle Beiträge des Bandes sind exegetische Arbeiten, die jedoch die Gesichtspunkte und Anfragen der systematischen Theologie, vor allem der Fundamentaltheologie, zu berücksichtigen suchen. Ein exegetischer Beitrag also zu einer fundamentalen Fragestellung der heutigen Theologie, zugleich eine zuverlässige Orientierung über den neuesten Stand der Forschung und eine hilfreiche Anleitung zur Methode exegetisch-theologischen Fragens.
RüCKFRAGE NACH JESUS
QUAESTIONES DISPUTATAE Herausgegeben von KARL RAHNER UND HEINRICH SCHLIER Theologische Redaktion HERBERT VORGRIMLER Internationale Verlagsschriftleitung ROBERT SCHERER
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Internationaler Marken- und Titelschutz: Editiones Herder, Basel .
RüCKFRAGE NACH JESUS Zur Methodik und Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus FERDINAND HAHN KARL KERTELGE FRITZLEO LENTZEN-DEIS FRANZ MUSSNER RUDOLF PESCH RUDOLFSCHNACKENBURG HERAUSGEGEBEN VON KARL KERTELGE
HERDER FREIBURG . BASEL· WIEN
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder KG Freiburg im Breisgau 1974 Imprimatur. - Freibm:g im Breisgau, den 16. Mai 1974 Der Generalvikar: Dr. Schlund Herder Druck Freiburg im Breisgau 1974 ISBN 3-451-02063-4
Inhalt
Karl Kertelge: Einführung
7
I Ferdinand Hahn: Methodologische überlegungen zur Rückfrage nach J esus .
11
II Fritzleo Lentzen-Deis: Kriterien für die historische Beurteilung der Jesusüberlieferung in den Evangelien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
78
III Franz Mußner (und Mitarbeiter): Methodologie der Frage nach dem historischen Jesus (Anhang: Ausgewählte Literatur zur Sprach- und Literaturwissenschaft)
118
IV Rudolf Pesch: Die überlieferung der Passion J esu
148
V Karl Kertelge: Die überlieferung der Wunder Jesu und die Frage nach dem historischen J esus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
174
VI Rudolf Schnackenburg: Der geschichtliche J esus in seiner ständigen Bedeutung für Theologie und Kirche . . . . . . . . . . . . . .
194
Autorenregister (mit Hinweisen auf ausführlich in den Anmerkungen zitierte Literatur). . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
221 5
Einführung
Die inzwischen schon "alte" Frage nach dem historischen J esus erweist sich trotz der "Sackgassen" (Käsemann), in die sie in der Vergangenheit vielfach geraten ist, nach wie vor als eine wesentliche Kraft, die die theologische Diskussion in Gang hält. Immer noch geht es darum, was und wieviel Genaues die historisch interessierte Rückfrage nach J esus ermitteln kann. In verstärktem Maße geht es dabei heute um die möglichst klare Bestimmung der Zugangswege zum historischen Jesus, um schärfere Einstellung des methodischen "Instrumentariums", um Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Kriterien in der Bestimmung von Ursprünglicherem und historisch Evidentem. Diese Bemühungen, die auf äußerste Präzision der historisch-kritischen Analyse der vorgegebenen Texte abzielen, werden von einer immer mehr geforderten und praktizierten Methodenkritik ("Kritik der Kritik") begleitet, die die historische Rückfrage nicht auf einem "Trümmerfeld" der Kritik zur Ruhe kommen lassen will, sondern sich der Frage nach der theologischen Sinnhaftigkeit dieser Rückfrage verpflichtet weiß und daher nach der der urchristlichen überlieferung zugrundeliegenden Einheit und Ganzheit der Gestalt und Geschichte J esu Ausschau hält. Unter diesen Gesichtspunkten kann sich die Exegese nicht damit begnügen, in einer fragwürdigen "Abstinenz" nur das neutestamentliche Kerygma von Jesus darzustellen und seine normative Bedeutung zu erklären; sie hat vielmehr auch nach den geschichtlichen Verweisen zu fragen, die in diesem Kerygma schon gegeben sind. Von welcher Art sind aber die geschichtlichen Verweise in den Evangelien? Gestatten sie uns ohne weiteres eine kritisch-historische Rückfrage nach der vorausgesetzten Situation des Lebens Jesu, oder lassen sie nicht eher von einer theologischen Relevanz der Geschichte J esu für das urchristliche Kerygma sprechen? Allerdings sind die Form 7
der neutestamentlichen Evangelien und ebenso die von ihnen verarbeiteten Einzelüberlieferungen nur dann hinreichend zu erklären, wenn man in ihnen nicht nur ein allgemein theologisches oder gar "gnostisches" Interesse an der Geschichte J esu am Werke sieht, sondern wenn man mit ihnen in bestimmter Weise mit der Geschichtlichkeit der Geschichte Jesu aufgrund des überlieferten rechnet. Die dabei als selbstverständlich vorausgesetzte Historizität der überlieferungsinhalte wird uns zu einem geschichtswissenschaftlichen Problem, das nur bei differenzierterer Beurteilung der heutigen historisch interessierten Fragestellung und ihrer geistesgeschichtlichen Voraussetzungen einerseits und der urchristlichen Geschichts-, überlieferungs- und Verkündigungssituation andererseits mit einiger Aussicht auf Erfolg angegangen werden kann. Die historisch interessierte Rückfrage nach J esus wird ihren Wert vor allem darin zu erweisen haben, wieweit sie die Beziehung der neutestamentlichen Christologie zum historischen Jesus positiv zu bestimmen vermag. Die mit dieser Rückfrage gestellte Aufgabe gewinnt an Dringlichkeit, je mehr wir in der neutestamentlichen Theologie von einer Pluralität der urchristlichen Christologie sprechen. Mit welchem Recht kann man dann der einen oder anderen Christologie eine theologisch größere Valenz zuschreiben, wenn diese nicht im Vergleich der verschiedenen christologischen Ansätze des Neuen Testaments auch auf den historischen J esus bezogen wird? Wieweit sind also die in den Evangelien enthaltenen geschichtlichen Verweise Anhaltspunkte für die Beurteilung der urchristlichen Christologie? Die Exegese vermag mit den ihr eigenen Methoden die hiermit gestellte Frage nach einer normativen Christologie nicht allein befriedigend zu lösen. Indem sie das christologische Problem heute erneut mit der Frage nach dem historischen J esus konfrontiert, leistet sie freilich direkt und indirekt einen unentbehrlichen Dienst für eine erneute theologische Fundierung des überlieferten Christusglaubens. Die in diesem Band vorgelegten Beiträge gehen auf Vorträge und Arbeitskreise zurück, die auf der Tagung der deutschsprachigen katholischen Neutestamentler im Frühjahr 1973 in Wien zum Thema "Die Frage nach dem historischen J esus und die J esusüberlieferung der Evangelien" gehalten wurden. Die einzelnen Beiträge sind für die Drucklegung von den Verfassern noch einmal durchgesehen und teilweise überarbeitet worden, wobei Anfragen, Gesichtspunkte und Er8
gebnisse aus den Diskussionen und Arbeitsgemeinschaften der Wiener Tagung wenigstens teilweise berücksichtigt werden konnten. Eine vollständige Abstimmung der einzelnen Aufsätze miteinander wurde nicht erstrebt. Dennoch sind die Beiträge sowohl schwerpunktmäßig deutlich voneinander unterschieden als auch unter dem dominierenden Gesichtspunkt des Leitthemas aufeinander bezogen. Sie behandeln die Frage nach dem historischen Jesus im Interesse einer zugleich exegetischen und allgemein theologischen Zielsetzung. Eine weitere Diskussion der hier aufgewiesenen Aspekte mit den anderen theologischen Fachrichtungen, vor allem mit der Fundamentaltheologie, wäre wünschenswert. Der Schwerpunkt dieser Arbeiten liegt bei den methodischen Schwierigkeiten des Rückgangs zum historischen Jesus. Die Beiträge von F. Hahn und F. Mußner verdeutlichen diese Schwierigkeiten und stellen Wege zu ihrer überwindung zur Diskussion. Während für Hahn die rekonstruierende Arbeit des Historikers aufgrund von Einzelbeobachtungen an der urchristlichen Jesusüberlieferung im Vordergrund steht, sucht Mußner in verstärktem Maße auch Ansätze der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft, besonders der Linguistik in die exegetische Arbeit einzubeziehen. Die konventionelle Formel "Historischer Jesus / Christus des Glaubens" und die darin angedeutete Disjunktion sucht er durch das Thema "Jesus und der Text" zu überholen. Im engen Zusammenhang mit der Methodenfrage und zugleich auch als wesentlicher Teilaspekt davon stellt sich die Frage nach genau faßbaren Kriterien zur Beurteilung des Historischen. Hiermit befaßt sich der Beitrag von F. Lentzen-Deis. Dabei zeigt sich, daß die so gestellte Kriterienfrage nur in ständiger Kritik des historischen Fragens selbst anzugehen ist. Wie der Beitrag von F. Mußner, so gehen auch die von R. Pesch und K. Kertelge auf Arbeitskreise zurück. Dabei zeigt sich schon in den beiden Themen eine stärkere Orientierung an der Geschichte der Jesusüberlieferung. Beide Aufsätze verstehen sich als exemplifizierende Beiträge zur Methoden- und Kriterienfrage. An zwei charakteristischen überlieferungskomplexen der Evangelien (Passion und Wunder) wird gezeigt, wieweit der methodisch nicht zu überspringende Weg der traditionsgeschichtlichen Analyse einen Zugang zum historischen J esus gewährt. In welcher Hinsicht die historische Rückfrage trotz der nur fragmentarischen Möglichkeiten und Ergebnisse theologisch sinn9
voll bleibt, bringt der Aufsatz von R. Schnackenburg eindrucksvoll zur Sprache. Paradoxerweise zeigt sich bei aller Begrenztheit des historischen Wissens immer auch die Unerschöpflichkeit der Jesusgeschichte für Theologie und Kirche. Die hier vorgelegten Beiträge zeigen, daß die erneut aktuelle Diskussion um den historischen Jesus in der katholischen (wie auch in der evangelischen) Theologie sich nicht auf das Aufspüren historischer Rudimente des Lebens Jesu einengen läßt, sondern stärker auf die Methodenfrage und auf die Sinnhaftigkeit des historischen Fragens überhaupt bezogen ist. Damit stellt sich dieser Band nicht nur als Samml ung von Teilfragen und T eillösungen dar> sondern auch als eine gemeinsame Bemühung von Exegeten, um einen Weg aus den Engführungen der historischen Rückfrage und zugleich einen Weg der Annäherung zur möglichst ursprünglichen Ganzheit von Gestalt und Geschichte Jesu aufzuzeigen.
Karl Kertelge
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I
Methodologische überlegungen zur Rückfrage nach Jesus ':Von Ferdinand Hahn, Mainz
Es gibt Fragen, die uns in der Theologie nicht zur Ruhe kommen lassen, Fragen, die sich immer wieder aufdrängen und die unablässig neu gestellt werden müssen. Dies hat nicht in erster Linie etwas damit zu tun, ob derartige Fragen bisher befriedigend oder unzureichend beantwortet sind; sicher kann man vorliegende Ergebnisse weiterführen und den Problemen immer noch neue Aspekte abgewinnen. Aber wichtiger ist, daß es Fragen gibt, die das theologische Denken als solches in Bewegung halten, Fragen also, auf die wir gar nicht verzichten können. Im Gegenteil, wir müssen uns hüten, daß wir uns nicht mit den bereits gegebenen Antworten begnügen. E~ gilt vielmehr, Lösungsversuche regelmäßig wieder in Fragestellungen zurückzuführen, ohne daß man deswegen in der bloßen Frage steckenbleiben darf. Theologie erfüllt dann ihre Aufgabe, wenn sie in der Bewegung des ständigen Fragens und Antwortens bleibt, wenn sie sich von den früher gegebenen Antworten nicht einfach entbunden sieht, jedoch aus gegenwartsbezogenem Fragen heraus zu eigenen neuen Antworten kommt. Nur so erfüllt Theologie ihre kirchliche Aufgabe, weil für die Kirche immer die aktuelle Verantwortung von entscheidender Bedeutung ist. Die Problemstellungen, die theologisches Denken in Bewegung halten, sind nicht zu allen Zeiten dieselben. Es besteht aber kein Zweifel, daß die Frage nach Geschichte und Person Jesu heute zu jenen Grundfragen gehört, die sich unausweichlich stellen und uns nicht loslassen. ". Das am 3.4. 1973 in Wien gehaltene Referat wird in überarbeiteter Fassung vorgelegt. Die Anmerkungen dienen der Verdeutlichung und Weiterführung, ohne daß ein vollständiger überblick über die derzeitige Diskussion gegeben werden kann. Auf die anderen Vorträge der Tagung und die Ergebnisse der Arbeitsgruppen ist nicht Bezug genommen, nur einige an mich gerichtete Fragen aus der Aussprache sind berücksichtigt.
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Das betrifft keineswegs nur die Fachexegeten, sondern diese Frage ist zu einem Angelpunkt für die theologische Diskussion zwischen allen Disziplinen geworden, sie gehört aber ebenso in die Unterweisung und das Glaubensverständnis der Gemeinde und kennzeichnet darüber hinaus den neuralgischen Punkt eines jeden echten Gesprächs zwischen Christen und Nichtchristen 1. Besitzt diese Fragestellung somit eine weit über die eigene Disziplin hinausreichende Bedeutung, dann ist uns Fachvertretern der neutestamentlichen Exegese die Aufgabe gestellt, das ganze Problemfeld methodologisch und sachlich so aufzuarbeiten, daß für die allgemeine theologische Diskussion die Weichen richtig gestellt sind, damit - im Bild gesprochen - weder laufend Betriebsunfälle passieren noch auf Neben- oder Abstellgleisen rangiert werden muß. Für die gemeinsame Arbeit dieser erfreulicherweise ganz auf das Problem des "historischen Jesus" konzentrierten Tagung will ich mich um einige grundlegende methodische Klärungen bemühen. Dabei zeigt sich allerdings, daß Methodenfragen nur bedingt isolierbar sind. Gewisse überschneidungen mit den anderen ThemensteIlungen lassen sich nicht vermeiden. Denn ich kann die Methodik der Untersuchung biblischer Texte nicht erörtern, indem ich lediglich allgemeine Grundsätze und historisch neutrale Vorfragen behandle. Vielmehr ist die Erörterung der methodischen Probleme eng mit der Analyse und Interpretation der Texte verzahnt, muß daher stets einen angemessenen Zugang zu den Einzelproblemen suchen. Ein adäquates methodisches Verfahren läßt sich nicht im voraus festlegen, sondern bedarf der ständigen Erprobung und Kontrolle am Gegenstand selbst. Darüber hinaus ist in jedem Falle auch die theologische Relevanz des methodischen Vorgehens und gewonnenen Sachbezuges mit zu bedenken. Das betrifft nicht nur die "Anwendung" der Methode, sondern das Verständnis der Methode selbst, die trotz übergreifender Gesichtspunkte nicht von der spezifischen Art ihres Gegenstandes absehen kann. Gleichwohllassen sich mehrere, sehr eng aufeinander bezogene Schritte un1 In der Einleitung sowie an einigen späteren Stellen sind Gedanken aufgenommen aus meiner in Trier gehaltenen Gastvorlesung: Die Frage nach dem historischen Jesus, in: TrThZ 82 (1973) 193-205. Ich verweise auch auf meinen früheren Beitrag: Die Frage nach dem historischen J esus und die Eigenart der uns zur Verfügung stehenden Quellen, in: F. Hahn - W. Loh!! - G. Bornkamm, Die Frage nach dem historischen Jesus (Evang. Forum 2) (Göttingen 21966) 7-40.
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terscheiden und auch nacheinander erörtern, wenn man den Gesamtzusammenhang im Auge behält. In diesem Sinne ist die Arbeitsteilung zwischen den Referenten vorgenommen worden. Mir geht es darum, zunächst die mit dem Rückgang auf den vorösterlichen Jesus verbundenen Schwierigkeiten zu behandeln (I); dann ist von den positiven Möglichkeiten des Rückgangs auf die Geschichte J esu zu sprechen (II); und schließlich ist die sachliche Berechtigung einer Rückfrage nach J esus zu klären (III).
I. SCHWIERIGKEITEN DER RüCKFRAGE
Die Schwierigkeiten eines historischen Rückgangs auf den vorösterlichen Jesus sind jedem, der sich intensiv mit dem Problem befaßt, hinreichend bekannt. Dennoch überrascht es, daß es keine umfassende Aporetik für diesen exegetischen Arbeitszweig gibt 2 . Zudem ist festzustellen, daß häufig Extrempositionen vertreten werden, die dem komplizierten Sachverhalt in keiner Weise gerecht werden. So gelangt man entweder voreilig zu der Hypothese, daß es historisch überhaupt so gut wie unmöglich sei, zum vorösterlichen Jesus vorzustoßen 3, oder aber man unterschätzt die vorhandenen Schwierigkeiten und rechnet mit biographischem Material, um mit Hilfe der vorhandenen Evangelientradition ein möglichst detailliertes Bild der Geschichte Jesu zu entwerfen 4. Soweit Schwierigkeiten behandelt werden, geschieht das fast ausschließlich im Zusammenhang der Forschungsgeschichte. Je2 Ein erster Versuch in dieser Richtung wurde unternommen von G. Schille, Prolego-' mena zur Jesusfrage, In: ThLZ 93 (1968) Sp. 481-488. 3 Diese schon oft vertretene Auffassung wird neuerdings in prägnanter Form dargelegt von G. Strecker, Die historische und die theologische Problematik der Jesusfrage, in: EvTh 29 (1969) 453-476, bes. 463ff 468ff. Vgl. auch W. Schmithals, Das Bekenntnis zu Jesus Christus, in: ders., Jesus Christus in der Verkündigung der Kirche (Neukirchen - Vluyn 1972) 60-79, bes. 75 H. 4 Sieht man von der älteren Forschung ab, die einige maßgebende "Augenzeugen" als Tradenten voraussetzte, so sind hier vor allem die Ausleger zu nennen, die trotz formaler Prägung der überlieferung durch die Gemeinde mit einem festen Grundbestand an "geschichtlicher Erinnerung" rechnen. Charakteristisch ist L. Köhler, Das formgeschichtliche Problem des Neuen Testaments (Samml. gemeinverständl. Vortr. 127) (Tübingen 1927) 24 ff. Vgl. aus jüngster Zeit R. Schäfer, Jesus und der Gottesglaube (Tübingen 1970) 21 ff.
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doch die Beschäftigung mit der Erforschung des historischen Jesus in den letzten 200 Jahren genügt offensichtlich nicht; denn dabei lassen sich zwar wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der jeweiligen Prämissen und des unterschiedlichen Umgangs mit den Quellen gewinnen, aber es werden die prinzipiellen Probleme nicht genügend sichtbar, die sich bei unserer Arbeit zu jeder Zeit unausweichlich stellen s. Wir kommen nicht darum herum, uns mit den bleibenden Aporien zu befassen, wie wir zugleich eine bis ins einzelne durchgeführte Kriteriologie brauchen, die eine Eruierung des vorösterlichen Traditionsgutes sinnvoll und kontrollierbar macht 6 . Erst dann kommen wir aus dem Dilemma heraus, die Möglichkeit des Rückgangs auf den vorösterlichen Jesus einfach zu bestreiten oder kurzschlüssig zu postulieren. Was ich hierzu jetzt zusammenstelle, soll lediglich einen ersten Anstoß vermitteln und die Dringlichkeit der Aufgabe deutlich machen. Die Schwierigkeiten tauchen bei der exegetischen Arbeit vor allem an drei Punkten auf: einmal bei der Selektion der J esusüberlieferung, sodann bei der formalen Prägung und Umprägung dieser überlieferung innerhalb des Neuen Testamentes, schließlich bei deren Neuinterpretation.
1. Selektion der Jesusüberlieferung
Mit der Selektion ist auf ganz verschiedenen Ebenen zu rechnen: a) Vergleichen wir Mattäus und Lukas mit Markus, so stellen wir fest, daß die beiden späteren Evangelisten nicht den gesamten Stoff übernommen haben. Sie haben sich zwar weitgehend an ihre Vorlage gehalten, dennoch haben sie teils gestrafft, teils ausgelassen 7. Dasselbe 5 Einen Versuch, die prinzipiellen Schwierigkeiten zu skizzieren, unternimmt F. G. Downing, The Church and Jesus (StudBiblTheol II/I0) (London 1968). Allerdings orientiert auch er sich sehr stark an dem Problem der Vorentscheidungen der einzelnen Forscher und ist insgesamt äußerst skeptisch, was die Rekonstruierbarkeit des vorösterlichen Wirkens Jesu und der ältesten Geschichte der Kirche betrifft (vgl. z. B. S. 51). 6 Vgl. dazu Teil H. 7 Bezeichnend dafür ist, daß Mattäus die Wundererzählungen im Vergleich zu Markus weitgehend verkürzt; dazu vgl. H. J. Held, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, in: G. Bornkamm - G. Barth - H. J. Held, überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (WMANT I)(Neukirchen- Vluyn 61970) 155-278, bes.158ff. Bekannt ist die Auslassung von Mk 6, 45 - 8,26 im Lukasevangelium.
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Problem taucht bekanntlich bei ihrem Umgang mit der Logienquelle auf: an mehreren Stellen haben wir Anlaß zu fragen, ob nicht Stoffe zur Q- überlieferung hinzuzurechn~n sind, die sich lediglich in einem Evangelium aufbewahrt finden, weswegen die Grenzziehung zwischen Q-Stoffen und Sondergut an einer Reihe von Stellen äußerst schwierig ist B• Was für Mattäus und Lukas gilt, muß auch für Markus vorausgesetzt werden: jede schriftliche Zusammenfassung des Traditionsgutes ist nicht bloß Sammlung des vorgegebenen Stoffes, sondern auch Auswahl aus dem vorhandenen Gut. Mag die Auslassung im Vergleich zur übernahme geringfügig sein, sie darf nicht außer Betracht bleiben und als unerheblich angesehen werden 9 . b) Dieser Prozeß der Sammlung bei gleichzeitiger, wenn auch noch so behutsamer Auswahl darf keinesfalls auf die Evangelien, also den Prozeß der Schriftwerdung der überlieferung, beschränkt werden, er hat sich bereits in der mündlichen Tradition überall dort ergeben, wo man sich bemühte, Jesusworte bzw. Jesuserzählungen zu sammeln und zu ordnen. Dieses selektive Verfahren hat sich hier nun aber nicht einmalig wie bei der Abfassung eines Evangeliums vollzogen, vielmehr konnte es während der ganzen Periode mündlicher Weitergabe erfolgen. Wird im Zuge einer bloßen Aufreihung des Stoffes dazu weniger Anlaß als bei einer planmäßigen Zusammenstellung thematisch verwandten Gutes gewesen sein, wir müssen jedenfalls damit rechnen, daß Stoff nicht nur angegliedert, sondern, aus welchen Gründen auch immer, ebenso abgestoßen werden konnte 10. Als Beispiel sei nur Mt 8, 18-22//Lk 9; 57-62 erwähnt, wo sich die Frage stellt, ob Lk 9,61 f trotz fehlender Parallele nicht zur Q-Tradition gerechnet werden muß. Zum' Problem vgl. H. Schürmann, Sprachliche Reminiszenzen an abgeänderte oder ausgelassene Bestandteile der Redequelle im Lukas- und Matthäusevangelium, in: den., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien (Ges. Aufs.) (Düsseldorf 1968) 111-125. 9 Bei Markus ist eine Auslassung am ehesten dort zu erwägen, wo wir eine unabhängige Parallelüberlieferung haben. So ist etwa zu fragen, ob Mk 3,22ff ohne Hinweis auf einen konkreten Anlaß überliefert war (vgl. Lk 11, 14 par). Der Evangelist konnte wegen seines redaktionellen Rahmens hierauf verzichten. Meist ist das Urteil allerdings schwierig, weil die Abweichungen bereits auf die mündliche Tradition zurückgehen können. 10 Das ergibt ein Vergleich der Mk- und Q-Tradition, und zwar dort, wo je verschiedene Kombinationen der Uberlieferungsstücke vorliegen. Bei der engen Verwandtschaft der Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig ist es überwiegend wahrscheinlich, daß sie schon sehr früh zusammen überliefert worden sind (Lk 13,18f.20ff/Mt 13,3lf.33). Bei Markus erscheint dagegen das Senfkorngleichnis in einer Kombination mit dem wesentlich andersgearteten Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 8
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c) Ein weiterer, sehr bedeutsamer Anlaß zur Selektion ist mit dem übergang vom aramäischen zum griechischen Sprachbereich gegeben. Hierbei dürfte es vermutlich zu einem nicht unerheblichen Prozeß der Abstoßung gekommen sein. Wir besitzen, was nicht vergessen werden darf, eine Kenntnis über die aramäisch sprechenden Gemeinden Palästinas der nachösterlichen Zeit nur so weit, als uns deren Traditionen durch die griechisch sprechenden Gemeinden erhalten geblieben sind. Das ist, wie wir alle wissen, äußerst spärlich. Entsprechendes braucht nicht von vornherein für die Jesusüberlieferung zu gelten. Dennoch müssen wir damit rechnen, daß ursprüngliche J esustradition, die den Gemeinden des aramäischen Sprachbereichs geläufig war, nicht im vollen Umfang übernommen worden ist. Dieser Sachverhalt ist zudem unabhängig von der Bestimmung des Verhältnisses zwischen den aramäisch und den griechisch sprechenden Gemeinden. Denn an irgendeiner Stelle mußte, ganz unabhängig von der Ausprägung und Stellung des Jesusgutes in den einzelnen Traditionszweigen, die übersetzung vollzogen werden, da der ursprüngliche, von Jesus herkommende. Bestand in jedem Falle aramäisch war. Die Reduzierung kann rein sprachliche Gründe gehabt haben, da bestimmte Logien schwer zu übertragen und ohne aramäischen Sprachduktus kaum verständlich waren, sie kann aber auch sachliche Gründe gehabt haben 11. Es ist unbestritten, daß Aramaismen und etliche schwer verständliche Logien in der späteren Tradition mitgeschleppt worden sind, aber dieses Argument darf uns nicht dazu veranlassen, eine mit dem übersetzungsprozeß verbundene Selektion kurzerhand zu bestreiten 12. d) Mit einem nicht unerheblichen Traditionsverlust ist schließlich beim übergang von der vorösterlichen Zeit zur nachösterlichen überlieferung der Gemeinde zu rechnen. Es braucht jetzt gar nicht die vielerörterte Frage der Bedeutung des "Ostergrabens"13 hochgespielt zu werden, die unterschiedliche Situation vor und nach Ostern hat es un4,26-29.30-32); es ist also vermutlich aus seinem älteren Zusammenhang schon in ';'ormarkinischer Tradition gelöst worden. 11 Zu dem Problem der aramäischen Grundlage der Jesuslogien vgI. M. Black, An Aramaic Approach to the Gospels and Acts (Oxford 31967); J.Jeremias, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu (Gütersloh 1971) 14ff. . 12 VgI. die Zusammenstellung der aramäischen Elemente bei Jeremias, Theologie I, 16ff.41f. 13 Zu diesem Ausdruck vgI. F. Mußner, Der "historische" Jesus, in: Jesus in den Evangelien (hrsg. v. W. Pesch, SBS 45) (Stuttgart 1970) 38-49, dort 40 49.
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ausweichlich mit sich gebracht, daß Worte J esu und Berichte über seine Taten verlorengegangen sein müssen. Das gilt auch dann, wenn wir mit einem erheblichen Interesse an der vorösterlichen Tradition rechnen und unter Umständen sogar einen Beginn des überlieferungsprozesses zu Jesu Lebzeiten voraussetzen dürfen 14. Zumindest ist anzunehmen, daß nicht in allen Gemeindegruppen - ehemalige Jünger und Neubekehrte - mit gleicher Intensität und mit gleicher Absicht auf vorösterliche Sachverhalte zurückgegriffen wurde, was notwendigerweise zu einer gewissen Auswahl führen mußte. Dieser vierfache Vorgang einer Reduzierung des ursprünglichen Traditionsbestandes darf nicht übersehen werden. Es kann dagegen nicht eingewandt werden, dieser Selektionsvorgang sei lediglich bei der Redaktion der uns vorliegenden Evangelien wirklich nachweisbar; auch an Spruchgruppen läßt er sich noch erkennen. Zudem müssen bei einer Methodologie auch die durch Analogie zu erschließenden Sachverhalte Berücksichtigung finden, weil sonst leicht eine falsche Gesamtauffassung entsteht. Das heißt, wir müssen uns von den möglichen Bedingungen der überlieferung ein hinreichend klares Bild machen, um die faktischen Gegebenheiten richtig einordnen zu können. Unter allen Umständen ist dabei der fragmentarische Charakter der erhaltenen überlieferung, insbesondere der überlieferung aus vorösterlicher Zeit, ernst zu nehmen 15. Aus diesem Grunde müssen wir uns hüten, das greifbare Material allzu rasch als ein einheitliches Gefüge anzusehen. Eine relative Einheit wurde ihm erst in den redaktionellen Kompositionen der Evangelien gegeben. Ansonsten ist gerade die Vielgestaltigkeit und historische Tiefenschichtung zu berücksichtigen. Achtet man auf die Tiefenperspektive, dann ist die Person Jesu nicht nur der einmalige Ausgangspunkt, sondern auch der bleibende Mittelpunkt. Dabei ist neben der allmählich gewonnenen Breitendimension gerade 14 Hierzu vgl. H. Schürmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, in: ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen, 39-65. Er verweist vor allem auf die "soziologische Kontinuität" des Jüngerkreises und die Autorisierung der Jünger zur Verkündigung, weswegen zugleich eine "Bekenntniskontinuität" vorausgesetzt werden könne (5. 47f). 15 Der Selektionsvorgang wird in der Regel nicht eingehend berücksichtigt, immerhin gibt es Hinweise auf das Problem, so bei D. Flusser, Die konsequente Philologie und die Worte Jesu, in: Almanach auf das Jahr des Herrn 1963 (hrsg. von Fr. Wittig) (Harnburg 1963) 39-73, dort 70f ("selektiver Charakter" der überlieferung); Schille, Prolegomena, Sp. 483 ("Auswahlprozeß"); K. Niederwimmer, Jesus (Göttingen 1968) 23 ("Filtrierung").
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jene Tiefenschichtung besonders wichtig, sie setzt aber eine exakte überlieferungsgeschichtliche Differenzierung voraus, die ebenso mit Traditionsverlust wie mit Traditionsentfaltung rechnen muß. Bei den bisherigen überlegungen handelt es sich keineswegs um einen bloß negativen Befund. Die positive Funktion dieser methodologischen Erwägungen ist nicht zu unterschätzen. Denn sie steht in Zusammenhang mit der Erkenntnis, daß die seit Ostern zu beobachtende "Engführung" nicht ausschließlich mit der Entfaltung der christologischen Verkündigung zusammenhängt, was dann ja bekanntlich einen neuen, sehr fruchtbaren überlieferungsprozeß in Gang gebracht hat 16 . Sie zeigt sich vielmehr ebenso in der bewußten Konzentration auf bestimmte Hauptlinien der Verkündigung Jesu sowie auf Taten und Auseinandersetzungen, die für die Gemeinde von bleibender' Aktualität waren 17. Doch gerade diejenigen Elemente des echten Jesusgutes, die sich diesem Interesse nicht ohne weiteres einfügen und jetzt den Eindruck erwecken, ein wenig am Rande zu stehen, können uns Aufschluß über einige, unter Umständen s.ehr wichtige Sektoren des Wirkens Jesu geben, ohne daß hier mühelos zu einem abschließenden Urteil zu kommen wäre, denn der erforderliche Kontext ist eben nicht mehr oder nur noch bruchstückhaft vorhanden 18. 16 Die christologische "Engführung" zeigt sich am deutlichsten, wo eine von den Einzelüberlieferungen der Geschichte Jesu weitgehend unabhängige kerygmatische Tradition entfaltet worden ist, die sich vielfach nur auf Tod und Auferstehung sowie auf die Sendung bzw. Menschwerdung beruft. Dennoch darf man die beiden überlieferungszweige nicht prinzipiell unterscheiden, wie neuerdings wieder S. Schulz, Die neue Frage nach dem historischen Jesus, in: Neues Testament und Geschichte (Festschrift für O. Cullmann) (Zürich - Tübingen 1972) 33-42, dort 34ff. Mag die "Kerygma-Tradition" eine relativ große Selbständigkeit bewahrt haben, sie hat in jedem Fall sehr stark auf die "Leben-Jesu-Tradition" eingewirkt; vgL meine Bemerkungen in: Methodenprobleme einer Christologie des Neuen Testaments, VF 2 (1970) 3-41, dort 32ff. 17 Hierhin gehören vor allem die Ankündigung der Gottesherrschaft, die N achfolgeforderung, dieMahlgemeinschaften, die Auseinandersetzung mit Gegnern, die Wundertaten und die Passions- und Auferstehungsgeschichte. Insofern war die veränderte nachösterliche Situation gerade auch Ermöglichungsgrund für die übernahme und Weiterführung der Tradition. Außerdem zeigt sich hieran, daß es bei der Selektion nicht nur um ein allgemeines Phänomen der Traditionsweitergabe geht (so ein Einwand von R. Peseh), vielmehr unterliegt die Weitergabe der Jesusüberlieferung ganz bestimmten äußeren und inneren Bedingungen, die festgestellt und beachtet sein wollen. 18 Ich verweise nur auf Texte wie Lk 12,49f; Mt 11,12f (par); Mk 9,49f.
18
2. Prägung und Umprägung der Jesusüberlieferung
Es ist nicht nur von Interesse, was erhalten geblieben ist, sondern ebenso muß geprüft werden, wie die J esustradition aufbewahrt wurde. Wir stoßen damit auf die Probleme der Formgebung. Die eigentliche Tendenz der überlieferung war unbestritten die des Sammelns und Bewahrens, dabei tauchte allerdings auch die schon besprochene Notwendigkeit einer gewissen Auswahl und Abstoßung auf. Wo das Interesse des Bewahrens besteht, ergibt sich der Prozeß der Sammlung sozusagen von selbst. Bereits die überlieferung einzelner Worte und Taten Jesu steht unter dem Vorzeichen der Sammlung, wenn sie mit der Absicht geschieht, daß diese Worte oder Taten festgehalten und weitergegeben werden sollen. Bewußt setzt der Prozeß der Sammlung überall dort ein, wo überlieferungsgut miteinander verknüpft und zu Komplexen vereinigt wird 19. Der Bewahrung des Stoffes dient wie bei aller mündlichen Tradition die Formgebung. Sie schafft die Voraussetzungen für eine Weitergabe, die nicht der Willkür ausgesetzt ist. Sie gibt zugleich der Intention Ausdruck, die für die Weitergabe maßgebend ist, und läßt damit den konkreten "Sitz im Leben" erkennen 20. Formgebung ist nun aber keinesfalls ein erst nachträglicher Prozeß der Einschmelzung. Jeder Stoff verlangt eine adäquate äußere Gestalt, die von Anfang an maßgebend ist. So müssen J esusworte von vornherein eine bestimmte Form gehabt haben, die festgehalten und im wesentlichen unverändert weitergegeben werden konnte. Entsprechend haben Jesusgeschichten trotz stärkerer Abhängigkeit vom Medium des Erzählers eine grundlegende Formung erhalten, die für ihr Verständnis maßgebend ist. Der Prozeß der Formgebung hört jedoch nicht einfach auf, wenn der zu bewahrende Stoff einmal sein relativ festes Gepräge hat. Die Änderungen, die sich nachträglich ergeben, mögen minimal erscheiBei dem Spruchgut begann die bewußte Sammlung offensichtlich sehr viel früher als bei den Erzählungsstoffen. So zeigt sich bei Markus, daß das Spruch gut entweder in kleinen Gruppen vereinigt oder an Erzählungen angehängt ist (z. B. Mk 11,23-25; 2,21 f); umgekehrt sind Erzählungen teils einzeln, teils in Gruppen von ihm übernommen (z.B. Mk 1,40-44; 4,35 - 5,43). 20 Vgl. die grundlegenden Werke zur Formgeschichte, vor allem M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums (Tübingen [11919J 61971) Hf. 19
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nen, sie dürfen keinesfalls übersehen werden. Denn Bewahrung vollzieht sich eben so, daß das betreffende Gut angeeignet und in dieser angeeigneten Gestalt weitergegeben wird. Formgebung ist, solange die mündliche Tradition andauert, ein lebendiger Prozeß, bei dem die überliefernde Instanz mitgestaltend am Werke ist 21 . Das ist für uns am deutlichsten greifbar bei der bewußten Einbeziehung der Jesusüberlieferung in die christologische Verkündigung der Urgemeinde 22 , läßt sich aber auch auf anderen Ebenen noch gut erkennen. Bei der Rückfrage nach authentischer J esusüberlieferung müssen wir klären, wieweit dieser Prozeß der ursprünglichen und weitergegangenen Formgebung an bestimmten Indizien nachweisbar ist. Denn nur dann, wenn sich Elemente der nachjesuanischen Traditionsweitergabe eindeutig bestimmen lassen, ist noch ein Zugang zu Jesus selbst zu gewinnen. Wiederum können wir den Vorgang auf vier verschiedenen Stufen beobachten: a) Ein Blick in die Evangelien läßt erkennen, daß die jeweilige Gestalt der einzelnen überlieferungsstücke in formaler und sprachlicher Hinsicht Änderungen unterliegt, daher in einem nicht unerheblichen Maße von dem markinischen, mattäischen, lukanischen oder johanneischen "Stil" mitgeprägt ist 23 . Lassen wir die Frage beiseite, wieweit es sich dabei um die individuelle Eigenart des einzelnen Evangelisten handelt, bereits das übernommene Traditionsgut unterlag dem Einfluß einer bestimmten Darstellungsweise, wie am deutlichsten an der johanneischen überlieferung festzustellen ist. Wir müssen also damit rechnen, daß jedes überlieferungsstück einem erheblichen formalen Transformationsprozeß ausgesetzt war. b) Hinzu kommt, daß bei einer durch mehrere Jahrzehnte sich hinziehenden Sammlung eine gegenseitige formale Angleichung im Zusammenhang der Bildung von überlieferungskomplexen vorgenommen wurde. Das gilt nicht nur für die "Schematisierung" der Wundererzählungen, wobei die maßgebenden Gattungen Ausdruck In diesem Sinne hat R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen [11921 J 81970) damit begonnen, im Zusammenhang mit der Bestimmung der Formen auch die Wandlungen der Traditionen genauer zu untersuchen. 22 Vgl. H. Schürmann, Die Sprache des Christus, in: ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen, 83-108. 23 "Stil" meint hier nicht nur ein äußeres sprachliches Merkmal, sondern die ganze Art der Darstellung und Versprachlichung; vgl. Dibelius, Formgeschichte, 6f. 21
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einer leicht nachweisbaren überlieferungsintention sind. Auch bei der Logienüberlieferung sind Analogiebildungen festzustellen, die nicht notwendig ein Indiz für Ursprünglichkeit sein müssen, vielmehr kann es sich ebenfalls um Anzeichen einer späteren Assimilation und N eufassung handeln 24. Im Blick auf die formale Ausprägung sind jedenfalls neben dem der Bewahrung dienenden Gefüge gerade auch die Wandlungen zu beachten, die den Stoff einer zunehmenden, wenn auch sehr langsam und partiell sich durchsetzenden Vereinheitlichung innerhalb eines Traditionsstranges unterwarfen. c) In diesem Zusammenhang ist erneut an die übersetzung aus dem Aramäischen ins Griechische zu erinnern und an die Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben. Ohne Zweifel gab es im hellenistischen Judentum eine lange Tradition der übertragung hebräisch-aramäischer Sprechweise in die griechische Idiomatik. Aber gerade den vorhande- . nen Dokumenten des hellenistischen Judentums ist deutlich zu entnehmen, wie mühsam die Wiedergabe in vielen Fällen war und wie leicht sich die Gefahr einer ungewollten Hellenisierung ergab 25 . Wir besitzen keinerlei Texte, um die Jesustradition an irgendeiner aramäischen Vorlage zu kontrollieren. Wir haben lediglich die Möglichkeit, aufgrund bestimmter Indizien die vorhandenen Jesusworte auf ihren aramäischen Sprachgehalt hin zu überprüfen, wobei noch die umstrittene Frage zu berücksichtigen ist, welchen Dialekt Jesus gesprochen hat und aufgrund welcher Quellen dieser näher zu bestimmen ist 26 . Wir wissen, daß die Zahl der Logien, die sich mit einiger Sicherheit zurückübersetzen lassen, sehr gering ist, auch wenn sich Spuren aramäischer Sprachtradition relativ häufig erhalten haben. d) Schließlich ist zu berücksichtigen, daß sich beim übergang von der vorösterlichen zur nachösterlichen Zeit notwendigerweise eine andere überlieferungs art ergeben hat. Einmal vorausgesetzt, daß J esus nicht nur selbst an der formalen Prägung seiner Logien einen entscheidenden Anteil hatte, sondern daß es darüber hinaus auch erste Ansätze 24 Vgl. z. B. Mk 9, 43.45.47f mit Mt 5,29.30 (Sondergut), was vermuten läßt, daß Mk 9,45 eine zusätzliche Analogiebildung ist. Ahnliches läßt sich bei einem Vergleich von Lk 12,2f!/Mt 10,26f mit Mk 4,22 beobachten. 25 Das läßt sich an den verschiedenen übersetzungsschichten der Septuaginta ebenso aufzeigen wie an der Schriftauslegung Philos. 26 Zu diesem Problem vgl. j. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu (Göttingen 81970) 21 f; M. Black, Die Erforschung der Muttersprache Jesu, in: ThLZ 82 (1957) 653-668; H. P. Rüger, Das Problem der Sprache Jesu, in: ZNW 59 (1968) 113-122.
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zu einer Traditionsbildung im Jüngerkreis gegeben haben kann, unter allen Umständen erfolgte die Formgebung zu Lebzeiten Jesu unter dem unmittelbaren Einfluß seines eigenen Wirkens 27 , während die Sammlung und Weitergabe des Stoffes nach seinem Tod und seiner Auferweckung einen veränderten Bezugs- und Orientierungsrahmen hatte. Denn einerseits war es nun eine Tradition, die bewußt auf eine Gestalt von einst zurückgeführt wurde, andererseits aber war diese Tradition von dem Wissen um die Gegenwart und lebendige Wirksamkeit des auferstandenen Herrn getragen, ganz gleich, ob das expressis verbis zum Ausdruck gebracht wurde oder nicht 28 . Dieser Sachverhalt konnte nicht ohne Auswirkung auf die Formgebung bleiben und mußte zu nicht unwesentlichen Umprägungen führen. Darüber hinaus hat natürlich auch das eigentliche christologische Kerygma zunehmend auf die formale Gestaltung eingewirkt. Wir stehen somit vor der nicht immer genügend reflektierten Tatsache, daß wir die aus der Zeit nach Ostern stammende, im Zusammenhang der Gemeindebildungund Mission weitergegebene Jesusüberlieferung nicht mehr in ihrer Urgestalt besitzen. Vielmehr hat die nachösterliche Situation trotz der teilweise ursprünglichen Formgebung erhebliche Veränderungen verursacht. Trotz dieser Beobachtungen, die methodisch berücksichtigt sein wollen, muß umgekehrt aber auch gesagt werden, daß sich die Eigenart der Worte Jesu in vielen Fällen bis in die sprachliche und formale Gestalt hinein offensichtlich durchgehalten hat, daß die Gattung zahlreicher Logien durch Jesus bereits vorentschieden war und bei der nachösterlichen Formgebung nicht einfach fremdartige Modelle aufgegriffen und übergestülpt wurden, sondern bei aller Umschmelzung 27 Hierbei ist allerdings nicht daran zu denken, daß Jesus selbst die Jünger zum Zwecke der Traditionsbewahrung und Traditionsweitergabe in Entsprechung zu den Rabbinen unterwiesen habe; so H. Riesen/eid, The Gospel Tradition and its Beginnings (London 1957). Reiches Vergleichsmaterial aus rabbinischer Tradition bietet B. Gerhardsson, Memory and Manuscript (ASNU XXII) (Uppsala 1961); vgl. auch ders., Tradition and Transmission in Early Christianity (Coniect. Neotest. XX) (Lund - Kopenhagen 1964). Vgl. die in Anm. 14 genannte Arbeit Schürmanns; außerdem E. Trocme, Jesus de Nazareth vu par les temoins de sa vie (NeuchateI1971), bes. 31H. 28 Das gilt z. B. für die Logienquelle, die zwar auf Tod und Auferstehung Jesu nicht Bezug nimmt, wohl aber in Mt 11,27//Lk 10,22 ein eindeutiges christologisches Zentrum hat, das ohne sachlichen Zusammenhang mit J esu Auferweckung und seiner lebendigen Gegenwart nicht verständlich wäre; auch ist die Nähe zu der in Mt 28,18-20 verwendeten Tradition nicht zu verkennen.
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eine Angleichung an die genuine J esustradition vorgenommen worden ist; schließlich ist trotz des übersetzungsvorganges deutlich erkennbar, daß ehemals aramäische überlieferung im Hintergrund steht und uns noch Rückschlüsse erlaubt 29. Daher ist festzustellen, daß einerseits ganz altertümliche Elemente Aufnahme gefunden haben und daß andererseits in Einzelfällen der Abstand zur ursprünglichen J esustradition im Blick auf die Formgebung überraschend groß ist 30. Verständlich wird das aber nur, wenn der Gesamtprozeß der Traditionsbildung im Blick behalten wird, wenn also sowohl die Modifikation des überlieferungsgutes als auch das Festhaltenwollen und tatsächliche Festhalten an der grundlegenden Jesustradition gesehen wird. Methodisch muß gerade dieser Doppelaspekt beachtet, in seiner unbestreitbaren Spannung ernst genommen und bei der Analyse jedes Einzelelements der überlieferung kritisch in Ansatz gebracht werden. Dann zeigt es sich allerdings, wie schwierig es an vielen Stellen sein wird, über die ursprüngliche Gestalt eines Herrenwortes etwas Abschließendes auszusagen, auch wenn die inhaltlichen Komponenten weithin klar sind. Je vorsichtiger wir hier urteilen, je sorgfältiger wir relativ sichere, weniger sichere und nur noch zu vermutende Ergebnisse unterscheiden, um so hilfreicher ist das für die ganze Arbeit, und letztlich erreichen wir damit für die Erhebung des genuinen Jesusgutes nicht weniger, sondern mehr.
3. Neuinterpretation der Jesusüberlieferung
Die Frage nach Prägung und Umprägung der überlieferungs gestalt hat uns wegen der engen Zusammengehörigkeit formaler und sachlicher Gegebenheiten bereits zu der sich gleichzeitig vollziehenden Um- und Neuinterpretation geführt. Natürlich ist eine solche Interpretation nicht als überfremdung, sondern als eine Vertiefung angesehen worden, will daher auch von uns unter diesem Aspekt erfaßt werden. 29 V gl. etwa den Versuch einer Rückübersetzung des Vaterunsers bei Jeremias, TheologieI,188ff. 30 Um ein auffälliges Beispiel zu nennen, sei Mt 17,24-29 erwähnt (Tempelsteuer). Von den Logien darf man an den dem Vollmachtswort Mt 11, 25-27/ /Lk 10, 21f angehängten "Heilandsruf" Mt 11, 28-30 erinnern, zu dem es typische Parallelen in der jüdischen Weisheit gibt; vgl. H. D. Betz, The Logion of the Easy Yoke and of Rest (Matt 11, 28-30), in: JBL 86 (1967) 10-24.
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Gleichwohl handelt es sich bei dem beabsichtigten Rückgang auf den vorösterlichen Jesus um ein Hindernis, das sich nicht kurzerhand aus dem Wege räumen läßt. Diesem zweifellos schwierigsten und wichtigsten Problem der Neuinterpretation müssen wir uns jetzt eigens zuwenden und wollen es wiederum in mehreren Schritten tun, wobei diesmal allerdings der übergang vom aramäischen zum griechischen Traditionsbereich unbeachtet bleiben kann. a) Wir brauchen wiederum nur die Evangelientexte miteinander zu vergleichen, um rasch zu sehen, daß Traditionsgut nicht nur weitergegeben, sondern in eine Gesamtkonzeption eingeordnet worden ist, deren interpretatorische Funktion keineswegs unterschätzt werden darf. Es wäre auch unzureichend, die redaktionellen Elemente ausschließlich auf den äußeren Rahmen und auf Zusätze zu beschränken; wir wissen viel zu gut, daß diese Interpretation den Stoff selbst erheblich beeinflußt und verändert hat 31 . b) Was für die uns vorliegenden Evangelien gilt, gilt ebenso für das mündliche überlieferungsgut. Hier hat sich der Interpretationsprozeß aber in einer längeren Phase vollzogen, zugleich auch immer stärker verdichtet. Logien und Erzählungen sind nicht nur einmal einer Neuinterpretation unterzogen worden, selbst wenn sich dies jeweils nur in ganz geringfügigen inhaltlichen Modifikationen niedergeschlagen haben mag 32 • Die ursprüngliche Bedeutung braucht deshalb auch nicht verlorengegangen zu sein, sie ist jedoch andererseits auch nicht ohne weiteres aus dem jetzigen Wortlaut zu erheben. Ein Problem besonderer Art muß an dieser Stelle ebenfalls berücksichtigt werden: Wir haben nicht nur das Phänomen der zum Zwecke der Neuinterpretation bearbeiteten Tradition, wir haben auch den Tatbestand der Neubildung. Lassen wir in unserem Zusammenhang die Frage beiseite, wie diese Neubildungen entstehen konnten 33 , wichtiger ist jetzt, daß die sogeIn dieser Hinsicht hat die Erforschung der Evangelienredaktion wesentliche Erkenntnisse erbracht, auch wenn der redaktions geschichtliche Ansatz bisweilen erheblich überspitzt worden ist, so daß die Eigenart des Traditionsgutes nicht mehr hinreichend gesehen wurde. Vgl. den Forschungsbericht von J.Rohde, Die redaktionsgeschichtliche Methode (Hamburg 1966). 32 Vgl. etwa Mk2, 21 f im Zusammenhang mit 2,18-20, dazu meinen Aufsatz: Die Bildworte vom neuenFlicken und vom jungen Wein, in: EvTh 31 (1971) 357-375, bes. 369ff. 33 Abgesehen von redaktionellen Neubildungen, die im Zusammenhang mit den Leitgedanken der Evangelien stehen, und von Zusätzen, die sich aus der Sammlung und Rahmung des überlieferungs gutes erklären, handelt es sich hierbei vor allem um Logien, 31
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nannten "Gemeindebildungen" nicht von vornherein von authentischen Logien zu unterscheiden sind, weil sie unterschiedslos als Herrenworte weitergegeben worden sind. Gerade deswegen erschweren sie aber den Zugang zur vorösterlichen Verkündigung Jesu in beträchtlichem Maße. Es braucht ja bloß an die harten Auseinandersetzungen zwischen den Exegeten erinnert zu werden, ob ein bestimmtes überlieferungs stück, etwa Mt 16, 18f, auf Jesus zurückgeht oder nicht, um deutlich werden zu lassen, daß es sich keineswegs nur um Einzelheiten handelt, die zum Grundbestand seiner Verkündigung hinzugehören oder auch fehlen können. Es stellt sich hierbei sehr schnell die Frage, wo überhaupt Neubildung einsetzt, an welchen Stellen also sachlich etwas hinzukommt, was in der ursprünglichen Botschaft Jesu fehlte 34. Mag insgesamt die Zahl der gänzlichen Neubildungen nicht übermäßig groß sein, so daß wir vor allem auf das Phänomen derzum Teil allerdings sehr tiefgreifenden - Umbildungen stoßen, es kann nicht bestritten werden, daß unter allen Umständen mit einem derartigen Prozeß der Neufassung zu rechnen ist und daß dadurch die Jesusüberlieferung in einer für uns nicht überall von vornherein durchschaubaren Weise interpretatorisch überlagert ist. c) Der entscheidende Punkt dieses Prozesses, der sowohl die späten redaktionellen Umformungen als auch die in der mündlichen Tradition sich vollziehenden Neuinterpretationen durch Umgestaltung, Zusätze oder Neubildungen überhaupt ermöglicht hat, betrifft den tiefgreifenden übergang von der vorösterlichen zur nachösterlichen Tradition, den Franz Mußner den "kerygmatischen T ransformationsprozeß" genannt hat 35 . Dabei steht jetzt nicht zur Debatte, ob sich dieser kerygmatische Transformationsprozeß mit einem Schlag vollzogen hat oder, was sehr viel wahrscheinlicher ist, erst schrittweise wirksam wurde, sich daher auch in den einzelnen überlieferungszweigen mit unterdie aus inhalrlichen Gründen mit Jesu Verkündigung schwer zu vereinigen sind, insbesondere dann, wenn sie eine ausgeprägte christologische Konzeption voraussetzen oder sonst die nachösterliche Situation deutlich widerspiegeln. Für diese Neubildungen hat man häufig auf die urchristlichen Propheten, die im Namen des erhöhten Herrn gesprochen haben, Bezug genommen, doch ist dies neuerdings wieder umstritten, zumindest nicht ausdiskutiert. Zum Problem vgl. F. Neugebauer, Geistsprüche und Jesuslogien, in: ZNW 53 (1962) 218-228. 34 Ich verweise auf meinen Aufsatz: Die Petrusverheißung Mt 16, 18f. Eine exegetische Skizze, in: Materialdienst des konfessionskundlichen Instituts Bensheim 21 (1970) 8-13. 35 F. M ußner, Die johanneische Sehweise (QuDisp 28) (Freiburg i. Br. 1965) 80.
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schiedlicher Intensität abzeichnet. Unbestreitbar ist, daß er sich aufgrund der Glaubenserkenntnis vollzog, die durch das Ostergeschehen inauguriert war. In dieser Hinsicht haben die Evangelien jedoch schon eine beachtliche Reflexionsstufe erreicht, sofern sie im Gegensatz zur älteren Tradition, die keinerlei Unterschiede zwischen der vorösterlichen und nachösterlichen Situation gemacht hat, wenigstens an einigen Stellen betont davon sprechen, daß mit der Auferstehung Jesu eine andere und tiefere Erkenntnis gewonnen werden konnte, als sie die Jünger vorher hatten 36. Aber das hebt nun umgekehrt den Tatbestand nicht auf, daß die vorösterliche Geschichte Jesu im Neuen Testament fast durchweg nur im Lichte des Osterereignisses gesehen und dargestellt wird. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Evangelien nicht von der älteren Tradition. Genau da liegt aber unsere Schwierigkeit: wir besitzen die vorösterliche Tradition allein im nach österlichen Verstehenshorizont. Das ist, vordergründig geurteilt, eine erhebliche Fehlerquelle. Das ist nach wie vor eine Schranke, die uns bei der Rückfrage nach J esus zunächst einmal den Weg versperrt. Die gesamte vorösterliche Tradition ist übernommen, weitergeführt, aber auch verstanden worden im Licht der Auferweckung Jesu und des damit gesetzten Neubeginns 37 . Das bedeutet also, daß die Jesusüberlieferung, soweit sie uns erhalten geblieben ist, nicht nur in ihrem Bestand, nicht nur in ihrer Gestalt, sondern auch in ihrer Deutung den Bedingungen der nachösterlichen Verkündigung der Urgemeinde unterliegt. Diesen Tatbestand, der durch die Quellen gegeben ist, müssen wir daher vor aller Erörterung der Möglichkeit und der theologischen Relevanz einer Rückfrage nach dem vorösterlichen Jesus bei unserer Arbeit berücksichtigen.
4. Konsequenzen für die historische Fragestellung und für das Echtheitsproblem
Ich habe in den vorangegangenen Unterabschnitten mit Absicht versucht, anhand der Selektion, der Formgebung und der Neuinterpretation eine Beschreibung der komplizierten Ausgangssituation bei der 36 37
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Vgl. Mk 9, 9ff par, vor allem Joh 2, 22; 12,16 und die johanneischen Abschiedsreden. Näheres dazu in Teil III.
Frage nach dem vorösterlichen J esus zu geben, ohne dabei im einzelnen auf die methodischen Arbeitsgänge bei der Analyse der Evangelien näher einzugehen. Natürlich konnte diese Beschreibung nur gegeben werden, weil bereits relativ brauchbare Ergebnisse der Form- und Traditionsgeschichte, der Literarkritik und Redaktionsgeschichte, der Zeit- und Religionsgeschichte vorliegen. Gleichzeitig darf angesichts der mancherlei Streitfragen der letzten Jahre nicht übersehen werden, daß die verschiedenen Arbeitsgänge in ihrer Aufgabenstellung, Leistungsfähigkeit und Abgrenzung noch einmal überprüft und sorgsam aufeinander abgestimmt werden müssen 38. Die exakte Differenzierung sowie die gegenseitige Ergänzung und Verschränkung spielen im Einzelfalle bei der Exegese eine erhebliche Rolle. Hinzu kommt nun aber, daß die historische Frage nach dem vorösterlichen Jesus eine gegenüber all diesen exegetischen Schritten selbständige ist. Sie baut zweifellos auf den dort gewonnenen Ergebnissen auf und kann schlechterdings nicht auf derartige Analysen verzichten. Aber sie ist ein methodisch eigenständiges Verfahren, das in seiner Besonderheit klar erkannt sein wi1l 39 . Denn hier geht es um die Aufgabe einer historischen Rekonstruktion, für die Kriterien erarbeitet werden müssen, damit in dem bewußt zu vollziehenden "Schritt zurück" hinter das überlieferungsgefüge der Tradenten - von den ersten Jüngern in vorösterlicher Zeit angefangen - die Gestalt J esu in ihrer ursprünglichen Situation, Erscheinungsweise und Eigenart sichtbar wird. Die Eigenständigkeit der historischen Fragestellung hat erhebliche Bedeutung für das vielerörterte "Echtheitsproblem ". Sofern die J esusüberlieferung in ihrem Bestand, in ihrer Gestalt und ihrer Deutung, wie wir gesehen haben, den Bedingungen der nachösterlichen Gemeindetradition unterliegt, ist in gewissem Sinne durchaus von der Vgl. die zum Teil allerdings unberechtigte Kritik von E. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums (BEvTh 54) (München 1970); W. Richter, Exegese als Literaturwissenschaft (Göttingen 1971). 39 Das hat schon M. Dibelius, Zur Formgeschichte der Evangelien, in: ThR NF 1 (1929) 185-216, klar betont; vgl. S. 214: "Damit stehen wir an der Grenze der Sachkritik. Denn natürlich hat die form geschichtliche Arbeit in der Frage der Geschichtlichkeit nicht das letzte Wort; sie hat nur die Aufgabe, für die letzten sachkritischen Erwägungen methodisch, sachgemäß und möglichst ohne Hilfe subjektiver Schätzungen den Grund zu legen." Denn hiermit ist ein "Feld betreten, das außerhalb der formgeschichtlichen Arbeit liegt". 38
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"Unechtheit" der Jesusüberlieferung auszugehen. Aber hier müssen sofort Gegenargumente ins Spiel gebracht werden. Wir können ja noch sehr gutfeststellen, daß trotz der österlichen Erkenntnis und des damit verbundenen Transformationsprozesses an Jesu eigenem Wort und seiner Geschichte festgehalten wurde 40. Das gilt grundsätzlich, da man ja selbst Neubildungen mit Jesu eigenem Wort identifizierte, das gilt ebenso im Blick auf den Traditionsbestand, sofern hier das ursprüngliche Jesusgut den Kristallisationskern darstellt. Die Jünger haben Jesu eigene Botschaft weiterverkündigt, weiterverkündigt im doppelten Sinne, indem sie Jesu Wort und Handeln bewahrten und indem sie Wort und Wirken deuteten. Ohne die Grundlage der ipsissima verba und der ipsissima facta wäre das undenkbar gewesen 41 . Insofern ist die "Echtheit" ein unaufgebbares Postulat und muß in jedem Einzelfall konkret nachgeprüft werden. Allerdings dürfen wir in unserer exegetischen Arbeit diesen Sachverhalt nicht zu rasch ansteuern, wir müssen uns der Schwierigkeiten, die mit dem Rückgang auf den vorösterlichen Jesus verbunden sind, stets bewußt sein. Dennoch ist die Alternative, ob die Echtheit oder die Unechtheit zu beweisen sei, unzutreffend 42. Einmal abgesehen davon, daß mit der historischen Echtheit bzw. Unechtheit noch nichts über die sachliche Relevanz ausgesagt ist, unter allen Umständen ist Art und Ausmaß der Unechtheit, also der nachösterlichen Transformation, nachzuweisen, wie umgekehrt der inhaltliche Bezug zur Verkündigung J esu und die damit gegebene Echtheitskomponente aufzuzeigen ist. M. a. W.: Es ist die Relation zwischen nachösterlichen und vorösterlichen Elementen in den einzelnen überlieferungs stücken zu prüfen und exakt zu bestimmen. Zwar muß ich 40 Eine Ausnahme stellt nur die usuelle Paränese dar, wo Jesusworte ohne Angabe der Herkunft tradiert werden; so z. B. Röm 12,14; Jak 5,12. 41 Der Begriff der ipsissima facta hat Zu einer Auseinandersetzung geführt zwischen F. Mußner, Die Wunder Jesu (München 1967) 33ff; R. Pesch, Jesu ureigene Taten? (QuDisp 52) (Frei burg i.Br. 1970), bes. 15ff 135ff; F. Mußner, lpsissima facta Jesu?, in: ThRev 68 (1972) Sp. 177-184; R. Pesch, Zur theologischen Bedeutung der "Machttaten" Jesu, in:ThQ 152 (1972) 203-213. Ohne im einzelnen auf die Diskussion einzugehen, kann gesagt werden, daß der Begriff ipsissima facta brauchbar ist, wenn an dem Unterschied zwischen einer vorösterlichen Tat Jesu und der Berichterstattung darüber festgehalten wird (vgl. Mußner, in: ThRev Sp. 181 mit Anm. 8). 42 Daß die Echtheit bewiesen werden müsse, wird nach vielen anderen neuerdings wieder von N. Perrin, Was lehrte Jesus wirklich? (Göttingen 1972) 32, gefordert. Umgekehrt verlangt Jeremias, Theologie I, 45: "Bei der synoptischen überlieferung der Worte J esu muß nicht die Echtheit, sondern die Unechtheit bewiesen werden."
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von der Tatsache ausgehen, daß es sich um Tradition der Urgemeinde handelt, aber da die überlieferung als Jesusüberlieferung weitergegeben worden ist, muß ich den Echtheits- und den Unechtheitsnachweis gleichzeitig antreten, weil ich nur so die Eigenart dieses Traditionsgutes scharf in den Blick fassen kann.
5. Ergebnisse Zum Abschluß dieses ersten Teiles sind VIer methodisch relevante Beobachtungen festzuhalten: a) Erst wenn die Vielzahl der Bedingungen berücksichtigt ist, denen die Jesustradition in nachösterlicher Zeit unterlag, besteht eine begründete Aussicht, zu einem überlieferungskomplex vorzudringen, der einen einigermaßen zuverlässigen Rückschluß auf Verkündigung, Wirken und Person des vorösterlichen Jesus erlaubt. In diesem Sinne ist die Suche nach einem "ältesten Bestand" berechtigt, ohne daß dieser sofort mit der authentischen Jesusüberlieferung identifiziert werden darf 43 . b) Bei der Bestimmung dieses ältesten Bestandes ist die gängige Alternative "echtes Herrenwort" oder "Gemeindebildung" unzureichend. Es handelt sich dabei lediglich um die Extremwerte einer Skala, deren differenzierte Bestimmung unsere dringendste Aufgabe ist. Dabei werden wir es nur in seltenen Fällen mit einem in der erhaltenen Form bis ins letzte "echten Herrenwort" zu tun haben. Selbst wenn wir modifizierende Einzelheiten relativ leicht abheben können, bleibt uns der Weg zur ursprünglich aramäischen Sprachgestalt fast völlig versperrt. Immerhin ist partiell damit zu rechnen, daß Herrenworte fast unverändert weitergegeben worden sind. Entsprechend sind reine Neubildungen eine Ausnahme, weil die zusätzliche Gemeindetradition meist mit anderem überlieferungsgut in engem Zusammenhang steht und dieses erweitert. Gleichwohl sind Neubildungen in die Tradition aufgenommen worden. In der Mehrzahl der Fälle stoßen wir auf "Mischbildungen", bei denen ursprüngliche Herrenworte durch 43 Dieser älteste Bestand kann nur dazu dienen, die in jedem Falle jüngeren Elemente abzuheben, auch wenn sich darin noch etwas für Jesus Typisches spiegeln sollte. Es handelt sich also um die Erhebung des Materials, das für einen Rückgang auf den vorösterlichen Jesus in erster Linie in Frage kommt.
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einen Rahmen modifiziert, durch Zusätze erweitert oder durch Umgestaltung weniger oder mehr beeinflußt sind. c) Es wird uns in der Regel nicht gelingen, durch vorsichtiges Abheben späterer überlagerungen den Grundbestand herauszuarbeiten, um wie in der Archäologie das verschüttete alte Gut zu retten. Es wäre ein Irrtum, würde man meinen, rein subtraktiv zu dem vorösterlichen Jesus durchstoßen zu können 44 • Deshalb kann auch, wie gezeigt, die Frage nach historischer Echtheit bzw. Unechtheit nicht in einem alternativen, sondern nur in einem relationalen Sinne gestellt werden. Es ist eben normalerweise nicht mit überlagerungen, obwohl es das auch gibt, sondern mit Transformationen zu rechnen, Transformationen, die sich nicht kurzerhand rückgängig machen lassen. Das schließt aber nicht aus, daß bei solchen Transformationen, vor allem wenn man in ausreichender Breite Vergleiche durchführt, bestimmte Komponenten und Tendenzen erkennbar werden, die das " Woher" und das " Wohin" derartiger Abwandlungen deutlich werden lassen. Daraus gewinne ich die Möglichkeit, Rückschlüsse auf die solchen Transformationen vorangehende Ausgangsbasis zu ziehen. Ich muß also den weiteren traditionsgeschichtlichen Prozeß genauer überprüfen, um mögliche Voraussetzungen in Jesu vorösterlichem Wirken feststellen zu können 45 . Dies wird mit Recht von ehr. Burchard, Art. Jesus, in: Der Kleine Pauly II (5tuttgart 1967) 5p. 1344-54, dort 1345f, hervorgehoben: Quelle für den vorösterlichen Jesus wird die Jesustradition durch eine "nicht mehr subtraktiv zu leistende Reduktion" auf das Ursprüngliche. Schille, Prolegomena, 5p. 486: "Unser Material ist für die Abschälmethode ungeeignet. Es ist Kerygma, aber nicht verkapselte ipsissima vox et actio Jesu." 45 Perrin, Was lehrte Jesus, 25, fordert etwas zu einseitig, daß uns "nur die früheste und ursprünglichste Form eines Wortes" interessieren dürfe. W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen Jesus, Paulus, Johannes (NTD Ergänzungsreihe 3) (Göttingen 1969) 24: Es ist unerläßlich, nach dem ältesten Gut zurückzufragen; außerdem muß aber die weitere Entwicklung als ständige Kontrolle über die Richtigkeit einer Ausscheidung des ältesten Uberlieferungsbestandes in Ansatz gebracht werden. Wichtig ist vor allem der Aufsatz von N. A. Dahl, Der historische Jesus als geschichtswissenschaftliches und theologisches Problem, in: KD 1 (1955) 104-132: Die Frage, wieweit es überhaupt möglich ist, "eine wissenschaftlich begründete und haltbare Darstellung des Lebens Jesu zu geben" (5. 105), ist seiner Auffassung nach nur lösbar, wenn die kritische Evangelienforschung sich zum Ziel setzt, "die Geschichte der Jesus-Tradition innerhalb der Kirche klarzulegen" (5. 116). Eine exakte Trennung zwischen echten Worten Jesu und Gemeindebildungen läßt sich überhaupt nicht erreichen, wohl aber ist durch "Querschnitte", die das für Jesus Bezeichnende hervortreten lassen, ein "kritisch gesichertes Minimum" zu gewinnen, wie umgekehrt durch gleichzeitige "Längsschnitte, die vom Judentum über Jesus zum Urchristentum führen", ein "Maximum" herausgestellt werden muß, das in seiner Gesamtheit als "Reflex des Wirkens Jesu" angesehen werden kann (5. 117119f). In ähnlicher Weise fordert H. Riesen44
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d) Erst dieser Rückschluß aus der fixierten Tradition ermöglicht ein lebendiges Bild von J esu Wirken und Person. Erst auf diese Weise gelingt es, daß wir, mit Anton Vögtle gesprochen, Aussagen über den "Richtungs sinn" des Wirkens Jesu machen können 46. Dabei wird der Unterschied zu den nachösterlichen überlieferungstendenzen deutlich hervortreten, zugleich aber eine fundamentale übereinstimmung; denn ohne diese übereinstimmung wäre es niemals zur Ausbildung einer urchristlichen Jesustradition gekommen. So wird es dann auch möglich sein, die noch erkennbaren Einzelheiten aus dem Leben Jesu zutreffend einzuordnen. Das bedeutet, daß wir bei der Rückfrage nach Jesus in verstärktem Maße von dem indirekten Verfahren Gebrauch machen müssen. Wilhelm Thüsing hat in diesem Zusammenhang gefordert, daß wir nach der "ipsissima intentio Jesu" fragen 47 , jener intentio, die sein eigenes Wirken bestimmt, die sich aber auch in der Tradition trotz aller Neuinterpretation durchgehalten hat. Diese Kennzeichnung des Fragehorizonts halte ich aufgrund der Eigenart der uns überkommenen J esusüberlieferung für zutreffend 48. feld, Bemerkungen zur Frage des Selbstbewußtseins Jesu, in: Der historische Jesus und der kerygmatische Christus (hrsg. von H. Ristow - K. Matthiae) (Berlin 1960) 331-341, dort S. 339, eine "stereoskopische Betrachtung" der vorhandenen Quellen anstelle einer bloßen Reduktionsmethode. 46 A. Vögtle, Jesus von Nazareth, in: Okumenische Kirchengeschichte (hrsg. von R. Kottje - B. Möller) I, (Mainz - München 1970) 3-24, dort 23. 47 W. Thüsing, Neutestamentliche Zugangswege zu einer transzendental-dialogischen Christologie, in: K. Rahner - W. Thüsing, Christologie - systematisch und exegetisch (QuDisp 55) (Freiburg i.Br. 1972) 79-305, dort 182ff. Auch er wehrt sich gegen das Subtraktionsverfahren und verlangt bei der Rückfrage nach J esus eine Methodenkombination; es gehe darum, "das in einer letztlich unverwechselbaren Weise strukturierte Funktions- und Relationsfeld" zu erkennen, in dem Jesus innerhalb der überlieferung gesehen wird. Dabei will er nach der ipsissima intentio J esu fragen, weil dieser Begriff eindeutiger und umfassender sei als der der ipsissima vox. 48 Das bedeutet, daß wir nach der "historischen Echtheit" nicht nur im formalen Sinne fragen dürfen. Zwar können wir nicht einfach auf die "sachliche Echtheit" ausweichen, weil dabei die urchristliche Jesustradition insgesamt berücksichtigt werden müßte, wohl aber ist mit Hilfe historischer Indizien ein Rückgang anzustreben, der sich nicht ausschließlich beschränkt auf die im wesentlichen authentischen Logien und Gleichnisse und die einigermaßen sicher greifbaren Tatbestände des Lebens Jesu. Es bedarf also einer Bestimmung der "historischen Echtheit", die von den wesentlichen Sachbezügen ausgeht.
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H. MöGLICHKEITEN DER RüCKFRAGE
Wir haben uns mit den Schwierigkeiten der Rückfrage nach Jesus befaßt und wollen nun in einem zweiten Teil den Möglichkeiten genauer nachgehen, die für eine Rekonstruktion des vorösterlichen Wirkens Jesu bestehen. Die Frage nach der theologischen Berechtigung eines solchen Vorgehens stellen wir dabei noch bewußt zurück, es geht weiter um die historische Aufgabenstellung.
1. Zu den Kriterien Meine Aufgabe ist es nicht, auf die Kriterien im einzelnen einzugehen, mit deren Hilfe eine Rekonstruktion vorgenommen werden kann. Wohl aber scheint es mir unerläßlich zu sein, im Vorgriff auf den nächsten Beitrag schon ein Grundproblem mit in die überlegungen einzubeziehen. Denn wenn wir nach den bisherigen Ergebnissen die methodologischen Probleme weiterbedenken wollen, kommen wir um die Frage der Kriterien nicht herum. Gerade sie erlauben uns, Einzelerkenntnisse zu gewinnen und diese in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, auch wenn bei dem Versuch einer Rekonstruktion, wie wir gleich sehen werden, noch andere Wege eingeschlagen werden müssen. Von den Kriterien wird in jüngster Zeit häufig gesprochen 49 . Aber bis zum heutigen Tag ist überraschenderweise eine umfassende Aufarbeitung der anwendbaren Kriterien nicht erreicht. Weder sind die möglichen Kriterien hinreichend gesammelt und geordnet, noch ist die Diskussion über ihre Tragfähigkeit schon hinlänglich geführt 50. Eine Kriteriologie ist im Zusammenhang der Rückfrage nach J esus nach wie vor ein Desiderat. 49 Eine übersicht bieten W. G. Kümmel, Jesusforschung seit 1950, in: ThR NF 31 (1965/66) 15-46, dort 42ff; G. Theißen-Ph. Vielhauer, Ergänzungsheft zu Bultmanns Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen 41971) 10ff; vor allem M. Lehmann, Synoptische Quellenanalyse und die Frage nach dem historischen Jesus (BZNW 38) (Berlin 1970) 163 ff. 50 Bezeichnend dafür ist die scharfe Auseinandersetzung mit der Anwendung bestimmter Kriterien bei R. S. Barbour, Traditio-Historical Criticism of the Gospels. Some Comments on Current Methods (London 1972); vgl. auch Downing, Church, 93ff.
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Wo man sich um eine solche Kriteriologie bemüht, sollte m. E. eine begriffliche Differenzierung eingeführt werden, die übersicht und Anwendung erleichtert. Denn dort, wo in der gege~wärtigen exegetischen Debatte von "Kriterien" gesprochen wird, geht es in vielen Fällen lediglich um allgemeine Prinzipien, die eine Rückfrage nach Jesus überhaupt ermöglichen, nicht aber um konkrete Einzelkriterien, die eine Entscheidung im Blick auf spezielles überlieferungsgut zulassen. Zwischen den allgemeinen Prinzipien und den eigentlichen Kriterien müßte aber sorgfältig unterschieden werden. Um das Gesagte zu verdeutlichen: Wenn N orman Perrin als Kriterien die drei Gesichtspunkte der Unähnlichkeit, der Kohärenz und der vielfachen Bezeugung aufführt 5 1, dann sind das zwar wichtige Prinzipien, die uns erstmals an das authentische Jesusgut heranführen können. Aber es handelt sich eben nicht um Kriterien im strengen Sinne. Zweifellos haben sich diese Prinzipien faktisch mehr und mehr durchgesetzt 52, aber daneben wird mit Recht auch von Kriterien ganz anderer Art gesprochen 53. Im einzelnen sei zu den allgemeinen Prinzipien und den Einzelkriterien kurz folgendes gesagt: a) Statt vom Prinzip der" Unähnlichkeit" wird bisweilen auch vom "kritischen Aussonderungsprinzip" gesprochen, wobei es sich nach der Faustregel Ernst Käsemanns darum handelt, daß wir einigermaßen sicheren Boden nur dort unter den Füßen haben, wo eine Tradition weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann 54. Dieses Prinzip kann natürlich nur dazu die51 Perrin, Was lehrte Jesus, 32ff. 52 Vgl. H. K. M cArthur, Basic Issues. A Survey of Recent Gospel Research, in: In Search of the Historical Jesus (ed. H. K. McArthur) (London 1970) 139-144; D. G. A. Calvert, An Examination of the Criteria for Distinguishing the Authentie Words of Jesus, in: NTSt 18 (1971/72) 209-219. Im Vorfeld der Diskussion bleibt F. C. Grant, The Authenticity of Jesus' Sayings, in: Neutestamentliche Studien für R. Bultmann (BZNW 21) (Berlin 1954) 137-143. VgI. auch F. Mußner, Der historische Jesus und der Christus des Glaubens, in: ders., Praesentia Salutis (Ges. Aufs.) (Düsseldorf 1967) 42-66, dort 44ff. 53 Dazu Abschnitt d. Vgl. auch Lehmann, Quellenanalyse, 189ff. 54 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (1953), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I (41965) 187-214, dort 205: "Einigermaßen sicheren Boden haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat." Ähnlich H. Conzelmann, Art. Jesus Christus, in: RGG3 III (Tübingen 1959) Sp. 619-653, dort 623: "Für die Rekon-
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nen, einen gewissen "Kernbestand" als Ausgangsbasis zu bestimmen, aber es versagt dort, wo unleugbare Zusammenhänge Jesu mit jüdischer Tradition vorliegen, oder umgekehrt dort, wo die Urgemeinde sich sehr eng an Jesu eigene Redeweise angelehnt hat, was durchaus auch zentrale Aussagen betreffen kann 55. Ist man sich über diese bedingte Tragweite im klaren, kann dieses Prinzip durchaus zu einem gewissen Leitfossil werden. b) Etwas anders steht es mit dem Prinzip der "Kohärenz". Neuerdings wird statt dessen auch von der "Gegenkontrolle" gesprochen, obwohl sich beides nicht völlig deckt. Es geht darum, daß Konsequenzen aus dem Vergleich von höchstwahrscheinlich echten oder höchstwahrscheinlich unechten Einzelüberlieferungen auf andere, verwandte überlieferungen gezogen werden 56. Derartige Konsequenzen sind nur dann erlaubt, wenn das jeweils als zusammengehörig angesehene Material ein relativ geschlossenes Bild abgibt, wobei aber wiederum beachtet sein will, daß auch überlieferungsgut, das nicht ohne weiteres "paßt", der ursprünglichen Jesusüberlieferung sehr nahestehen oder zugehören kann 57. Erweitert man die Frage nach der Kohärenz sowohl der eruierten Jesusüberlieferung als auch der verschiedenen Schichten urchristlicher Tradition durch das Prinzip, daß durch deren Gegenüberstellung auch eine "Gegenkontrolle" erzielt werden kann, so ist zu berücksichtigen, daß sich hierbei sehr leicht ein Fehlschluß ergibt, sofern von probeweise vorgenommenen Zuordnungen Urteile abgeleitet werden, die dem Material überhaupt nicht mehr gerecht werden 58. struktion der Lehre gilt der methodische Grundsatz: als echt ist anzusehen, was sich weder in das jüdische Denken einfügt noch in die Anschauungen der späteren Gemeinde." 55 Mit Recht warnt Burchard, ]esus, Sp.1346, davor, daß lediglich ein "minimalistisches bloßes Differentialbild " übrigbleibt. Zu den Schwierigkeiten bei der Anwendung vgl. Lehmann, Quellenanalyse, 178 ff. 56 Vgl. Perrin, Was lehrte Jesus, 37ff. 57 In diesem Zusammenhang wird auch das Argument gebraucht, es gäbe etwas "für Jesus Bezeichnendes" bzw. eine "Typik seines Vorgehens"; so Dahl, Der historische Jesus, 117; Burchard, ]esus, Sp.1346; A.Polag, Historische Bemerkungen zum Leben Jesu, in: Lebendiges Zeugnis 3/1971, 33-46, dort 34. Mußner, Praesentia Salutis, 45, spricht von dem bestimmten, einmaligen "Charakter", der keine Erfindung sein könne. Das alles ist berechtigt, muß aber mit Vorsicht gehandhabt werden, da es sonst bei der Aussonderung von authentischen überlieferungs elementen leicht zu Fehlurteilen führt. 58 Wir kommen darauf bei der Erörterung der Notwendigkeit eines "Gesamtbildes" nochmals zurück; vgl. Teil 11/2.
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c) Noch einmal anders steht es mit dem Prinzip der "vielfachen Bezeugung"59. Es mag den Rückschluß erleichtern, wenn Traditionselemente, die dem authentischen Jesusgut nahestehen, mehrfach überliefert sind und unter Umständen in verschiedenem Kontext eine erstaunliche Konstanz in formaler und inhaltlicher Hinsicht erkennen lassen oder bei Abweichungen einen relativ guten Schluß auf die ursprüngliche Form zulassen; aber die Entscheidung, ob es sich um ursprüngliche Jesusüberlieferung handelt, darf keinesfalls von der Häufigkeit des Vorkommens abhängig gemacht werden, sonst müßten wir auf sehr wesentliche Texte für die Rekonstruktion des vorösterlichen Wirkens Jesu verzichten 60. Dem zuletzt genannten Prinzip kommt daher allenfalls eine sekundäre, bestätigende Funktion zu. d) Ganz anders steht es mit den konkreten Einzelkriterien. Sie können formaler Art sein, wie z. B. die Verwendung der Gleichnisrede oder des einleitenden cq.tfjv, sie können aber auch inhaltlicher Art sein, wie etwa die charakteristisch jesuanische ßaoLAELa- Verkündigung oder die Nachfolgeforderung; eine MittelsteIlung zwischen den formalen und inhaltlichen Kriterien nimmt das aßßa ein. überraschenderweise sind wir gerade an dieser Stelle im Blick auf die Ausarbeitung einer Kriteriologie noch ziemlich in den Anfängen 61 . Sicher hängt das nicht zuletzt damit zusammen, daß Merkmale für die Ursprünglichkeit, die bei der Einzelexegese angewandt wurden, oft sehr schnell wieder in Frage gestellt worden sind; das zeigt beispielsweise die neuerliche Diskussion über das in Herrenworten voranstehende a/.tfjv 62 .
Dazu Perrin, Was lehrte Jesus, 40ff, im Anschluß an T. W. Manson, The Teaching of Jesus (Cambridge 21935 [repr. 1955]) 10f; McArthur, Basic Issues, 139ff. 60 Es sei nur an das mt oder lk Sonder gut erinnert; aber auch mk Tradition ist vielfach nur in direkter Abhängigkeit von Markus mehrfach überliefert, ohne daß sie in einer unabhängigen überlieferung, etwa der Logienquelle, nochmals auftaucht. Dazu Perrin, Was lehrte Jesus, 43f. 61 Abgesehen von G. Dalman, Die Worte Jesu I (Leipzig 21930) passim, sind wir hier im wesentlichen angewiesen auf die Untersuchungen von]. Jeremias, Kennzeichen der ipsissima vox Jesu (1954), in: ders., Abba (Ges. Aufs.) (Göttingen 1966) 145-152; ders., Die Gleichnisse Jesu (Göttingen 81970) (zu beachten ist vor allem die Liste der "Negativkriterien", d. h. der Umformungsgesetze, S. 112ff); ders., Theologie I, 38ff. Demgegenüber vertritt Käsemann, Problem des historischen Jesus, 204, die These, vom Gleichnisstoff abgesehen, besäßen wir "schlechterdings keinerlei formale Kriterien zur Herausstellung des authentischen Jesusgutes". 62 Dazu K. Berger, Die Amen-Worte Jesu (BZNW 39) (Berlin 1970); ders., Zur Geschichte der Einleitungsformel "Amen, ich sage euch", in: ZNW 63 (1972) 45-75.
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Oder die hervorgehobenen Kriterien sind nicht allein für Jesus kennzeichnend, gehören vielmehr, wie etwa das Passivum divinum, der antithetische Parallelismus oder gewisse Stileigentümlichkeiten - von dem umstrittenen Problem eines Rhythmus der aramäischen Jesusworte einmal ganz ~bgesehen -, nur zu den "von Jesus bevorzugten Redeweisen"63. Immerhin müßte man gerade an diesem Punkte noch erheblich weiterkommen, wenn man zu einer breiteren Verständigung vorstoßen will. Das dürfte m. E. nicht unmöglich sein, da es sowohl in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht eine ganze Reihe von auffälligen Merkmalen gibt, die durchaus die Funktion von Kriterien übernehmen könnten. So wäre etwa zu prüfen, ob nicht neben den vielerörterten Gleichnissen und Bildworten auch die für Jesus eigentümlichen Paradoxien 64, seine Verwendung der Makarismen 65, aber auch allgemein die durch Korrespondenz zwischen dem Jetzt der Begegnung mit ihm und einem noch zukünftigen Geschehen charakterisierte Redeweise 66 oder ähnliche Besonderheiten in Ansatz zu bringen sind. Bei der Anwendung der allgemeinen Prinzipien wie der formalen und inhaltlichen Einzelkriterien muß man sich selbstverständlich im klaren sein, daß sie je für sich meist nur eine begrenzte Funktion haben. Es zeigt sich immer wieder, daß Einzelbeobachtungen noch längst kein Urteil über ein Traditionsstück zulassen. Einzelelemente formaler Art waren ablösbar und konnten von der Gemeinde ebenfalls benutzt werden. Charakteristische inhaltliche Züge wurden aufgenommen und weiterverwendet. Erst durch die gleichzeitige Anwendung mehrerer Kriterien und durch die gegenseitige Ergänzung und Korrektur der Beobachtungen können daher brauchbare Ergebnisse bei der Beurteilung der Jesusüberlieferung im Zusammenhang der Rückfrage nach Jesus gewonnen werden. Die allgemeinen Prinzipien und die speziellen Einzelkriterien haben die Funktion, über die Aussonderung eines traditionsgeschichtlich älVgl. auch V. Hasler, Amen (Zürich - Stuttgart 1969). Allerdings dürfte in beiden Fällen das Ziel einer totalen Bestreitung dieses Kriteriums nicht erreicht sein. 63 So Jeremias, Theologie 1,19. Vorarbeiten auf diesem Gebiet haben wir außerdem nur noch von C. F. Burney, The Poetry of Our Lord (Oxford 1925); K. G. Kuhn, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim (WUNT 1) (Tübingen 1950); ferner Black, Aramaic Approach, passim. 64 Vgl. z. B. Mk 10,25 parr; 11,23 parr. 65 Vgl. Lk 10,23f!1Mt 13, 16f; Lk 6,20f//Mt 5,3.4.6. 66 Charakteristisch dafür ist die Struktur von Lk 12,8 f.
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testen Bestandes hinaus einerseits jene überlieferungen zu bestimmen, die relativ unverändert oder mit leicht abheb baren Zusätzen in der urchristlichen Tradition erhalten geblieben sind, und andererseits Rückschlüsse aus dem stärker umgeformten überlieferungsgut im Sinne des indirekten Verfahrens zu ermöglichen. Das ist nur sinnvoll, wenn eine genaue Beschreibung der mit hoher Wahrscheinlichkeit authentischen Elemente erreicht werden kann. Das gilt für die inhaltlichen Besonderheiten, gilt aber auch für die formale Gestalt. Je detaillierter die hier zu erzielenden Ergebnisse sind, um so eher wird es möglich sein, ein differenziertes Gesamtbild zu entwerfen 67 •
2. Notwendigkeit eines Gesamtentwurfs
Eine Rekonstruktion des vorösterlichen Wirkens Jesu ist nur erreichbar, wenn zugleich mit der Erkenntnis von Einzelheiten ein erster Entwurf für das Gesamtverständnis skizziert wird. Einzelbeobachtungen und Gesamtbild stehen in einem ständigen Wechselverhältnis. Das entscheidende methodologische Problem liegt nun darin, daß ich mich bei einer solchen Rekonstruktion notwendigerweise in einen Zirkel begeben muß, dessen Funktion negativ wie positiv sehr genau bedacht sein will. Denn ich vermag die allgemeinen Prinzipien sowie die Einzelkriterien nur sinnvoll anzuwenden, wenn ich sie in Beziehung zu einem Gesamtbild setzen kann, umgekehrt bin ich aber nicht in der Lage, ein verläßliches Gesamtbild zu gewinnen, wenn ich dieses nicht aus Einzelbeobachtungen Stück um Stück zusammensetze. Es ist hierbei weniger das Problem, wie ich in diesen Zirkel einsteige, vielmehr wie ich ihn ständig in Kontrolle halte. Der Einstieg ist relativ leicht dadurch zu gewinnen, daß ich mit Hilfe des Prinzips der U nähnlichkeit eine erste, noch sehr vorläufige Orientierung zu gewinnen suche. Ich brauche mich vor der "minimalisierenden" Tendenz dieses Prinzips, vor der immer wieder gewarnt wird, nicht zu scheuen, wenn ich dabei diese "Einstiegsfunktion" beachte. Vor allem muß ich sofort 67 Auch bei einem vorwiegend indirekten Verfahren, das auf eine Erhellung der ipsissima intentio Jesu zielt, wird man nicht darauf verzichten können, möglichst viele charakteristische Einzelelemente für das Gesamtbild J esu zu gewinnen, die nicht nur einen "allgemeinen" Eindruck von seinem Verkündigen und Wirken vermitteln, sondern sehr spezielle Eigenarten seines Redens und HandeIns hervortreten lassen.
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weiterfragen, wo die entscheidenden Anhaltspunkte für ein Gesamtverständnis der Geschichte ]esu zu finden sind, um dann mit Hilfe von Einzelbeobachtungen das entstehende Bild auszubauen. Komplizierter liegen die Dinge bei der weiterhin erforderlichen begleitenden Kontrolle. Denn hier stehe ich nicht bloß in der Gefahr, aus einem angeblich bereits abgesicherten Gesamtbild viel zu weitreichende Schlüsse für die Einzelanalyse zu ziehen, ich muß vor allem ständig berücksichtigen, daß ich mit mehreren "Gesamtbildern" gleichzeitig zu arbeiten habe, weil ich nur so zu einer brauchbaren Verhältnisbestimmung zwischen vorösterlichem ]esusgut und nachösterlicher Traditionsweitergabe und -entfaltung kommen kann 68. Diese "Gesamtbilder" können aber sehr schnell ein übergewicht über die Beobachtung an Einzelheiten bekommen. Bei der Exegese der redaktionell konzipierten Evangelien habe ich es im Vergleich damit relativ leicht, weil ich für das Verständnis der Einzelheiten von einem unmittelbar vorliegenden Gesamtrahmen ausgehen, zugleich aber auch jeden einzelnen Text im Blick auf seine Stellung und Funktion exakt bestimmen kann; zudem habe ich bei Mattäus und Lukas noch die Vergleichsmöglichkeit mit dem Markusevangelium und der Logienquelle. Bei der Beurteilung der Verkündigung ]esu muß ich dagegen nicht allein von der Gegenüberstellung der redaktionellen Konzeption der einzelnen Evangelien einerseits und einem "Gesamtbild" der Verkündigung] esu andererseits ausgehen, ich muß vielmehr hypothetisch eine ganze Reihe von "Gesamtbildern" entwerfen, um die Eigenart der verschiedenen Traditionsstränge und die Bedeutung der verschiedenen Traditionszentren zu erfassen 69. Will ich nicht einem alsbald erstarrenden System erliegen, sind diese verschiedenen "Gesamtbilder", in 68 Auf den unerläßlichen Zusammenhang einer Erhebung authentischen Jesusgutes mit der Traditionsgeschichte des Urchristentums insgesamt ist in neuerer Zeit mehrfach hingewiesen worden; so Schille, Prolegomena, Sp. 481 ff; Burchard, J esus, Sp. 1346; W. Trilling, Geschichte und Ergebnisse der historisch-kritischen Jesusforschung, in: Jesus von Nazareth (hrsg. von F. J. Schierse) (Mainz 1972) 187-213, dort 19Of. Auch die apokryphe Tradition muß hierbei mit herangezogen werden. 69 Hier muß man sich vor jeder Vereinfachung hüten. Weder genügt die Gegenübersrellungvon palästinischer und hellenistischer Urgemeinde, noch läßt sich mit einem Schema von "sechs Traditions- bzw. Gemeindebereichen" arbeiten, wie das Schulz, Die neue Frage, 34f, vorschlägt, weil wir zwar eine Reihe von Traditionszentren benennen können, die einen größeren Teil des Materials geprägt haben, aber keinesfalls den gesamten im Neuen Testament erhaltenen Stoff auf deutlich greifbare Traditionsstränge und Traditionszentren aufteilen können.
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die die Einzelüberlieferungen einzuordnen sind, ständig wieder in Frage zu stellen und zu überprüfen. Fange ich jedoch fortwährend mit neuen, unter Umständen sehr komplizierten Entwürfen dieser Art an, werde ich bei der Aufarbeitung des Materials nicht sehr weit kommen. Um also überhaupt zu diskutablen Ergebnissen zu gelangen, bei denen die Gesamtheit des überlieferungs bestandes herangezogen werden kann, muß ich zu einem möglichst umfassenden und differenzierten Rahmenentwurf vorstoßen, der aber doch offen und beweglich genug ist, um stets wieder revidiert werden zu können. Letzteres tue ich am besten gerade von jenen Einzelbeobachtungen her, die sich nur mühsam in das benutzte hypothetische Gefüge einbauen ließen 70. Zur Erarbeitung eines Gesamtbildes des vorösterlichen Wirkens Jesu bedarf es somit eines ersten Vorentwurfes, der durch die Bestimmung entscheidender Anhaltspunkte und durch Einzelergebnisse ständig ergänzt und korrigiert werden muß. Dabei ist ein behutsames Vorgehen unerläßlich. Ich darf ja nicht einfach postulieren, ich kann nicht um eines vermeintlichen Gesamtbildes willen kurzerhand vervollständigen. Das in Umrissen sich abzeichnende Gesamtbild kann mir zunächst nicht mehr als bestimmte Hinsichten des Fragens vermitteln, es darf mir gleichsam nur die Richtung zum weiteren Suchen anweisen, um das einschlägige Material aufzufinden und auszuwerten. Anhand solcher Fragestellungen ist es dann erforderlich, mit Hilfe einer in Einzelschritten vollzogenen Analyse ein bestimmtes Teilproblem einzukreisen und einen Lösungsversuch anzustreben. Hierzu ist auf den methodisch beispielhaften Aufsatz von H einz Schürmann über J esu Verständnis seines Todes hinzuweisen 71. Auch wenn man dem Ergebnis nur teilweise zustimmt, ist in jedem Falle festzustellen, daß das in minutiösen Einzelschritten durchgeführte Verfahren sachgemäß ist und auf jeder Stufe überprüfbar bleibt, weswegen in der Auseinandersetzung sofort deutlich werden kann, wo die Wege in der Beurteilung des Sachverhaltes auseinandergehen. Aber wir sind noch weit davon entfernt, daß alle Teilprobleme in einer solchen Sorgfalt untersucht sind. 70 Das gilt nicht nur für Elemente, die möglicherweise auf Jesus zurückgehen, sich aber in das gewonnene Bild nur schwer eingliedern lassen, es gilt ebenso für Bestandteile, die sich innerhalb der urchristlichen Tradition nicht von vornherein unterbringen lassen. 71 H. Schürmann, Wie hat Jesus seinen Tod bestanden und verstanden? Eine methodenkritische Besinnung, in: Orientierung an Jesus (Festschrift für J. Schmid) (Frei burg i. Br. 1973) 325-363.
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Die überlegungen in diesem Abschnitt haben gezeigt, daß die Rückfrage nach Jesus methodisch niemals von der Untersuchung der gesamten Traditionsgeschichte bis zum Einmünden in die schriftlichen Evangelien isoliert werden darf. Außerdem ist deutlich geworden, daß ein Entwurf für die Darstellung des vorösterlichen Wirkens Jesu der laufenden Ergänzung und Korrektur bedarf, wobei die Bestimmung entscheidender Anhaltspunkte für das Gesamtverständnis Jesu ebenso eine Rolle spielt wie die Erkenntnis von Einzelheiten. Gehören die Erarbeitung des authentischen Jesusgutes und die Erarbeitung der urkirchlichen Tradition so eng zusammen, dann bedeutet dies, daß im Blick auf die Urgemeinde nach Verständnis und Auslegung der Jesusüberlieferung und deren Bedingungen gefragt werden kann und daß umgekehrt im Blick auf das authentische Jesusgut der Ermöglichungsgrund für die nachösterliche überlieferung eruierbar sein muß. Denn bei aller Bedeutung des Oster- und Pfingstgeschehens läßt sich der christliche Glaube nicht ausschließlich von hier aus erklären. Viele wesentliche Elemente des Christus glaubens, der Christusbotschaft und der Jüngergemeinschaft lassen sich nur von den Voraussetzungen her begreifen, die bereits im Wirken des vorösterlichen Jesus liegen 72.
3. Anhaltspunkte für ein Gesamtbild der vorösterlichen Geschichte Jesu Bemühen wir uns, unter den eben erörterten methodischen Aspekten ein Gesamtbild des Wirkens Jesu zu entwerfen, so müssen wir die gegenwärtige Forschungssituation berücksichtigen. Da über die formalen und inhaltlichen Einzelkriterien bisher nur eine unzureichende Verständigung erzielt ist und Untersuchungen, die ein Teilproblem schrittweise einkreisen, nur in wenigen Fällen vorliegen, können wir allein so vorgehen, daß wir uns an die inhaltlichen Grundgegebenheiten der Geschichte Jesu halten, die in der Exegese sichtbar geworden sind. Bei dem für unsere Arbeit unerläßlichen Rahmenentwurf gehen wir also von den für das Verständnis des Wirkens Jesu wesentlichen "Anhaltspunkten" aus. Sie haben nur Sinn, wenn sich daran die Erscheinung Jesu von N azareth insgesamt verdeutlichen läßt, sie müs72
Näheres darüber in Teil IH.
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sen also eine Schlüsselfunktion besitzen, so daß man ohne deren Berücksichtigung die Geschichte J esu überhaupt nicht verstehen kann 73. Auf diesem Wege läßt sich ein gewisser Bereich vorläufig abstecken, der selbstverständlich im einzelnen noch einer genaueren Untersuchung und einer präziseren Beschreibung bedarf. Die folgende Skizze soll verdeutlichen, in welcher Weise wir ein derartiges Gesamtbild anstreben können. Zunächst sind zwei Sachverhalte zu nennen, die entscheidende Bedeutung haben: Jesu Konflikte und - um möglichst allgemein zu formulieren - das Phänomen des "Neuen", das mit seinem Auftreten erkennbar wurde. In beiden Fällen stellt sich die Frage nach der "Wirkung" Jesu: einerseits negativ im Spiegel seiner Gegner, andererseits im Spiegel derer, die, in welcher Abstufung auch immer, ihn positiv aufnahmen 74. Auf weitere Sachverhalte von wesentlicher Bedeutung werden wir im unmittelbaren Anschluß an die Behandlung der Konflikte und des Phänomens des "Neuen" stoßen. a) Es sollte unbestritten sein, daß die Konflikte nicht nur in hohem Maße charakteristisch für J esu öffentliches Wirken sind, sondern daß gerade sie uns einen sehr weitreichenden Aufschluß über sein Wollen geben 75. Leider gibt die Passionsgeschichte, die in ihren verschiedenen Fassungen das Glaubensverständnis der frühen Gemeinde zum Ausdruck bringt, über den genauen Ablauf der Verhöre Jesu und über die Anklagepunkte nur sehr bedingt Auskunft 76. Immerhin läßt sich noch erkennen, aus welchem Grunde Jesus verurteilt wurde. Denn mag der 73 In diesem Sinne hat R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 61968) Hf, versucht, die Verkündigung Jesu anhand der eschatologischen Verkündigung, der Auslegung der Forderung Gottes und des Gottesgedankens Jesu zu erfassen; aber eine Rückfrage nach J esus darf sich gerade nicht auf seine Verkündigung beschränken. An dieser Stelle liegt das prinzipielle Recht der Frage von E. Fuchs nach dem Verhalten Jesu: Zur Frage nach dem historischen Jesus (Ges. Aufs. II) (Tübingen 1960), bes. 143 ff 377ff. 74 Dabei kommt zugleich, wenn auch nur sekundär, die Perspektive der "Nach-Wirkung" der Geschichte Jesu in urchristlicher Zeit mit ins Blickfeld, doch darf sie jetzt nicht dominieren, da es um den Versuch einer Rekonstruktion geht, der von der speziellen Sicht und Beurteilung der nach österlichen Gemeinde nach Möglichkeit frei sein soll. 75 Mit Recht nachdrücklich hervorgehoben von Niederwimmer, Jesus, 31 53 ff; in dieser Hinsicht kann ich der Darstellung nur zustimmen, sowenig ich die Ausführungen über Jesu mythische Redeweise und Gottesbild zu akzeptieren vermag (37ff 66 69f). 76 Hierzu vgl.]. Blinzler, Der Prozeß Jesu (Regensburg 41969); P. Winter, On the Trial of Jesus (Studia Judaica 1) (Berlin 1961); D. P. Catchpole, The Trial of Jesus (Studia Post-Biblica 18) (Leiden 1971).
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Konflikt mit den Römern in seiner Vorgeschichte nicht mehr völlig aufhellbar sein, klar ist, daß J esus als ein angeblicher Messiasprätendent hingerichtet wurde 77. Wieweit mit der ebenfalls unbestreitbaren jüdischen Anklage vor dem Präfekten eine effektive Furcht der Synhedristen vor politischen Folgen des Auftretens J esu im Spiele war, ist schwer zu entscheiden; wieweit von römischer Seite Jesu Anhängerschaft als Unruheherd angesehen wurde, ist genausowenig zu beantworten. Zumindest aber sind diese Fragen nicht kurzerhand von der Hand zu weisen, weil Jesus durchaus eine gewisse "Volksbewegung" in Gang gebracht hatte 78 , auch wenn diese alles andere als einen politisch-revolutionären Charakter besaß 79. Ausschlaggebend ist jedenfalls, daß er wegen eines religiösen Vergehens hingerichtet wurde 80. Für unseren Zusammenhang wichtiger und aufschlußreicher sind die Auseinandersetzungen mit den Vertretern des damaligen Judentums, weil sie uns noch erkennen lassen, weshalb es zu jener Feindschaft gekommen ist, die schließlich zu Jesu Tod führte 81 . Sieht man von der späteren Schematisierung und Einengung auf "Pharisäer und Schriftgelehrte" ab, wird man aufgrund des uns erhaltenen Materials annehmen dürfen, daß J esus mit den verschiedensten Gruppen in Konflikt
Die Historizität der Kreuzesinschrift ist trotz der Bedenken Bultmanns nicht in Frage zu ziehen; ich verweise auf meine Ausführungen in: Christologische Hoheitstitel (FRLANT 83) (Göttingen 41974) 178f. Mit guten Gründen betont N.A.Dahl, Der gekreuzigte Messias, in: Der historische Jesus und der kerygmatische Christus (hrsg. von H.Ristow-K.Matthiae) (Berlin 1960) 149-169, daß gerade Jesu Tod als der eines Messiasprätendenten ein entscheidender Ansatz für das Verständnis seines Wirkens innerhalb der nachösterlichen Gemeinde war. 78 Vgl. dazu M. Dibelius - W. G. Kümmel, Jesus (Sammlung Göschen 1130) (Berlin
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1960) 40H.
Vgl. M. Hengel, War Jesus Revolutionär? (Calwer Hefte 110) (Stuttgart 1970); O. Cullmann, Jesus und die Revolutionären seiner Zeit (Tübingen 1970); E. Gräßer, "Der politisch gekreuzigte Messias". Kritische Anmerkungen zu einer politischen Hermeneutik des Evangeliums, in: ders., Text und Situation (Ges. Aufs.) (Gütersloh 1973) 302-330. 80 Dieser Sachverhalt darf nicht übersehen werden, auch wenn die Anklage politischmotiviert war bzw. der römische Präfekt sie so verstanden hat. 8t Von daher läßt sich auch die Frage stellen, wieweit ein "Mißerfolg" für das Wirken Jesu charakteristisch ist; hierzu Polag, Historische Bemerkungen, 39f. Ich kann mich jedoch aufgrund des vorhandenen Materials nicht davon überzeugen, daß im Leben Jesu mit einer förmlichen "Krise" infolge des wachsenden Mißerfolges gerechnet werden müsse; so neuerdings wieder F. Mußner, Gab es eine "galiläische Krise"?, in: Orientierung an Jesus (Festschrift für J. Schmid) (Freiburg i. Br. 1973) 238-252. 79
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geraten ist 82 . Sein Wirken rief Widerspruch auf breitester Front unter den damaligen Repräsentanten des Judentums hervor. Und hier liegt zweifellos eins der zentralen Probleme für das Verständnis des irdischen J esus. Es kann auch nicht gut bestritten werden, daß dieser Konflikt eine grundsätzliche Bedeutung hatte und die Fundamente des jüdischen Glaubens, vor allem das Gesetzesverständnis, betraf 83. Nicht ohne Grund zieht sich durch die J esusüberlieferung wie ein roter Faden hindurch, daß der Vorwurf der Gotteslästerung ihm gegenüber erhoben wurde 84. Für die spätere Gemeinde konzentrierte sich dieser Vorwurf im messianischen Anspruch Jesu, aber das dürfte gegenüber der vorösterlichen Situation eine spezielle Zuspitzung und letztlich eine Verengung sein 85. "Gotteslästerer" ist nach jüdischem V erständnis derjenige, der sich der Norm des Gesetzes nicht fügt, genauer noch: der sogar todeswürdige Grundverordnungen der Tora mit Absicht übertritt 86 . An Jesu provokatorischem Verhalten am Sabbat, an seiner Ignorierung der rituellen Reinheitsforderungen, an seinem Verhalten gegenüber der aufgrund von Gesetzesbestimmungen aus der Gemeinschaft ausgeschlossenen Kranken, an seiner Gemeinschaft mit denen, die das Gesetz nicht beachteten, zeigt sich, daß er nicht bereit war, als Jude jüdisch zu leben im Sinne des damaligen jüdischen Selbstverständnisses, gleich welcher Schattierung 87 • Daß er außerhalb der geregelten Kultpraxis Menschen die Vergebung der Sünden zugesprochen hat und im Streitfalle ausdrücklich gegen Gesetz und Gesetzestraditionen Stellung nehmen konnte, ließ an seinem nonkonformistischen Verhalten keinen Zweifel mehr aufkommen 88. Jesus hat dabei nun aber nicht, wie es unter den verschiedenen Schu82 Durchgesetzt hat sich diese Kennzeichnung der Gegner im Mattäusevangelium, aber dieselbe Tendenz ist auch schon bei Markus zu erkennen. Anders noch ausdrücklich Mk 12, 18-27 parr. 83 VgJ. Käsemann, Problem des historischen Jesus, 206ff; G. Bornkamm, Jesus von Nazareth (Urban-Bücher 19) (Stuttgart 91972) 88ff. 84 VgJ. Mk 2,7 parr; 14,64 parr; Joh 10,33. 85 Das zeigt sich vor allem in der Erzählung vom Selbstbekenntnis J esu vor dem Hohen Rat Mk 14, 55-65 parr. 86 Hierzu gehört in jedem Falle der beabsichtigte Bruch des Sabbats; vgJ. Ex 31, 14f; 35,2; auch Num 15, 32-36. 87 VgJ. nur Mk 2,23-28 parr; Mk 7,15 par; Mk 1,40-44 parr; Mk 2,14-17 parr. 88 So Mk 2, 5 ff parr; Lk 7,47; Mk 10,1-12 par. Zweifellos sind diese Texte in vorliegender Form alle durch nachösterliche Transformationen bestimmt, lassen aber doch einen Rückschluß auf J esu Verhalten zu.
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len des damaligen Judentums üblich war, lediglich über die Auslegung der Mosetora gestritten. Er konnte offensichtlich nachalttestamentliche Aussagen anerkennen und konnte sie verwerfen. Denn nur ein Kriterium war für ihn entscheidend: ob der Wille Gottes erkannt und befolgt wird oder ob "Menschensatzungen" den Willen Gottes überdeckt und verdunkelt haben 89. Dieses Kriterium galt aber genauso für den geheiligten Text des Mosegesetzes selbst. Man macht es sich zu einfach, wenn man bloß entscheiden will, ob J esus das Gesetz des Alten Testamentes anerkannt oder ob er daran Kritik geübt hat. Sofern darin der Wille Gottes erkannt werden kann, hat Jesus selbstverständlich das alttestamentliche Gesetz bejaht, sofern dort um der "Herzenshärtigkeit der Menschen" willen Konzessionen gemacht waren, stellt er es in Frage 90. Diese Haltung wird nur verständlich, wenn man sieht, daß nicht mehr Mose die letzte Autorität für Jesus ist. Wer so urteilt und handelt, ist aber nach Auffassung eines frommen, gesetzestreuen Juden ein Gotteslästerer 91 . b) Damit sind wir bereits beim zweiten grundlegenden Sachverhalt. Neben dem an Gesetz und Gesetzesauslegung sich entzündenden Konflikt, und zwar einem Konflikt, der trotz aller Bindung Jesu an den Gott des Alten Testamentes und dessen Offenbarung in Israel, das Selbstverständnis des Judentums zutiefst in Frage stellte, neben diesem Konflikt und in engstem Zusammenhang damit ist das Phänomen des "Neuen" das zweite Schlüsselproblem für das Verständnis des irdischen J esus und die Rekonstruktion seines vorösterlichen Wirkens. Ich spreche mit Absicht in einer sehr allgemeinen Weise, denn es genügt nicht, zu sagen, Jesus habe beansprucht, "etwas Neues" zu verkünden und zur Geltung zu bringen, es genügt auch nicht, festzustellen, "etwas Neues" sei durch ihn, wie vor allem ein Rückblick zeigt, in Gang gekommen. Man muß davon ausgehen, daß mit seinem Auftreten eine regelrechte "Neuheitserfahrung", ein in weiten Kreisen empfundenes, ganz umfassendes "Neuheitserlebnis" verbunden war. 89 Vgl. Mk 7,8 par; für das Streitgespräch Mk 7, 1-13 par gilt ebenfalls das in der vorigen Anrn. Gesagte. 90 Vgl. Mk 10,5 par. 91 Anders K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu I (WMANT 40) (Neukirchen - Vluyn 1972), vgl. bes. 576ft. Ich kann mich von der Richtigkeit der in diesem Buch vertretenen Grundthese in keiner Weise überzeugen. Vgl. neuerdings H. Hübner, Das Gesetz in der synoptischen Tradition (Witten 1973), bes. 226ft.
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Erfolg wie Mißerfolg Jesu lassen sich nur von daher begreifen. Denn gerade diese "Neuheitserfahrung" veranlaßte Zustimmung, rief aber ebenso hartnäckigen Widerspruch hervor. Fragen wir genauer, worum es bei diesem Phänomen des "Neuen" geht, so ist aufgrund der erhaltenen ursprünglichen Jesusüberlieferung vom "eschatologisch Neuen" zu sprechen, das für sein gesamtes Wirken bestimmend ist 92 . Hier ist Jesu Haltung gegenüber dem Gesetz verwurzelt; denn wo die endzeitliche Gottesoffenbarung wirksam wird, muß auch Mose daran gemessen werden; wo die endzeitliche Sündenvergebung empfangen werden kann, gelten die rituellen Ordnungen der Tora nicht mehr; und wo die neue Heilsordnung konstituiert wird, ist die alte bis hin zu Kult und Tempel vergangen, wie die Zeichenhandl ung der T em pelaustreibung unmiß verständlich vor Augen führt 93. Jesu Auftreten zeichnet sich dadurch aus, daß er mitten in der noch bestehenden Welt mit seiner ßaotAeLa-Botschaft den Anbruch des Heils verkündigt. Er zerbricht damit alle traditionellen Schemata des religiösen Denkens im Judentum, wonach das Heil einerseits an eine heilige Vergangenheit gebunden war, andererseits einer Zukunft vorbehalten blieb, in der es zu einer totalen Veränderung der Welt oder gar zu einer völlig neuen Welt kommen sollte.· Anbruch des Heiles bedeutet deshalb auch nicht Vorzeichen des Heiles, sondern Gegenwärtigwerden dieses Heiles: "Wo ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, da ist schon die Herrschaft Gottes zu euch gelangt" (Lk 11,20)94. Es bleibt aber gleichwohl das zukünftige Heil, das nicht einfach in eine innerweltliche Gestalt überführt werden kann, das vielmehr im Vorgriff fortan in unsere Welt eingreift und in ihr seine konkreten, wenn auch für menschliches Erfassen niemals eindeutigen Spuren hinterläßt 95. 92 Das kommt am deutlichsten in seiner Verkündigung der ßUOlAElU wü {tEOÜ zum Ausdruck. 93 VgL Mk 11, 15-17 parr; Joh 2,13-22. Konstant in allen Texten ist das Stichwort "austreiben" (E%ßUAAELV), deshalb sollte man auch von "Tempelaustreibung" sprechen. Wo Opfertiere weggejagt und das Wechseln des für die Opfergaben benötigten Geldes unmöglich gemacht werden, kann kein ordnungsgemäßer Kult mehr statrfinden. Eine Umdeutung im Sinne einer "Tempelreinigung" und seiner Verwendung als "Gebetshaus" setzt allerdings schon in urchristlicher Tradition ein, wie Mk 11, 16.17a zeigt. 94 In der Parallelstelle Mt 12,28 wird die bildhafte Wendung vom "Finger Gottes" sekundär durch "Geist Gottes" ersetzt. 95 Daher die Zeichenforderung Mk 8,11 f parr.
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An dieser Stelle ist, wie das in der Exegese in der Regel und mit Recht getan wird, aus überlieferungs geschichtlichen wie aus sachlichen Gründen von den Gleichnissen Jesu auszugehen. Neben den Konfliktszenen sind Jesu Gleichnisse die Texte, welche die relativ sichersten Rückschlüsse zulassen. Sie sind zudem in einem hohen Maße charakteristisch, weil sie nicht bloß formal deutlich von allen zeitgenössischen Analogien abgehoben sind, sondern weil sie in ihren inhaltlichen Aussagen gerade diesem Phänomen des eschatologisch Neuen in einer besonderen Weise Ausdruck verleihen 96. In den Gleichnissen wird deutlich, daß es sich bei diesem N euen um ein dynamisches Geschehen handelt, das den Menschen und die ganze Welt erfassen will, ohne in deren Verfügbarkeit einzugehen, und daß es sich um eine noch in der Realisierung befindliche Wirklichkeit handelt, die zukunftsträchtig ist 97 • Von hier aus kann man durchaus sagen, daß J esu Verkündigung insgesamt durch die Rede in Gleichnissen geprägt ist, mehr noch: daß sein Wirken weithin gleichnishafte Züge trägt 98 . Denn auch seine Handlungen, von den Heilungen angefangen über die Tischgemeinschaft bis hin zu seinem Abschiedsmahl, wollen als Gleichnishandlungen verstanden werden, Gleichnishandlungen nicht in dem Sinne, daß damit nur etwas veranschaulicht werden soll, sondern daß jene anbrechende und unmittelbar auf uns zukommende Wirklichkeit des eschatologisch N euen sich gegenwärtig konkretisiert und mitten in dieser Welt zeichenhaft erfahren werden kann 99. Wenn in diesem Sinne Wunder, Tischgemeinschaften und andere Taten Jesu konkrete Signa der sich ereignenden eschatologischen Gottesherrschaft sind, dann stehdür ihn das Leben der Menschen in dieser Welt nicht nur in einem Bezug zum Jüngsten Tag, vielmehr strahlt 96 Auf die Fülle der Gleichnisliteratur ist hier nicht einzugehen. Zum Sachproblem sei nur verwiesen auf Bornkamm, Jesus von Nazareth, 58ff; E. Jüngel, Paulus und Jesus (Herrn. Unters. z. Theol. 2) (Tübingen 41972) 87ff. 97 Vgl. N.A.Dahl, The Parables of Growth, in: StTh 5 (1951/52) 132-166. Demgegenüber Jeremias, Gleichnisse Jesu, 145ff, der vor allem den Kontrast betont. 98 Dazu Jüngel, Paulus und Jesus, 135ff. Mit Recht fordert allerdings Strecker, Problematik der Jesusfrage, 462f, eine "Zuordnung der Gleichniserzählungen zum Ganzen der Verkündigung Jesu", da sonst die Gefahr einer einlinigen Auslegung dieser Texte bestehe. 99 G. Stählin, Die Gleichnishandlungen Jesu, in: Kosmos und Ekklesia (Festschrift f. w. Stählin) (Kassel 1953) 9-22; H. Schürmann, Die Symbolhandlungen Jesu als eschatologische Erfüllungszeichen. Eine Rückfrage nach dem historischen Jesus, in: Bibel und Leben 11 (1970) 29-41 73-78.
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das Licht des Jüngsten Tages hier bereits auf. Deswegen vollziehen sich auch schon Entscheidungen, die traditionellerweise dem Jüngsten Tage vorbehalten waren. Im Endgericht braucht lediglich noch bestätigt, nur noch offenkundig zu werden, was an definitiven Entscheidungen über Heil und Unheil bereits gefallen ist: "Wer sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem wird sich auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes; wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes" (Lk 12, 8f) 100. c) Gehen wir von hier aus einen Schritt weiter, so stoßen wir auf zwei andere grundlegende Sachverhalte, worauf an dieser Stelle allerdings mehr hingewiesen als eingegangen werden soll. Diejenigen, die sich zu Jesus bekennen, sind bereit, seinen Ruf in die Nachfolge anzunehmen. Inder Gemeinschaft der Jesusjünger wird um der anbrechenden Gottesherrschaft willen alle weltliche Bindung und Sicherung verlassen. Für die Nachfolge Jesu ist die Unbedingtheit der Scheidung von der bisherigen Existenzweise ebenso bezeichnend wie die Totalität der Zugehörigkeit zu Jesu Person und Werk. Das ist nur verständlich aufgrund des eschatologisch Neuen, das sich in dieser menschlichen Lebensgemeinschaft eine konkrete Ausdrucksform verschafft 101. Von dieser Beobachtung her wird dann auch begreiflich, daß Jesus neue Verhaltensmaßstäbe setzt, zumal er die Normen der Tora, wie wir gesehen haben, nur noch bedingt anerkennt. Bei der "ethischen" Verkündigung Jesu fällt immer wieder die fehlende eschatologische Motivation auf 102. Eine "Interimsethik" kann sie schon deshalb gar nicht sein 103. Statt dessen wird in einer betonten Weise auf Gottes Schöpferhandeln Bezug genommen. Nicht nur das "Sorget nicht!", auch das Gebot der Feindesliebe wird mit der Fürsorge und Güte des Schöpfers begründet. So wird das göttliche Schöpferhandeln der Erkenntnisgrund für den Willen Gottes 104. Aber der ursprüngliche 100 Ich verweise auf meine Auslegung in: Hoheitstitel, 30f 33 ff. 101 Dazu mein Aufsatz: Die Nachfolge Jesu in vorösterlicher Zeit, in: F. Hahn - A. Strobel- E. Schweizer, Die Anfänge der Kirche im Neuen Testament (Evang. Forum 8) (Göttingen 1967) 7-36. 102 Auf dieses Problem wurde hingewiesen von H. Conzelmann, Zur Methode der Leben-Jesu-Forschung, in: ZThK 56 (1959) Beih. 1,2-13, dort 11ff; ders., Art. Jesus Christus, RGG3 III, Sp. 637ff. 103 Gegen A. Schweitzer, Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (Tübingen 61950) 401 412 u. ö. 104 Vgl. nur Mt 5, 44-47//Lk 6,27f.32f.
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Wille Gottes, der von Jesus gegen alle schon in der Mosetora einsetzende Kasuistik und Verdunkelung zur Geltung gebracht wird, kann eben im Lichte der anbrechenden eschatologischen Herrschaft Gottes wieder offenbar werden und soll fortan das menschliche Handeln auf dieser Erde unverkürzt bestimmen. Wie Urzeit und Endzeit in der jüdischen Erwartung zusammenhängen, so wird hier in Verbindung mit Jesu Botschaft vom eschatologisch Neuen der ursprüngliche Wille Gottes wiederum aufgedeckt und in einer solchen Weise zur Sprache gebracht, daß die Menschen sich diesem Anspruch nicht entziehen können 105. Sowohl die Unbedingtheit der ethischen Verkündigung ist von hier aus zu verstehen wie auch ihre Konzentration auf die Gottesund Nächstenliebe, wobei das Gebot der Nächstenliebe nun in seiner uneingeschränkten Bedeutung Geltung verlangt 106. Das entspricht der Tatsache, daß es auch für Gottes heilschenkende und gehorsamfordernde Zuwendung keine Zwischeninstanz und keine Beschränkung auf ein auserwähltes Volk mehr gibt 107 . d) Neben den Konflikten Jesu und dem mit dem Anbruch der Gottesherrschaft zusammenhängenden Phänomen des "Neuen", neben der Nachfolge und der Artikulation des unverkürzten Willens Gottes stoßen wir schließlich auf einen weiteren Sachverhalt, der eine Schiüsselfunktion für das Verständnis des vorösterlichen Jesus hat. Zwar können wir dabei nicht von einem "Ansatzpunkt" für die Rekonstruktion der vorösterlichen Geschichte J esu sprechen, wohl aber handelt es sich um so etwas wie einen "Zielpunkt" , auf den alle unsere überlegungen, auch wenn sie in vieler Hinsicht unvollständig bleiben, zu105 Gegen die scharfe Trennung bei Conzelmann, Zur Methode, 12; er sieht eine Klammer nur in der jeweiligen unmittelbaren Konfrontierung der Hörer mit Gott gegeben. Es ist aber für eine engere sachliche Beziehung zur Eschatologie zu plädieren. Hierzu vgl. jetzt A. Vögtle, "Theo-logie" und "Eschato-logie" in der Verkündigung Jesu?, in: Neues Testament und Kirche (Festschrift für R. Schnacken burg) (Freiburg i. Br. 1974) 371-398. 106 Vgl. Mk 12,28-34//Mt 22, 35-40//Lk 10,25-28, dazu Lk 10,29-37. 107 Das Gesetz kann dort, wo der ursprüngliche Wille Gottes Maßstab für das menschliche Verhalten wird, nicht mehr Zwischeninstanz im jüdischen Sinn sein. Daß Jesus sich in seinem vorösterlichen Wirken auf das Volk Israel konzentriert hat, ist nicht zu bestreiten, seine Botschaft hatte aber eine universale Tendenz, weswegen nicht zufällig ein überschreiten der Grenzen Israels bereits für Jesu Wirken wahrscheinlich ist, ohne daß er im eigentlichen Sinne schon "Heidenrnission" getrieben hätte; dazu meine Ausführungen in: Das Verständnis der Mission im Neuen Testament (WMANT 13) (Neukirchen - Vluyn 21965) 19 ff; ferner M. H engel, Die Ursprünge der christlichen Mission, NTSt 18 (1971/72) 15-38, bes. 35ff.
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laufen müssen: die Frage nach Stellung und Bedeutung der Person
Jesu 108. Es hängt Wesentliches davon ab, daß das Problem richtig formuliert wird. Es ist m. E. unzulässig, hier allein nach dem "Selbstbewußtsein", möglicherweise sogar nach J esu "messianischem Selbstbewußtsein " zu fragen. Denn einerseits geben uns die Quellen für das Selbstbewußtsein Jesu so gut wie nichts her, und andererseits müßte bei der Bestimmung des "Messianischen" erst noch eine sehr exakte Vorklärung durchgeführt werden, was dieser Begriff sagen bzw. nicht sagen soll 109. Ich halte es aber für ebenso unangemessen, vom "Sendungsbewußtsein" Jesu zu sprechen, weil die ganze Erörterung nicht auf die psychologische Ebene des Bewußtseins gebracht werden sollte. Etwas anderes ist es dagegen, wenn wir nach dem Sendungs anspruch J esu fragen, dem Anspruch also, der in seiner Verkündigung, in seinen Taten und in seiner Bereitschaft, den Tod auf sich zu nehmen, zum Ausdruck kommt 110. Es geht bei dieser Präzisierung der Fragestellung keineslOB Es ist ausgeschlossen, hier auf die zahllose Literatur einzugehen. Vgl. die Problemskizze bei Bornkamm, Jesus von Nazareth, 155ff, ferner die Literatur in Anm.ll0. Im übrigen ist daran zu erinnern, daß das Problem der Stellung und Bedeutung der Person Jesu sich natürlich auch dort stellt, wo man mit einer nur "impliziten Christologie" rechnet -so vor allem R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (61968) 44f; Conzelmann, Art. Jesus Christus, RGG3 In, Sp. 650f -, wenngleich die Frage dann für eine Darstellung der vorösterlichen Geschichte J esu in anderer Weise wirksam wird. 109 Im jüdischen Sinne kann er ja nicht gebraucht sein, ganz gleich, welche Variation jüdischer Erwartung man zugrunde legt. Außerdem müßte das Verhältnis zwischen "Messias" und "Menschensohn" erst noch präzise geklärt werden, da dieses im Judentum jener Zeit höchst spannungsvoll war und auch für die nachösterliche Christologie noch ein erhebliches Problem darstellte. Die Feststellung, daß Jesu Leben "unmessianisch" gewesen sei, ist vordergründig eine Frage der Terminologie; dahinter verbirgt sich aber das Problem einer exakten Bestimmung der Heilbringervorstellungen im Judentum und frühen Christentum. Unbrauchbar ist die Alternative "entweder apokalyptisch-messianisch oder unapokalyptisch-unmessianisch" bei A. Strobel, Die moderne Jesusforschung (Calwer Hefte 83) (Stuttgart 1966) 43f. Vgl. dagegen die interessanten sachlichen Erwägungen von F. Mußner, Der "historische" Jesus, in: ders., Praesentia Salutis (Ges. Aufs.) (Düsseldorf 1967) 69-80, dort 74ff. 110 Statt vom Sendungs anspruch kann auch vom Vollmachtsanspruch gesprochen werden; auch vom Glaubensanspruch ist gelegentlich die Rede, doch führt das in eine etwas andere Richtung. Der Sendungs anspruch muß im einzelnen natürlich so beschrieben werden, wie er aus dem authentischen J esusgut mit einiger Sicherheit zu erheben ist. Zu diesem Problem vgl. W. G. Kümmel, Der persönliche Anspruch Jesu und der Christusglaube der Urgemeinde (1963), in: ders., HeiJsgeschehen und Geschichte (Ges. Aufs.) (Marburg 1966) 429-438; N. Brox, Das messianische Selbstbewußtsein des historischen Jesus, in: Vom Messias zum Christus (hrsg. von K. Schubert) (Wien 1964) 165-201, bes. 185ff; F. Mußner, Wege zum Selbstbewußtsein Jesu, in: BZ NF 12 (1968)
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wegs darum, das Problemfeld einzuschränken und bestimmte Sachverhalte von vornherein auszuklammern, vielmehr gerade darum, in voller Breite einen adäquaten Zugang offenzuhalten. Die aufgrund der Quellenlage außerordentlich schwierige und umstrittene Frage nach dem Anspruch Jesu kann hier nicht im einzelnen erörtert und beantwortet werden. Wohl aber darf gesagt werden, daß derjenige, der den Anbruch des eschatologisch N euen mit seinem eigenen Wirken in Zusammenhang bringt, der um des eschatologisch Neuen willen Menschen in der Nachfolge an seine Person bindet und mit den Repräsentanten des Judentums einen Konflikt auf Leben und Tod hinsichtlich der Tora auf sich nimmt, einen Anspruch erhebt, der mit den traditionellen Heilserwartungen des Judentums, aus dem er selbst stammt, nicht verrechnet werden kann 111. Nicht umsonst hat daher die älteste Christenheit ihre Hauptaufgabe darin gesehen, aufgrund der Geschichte J esu - einschließlich seines Todes und seiner Auferweckung - eine weitreichende Transformation der überkommenen Heilsvorstellungen durchzuführen, um das überhaupt aussagen zu können, was mit Jesu Person in der Geschichte Wirklichkeit geworden ist 112 • Wo ein solcher Anspruch erhoben wird, wie er uns bei Jesus begegnet, muß sein ganzes Leben unter diesem Vorzeichen stehen. Auch wenn wir von der Gottestat der Auferweckung bei der Rückfrage nach dem vorösterlichen Jesus konsequent absehen, so ist in jedem Falle die Frage aufzugreifen, was Jesu Tod in diesem Zusammenhang seines 161-172; E. Schweizer, Jesus Christus im vielfältigen Zeugnis des Neuen Testaments (Siebenstern-Taschenbuch 126) (München - Hamburg 1968) 18ff; J. Gnilka, Jesus Christus nach frühen Zeugnissen des Glaubens (München 1970) 159ff; ferner A. Vögtle, Exegetische Erwägungen über das Wissen und Selbstbewußtsein Jesu (1962), in: ders., Das Evangelium und die Evangelien (Ges. Aufs.) (Düsseldorf 1971) 296-344; M. H engel, Nachfolge und Charisma (BZNW 34) (Berlin 1968) 70ff 77f. Problematisch bleibt die Erörterung des Problems bei Jeremias, Theologie I, 259ff, weil hier nachösterliche Tradition zu stark rur Jesu eigenes Hoheitsbewußtsein in Anspruch genommen wird. 111 Es ist zweifellos sachgemäßer, diesen Anspruch Jesu näher zu beschreiben, als ihn mit traditionellen Erwartungsmodellen in eine Beziehung partieller übereinstimmung bzw. Abweichung zu bringen; dieser Aufgabe sah sich erst die Urchristenheit konfrontiert, die daher die überkommenen Heilbringervorstellungen in starkem Maße umformte. 112 Vgl. dazu meine bereits genannte Untersuchung: Christologische Hoheitstitel, ferner: R. H. Fuller, The Foundations of New Testament Christology (London 1965), bes. 102ff 142ff; R. Schnackenburg, Christologie des Neuen Testaments, in: Mysterium Salutis (hrsg. von J. Feiner - M. Löhrer) III/l (Einsiedeln 1970) 227-388.
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Wirkens bedeuten konnte l13 . Denn zum Auftreten Jesu gehört nicht nur die Tatsache, daß seine Gegner aufgrund der Konflikte die Hinrichtung veranlaßten, sondern daß er selbst offensichtlich von Anfang an bereit war, den Weg zum Kreuz zu gehen. Sein Anspruch gründet in seinem Gottesverhältnis. Wo es um ein so uneingeschränktes Verhältnis zu Gott als Vater und Auftraggeber wie in Jesu Wirken geht, kann dessen Sterben nicht außerhalb dieser Relation stehen, ist daher nicht abgesehen von diesem Gottesverhältnis zu verstehen 114.
4. Ergebnisse Zweierlei sollte in diesem Teil deutlich werden: einmal die Probleme, die mit einer Kriteriologie und einem Gesamtentwurf verbunden sind, die daher bei jedem Rekonstruktionsversuch beachtet werden müssen; zum andern sollten die konkreten Ansatzpunkte für die Wiedergewinnung eines möglichst getreuen, der vorösterlichen Zeit entsprechenden Bildes der Geschichte und der Person Jesu hervorgehoben werden, wobei, wie wir gesehen haben, seine unmittelbare Wirkung auf die Zeitgenossen eine besondere heuristische Funktion hat. Die gegebene Skizze bedarf einer Ausführung und einer genaueren Begründung, ich wollte aber damit zeigen, daß es bei dem augenblicklichen Forschungsstand, trotz vieler unerledigten Aufgaben, durchaus möglich ist, anhand solcher grundlegenden Sachverhalte immerhin schon zu einem relativ brauchbaren Gesamtbild der Geschichte Jesu zu kommen 115. Der Mißerfolg der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts hat zu der unaufgebbaren Erkenntnis geführt, daß es nicht möglich ist, das Leben J esu im Sinne einer modernen Biographie nachzuzeichnen, weil "biographisches" Material in der überlieferung weitgehend fehlt. Die seitherige Diskussion, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, hat darüber hinaus ergeben, daß man weder isoliert nach Ich verweise auf die in Anm. 71 und 77 genannten Arbeiten von H. Schürmann und N. A. Dahl. 114 Zum Gottesverhältnis vgl. W. Thüsing, Das Gottesbild des Neuen Testaments, in: Die Frage nach Gott (hrsg. von J. Ratzinger, QuDisp 56) (Freiburg i. Br. 1972) 59-86, dort 77ff. l1S Die beste Darstellung der vorösterlichen Geschichte Jesu, die wir zur Zeit besitzen, ist die von Bornkamm, Jesus von Nazareth. 113
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Jesu Verkündigung noch nach seinem Verhalten oder nach seinem Selbstbewußtsein fragen kann, um jeweils von dort aus ein Verständnis zu erzielen. Die noch längst nicht hinreichend gelöste Aufgabe besteht darin, eine bis ins Detail ausgearbeitete ganzheitliche Deutung der geschichtlichen Person Jesu und seines Auftretens zu gewinnen, die den verschiedenen Komponenten seines Auftrags, der Verkündigung der anbrechenden Gottesherrschaft, der Auseinandersetzung über das Gesetz, der Konstituierung einer Nachfolgegemeinschaft, der ethischen Forderung, aber auch den verschiedenen Formen seines Handelns und seiner Bereitschaft, aufgrund des Konfliktes den Tod auf sich zu nehmen, voll gerecht wird und die es überdies erlaubt, möglichst alle Einzelzüge aus der auf die vorösterliche Geschichte zurückweisenden Jesusüberlieferung aufzugreifen und verständlich zu machen 116.
III. RELEVANZ DER RüCKFRAGE
Wir haben uns im ersten Teil mit den Schwierigkeiten eines historischen Rückgangs auf die vorösterliche Geschichte Jesu befaßt, haben im zweiten Teil die Möglichkeiten der Rekonstruktion seines irdischen Wirkens behandelt, haben aber bisher die Frage zurückgestellt, ob es denn theologisch überhaupt legitim sei, nach dem "historischen J esus" zu suchen. Unbestreitbar ist doch die Tatsache, daß das Neue Testament den vorösterlichen Jesus in diesem Sinne nicht kennt und daß eine jahrhundertelange kirchliche Tradition einen lebendigen Glauben vermitteln konnte, ohne dabei die historische Rückfrage in unserem Sinne zu stellen. Erst seit der Aufklärungszeit ist in dieser Hinsicht ein Wandel eingetreten. Aber betrifft die veränderte Fragestellung unBei dieser ganzheitlichen Schau darf man nicht nur davon ausgehen, daß eine relativ einheitliche Konzeption vielfältig weiterentwickelt worden ist, sondern umgekehrt muß man auch berücksichtigen, daß ein sehr komplexer Sachverhalt in nachösterlicher Zeit in gewisser Weise aufgelöst und vereinfacht werden konnte; vgl. da/li Schille, Prolegomena Sp. 483 485. Das heißt also, daß ich methodisch innerhalb der Ver"ündigung Jesu wie innerhalb der Verkündigung der Urkirche mit einem kompli/.ierten Sachgefüge rechnen muß und erst nach sorgfältigen Einzeluntersuchungen bestimmte Beziehungen genauer erkennen kann. Vgl. auch W. G. Kümmel, Diakritik zwischen Jesus und dem Christusbild der Urkirche, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte, 382-391. 116
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sere eigentliche theologische Problematik? Ist vielleicht zu Recht die These aufgestellt und vertreten worden, daß der mit Hilfe moderner wissenschaftlicher Kritik durchgeführte Rückgang auf den vorösterlichen J esus zwar historisch wichtig und aufschlußreich, aber sachlich ohne Belang sei, weil sonst der Glaube in einer falschen Weise begründet und zudem von den Ergebnissen der Wissenschaft abhängig gemacht werde?117 Man hat auf verschiedene Art versucht, die Rückfrage zu rechtfertigen. Doch ist sehr genau zu überlegen, wieweit die gegebenen Begründungen theologisch stichhaltig sind. Es genügt sicher nicht, zu sagen, daß uns durch die moderne geistes geschichtliche Entwicklung Möglichkeiten zugewachsen oder gar aufgezwungen worden sind, die daher um der intellektuellen Redlichkeit willen auch für unser theologisches Bemühen Relevanz erhalten müssen. Zweifellos dürfen wir hier insofern nicht ausweichen, als neuaufgebrochene Probleme unter allen Umständen eine Antwort von uns erheischeh. Aber nicht das Aufkommen der modernen historischen Kritik enthält in sich bereits eine theologisch akzeptable Legitimation. Die theologische AufgabensteIlung fängt vielmehr erst dort an, wo von der Sache selbst her aufgezeigt werden kann, warum ich mich der Möglichkeiten der historischen Analyse bediene. Die mir neu zugefallene Aufgabe muß also genuin theologisch angegangen und präzisiert werden. Das betrifft zudem nicht bloß die Auswertung der Ergebnisse einer historischen Rückfrage, es betrifft das gesamte Methodenproblem. Denn erst wenn ich genau sagen kann, mit welchem Ziel und unter welchen Voraussetzungen ich die Eruierung der vorösterlichen Jesustradition durchführe, kann ich ein Methodenkonzept entwickeln, das der hierbei gestellten theologischen Aufgabe gerecht wird. Nun soll allerdings von vornherein betont werden, daß ebenso wie das generelle Ja oder Nein zur historischen Rekonstruierbarkeit der vorösterlichen Geschichte J esu auch die Alternative, ob die Rückfrage nach Jesus theologisch legitim sei oder nicht, falsch ist und eine unzulässige Vereinfachung des Problems darstellt. Der Rückgang auf den vorösterlichen Jesus kann, je nachdem wie die Fragestellung durchgeführt wird, theologisch ebenso abwegig wie in höchstem Maße berech117 Vgl. z. B. R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus (1960), in: deTS., Exegetica (Tübingen 1967) 445-469, bes. 450ff.
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tigt und notwendig sein. Um hier wirklich weiterzukommen, gilt es, den Bereich eines theologisch sinnvollen Fragens überhaupt erst einmal sorgsam abzustecken.
1. Problematik der historischen Rückfrage Wir sind bisher insofern unreflektiert an die Aufgabe einer Rekonstruktion der Geschichte Jesu herangegangen, als wir uns über die bestehenden sachlichen Probleme noch keine Gedanken gemacht haben. Die Rückfrage nach Jesus ist aber in theologischer Hinsicht allein schon deswegen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt, weil einige Implikationen, die starkes Gewicht haben, dabei zur Auswirkung kommen und kritisch untersucht werden müssen. Es darf ja nicht übersehen werden, daß sich allein schon mit der Bestimmung des Zieles, um dessentwillen die Rekonstruktion der Geschichte Jesu durchgeführt wird, Vorentscheidungen verbinden und daß darüber hinaus auch mit der historisch-kritischen Analyse selbst bestimmte Prämissen verbunden sind. über die Zielsetzung muß man sich in jedem Falle Rechenschaft ablegen, und die immanenten Probleme des methodischen Verfahrens sollten zumindest bedacht und nach Möglichkeit unwirksam gemacht werden. a) Wenden wir uns zunächst der Zielbestimmung zu, so stoßen wir auf charakteristische Grundmodelle, die seit dem erstmaligen Auftauchen der Frage nach dem "historischen Jesus" im 18. Jahrhundert nacheinander aufgetreten und bis heute zu beobachten sind 118. Die Forderung eines Rückgangs auf die "Quellen" - nicht nur im literarischen, sondern auch im historischen Sinn - ist sehr viel älter. Sie spielte bereits im Humanismus und in der Reformationszeit eine wichtige Rolle und diente der Auseinandersetzung mit einer übermächtigen Tradition. Diese Forderung gewann in der Aufklärungszeit deshalb wieder eine hohe Aktualität, weil das veränderte Bewußtsein einen neuen Zugang zu den Quellen und damit eine neue Auswertung derselben für möglich hielt. Das Prinzip des Rückgangs auf die Quellen hat allerdings die überzeugung anfangs nicht tangiert, daß diese Quel118 Ich verweise hierzu auf das wichtige Buch von R. Slenczka, Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi (Forsch. z. syst. u. ökum. Theol. 18) (Göttingen 1967), bes. die Teile I und II, wo speziell im Blick auf die J esusforschung des 18. und 19. J ahrhunderts die Frage der dogmatischen Vorentscheidungen ausführlich erörtert wird.
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len eine unmittelbare Gegenwartsbedeutung haben. Doch gerade hier tauchte alsbald ein Problem auf, sofern Geschichte und Gegenwartsbezug, wie Lessing klar herausstellte, dadurch in eine gewisse Spannung gerieten, daß "zufällige Geschichtswahrheiten" und "notwendige Vernunftwahrheiten" konfrontiert wurden 119. Das bedeutete aber einerseits, daß die Frage nach dem "historischen Jesus" damals letztlich gar nicht aus einem eigentlich historischen Interesse erwachsen ist und daß andererseits die Vernunftgemäßheit das eigentliche Kriterium wurde, das auch den Gegenwartsbezug sicherzustellen hatte. Damit war für die Folgezeit das Thema der Kontingenz geschichtlicher Ereignisse wie der Funktion der menschlichen Vernunft aufgeworfen, und bis in unsere Zeit ist dieser Ansatz, der das geschichtlich Bedingte am Maßstab der menschlichen Vernunft mißt, wirksam geblieben. Dementsprechend wird Jesus als Protagonist der sich durchsetzenden und emanzipierenden menschlichen Vernunft verstanden 120. Anders lagen die Dinge im 19. Jahrhundert. Hatten schon Idealismus und Romantik eine Intensivierung des Geschichtsbewußtseins erreicht, so hat der Positivismus dazu geführt, daß das historische Denken neben den aufkommenden Naturwissenschaften in den Vordergrund trat. Man versuchte ja, für das Verständnis von Mensch und Welt eine möglichst "objektive" Basis zu finden, und bemühte sich um Aufhellung der Gegebenheiten, die sicher erkennbar und verifizierbar sind. Nicht zufällig kam es damals zur konsequenten Ausbildung der historisch-kritischen Methode. Die Problematik des Historismus und seines Wirklichkeitsverständnisses wurde erst relativ spät erkannt. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß auch dann grundlegende Elemente des Positivismus festgehalten worden sind und daß dies vor allem in der totalen Beschränkung auf das innerweltliche Geschehen nachwirkt. Im Rahmen der historischen Rückfrage nach Jesus bedeutet dies, daß die bloße Menschlichkeit ausschlaggebend ist und er primär im Horizont seiner eigenen Zeit und Denkweise gesehen wird 121. In der Schrift: über den Beweis des Geistes und der Kraft, 1777. Vgl. A.Schweitzer, Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (Tübingen 61950) 27ff. Entsprechend kann Niederwimmer, Jesus, 7, die Bibelkritik als "eine Aktion der kritischen Vernunft" bezeichnen. 121 Bezeichnend für diese Haltung ist beispielsweise H. Braun, Jesus (Stuttgart 1969)
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Um die Schwierigkeiten einer ausschließlich positivistischen Erfassung des Historischen zu überwinden, hat sich die existentiale Interpretation darum bemüht, ein das Faktische übergreifendes geschichtliches Denken zum Tragen zu bringen. Ihr geht es darum, in der "Begegnung" mit Erscheinungen vergangener Zeit Erkenntnisse für eigene Existenzmöglichkeiten zu finden. Auf diese Weise sollte vor allem der im Historismus problematisch gewordene Gegenwartsbezug geschichtlicher Ereignisse zurückgewonnen werden. Interessanterweise setzte die existentiale Interpretation innerhalb des Neuen Testaments beim urchristlichen Kerygma ein und stellte sich erst in einem zweiten Schritt der Rückfrage nach Jesus 122. Das Problem ist, wieweit die hierbei vorausgesetzte Anthropologie den biblischen Aussagen voll gerecht werden kann 123. Auch abgesehen von der existentialen Interpretation wird immer häufiger die Frage aufgeworfen, ob es nicht unerläßlich sei, im Zusammenhang des Gegenwartsbezugs der christlichen Botschaft das Menschsein Jesu stärker in den Blick zu fassen und sich dabei der Erkenntnisse der modernen Wissenschaft zu bedienen. Es gehe jedoch nicht um das pure Menschsein, wohl aber um das vere homo des christlichen Bekenntnisses. Doch müsse man in viel höherem Maße als früher ernst machen mit dem Menschen Jesus l24 . Hier wird also im Rahmen 10 f, wo festgestellt wird: "Der wirkliche Mensch J esus ist die eindeutige Basis des N euen Testaments ... Wenn Jesus ein wirklicher Mensch war, so hat er in einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Umgebung gelebt ... Daher fragen wir: ,Wer war Jesus von Nazareth?'." Dazu vgl. P. Stuhlmacher, Kritische Marginalien zum gegenwärtigen Stand der Frage nach J esus, in: Fides et communicatio (Festschrift für M. Doerne) (Göttingen 1970) 341-361, bes. 350ff 360ff. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, daß es gerade die konsequente historische Forschung war, die etwa die Eigenart der Eschatologie Jesu entdeckte; vgl. J. Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (Göttingen [1892] 31964). 122 Das gilt einerseits für die zahlreichen Veröffentlichungen von R. Bultmann, andererseits für die Arbeiten von E. Fuchs, Zur Frage nachdem historischen Jesus (Ges. Aufs. II) (Tübingen 1960); ders., Jesus. Wort und Tat (Tübingen 1971); G. Ebeling, Wort und Glaube! (Tübingen 31967), bes. 203-254 300-318. Hierher gehörtferner J. M. Robinson; dazu vgl. Anm. 129. 123 Dabei soll nicht übersehen werden, daß die genannten Theologen einen entscheidenden Beitrag zur Diskussion über die historische Jesusfrage geleistet haben. Vor allem haben sie sich auch dem Problem der theologischen Berechtigung der Rückfrage nach Jesus gestellt. Im einzelnen muß ich hier auf eine Würdigung und Kritik verzichten. 124 Vgl. z. B. J. Blank, Jesus von Nazareth. Geschichte und Relevanz (Freiburg i. Br. 1972) 5ff 13f: sowenig der "historische Jesus" und der "Christus des Glaubens" zu trennen sei, so sei doch die menschliche Person Jesu von "äußerstem Interesse". Schäfer,
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der kirchlichen Tradition die Rückfrage gestellt und der Versuch einer Integration der historischen Jesusforschung in die Christologie unternommen. Aber es ist doch sehr zu überlegen, ob sich die moderne Rückfrage nach J esus so einfach mit einem traditionellen Konzept vereinigen läßt. Anders gesagt: Ist es denn wirklich dasselbe, wenn ich im Sinne des Dogmas nach dem vere homo und wenn ich im Sinne moderner Forschung nach dem "historischen Jesus" frage? Hier bedarf es offensichtlich weiterer Klärung. Aber zunächst geht es darum, sich über die dogmatischen Implikationen in all diesen Modellen nicht zu täuschen. Da sich jeweils wesentliche Vorentscheidungen auswirken, ist sehr genau zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen die Rückfrage nach Jesus sachgemäß gestellt werden kann. b) Unabhängig von den dogmatischen Prämissen, mit denen der einzelne Forscher ans Werk geht, ist zu beachten, daß bei der historisch-kritischen Methode selbst, die für die Analyse der J esustradition unerläßlich ist, erhebliche sachliche Implikationen im Spiele sind. Gerade deswegen ist es schwierig, mit wenigen Worten zu sagen, wie es mit der theologischen Relevanz der damit durchgeführten Rückfrage nach Jesus steht. Nur muß vor jedem kurzschlüssigen Verfahren gewarnt werden. Ich will jetzt nicht in extenso auf die immanenten Probleme der historisch-kritischen Methode eingehen, zumal ich mich darüber an anderer Stelle geäußert habe 125. Es ist aber in jedem Fall darauf hinzuweisen, daß die historische Jesusforschung ein Musterbeispiel dafür ist, daß man mit Hilfe einer solchen Methode weitreichende und förderliche Erkenntnisse gewinnen kann, aber zugleich einer letztlich inadäquaten Tendenz dieser Methode Tribut zollen muß. Nur auHolgendes sei kurz hingewiesen: Die historische Kritik zielt als solche auf Distanzierung, d.h., sie läßt den Unterschied zwischen Einst und Jetzt nicht nur sichtbar werden, sondern hebt ihn bewußt hervor. Es gehört ja zum Wesen historischer Forschung, den untersuchten Gegenstand aus seiner eigenen, für uns vergangenen Zeit zu beleuchten und verständlich zu machen. Hinzu kommt, daß die historisch-kritische Methode Jesus, 111, der den Mangel eines "aIIerwärts anerkannten Jesusbildes der historischen Forschung" bedauert: "Ohne ein Bild des historischen Jesus kann es aber heute schwerlich mehr eine Christologie geben." 125 F. Hahn, Probleme historischer Kritik, in: ZNW 63 (1972) 1-17.
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die einzelnen Erscheinungen nur aus ihren unmittelbaren kausalen Verknüpfungen zu erklären versucht und übergreifende Bezugspunkte ausschaltet. Eine durch historische Kritik erreichte Verfremdung von Texten und Sachverhalten mag hilfreich sein, wenn sie uns aus dem Bereich des Gewohnten herausführt und aufmerken läßt; sie kann aber auch so dominieren, daß ein unmittelbarer Gegenwartsbezug gar nicht mehr erkennbar wird. Albert Schweitzer hat den Sachverhalt ausgezeichnet beschrieben: "Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen J esus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen J esus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück." 126 Historie, wie sie mit Hilfe der kritischen Methode erarbeitet wird, wird zur "erstarrten Geschichte" 127. Für das Neue Testament ist umgekehrt der Gegenwartsbezug der eigentlich entscheidende Aspekt. Insofern läuft also die historisch-kritische Methode der Intention der untersuchten Texte zuwider. Dieses Problem ist in vielen Fällen nicht beachtet worden, weshalb unreflektiert eine Aktualisierung vorgenommen wurde, indem die Exegeten unter der Hand moderne Verstehenskategorien und Fragestellungen einführten. Albert Schweitzer hat mit scharfem Blick erkannt und herausgestellt, daß der "historische Jesus" in dem Augenblick, wo er von dem "Felsen der Kirchenlehre" gelöst wird, in den Bannkreis der Leitbilder der je eigenen Zeit der Interpreten gerät 128. Nun hat man nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem im Anschluß an Ernst Käsemanns programmatischen Aufsatz von 1954, von der "neuen Frage nach dem historischen Jesus" gesprochen, weil man die Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 63lf. Käsemann, Problem des historischen Jesus, 194f. 128 Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 633 H. Man hat dieses 1906 erstmals erschienene Buch den Grabgesang auf die Leben-Jesu-Forschung genannt, aber man könnte inzwischen einen mindestens ebenso dicken zweiten Band schreiben. An die Stelle der Bilder von Jesus als dem optimistischen Aufklärer, dem nüchternen Rationalisten, dem naturverbundenen Romantiker, dem glühenden eschatologischen Schwärmer würden heute die Bilder treten von Jesus als dem Gesellschaftskritiker, dem Sozialreformer, dem Kämpfer gegen Unterdrückung, Sklaverei und Ausbeutung, dem Revolutionär usw. 126 127
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Irrwege der früheren Theologie meinte vermeiden zu können. Für fames Robinson, der mit seinem Buch "Kerygma und historischer Jesus" erstmals das Stichwort von der "neuen Frage" ausgab 129, und für viele andere bestand kein Zweifel, daß man aus dem theologischen Ansatz der kerygmatischen Theologie - innerhalb der neutestamentlichen Exegese maßgebend vertreten durch Rudolf Bultmann - so viel gelernt habe, daß man jetzt sachgemäßer an die ganze Fragestellung herangehen könne. Sachgemäßer deshalb, weil man annahm, daß fortan von der Prävalenz des Kerygmas oder zumindest von dessen unabdingbarer Zuordnung zur Frage nach dem historischen Jesus nicht mehr abzusehen sei 130. Es war aber eine erhebliche Täuschung, wenn man damals voraussetzte, daß die Frage nach dem historischen Jesus aus dieser Korrelation gleichsam nicht mehr entlassen werden könne. Heute wird in vielen Fällen vom historischen J esus gesprochen, als hätte es die ganze Diskussion um Bultmann nie gegeben, und die mit viel Interesse und Intensität behandelte Rückfrage nach Jesus droht weithin wieder in einer Sackgasse zu enden. Damit ist keineswegs gemeint, daß wir unter allen Umständen an Bultmanns theologischer Konzeption festhalten müßten, wohl aber geht es darum, daß der von ihm mit unbestechlicher Klarheit erkannte und bewußtgemachte Sachverhalt nicht umgangen werden darf. c) Damit wird ein Kernproblem sichtbar, nämlich die immer noch nicht hinreichend bedachte Frage, wieweit der für das Neue Testament bezeichnende Zusammenhang zwischen der Geschichte Jesu und dem nachösterlichen Kerygma überhaupt aufgelöst werden darf. Offen-
129 J.M.Robinson, Kerygma und historischer Jesus (Zürich [1960] 21967); ursprüngliche englische Fassung: A New Quest of the Historical Jesus (StudBiblTheol25) (London 1959). 130 Schon bald nach dem ersten Erscheinen des Buches von Robinson wurde skeptisch zurückgefragt, ob es sich tatsächlich um einen neuen Ansatz handle; vgl. A. van Harvey - Sch. M. Ogden, Wie neu ist die "neue Frage nach dem historischen Jesus"?, in: ZThK 59 (1962) 46-87. Zur Diskussion im amerikanischen Bereich vgl. Perrin, Was lehrte Jesus, 253ff 269ff; H. C. Kee, Jesus in History (New York 1970), bes. 263ff; J. Reumann, Jesus in the Church's Gospels: Modern Scholarship and the Earliest Sources (London 1970); L. E. Keck, A Future for the Historical Jesus (London 1972). Für die englische Forschung vgl. C. F. D. Moule, The Phenomenon of the New Testament (StudBiblTheol II/1) (London 1967) 43ff 56ff; C. H. Dodd, The Founder of Christianity (London 1971); außerdem C. F. Evans, 1s 'the Jesus of History' Important?, in: ders., 1s 'Holy Scripture' Christian? (London 1971) 51-i>3, bes. 57ff.
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sichtlich ist nur von da aus zu einer dem biblischen Zeugnis angemessenen und theologisch sachgerechten Näherbestimmung der Rückfrage nach Jesus zu kommen. Das schließt weder eine Auseinandersetzung mit der jahrhundertealten Kirchenlehre aus, noch ist damit von vornherein die historische Bemühung um den vorösterlichen J esus als unerlaubt gekennzeichnet. Ebensowenig kann das urchristliche Kerygma bei seiner Vielfalt einfach als feste Größe angesehen werden, die unkritisch übernommen werden müßte 131. Aber man wird der Aufgabe der Rückfrage nach Jesus dann nicht gerecht, wenn man meint, mit Hilfe der historisch-kritischen Exegese sei nur Mörtel vom ursprünglichen Mauerwerk abzuschlagen und auf das nachösterliche Kerygma könne dabei verzichtet werden. Es sollte beachtet werden, daß dort, wo wir Antworten in Fragen umsetzen, um selbst darauf neu antworten zu können, die Frage nicht von vornherein gestellt ist.
2. Zum Begriff "Der historische Jesus" An dieser Stelle empfiehlt es sich, einen Augenblick innezuhalten und zu fragen, ob die gängige Terminologie ausreicht, das sachliche Problem in der nötigen Präzision zu formulieren. Mit dem gebräuchlichen Begriffsapparat ist ja meist auch schon eine bestimmte methodische Entscheidung getroffen. Der Begriff "historischer Jesus" ist seit langem eingebürgert und hat sich weithin durchgesetzt. Obwohl es einige sehr exakte Definitionen dafür gibt, ist zu beobachten, daß er häufig in einer unklaren oder ausgesprochen schillernden Weise gebraucht wird. Das wird am deutlichsten dort, wo gesagt werden kann, die "Frage nach dem historischen Jesus" sei so alt wie das Christentum und ein Interesse am "historischen Jesus" sei bereits in der urchristlichen überlieferung nachzuweisen 132. Aber sind derartige Aussagen brauchbar und zulässig? 131 Man sollte allerdings vorsichtig sein mit der Behauptung, durch Rückgang hinter die Texte des Neuen Testaments auf Jesus werde die Einheit des vielfältigen Zeugnisses der nachösterlichen Zeit sichtbar. Das gilt zwar im prinzipiellen Sinne, als das urchristliche Zeugnis in der Person Jesu seine Mitte hat, gilt aber nicht in dem Sinne, daß durch die historische Rückfrage nach dem vorösterlichen J esus diese Einheit einfach erhoben werden könne. VgJ. W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie (Gütersloh 41972) 15ff. 132 Vgl. z. B. F. Mußner, Christologische Homologese und evangelische Vita Jesu, in:
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Wenn wir vom "historischen Jesus" sprechen, handelt es sich doch, um die Definition aus dem Forschungsbericht von Peter Biehl zu zitieren, "um Jesus, sofern er zum Objekt historisch-kritischer Forschung gemacht werden kann" 133. Das heißt also : Wo ich vom "historischen Jesus" spreche, setze ich sowohl das historische Bewußtsein der Moderne wie auch das in der Neuzeit erschlossene methodische Instrumentarium voraus. Darum kann Gerhard Ebeling formulieren: "Historischer Jesus" sei eine "Abkürzung für: Jesus, wie er bei strenger historischer Methode zur Erkenntnis kommt, entgegen den etwaigen Veränderungen und übermalungen, die er im Jesus-Bild der Tradition erfahren hat" 134. Wenn er ergänzt, "historischer Jesus" meine soviel wie "der wahre, der wirkliche Jesus", dann müßte einschränkend noch hinzugefügt werden: im Sinne des neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses. Es ist davon auszugehen, daß wir diesem Wirklichkeitsverständnis wenn nicht verfallen, so doch verpflichtet sind, also in dieser Weise auch unsere historische Erkenntnis gewinnen müssen; und das tun wir in der Exegese ebenso beim urchristlichen Kerygma wie beim vorösterlichen Jesus. Es sollte aber feststehen, daß die Rede vom "historischen Jesus" nicht einfach nur den Jesus der Geschichte meint, sondern zugleich eine bestimmte Art der Betrachtung mit einschließt. Es ist jedoch etwas anderes, ob ich von meiner modernen historischen Betrachtungsweise und Erkenntnis ausgehe und nach deren möglicher theologischer Relevanz frage oder ob ich diese Betrachtungsweise einfach mit der biblischen identifiziere. Dann kann ich natürlich relativ leicht aus der Relevanz der dortigen Jesusüberlieferung auch eine Relevanz für meine moderne Frage nach dem "historischen Jesus" ableiten. Aber nicht ohne Grund hat schon Martin Kähler gegenüber dem "sogenannten historischen Jesus" für den "geschichtlichen, biblischen Christus" plädiert und dabei entgegen moderner Fragestellung die Einheit von Geschichte und Kerygma im neutestament-
Zur Frühgeschichte der Christologie (hrsg. von B. WeIte, QuDisp 51) (Frei burg i. Br. 1970) 59-73, dort 66. 133 P. Biehl, Zur Frage nach dem historischen Jesus, in: ThR NF 24 (1956/57) 54-76, dort 55. 134 G. Ebeling, Die Frage nach dem historischen Jesus und das Problem der Christologie, in: ders., Wort und Glaube (Ges. Aufs.) I (Tübingen 31%7) 300-318, dort 303.
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lichen Zeugnis hervorgehoben 135. Nun hat die Diskussion um Bultmanns Hermeneutik gezeigt, wie wenig eine Unterscheidung der Begriffe "historisch" und "geschichtlich" einbringt, zumal dann, wenn der Begriff des Historischen an der Faktizität und der des Geschichtlichen an der Existentialstruktur der Geschichtlichkeit orientiert ist, also beiderseits moderne Auffassungen eine Rolle spielen. "Geschichtlich" muß m. E. ein Allgemeinbegriff bleiben, und er ist es auch in der Regel. Wie kann man dann aber am besten den neutestamentlichen Sachverhalt beschreiben? Es bestehen mehrere Möglichkeiten: Hat man traditionsgeschichtliche Probleme im Auge, empfiehlt sich die Gegenüberstellung von "vorösterlichem Jesus" und "nachösterlicher Gemeinde". Hat man dagegen das spezifisch christologische Interesse der urchristlichen Verkündigung im Blick, dann sollte man von "irdischem Jesus" und von Jesus als dem "erhöhten Herrn" sprechen. Es kann gar nicht bestritten werden, daß für die gesamte urchristliche Verkündigung ein verschieden großes und verschieden artikuliertes, aber doch grundlegendes Interesse am "irdischen Jesus" besteht. Aber es wäre ein Fehler, wollten wir das sofort gleichsetzen mit unserer Frage nach dem "historischen Jesus"136. Die terminologische Problematik betrifft nun aber auch den Begriff "historischer Jesus" selbst. Gerade weil hier auf Jesus in seiner konkreten vorösterlichen Geschichte zurückgegangen werden soll, zugleich aber eine bestimmte Art der Betrachtung und des Zugangs zum Ausdruck gebracht wird, fragt es sich, ob diese Begriffsbildung sehr glücklich ist. Reinhard Slenczka hat vorgeschlagen, statt dessen von der "historischen J esusfrage" zu sprechen, und diese Anregung sollte man 135 M. KähleT, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892) (Neudruck München 1953). 136 Exegetisch unbrauchbar sind übrigens die Korrelatbegriffe "historischer J esus" und "kerygmatischer Christus", jedenfalls dann, wenn nicht die christologische Gegenwartsproblematik, sondern die neutestamentliche Fragestellung damit verdeutlicht werden soll. Denn weder geht es dort um den Gegensatz des "Historischen" zum "Kerygmatischen" noch um ein Gegenüber von "Jesus" und "Christus", vielmehr gerade darum, daß der irdische Jesus zugleich der als Chrisrus verkündigte Jesus ist. Konsequent gedacht, ist der "kerygmatische Christus" in dieser Korrelation eine mythische Gestalt. Ebenso sollte man auch vorsichtig sein, den "Christus des Glaubens" dem "historischen Jesus" zu konfrontieren, weil die vorausgesetzte Identität des geglaubten Christus mit dem irdischen Jesus hierbei nicht genügend zum Ausdruck kommt. Vgl. G. Delling, Der "historische Jesus" und der "kerygmatische Christus", in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum (Ges. Aufs.) (Göttingen Berlin 1970) 176-202.
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in der exegetischen Forschung unter allen Umständen aufgreifen 137. Dann vermeiden wir, vom "historischen Jesus" dort zu reden, wo wir den irdischen Jesus der urchristlichen Verkündigung meinen, und können zugleich deutlich machen, daß es uns in unterschiedlicher Weise um ein und denselben Jesus der vor österlichen Zeit geht. Wir bringen dann Einheit und Verschiedenheit unserer Fragestellung mit der urchristlichen zum Ausdruck, sofern es uns um den gleichen "Gegenstand", aber um eine von modernen Voraussetzungen abhängige Art der "Betrachtung" geht. Walter Schmithals hat in einer Auseinandersetzung über das Problem des historischen Jesus mit Recht hervorgehoben, daß es sich bei dem "historischen Jesus" ebenso wie bei dem "biblischen Christus" um einen "dogmatischen Jesus" handle 138. Er stellt dies fest aufgrund der modernen Prämissen, die bei der historischen Jesusfrage im Spiele sind. Lassen wir die Konsequenzen, die er zieht, an dieser Stelle beiseite, wichtig ist, daß der Begriff "historischer Jesus" zumindest nicht mehr unreflektiert verwendet werden sollte. Besser wäre es, wir würden auf ihn ganz verzichten, um einerseits vom "vorösterlichen" bzw. vom "irdischen Jesus" zu sprechen und um andererseits unser modernes exegetisches Bemühen als "historische Jesusfrage" zu bezeichnen. 3. Das urchristliche Interesse an der Geschichte Jesu
Die entscheidende Aufgabe, vor die die Exegese angesichts der historischen J esusfrage gestellt ist, beruht darin, das Verhältnis von vorösterlichem Jesus und Christusverkündigung der Urgemeinde sachgemäß zu bestimmen. Genauer: es muß untersucht und aufgezeigt werden, wie es überhaupt zu jener Bindung an den "Felsen der Kirchenlehre", das urchristliche Kerygma und das spätere Dogma, gekommen ist und welche Bedeutung dieses Zusammenwachsen hat. Gerade an diesem Punkt können wir mit Hilfe der historischen Kritik wichtige Einsichten erwarten. Von hier aus wäre dann auch eine Antwort auf die Frage nach der theologischen Relevanz der historischen Jesusfrage zu suchen. Slenczka, Geschichtlichkeit, 22ff 138ff. W. Schmithals, Antwort an Theodor Lorenzmeier, in: ders., Jesus Christus in der Verkündigung der Kirche (Ges. Aufs.) (Neu kirchen - Vluyn 1972) 80-90, dort 82 (ursprünglich in: EvKomm 3 [1970] 296ff). 137
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Wir müssen uns allerdings im klaren sein, daß wir mit der Rekonstruktion der vorösterlichen Geschichte J esu einen "Schritt zurück" vollziehen, den die Urchristenheit so nicht kennt, und zwar deshalb nicht, weil es ihr nicht um einen Schritt in die Vergangenheit, vielmehr um den entscheidenden Schritt vom irdischen Jesus zum auferstandenen Jesus, also um den "Schritt nach vorn", geht. Das heißt nun aber nicht, daß es im Neuen Testament keinerlei Interesse an der Geschichte Jesu gäbe. Vollzieht das Neue Testament nicht einen "Schritt zurück" in die vorösterliche Situation, um dabei zumindest zeitweise von allen folgenden Ereignissen abzusehen, so kennt es doch einen "Blick zurück" vom erhöhten zum irdischen Jesus. Das darin zum Ausdruck kommende Interesse an der Geschichte Jesu müssen wir kurz verdeutlichen, bevor wir auf die Frage nach der Relevanz unserer historischen Bemühungen um den vorösterlichen Jesus eine Antwort geben können. "Das Neue Testament bezeugt die Einheit von Jesus und Christus. Es trennt nicht den verkündigenden Jesus von dem verkündigten Christus, sondern bindet die Verkündigung J esu Christi an die Geschichte seines irdischen Lebens. Darum gehören die Geschichte und die Verkündigung Jesu Christi zusammen." Das ist der Leitgedanke des neuen Jesusbuches von Heinrich Zimmermann, das demzufolge mehr eine Christologie als eine Rückfrage nach Jesus ist 139 . Lassen wir hier einmal die Frage beiseite, wieweit der Verfasser damit den Problemen historischer Analyse, deren er sich zur Untersuchung des urchristlichen Kerygmas doch auch in reichem Maße bedient, voll gerecht wird. In jedem Falle sucht er im Sinne des Neuen Testaments zutreffend den Ausgangspunkt bei dem urchristlichen Bekenntnis und der darin zum Ausdruck kommenden Bindung des christlichen Glaubens an die Person Jesu 140 . a) Beim Bekenntnis kann kein Zweifel bestehen, daß der primäre Aspekt die Gegenwart des auferstandenen und erhöhten Herrn ist, ohne daß dabei die irdische Geschichte J esu aus dem Blick gerät. Der Unterschied zwischen der in den neutestamentlichen Briefen vorherrschenden Bekenntnistradition und der eigentlichen J esusüberlieferung darf, wie wir gesehen haben, nicht übertrieben werden. Beide Arten 139 140
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H. Zimmermann, Jesus Christus. Geschichte und Verkündigung (Stuttgart 1973) 9. VgI. auch seine Ausführungen a. a. O. 100 ff.
der Christusverkündigung haben nicht nur eine einzige Mitte 141, sie haben auch ein gemeinsames Interesse, das grundlegend darin besteht, die Identität des irdischen und auferstandenen Jesus festzuhalten 142. Darum gibt es für die Bekenntnistradition auch ganz bestimmte Haftpunkte in der vorösterlichen Geschichte Jesu, die regelmäßig wiederkehren: seine Sendung, seine Menschwerdung, sein Sterben 143. Hiermit soll die gesamte irdische Existenz umschlossen werden. Die Jesusüberlieferung hat demgegenüber ihre Eigenart darin, daß sie konkrete Einzelberichte über den irdischen Jesus bringt. Insofern kann man mit einem gewissen Recht sagen, daß die J esusüberlieferung im Unterschied zur Bekenntnistradition nicht nur an dem "Daß", sondern auch an dem "Wie" der irdischen Geschichte Jesu interessiert sei, aber sie tut es, um ebenfalls im Rahmen der Christusverkündigung die gegenwärtige Bedeutung dieser Geschichte zu verdeutlichen 144. b) Neben der Identität der Person des irdischen und erhöhten J esus spielt die Kontinuität eine wesentliche Rolle. An dieser Stelle hat es viel unnötigen Streit gegeben, indem die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität allzu undiHerenziert erörtert worden ist. Ein Problem für sich, auf das wir früher schon eingegangen sind, ist die Traditionskontinuität, die zweifellos besteht, sich aber auch nicht ohne jeden Bruch vollzogen hat. Etwas anders steht es mit der Kontinuität im sachlichen Sinne. Daß hier Kontinuität besteht, ist für das neutestamentliche Zeugnis von grundlegender Bedeutung. Allerdings wird ebenso deutlich die tiefe Zäsur markiert, die mit Jesu Tod gegeben ist. Es geht somit hier nicht um eine innerweltliche Kontinuität, sondern um eine von Gott durch das Auferweckungshandeln neugeschaffene Kontinuität, die nicht den irdisch-geschichtlichen Bedingungen unterliegt 145 . 141 So Zimmermann, a.a.O. 70ff. 142 Vgl. oben S. 18 23ff 30f. 143 So z. B. Gal 4,4; Röm 1,3f; Röm 3, 24-26. 144 Vgl. hierzu E. Käsemann, Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II (Göttingen 41965) 31-68, bes. 49ff; E. Schweizer, Die Frage nach dem historischen Jesus, in: EvTh 24 (1964) 403-419, dort 410ff 417ff. 145 Zu diesem Problem sei verwiesen auf Käsemann, Sackgassen, 45f; Ebeling, Frage nach dem historischen Jesus, 312ff; Perrin, Was lehrte Jesus, 272ff 290; ferner auf E. Heitsch, Die Aporie des historischen Jesus als Problem theologischer Hermeneutik, in: ZThK 53 (1956) 192-210, dort 196ff 202ff.
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c) Neben der Identität der Person und der im Handeln Gottes gegebenen Kontinuität ist das urchristliche Interesse an der Geschichte des irdischen Jesus vor allem dadurch gekennzeichnet, daß deren Einmaligkeit festgehalten werden soll, und zwar im Sinne des Ein-fürallemal 146. Die Geschichte Jesu ist der bleibende Bezugspunkt der christlichen Verkündigung und des christlichen Glaubens. Angesichts der Kontingenz des Erdenlebens Jesu wird von Käsemann dabei zutreffend von der Kondeszendenz und dem bewußten Hinweis auf die Unverfügbarkeit und das extra nos des Heils gesprochen 147. d) Alle anderen Aspekte, die für ein spezielles Interesse der Urchristenheit an der Geschichte Jesu herausgestellt wurden, sind gegenüber diesen drei Grundmotiven sekundär. Das gilt für die antienthusiastische und die antidoketische Tendenz, die sich an einigen Stellen des Neuen Testaments erkennen lassen 148, wie auch für die zunehmende paränetische Verwendung der Jesusüberlieferung 149 . Es handelt sich gleichsam nur um Anwendungen und aktuelle Zuspitzungen jener Grundmotive. Das Gesagte gilt darüber hinaus aber auch gegenüber der Behauptung, im Neuen Testament lasse sich bereits ein eigentlich "historisches" Interesse nachweisen 150. Denn einerseits kann das mit einem gewissen Recht nur von Lukas gesagt werden, nicht dagegen von den anderen Evangelien oder gar von der Evangelientradition, andererseits ist auch das "historische" Interesse des Lukas nicht ohne weiteres mit unserem historischen Denken und Fragen vergleichbar, ließ sich daher in einem ganz anderen Maße in die bekenntnismäßigen Voraussetzungen integrieren. Man verbaut sich den Zugang zu dem 146 Vgl. Bornkamm, Jesus von Nazareth, 19f. 147 Käsemann, Problem des historischen Jesus, 200ff. 148 Käsemann, Sackgassen, 52ff 57. 149 Dibelius, Formgeschichte, 234ff. 150 Vgl. H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (BHTh 17) (Tübingen 51964) 4ff; G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchungen zur Theologie des Matthäus (FRLANT 82) (Göttingen 31971); ders., Problematik der Jesusfrage, 472ff; R. Walker, Die Heilsgeschichte im ersten Evangelium (FRLANT 91) (Göttin gen 1967) 145 ff; J. Roloff, Das Markusevangelium als Geschichtsdarstellung, in: EvTh29 (1969) 73-93; ders., Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien (Göttingen 1970) 40ff 47f. In dem letztgenannten Buch wird die Historisierung als "ein die Traditionsbildung wesentlich bestimmender Faktor von Anfang an" bezeichnet; vgl. meine Bemerkungen dazu in: Methodenprobleme einer Christologie des Neuen Testaments, in: VF 2 (1970) 3-41, dort 8, Anm. 14.
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speziellen Interesse an der Geschichte J esu innerhalb der urchristlichen überlieferung, wenn man hier mit unseren modernen Vorstellungen und Begriffen arbeitet. Alles Interesse am irdischen Jesus, das uns im Neuen Testament in sehr verschiedenen Spielarten begegnet, ist eingebettet in das Grundanliegen des Bekenntnisses und der Verkündigung. Läßt sich nun über das Verhältnis von Kerygma und Geschichte J esu noch etwas Genaueres sagen? Die Frage spitzt sich auf das in der neueren Diskussion mehrfach erörterte Problem zu, ob und inwieweit die Geschichte Jesu Sachkriterium für die nachösterliche Verkündigung sein könne 151. Sie ist es zumindest nicht einseitig, so daß das urchristliche Kerygma ausschließlich an Gegebenheiten der Geschichte Jesu gemessen werden müßte. Sie ist es aber insofern, als es christliche Verkündigung ohne den "Blick zurück" auf den irdischen Jesus tatsächlich nicht geben kann. Dort, wo feststeht, und für das Urchristentum stand das außer Frage, daß es entscheidend um den Jesus geht, der als der gegenwärtige Herr verkündigt wird, kann auf eine Bezugnahme auf seine irdische Existenz nicht verzichtet werden, weil er gerade in seiner von der Auferstehung her in ihrer Bedeutung erkennbar gewordenen Geschichte Grund und Inhalt des Glaubens ist 152 . 4. Die Rückfrage nach Jesus im Zusammenhang des urchristlichen Rezeptionsprozesses
Von den gewonnenen Beobachtungen aus läßt sich die Frage nach der theologischen Relevanz der historischen Jesusfrage wieder aufgreifen. a) Was bedeutet es angesichts des sehr spezifischen, an das Kerygma gebundenen Interesses an Jesu Geschichte, wenn wir den "Schritt zurück" vollziehen und das vorösterliche Wirken Jesu historisch rekonstruieren? Wird dieser "Schritt zurück" durchgeführt, dann kann er, vom N euen Testament her geurteilt, offensichtlich nur dann sinnvoll Vgl. z. B. K. Kertelge, Der geschichtliche Jesus und das Christusbekenntnis der Gemeinde, in: Bibel und Leben 13 (1972) 77-88, dort 81: Der Christusglaube der Kirche bedarf "der Sachkritik, d. h., durch seine Formelhaftigkeit hindurch hat sich zu erweisen, daß er am Sachverhalt der Geschichte Jesu orientiert ist"; allerdings wird gleichzeitig festgestellt, daß wir die "Frage, wer Jesus war", nicht trennen dürfen "von der anderen, wer J esus (für uns) ist". 152 Vgl. dazu G. Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens (Tübingen 1959) 66ff 151
83ff.
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und theologisch legitim sein, wenn er nicht für sich steht, sondern wenn es dabei wiederum zu jenem anderen, vorwärts gerichteten Schritt kommt, der auf Ostern und die bleibende Gegenwart des Heils ausgerichtet ist. Das bedeutet, daß wir auf dem Wege einer kritischen Analyse aufzuspüren haben, wie die von uns eruierte eigene Botschaft J esu in das Zeugnis seiner Jünger und der frühen Gemeinde einbezogen worden ist. Gerade an dieser Stelle fällt der historischen Jesusfrage eine eminente Aufgabe zu, die bisher in ihrer speziellen Bedeutung noch kaum gesehen ist. Denn aufgrund unserer neuzeitlichen Denkvoraussetzungen und Methoden sind wir in der Lage, uns diesen ganzen Rezeptionsprozeß im einzelnen vor Augen zu führen 153. So versetzt uns die moderne wissenschaftliche Exegese in die Lage, einen genuin biblischen Sachverhalt neu zu erfassen. Wir sind nicht mehr darauf angewiesen, nur das Endergebnis dieser urchristlichen Rezeption der Jesusüberlieferung in seinen verschiedenen Spielarten zu konstatieren, sondern es gelingt uns, auch das Zustandekommen dieser Rezeption im einzelnen aufzuzeigen. Hier müßte es uns dann tatsächlich möglich sein, gegebene Antworten nicht nur besser zu begreifen, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden ursprünglichen Fragen zu erkennen. Wird die Rückfrage nach Jesus so angegangen, dann kann ihre theologische Legitimität nicht mehr in Zweifel gezogen werden. b) Wenn wir in dieser Weise die historische J esusfrage stellen, lassen sich mehrere Sachverhalte, die im Zusammenhang mit der vorösterlichen Geschichte Jesu zu beobachten sind, sehr viel leichter einordnen. Es wird beispielsweise häufig darauf hingewiesen, daß ich dort ganz sicher nicht einer Botschaft oder Gestalt begegne, die sich leichter verrechnen oder modernisieren ließe, sofern ich Heilsansage und Sendungs anspruch Jesu wirklich ernst nehme 154. Der Ruf zu Glaube und Nachfolge ist mir in J esu ursprünglicher Botschaft, wenn auch in einer für mich vergangenen Situation, genauso gestellt wie bei der Verkündigung der nachösterlichen Zeit. Was die nachösterliche J esusüberlieferung demgegenüber zum Ausdruck bringt, ist der bleibende Gegenwartsbezug. 153 Auf die Notwendigkeit dieser Fragestellung habe ich bereits in VF 2/1970, 8f, hingewiesen; außerdem TrThZ 82 (1973) 202ff. 154 Vgl. dazu Robinson, Kerygma und historischer Jesus, 94ff, oder Blank, Jesus von Nazareth, 77ff.
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Jesu Botschaft selbst ist zudem Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft. Sie verweist ihrerseits bereits auf Zukunft und Vollendung, zugleich aber auch auf je neue Gegenwart. Wird diese vorausweisende Funktion seiner Verkündigung erkannt, dann wird man sich hüten müssen, sie einfach zu historisieren 155. Das heißt aber, daß man die rekonstruierte Geschichte J esu wegen ihres eigenen Spezifikums unter keinen Umständen isolieren und verselbständigen darf. Hinzu kommt, daß Jesu eigene Geschichte weitergegangen ist. Nicht nur die "Sache Jesu" geht nach seinem Tode weiter, seine Auferweckung gehört mit hinzu und darf aus der Relation zu seinem irdischen Wirken nicht gelöst werden 156. Sicher ist das Ostergeschehen nicht unmittelbarer Gegenstand der historischen J esusfrage, wohl aber betrifft es den Rezeptionsprozeß und das urchristliche Kerygma, das ich seinerseits mit Hilfe einer traditions geschichtlichen Analyse untersuchen und auf seine Grundaussagen befragen muß. Dabei werde ich das Zeugnis von der Auferweckung Jesu ebensowenig wie seine Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft historisch verifizieren können, da es hierbei um Sachverhalte geht, die unmittelbar den Glauben betreffen. Neben der Auferweckung Jesu ist im Zusammenhang des urchristlichen Kerygmas auch der Hinweis auf das Wirken des Geistes zu beachten, der mit Jesu Erhöhung in enge Verbindung gebracht wurde. Nicht umsonst haben die urchristlichen Zeugen das Osterereignis und das Pfingstgeschehen als eine Bestätigung für die weitergehende Realisierung der von J esus angekündigten Gottesherrschaft angesehen 157. Zugleich war es angesichts dieser Ereignisse für sie unerläßlich, Jesus selbst zum entscheidenden Inhalt ihrer Verkündigung zu machen. In dem Bemühen, dies alles im Zusammenhang des Rezeptionsprozesses zu behandeln, wird die historische Rückfrage nach Jesus in keiner Weise verkürzt werden müssen, sie wird aber eine Ausrichtung erhalten, die nicht nur dem Neuen Testament gemäß ist, sondern auch 155 Auch das Problem der Naherwartung und Parusieverzögerung darf hierbei nicht überbewertet werden. Vgl. zuletzt E. Gräßer, Die Naherwartung Jesu (SBS 61) (Stuttgart 1973) bes. 123f 138f. 156 F. Mußner, Die "Sache Jesu", in: Catholica 25 (1971) 81-89, hat natürlich recht, daß es auch eine "Sache Jesu Christi" nach Ostern gibt; aber es ist zu fragen, ob man den problematischen Begriff in diesem Sinn überhaupt ausweiten soll. 15? Vgl. 1 Kor 15,20ff; Apg 2,22ff 32ff.
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viele Gegebenheiten der Geschichte Jesu deutlicher sehen läßt. Es ist nicht zu Unrecht von Wolfgang Trilling darauf hingewiesen worden, daß eine "eigentümliche Offenheit" die Geschichte Jesu durchzieht, die auch bei einer historischen Rückfrage nicht verborgen bleibt 158. Aber erst vom Osterglauben her findet diese Offenheit ihre Erklärung, weswegen Trilling dann auch sagen kann, der "wahre und eindeutige Jesus" sei allein der des Kerygmas 159. 5. Konsequenzen für eine neutestamentliche Theologie
Die vor Jahren aufgebrochene und immer noch unabgeschlossene Diskussion, ob die Rekonstruktion der Botschaft und Geschichte Jesu Bestandteil einer neutestamentlichen und damit überhaupt einer christlichen Theologie sein könne, läßt sich vermutlich aufgrund der bisherigen überlegungen neu aufgreifen und weiterführen. Bekanntlich hat Rudolf Bultmann mit aller Entschiedenheit die Nichtzugehörigkeit des "historischen Jesus" zur neutestamentlichen Theologie vertreten 160. Bei seiner These, daß die Verkündigung Jesu lediglich zu den "Voraussetzungen" gehöre, will beachtet sein, daß auch das "Kerygma der Urgemeinde" und das "Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus" für ihn unter die" Voraussetzungen und Motive einer neutestamentlichen Theologie" fallen. Immerhin kann der sachliche Unterschied nicht übersehen werden, der darin besteht, daß Jesu Entscheidungsruf zwar eine Christologie "impliziert", daß aber erst im Lichte des Osterglaubens "Jesu Gekommensein selbst das entscheidende Ereignis" wurde, das christlichen Glauben begründet und auszeichnet 161, also auch Gegenstand einer Theologie sein kann, obwohl erst bei Paulus und Johannes eine durchreflektierte theologische Konzeption begegnet. Die vorangestellte Darstellung der Verkündigung Jesu hat dagegen für Bultmann lediglich einen vorbereitenden Charakter. 158 W. Trilling, Fragen zur Geschichclichkeit Jesu (Düsseldorf 1966) 161ff 164ff; er sagt weiter: "Diese Offenheit deutet positiv ... auf ein Geheimnis hin ... Dieses zentrale Geheimnis ist die Person Jesu selbst." Auch L. Goppelt, Der verborgene Messias, in: ders., Christologie und Ethik (Ges. Aufs.) (Göttingen 1968) 11-26, spricht in diesem Zusammenhang von dem Geheimnis der Geschichte Jesu, doch versucht er es in Jesu Selbstbewußtsein zu verankern, womit er die Quellen überfordert. 159 Trilling, Fragen, 18. 160 Bultmann, Theologie, Hf. 161 A. a. O. 44f.
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Demgegenüber hat Joachim Jeremias schon immer den Rückgang zur ipsissima vox im streng sachlichen Sinne gefordert. Denn: "Niemand als der Menschensohn selbst und Sein Wort kann unserer Verkündigung Vollmacht geben." 162 Außerdem verweist das Kerygma, die Christusverkündigung der Urgemeinde, nach seiner Auffassung "auf Schritt und Tritt über sich selbst zurück", und "stets liegen die Anfänge in der Verkündigung Jesu"163. Deshalb ist der "historische Jesus", wie er von uns erforscht werden kann, erstes und wesentliches Thema einer Theologie. Er selbst hat daher den ganzen ersten Band seiner neutestamentlichen Theologie diesem Gegenstand gewidmet 164. Abgesehen davon, daß er überzeugt ist, mit Hilfe der modernen Forschung zu einem zuverlässigen Ergebnis zu kommen 165, sind seine beiden Hauptthesen: Wir stoßen "beim Bemühen um den historischen J esus immer auf ein Letztes: Wir werden vor Gott selbst gestellt", und: "Das Evangelium Jesu und das Kerygma der Urkirche ... verhalten sich zueinander wie Ruf und Antwort." 166 Extremer können die Positionen dort, wo ein Interesse an einer neutestamentlichen Theologie im ganzen besteht und nicht nur eine Reduktion auf den vorösterlichen Jesus beabsichtigt ist, kaum vertreten werden. Ohne im einzelnen auf die beiden Entwürfe näher eingehen zu können, ist gegenüber Jeremias zu sagen, daß er mit seinem Schema von "Ruf und Antwort" dem komplizierten Verhältnis von Botschaft J esu und urchristlicher Verkündigung nicht gerecht wird, da ja gerade das Kerygma zum entscheidenden "Ruf" geworden ist. Außerdem handelt es sich bei seinem Hinweis darauf, daß wir "vor Gott gestellt werden", um einen jener charakteristischen Züge des Auftretens J esu, der über die konkrete geschichtliche Situation seiner
162 So schon inJeremias, Gleichnisse Jesu (Göttingen 21952) 3; ebenso 81970, 5. Hierbei ist zu beachten, daß der Begriff ipsissima vox Jesu nicht nur die historische Ursprünglichkeit bezeichnet, sondern das Sachkriterium für alle christliche Verkündigung und Theologie ist. 163 J.Jeremias, Das Problem des historischen Jesus (Calwer Hefte 32) (Stuttgart 1960) 14 15 (hiernach zitiert, der Aufsatz wurde mehrfach veröffentlicht). 164 Jeremias, Theologie 1. Da der Verfasser hier auf die Grundsatzprobleme nicht eingeht, muß in jedem Fall die in Anm. 163 genannte Schrift mitberücksichtigt werden. 165 Jeremias, Problem, 16ff. Dazu 15: "Die Inkarnation schließt es in sich, daß die Geschichte J esu nicht nur offen ist für geschichtliche Untersuchungen, für historische Forschung und Kritik, sondern all das fordert." 166 A.a.O. 21 22f.
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Geschichte hinausweist 167. Umgekehrt ist Bultmann kaum zuzustimmen, wenn er die Verkündigung Jesu völlig aus der neutestamentlichen Theologie ausscheiden will. Zwar hat eine isolierte Darstellung der Geschichte Jesu, soweit wir zu ihrer Rekonstruktion noch in der Lage sind, keine theologische Relevanz, doch ist zu überlegen, ob nicht gerade jener urchristliche Rezeptionsvorgang innerhalb einer neutestamentlichen Theologie darzustellen wäre. Hans Conzelmann hat einen interessanten Versuch unternommen, die Konzeption Bultmanns zu modifizieren. Er vertritt zwar ebenfalls die These, daß der "historische J esus" "kein Thema der neutestamentlichen Theologie ist" 168, entfaltet aber anders als Buhmann das "synoptische Kerygma" 169, d.h., er bringt die Rezeption der Jesusüberlieferung in ihrem redaktionsgeschichtlichen Endstadium zur Darstellung. Man wird fragen müssen, ob er dabei konsequent genug vorgegangen ist, denn auf weite Strecken entspricht dieses Kapitel dem, was bei Bultmann unter den "Voraussetzungen" behandelt wird; er umreißt hier, von dem der Theologie der Synoptiker gewidmeten Schlußabschnitt abgesehen, den Hauptinhalt der vorösterlichen Verkündigung Jesu. Wichtiger ist mir ein anderer Einwand: Wenn man schon die Jesusüberlieferung in ihrer redaktionellen synoptischen Gestalt aufnimmt, dann muß der Rezeptionsprozeß auch auf allen anderen Stufen der urchristlichen Tradition berücksichtigt werden. Das Gesagte hat zur Folge, daß, ausgehend von einer Skizze der mit der Rückfrage nach Jesus verbundenen Sachprobleme, der gesamte übergang vom vorösterlichen Jesus zur Verkündigung der Urgemeinde und die Einbeziehung seiner irdischen Geschichte in das apostolische Zeugnis zu behandeln ist. Hier muß Ernst damit gemacht werden, daß die isolierte Darstellung der vorösterlichen Geschichte Jesu, und mag sie historisch noch so interessant sein, für sich allein keine theologische Funktion hat. Denn der lebendige, gegenwärtige Christus ist es, der geglaubt und von der ältesten Christenheit bezeugt wird, daher zum eigentlichen Ausgangspunkt einer neutestamentlichen Theologie zu machen ist. Das hebt die Frage nach der Entstehung dieser urchristlichen Botschaft nicht auf. Um den Prozeß der Rezep167 168
Hierzu vgl. im übrigen Käsemann, Sackgassen, 32ff. H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments (München 21968)
16. 169
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A. a. O. 113ff.
tion nachzuvollziehen und theologisch zu reflektieren, dürfen, ja müssen wir die historische J esusfrage stellen. Das tun wir dann auch nicht bloß um der intellektuellen Redlichkeit willen, weil uns diese Art des Fragens in unserer Gegenwart aufgenötigt wird, sondern weil wir auf diesem Wege durchaus an die Sachprobleme selbst herankommen können. Die Rückfrage lautet dann aber nicht oder zumindest nicht einseitig: Was kann ich alles von dem vorösterlichen Jesus unter völliger Ausklammerung der nachösterlichen Tradition und Geschichte feststellen? Sondern sie lautet: Wie ist das, was ich mit guten Gründen noch als ursprünglichen Bestand erkennen und abheben kann, in die urchristliche Verkündigung eingegangen, und warum ist das geschehen? Für die Gesamtdarstellung einer neutestamentlichen Theologie ist damit ein weites Aufgabenfeld abgesteckt, aber aus der früher erwähnten Sackgasse bei der historischen Jesusfrage dürften wir m. E. auf diesem Wege herauskommen.
6. Ergebnisse
"Wer ist dieser?" Diese Frage, die das Volk beim Auftreten Jesu und die seine Jünger stellten, läßt die Menschen seit den Tagen seines Erdenwirkens nicht los. Wir sind in unserem Glauben und unserem theologischen Nachdenken immer wieder vor diese eine und entscheidende Frage gestellt. Aber wir können sie nicht beantworten, wenn wir meinen, den irdischen J esus aus seiner Bindung an die urchristliche Botschaft lösen zu können. Der Versuch einer Klärung der theologischen Relevanz der historischen Jesusfrage hat eine Reihe von Ergebnissen erbracht, die nochmals kurz verdeutlicht werden sollen: a) Bei jeder Rückfrage nach Jesus wird man sich darüber im klaren sein müssen, daß dogmatische Implikationen zur Auswirkung kommen, weswegen die Art und Zielsetzung der Rückfrage sehr genau bedacht sein will. Die Gefahr, sich von modernen geistes geschichtlichen Prämissen leiten zu lassen, ist groß, aber auch die Problematik der historisch-kritischen Methode selbst darf nicht übersehen werden. Es gilt, einen genuin theologischen Ansatz zu finden und die immanente Tendenz der Methode nach Möglichkeit auszuschalten. 73
b) Als Kernproblem für eine theologisch legitime Fragestellung hat sich die Verhältnisbestimmung zwischen vorösterlicher Geschichte Jesu und nachösterlichem Kerygma ergeben. Dabei müssen wir uns allerdings klarmachen, daß unsere historische Jesusfrage nicht einfach identisch ist mit dem Interesse der urchristlichen Verkündigung an Jesu vorösterlichem Wirken. Dort geht es nicht um den "historischen", vom bsterzeugnis abgelösten Jesus, sondern um den "irdischen Jesus" in seiner Einheit mit dem auferstandenen und erhöhten Herrn. Daraus folgt zunächst einmal, daß wir nicht die urchristliche Bezugnahme auf die Geschichte Jesu mit unserem Problem gleichsetzen dürfen, wie das immer wieder geschieht. Im übrigen sollte sich dieser Sachverhalt auch in einer präziseren Terminologie niederschlagen. Wir dürfen ja die Eigenart unserer historischen Jesusfrage nicht übersehen, was umgekehrt zur Folge hat, daß wir uns nach ihrer speziellen Funktion im Rahmen einer Verhältnisbestimmung von vorösterlichem Jesus und nachösterlichem Kerygma zu bemühen haben. Wir brauchen allerdings, wenn wir uns auf die Einheit von verkündigendem und verkündigtem Jesus berufen, keineswegs auf die Rückfrage zu verzichten 170. Mag der Glaube, wie Nils Alstrup Dahl formuliert hat, an der historischen Jesusforschung "relativ uninteressiert" sein, so heißt das nicht, "daß er daran absolut uninteressiert wäre" 171. Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Rückfrage die Rezeption der J esusüberlieferung in das Kerygma zu erhellen. c) Liegt an dieser Stelle die theologische Relevanz der historischen Rückfrage, dann ist weiter zu klären, welche sachliche Tragweite die Untersuchung des Rezeptionsvorganges haben kann. Zunächst ist dabei zu berücksichtigen, daß die Urgemeinde die bleibende Gegenwärtigkeit des Heils nicht anders verkündigen konnte als durch die christologische Neuinterpretation der Botschaft Jesu. Sie hat diese Neuinterpretation aber sehr bewußt nicht neben die Verkündigung Jesu gestellt, sondern die Jesusüberlieferung umgestaltet. Sie hat daher keinen protokollarischen Bericht über die vorösterliche Zeit gegeben, aber sie hat in sachlicher Hinsicht gerade so die Identität gewahrt. Denn sie konnte die Identität nur festhalten, indem sie das Heil in dem bleibenden Gegenwartsbezug interpretierte, wodurch es davor be170 171
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Gegen Zimmermann, Jesus Christus, 9 u.ö. Dahl, Der historische Jesus, 124.
wahrt blieb, als eine Episode angesehen zu werden, die auf das irdische Leben Jesu beschränkt war. War nämlich der Anbruch des Heils an Jesu Person gebunden, dann hing alles davon ab, ob zu dieser Person Jesu ein für jede Zeit möglicher und unmittelbarer Zugang besteht. Das Auferstehungsgeschehen hatte die Zeugen nach der Nacht des Karfreitag gewiß gemacht, daß es diese bleibende Heilsgegenwart gibt. d) Eine Untersuchung der urchristlichen Rezeption der Jesusüberlieferung kann aber, wenn die Priorität der im Ostergeschehen begründeten Gegenwärtigkeit gesehen wird, auch dazu führen, daß geklärt wird, wieweit das Kerygma in der vorösterlichen Geschichte J esu ein "inneres, sachlich bedeutsames Kriterium" besitzt 172. Bei einer solchen, durchaus berechtigten "Sachkritik" ist jedoch deswegen äußerste Vorsicht geboten, weil ja nicht unsere historische Erkenntnis zum Maßstab des Kerygmas werden darf, sondern weil stets nach dem Sachbezug zwischen Kerygma und Geschichte J esu gefragt werden muß und weil allein aus dieser Relation heraus jenes innere Kriterium gefunden werden kann, das mit dem irdischen Jesus für das Kerygma gegeben ist. Das hebt ein kritisches Hinterfragen des Kerygmas nicht auf, aber wir müssen aus dem spezifischen Ansatz der urchristlichen Verkündigung heraus nach der Geschichte Jesu als ihrem Sachkriterium fragen und können so allein zu einem echten Maßstab kommen. In der Theologie stehen wir somit vor der Aufgabe, gerade diesen inneren Zusammenhang zwischen dem vorösterlichen Jesus und der nachösterlichen Verkündigung aufzuzeigen, und nur in diesem Rahmen läßt sich die historische Rückfrage angemessen durchführen 173. 172 So Blank, J esus von N azareth, 6: Der Rückverweis auf die Person J esu ist konstitutiv für das urchristliche Traditionsverständnis. Ich habe allerdings Bedenken, wenn er S. 5 formuliert, es sei ein "theologisch authentisches Anliegen", "über die historischen Voraussetzungen des christlichen Glaubens" zuverlässige Auskunft zu gewinnen, weil hier der Rückbezug leicht in einem falschen Sinne der historischen Stützung des Glaubens verstanden werden kann. Derartige Bestrebungen hat es allerdings im evangelischen wie im katholischen Bereich gegeben. Evangelischerseits war es vor allem das Bemühen, die Objektivität der "Heilstatsachen" herauszustellen; vgl. die Zusammenfassung und Kritik bei F. Gogarten, Entmythologisierung und Kirche (Stuttgart 41966) 34ff. Katholischerseits ist auf die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildete Form der Fundamentaltheologie zu verweisen; dazu J. Schmitz, Die Fundamentaltheologie im 20. Jahrhundert, in: Bilanz der Theologie (hrsg. von H. Vorgrimler - R. Vander Gucht) II (Freiburg i. Br. 21970) 197-245, bes. 200ff. 173 Vgl. dazu den Schlußteil des Buches von Slenczka, Geschichtlichkeit, 303ff, der in diesem Zusammenhang die Frage des Personseins Jesu Christi und der personalen Kontinuität erörtert.
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Erlauben Sie mir bitte noch ein paar Worte zum Schluß. Bei der Diskussion über den vorösterlichen Jesus hat man es bisweilen schwer, zu begreifen, daß von einer Gestalt, wie sie mit Hilfe der kritischen Forschung rekonstruiert wird, eine Bewegung wie das Christentum hat ausgehen können. Offensichtlich stimmt dann doch irgend etwas mit der Art der Textbehandlung und der Rekonstruktion nicht. Wir haben allen Grund, hierüber nachzudenken. Zur Wiederentdeckung des vorösterlichen Jesus gehören, wenn ich recht sehe, vier Dinge zugleich: Einmal eine minutiöse wissenschaftliche Forschung, die sich um die Analyse, Einordnung und Auswertung des erhaltenen Traditionsgutes bemüht. Bei dem Versuch einer Rekonstruktion des Gesamtbildes ist sodann eine Tugend erforderlich, die jeder gute Historiker haben sollte: das intuitive Gespür für Größe und Wirkungsmächtigkeit einer geschichtlichen Gestalt 174 . Dazu kommt ferner bei biblischen Texten die Notwendigkeit einer Einsicht in die genuin theologische Fragestellung. Bei der Beurteilung des vorösterlichen Wirkens Jesu ist es erforderlich, den entscheidenden Bezugspunkt zu erkennen und eine sachgerechte Verhältnis bestimmung zwischen verkündigendem und verkündigtem Jesus zu finden. Nur so kann die seine eigene Zeit übergreifende Bedeutung J esu in einer angemessenen, auch für unsere Gegenwart gültigen Weise aufgezeigt werden 175. Schließlich ist in diesem Zusammenhang aber auch noch folgendes zu sagen: Ich kann den vorösterlichen J esus und die urchristliche Ver kündigung letztlich nicht verstehen, wenn ich von diesem Jesus, der der Christus und lebendige Herr ist, nicht im Glauben erfaßt bin. Wir sollten uns keineswegs scheuen, in unserer wissenschaftlichen Arbeit, ohne sie in ihrer Freiheit einzuschränken, diese Komponente an rechter Stelle zum Tragen zu bringen. Theologie ist 174 Bei manchem Jesusbuch muß man sich fragen, wie ein angeblich streng historisch wiederentdecktes, faktisch aber von modernen Voraussetzungen geleitetes J esusbild sich mit den damaligen Denk- und Verstehensvoraussetzungen verträgt, d.h., ob ein so verkündigender und handelnder Jesus den Menschen des 1. Jahrhunderts überhaupt verständlich gewesen sein kann. Auch gegenüber der Jesusdarstellung von H. Braun wird man diese Frage aufwerfen müssen. 175 Allein auf diesem Wege können die Erwartungen erfüllt werden, daß man durch die Rückfrage nach J esus zu einer Neukonzeption der Christologie vorstößt, um die altkirchlichen Dogmen, die wegen ihrer Denkvoraussetzungen für den heutigen Menschen schwer nachvollziehbar sind, neu verstehen zu lernen. Vgl. die Skizze von W. Kasper in: Neues Glaubensbuch. Der gemeinsame christliche Glaube (hrsg. von J. Feiner- L. Vischer) (Freiburg- Zürich 91973) 276ff.
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eine auf Glauben bezogene und der Glaubensgemeinschaft verpflichtete Aufgabe, die auf dem Wege der Reflexion zu einer gedanklichen Klärung über ihren Glaubensgrund und zu einer Näherbestimmung christlicher Existenz in der Welt gelangen will, daher auch unbeschadet ihrer speziellen Prämissen Wissenschaft bleibt, sofern sie ihren Sachbezug eindeutig definiert. Dieser Sachbezug wird vor vielem anderen in dem Ringen um überzeugende Aussagen über die bleibende Bedeutung der Geschichte und Person Jesu für das Heil der Menschen und der Welt zum Ausdruck kommen.
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Kriterien für die historische Beurteilung der Jesusüberlieferung in den Evangelien Von Fritzleo Lentzen-Deis, Frankfurt a. M.
Die Exegese ist eine praktische Wissenschaft. "Kriterien" für die historische Beurteilung der evangelischen Tradition über Jesus sind immer im Rahmen der konkreten exegetischen Arbeit aufgefaß t worden. Wer Listen solcher Kriterien aufstellte, beabsichtigte damit gewöhnlich nicht eine theoretische Methodenlehre, sondern fügte allgemeine Prinzipien zusammen mit konkreten Arbeitsanweisungen und auch inhaltlichen Merkmalen, welche aufgrund langjähriger Arbeit gewonnen worden waren. Die letzte, zugespitzte Frage nach der "Historizität", etwa in dem viel beschworenen Sinn dessen, "was wirklich geschah" 1, war schon seit langer Zeit nur als Teilaspekt der exegetischen Aufgabe im Blick. Deshalb ist sie innerlich mit den übrigen methodischen Fragen verflochten. Wer also über die Möglichkeiten zur Bestimmung der Historizität reflektiert, stellt überlegungen über die Methode der Auslegung des Textes überhaupt an. Es will nicht gelingen, eine Kriteriologie im Sinne eines in sich geschlossenen Instrumentariums für die Historizität auszusondern. Und doch sind seit alter Zeit Schemata und Aufstellungen von Grundsätzen und Arbeitshinweisen gegeben worden, seit dem Zeitalter des Historismus auch für die Erarbeitung der Historizität der Evangelien. Durch die neu aufgebrochene Methodenkritik und die Hilfestellung, die die Sprachwissenschaften der Literaturwissenschaft und Geschichtsforschung in neuer Weise heute bieten, sowie durch die hermeneutische Neubesinnung sind die bisher aufgestellten Kriterien fragwürdig geworden. Wir versuchen, die hier geforderte Besinnung ein wenig zu fördern, Zum BegriH des "Historischen" und "Geschichtlichen" vgl. besonders G. Bauer, "Geschichtlichkeit" - Wege und Irrwege eines BegriHes (Berlin 1963) (Lit.), und B. J. F. Lonergan, Method in Theology (London 1972) 175ff (8. Kap. "History"). Die hermeneutischen überlegungen führen ebenfalls zur Neudefinition. 1
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indem wir in einem 1. Teil die Kriterien summarisch ordnen und zusammenfassen, die in der Forschungsgeschichte bisher aufgestellt wurden. Um sie besser zu verstehen, ist ein überblick über ihre Entstehung notwendig. In Teil II beleuchten wir die Krise des "Historismus" in der "historisch-kritischen Methode", wenigstens durch die Konfrontation zweier Vorstellungsmodelle, deren Wandel nun die Kriterien auszuhöhlen scheint. Im Schluß teil seien einige Folgerungen gezogen.
1. BISHER AUFGESTELLTE KRITERIEN
DER HISTORIZITÄT
Heute mag ein Sprachwissenschaftler, der sich mit der Bibel beschäftigt, auf das Vorhaben, solche Kriterien aufzustellen, den Satz aus Mt 26, 73 anwenden: "Wahrlich, deine Sprache verrät dich", so veraltet und verstaubt könnten ihm die Formulierung und die Worte des uns aufgetragenen Titels erscheinen 2 • Tatsächlich muß das Unterfangen, Kriterien der Historizität zu formulieren, in einem größeren, geschichtlich gewachsenen Zusammenhang gesehen werden. Deshalb sei dieser geschichtliche überblick in einigen Grundzügen vorausgeschickt. Nur Teilgebiete aus der Geschichte der Exegese sind bisher auf die historische Fragestellung hin genauer untersucht worden. Auch wir können nur einige Grundlinien nachzeichnen 3 . Da es die historische L. Marin, Semiotique de la Passion, topiques et figures (Paris 1971) 169 ff, gründet allerdings auf diesen Vers sehr viel mehr für die Auslegung der Passion. 3 Die Schwierigkeiten einer sachgerechten Darstellung der Abkunft, Entstehung und Entwicklung der historisch-kritischen Untersuchung des Bibeltextes hat H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments (Neukirchen, 2., überarb., erw. Aufl. 1969) 1 ff (Einführung) dargelegt (vgl. auch § 5: Der Humanismus). Für die Exegese des NT siehe: W. G. Kümmel, Das Neue Testament, Geschichte der Erforschung seiner Probleme (Freiburg i. Br./München 21970) (Lit. zur Geschichte der ntl. Exegese S. 571-573). Vgl. ferner zum Verständnis der Gesamtentwicklung G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: Wort und Glaube (Tübingen 1960) 1-49; K. Schalder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert (FGLP X, 33) (München 1966) 8 ff; W. Jaest, F. Mußner, L. ScheJfczyk, A. Vögtle, U. Wilckens, Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift? (Regens burg 1966), darin bes. 85-133: U. Wilckens, über die Bedeutung historischer Kritik in der modernen Bibelexegese ; C. C. Andersan, Critical Quests of Jesus (Grand Rapids, Mich., 1969); R. Kaselleck, Kritik und Krise (Freiburg i. Br. 21969); G. Strecker, Die historische und theologische Bedeutung der Jesus2
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Untersuchungs absicht im modernen Sinn erst seit dem Historismus des 19. Jahrhunderts gibt, unterscheiden wir eine" Vorgeschichte" der Kriterien von ihrer eigentlichen "Geschichte". Trotzdem gehört die "Vorgeschichte" wesentlich zum Verständnis der Kriterien. Sie ist möglich, weil das Christentum als geschichtlich orientierte Offenbarungsreligion immer echtes Interesse an den Heilsereignissen des Lebens J esu hatte. Sie hebt vor allem einen Aspekt an den Aufstellungen von Kriterien ans Licht: ihre erstaunliche Kontinuität in den Grundzügen auch mit alter und ältester exegetischer Behandlung des Bibeltextes. Die hier aufweisbaren Konstanten in der Arbeitsanweisung - bei aller Verschiedenheit - sind ein erstes Ziel unseres geschichtlichen überblicks. Es sei betont, daß solche schematischen Zusammenstellungen nicht als "philologisch-technisches" Handwerkszeug abgetan werden dürfen. Der Verstehenshorizont, in den scheinbar technische Kriterien einbezogen sind, reicht immer weiter als in das bloß äußerlich "Handwerkliche" der Auslegungsarbeit. Ein zweites Ziel dieses geschichtlichen überblicks stellt die innere Verschiedenheit des geschichtlichen Bewußtseins, der Geschichtsanschauung und des philosophischen und weltanschaulichen Gesamtbildes dar, worin die Evangelienauslegung sich abspielte. Wir brauchen diese Verschiedenheit im einzelnen nicht auszuführen. Für unseren Zweck genügt es, jeweils darauf hinzuweisen, daß gewisse Schemata und Konstanten sich durchhalten und weiterentwickeln bei zugleich vorhandener Verschiedenheit und abwechselnder Mannigfaltigkeit des Verstehenshorizontes und seiner Bedingungen 4 . frage, in: EvTh 29 (1969) 453-476; J. Roioff, Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesuserzählungen der Evangelien (Göttingen 1970), bes. 9-50; K. Lehmann, Der hermeneutische Horizont der historisch-kritischen Exegese, in: J. Schreiner, Einführung in die Methoden der biblischen Exegese (Würz burg 1971) 40-80; P. Stuhimacher, Neues Testament und Hermeneutik - Versuch einer Bestandsaufnahme, in: ZThK 68 (1971) 121-161; ders., Thesen zur Methodologie der gegenwärtigen Exegese, in: ZNW 63 (1972) 18-26; F. Hahn, Probleme historischer Kritik, in: ZNW 63 (1972) 1-17; L. E. Keck, A Future for the Historical Jesus (London 1972). 4 Diese Vcrönderungen hat P. H<17<1rd in seinem Werk, La Crise de Ia Conscience Europeenne, 1680-1713,2 Bde (Paris 1935), deutsch von H. Wegener: Die Krise des europäischen Geistes für eine Zeit der Wende im Abendland mit bewegten Worten ausgemalt (Hamburg 1939). Um die Problematik deutlich zu machen, soll mit den beiden oben genannten Aspekten ein Prozeß beleuchtet werden, der natürlich mehr grundsätzliche und große Unterschiede als Gemeinsamkeiten und Konstanten aufweist. Der durch äußeren Vergleich der hermeneutischen Regeln feststellbare Gehalt an regelmäßig wie-
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1. Zur Geschichte der Kriterien
a) Die "Vorgeschichte" Der Humanismus hat bewußt den Anschluß an die Antike gesucht. Auch das Mittelalter lebte in vielerlei Hinsicht aus dem Erbe der Antike. Im Mittelalter zählte man zwar die "lectio" der Sacra Pagina zur heiligen Theologie. Ihre ancilla aber war seit der christlichen Antike die Kunst der Textauslegung der Heiligen Schrift. Die Vorläufer unserer historisch-kritischen Exegese sind im Mittelalter von den artes liberales ausgebildete Fertigkeiten, die zur "historia" führen. Die Geschichte und Geschichtsdarstellung gehört zwar nicht ausdrücklich zur Siebenzahl der artes. Sie wird aber praktisch und theoretisch unter den artes liberales, seit Augustinus unter der Grammatik und Rhetorik eingeordnet. Die Regeln der Literarkritik und der Erforschung der "veritas" eines Textes finden wir in den mittelalterlichen Traktaten der Grammatik, der Rhetorik und der "narratio". Im 11. und 12. Jahrhundert sind wichtige Schritte der noch heute genannten "Kriterien" auch eigens schematisch zusammengefaßt in der "grammatica" unter dem sogenannten "accessus ad auctores". Die alten Historiker verwandten die Arbeitsschritte des "accessus" gern als Gliederungsprinzip ihrer Proömien 5. Die "narratio" als Teil der Rhetorik ist zugleich formale Lehrmeisterin der Geschichtsschreibung. Daß hier mehr als philologisch-technische Kriterien gemeint sind, beweist ihre Definition als rerum gestarum et dignarum memoria relatio, nur das gilt als "Geschichte", was wirklich wert ist, überliefert zu werden 6. Das beder kehrenden Forderungen und ganz ähnlichen Arbeitsanweisungen zeugt von bestimmten geistigen Notwendigkeiten. Sie prägen sich im Regelwerk der Arbeitsratschläge aus und erlauben einen Strukturvergleich der Hermeneutiken durch die Jahrhunderte, wodurch sich "dogmatische" Konstanten erheben lassen; vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen '1972) 487ff. 5 Vgl. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern 1948) 44 ff, 543 ff u. ö., und besonders H. Wolter, Geschichtliche Bildung im Rahmen der artes liberales, in: j. Koch, Artes Liberales - Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters (Leiden 1959) 50-83. Ich danke Prof. Wolter für freundliche Hinweise. - Es scheint, daß der "accessus" auf die sieben "circumstantiae" der alten Rhetorik zurückgeht. Er verlangt, es müsse erhoben werden, wer der Autor eines Schriftstückes oder Werkes sei, welche intentio dieser mit seinem Werke verbinde, was es nütze (utilitas), wie es gegliedert sei (ordo), was sein Titel besage, welchem Teil der Wissenschaft es zugehöre, ob es authentisch sei. Vgl. Wolter, a. a. O. 73 f. 6 Wolter, Artes liberales, 75 f. In dieser Formulierung klingt die auswählende, Perspek-
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sondere Weltbild des Mittelalters bringt ein eigenes Geschichtsbewußtsein mit sich. Die Geschichte der Welt und die des Heils sind identisch. Die Geschichtsanschauung des Mittelalters ist "heilsgeschicht/ich" geprägt. Sie unterscheidet sich von den Auffassungen der Antike wie der Moderne 7 . Vom Beginn der Neuzeit seien drei Männer genannt, die nach allgemeinem Urteil die Prinzipien und Kriterien der Textauslegung später beeinflußten. Sie waren sich sowohl ihrer Abhängigkeit von der Vergangenheit wie der Weiterführung der älteren Auslegungsmethoden durch sie selbst bewußt. Der erste, Erasmus von Rotterdam (1466-1536), hat seine Abhängigkeit von den Traditionsströmen auch reflex formuliert. Er hat die textkritischen Regeln und die hermeneutischen Prinzipien der Bibelforschung für seine Zeit zusammengestellt. Er denkt über die äußeren Und inneren Voraussetzungen und Möglichkeiten des Verstehens nach. Im Rückgriff auf die "Akkommodationstheorie" der alten Kirche betont er, daß der Heilige Geist seine Worte in der inspirierten Schrift unserer Unmündigkeit anpasse. Deshalb müßten sie auch entsprechend den Prinzipien der menschlichen Sprache ausgelegt werden. Dazu entwickelt er die lange fortwirkenden "humanistischen" Grundsätze philologischer und kritischer Auslegungs. tiven schaffende Arbeit des Interpreten als eines Merkmals geschichtlichen Verstehens und entsprechender Darstellung an. R. G. Collingwood, The Idea of History (Oxford 1946) 257f, hat sicher unrecht, wenn er die mittelalterliche Geschichtsschreibung als "Schere-und-Leim-Historie" abqualifiziert, sowenig wir die wesentlichen Unterschiede im Geschichtsverständnis zwischen der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit übersehen dürfen. Uns scheint jedoch, daß gerade in dem immer neu begonnenen Versuch, die "veritas" eines Textes zu verstehen, auch für die gegenwärtige Situation ein Ansporn liegt, das Ziel historischer Arbeit, ihre Methoden und nicht zuletzt den Begriff des "Historischen" besser zu formulieren. 7 Wolter, Artes liberales, 68 f. Damit ist mehr gemeint als eine bloß nebensächliche, "akzidentelle" Verschiedenheit der hermeneutischen Regeln. Erst die Neuzeit bringt die Möglichkeit historischer Betrachtung und damit auch einer "historischen" Hermeneutik. Die Kriterien zur Erhebung von Historizität gehören zur Beschreibung des Verstehensvorgangs, den jeder Interpret, welcher den Sinn eines älteren Dokuments mit allen ihm möglichen Mitteln erforschen möchte, einleitet und (wenn er seiner Aufgabe einigermaßen gerecht wird) bis zum eigenen Lebenshorizont durchführt. Beim übergang vom Mittelalter zur Neuzeit sind die Abstände zwischen den Methoden und hermeneutischen Regeln gering. Es gibt fließende übergänge. In einigen Köpfen vollzieht sich die Verschmelzung, die zugleich Neuwerdung bedeutet. 8 Kraus. Geschichte, 25 f, urteilt, daß von Erasmus "die wichtigsten Impulse zur philologischen und kritischen Bibelexegese" ausgingen, und nennt Vorgänger sowie Einfluß-
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Im 17. Jahrhundert vollzieht sich unter mancherlei Geburtsschmerzen der entscheidende Schritt zur "Aufklärung", zur kritischen Betrachtung aller Dinge unter Leitung der ratio. Nach einigen anderen Ansätzen - genannt seien vor allem die Sozinianer mit ihren vier Auslegungsgrundsätzen 9 - hat dann Rene Descartes (1596-1650) die alten, einfachen Regeln auf eine völlig neue Ebene gehoben. Durch seine "neue Methode zu denken" (Fontenelle) übte er einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf alle Wissenszweige der Folgezeit aus 10. Nicht selten wird die Wirkung von Descartes so dargestellt, als ob mit ihm ein absoluter Neuansatz beginne. Ohne das Verdienst dieses unerm üdlichen Mannes und die Auswirkung seiner Tat schmälern zu wollen, wird man doch seine Abhängigkeit und Zeitgebundenheit nicht übersehen dürfen. Er hat 'glänzend und für seine Zeitgenossen und für viele Nachfolger unüberbietbar klar formuliert, was in der Luft lag, was auch von anderen gesehen worden war, was - unter anderen Bedingungen - als kritisches Prinzip des Denkens auch im antiken und sogar 1m mittelalterlichen Wissenschafts betrieb nachgezeichnet werden kann. "Modern" wird man eine Wissenschaft erst nennen, wenn das Wirklichkeitsverständnis der Moderne dahintersteht. Die mittelalterliche Harmonie der Einheit von Weltbild und Glaube, von Theologie und jeder anderen Wissenschaft wurde endgültig und auf breiter Ebene zerbrochen durch den grundsätzlichen Primat der kritischen ratio, obwohl es den "methodischen Zweifel" auch schon vorher gegeben hat 11. linien, Er exzerpiert die Grundsätze des Erasmus aus dem Enchiridion militis Christiani (1502) und aus den Introductiones in Novum Testamentum. So heißt es z, B, in den Introductiones (von 1516): " ... Es sind alle verfügbaren Handschriften heranzuziehen, Lesarten und Textänderungen zu erforschen und die Urtexte zu rekonstruieren .. , Es macht einen sehr großen Unterschied, ob du etwas aus seinen eigenen Quellen schöpfst oder aus irgendwelchen Tümpeln ... Die geographische Lage, Sitten, Institutionen und Kulte sind zu erforschen"," (a.a,O. 26), 9 Scholder, Ursprünge, gibt einen überblick über jene Zeit, Die Prinzipien der Sozinianer faßt er wie folgt zusammen (47): L Man muß die Tendenz (scopus) und die übrigen Umstände einer Schriftstelle genau beachten, wie dies auch bei der Interpretation aller anderen Schriftsteller notwendig ist. 2. Es ist ein sorgfältiger Vergleich (collatio) mit ähnlichen und deutlicheren Gedanken und Ausdrücken anzustellen, 3. Die Auslegung dunkler Stellen ist prinzipiell an solchen Stellen nachzuprüfen, wo die Meinung der Schrift ganz klar ist. Nichts ist auszulassen, was davon abweicht. 4. Es darf nichts behauptet werden, was der sana ratio widerspricht oder in sich einen Widerspruch enthält. (Aus dem Catechismus ecclesiarum Polonicarum .. , [Amsterdam 1680].) 10 VgL Hazard, Krise, 166, 11 Scholder, Ursprünge, 7ff, umreißt die Begriffe um das moderne Wissenschaftsverständnis mit Rücksicht auf den Neuansatz im 17, Jh.
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Descartes hat die Gewißheits- und Methodenproblematik der neuen Wissenschaften vorbereitet durch die Betonung des denkenden Subjekts vor dem zu bedenkenden Objekt im Verstehensvorgang, wie er im "Discours de la methode pour bien conduire sa raison" (1637) darlegt. Er gibt in demselben Werk Hauptregeln, die das Prinzip des "universalen Zweifels" auf kritisches Untersuchen und Verstehen anwendet 12 , wodurch aller Erkenntnisfortschritt in den nachfolgenden Wissenschaften methodisch angeleitet wurde. Was Glaubensinhalte anbelangt, so hat Descartes seine Prinzipien vorsichtiger abgegrenzt als viele seiner Nachfolger, indem er auf die besondere Natur der Glaubensmysterien hinwies. Der "historische Charakter" der Schrift im Sinne des 19. Jahrhunderts war damals allerdings noch nicht im Blick. So geschah die Auflösung der Widersprüche zwischen Vernunft und Glauben (Bibel) letztlich weiterhin mittels der bereits genannten "Akkommodationstheorie" 13. Das Fortwirken der "cartesianischen" Prinzipien in der historischkritischen Methode hat man öfters nachgewiesen. Ein solcher Aufweis ist möglich, wenn man beachtet, daß sich das philosophische W eltund Geschichtsverständnis ändert. Es wurden im philosophischen Weltbild der Folgezeit immer wieder die Bezugspunkte zwischen "Sein" und "Denken" verschoben, indem die eigentliche Realität, die es zu ergründen gelte, entweder mehr auf der einen oder mehr auf der anderen Seite gesucht wurde. Dabei sind die Grundzüge des analytischen und synthetischen Vorgehens, das der Ausleger bei der konkreten Arbeit an der Bibel befolgte, dem cartesianischen Schema lange Zeit treu geblieben. Ein bekanntes Beispiel dafür bietet die liberale Jesusforschung. P. Stuhlmacher 14 führt sogar eine Linie von Descartes bis zu der 1898 erschienenen Abhandlung "über historische und dogmatische Methode in der Theologie" von E. Troeltsch. Troeltsch nannte als Grundprinzipien der historisch-kritischen Untersuchung Kritik im Sinn des "methodischen Zweifels", Analogie, d.h. Beurteilung der Vergangenheit von der gegenwärtigen Wirklichkeits erfahrung
12 Die Grundzüge und Schemata der Methodenreflexion des Descartes seien hier nicht dargestellt. Zusammenfassungen mit Ausblick auf die Nachfolger siehe bei Schalder, Ursprünge, 131 ff. 13 Vgl. Schalder, Ursprünge, 150 u. ö. 14 Stuhlmacher, Neues Testament und Hermeneutik, 126-131.
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des Historikers her, und Korrelation oder Wechselwirkung aller Erscheinungen des geistig-geschichtlichen Lebens 15. Ein dritter Ansatz in der "Vorgeschichte" der Kriterien ist noch zu nennen: die Aufnahme der jüdischen Bibelauslegung. Diese war mit der antiken und mittelalterlichen jüdischen Tradition fest verbunden, sie umschloß Beziehungen zur östlichen Umwelt des Abendlandes, sie stand in Konfrontation mit dem Humanismus, vor allem hatte sie mit dem christlichen Glauben die überzeugung gemeinsam, auf bestimmte Ursprungsereignisse in der Geschichte verwiesen zu sein. Die jüdische Tradition glaubt an die Kontinuität des Wirkens Gottes mit jenen Ereignissen und vermag den Zusammenhang gleichsam im Blut des eigenen Volkes zu spüren 16. Für die Entwicklung der historisch-kritischen Bibelauslegung wurde der letztlich zwischen Judentum und Christentum stehende Benedict de Spinoza (1632-1677) bedeutend 17 . Auch er wendet im Sinne des Descartes die Regeln der "Naturbeobachtung" auf die Untersuchung der Bibel an. Seine Forderung einer "histoire de l'Ecriture" ist also nicht von einem modern historischen Interesse geleitet 1B . Aber er bringt vieles aus der Bibelauslegung seiner Jugend in seine Exegese ein. Seine Kriterien legt er wohlgeordnet im 7. Kapitel des "Tractatus theologico-politicus" vor 19 . Sie beweisen seine Beziehung zu den Auslegungskriterien der alten Zeit. Aus diesen 1670 gedruckten Regeln sei genannt, daß der Forscher für jeden Text sichere zeitliche Daten erarbeiten müsse, einen terminus a quo und ad quem. Als Faustregel zum Verständnis eines Autors zitiert Spinoza die Formel: "Quisquam fuerit, qua occasione, quo tempore, cui et deEbd. Eine kritische Aufarbeitung der wechselseitigen Impulse zwischen jüdischer und christlicher Bibelauslegung durch die Geschichte, besonders seit der Hochscholastik, muß noch durchgeführt werden. Es wäre zu wünschen, daß ein wissenschaftlicher Dialog zwischen den Zentren der Wissenschaft vom Judentum nach dem Kriege und christlicher Bibelauslegung zustande käme. 17 Vgl. A. Malet, Le Traite theologico-politique de Spinoza et la pensee biblique (Public. de l'Univ. de Dijon, 35) (Paris 1966). Siehe auch L. Strauß, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-Politischem Traktat (Veröff. Wiss. d. Judentums, Philos. Sekt. II) (Berlin 1930); S. Zac, Spinoza et l'interpretation de I'Ecriture (Paris 1965). 18 Siehe auch Scholder, Ursprünge, 169. 19 Eine alte, aber nützliche Zusammenfassung (Epitome) des 7. Kap. des Tractatus theologico-politicus bietet G. B. Bülfinger, In B. Spinosae methodum explicandi Scripturas Sacras (Tübingen 1732).
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nique qua lingua scripserit", welche deutlich an den obengenannten "accessus ad auctores" erinnert 20. Die von diesen Männern paradigmatisch formulierten Auslegungsgrundsätze finden sich in der Folgezeit bei den Bibelauslegern, von denen man sagt, sie seien die Begründer der "historisch-kritischen Methode". Als einen solchen Begründer bezeichnen die einen den französischen Oratorianer Richard Simon (1638-1712)21. Der Einfluß Spinozas auf ihn ist nachgewiesen worden 22 . Andere halten die Tätigkeit von Johann Salomo Semler (1725-1791) für den Anfang jener Methode 23 . Mit Recht macht K. Scholder darauf aufmerksam, daß durch den Dreißigjährigen Krieg und die fortgesetzte kriegerische Religionsauseinandersetzung sich die modernen Ideen in Deutschland erst ein volles Jahrhundert später durchsetzen konnten, eben nach 1648 24 . Nun setzt die Aufklärung überall mit Macht ein. Die Bibelauslegung wird überschattet von der antikirchlichen oder anti-"orthodoxen" Stoß richtung aller damaligen "historischen" Forschung 25 . Damals finden die Grundsätze, die wir im 1. und 2. Kriterium zusammenfassen, ihre Vorbereitung. Die älteren literar- und textkriti-
Zusammenfassungen bei Kraus, Geschichte, 63 f. So Hazard, Krise, 220ff. Vgl. Scholder, Ursprünge, 7. Auch J. Steinmann, Richard Simon et les origines de l'exegese biblique (Paris 1960), und Kraus, Geschichte, 64, haben sich so entschieden. Kümmel, Das Neue Testament, 80 f, zeigt dazu die Einseitigkeiten einer bloß historischen Betrachtung der Bibel auf. 22 F. S. Mirri, Richard Simon e il metodo storico-critico di B. Spinoza (Florenz 1972). 23 E. Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. III (Gütersloh 1952) 59; vgl. Scholder, Ursprünge, 7. G. Horning, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. J. S. Semlers Schriftverständnis und seine Stellung nl Luther (FSThR, 8) (Göttingen 1961), begründet dies ausführlich. 24 Scholder, Ursprünge, 10f. 25 Diese Problematik beschäftigt uns bis heute und wird durch manche Veränderungen neu gestellt. Die z. Z. beste Zusammenfassung gerade für den Gesichtspunkt der historisch-kritischen Methode im Umbruch scheint mir der Artikel von K. Lehmann, Hermeneutischer Horizont (s. Anm. 3), zu sein. Vgl. H.-J. Kraus, Die Biblische Theologie. Ihre Geschichte und Problematik (Neukirchen 1970) 52H 307 H; ders., Geschichte, 76 H 80 H, bringt Beispiele und Grundprobleme der Diskussion. Während des Aufbruchs des Historismus hat F. C. Baur (1792-1860) diese Problematik behandelt; vgl. H. Liebing, Historisch-kritische Theologie. Zum 100. Todestag Ferdinand Christi an Baurs am 2. Dezember 1960, in: ZThK 57 (1960) 302-317; dazu Stuhlmacher, Neues Testament, 123 f. Vgl. W. Geiger, Spekulation und Kritik, die Geschichtstheologie Ferdinand Christian Baurs (München 1964). 20
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schen Bemühungen 26 führten zur "synoptischen Frage" 27. Den Bezug zur J esusfrage hatten die englischen Deisten bereits rationalistisch vorbereitet 28 . Nun wird diese auf dem Hintergrund der Textarbeiten in Deutschland aufgegriffen. Hermann Samuel Reimarus nimmt die später so bedeutsame Unterscheidung zwischen der Verkündigung Jesu und der Predigt der Urgemeinde vorweg 29 . Bald schreiben die "Rationalisten" ihre "Leben Jesu". Heinrich Eberhard Gottlieb Paulus (1828) und Kar! Hase (1829) stellen in ihren "Leben Jesu" dem Leser auch die an gewandten methodischen Prinzipien vor Augen 30 . Sie wollen die Lehre Jesu ihren Zeitgenossen nahebringen, dies ist ein eigentlich hermeneutisches Anliegen. Sie genügen ihm allerdings dadurch, daß sie Jesu Lehre als die gepriesene Vernunftwahrheit darstellen, der sie selber huldigen 31.
b) Der Historismus Zwar hatte Friedrich Meinecke die Wurzeln, die Anfänge und die erste Ausbildung des Historismus mit großem Einfühlungsvermögen als eine Tat des Geistes beschrieben, die bis heute ausstrahlt 32 • Aber schon das weitgespannte und abgewogene Urteil von E. Troeltsch 33 über die Größe der gedanklichen Leistung und die besondere Art der Geschichtsbetrachtung, allerdings auch über Einseitigkeiten und Schwächen, die darin unterlaufen, wies hin auf Enttäuschungen und Mißerfolge dieses Neuansatzes geschichtlicher Forschung. Für unser Ohr klingt eine negative Bewertung im Wort "Historismus" mit, welche vielleicht K. Heussi am deutlichsten niederlegte 34 • Doch tut man 26 Im ausgehenden 17. Jh. John Mill, im 18. Jh. Johann Albrecht Bengel, Johann Jakob Wettstein bis zu Johann Jakob Griesbach (vgl. Kümmel, Das Neue Testament, SOff). 27 Kümmel, a.a.O. 88-140. Vgl. Kraus, Geschichte, 92ff. 28 Kümmel, a.a.O. 55ff; Kraus, a.a.O. 56ff. 29 Kümmel, a.a.O. 105f. 30 Kümmel, a.a.O. 106ff. 31 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (Tübingen 1913) 28 H. 32 F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 2 Bde. (München/Berlin 1936; München 21946, 31959). 33 E. Troeltsch, Der Historismus und seine überwindung (Berlin 1924). 34 K. Heussi, Die Krise des Historismus (Tübingen 1932). Zum folgenden vgl. J. Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. J ahrhundert, III. Das Verstehen in der Historik von Ranke bis zum Positivismus (Tübingen 1933); Collingwood, Idea; R. Aron, Introduction a la philosophie de l'histoire (Paris
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dem Historismus unrecht, wenn man seine Bemühungen auf die listenmäßige Erfassung von "bruta facta" einschränken wollte. Leopold von Ranke (1795-1886) nannte in seiner programmatischen Abhandlung "über Geschichte und Politik"35 als Ziel der Geschichtsforschung das lebendige Verständnis all dessen, was das Menschengeschlecht erstrebt, erworben und erreicht habe. Aus Gründen und Motiven sollten die "kausalen " Wechselbeziehungen zwischen dem tätigen menschlichen Subjekt in all seinen Beziehungen und der Entwicklung des Gesamtprozesses möglichst umfassend erklärt und beschrieben werden. Mit Namen wie L. von Ranke, Johann Gustav Droysen und Heinrich Treitschke ist eine Auseinandersetzung mit den Konsequenzen Hegelscher und überhaupt idealistischer Geschichtstheorie verbunden. Im Lager der Bibelausleger findet sie sich wieder in der Reaktion der "Leben-Jesu-Forschung" gegen D. F. Strauß, dann gegen BrunoBauer und schließlich gegen Arthur Drews. Man will zeigen, daß das Christentum nicht als Funktion einer Ideengeschichte aufgefaßt werden könne. Die geschichtliche Person Jesu wird in den "Leben Jesu" nicht als bloßer Kristallisationspunkt einer unbewußt sich konkretisieren-: den religiösen Vorstellung verstanden. Vielmehr gilt Jesus als Individuum, als geschichtswirksame und geschichtsmächtige Person 36 . Der Begriff des "Historischen" umfaßte damals also sowohl den des "Faktischen" wie eine Ablehnung der idealistischen Konzeptionen; "nicht-idealistisch" war mitausgesagt. Der "historische Jesus" wird gegen Strauß und ähnlich argumentierende Nachfahren - als der Christus des Glaubens verstanden, während Strauß ihn als unvereinbar mit dem - nach seiner Konzeption - von der menschlichen Vernunft ent1948); G. P. Gooch, History and Historians in the Nineteenth Century (1913; wesentlich erw. London 21958) (übers. von H. Lazarus: Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert [Frankfurt a.M. 1964]). Vgl. Gadamer, Wahrheit (Index); Lonergan, Method, 197ff (Kap. 9 "History and Historians"). 35 L. von Ranke, Gesammelte Werke (Gesamtausgabe der Deutschen Akademie) Bd. 24,284. Vgl. E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie (Leipzig 61908) 10. 36 Vgl. zu den umrissenen Entwicklungslinien P. H ünermann, Der Durchbruch des geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert. Johann Gustav Droysen, Wilhelm Dilthey, Graf Paul Yorck von Wartenburg, ihr Weg und ihre Weisung für die Theologie (Freiburg i.Br. 1967); H.-I. Marrou, De la connaissance historique (Paris 91966). Im Rückblick auf die christliche Geschichtsauffassung seit Antike und Mittelalter vgl. ders., Theologie de l'histoire (Paris 1968). Zum Problem vgI. ferner R. Slenczka. Geschichtlichkeit undPersonseinJesu Christi. Studien zur christologischen Problematik der histor. Jesusfrage (Forsch. z. system. u.ökum. Theol. 18) (Göttingen 1967) 46ff, bes. 68.
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worfenen "idealen" Christus des Glaubens hielt. Die von Hegels Geschichtsphilosophie beeinflußte Tübinger Schule, besonders Bruno Bauer, gingen auf dieser Linie konsequent weiter und erklärten, daß die Evangelien nichts anderes seien als Dogma in der Form empirischer Geschichte, also "Gemeindebildung". Vor solchem Hintergrund lassen sich die Bemühungen der Exegeten verstehen, die den Historismus aufnehmen, um ihre Methode danach auszurichten. Aus der oben umrissenen Absicht lassen sich einige Postulate ablesen, die den Charakter von Kriterien für die Ergebnisse exegetischer Einzeluntersuchungen gewinnen. Zunächst ist das in der Leben-Jesu-Forschung immer wieder genannte Ziel zu nennen, eine Gesamtsicht der Persönlichkeit J esu, eine Einheit in der Erklärung und damit auch für die Darstellung zu finden. Es sei die Aufgabe des Exegeten als Historiker, aufgrund der Nachrichten der Evangelien ein Bild der Persönlichkeit Jesu zu zeichnen, welches Jesu Wirkung verständlich mache. Diese Leben-Jesu-Darstellungen wollen zwar keine historische Biographie J esu sein, dafür intendieren sie aber die Vermittlung des "Charakterbildes" Jesu. Die gleichzeitige Quellenkritik forschte nach einer möglichst alten Primärquelle. Man meinte, aus den Evangeliennachrichten werde ein Selbstbewußtsein Jesu spürbar. Man ist überzeugt, man könne J esu einzigartige Selbständigkeit aufzeigen. Die Theorien darüber, wie die geschichtliche Ursächlichkeit der Person faßbar werde, sind verschieden. Als Beispiel sei aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Christian Hermann Weiße genannt. Er hält Anschauung und Erfahrung für die Mittel solcher Kausalität. Das eigentlich Religiöse drücke sich überdies in Analogie zum Ästhetischen aus. Dieses hinwiederum lasse sich im Mythischen als poetischer Darstellung fassen. Demnach könne "das ästhetische Gefühl" die historische Kritik anleiten, die Person Jesu als religiöse Offenbarung zu verstehen 37 . Vom Bestreben her, ein Charakterbild Jesu zu zeichnen, ist auch 37 Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 124 ff; Slenczka, Geschichtlichkeit, 86 ff (mit Belegen); Kümmel, Das Neue Testament, 182 f. ehr. H. Weiße zeigt so seine Beziehung zur Wertphilosophie von H. Lotze und A. Ritschl. Die Kategorie des "Ästhetischen" und überhaupt die Ästhetik spielen eine wichtige Rolle bei der Beurteilung von Einzelaspekten geschichtlicher Persönlichkeiten. Nach Ablösung des romantischen Geschichtsverständnisses wären sie neu zu bedenken; s. H. U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. II u. III/1 (Einsiedeln 1962 u. 1965).
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die Tendenz zur Psychologüierung in der Auslegung der Evangelien zu verstehen. Sie war im 19. Jahrhundert weit verbreitet und wirkt bis in unsere Zeit nach. Man versuchte, aus der Bibel ein "Selbstbewußtsein" oder "messianisches Bewußtsein" Jesu zu erheben. Ein Charakterbild Jesu kann allerdings nicht recht ohne "Selbstbewußtsein" gedacht werden. Doch waren sich die Leben-Jesu-Darsteller wohl im klaren, daß die von ihnen zusammengesetzten Auslegungsresultate nur Annäherungswerte darstellen konnten. Jenes Gesamtbild der Persönlichkeit, die Zeichnung des außergewöhnlichen Selbstbewußtseins oder des messianischen Bewußtseins Jesu erlangte schließlich selbst den Rang eines Kriteriums. In den "Leben Jesu" wie in den Kommentaren vergleicht man die Einzeltexte der evangelischen überlieferung unermüdlich mit dem erschlossenen Gesamtbild. In dieser Zeit des aufbrechenden Historismus wurden also mit großem Nachdruck Forderungen erhoben, die wir unter dem 5. und 6. Kriterium einordnen können. Es lag an der damaligen Situation, daß man - mit wechselnder theoretischer, oft philosophischer Begründung - Verfahrensweisen für möglich hielt und praktische Regeln befolgte, die wir heute nicht ohne weiteres annehmen können. Damals wurden aber auch die Voraussetzungen zu den übrigen Kriterien geschaffen und diese selbst in mannigfacher Weise durchgeprobt. Die Auswertung der textkritischen Forschung führte zu neuen Ergebnissen in der Quellen/rage der Evangelien. Es sei an zwei Hypothesen oder Vorstellungsmodelle erinnert, die damals die Entwürfe für die Entstehung der Evangelien bestimmten. Da war zunächst die "Traditionshypothese" (I G. Herder, I C. Gieseler). Sie faßt die Evangelienüberlieferung als das Wachsen eines ursprünglich mündlich übermittelten, den verschiedenen Bedürfnissen der Verkündigung sich anpassenden Erzählgutes auf. Anders die "Urevangelium-Hypothese" (G. E. Lessing, später I G. Eichhorn), welche einen schriftlichen Augenzeugenbericht annimmt. Darin rechnet sie mit einem bestimmten Maß "historischer Glaubwürdigkeit" 38. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bringt die religionsgeschichtliche Forschung einen erheblichen Fortschritt für das 3. Kriterium, aber auch für alle übrigen Prinzipien. Neuentdecktes oder nun 38
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Kümmel, Das Neue Testament, 177ff.
systematisch erforschtes Quellenmaterial aus der Antike ermöglicht neue Einsichten. Zugleich wird eine Reihe methodischer Schritte neu durchdacht. Durch die Entwicklung der "traditionsgeschichtlichen" Untersuchungsmethode wird die Analyse der evangelischen überlieferung befruchtet. Der religionsgeschichtliche Vergleich bringt vielfache und besser als früher begründete Erkenntnisse. Als Begründer gilt Albert Eichhorn (1856-1926). H. Gunkel, W. Wrede, W. Bousset, auch]. Weiß, E. Troeltsch, H. Greßmann und viele andere haben sich auf ihn berufen 39 • Jetzt wird es möglich, die "Unterschiede" Jesu besonders vom "Hellenismus" präziser zu erkennen. Man erarbeitet konkrete Merkmale und stellt entsprechende "Ausgrenzungskriterien" auf. Vor allem aber wird auch die Ubereinstimmung Jesu mit dem jüdischen Hintergrund erfaßt. Man betont den "synkretistischen" Charakter des Christentums. Große Aufmerksamkeit und angestrengtes Bemühen sind auf die genaue Bestimmung des Ursprungs und der Herkunft der einzelnen inhaltlichen "Motive" in der überlieferung gerichtet. Die genetische Erfassung soll die genaue Bedeutung definieren helfen. Daneben öffnet sich der Blick für die verschiedenen literarischen Gattungen. Die ersten Schritte werden getan, die Unterschiede der erzählerischen und literarischen Gattungen genauer zu beschreiben. Seit jener Zeit liegen allerdings auch für wichtige Begriffe und methodische Schritte doppeldeutige Bezeichnungen vor. Es ist notwendig, Methoden und Bezeichnungen weiter aufzuarbeiten. Die Folgezeit 40 ist uns aus vielen exegetischen Arbeiten noch mehr Kraus, Geschichte, 327ff; Kümmel, a.a.O. 259ff. Es muß daran erinnert werden, daß es bis in jene Jahrzehnte auf katholischer Seite fast keine neutestamentlichen Exegeten gab, die die historisch-kritische Methode in der Offentlichkeit als eigentliche, selbständige Methode der Exegese anwandten. J. Schmid beschreibt ohne Schärfe in seiner Neufassung (1973) der "Einleitung in das Neue Testament" von A. Wikenhauser die Lage der katholischen Exegese (ebd. 8-11). Vgl. X. Leon-Dufour, Les evangiles et l'histoire deJesus (Paris 1963) 29 ff (Kap. X, XI, bes. XII). Die Frage nach dem historischen Jesus blieb eher der Apologetik und der Glaubensbegründung vorbehalten. Zu den Vorkämpfern der historisch-kritischen Exegese im katholischen Raum gehört M.-J. Lagrange, vgl. C. Goossens, La liberte de l'exegetehistorien d'apres A. Loisy et M.-J. Lagrange (1900-1910) (Excerpta Diss. Pont. Univ. Gregoriana) (Rom 1966). Lagrange hat keine Kriterien zur Erarbeitung der Historizität aufgestellt, sondern seine Prinzipien historisch-kritischer Arbeit en passant dargelegt, vgl. die Bände der "Introduction a l'etude du NT" (I: Paris 21933; VI/1: Paris 1937); ferner deTs., La methode historique (Paris 1904) (Erweiterung 1905); auch die Artikel zu entsprechenden kirchlichen Stellungnahmen in RB 4 (1895) 48-64; ausführlicher in der Auseinandersetzung RB (NF) 4 (1907) 543-554. - Paradigmatisch läßt sich die Dis39 40
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vertraut. Es sei auf den bedeutenden, methodisch nachwirkenden Anstoß hingewiesen, den W. Wrede mit seinem Buch über "Das Messiasgeheimnis in den Evangelien" gibt 41 . W. Wrede knüpft an B. Bauer an. Er faßt die sich weiterentwickelnde evangelische überlieferung nicht als Ausschmückung eines "historischen Kerns" auf, sondern als fortschreitende Glaubensreflexion. Er lehnt es deshalb radikal ab, daraus Schlüsse auf Jesu Bewußtsein ziehen zu dürfen. Das "Messiasgeheimnis" des Markus wird als eine theologische Reflexion im Schoß der nachösterlichen Gemeinde bestimmt. W. Wrede stellt pointiert heraus, daß der irdische Jesus nicht "historisch" erreichbar sei, daß man auf diese Weise vielmehr nur bis zu einer bestimmten Schicht der überlieferung gelange. Es braucht nur zusammenfassend daran erinnert zu werden, daß die "Formgeschichte", wenigstens in der Konzeption von R. Bultmann, nicht nur an M. Kähler, sondern auch an W. Wredes Denkanstoß anschließt. Zur genaueren Beschreibung der "hellenistischen" Gemeinde wurden vor allem W. Boussets Forschungsergebnisse über die hellenistischen Einflüsse im Christentum übernommen. Die ältere Forschung am jüdischen und palästinischen Gut der Evangelien und an den "ebionitischen" Fragmenten inspirierte Buhmann zur Beschreibung der "palästinischen" Gemeinde. Die Betonung der schöpferischen Tätigkeit der Gemeinde fand auch in nicht-exegetischen, theologisch-philosophischen Prämissen eine Stütze. Die "existentielle" Sicht der Entscheidung des Menschen und damit die Art seiner Bezogenheit zur Umwelt und zur Geschichte sowie die entsprechende Glaubenskonzeption schränken auch das Ziel der Exegese ein, sie wird als "existentiale" Auslegung definiert. Die "Redaktionsgeschichte" präzisiert die Arbeit der Redaktoren der einzelnen überlieferungen, besonders der Evangelisten. Wegen der Unmöglichkeit, den "Ostergraben" zu überspringen, haben sich die führenden Männer der ersten Generation der Formgeschichtler geweigert, Kriterien der Historizität J esu aufzustellen. Auch kussion evangelischer Exegeten, die solch "historische" Weiterführung ihrer Arbeit nicht scheuen, mit den "Radikalen" ablesen etwa an den seit 1910 erscheinenden Berichten von H. Windisch in der "Theologischen Rundschau", in Windischs Artikel "Jesus Christus" in der "Realenzyklopädie" von A. Hauck, Bd. 23 (1913); vgl. ders., Das Problem der Geschichtlichkeit Jesu, (I) Die außerchristlichen Zeugnisse, in: ThR (NF) 1 (1929) 266-288; (II) Die Christusmythe, in: ThR 2 (1930) 207-252. 41 Vgl. Kümmel, Das Neue Testament, 362 fI.
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M. Dibelius macht nur eine relative Ausnahme 42. Zögernd beginnt die überwindung der hier sich anzeigenden methodischen Engführung in der "zweiten Generation"43, aber es versteht sich, daß auch dort nur eine sehr bedingte Bereitschaft besteht, Kriterien solcher Art zu bedenken. Die nicht-deutsche Exegese hingegen hat manche der älteren Prinzipien der historischen Forschung in meist abgewandelter, eigenen Traditionen folgender Fassung beibehalten und verfeinert 44 . Zugleich fanden auch hier die form geschichtlichen Methoden langsam Eingang. Im deutschen Sprachraum gab es einige "Inseln" der Forschung, wo sich ähnliches abspielte. Direkte Kritik in Auseinandersetzung mit Forderungen der "Formgeschichte" übten hier u. a. J. Jeremias, K. Barth, E. Ellwein, P. Althaus, H. Diem. Ebenso hatten E. Hirsch und R. Dtto Bedenken angemeldet und eigene Wege eingeschlagen 45. Der geschichtliche überblick sollte als Einführung dienen. Danach darf eine relative Kontinuität in der Entwicklung der Kriterien trotz der nicht zu verkennenden Unterschiede in Auffassungen und Voraussetzungen festgehalten werden. Im folgenden geben wir nun eine geraffte Zusammenfassung der Kriterien, wie sie heute - allerdings mit mancherlei Varianten und meist nur für Teilgebiete - geboten werden 46 . 42 Exzerpte bei M. Lehmann, Synoptische Quellenanalyse und die Frage nach dem historischen Jesus. Kriterien der Jesusforschung untersucht in Auseinandersetzung mit Emanuel Hirschs Frühgeschichte des Evangeliums (BZNW 38) (Berlin 1970) 166 ff. 43 Vgl. etwa]. M. Robinson, Kerygma und historischer Jesus (Stuttgart 21960); Roloff, Kerygma (Einleitungsteil). 44 W. G. Kümmel, Das Problem des geschichtlichen Jesus in der gegenwärtigen Forschungslage, in: H. Ristow - K. Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Christus (Berlin 1960) 39-53, dort 42-44, beschreibt die Jesusbücher von V. Taylor und R. H. Fuller. Siehe weiter die Zusammenfassungen von N. Perrin, The Kingdom of God in the Teaching of Jesus (London 1963) und die Auszüge bei H. K. McArthur, In the Search of the Historical Jesus (London 1970). 45 Robinson, Kerygma (s. Namensverzeichnis); N. Perrin, Rediscovering the Teaching of J esus (London 1967). 46 M. Lehmann, Quellenanalyse, bietet eine über die Ankündigung des Untertitels weit hinausgehende systematische Auseinandersetzung mit den von ihm zusammengestellten Kriterien (Kap. 9). Eine systematische Zusammenfassung mit kurzer Darstellung wichtiger Etappen der neueren Jesusforschung gibt auch Perrin, Rediscovering, bes. 15-49. McArthur, In the Search, publizierte in Auszügen wichtige Beiträge zu unserem Thema. In der Einleitung gibt er selbst einen straffen überblick über die Entwicklung; im 15. Kap. stellt er bisher verwendete Kriterien zusammen. Vgl. ferner D. G. A. Calvert, An Examination of the Criteria for Distinguishing the Authentie Words of Jesus, in: NTS 18 (1971/72) 209-219 (dt. in: Theologie der Gegenwart 15 [1972]201-209); R. Pesch,
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2. Zusammenfassung der Kriterien 1. Kriterium: Es ist von möglichst alten, gesicherten Quellen auszugehen. Dieses Kriterium ist eigentlich ein Grundsatz, der zu den fundamentalen Schritten jeder geschichtlichen Untersuchung gehört. Wir finden ihn bereits bei Erasmus im "Methodus" der "Praefationes" zum Neuen Testament als Aufruf, "ex ipsis fontibus" zu schöpfen 47 • Von jener Zeit der Begeisterung für die alten Quellen an hat er immer wieder textkritische und quellenkritische Untersuchungen inspiriert. Allerdings gab es in seinem Gefolge auch manche zu optimistische Hoffnungen, etwa auf eine unmittelbare "Primärquelle" von "Augenzeugen" des Lebens Jesu. Solche Hoffnungen, auch in abgeschwächter Form, gehören jedenfalls zu den Triebfedern wissenschaftlicher Arbeit im Gefolge des Historismus. Es ist allerdings eine den Tatsachen nicht entsprechende Vereinfachung, die "Quellenkritiker" seit dem 19. Jahrhundert zu verdächtigen, sie hätten die von ihnen erarbeiteten "Primärquellen" der evangelischen Tradition für ausreichende "biographische" Quellen im Sinn der historischen Forschung gehalten. Dieses Kriterium umfaßt auch die Forderung, daß bei der Untersuchung einer literarisch "sekundären" überlieferung ein besonderes Verfahren notwendig ist, um die eventuelle historische Authentizität einer darin enthaltenen Einzelnotiz zu erweisen. Das gilt erst recht für größere, inhaltliche oder formale Einheiten in einer späteren überlieferungs- "Schicht". Im übrigen braucht dieser Grundsatz keine besondere Rechtfertigung, da er zum Grundbestand geschichtlicher Untersuchungsmethoden gehört. Nach dem Vorbild des Erasmus wird man unter diesem "Kriterium" alle Schritte zur Aufbereitung des Textes selbst, der Sprache, der literar- und quellenkritischen Analyse einordnen. Jesu ureigene Taten? Ein Beitrag zur Wunderfrage (Quaest. disp. 52) (Freiburg i. Br. 1970); Stuhlmacher, Thesen zur Methodologie. 47 Hrsg. u. übers. von G. B. Winkler: Erasmus von Rotterdam, In Novum Testamentum Praefationes (Darmstadt 1967) 62 f 72 f. Die erste Ausgabe des "Methodus" erschien im Februar 1516.
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2. Kriterium: Die Eigenart der evangelischen Texte ist zu beachten. Diese ebenfalls grundsätzliche Forderung beachtet die Tatsache, daß die Erzählungen wie die Logienüberlieferungen der Evangelien aus einem ganz anderen Weltverhältnis und aus einem ganz anderen Geschichtsbewußtsein stammen, als es der moderne Mensch empfindet. Mit der Forderung, die Texte ihrer Eigenart entsprechend zu verstehen, sind aber noch weitere Probleme angesprochen. Hierzu gehört erstens die Forderung der Geschichtswissenschaft, daß der Historiker alle zeit- und umweltbedingten Faktoren alter Quellen aufhellen muß48. Jeder Text hat seinen "Motivationshorizont", aus dem heraus die erzählten Begebenheiten allein verstanden werden können. Im Rahmen der jeweiligen Weltanschauung, vom jeweiligen Weltbild und Lebenshorizont her ist ein solcher Text konzipiert worden. Die Schwierigkeiten des heutigen Beobachters, sich in den geistigen Umkreis und die möglichen Motive früherer, besonders antiker Autoren hineinzudenken, dürfen nicht dazu führen, bestimmte Quellen als historische Zeugnisse auszuklammern. Der Historiker hat zweitens die Aufgabe, die literarische Darstellungsweise des Verfassers zu klären. Diese Bemühung verlangt den gründlichen Vergleich mit erreichbaren Zeugnissen aus dem Umkreis der entsprechenden Quelle, welche die , verwendete erzählerische oder literarische Gattung aufhellen können. Diese Arbeitsschritte setzen die vollständig durchgeführte literarische und sprachliche Analyse voraus, andererseits führen sie sie weiter und vollenden sie. Man wird also diese beiden ersten Kriterien nicht als Anweisung für aufeinanderfolgende Arbeitsschritte auffassen dürfen, sondern als Leitsätze, die das praktische Vorgehen bestimmen. Alles, was Sprachlehre und Sprachwissenschaft, was die Literaturwissenschaft und der religionswissenschaftliche Vergleich beitragen können, wird nicht nur einmal, sondern immer wieder im Verlauf der exegetischen Arbeit gefordert. Eher noch als den älteren Quellenkritikern könnte man einigen neueren Autoren bis in die jüngste Vergangenheit den Vorwurf machen, daß sie das "genre litteraire" der evangelischen Texte nur global anerkennen und die kleineren Einheiten weniger ernsthaft auf die Aus48 Bernheim, Lehrbuch (s. Anm. 35), 465ff 160ff; P. Kirn, Einführung in die Geschichtswissenschaft (Berlin 1959) (Stichwortverzeichnis); K.-G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft (München 1971) 141 u. Ö.
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wirkungen eines anderen Realitätsverständnisses hin untersuchen. In diesem Sinne spricht M. Lehmann von einem zu großen "historischen" Optimismus mancher Exegeten 49 . Einerseits scheint bei ihnen ein prinzipielles Verhalten vorzuliegen, das die Vermutung der "historischen" Aussage eines Textes vom methodischen Zweifel ausnimmt; der Bezweifler der Historizität habe die Beweislast. Andererseits überschätzte mancher vielleicht die eigene Erfahrung und Fähigkeit, alte Quellen "richtig" werten zu können. Daraus ergeben sich dann "Pauschalurteile" über die "historische Zuverlässigkeit" der alten Autoren. Die Beachtung des "genre litteraire" entspricht der Forderung der Geschichtswissenschaft, die Zeugnisse aus einer bestimmten Zeit und Umwelt als historische Quellen zu betrachten 50. Als solche sind sie für "historische" Ergebnisse nur dann vertrauenswürdig, wenn man sie ihrer Eigenart entsprechend auszuwerten versteht. Erste Arbeiten der Gattungsuntersuchung aufgrund streng durchgeführten Vergleichs fanden bereits im 18. Jahrhundert, besonders am Alten Testament, statt S1 . Die Sammlung von "Sagen", "Legenden" und vor allem "Mythen" hatte manche Einsichten in die Art dieser Literaturgattungen ergeben. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren die älteren Ergebnisse dieser Forschung wenigstens programmatisch auf die Auslegung der Heiligen Schrift angewandt worden. Eine erste große Untersuchung der damals als "Mythen" erkannten Stoffe brachte G. L. Bauer S2 . Er stellt denn auch eine Liste auf, wonach Mythos von "wahrer Geschichte" getrennt werden könne. Besonders verweist Bauer auf die Eigenart der Sprache des Mythos. Sie zeige, daß Mythen aus mündlicher Rede und überlieferung stammen müßten. Diese Sprache habe eine "geschichtsähnliche" Erzählweise. Sie ziele aber übersinnliche Gegenstände an, "die kein Mensch erfahren kann oder Facta", von denen "kein Mensch hat Zeuge sein können". Sie würden "ins Wunderbare verarbeitet oder in einer symbolischen Sprache vorgelegt"S3. Während die "Rationalisten" N aturgesetzlichkeiten und Erfahrungsweisheiten "vernünftig" gegen die Erzählweise der evangelischen überlieferung 49 Vgl. M. Lehmann, Quellenanalyse, 163ff. Er hebt o. Cullmann als Vertreter einer solchen Haltung hervor. E. Käsemann formulierte schärfstens die kritische Position: "Nicht mehr das Recht der Kritik, sondern ihre Grenze ist heute zu beweisen": ders., Das Problem des historischen Jesus, in: Exegetische Versuche und Besinnungen I (Göttingen 1960) 187-214, hier 203. 50 Bernheim, Lehrbuch, 252 ff; Faber, Theorie, 113 f. 51 Kraus, Geschichte, 353, hebt vor allem die Psalmenauslegung von Eichhorn, Stäudlin und De Wette hervor. Es sei auf seine Darlegungen zur Gattungsforschung im Anschluß an H. Gunkel besonders verwiesen, a. a. O. 344 ff 353 ff 361 ff 395 f 468. 52 G. L. Bauer, Hebräische Mythologie des alten und neuen Testaments (Leipzig 1802). 53 Ebd., 14 ff.
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abwägten, um den von ihnen angenommenen wahren Kern in den Texten zu erhellen, hat D.F.Strauß in heftiger Kritik an diesem Verfahren die Mythenforschung weitergeführt. Wir wiesen bereits auf die philosophische Voreinstellung von Strauß hin, die auch bei ihm nicht eigentlich historisches Interesse möglich macht, wenn er seine "Mythentheorie" einführt. Doch sind die von Strauß z. B. in der Einleitung zu seinem "Leben Jesu"54 zusammengestellten Kriterien auch literar- und gattungs kritisch verständlich. So haben sie in der Diskussion als Angriff auf die Geschichtlichkeit der Evangelien gewirkt 55. Die dann von der religionswissenschaftlichen Forschung erarbeiteten Kriterien und Merkmale wurden leichter angenommen.
3. Kriterium: Mit größerer Wahrscheinlichkeit sind solche Züge der J esusüberlieferung ursprünglich, die J esus von der Urgemeinde wie von der jüdischen Umwelt abheben. In der älteren Forschung war die stillschweigende oder ausgesprochene Voraussetzung der Anwendung dieses Kriteriums die vielfach festgestellte übereinstimmung der Verhaltensweise und der Lehre Jesu mit dem, was aus dem Judentum seiner Umwelt bekannt war, und natürlich mit dem, was die Urgemeinde mit Berufung auf ihn tat und lehrte. Aber man war auch überzeugt, daß Jesus sich vom Judentum, etwa von den Pharisäern, auch schon zu Lebzeiten, scharf abhob. Weitere Anwendung fand dieses Prinzip zuerst gegenüber der Urgemeinde. P. W. Schmiede! formulierte das Kriterium noch einfacher 56. Gewöhnlich nehme der Historiker nach unvoreingenommener Analyse "unverdächtiger" Quellen an, daß Nachrichten über einen Helden der Vergangenheit, die nicht ihren Erklärungsgrund etwa in der Verehrung oder anderen Tendenzen jener Quelle finden könnten, historisch authentische Nachrichten seien. Dementsprechend hatte SchmiedeI alles, was der späteren Verehrung J esu widersprach, z. B. seine "menschlich-allzumenschlichen" Züge, scheinbare Schwächen, die dem Bild des Wundertäters zuwiderliefen u. ä., also der Intention der Urgemeinde widersprechende Züge, als historisch wahrscheinlich empfohlen 57. W. Heitmüller hat für die literarkritisch erarbeiteten "letzten Quellen" der evangelischen überlieferung erklärt, als "geschichtliches Gut" könne "nach allgemein anerkannten Grundsätzen" gelten, was in wesentlichen BestandteiD. F. Strauß, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde. (Tübingen 41840) I, bes. § 16. 55 Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 98 ff. 56 Art. "Gospels", in: Biblical Encyclopedia 11 (1901) 1761-18981847. Zunächst scheidet er alles aus, was "verdächtig" ist aus literarkritischen, sprachlichen, vom Genre und dem Inhalt herkommenden Gründen. 57 A.a.O. 1872ff. Vgl. Lehmann, Quellenanalyse, 175. 54
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len "mit dem Glauben der Gemeinde, der das Gesamtbild gehört, nicht vereinbar ist. Was nicht im Einklang mit ihr steht, kann nicht aus ihr erwachsen sein"58.
Das "Ausgrenzungskriterium" ist auch von R. Bultmann und den Formgeschichtlern anerkannt worden. Bultmann verstand es als doppelte Abgrenzung gegenüber dem Judentum und dem hellenistischen Christentum 59. E. Käsemann formulierte es wie folgt: "Einigermaßen sicheren Boden haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Christenheit zugeschrieben werden kann, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat."60 H. Conzelmann hält für die Lehre Jesu den "methodischen Grundsatz" für gerechtfertigt: "Als echt ist anzusehen, was sich weder in das jüdische Denken einfügt noch in die Anschauung der späteren Gemeinde. "61 Mit solch doppelter Ausrichtung gegen die jüdische Umwelt und gegen die christliche Gemeinde ist das Kriterium theoretisch in eine perfekte Form gebracht. Für die älteren Ausleger, die vor allem die "hellenistische" Ausformung der christlichen Botschaft als den eigentlichen urchristlichen Beitrag beachteten, stand die Abgrenzung gegenüber der Urgemeinde im Vordergrund. Dabei lief man Gefahr, jüdisch-christliche Auseinandersetzungen in den Evangelien, worin sich Jesus sowohl "jüdisch" verhielt als auch von der jüdischen Umwelt abgehoben dargestellt wurde, als genuin jesuanisches Gut zu betrachten, obwohl sie vielleicht erst späteren Dissens der Urgemeinde mit der jüdischen Umwelt wiedergeben. Die großen Schwierigkeiten, Jesus gegenüber seiner jüdischen Mitwelt herauszuheben, standen anfangs weniger im Blickfeld. Wir wissen aber auch heute aus jüdischen Quellen nur sehr wenig Konkretes etwa über die theologischen Artikel "Jesus Christus", in der 1. Auf!. des RGG, Bd. III (Tübingen 1912) 359. Bekanntlich haben K. L. Schmidt, der diesen Artikel in der 2. Auf!. des RGG übernahm, Bd. III (Tübingen 1929) 110-151, wie auch R. Bultmann, darauf verzichtet, Kriterien zu entwickeln, nach denen innerhalb der ältesten, form geschichtlich etwa zu erhebenden Schichten echtes J esusgut unterschieden werden könne. Das Vorhandensein solchen Gutes gibt er zu, auch für traditionsgeschichtlich jüngere Schichten, a. a. O. 116 f; vg!. Lehmann, Quellenanalyse, 166. 59 Bultmann, Geschichte, 132 ff 222. 60 Durch seinen Vortrag über "Das Problem des historischen Jesus" (1953), Zitat a. a. O. 205, regte E. Käsemann die Diskussion um den historischen Jesus neu an. 61 RGG 3III, 623. 58
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Ansichten der galiläischen Synagoge und überhaupt der näheren Umgebung Jesu. Das Kriterium hat den Nachteil, wenn überhaupt, dann nur sehr minimale Einzelzüge erheben zu können. Neuere Forschung zeigt die Bezogenheit des palästinischen Judentums auf das hellenistische und erst recht die Beziehungen des Judenchristentums zur hellenistischen Umgebung. Trotzdem können mit diesem Grundsatz Kristallisationspunkte des "Jesuanischen" in Jesu Botschaft und Leben erarbeitet werden. Sein Anwendungsbereich umfaßt nicht bloß die herausragenden Besonderheiten J esu, sondern gerade auch Worte und Verhaltensweisen, die indirekt seinen Anspruch vertiefen. Solche Aussagen in der evangelischen Tradition werden naturgemäß den "jüdischen" Erwartungen weitgehend entsprechen. Das mit diesem Kriterium erarbeitete Material ist vielfach eingebettet und verbunden mit anderem überlieferungsstoff. Dieses Kriterium tendiert daher auf Ergänzung durch weitere 62. 4. Kriterium: Von Worten oder Verhaltensweisen Jesu, die mittels des vorgenannten Kriteriums gewonnen wurden, läßt sich unter bestimmten Bedingungen auf weiteres authentisches Gut schließen. Dieses Kriterium verweist auf den formalen und sachlichen Zusammenhangvon überlieferungs einheiten im engeren oder weiteren Kontext. Aufgrund dieses Zusammenhangs kann auf Authentizität des benachbarten überlieferungsgutes geschlossen werden. Man mag die Historizität einer bestimmten "ipsissima vox", etwa der Gottesanrede "Abba" im Munde J esu, oder eines "ipsissimum facturn", z. B. der Exorzismen J esu, in gewisser Hinsicht für wahrschein Darauf wurde von Anfang an verwiesen. Bereits Heitmüller, a. a. 0., geht so vor. Käsemann, a. a. O. (Anm. 49) 205, anerkennt dies. Vgl. N. A. Dahl, Der historische Jesus als geschichtswissenschaftliches und historisches Problem, in: Kerygma und Dogma 1 (1955) 104-132 120; J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I (Gütersloh 1971) (zusammenfassend bezüglich seiner früheren Untersuchungen S. 38 ff); Perrin, Rediscovering, 39 ff; F. Lentzen-Deis, Die Wunder Jesu, in: Theologie und Philosophie 43 (1968) 392-402 400ff; Pesch, Taten, 140ff. Lehmann, Quellenanalyse, 178-186, der anhand von gut ausgewählten Beispielen die verschiedenen Stellungnahmen zur Gültigkeit dieses Prinzips darlegt, ist zuzustimmen, wenn er abschließend urteilt: ,,(Es) ist gegen den Vorbehalt O. Cullmanns nicht einzusehen, warum nicht - entsprechend den Prinzipien SchmiedeIs und Heitmüllers - jedes auf einem Wege gewonnene Minimum, jeder ,gesicherte Kern' (Cullmann) selbst wiederum zum Kriterium werden können soll, von dem her über benachbartes Gut entschieden werden kann" (185 f). 62
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lich halten. Es lassen sich im Einzelfall aber auch Gegenargumente gegen die Historizität solcher von Judentum und Urchristentum abzuhebenden Jesusüberlieferungen anführen. Das hier genannte Kriterium soll weiterhelfen. Ein Blick in die ArbeitvonJ.Jeremias zeigt, daß bei ihm von Anfang an die "Ausgrenzung" in engster Beziehung zum Vergleich mit ähnlichen Texten steht. Hier wird eine Mehrzahl von Kriterien angewandt. Eine große Rolle spielt aber auch der Vergleich und die Verbindung von Einzelzügen des Bildes Jesu, die durch Unterscheidung als ursprünglich erhoben wurden, mit anderen Zügen im nächsten literarischen Kontext. Mit diesem Kriterium ist vor allem auch der überstieg in die Stoffe angezielt, die nicht solche Abweichungen von der jüdischen Umwelt und dem palästinischen Kolorit aufweisen, wie sie von unserem 3. Kriterium vorausgesetzt werden. Von entscheidender Bedeutung für ein Urteil über die mögliche Authentizität solcher Stoffe ist die sichere Erarbeitung des "Nexus" zwischen ihnen und den mit dem 3. Kriterium erarbeiteten Stoffen. Hier gewinnen die literarkritischen und gattungsgeschichtlichen Untersuchungen entscheidende Bedeutung. Es muß möglichst die Zugehörigkeit zur selben Quelle erwiesen sein. Die genaue Zuordnung in der literarischen Gattung, die Beziehung zum Sitz im Leben, die sachliche Möglichkeit (Notwendigkeit?) der Verbindung aufgrund religionswissenschaftlichen, archäologischen, aus der Wissenschaft vom damaligen Judentum genommenen Vergleichs muß sicher und zuverlässig erhoben werden 63 . 5. Kriterium: Auf diese Weise läßt sich ein gewisser Gesamtrahmen der Worte und der Taten (Verhaltensweisen) J esu zusammenstellen. Die Ursprünge des Versuchs, einen allgemeinen Gesamtrahmen des Lebens und Wirkens und damit der Persönlichkeit Jesu von Nazareth zu zeichnen, fallen in die Blütezeit des Historismus 64. Tatsächlich wird 63 Als Beispiele für Arbeiten über Merkmale und Kriterien der Worte J esu werden gewöhnlich die Untersuchungen der Gleichnisse von P. Fiebig, C. Dodd und bes. J. Jeremias angeführt. J. Jeremias hält weiter die Gottesanrede "Abba", bestimmte "Amen"Formulierungen und andere sprachliche und stilistische Merkmale an den Logien für Charakteristika Jesu. Ihm sind andere Forscher mit unterschiedlicher Zustimmung gefolgt. Vgl. die Zusammenfassung bei Lehmann, Quellenanalyse, 189 H. 64 Siehe oben S. 89 f.
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der Konvergenz von Merkmalen und Hinweisen eine außerordentlich große Bedeutung bei der Erstellung eines annähernd "historischen" Jesusbildes zugemessen. Es bleibt zu fragen, inwieweit damit mehr als ein vager Eindruck von der Persönlichkeit Jesu eingefangen wird. Da anerkanntermaßen keine Biographie Jesu auf diese Weise erstellt werden kann, ist das Ergebnis solcher historischen Forschung jedenfalls verschieden von Darstellungen über Gestalten und Zeiten, über die uns Nachrichten vorliegen, deren historisch-biographischer Charakter erwiesen ist. Eine Zusammenstellung von charakteristischen Zügen Jesu ist in sich kein genügendes Echtheitskriterium für Einzelüberlieferungen. Ganz abgesehen davon, daß Jesus auch einmal gegen seinen sonstigen "Stil" gehandelt haben könnte, liegt hier eben nur ein allgemeiner Rahmen vor. Man wird annehmen können, daß die später in der Urgemeinde erfolgenden Verdeutlichungen und Erweiterungen der Tradition sich auch an einen solchen Gesamtrahmen gehalten haben. So kann man spätere Bildungen bloß mit Hilfe solcher allgemeinen Charakteristika nicht ausschließen. Die Anwendung dieses Kriteriums macht die literarische und traditionskritische Untersuchung nicht überflüssig, sondern fordert sie. So kann man nicht davon ausgehen, daß die "Breite der überlieferung" schon durch Nebeneinanderstellung von Texten mit denselben Inhalten erreicht würde. Vielmehr ist die Ursprünglichkeit der Vergleichstexte für jeden einzelnen Fall traditionsgeschichtlich zu erweisen. 6. Kriterium: Worte und Taten J esu, die als authentisch erhoben werden, sind immer im Vergleich miteinander und mit dem oben genannten Gesamtbefund zu werten.
Aus sich allein läßt sich praktisch keine Erzählung über J esus als historisch rechtfertigen. Die Logienüberlieferung muß herangezogen werden, um wenigstens die Hauptzüge einer Tat oder einer Verhaltensweise J esu zu bestätigen. Der Gesamtrahmen kann dann die historische Wahrscheinlichkeit bestätigen. Solche mehrfache Bezeugung, vielleicht gar in Primärquellen, ist überlieferungen vorzuziehen, die nur einmal vorkommen und auch im Gesamtrahmen einzig dastehen.
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7. Kriterium: Die Ergebnisse wie die Arbeitshypothesen sind jeweils
kritisch gegeneinander abzuwägen und am Gesamtbefund zu prüfen. Den seiner Methode anhaftenden Gefahren und ihren möglichen Engführungen, seiner eigenen "Methodenblindheit" kommt der Historiker nur auf die Spur, wenn er nicht boß auf die sachgerechte Durchführung der einmal adoptierten Arbeitsmethode achtet, sondern auch auf den Vergleich mit anderen Methoden, und dies auf Schritt und Tritt. Durch die Gewöhnung an eine bestimmte Schule und an gleichsam "hausinterne" Verständigungen über die Arbeitsweise, auch über den Fachjargon, zusammen mit der Erfahrung, daß bestimmte Erfolge auf solche Weise erzielt wurden, kann eben Methodenblindheit gefördert werden. Lange Schulung und Erfahrung werden die kritische Grundhaltung auch gegen die eigene Methode richten. Gegenüber den Ergebnissen der exegetischen Arbeit ist mit diesem Grundsatz eine weitere Offenheit postuliert. Es gibt keinen Stillstand der Exegese, bis nicht jedwede Gegenprobe ausgeschlossen ist. Aber auch schon auf einer viel vorläufigeren Stufe des Arbeitsprozesses kann dieses Kriterium Halt gebieten. So können langwierige Irrwege vermieden werden. "Kritik der Kritik" ist also gefordert. Dies alles soll und darf nicht bedeuten, daß keine Arbeitshypothesen entworfen und durchgespielt werden dürften. Die Exegese lebt vom Vergleich und von der Erprobung ihrer Ergebnisse im Vergleich auf ihre Weise ähnlich wie die Naturwissenschaften vom Experiment. Diese Prinzipien gelten mit besonderem Nachdruck, wenn es sich um die letzte und "innerste" Schicht der Tradition handelt.
H. DIE KRITERIEN IM WANDEL DER METHODISCHEN LEITVORSTELLUNGEN
Zur Kritik an den bisher aufgestellten Kriterien der Historizität in der Jesusüberlieferung wurde vieles bereits im ersten Teil genannt. Aus der gesamten Diskussion ergibt sich, daß besonders ein Vergleich der Denkmodelle und Voraussetzungen, welche früher schon zu einer vereinfachten Sicht der Kriterien führten und Kritik an den Kriterien hervorriefen, zur Methodenreflexion behilflich sein könnte. Damit der 102
wesentliche Punkt deutlich werde, sei ein solcher Vergleich vereinfachend auf zwei Grundmodelle hin zugespitzt, die in "Reinkultur" heute wohl kaum noch aufzuspüren sind. Eine innere Schwierigkeit der oben zusammengefaßten Kriterien scheint aus der nicht recht zu Ende gedachten übernahme form geschichtlicher Methoden in die vorausliegende Art und Weise historisch-kritischer Exegese herzurühren. Durch die weiterschreitende Entwicklung, die sehr viele Voraussetzungen und Bedingungen veränderte, welche noch zur Zeit der Begründung der Formgeschichte galten, sowie durch den allgemeinen Aufbruch der Methodenkritik, auch in Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft, wurde diese Schwierigkeit verschärft. Ehe wir die Leitvorstellungen vereinfacht skizzieren, sei auf ein wohl allen Exegeten gemeinsames Verständnis von "geschichtlicher" Darstellung hingewiesen. Die historisch-kritische Exegese beruht wie die moderne Geschichtswissenschaft auf der Voraussetzung, daß die Geschichte der Menschen sich als aus erhebbaren Gründen, Motiven und Bedingungen verstehbare "Entwicklung" darstellen lasse. Bereits die "heilsgeschichtliche" Konzeption des Mittelalters stellte sich die Weltgeschichte als auf den jüngsten Tag hingerichteten Entwicklungsprozeß vor. Der Gedanke der "Evolution" prägte dann -losgelöst von seinem religiösen Bezug - die Naturwissenschaften der Neuzeit und auch die Geschichtswissenschaft seit dem Historismus 65.
1. Das vom Entwicklungsgedanken geprägte methodische Leitbild Der Evolutionsgedanke wurde von den Exegeten im Gefolge des Historismus in einer besonderen Zuspitzung aufgenommen. Wie ihre Kollegen unter den Profanhistorikern standen sie in der Auseinandersetzung mit den idealistischen Geschichtstheorien. Betont wurde die Geschichtswirksamkeit des "Individuums" Jesus von Nazareth. Die Impulse, die Jesus gesetzt hatte, sollten rückverfolgt werden. So wurden sie alle auf ein und denselben Ursprung bezogen, nämlich auf die 65 Vgl. Bernheim, Lehrbuch, 10 H. Meinecke, Historismus, hat diese Tatsache breit ausgeführt. J. M. Robinson betont sie wiederum scharf in seinem grundsätzlichen, einleitenden Beitrag in: H. Köster und j. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums (Tübingen 1971).
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Person Jesu. Zwar beschrieb man auch die vielfältigen Umweltbedingungen, aber gerade in ihnen und in der Auseinandersetzung mit ihnen, so suchte man zu zeigen, bewährte sich die Persönlichkeit Jesu. Sie setzte ihren "christlichen" oder jedenfalls einmaligen Akzent, welcher danach weiterwirkte und andere Menschen anzog. Das Vorstellungsmodell, das hinter diesen Bemühungen steht, verfolgt die verschiedenen Evangelientraditionen zurück auf einen Anfangspunkt hin, auf einen Ursprung. So hat man die J esustradition mit einem Strom verglichen, der sich zwar erweitert und vieles einbezogen habe, der aber im letzten auf eine Quelle zurückgehe. Ein Zurückgehen zur Quelle bedeutet dann gleichsam ein Zurückrudern auf diesem Strom. Dabei müssen zwar manche Schwierigkeiten, Engpässe und Stromschnellen, überwunden werden, grundsätzlich aber gilt es als möglich, bis zum Ursprung, d. h. bis zu Jesus, zu gelangen. Dieses Vorstellungsbild findet sich vielleicht am besten bei J. Weiß beschrieben: "Wie der Fluß die Kiesel schleift und rundet, die er mit sich führt, wie er einzelnes von dem, was auf der Welle treibt, auswirft und liegenläßt und dafür anderes vom Ufer losreißt und mitnimmt, so ist es auch mit der überlieferung der Worte Jesu zugegangen. Darüber sind sich alle gewissenhaften und unbefangenen Exegeten seit langem einig und bemühen sich, durch sorgfältige Vergleichung zu ermitteln, was als ursprünglich gelten darf. "66 Wie schon erwähnt, waren die Bemühungen um die ältesten Quellen von der überzeugung getragen, man könne in solchem Urgestein der überlieferung historisch getreue Erinnerung, den Beitrag von Augenzeugen, die wörtliche Weitergabe eines J esuswortes, die ursprüngliche Fassung eines Jesusgleichnisses finden. Die Redaktionsarbeit an den ersten Quellen beachtete man damals noch wenig oder schätzte die Absicht der überlieferer als der historisch-chronistischen recht ähnlich ein. Die Vermutung, es könne auch in ihrer Formulierung authentisches J esusgut enthalten sein, ist geblieben. Man sucht es mit den gegebenen Methoden zu erheben. Schließlich wurden formgeschichtliche überlegungen und Arbeitsmethoden in den Dienst der Erforschung vorösterlicher Jesusnachrichten gestellt, so vor allem in dem bekannten Artikel von H. Schürmann über "Die vorösterlichen 66 J. Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (Göttingen 21900) 36; vgl. Lehmann, Quellenanalyse, 165 Anm. 6.
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Anfänge der Logientradition" aus dem Jahre 1960 67 . Die Weiterführung der methodischen überlegungen zeigt der neue Aufsatz desselben Autors "Wie hat Jesus seinen Tod bestanden und verstanden? Eine methodenkritische Besinnung" 68. Gegen solche Versuche wird der Vorwurf der Grenzüberschreitung erhoben. Er soll hier aufgenommen und an der anderen fundamentalen Leitvorstellung illustriert werden. Zunächst hat man kritisch gefragt, warum "Kriterien der Historizität" so viel Anklang gefunden hätten bei Exegeten, die der form geschichtlichen Methode ursprünglich fernstanden, besonders im angelsächsischen, im skandinavischen und auch im lateinischen Raum. Wir führen nur einige Arbeiten aus jenen Bereichen an. T. W. Mansan, C. H. Dodd, V. Taylor hatten Entwürfe über die Entwicklung der Jesustradition und des apostolischen Kerygmas erstellt. Deren Textfundamente wurden jedoch schließlich anders erklärt, nämlich als redaktionelles Eigengut der jeweiligen Evangelisten bzw. Tradenten. Man wird hinzufügen dürfen, daß allerdings auch heute die Untersuchung der Frage noch nicht befriedigend zu Ende geführt werden konnte, ob den jeweiligen Evangelisten nicht doch eine überlieferung vorlag, die in manchem wesentlichen Zug und vielleicht in einigen Details auch historisch der Entwicklung entsprochen haben kann. H. Riesen/eId und B. Gerhardsson verglichen die Predigt Jesu und die Schulung der ersten Anhänger durch ihn mit der rabbinischen überlieferungs- und Memoriertechnik. Sie übernahmen viele Einzelargumente aus der Arbeit ganzer Forschergenerationen, welche den jüdischen Hintergrund der Evangelien untersucht hatten. Es sei nur an J. Light/oot, G. Dalman und A. Schlatter erinnert. Man warf - neben Einzelbestreitungen - kritisch ein, die rabbinischen Verfahren dürften nicht in das Leben Jesu rückprojiziert werden, und lehnte daher den ganzen Versuch ab. In Weiterführung der Erforschung des jüdisch-palästinischen Hintergrundes erarbeitete J. Jeremias eine Reihe von sprachlichen, die Form betreffenden, stilistischen, aber auch inhaltlichen Merkmalen, die den "Sitz im Leben Jesu" aufzeigen sollen. So hat er Charakteristika von Einzellogien und von Gleichnissen dargestellt. 67 In: Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien (Düsseldorf 1968) 39-65. 68 In: P. Hoffmann -N. Brox - W. Pesch (Hrsg.), Orientierung an Jesus. Zur Theologie der Synoptiker. Festschrift J osef Schmid (Freiburg i. Br. 1973) 325-363.
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Ein Hauptvorwurf richtet sich in jüngster Zeit gegen das von der "Entwicklung" beherrschte methodische Leitbild: Wird die historische Beurteilung der Jesusüberlieferung nicht beeinflußt von einer vorschnellen übertragung des Bildes der einlinigen Entwicklung, der aufsteigenden Wachstumslinie aus einem Ursprung? Ist dieses Denkmodell nicht zu einfach? Verführt es nicht zur Historisierung, wo doch weiterer Zweifel angebracht wäre? Dagegen wird ein anderes Vorstellungsbild gesetzt, welches die "Formgeschichte" prägte.
2. Das Vorstellungsbild von den mehrfachen Traditionsströmen Die Väter der "Formgeschichte" haben die Evangelien konsequent als Schöpfungen der urchristlichen Gemeinde verstanden. Mit Hilfe der Literarkritik und der Formgeschichte suchte man für die Jesusüberlieferung einen "Sitz im Leben" der Gemeinde zu ermitteln. Ein entsprechendes Vorstellungsbild für den möglichen Verlauf der Tradition wurde vielleicht zuerst von W. Bauer in seinem Werk "Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum"69 genannt. Er erläutert zwei große Strömungen im Urchristentum und meint damit die damalige Polarisierung zwischen "Orthodoxie" und "Häresie". Erst von einem bestimmten Zeitpunkt an, nach dem Niedergang der eschatologischen Orientierung in der frühen Christenheit, beim Auszug aus dem palästinensischen Kulturbereich, habe sich die positive Einstellung der Christen zur antiken Kultur ergeben. A. von Harnack stellte die weitere Entwicklung in seiner Dogmengeschichte unter dem Leitmotiv der schleichenden Hellenisierung des Christentums dar, wodurch er die spätere Forschung in eine Richtung lenkte, die einen einseitigen Akzent trug. Aber das Bild von den eigentlich gleichwertigen Strömungen bei W. Bauer hat Schule gemacht und sich weiterentwickelt. Jenes zweite Vorstellungsbild, das die Methode inspiriert, könnte man etwa so umschreiben: Der Forscher wird auf dem Strom der evangelischen überlieferung zurückgeführt in eine Art Delta, wo er auf vielen kleineren Zuflüssen und schließlich Rinnsalen bis zu einem Katarakt gelangt, welcher die Entstehung der christlichen Botschaft nach Ostern symbolisieren mag. Was davor liegt, ist nicht zu ergrün69
Tübingen 1934; vgl. die Einleitung, S. 1-10 und das 10. Kap., S. 231ff.
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den und vom Nebel und Schleier der Unerforschlichkeit bedeckt. An die Stelle der einen Quelle ist eine Vielzahl von Flüssen und Rinnsalen getreten. Der Strom der überlieferung läßt nur bis zu den urkirchlichen Gemeinden gelangen. Entsprechend stellt die Exegese am Neuen Testament heute Kataloge von Gemeinden oder von Gemeindegruppen und -strukturen auf, welche die Schöpfer und Träger der einzelnen überlieferungen sein sollen. Es seien zur Erläuterung nur einige Beispiele, fast willkürlich, herausgegriffen. H. Köster 70 nennt vier verschiedene Kristallisationspunkte, wo sich die christologischen überlieferungen formten: 1. die entsprechend dem Kerygma von 1 Kor 15,3 ff konzipierte Christologie von Kreuz und Auferstehung liege in den älteren Passionsstrukturen vor, 2. die von Analogie zur jüdischen Weisheit die Spruchsammlungen in Q schaffende Christologie und die entsprechende Gruppe, 3. die Urheber der vormarkin. Gleichnissammlungen (etwa hinter Mk 4 und Mt 13), 4. die im Vergleich mit den in 2 Kor an ge zielten Paulusgegnern verständlichen Wundermanngeschichten, die Markus überliefere. In seiner Untersuchung über Q nennt S. Schulz 71 "u. a. fünf Traditions- bzw. Gemeindebereiche mit eigenständigen und auch unterschiedlichen kerygmatischen Entwürfen: 1. die Q-Stoffe, 2. das Kerygma der Jerusalemer Gemeinden (die ,Hebräer' und die Stephanus-Leute), 3. die Markus-Traditionen, 4. die vorpaulinische Gemeindetradition (d. h. die apokalyptische und gnostisierende Traditionsschicht) und 5. die vorjohanneische überlieferung". Es gibt noch weitere Unterdifferenzierungen, etwa die Zuweisung vieler Jesusperikopen als Gemeindegründungslegenden an bestimmte Orte durch G. Schillen. überlegungen von E. Käsemann, Ph. Vielhauer und A. Satake werden weitergeführt, um die eschatologische und enthusiastische Bewegung zu beschreiben, die sich in Gemeinden mit pneumatisch begründeter Gemeindeordnung niederschlage. S. Schulz schließt auf eine derartige Gemeinde, in der Q unter Leitung christlicher Propheten entstand. Auch er definiert einen geographischen Ort 73 . 70
H. Köster, Ein Jesus und vier ursprüngliche Evangeliengattungen, in: H. Köster u. Entwicklungslinien, 147-190. S. Schulz, Q, die Spruchquelle der Evangelien (Zürich 1972) 43. Vgl. meinen Aufsatz in: Theologie und Philosophie 43 (1968) 396 H. Schulz, Spruchquelle, 42 u. ö.
J. M. Robinson, 71 72 73
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3. Forschritt unter der Gefahr methodischer Engführung
Mit dem Vorstellungsmodell der Formgeschichte, das auf ein Gemeindemilieu und eine nachösterliche Entstehungssituation der überlieferung ausgerichtet ist, wird die Aufmerksamkeit des Forschers von selbst auf mögliche Schöpfer, nicht bloß Träger der überlieferung gelenkt. Noch vor etwa einem Jahrzehnt hatte eine nicht geringe Zahl von Exegeten bestimmte Logien Jesu als "ipsissimae voces" - wenn auch unter einigem Vorbehalt - akzeptiert. Sie schienen sich durch manche Merkmale als authentisch auszuweisen, etwa durch aramäisch-palästinisches Kolorit, eine prophetisch-enthusiastische oder prophetisch-apokalyptische Form, durch ihre Verbindung zu Reich-GottesAussagen, und weil sie einen gewissen einmaligen Absolutheitsanspruch zu enthalten schienen. Mittlerweile werden durch immer sorgfältigere Vergleiche jene Merkmale des Stils, der Form und des Inhalts auf nachösterliche Gemeindesituationen zurückgeführt. Die Gemeinde habe sie in das Leben J esu hineinprojiziert. Die allgemeinere methodische überlegung, die dem zugrunde liegt, mag man etwa wie folgt formulieren: Der Schluß auf eine historisch primäre Schicht der überlieferung "ist dem Exegeten dann unmöglich, wenn die literarisch sekundären Schichten aus anderen Gründen auch als historisch erst für eine bestimmte Situation denkbar nachgewiesen werden"74. Was für die Logienüberlieferung gelten soll, wurde auch auf die Gleichnisse angewandt. Angefangen etwa mit P. Fiebig, weitergeführt durch viele andere, zu einer gewissen Ausformung geführt durch J. Jeremias, hatte die Gleichnisauslegung - aufgrund einer Reihe von Merkmalen wie palästinisches Kolorit, Sprache, Entsprechung zur möglichen Situation Jesu, deutlich erkennbare und abhebbare spätere Weiterführung usw. - eine Reihe von Gleichnissen zum "Urgestein der überlieferung" gezählt. Eine besondere Rolle spielte dabei auch die Ursprünglichkeit des Stiles und die einfache, geniale Form. Manche Zweifel sind daran laut geworden. K. Berger 75 unternimmt nun auch 74 K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament, I (WMANT 40) (Neukirchen 1972) 587. Der angekündigte methodische Grundsatzartikel des Autors war mir nicht zugänglich. Der hier genannte Grundsatz entspricht in solch theoretischer Formulierung dem kritischen Prinzip, das oben im 7. Kriterium ausgedrückt wurde. 75 K. Berger, Materialien zur Form und überlieferungsgeschichte neutestamentlicher Gleichnisse, in: Novum Testamentum 15 (1973) 1-37.
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einen Angriff auf das Argument der eigenständigen, ursprünglichen Form. Er beruft sich auf Vergleiche mit dem näheren und weiteren Umkreis der evangelischen Schriften. Er stellt eine weitgespannte übereinstimmung aller Gleichnisse in der Form fest. Zu den einzelnen "Pointen" bestimmt er dann einen jeweiligen Sitz im Leben. Als Ergebnis schließt er auf eine damals bestehende jüdische Schultradition, in der Gleichnisse erzählt und auch bestimmte Inhalte überliefert wurden. Diese Schultradition umfasse Elemente der prophetischen Verkündigung, der jüdischen Weisheit, aber auch der damaligen Popularphilosophie. Berger will nicht auf literarische Abhängigkeit der Jesusparabeln von bestimmten Gleichnissen schließen. Sein Formverglei.ch führt vielmehr zur Folgerung gleicher Auslegungstendenzen in einer bestimmten Tradition. Darin seien "nicht nur bestimmte immer wiederkehrende Stoffe und Bilder traditionell, sondern auch eine gewisse Struktur der Gleichnisse und der Ort der Pointe ,vorgeplant' "76. So könne wenigstens mit Bezug auf die Form in den Gleichnissen nicht von jesuanischer Originalität gesprochen werden. Das Christliche dieser Gleichnisse erwachse aus ihrem Inhalt, aus ihrer Funktion im Kontext der von Jesus überlieferten Verkündigung. Zur Klarstellung sei hinzugefügt, daß gerade K. Berger sowohl in dem Buch über Jesu Gesetzesauslegung wie im Artikel über die Gleichnisse 77 die weitere überlegung nach dem, was auf J esus zurückgeht, nicht vernachlässigen will. Diese überlegung wird genauer, sie wird weiter "erschwert" und differenziert. Das oben genannte methodische Vorgehen hat erst recht für den Erzählstoff weitere Konsequenzen gehabt. Die Eigentätigkeit des Erzählers wie der überlieferer wirkte sich bei der Darstellung von Taten Jesu naturgemäß viel stärker aus als bei der Wortüberlieferung, wo eine "Wort-für-Wort-Weitergabe" immerhin noch möglich ist. Alle neueren Arbeiten über die Wunder Jesu, besonders über solche, die als "ipsissima facta" in Frage kämen, suchen Frontstellungen oder bestimmte Milieus im Leben der Gemeinden bzw. im Leben Jesu zu bestimmen. Die "Wundermann"-Geschichten scheinen von einer ausgrenzbaren Herkunft dieser Tradition zu zeugen. Die neueren Arbeiten bestätigen, daß die Erhebung eines sicheren Kerns von Wundern 76 77
Berger, Materialien, 19. Gesetzesauslegung, 588 ff; Materialien, 37.
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Jesu im Zusammenspiel der literarkritischen und gattungsgeschichtlichen Untersuchung und in der Konfrontation der Kriterien immer schwieriger und komplizierter wird. Wunder, die man noch vor nicht langer Zeit Jesus zuschreiben zu sollen glaubte, werden jetzt aufgrund konsequenter Anwendung der Kriterien im Rahmen der form geschichtlichen Methode historisch unwahrscheinlich 78. Von da aus erheben sich zwei Fragen: Einmal, ist die Verbindung der beiden Leitvorstellungen, die wir hier bildhaft überspitzten, nicht de facto schon gelungen? Und sind dadurch die bisher aufgestellten Kriterien nicht ein wenig obsolet, auf die Seite geschoben, weil doch das "form geschichtliche" Leitmodell einen überstieg in das Leben des irdischen J esus praktisch unmöglich macht? Zweitens, ist die Rolle der in den bisherigen, nur leidlich verbesserten Kriterien ausgedrückten Einsicht in die Möglichkeiten historischer Forschung und historisch-kritischer Methode damit schon ausgespielt, oder läßt sich von der oben umrissenen Engführung her ein Ausblick auf die Verbesserung der Methoden, auf Ansätze zur Methodenreflexion gewinnen? Im Schlußteil soll der Ansatz einer Antwort versucht werden.
III. DIE KRITERIENFRAGE ALS ANSTOSS ZUR WEITERFüHRUNG DER EXEGETISCHEN METHODEN
Die erste Frage, ob die beiden Leitvorstellungen faktisch bereits verbunden seien, läßt sich durch einen Blick auf die exegetische Arbeit der letzten Jahre beantworten. Die Mehrheit der Exegeten hat die form geschichtliche Methode nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern vieles daraus akzeptiert. Das Wissen um die Entstehung der eigentlichen Evangelientradition nach Ostern gehört zu den Selbstverständlichkeiten. Zunächst läßt sich in den evangelischen Traditionen 78 Vgl. K. Kerte/ge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung (StANT 23) (München 1970). Kreuzpunkte in der Diskussion zeigen auch an: F. Mußner, Die Wunder Jesu. Eine Hinführung (München 1967); R. Pesch, Taten, und für den Zusammenhang von Wort- und Tatüberlieferung A. Vägtle, Wunder und Wort in urchristlicher Glaubenswerbung (Mt 11,2-5/ Lk 7, 18-23), in: Das Evangelium und die Evangelien (Düsseldorf 1971) 219-242.
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die "Gemeinde" erreichen. Die daraus folgenden Regeln der Textuntersuchung werden probiert und geübt und die Ergebnisse diskutiert.
1. Das kritische Grundprinzip Die Exegese gehört zu den artes, sie lebt aus der Praxis und sie erneuert sich daraus. Im Bewußtsein der Exegeten selbst steht wohl immer eine Empfindung, die L. von Ranke für sich als Historiker einmal so ausdrückte, daß er eigentlich weniger versucht habe, seinen großen Vorgänger Barthold G. Niebuhr nachzuahmen. Vielmehr sei seine Methode mit einer gewissen inneren Notwendigkeit aus der Arbeit erwachsen 79. Und dies kann er sagen, obwohl die Methode von Niebuhr voll in seine eigene Forschung und in die des Historismus eingegangen ist. Wenn sich trotz des je neuen Einlassens einander folgender Generationen von Historikern und Exegeten auf die Dokumente der Vergangenheit gewisse Konstanten und Regelmäßigkeiten im praktischen Vorgehen ergeben, und dies, obwohl Voraussetzungen, Situation und Sicht der Nachfolger von den Bedingungen der Vorgänger sehr verschieden waren, beweist das die Kraft des vorwärts treibenden kritischen Grundprinzips, welches in diesen Regelmäßigkeiten und wiederkehrenden, konstanten Arbeitsanweisungen enthalten sein muß. Damit ist auch die zweite, oben gestellte Frage nach der Rolle der Kriterien in der Zukunft angesprochen. Es ist nicht möglich, irgendeine der artes liberales, auch nicht die Exegese, ohne "Lernprozeß" und ohne Anleitung zu erwerben. Aber jede Anleitung tendiert dahin, sich selbst aus der eigenen Praxis zu erneuern. Selbstverständlich spielt neben diesem inneren Erneuerungsanstoß die Einwirkung der benachbarten Disziplinen, auf die auch der Exeget hören muß, eine große Rolle. Die Einflüsse aus den neuen Gegebenheiten einer Zeit, die neue Disziplinen und neue Methodenüberlegungen auftauchen lassen, wirken zugleich auch von innen und machen sich so in den alten Disziplinen in der praktischen Arbeit bemerkbar. 79
Wach, Verstehen III, 89ff.; Gooch, Geschichte, 87ff; Lonergan, Method, 197.
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2. Wechselwirkungen zwischen "Judentum" und "Hellenismus" So haben sich in den vergangenen Jahren bei der Arbeit der Exegeten gleichsam unter der Hand neue Erkenntnisse ergeben, die sofort auch auf das Instrumentar einwirken. Zunächst ist die Verschiedenheit der "palästinischen" und "hellenistischen" Kultur- und Lebenssituation, die seit A. von Harnack, W. Bausset und R. Bultmann Hilfestellung bei der Einteilung von Gemeindemilieus bot, in neue, differenziertere Facetten gespalten worden. Die früher angenommene deutliche Verschiedenheit besteht nicht, auch das palästinische Judentum ist vom Hellenismus durchdrungen. Ein Ansatz von "Einjudung" ursprünglich andersartigen Gutes liegt erheblich früher; deshalb muß die (komplexer als früher zu definierende) jüdische Komponente in der urchristlichen Tradition (und bei Jesus) besser erforscht werden. Damit besteht vom Inhalt her die Möglichkeit, daß manches "früh-nachösterliche" Gut nicht mehr sicher in die nachösterliche Zeit verlegt werden müßte, falls z. B. nicht deutlich nachösterliche Gemeindeauseinandersetzung mit dem Judentum nachgewiesen werden kann. Theologische Ideen, Bilder, Argumentationsweisen der frühen Synagoge können sich auch bei Jesus finden. Jesustraditionen, die sicher nach Ostern geformt wurden, können doch im Anschluß an den Gebrauch solcher Bilder und Denkweisen bei Jesus gebildet worden sein.
3. Die Rolle der "Schrift" Die konsequente Erforschung der damaligen hellenistischen und jüdischen Literatur eröffnet neue Einsichten in die Ausdrucksweisen jener Zeit. Gewiß ist all diese Literatur keine Geschichtsschreibung, dies gilt selbst für Chroniken. Die Ausdrucksweise der Evangelien entspricht zwar nicht, was die Gattung des Evangeliums selbst angeht, wohl aber in vielen kleineren Einheiten den in der damaligen apokalyptischen und apokryphen Literatur gebrauchten "genres litteraires". Die jüdische Eigenart, aus theologischen Gründen Erklärung und Verstehen für alle Gegebenheiten in der Schrift, dem geschrieben vorhandenen Gesetz, den Propheten und Hagiographen, zu suchen, zwingt, die vielfältige Art und Weise des jüdischen Umgangs mit der Schrift zu differenzieren und genauer zu untersuchen. Die "jüdische" Komponente in der evangelischen überlieferung bezeugt sich gerade auch in der Schriftverwendung. Deshalb ist es nicht möglich, einfachhin aus der vergleichen112
den Sprachwissenschaft oder aus Folklore-Untersuchungen Gesetze der mündlichen überlieferung auf unsere Literatur zu übertragen. Im Judentum gibt es eine Variante: der tägliche Rückgriff auf die Schrift auch im Alltag wird Kristallisationspunkt für Neuauslegung, Aneignung, die Neuschöpfung und zugleich traditionelles Verhalten darstellt. Auch in der Neuauslegung, in der schöpferischen Anwendung und Ausgestaltung, in der Anpassung des Gottesgesetzes im konkreten Fall, wird ein bestimmter Kanon gewahrt, der den Rückbezug auf die Schrift immer wieder "buchstäblich", durch den Hinweis auf Worte, Zahlen, Buchstaben, Bilder und Zitate sucht. Die Schriftverwendung hat in den verschiedenen Literaturarten im Umkreis des Neuen Testaments verschiedene Akzente. Aber viele der Verfahrensweisen dieses Umgangs finden sich nicht nur im Neuen Testament, sondern auch in mehreren, voneinander nicht literarisch abhängigen anderen jüdischen Schriften. Die Gesetze, nach denen solche Schriftverwendung und aus der Schrift und der Tradition über die Schrift gewachsene Redeweisen, Halacha und Haggada, sich erweitern und entwickeln, um auch wieder eingeengt zu werden, werfen neues Licht auf die verschiedenen Weisen, in denen verschiedene Evangelisten über Jesus von Nazareth und die U rgemeinde berichten. Es geht nicht an, diese Verschiedenheiten durch den Hinweis auf verschiedene Hörer und auf verschiedenes Ursprungsmilieu - hie palästinisches, da jüdisch-hellenistisches, dort schließlich hellenistisch-christliches - und auf verschiedene Redaktion allein zurückzuführen. Die Kontinuität mit dem Ursprung der Tradition ist in weiteren Bereichen, als man das vielleicht früher für möglich hielt, dadurch von Anfang an erleichtert, daß bereits jener Ursprung offen war für "Septuagintismen" und hellenistisches Genre. 4. Folgerungen für die Oberwindung methodischer Engführungen
Daraus ergibt sich für unsere methodischen Prinzipien der Historizität unmittelbar die Folgerung, daß bei der Verschmelzung des form geschichtlichen mit dem älteren Vorstellungsmodell für die Entwicklung der Jesustradition die saubere Anwendung der Kriterien beachtet sein will. Diese Kriterien sind in der Vergangenheit zu dem Zweck aufgestellt worden, den Exegeten anzuleiten beim überstieg vom Text zur "Sache", von der literarischen Analyse zur Interpretation, von der 113
"Philologie" zum "Sinn", von der literarischen zur sachkritischen Fragestellung. Nun gibt es in der Anwendung des form geschichtlichen Methodenmodells einen "methodisch" geforderten Schritt, der eine .Vorentscheidung für den überstieg in die Sachkritik enthält, nämlich die Suche nach dem jeweiligen "Sitz im Leben" und nach der schöpferischen Kraft in der Gemeinde. In den oben zitierten Arbeiten, ausdrücklich bei S. Schulz 80 , wird ein historisches Urteil von R. Bultmann übernommen und als Kriterium und Prinzip verwendet: "Einen Unterschied zwischen solchen Worten christlicher Propheten und den überlieferten J esusworten empfand die Gemeinde nicht, da für sie auch die überlieferten Jesusworte nicht Aussagen einer Autorität der Vergangenheit waren, sondern Worte des Auferstandenen, der für die Gemeinde ein Gegenwärtiger ist." 81 Dieser Satz enthält die Erkenntnis, daß Jesusworte, nach Ostern angewendet und erläutert, von urchristlichen "Propheten" geformt wurden und in das Jesuskerygma eingingen. Zugleich aber bietet Bultmanns Erklärung in ihrer apodiktischen Form die Verschleierung der Tatsache, daß die Anerkennung solcher Worte als Jesusworte in einem bestimmten Rahmen, unter bestimmten Bedingungen erfolgte. Diese Bedingungen lassen sich wenigstens in umrißhafter Form auch aus ähnlichen Untersuchungen in verwandten Wissenschaften (überlieferung mündlicher Tradition von Sagen, Mythen) bestimmen. Aber Analogien zur überlieferung der jüdischen Tradition im Umkreis der Evangelien müssen unbedingt noch zum Vergleich herangezogen werden. Der Schluß auf "Propheten" jeweils als Schöpfer bestimmter Traditionen ist eine Hypothese. Er müßte je neu abgestützt werden. Vor allem läßt sich aus der jüdischen Umwelt aber auch verstehbar und wahrscheinlich machen, daß eine Neuschöpfung von Herrenworten im Rahmen bestimmter Gewohnheiten zu geschehen' hatte, ehe sie in der Gemeinde Anerkennung fand. Das Judentum besaß in jener Zeit bereits eine lange ausgebildete übung, die Schrift anzuwenden und zu "aktualisieren". Solche Aktualisierung geschah auf eine Weise, die nicht willkürlich vor sich gehen durfte, sondern im Sinne und gemäß den Intentionen der Schrift nach der Meinung der gesamten jüdischen Tradition damals geschehen mußte. So wachte in der Synagoge die ganze Gemeinde unter Leitung des Vorsitzenden über die Interpreta80
Schulz, Spruchquelle, 165.
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81
Bultmann, Geschichte, 135.
tion der Bibel auf Aramäisch (Targum). Dabei gab es - und ähnliches gilt noch mehr für andere Formen des Midrasch - eine gewisse Freiheit, eine gewisse Spielbreite der Erläuterung und Paraphrase. Doch geschah solche Verdeutlichung im Rahmen eines gehüteten Kanons von Möglichkeiten 82. Zu bestimmten Zeiten lassen sich diese Möglichkeiten auf einen strengen Kanon festlegen. Ohne daß wir "rabbinische" Memoriertechniken in die Zeit der Urgemeinde rückprojizieren, dürfen wir ähnliches für die Entwicklung und Aktualisierung der überlieferten Jesusworte annehmen. Daß die übersetzung ins Griechische dabei nicht eine völlige Hellenisierung darstellte, beweist die Erforschung der Septuaginta. Dies zeigen auch viele sonstige griechische Zeugnisse aus jener Zeit im palästinischen Raum. Die Mehrsprachigkeit gehört zu den Charakteristika des galÜäischen Judentums wie Jerusalems in jener Zeit. Aber auch für das Erzählgut der Jesustradition lassen sich analoge Gesetzmäßigkeiten in der damaligen Umkreis literatur finden. Die Aufgabe, die Haggada des antiken Judentums genau zu erforschen, steckt noch in den Anfängen. Erst recht ist die Bestimmung der erzählerischen oder literarischen Gattung für kleinere Einheiten noch durchzuführen. Durch Vergleich mit verwandten Texten und durch Analogievergleich mit anderer Literatur nach den Regeln der vergleichenden Sprachwissenschaften lassen sich solche Gattungen der Erzählung und ihr Sinn, ihre Absicht umreißen. Nicht nur Inhalte haben ihre Geschichte, auch Gattungen lassen sich in der Tradition des Judentums durch mehrere Etappen verfolgen. Dieselbe Aussage wird in verschiedener Situation auf verschiedene Weise angepaßt oder "angeeignet". Gattungen tauchen auf, verändern sich und werden nicht mehr verstanden 83. Mit allgemeinen Etiketten, wie "apokalyptische Sprache", ist es nicht mehr getan. Innerhalb der verschiedenen Epochen der Apokalyptik gibt es verschiedene Arten von "Sprachen". Neben vielen Zügen in dieser Literatur, die mit der gesamten Tradition des Judentums übereinstimmen, lassen sich auch eine Reihe Besonderheiten der Sprache, des Inhalts sowie der Form und der verwendeten 82 F. Lentzen-Deis, Die Taufe Jesu nach den Synoptikern. Literarkritische und gattungsgeschichtliche Untersuchungen (Frankfurt a. M. 1970) 199 H, mit synoptischer Nebeneinanderstellung jüdischer Traditionen, die die Abwandlungsmäglichkeiten belegen. 83 F. Lentzen-Deis, Das Motiv der "Himmelsäffnung" in verschiedenen Gattungen der Umweltliteratur des Neuen Testaments, in: Biblica 50 (1969) 301-327.
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Erzählgattungen unterscheiden. Die Gattung der "Vision" z. B. wäre in ihren verschiedenen Abwandlungen, welche jeweils andere Aussageabsichten des Erzählers mit sich bringen, gen au er zu beschreiben. Ähnliches giltfür "Theophanie" und "Epiphanie", welche sich ebenfalls in der Umkreisliteratur des Neuen Testaments in verschiedenen Abwandlungen finden. Durch solche Vergleichsarbeit ließen sich Kategorien erstellen, um die "Christophanien" der Evangelien nach Sinn und Bedeutung gen au er zu bestimmen. An der hellenistischen und hellenistisch -jüdischen Literatur wird, gestützt auf bessere Editionen und neue Funde, ebenfalls intensiv gearbeitet. Auch hier läßt sich mittlerweile in einigen Punkten klarer sehen 84. Auf solche Weise wird das Verstehen der evangelischen Tradition vom Inhalt und von der Form her besser möglich. Eine methodenimmanente Engführung wird auch von der Art der Texte her neu in Frage gestellt. Die angedeuteten Forschungsanstöße jüngster exegetischer Arbeit lassen eine Reihe neuer Gründe erkennen, weshalb in der evangelischen Literatur Jesus im Sinne seiner Intentionen dargestellt wird. Im Vergleich mit dem Profanhistoriker muß sich der Exeget wieder neu fragen, ob er nicht doch die Verpflichtung hat, im Sinne der Texte und Dokumente ein geschichtlich versteh bares Gesamtbild Jesu zu entwerfen. Wenn er sich auf die Merkmale beschränken würde, welche die "Ausgrenzungskriterien" liefern, gelänge ihm nur eine Karikatur der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu. Ein solcher Versuch zeigt allerdings eine veränderte Definition des Begriffs "historisch" gegenüber dem Historismus. Es genügt nicht, ein Bild der Urgemeinden zu zeichnen und dies als "Wirkungsgeschichte" Jesu zu deklarieren. Gerade in diesem Ausdruck zeigt sich noch das "historistische" Geschichtsverständnis. Bisher hat mancher Jünger der Formgeschichte, statt sich des historischen Urteils zu enthalten, "negative" Aussagen über Jesus gemacht, etwa: "Jesus wußte sich nicht als Messias" oder "er hat seinen Tod nicht als Heilsereignis verstanden"85. Es gibt auch noch die biblizistische Auslegung von Texten, die möglichst viele "wirklich geschehene Fakten" festhalten will. "Historisch" heißt in diesen Fällen also "wirklich geschehen und mit ,positiv-wissenschaftlichen' Mitteln belegbar". In das methodische 84 V gl. die fortschreitende Forschung zum "Theios-aner" -Schema, etwa D. Lenz-Tiede, The Charismatic Figure as Miracle Worker (Society of Biblical Literature, Dissert. 1) (Missoula, Monatana 1972). 85 Schürmann, Wie hat Jesus, 358 f.
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Instrumentar sind zudem von anderswoher übernommene Sachurteile eingeflossen, die heute allerdings kritischer Prüfung bedürfen. Eine Biographie Jesu in diesem Sinn läßt sich nicht aufstellen, jenes historistische Ideal ist unerfüllbar. Das gleiche gilt aber auch für manche andere Gestalt der Geschichte. Trotzdem hat die profane Geschichtsschreibung nicht darauf verzichtet, jene Persönlichkeiten geschichtlich verständlich zu machen. "Geschichtlich" kann in diesem Falle nicht mit den obengenannten historistischen Kategorien gleichgesetzt werden. Statt der quantitativen Begriffe, die sich auch in nachscholastischer Redeweise, etwa unter den Formeln der "substantiellen" und "akzidentellen" historischen Glaubwürdigkeit der Evangelien, verbarg, sollte eine dem Verstehens-Vorgang angepaßte qualitative Bestimmung des Historischen versucht werden 86. B. Lonergan 87 schlägt vor, die Krise des Historismus dadurch zu überwinden, daß man einen recht verstandenen Begriff des historischen "Durchblicks" bedenkt. Kein Historiker, überhaupt kein Autor, der Vergangenes oder Zeitgenössisches beschreibt, hat je alle Fakten und Details aufgezählt noch sie alle vollständig analysiert. Jeder gibt "Perspektiven". Diese können verschieden sein, wenn zwei Autoren über denselben Gegenstand berichten. Aber dies muß nicht zum Relativismus führen; in der Geschichtsdarstellung ist ein echter "perspectivism" möglich, und er wird tatsächlich geübt. Solch verschiedene "Perspektiven", oft genug gar nicht im Gegensatz zueinander, vielmehr sich ergänzend, erlauben schließlich doch wirkliches geschichtliches Verstehen. Diese überlegung läßt sich auf die exegetische Auslegung der Evangelientradition anwenden. Dem Vergleich und der Zusammenstellung der Konvergenz der Einzelergebnisse 88 soll die "Konvergenz der Methoden "89 entsprechen. Wie immer man die Kriterien zur Erreichung des Geschichtlichen theoretisch besser formulieren mag, die Praxis wird sie umwandeln und für die neue Zeit neu anwenden. Vgl. bereits Leon-Dufour, Les evangiles, 32. B7 Lonergan, Method, 214-220. Von Schürmann, Wie hat Jesus, mit Nachdruck gefordert und praktisch dargelegt. B9 Paul Ricceur sei stellvertretend für viele andere, die heute den Methodenpluralismus und seine konvergierende Anwendung fordern, zitiert: Du Conflit a la convergence des methodes en exegese biblique, in: X. Leon-Dufour (Hrsg.), Exegese et hermeneutique (Paris 1971) 35-53, jetzt deutsch in: Exegese im Methodenkonflikt (München 1973) 19-39.
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III Methodologie der Frage nach dem historischen Jesus Von Franz Mußner, Regensburg und Mitarbeiter
Vorbemerkung Die folgenden Arbeitspapiere sind das Ergebnis eines Hauptseminars im WS 1972/73 über das Thema "Methodische Zugänge zum historischen Jesus" und einer anschließenden Klausurtagung, die unter der Federführung von Franz Mußner zusammen mit seinen Mitarbeitern Dr. P.-G. Müller, Dr. F. Schnider und Dr. W. Stenger stattfand. Hauptseminar und Klausurtagung dienten der Vorbereitung des Arbeitskreises auf der Wiener Neutestamentler-Tagung vom 3. bis 5. April 1973. Soweit sie auf der Tagung selbst durchdiskutiert wurden, sind die Ergebnisse der Diskussion eingearbeitet und die Formulierungen der Papiere nochmals auf einer zweiten Klausurtagung durchreflektiert und verbessert worden. Im übrigen bedürfte die Vorlage einer eingehenden Ausarbeitung, was im Rahmen dieser Publikation nicht geschehen kann. Sie wird aber, so hoffen die Autoren, auch in dieser Gestalt Anregungen vermitteln.
A. ,,]esus und der Text" Eine Vorüberlegung I. Die Aufgabe, methodische Zugänge zum historischen Jesus zu erarbeiten, hängt zusammen mit dem gewöhnlich "Historischer JesusChristus des Glaubens" formulierten Thema, hinter dem ein Zweitei~ lungsprinzip liegt. Dieser Formulierung gegenüber sind jedoch Bedenken anzumelden, weil sie zu einer simplifIzierenden Auffassung der historischen Tatbestände führen kann; es ist nämlich zu überlegen, ob diese tatsächlich mit dem genannten Zweiteilungsschema zutreffend
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erfaßt werden. Dieses Schema setzt vor allem voraus, daß es nur einen "Bruch", nämlich den von Karfreitag/Ostern markierten "garstigen Graben", gegeben hat. Demgegenüber muß überlegt werden, ob es nicht schon in der vorösterlichen Wirksamkeit Jesu zu einem weitaus folgenreicheren "Bruch" gekommen ist, der mit der "galiläischen Krise" zusammenhängt t, so daß statt mit einem "Zweiteilungsschema" besser mit einem "Dreiteilungsschema" gearbeitet werden sollte. Das würde folgende Einteilung des historischen Ablaufs ergeben: 1. Zeit des Angebots ("Galiläischer Frühling"); 2. Zeit der Ablehnung (beginnend mit der "Galiläischen Krise"), mit Karfreitag als Abschluß; 3. die Zeit der Urkirche, beginnend mit Ostern, die sich wieder teilt in das genuin apostolische Zeitalter der Urkirche und in das beginnende nachapostolische Zeitalter derselben 2 . Insofern könnte man sogar von einem "Vierteilungsschema" sprechen. Diese Sicht hat für die zeitliche und sachliche Zuteilung des Materials der Jesusüberlieferung, speziell von Jesuslogien, folgende Konsequenzen: Es erlaubt einmal eine gewisse Gliederungsmöglichkeit für die etwas amorph anmutende Masse der allgemein von der bisherigen Forschung für vorösterlich gehaltenen Stoffe, insofern sie der Periode des Angebots bzw. jener der Ablehnung zugeordnet werden könnten (Z weistufung des Materials) 3; darüber hinaus ergibt sich die Möglichkeit, Logien, die häufig als Schöpfungen der nachösterlich missionierenden Gemeinde betrachtet werden, der 1 Vgl. dazu F. Mußner, Gab es eine "galiläische Krise"?, in: Orientierung an Jesus. Zur Theologie der Synoptiker (Festschr. für J. Schmid) (Freiburg i.Br. 1973) 238-252; A. Polag, Die Christologie der Logienquelle (Mschr. Diss.) (Trier 1968). 2 Siehe dazu Näheres bei F. Mußner, Die Ablösung des apostolischen durch das nachapostolische Zeitalter und ihre Konsequenzen, in: Wort Gottes in der Zeit (Festschr. für K. H. Schelkle) (Düsseldorf 1973) 166-177. Der übergang vorn apostolischen zum nachapostolischen Zeitalter der Urkirche hat den Rang eines "Bruches", der von der Urkirche bewältigt werden mußte. Aus dieser Aufgabe heraus sind die sogenannten frühkatholischen Schriften des neustamentlichen Kanons erwachsen. 3 Wenn hier von einer "Amorphität" des Logienrnaterials gesprochen wird, so will damit gesagt sein, daß dieses Material am Anfang der nachösterlichen überlieferung ohne erkennbare Gliederungsprinzipien thematischer Art tradiert wurde, was damit zusammenhängt, daß Jesus seine Logien als "Gelegenheitslogien" produziert hat; erst die Erstredaktoren der "Logienquelle" haben die Logien (teilweise) thematisch zusammengestellt. Vgl. dazu Th. Soiron, Die LogiaJesu. Eine literarkritische und literargeschichtliche Untersuchung zum synoptischen Problem (Münster 1916); J. Jeremias, Zur Hypothese einer schriftlichen Logienquelle Q, in: ZNW 29 (1930) 147-149; D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle (Neukirchen 1969); P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (Münster 1972); S. Schutz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten (Zürich 1972).
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vorösterlichen Ablehnungsstufe des Wirkens Jesu zuzuschreiben. Damit würden eventuell auch gewisse Ungereimtheiten in Logien, die bei Annahme ihrer nachösterlichen Bildung nicht zu verkennen sind, ausgeräumt (Beispiel: Chorazinlogion). II. Die übliche Formel "Historischer Jesus - Christus des Glaubens" vermischt außerdem historische Prozesse mit sprachlichen, wodurch vielfach die ganze Problematik, die in Wirklichkeit hinter der Formulierung steckt, nicht genügend ins Bewußtsein kommt. Dagegen kann die Formulierung "Jesus und der Text" diese besser sichtbar machen. Das soll im folgenden Schaubild zur Darstellung kommen, das natfurlich wie jedes derartige Schaubild simplifizierend ist: (S.121). Dieses Schaubild involviert folgende Transformationsprozesse: 1. In der historischen Linie: Von Jesus zu den Redaktoren. 2. In der sprachlichen Linie: Von den Erstlogien und Jesuserzählungen zu den Evangelien. 3. In der textgenerativen Linie: Vom Ereignis (Geschichte) zur Versprachlichung ("Text"). Was "passiert" jeweils bei diesen Transformationsprozessen? Diese Frage muß in der Arbeit stärker als bisher ins Auge gefaßt werden. IH. Der im Schaubild verwendete Begriff "Text" umfaßt im Sinn der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft sowohl mündliche als auch schriftliche Äußerungen. Zu bedenken ist dabei jedoch, daß uns im Neuen Testament nur schriftliche Texte als Zugänge zum historischen Jesus zur Verfügung stehen. Diese Tatsache ist von der bisherigen Formgeschichte nicht genügend beachtet worden, weil schriftliche Texte wie mündliche behandelt wurden. So wird z. B. in der formgeschichtlichen Arbeit der Rückgang von schriftlichen Texten zu ihrem "Sitz im Leben" im Stadium der Mündlichkeit unreflektiert vollzogen (s. dazu Näheres im Abschnitt "Sitz im Leben"). Deshalb ist eine neue Reflexion über die Möglichkeit, vom Niveau der schriftlichen Texte über die Barriere ihrer Verschriftlichung methodisch gesichert in das Stadium ihrer Mündlichkeit zu gelangen, vonnöten, was eine Voraussetzung für den richtigen Weg zurück zum historischen J esus ist. Damit ist ein Postulat aufgestellt, das die Zuwendung der Exegese zur literatur- und sprachtheoretischen Diskussion verlangt'. Ferner ergibt sich als weiteres Postulat, in Zukunft die sprachlichen Transforma120
"Generator" 4
"Text" ) Logien des Angebots ) Texte über den Jesus des Angebots
Jesus Zeugen
1. Bruch ("galiläische Krise") ) Logien der Ablehnung ) Anfänge der LogientraditionS
Jesus Zeugen
...
2. Bruch (Karfreitag/Ostern)
...
Erstverkünder (aln:o:7t't'm)
) Homologese und Jesuserzählungen
Tradenten ("Diener des Wortes")
) Tradition der Homologese und Vorredaktionen ("Sammlungen", z. B. "Q")
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Stadium der beginnenden Schriftlichkeit und der Ausbildung der Evangelienstruktur
3. Bruch (Ende des apostolischen Zeitalters)6 Schlußredaktoren - - - - - - - - - - - + ) Evangelien Kirche ) Kanon
Der Begriff "Generator" ist orientiert an der Generativen Grammatik, die von einem "generieren" von Sätzen bzw. Texten spricht. Der waagrechte Pfeil im Schaubild (-+) bedeutet "generieren". 5 Vgl. dazu H. Schürmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, in: ders., Traditionsgeschichdiche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien (Düsseldorf 1968) 39-65. 6 Vgl. dazu F. Mußner, Die Ablösung des apostolischen durch das nachapostolische Zeitalter und ihre Konsequenzen (s. Anm. 2). 7 Wichtige Ansätze dazu bei E. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums (München 21971). 4
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tionsprozesse zwischen Ereignis ("Existenz") und "Text" ganz anders als bisher zu bedenken, was die notwendige Voraussetzung ist, um aus dem "Text" wieder zurück zum historischen Ereignis zu gelangens. Insofern bedürften auch die folgenden überlegungen noch eines viel intensiveren theoretischen Unterbaus. Jedenfalls zeigt sich als eigentliche Aufgabe nun dies: Wie gelingt es, in methodisch richtiger Weise aus dem Text zurück in die Geschichte zu springen? Diese Frage hat die bisherige formgeschichtliche Arbeit nicht zu beantworten vermocht.
B. Der Traditionsprozeß I. Ein Traditionsprozeß ist ein komplizierter Vorgang, was auch für das Thema "Methodische Zugänge zum historischen Jesus" gilt. Der Wille etwa, eine Vergangenheit zu tradieren, kann sehr verschieden motiviert sein; darum ist nach der Eigenart des hinter dem evangelischen Traditionsprozeß stehenden Traditionswillens zu fragen. Es darf vermutet werden, daß hinter dem evangelischen Traditionswillen ein besonderes Interesse an der Person und Bedeutung Jesu stand, wobei aber noch nichts über die nähere Art dieses Interesses gesagt sein soll.
11. Die Rekonstruktion des evangelischen Traditionsprozesses wird weiterhin dadurch erschwert, daß im methodischen Vorgehen eine gesonderte Betrachtung der Logien- und Tatüberlieferung erfordert ist, was seinen Grund darin hat, daß der Traditionsprozeß hinsichtlich der Logienüberlieferung und hinsichtlich der Tatüberlieferung verschieden verlief. Dies wiederum ist auch dadurch bedingt, daß bei den beiden überlieferungssträngen mit verschiedenen Autoren zu rechnen ist: Hinsichtlich der Logienüberlieferung ist oder gilt J esus selbst als Autor des Textes, hinsichtlich der Tatüberlieferung geht der Text auf von Jesus verschiedene Erzähler zurück. Freilich liegen uns beide überlieferungenim Neuen Testament nur in der Weise der "Erzählung" vor 9 . 8 Vgl. dazu etwa R. Kosel/eck - W.-D. Stempel (Hrsg.), Geschichte - Ereignis und Erzählung (München 1973). 9 Zur Aporie einer erzählenden Beschreibungvon Geschichte vgl. W.-D. Stempel, Möglichkeiten einer Darstellung der Diachronie in narrativen Texten, in: ders. (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik (München 1971) 53-78; dazu auch noch H. Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt (Stuttgart 1964, mit weiterer Literatur); G. M ül/er, Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst (Bonn 19~7); ders., Erzählzeit und erzählte Zeit,
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III. Logienüberlieferung: Was die Logienüberlieferung angeht, müssen folgende Probleme bedacht werden: 1. Bei der Logienüberlieferung muß zwischen dem Stadium der Mündlichkeit und dem der Schriftlichkeit grundsätzlich unterschieden werden. 2. Der Traditionsprozeß verlief zwischen den beiden Polen: Jesus Schluß redaktor bzw. Kanon. 3. Zwischen der Erstäußerung Jesu und der schriftlichen Fixierung durch den Endredaktor ist eine Reihe von Faktoren in Erwägung zu ziehen, die zur Veränderung eines Logions Jesu führen konnten: a) Das Mißverstehen desselben durch die Ersthörer. b) Die bewußte Veränderung desselben durch einen Zweitsprecher. c) Das Mißverstehen desselben durch Zweit-, Dritthörer usw. d) Der durch die Ostererfahrung initiierte neue Verstehenshorizont 9 '. e) Der Einfluß der Homologese auf die Form und den Inhalt eines Logions (deutlich erkennbaretwa am "Jonaslogion" Mt 12,40 vgl. mit Lk 11,30)10. f) Der Einfluß der Liturgie (Abendmahlsworte!). g) Die Applikation eines Logions auf die neuen Gemeindesituationen: a) Neu entstehende Probleme der Ethik ("Kasuistik"). ß) Probleme der Gemeindeordnung (s. Mt 18). y) Missionsprobleme (z. B. neue Konnotationen eines Logions durch die Missionspredigt). ö) Verfolgungserfahrungen. E) etc. h) Die sich ausdifferenzierenden Gemeindetypen und die zunehmende geographische Streuung der Gemeinden. in: Festschr. für Paul Kluckholm und Hermann Schneider (Tübingen 1948) 195-212; E. Lämmert, Bauformen des Erzählens (Stuttgart 41970). 9' Vgl. dazuF. Mußner, Die Auferstehung Jesu (München 1969) 140-154; K. Lehmann, Die Erscheinungen des Herrn. Thesen zur hermeneutisch-theologischen Struktur der Ostererzählungen, in: H. Feld / J. Nolte (Hrsg.), Wort Gottes in der Zeit (Festschr. f. K. H. Schelkle) (Düsseldorf 1973) 361-377. 10 Dazu Näheres bei A. Vögtle, Der Spruch vom Jonaszeichen, wieder abgedruckt in: ders., Das Evangelium und die Evangelien. Beiträge zur Evangelienforschung (Düsseldorf 1971) 103-136.
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i) Die interlinguistischen Vorgänge beim übersetzen in eine andere Sprache. k) Neue Kontextuierung durch Prediger und Redaktoren. I) Das Schicksal des Textes (Lesarten!). m) Der durch die Kanonisierung einsetzende Abstoßungsprozeß. 4. Die aufgeführten Faktoren, die Veränderungen eines Logions Jesu bedingen konnten, erweisen die Thesen der Riesenfeldschule als simplifizierend.
N. Trotz der in III genannten Faktoren, die zu einer Veränderung eines Logions Jesu führen konnten, müssen auch jene berücksichtigt werden, die eine bewahrende Funktion ausgeübt haben können: 1. Die bewußte Rückbindung an die Person und die Autorität des vorösterlichen Jesus. 2. Die bewußte, aus dem Rahmen des Judentums mit seinen vielen "Lehrern" fallende Beschränkung auf einen einzigen Lehrer, nämlich Jesus ("Die Isolierung der Jesustradition ist das Konstitutivum des Evangeliums": G. Kittel 11), was mit der getroffenen christologischen Entscheidung der Urkirche zusammenhängt. 3. Das in jeder religiösen Gemeinschaft beobachtbare Festhalten am Ursprung. Damit hängt zusammen, daß im Unterschied zu Vorgängen, wie sie etwa in der Folkloreüberlieferung zu beobachten sind, bei der Weitergabe der J esuslogien eine "imperative Zensur" bzw. eine "Präventivzensur" der Gemeinde 12 nicht stattgefunden hat. Das zeigt sich etwa darin, daß selbst unverständlich und "verschlüsselt" wirkende Logien Jesu auch nach Ostern nicht aus dem überlieferungs gut ausgeschieden wurden, obwohl bei der Weitergabe der Logien ausschließlich auf die Bewahrung des Wortlauts zielende Traditionstechniken (vgl. Vedenüberlieferung)13 kaum auszumachen sind. 4. Der Ursprung des Christentums in einem traditionspflegenden Milieu (Judentum), worauf die Riesenfeldschule mit einem gewissen Recht hingewiesen hat. Die Probleme des paläst. Spätjudentums und das Urchristentum (Stuttgart 1926) 69. Vgl. dazu P. Bogatyrev - R. Jakobson, Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens, in: H. Blumensath (Hrsg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft (Köln 1972) 13-24. 13 Siehe dazu vorausgehende Anmerkung. 11
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5. Die soziologische Kontinuität des Jüngerkreises als des Trägers einer gepflegten Tradition (die Augen- und Ohrenzeugen sind mit Jesus nicht mitgestorben!). 6. Die Kontrollfunktion der apostolischen Augen- und Ohrenzeugen nach Ostern. 7. Der Bewahrungswille, der sich in der Sammlung von Jesuslogien, in der den Berichten der "Augenzeugen und Diener des Wortes" nachgehenden schriftlichen Fixierung des "Evangeliums vor den Evangelien" (Easton)14 und schließlich in der Aufnahme der Evangelien in den Kanon manifestiert, wobei apokryphes Material kritisch abgestoßen wurde 15. V. Tatüberlieferung 1. Was die Tatüberlieferung angeht, muß zwischen Ereignis und erzähltem Ereignis unterschieden werden. Grundsätzlich gilt, daß wir in den Evangelien nur erzählte Ereignisse vor uns haben. Dieser Tatbestand kompliziert die historisch-kritische Rückfrage nach den histori-
14 Vgl. dazuH. Schürmann, Evangelienschrift und kirchliche Unterweisung. Die repräsentative Funktion der Schrift nach Lk 1, 1-4, in: ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien (Düsseldorf 1968) 251-271. 15 Zusätzlich ist auf die Untersuchungen von f. A. Baird, Audience Criticism and the Historical J esus (Philadelphia 1969), hinzuweisen. B. versucht durch eine kritische Analyse der Angaben der synoptischen Evangelien über die Zuhörerschaft J esu einen Beitrag zur Frage nach dem historischen Jesus zu liefern. Dabei macht er folgende Beobachtung (vgl. 90-152): Während der synoptische Vergleich beim Erzählstoff eine große übereinstimmung in den Angaben der Akoluthie und des zeitlichen und geographischen Rahmens des "Lebens" Jesu, nicht aber der Hörerschaft aufweist, zeigt der Logienstoff eine auffallende übereinstimmung im Wortlaut und in der Angabe der Hörerschaft, nicht aber in den anderen Faktoren. Der Tatbestand der Konservierung der Angabe der Hörerschaft beim überlieferungsprozeß weist daraufhin, daß in der Tradition erkannt wurde, daß Form und Inhalt eines Logions nicht von der ursprünglichen Hörerschaft unabhängig sind (kommunikative Funktion der Sprache!). Deshalb hat die überlieferung die Angabe der Hörerschaft bei den Worten Jesu bewahrt. Die Hörerschaft ist jedoch nicht eine einzige, so daß die Frage entsteht: Woher stammen die differenzierten Angaben der Hörerschaft? Sie stammen nicht von den die Logien produzierenden Gemeinden; denn diese hätten nicht zu einem solch erstaunlichen Konsens kommen können, wie er in den synoptischen Evangelien feststellbar ist, was vermuten läßt, daß sie auf eine markante Einzelpersönlichkeit zurückgehen. Audience Criticism zeigt also den historischen J esus als "einen differenzierenden, auswählenden Lehrer, der so sprach, daß er vom Volk verstanden werden konnte, indem er seine Lehre an seine Hörerschaft anpaßte" (173).
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schen Ereignissen stärker als jene nach der Echtheit der Logien. Denn zwischen Ereignis und erzähltem Ereignis spielen sich Transformationsprozesse ab, die auf jeden Fall reflektiert werden müssen. Dabei ist von der Grundfrage auszugehen: Auf welche Weise kommt ein Ereignis im erzählten Ereignis zur Sprache? Grundsätzliche Antwort: Durch Erzählen, wobei zu bedenken ist, daß es verschiedene Weisen des Erzählens gibt, z. B. Reportage, Tonbandaufnahme, Protokoll, Tatbericht, Kommentar, Propaganda, Fiktion usw. In allen Formen des Erzählens gibt es verschiedene Grade der sprachlichen Präsenz des Ereignisses. Deshalb ist hinsichtlich der evangelischen Tatüberlieferung zu fragen, in welchem Grad in einem erzählten Ereignis aus dem Leben Jesu das Ereignis selbst noch präsent ist. 2. Die spezifische Eigenart der evangelischen Erzählungen über Ereignisse des Lebens Jesu: a) Die evangelischen Erzählungen sind von einer positiven Einstellung zu J esus und seinen Taten getragen. b) Die Erzähler erzählen aus einem engagierten Glauben an J esus heraus. c) Deshalb sind die evangelischen Erzählungen "Tendenzschriften". d) Die Grundtendenz ist die Schaffung von Glauben an Jesus (vgl. Joh 20,31). e) Eine weitere Tendenz zeigt sich in der Schaffung von "Sicherheit" hinsichtlich der in die apostolische Paradosis eingegangenen "Pragmata" Jesu (s. Lk 1, 1-4). f) Daraus ergibt sich, daß wir in den evangelischen Erzählungen keine neutralen "Reportagen" über die Taten J esu vor uns haben. 3. Diese Feststellung zwingt zu der Frage: Sind die evangelischen Berichte über die Taten J esu am Ende nicht ereignisverfälschende oder gar ereignisungebundene literarische Bildungen? Um so dringender wird die Suche nach Kriterien, mit deren Hilfe die Ereignisgebundenheit der evangelischen"Tendenzerzählungen " überprüft werden kann, wobei diese Suche die Eigenart der verschiedenen Erzählformen ("Textsorten", "Gattungen") berücksichtigen muß. Denn die Beziehung zwischen Ereignis und erzähltem Ereignis ist je nach der Erzählform verschieden; z. B. kann ein Summarium weniger an Historischem enthalten als ein Einzelerzählstück, aber auch umgekehrt 16. 16 So müssen in dieser Hinsicht die Summarien des Markusevangeliurns anders beurteilt werden als jene der Apostelgeschichte.
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4. An Kriterien sind dann zu nennen: a) Das erzählte Milieu muß dem historisch verifizierbaren Milieu zur Zeit J esu entsprechen. Das betrifft einmal die in den Erzählstücken von Jesu Taten betroffenen Gruppen - so tauchen in der Tat keine Gruppen aUf, die es im Judentum zur Zeit Jesu nicht gegeben hat 17 ; ferner die religiösen Institutionen des Judentums zur Zeit Jesu (z. B. Gesetz [Sabbat!]); das kulturelle Klima; die politischen Verhältnisse; die geographischen Angaben; d. h. also alles, was "Umweltreferenz" angeht. Es fällt auf, daß in sämtlichen Traditionsschichten und Textsorten der evangelischen überlieferung dieses spezifische Milieu erhalten ist und ~~ Gründe für eine in Einzelfällen begegnende "Hellenisierung" des Materials leicht erkennbar sind 1B. Diese Milieutreue ist um so beachtlicher, als sie nicht auf den absichtlichen Willen eines Historikers zurückzuführen ist, vielmehr bei primär kerygmatischer Zielsetzung unreflektiert erhalten blieb, was sich z. B. darin zeigt, daß bestimmte Gruppen, die zur Abfassungszeit der Evangelien nicht mehr existierten, in der evangelischen Jesusüberlieferung noch auftauchen (z. B. Sadduzäer). b) Auch im Hinblick auf die Tatüberlieferung kann der "Querschnittsbeweis" angewendet werden, insofern als in den verschiedenen Traditionsschichten, in den verschiedenen Erzählformen und in den verschiedenen Szenen des erzählten Lebens Jesu gleichmäßige Verhaltensweisen Jesu sich zeigen. c) Aus b) ergibt sich auch, daß diese gleichmäßigen Verhaltensweisen Jesu erzählerisch verschieden "individualisiert" sein können; z. B. das typische Verhalten Jesu gegenüber Zöllnern und Sündern wird in der literarischen Form der "Berufungsgeschichte" (z. B. Berufung des Levi), der "idealen Szene" (z. B. Zöllnermahl), des Streitgesprächs und des Gleichnisses erzählerisch in Szene gesetzt. Wir können daher zunächst auf der Erzählebene "Typen" von Verhaltensweisen Jesu feststellen, mit denen man in den Evangelien und in frühjüdischen Texten beobachtbare Typen von Verhaltensweisen im Judentum vergleichen kann, etwa Erzählungen oder Vorschriften über das Verhalten von Schriftgelehrten und Pharisäern zu Zöllnern und Sündern, zu Frauen usw. Der Vergleich zeigt, daß die Darstellung der Evangelien Verhal17 Vgl. dazu etwa G. Baumbach, Jesus von Nazareth im Lichte der jüdischen Gruppenbildung (Berlin 1971). 18 Bekanntlich beschreibt Lk das Haus in seiner "hellenistischen" Struktur ..
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tenstypen Jesu von solchen seiner Umgebung als gerade für ihn spezifisch abhebt. Wenn auch diese Abhebung Jesu von seiner Umgebung in der Darstellung der Evangelien häufig in kritischer Absicht geschieht, die den Historiker eine gewisse Tendenzdarstellung vermuten lassen könnte, darf unter Anwendung des Querschnittsbeweises mit hinlänglich genügender Sicherheit angenommen werden, daß sich im historischen Leben Jesu diese für ihn spezifischen Verhaltensweisen in der Tat gezeigt haben. Und deshalb darf man hier wieder mit dem kritischen Aussonderungsprinzip arbeiten (s. dazu weiter unten). Von ipsissima facta Jesu kann also nicht einfachhin im Hinblick auf ein konkretes Einzelfaktum der Vita J esu gesprochen werden, sondern nur im Hinblick auf die in einer erzählerischen Konkretion erscheinenden unverwechselbaren Typen von Verhaltensweisen des historischen Jesus 19 . Daß im Einzelfall erzähltes Ereignis und historisches Faktum "sich decken" können, versteht sich dabei von selbst. Darum ist ein ipsissimum factum J esu qua ipsissimum factum nicht durch den N achweis kritisch erledigt, daß sich für bestimmte Taten Jesu ähnliche Erzählpattern auch in außerevangelischer Literatur (z. B. Altes Testament) finden. Soweit die jeweilige erzählerische Konkretion den ihr zugehörigen Typ der Verhaltensweise J esu trifft (Text), schattet sich in ihr bei aller erzählerischen Freiheit im einzelnen und bei allen Modifizierungen im überlieferungsprozeß der im Leben Jesu beobachtbare Typ seines Verhaltens ab (Geschichte). d) Aufs Ganze der Tatüberlieferung hin gesehen, ist die Beobachtung von großer Bedeutung, daß beim Vergleich von Erzählstoffen und Logien kein Widerspruch zwischen Lehre und Verhalten Jesu festzustellen ist. Sowohl im Verhalten Jesu wie in seinen Logien zeigen sich grundlegende Strukturen, die sich zueinander konvergierend verhalten. Diese Beobachtung hat den Rang eines "Konvergenzbeweises" 20. So kann man z. B. die Kreuzigung Jesu als factum historicum bezeichnen, nicht jedoch als ein ipsissimum factum J esu, weil auch andere gekreuzigt wurden, wie die beiden Schächer. Ein "ipsissimum" zeigt sich hier höchstens im Verhalten Jesu vor und an seinem Kreuz. Davon ist wieder zu unterscheiden die theologische Interpretation seines Kreuzestodes als eines Todes "für uns". 20 Das Stichwort "Konvergenz" läßt freilich die Frage aufkommen, ob nicht im Leben Jesu sich oft auch eine Divergenz zwischen seiner Lehre und seinem Verhalten beobachtenläßt, z. B. zwischen seiner universalen Liebesforderung und der Härte seines eigenen Verhaltens gegenüber seinen Gegnern, die man aber ebenfalls zu den für Jesus spezifischen Typen seines Verhaltens rechnen kann. Doch soll dieses Problem hier nicht weiter verfolgt werden. 19
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VI. Die sich bis in die literarische Endgestalt der vier Evangelien fortsetzende Konvergenz kann als Zeichen dafür gewertet werden, daß Jesu Leben und Worte nicht eine chaotisch anmutende Wirklichkeit darstellten, sondern aneignungsbare Strukturen aufwiesen. Das trägt zur Erhellung der Frage nach der Erhaltung der Identität im Traditionsprozeß bei. Die Grundstrukturen von Jesu Leben und Worten wurden von den Augen- und Ohrenzeugen rezipiert und in der nachösterlichen überlieferung durchgehalten. Dabei waren die Träger der im Traditionsprozeß durchgehaltenen Kontinuität einmal die apostolischen "Augenzeugen und Diener des Wortes" (Lk 1,2), die mit den apostolischen Augen- und Ohrenzeugen in Verbindung stehende "Gemeinschaft" der Glaubenden (vgl. 1 Joh 1,1-3) und die Endredaktoren selbst, die in der Zeit der Ablösung des apostolischen durch das nachapostolische Zeitalter die Grundstrukturen von Worten und Taten J esu in den Evangelien aus dem zur apostolischen Zeit bestehenden Stadium der Mündlichkeit in die endgültig "objektivierende" und bewahrende Form der Schriftlichkeit gebracht haben. VII. Was das Thema "Jesus und der Text" im Johannesevangelium angeht, sei hier nur folgendes gesagt: 1. Die joh. "Reden" Jesu sind den synoptischen Logienkompositionen (z. B. Bergpredigt) nicht gleichzustellen. Die joh. Reden sind "Kunstreden", besser: "Monologe", die jeweils um ein bestimmtes Thema kreisen 20'. 2. Der Redaktor ("Verfasser") ist an der Formulierung dieser "Reden" in einem ganz anderen Ausmaß beteiligt als der synoptische Redaktor. 3. Bei den Transformationsprozessen, die bei der joh. Traditionsbildungund bei der Schlußredaktion des vierten Evangeliums stattgefunden haben, ist besonders der sich dabei abspielende hermeneutische Vorgang zu bedenken 21 . 20' Vgl. dazu auch, was E. Käsemannin: Jesu letzter Wille nach Johannes 17 (Tübingen 31971) 57 f zu den johanneischen Reden sagt. 21 Vgl. dazu I. de la Potterie, olöo et YLVWOKOO. Les deux modes de la connaissance dans le quatrieme Evangile, in: BibI 40 (1959) 709-725; F. Mußner, Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus (Quaest. disput. 28) (Freiburg i. Br. 1965); R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium als hermeneutische Frage, in: NTSt 13 (1966/67) 197-210; F. Hahn, Sehen und Glauben im Johannesevangelium, in: Neues Testament und Geschichte (Festschr. für O. Cullmann) (Zürich-Tübingen 1972) 125-141.
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4. Diese Umstände erschweren im vierten Evangelium die Rückfrage nach dem historischen J esus außerordentlich. 5. Dennoch scheint auch im vierten Evangelium die ipsissima intentio Jesu erhalten zu sein 22 .
C. Grundsätze zu einer rechten Anwendung der Wort- und Stilstatistik Die kritische Rückfrage nach dem historischen Jesus geht, methodisch richtig, gewöhnlich von dem vorgegebenen Text der Evangelien aus. Es werden zuerst die "Redaktionsdecke" abgehoben, dann mit Hilfe der Literar- und Quellenkritik die verschiedenen "Traditionsschichten" festgestellt und auf ihre "Tendenz" hin abgefragt; dann wird das Traditionsmaterial in "kleine Einheiten" zerlegt und an sie die historisch-kritische Frage gerichtet. Dabei spielen naturgemäß die Wortund Stilstatistik eine wichtige Rolle. Was hat besonders der "Wortstatistiker" dabei zu beachten? 1. Der Wortstatistiker muß bedenken, daß ein Autor (z. B. Markus) nicht sein gesamtes Lexeminventar in ein einziges Literaturwerk investiert. 2. Er muß weiter bedenken, daß sowohl der Evangelist als auch die von ihm benutzten Traditionen weithin auch in ihrem Lexeminventar innerhalb des allgemein christlichen Sprachmilieus ("christlicher Soziolekt") sprechen 23. 3. Dabei ist auch zu beachten, daß der Evangelist (und ebenso seine Traditionen) zunächst weitgehend unbewußt, jedoch auch in bewußter Nachahmung des vorgegebenen christlichen Lexeminventars sprechen können 24. 22 Der Begriff ipsissima intentio Jesu wird von W. Thüsing verwendet (z. B. in: K. Rahner - W. Thüsing, Christologie - systematisch und exegetisch [Quaest. disput. 55J [Freiburg i.Br. 1972J 183). 23 Eine umfassende Bibliographie zur Soziologie der Sprache, zusammengestellt von R. Kjolseth und F. Sack, findet sich in: Kölner Zeitschr. für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 15 (1971) (Zur Soziologie der Sprache) 349-390. 24 Bewußte Imitation eines Literaturwerkes durch einen nd. Schriftsteller läßt sich am besten in der Apg studieren, in der Lk Sprache und Stil der Septuaginta nachahmt (vgl. dazu jetzt Näheres bei E. Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte [Göttingen 1972J 38-72).
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4. Dasselbe gilt für die Verarbeitung literarischer Quellen durch den Evangelisten: Der Evangelist kann unter dem unbewußten Einfluß des Lexeminventars seiner Quelle stehen (z. B. Lukas unter dem Einfluß von Q) bzw. dieses Inventar bewußt aufnehmen. 5. Die Wortstatistik hat damit zu rechnen, daß sich das Lexeminventar eines Sprechers bzw. Autors ändert, verengt oder auch erweitert durch die konkreten Situationen und Probleme, mit denen er sich auseinanderzusetzen hat. 6. Die Wortstatistik berücksichtigt oft die semantischen Prozesse nicht, die sich durch die Verwendung eines Lexems in einem bestimmten "Kontext" vollziehen (ein Lexem des Lukas, das auch bei Markus vorkommt, kann bei Lukas eine andere semantische Valeur infolge der neuen Konnotationen besitzen: eine Grundeinsicht der modernen Semantik). 7. Die Thesen 1-6 gelten auch für verschiedene über die Lexemebene hinausgehende syntagmatische Einheiten, wie Topoi, Motive und Theologumena; sie gelten analog auch für die Stilstatistik (z. B. in der statistischen Erhebung bestimmter "Stilfiguren") 25. E. Linnemann beschäftigt sich in ihrem Buch "Studien zur Passionsgeschichte" (Göttingen 1970) 141-143 in bemerkenswerter Weise mit dem Problem der Wortstatistik. Nach ihr muß bei einern Wort gefragt werden: ,,1. Ist sein häufiges Vorkommen dadurch veranIaßt, daß die Sache, die es bezeichnet, häufig erwähnt wird? 2. Welche Äquivalente standen für das betreffende Wort zur Verfügung? .. 3. Wie verteilt sich der Gebrauch des Wortes auf Tradition und Redaktion?" Zur dritten Frage bemerkt Linnemann: " ... Erst wenn das Vorkommen des Wortes in der Redaktion ein starkes übergewicht hat oder sich eindeutig feststellen läßt, daß der Evangelist durch dasselbe des öfteren die Äquivalente in seinen Vorlagen ersetzt hat, ist ein Indiz dafür gegeben, daß dieses Wort auch an den übrigen Stellen des Evangeliums auf ihn zurückgehen kann. Im Einzelfalle läßt sich aber niemals mit Sicherheit sagen, daß die Verwendung dieses Wortes auf den Evangelisten zurückgehen muß. Eine Vorliebe des Evangelisten schließt die Möglichkeit, daß auch seine Tradition das Wort gebraucht hat, ebensowenig aus, wie umgekehrt das Vorkommen eines Wortes in der Tradition seine gelegentliche Verwendung durch den Evangelisten. Für die Unterscheidung von Tradition und Redaktion wirft deshalb die Vokabelstatistik wenig ab." Nach Linnemann sind für die Auswertung eines statistischen Befundes immer drei Möglichkeiten in Betracht zu ziehen: "Der Evangelist kann ein Wort, obwohl es eine Vorzugsvokabel von ihm ist, bereits in der Tradition vorgefunden haben. Der Evangelist kann durch das Wort ein Synonym ersetzt haben, das die Tradition an dieser Stelle bot. Der Evangelist kann den Vers, in dem das Wort vorkommt, selber gebildet haben." Auch "Hapaxlegomena ... besagen für sich genommen wenig und können allein noch keinen Beweis dafür liefern, daß ein Vers, in dem sie sich häufen, der Tradition entstammt", was Linnemann noch näher begründet. 25
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D. Zum "kritischen Aussonderungsprinzip" ("Kriterium der U nähnlichkeit") 1. Das in der Frage nach dem historischen Jesus schon immer genannte Aussonderungskriterium hat E. Käsemann so formuliert: "Einigermaßen sicheren Boden haben wir in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann ... "26 2. Die Beachtung der Differenzen, um die es im Aussonderungsprinzip geht, vermag zunächst das Sonderprofil Jesu gewiß in aller Deutlichkeit herauszustellen. Doch ist zu beachten, daß ein Mensch sein Profil nicht bloß durch Abhebung von der ihn umgebenden Welt, sondern auch durch Identifizierung mit ihr gewinnt. Damit ist auch ein Kontinuum sowohl nach rückwärts (Tradition) wie auch nach vorne (Wirkungsgeschichte) gegeben. Mit dem Aussonderungsprinzip ist also nicht der ganze J esus erreichbar. 3. Die Anwendung des Aussonderungskriteriums kann leicht zu einer unbemerkten Verquickung von historischer Kritik und dogmatischen (Vor-)Urteilen führen. Das zeigt sich konkret darin, daß unter Anwendung dieses Kriteriums einerseits das Christentum einschließlich der Christologie bisweilen als ein absolutes Novum in der Geschichte erscheint, andererseits Jesus total isoliert wird von der Welt, aus der er gekommen ist (Altes Testament und Judentum), was auch Ausdruck der Wirksamkeit eines bewußt-unbewußten christlichen Antisemitismus sein kann 27 . 4. Es erweist sich als vorteilhaft, wenn bei der Anwendung des kritischen Aussonderungsprinzips von vornherein Logien- und Tatüberlieferung wieder auseinandergehalten werden. 5. Anwendung auf die Logienüberlieferung: a) Grundsätzlich ist hier zu unterscheiden zwischen formaler und inhaltlicher Differenz und Identität. b) Die in den Logien ("Performanz") Jesu beobachtbaren formalen Das Problem des historischen Jesus, in: ZThK 51 (1954) 125-153 (144). Vgl. dazu auch F. Mußner, Der Jude Jesus, in: Freiburger Rundbrief XXIII (1971) 3-7; M. Brocke, Das Judentumsbild neuer Jesusbücher: ebd. 50-59.
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Unterschiede zu anderen Performanzen (Lehrformen des Alten Testaments und Judentums usw.) lassen Schlüsse auf eine spezifische "Kompetenz" Jesu ZU 28 • c) Es ist jedoch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß auch in formaler Hinsicht die Performanz Jesu von der nachösterlichen Gemeinde imitiert worden ist. Deshalb muß nach Kriterien gesucht werden, die eine derartige Nachahmung als solche erkennen lassen. Eine Entscheidung darüber kann nur gefällt werden, wenn dabei vom Inhalt eines Logions nicht abstrahiert wird. So zeigt sich bereits, daß zwar zunächst zwischen formaler und inhaltlicher Differenz und Identität methodisch unterschieden werden muß, aber in der konkreten Anwendung formale und inhaltliche Kriterien meist nicht zu trennen sind 29 • d) Was unter b) gesagt wird, gilt entsprechend auch für die inhaltliche Seite eines Logions. e) Solche Kriterien, die uns ein Logion noch als genuin jesuanisch erkennen lassen, sind eventuell folgende: a) Offene, "vage" ("indirekte") Christologie und Soteriologie. ß) Kein Einfluß der nachösterlichen Homologese. y) Ausschließliches Geprägtsein durch die einmalige, nicht wiederholbare Situation, in der Jesus sich vor Ostern Israel gegenüber befand 30. ö) Widersprüchlichkeit zur nachösterlichen Missionssituation. e) Nicht aufgearbeitete "Rückstände" aus Jesuslogien in der nachösterlichen Adaption auf die Gemeindesituationen (z. B. Mt 10,23). ~) Bewahrung rätselhafter, d. h. von der Situation der nachösterlichen Gemeinde nicht mehr verstehbarer bzw. nicht verstandener Züge in Logien J esu (z. B. Mk 3,28 f; Lk 12, 10)31. 28 Die aus der generativen Grammatik stammenden Begriffe "Performanz" und "Kompetenz" werden hier so verstanden: "Performanz" ist die konkrete, sprachliche Äußerung; "Kompetenz" das Sprachvermögen, das jedoch, ontologisch begriffen, Rückschlüsse auf das Selbstverständnis des Sprechenden zuläßt. 29 Vgl. auch H. Braun, Jesus. Der Mann aus Nazareth und seine Zeit (Stuttgart - Berlin 1969) 34f. 30 Vgl. zu den drei erstgenannten Kriterien F. Mußner, Wege zum Selbstbewußtsein Jesu. Ein Versuch, in: BZ NF 12 (1968) 161-172. 31 Vgl. dazu auch C. Colpe, Der Spruch von der Lästerung des Geistes, in: E. Lohse (Hrsg.), Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde (J. Jeremias zum 70. Geburtstag) (Göttingen 1970) 63-79.
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1]) Bewahrung der sich sowohl von der jüdischen als auch von der gemeindlichen unterscheidenden Eschatologie Jesu. [tes. 'I't) Durchgehaltene Radikalität in der Auslegung des Willens Got-
6. Anwendung auf die Tatüberlieferung: Bei der Gewinnung von Kriterien hinsichtlich der Tatüberlieferung werden hier die Wunder- und Passionsüberlieferung herausgehalten (s. dazu die Beiträge von K. Kertelge und R. Pesch in diesem Band). Die Gewinnung von Kriterien beschränkt sich hier auf das "Verhalten" Jesu, wobei freilich das Verhalten Jesu sich gerade auch manchmal in Wundern zeigt 32 . Im Fall der Logienüberlieferung ist die Anwendung des Aussonderungsprinzips durch das Vorliegen von "Paralleltexten" (die zunächst als solche erscheinen) aus Judentum und Gemeinde möglich. Um hinsichtlich der Tatüberlieferung eine Vergleichsbasis zu gewinnen, ist es nötig, das Verhalten J esu zunächst in bestimmte Verhaltenskomplexe mit ihren spezifischen "Adressaten" aufzugliedern. Als solche können genannt werden: "Zöllner und Sünder", "Unreine" und Kranke, Jünger, Frauen, Kinder, Obrigkeit, Staatsrnacht, Volksfremde, Verwandte, Gesetz und Kult. Dabei gilt es zu prüfen, inwieweit Jesu Verhalten gegenüber den genannten "Adressaten" sich spezifisch unterscheidet vom Verhalten des offiziellen Judentums bzw. vom Verhalten der Gemeinde (wenn sich etwa in der überlieferung eine deutliche Tendenz zur "Rejudaisierung" zeigt). Im übrigen ist zu prüfen, ob die oben unter Se genannten Kriterien auch auf die Traditionen über das Verhalten Jesu anwendbar sind.
E. Zum "Querschnittsbeweis"33 ("Breite der überlieferung", "Kriterium vielfacher Bezeugung") 1. Mit dem sog. Querschnittsbeweis ist gemeint, die überlieferung
habe dann einen gewissen Anspruch auf Echtheit, wenn diese in den verschiedenen, voneinander unabhängig entstandenen Traditionen beVgl. dazu F. Mußner, Die Wunder Jesu. Eine Hinführung (München 1967) 33-44. Vgl. auch N. Perrin, Was lehrte Jesus wirklich? Rekonstruktion und Bedeutung (deutsch Göttingen 1972) 40-42. 32
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zeugt ist (Q, Mk-Tradition, Sondergut, joh. Tradition, eventuell auch paulinische Bezeugung). Dabei ist jedoch zu beachten, daß "die Breite der überlieferung" als Kriterium nur dann eingesetzt werden kann, wenn man mit ihm nicht wieder auf (wenn auch noch so frühe) "Gemeindetheologie" stößt, sondern auf eine Jesusüberlieferung, die auch durch andere Kriterien als genuin abgesichert werden kann. 2. Dieses Kriterium gewinnt dann an überzeugungskraft, wenn eine breit bezeugte überlieferung nicht bloß in den verschiedenen Traditionsschichten, sondern auch in verschiedenen in diesen Traditionsschichten verwendeten Formen anzutreffen ist. Beispiel: Ein in der Tatüberlieferung zuverlässig bezeugtes Verhalten Jesu begegnet auch in der "Theorie" Jesu, etwa das Verhalten Jesu zu Zöllnern und Sündern auch in seiner Lehre (vgl. Gleichnis vom verlorenen Sohn). 3. Daraus ergibt sich, daß dieses Kriterium mehr für die Bestimmung gewisser Verhaltensweisen Jesu geeignet ist als zum Erweis der Authentizität des Wortlauts von Logien. F. Das Kriterium der "Gegenkontrolle" 1. Jene Logien, die mit Hilfe der vorher genannten Kriterien sich nicht
mit Sicherheit als genuin jesuanisch nachweisen lassen, werden gemeinhin der sogenannten Gemeinde als dem Ort ihrer Bildung zugeschrieben. Wie der synoptische Vergleich zeigt, gibt es in der Tat solche Logien bzw. Erweiterungen von ihnen, die zweifellos als Gemeindebildungen anzusprechen sind. Doch bleibt ein Rest von Logien, die nicht mit Sicherheit entweder Jesus oder der Gemeinde zugeschrieben werden können. Deshalb bleibt die Frage: Gibt es Kriterien, die ähnlich wie jene zur Sicherung genuin jesuanischer Logien angewendeten zur Sicherung echter Gemeindebildungen in der Logienüberlieferung dienen können. Denn es genügt nicht die Feststellung, daß ein Logion sicher nicht auf Jesus selbst zurückgeht, sondern es muß die Gegenfrage ebenso kritisch gestellt werden, ob es denn überhaupt eine Gemeindebildung sein kann. 2. Zunächst muß von der "Gemeinde" in einer viel differenzierteren Weise geredet werden, als es gewöhnlich geschieht. Dabei sind folgende Unterscheidungen grundlegend: Vorösterlicher Jüngerkreis 34, 34 Auf seine Bedeutung für die Logientradition hat besonders H. Schürmann aufmerksam gemacht; s. den in Anm. 5 genannten Aufsatz.
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palästinensisch-judenchristliche Gemeinde, palästinensisch-hellenistisch-judenchristliche Gemeinde, diaspora-judenchristliche Gemeinde, heidenchristliche Gemeinde. 3. Eine weitere Differenzierung ergibt sich daraus, daß auch noch der Redaktor Autor sogenannter Gemeindebildungen sein kann. 4. Das führt weiter zu der Frage, wer näherhin bei wirklicher Gemeindebildung der Autor von Logien und sonstigen überlieferungen innerhalb dieser Gemeinden ist (z. B. sogenannte Gemeindepropheten)35. Hinsichtlich dieser Frage ist die Beobachtung von Bedeutung, daß im Neuen Testament außerhalb der Evangelien bei sogenannten Geistsprüchen der Empfänger mitgenannt wird 36 , was Anlaß gibt, die von Käsemann aufgestellte These von der Logienbildung durch urchristliche Gemeindepropheten kritisch zu überprüfen. 5. Weiter ist zu überlegen, welche Rolle die Apostel Jesu als seine Augen- und Ohrenzeugen bei sogenannten Gemeindebildungen gespielt haben. 6. Logien, in denen Themata auftauchen, die für die "theologische Situation" der nachösterlichen Gemeinde typisch sind, stehen im Verdacht, in der Tat Gemeindebildungen zu sein. Ins Auge zu fassen sind hier jene überlieferungen, bei denen folgende Faktoren deutlich ihren Einfluß geltend machen: a) Einfluß der christologischen Homologese (Auftauchen von christologischen Würdenamen in einem Logion, evtl. abgesehen von "Menschensohn"). b) Spezifisch nachösterliche Soteriologie 37 . c) Deutlicher Einfluß des Passions- und Auferstehungskerygmas (z. B. Mt 12,39 f). 35 Vgl. dazu etwa E. Käsemann, Sätze heiligen Rechts im Neuen Testament, in: NTSt 1 (1954/55) 248-260. 36 Darauf hat F. Neugebauer in seinem Aufsatz: Geistsprüche und Jesuslogien, in: ZNW 53 (1962) 218-228, hingewiesen. 37 Wie schwierig es freilich ist, hier zu sicheren Ergebnissen zu kommen, zeigt sich etwa beim f.l";Qov-Logion Mk 10,45 (Mt 20,28); vgl. dazu J. Jeremias, Das Lösegeld für Viele (Mk. 10,45), in: ABBA. Studien zur ntl. Theologie und Zeitgeschichte (Göttingen 1966) 216-229; H. Patsch, Abendmahl und historischer Jesus (Stuttgart 1972) 170-180; H. Schürmann, Wie hat Jesus seinen Tod bestanden und verstanden? Eine methodenkritische Besinnung, in: Orientierung an Jesus. Zur Theologie der Synoptiker (Festschr. für J. Schmid) (Regens burg 1973) 325-363; J. Roioff, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk X,45 und Lk XXII.27), in: NTSt 19 (1972/73) 38-64.
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d) Deutlicher Einfluß der durch die nachösterliche Mission gegebenen Problematik. e) Einfluß der nachösterlichen Verfolgungserfahrung. f) Liturgisch-sakramentale Interessen. g) Durch das Osterereignis transformierte Eschatologie. h) Einfluß von Gemeindeordnungen und Kirchenzucht. i) Veränderte Situation Israel gegenüber(?)38. k) Versuch der Enträtselung dunkler Jesuslogien. 1) Akkommodation radikaler Forderungen Jesu an die Gemeindegegebenheiten (z. B. in der Frage der Ehescheidung) 39. m) Rejudaisierungstendenzen. 7. Wo in Logien die eben aufgeführten Tendenzen und theologischen Themata fehlen, muß man mit einer Zuteilung von Logien an die oben genannten nachösterlichen Gemeinden vorsichtig sein.
G. Zum "Sitz im Leben"
1. Zur Geschichte des Begriffs "Sitz im Leben" seit H. Gunkel (1906)40 1. "Jede alte literarische Gattung hat ursprünglich ihren Sitz im Volksleben Israels an ganz bestimmter Stelle" (Gunkel) 41. "Zum Begriff einer antiken Gattung gehört nun, daß sie einen ganz bestimmten Sitz im Leben hat" (ders.)42. Gunkel hat immer nur das gesprochene Wort, nie einen literarischen Text im Auge; er betont grundsätzlich den Charakter der Mündlichkeit kleiner literarischer Einheiten, die zum situa38 Das Fragezeichen will darauf aufmerksam machen, daß z. B. ein ablehnendes Verhalten Israels gegenüber der Botschaft sich sowohl vorösterlich als auch nachösterlich äußern konnte. 39 Vgl. dazu etwa B. Schaller, Die Sprüche über Ehescheidung und Wiederheirat in der synoptischen überlieferung, in: E. Lohse (Hrsg.), Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde (J. Jeremias zum 70. Geburtstag) (Göttingen 1970) 226-246. 40 Zu Gunkels Lehre vom "Sitz im Leben" s. besonders die Ausführungen bei W. Klatt, Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung derformgeschichtlichen Methode (Göttingen 1969) 144-148; dazu auch noch K. Koch, Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibelexegese (Neukirchen 21967) 34-48. 41 H. Gunkel, Die Grundprobleme der israelitischen Literaturgeschichte, in: ders., Reden und Aufsätze (Göttingen 1913) 29-38 (33); dazu vgl. ders., Art. Literaturgeschichte H. AT, in: RGG 2III, 1679. 42 H. Gunkel, Formen oder Hymnen, in: ThRsch 20 (1917) 265-304 (269).
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tionsgebundenen Mitteilen und Hören gesprochen wurden. "Alle antike Literatur hat ursprünglich nicht in geschriebener, sondern in gesprochener Form bestanden" (ders.)43. Der Begriff "Sitz im Leben" bezieht sich bei Gunkel also nur auf die Formen und Gattungen der oralen "Literatur", der Sprache im Zustand der Mündlichkeit. 2. M. Dibelius 44 erweitert den Begriff, insofern er darunter nun auch den "Ort" von Texten (Formen, Hymnen, Logien) im Leben der frühen christlichen Gemeinde versteht. 3. J. Jeremias 45 versucht in der Gleichnisforschung den Begriff "Sitz im Leben" zu erweitern, indem er von einem "zweifachen historischen Ort" spricht. Der erste ist für ihn "eine jeweilig einmalige Situation im Rahmen der Wirksamkeit Jesu", der zweite, wie bei Dibelius, der "Sitz im Leben und Denken der Urkirche". 4. H. Schürmann 46 macht demgegenüber wieder darauf aufmerksam (Logientradition, 47 f), daß der Begriff "Sitz im Leben" von seinem ursprünglichen Verständnis her eine soziologische Kategorie ist und deshalb nicht auf die jeweilig einmalige Situation im Rahmen der Wirksamkeit J esu anwendbar ist, worauf auch schon R. Bultmann hingewiesen hat, wenn er formuliert, daß mit dem Begriff "Sitz im Leben" "nicht der Ursprung eines einzelnen Berichts (als Berichtes über etwas) in einer einzelnen geschichtlichen Situation oder Person gemeint (ist), sondern die Beziehung eines literarischen Stücks (als literarischen) auf eine allgemeine geschichtliche Situation (wie Krieg, Kult, Verkehr usw.), aus der die Gattung erwuchs, der jenes Stück zugehört" (ThLZ 50 [1925] 316)47. Dagegen versucht Schürmann den Begriff "Sitz im Leben" auch für den vorösterlichen Bereich fruchtbar zu machen, indem er einen "Sitz im Leben des vorösterlichen Jüngerkreises" konstatieren will (37), mit dem man "mitten hinein ins Leben Jesu" kommt. 5. Trotz der oft unpräzisen Anwendung des Begriffs "Sitz im Leben" in der Exegese 48 scheint sich seine Legitimität von daher zu H. Gunkel in: Die Schriften des AT in Auswahl, erkl. von H. Gunkel u. a. (Göttingen 21920-25) I, 1, 6. 44 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums (Tübingen 41961) 9ff. 4S J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu (Göttingen 71965) 17ff. 46 H. Schürmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition (s. Anm. 5) 39-65 47 R. Bultmann, Rez. zu E. Fascher, in: ThLZ 50 (1925) 316. [(47f). 48 Zum Ganzen vgl. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums, 82-90 154-157 167-177. Außerdem: K. Koch, Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibelexegese (Neu kirchen 21967) 30 ff; H. Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre (Stuttgart 31970) 172 ff. 43
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zeigen, daß auch die moderne Sprach- und Literaturwissenschaft den mit diesem Begriff anvisierten Sachverhalt sieht, nur mit anderer Begrifflichkeit. Zur Konstruktion des "Sinnes" einer Literatur führt auch die Sprachwissenschaft Situations analysen, "Referenz"- und "Kontextermittlung" durch, wodurch sie denselben Rekurs einer "Bedeutung" auf ihre soziologische Ursprungssituation betreibt wie die Exegese mit Hilfe ihres Begriffs "Sitz im Leben". II. Transformationen 1. Jesus. Man spricht im Hinblick auf das Wirken J esu gewöhnlich statt von "Sitz im Leben" von einmaliger "Situation" in der Wirksamkeit Jesu. Dennoch darf mit Blick auf den Umstand, daß Jesu Wirken in der Großgemeinschaft Israel bzw. häufig gegenüber Gemeinschaftsgruppen Israels verlaufen ist, erwogen werden, ob nicht auch hier besser von "Sitz im Leben" als von "Situation" gesprochen werden soll, weil es bei Jesus gegenüber Israel und seinen Gruppen oft nicht um einmalige Situationen, sondern um wiederholte und darum typische Rede- und Verhaltensweisen ging. 2. Vorösterlicher Jüngerkreis. Unter Annahme von ~rster Traditionsbildung schon im vorösterlichen Jüngerkreis ist auch hier mit Schürmann der Begriff "Sitz im Leben" durchaus am Platz. Die Folge davon ist, daß die Erstfunktion der Predigt und der Verhaltensweisen Jesu, d. h. ihr Sitz im Leben beim historischen Jesus, "aufgehoben" und in eine Zweitfunktion umgesetzt wird, um einen neuen Zweck im Jüngerkreis zu erfüllen (Erstkonservierung, Nachfolgeweisung usw.). 3. Nachösterliche Gemeinde. Beim übergang der Stoffe in das Traditionsmilieu der nachösterlichen Gemeinde erfahren diese einen erneuten Funktionswechsel: sie haben jetzt ihren Sitz im konkreten Leben der Gemeinde. Auch dieser Funktionswechsel bedingt eine Akzentverschiebung und eine Veränderung der semantischen Gehalte durch den neuen "Kontext". Das ist naturgemäß kein einmaliger und geradliniger Vorgang gewesen, sondern ein laufender Prozeß über die eventuell beginnende Verschriftlichung bis hin zur Schlußredaktion. 4. Schlußredaktion. Mit der endgültigen Verschriftlichung in der Schlußredaktion wird dieser "Kontext" literarisch, was folgende Konsequenzen hat:
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a) Die neue Kontextuierung bringt die Aufhebung der bisherigen Sitze im Leben mit sich. b) über die neue Kontextuierung partizipiert das Material an dem "Sitz im Leben" der literarischen Großform "Evangelium" 49. c) Von einem "Sitz im Leben" der Groß form "Evangelium" läßt sich deshalb sprechen, weil auch der Redaktor seine Redaktionsarbeit im Hinblick auf eine Gemeinschaft, nämlich seine Adressatengemeinde, leistet. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß bei der Schlußredaktion der individuelle Sprachwille des Redaktors viel stärker sich durchsetzte als bei den vorausgehenden Trägern der überlieferung. 5. Durch die Aufnahme der Evangelien in den Kanon wird die ursprüngliche geographische Limitierung der Adresse aufgehoben und die Gesamtkirche wird der neue und endgültige "Sitz im Leben". III. Wege zurück zum historischen Jesus Die vorausgehenden Reflexionen über die durch die verschiedenen Sitze im Leben bedingten vielfältigen Transformationen machen die großen Schwierigkeiten, den primären Sitz im Leben bei Jesus noch zu finden, bewußt. Doch können die unter B, D, E und F vorgelegten Kriterien eine Hilfe dabei bieten.
H. Zur Methode des Vergleichs religionsgeschichtlicher "Analogien" Bei der Suche nach dem historischen J esus spielt der religionsgeschichtliche Analogievergleich nicht selten eine wichtige Rolle. Häufig läßt sich jedoch beobachten, daß allzu rasch "Analogien" (etwa in der Richtung der Theios-Aner-Ideologie) und "übertragungen" konstatiert werden, bevor überhaupt die komparatistische Methode kritisch Vgl. auch Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums, 257: "Die Form des Evangeliums ist als sprachliche ,Gestalt' eine unlösbare dialektische Einheit von traditionsgeschichtlich überkommenem ,Material' und intentional-akthafter Gestaltung der sprachlichen ,Form', die das ,Material' ,aufhebt', indem sie es als Darstellungsmittel des mit dem neuen ,Sinn'-Horizont gesetzten Bedeutungsgefüges der Form des Evangeliums dienen läßt ... und so auch den sprachlichen Zusammenhang des ,Materials' (,Sitz im Leben') verändert ... " 49
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reflektiert wird. Dazu möchten die folgenden überlegungen, die auch wieder Anregungen aus der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft aufnehmen, eine Hilfe bieten. 1. Von "Analogien" wird in der Religionsgeschichte gewöhnlich gesprochen, wenn irgend eine gemeinsame Thematik sich zeigt. Solche Analogien können in verschiedenen Bereichen festgestellt werden, z. B. im Bereich von Archäologie oder von Texten. In den folgenden Thesen wird nur die Analogie berücksichtigt, die in Texten vorkommt. 2. Eine Grundeinsicht der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft ist die, daß die Bedeutung eines sprachlichen Einzelelements (Lexem, Satz, Kleine Texteinheit) durch seine Position innerhalb eines textlichen Gesamtgefüges konstituiert wird. Das heißt z. B.: dasselbe Lexem (Satz, Kleine Texteinheit) hat in verschiedenen Texten häufig auch verschiedene Bedeutung, oder m. a. W.: das Gesamtgefüge eines Textes bestimmt die semantische Valeur eines Einzelelements so . Deshalb ist beim religionsgeschichtlichen Analogievergleich stets dieses jeweilige Gesamtgefüge im Auge zu behalten. 3. Das "Gesamtgefüge" ist für ein Einzelelement zunächst die sogenannte Kleine Einheit, die sich unter Beachtung makrosyntaktischer Signale von dem sie umgebenden Text abgrenzen läßt s 1, dann aber auch der ganze umgebende Text (etwa ein Evangelium). Das hat zur Folge, daß über den Vergleich der jeweiligen "Kleinen Einheiten" hinaus auch ein Vergleich der jeweiligen Gesamttexte erfolgen muß. Denn selbst bei Feststellung von Ähnlichkeiten bei Kleinen Einheiten muß noch nicht eine religionsgeschichtliche Analogie vorliegen, da ja das weitere Eingebettetsein einer Kleinen Einheit in das große Gesamtgefüge (Syntagma) die semantische Valeur der ersteren färbt, wenn nicht ganz verändert. 4. Der religionsgeschichtliche Analogievergleich wird darüber hinaus dadurch erschwert, daß nach den Erkenntnissen der Sprachwissenschaft zwischen der "Oberflächenstruktur" und der "Tiefenstruktur" eines Satzes (Textes) unterschieden werden muß. Die "Oberflächenstruktur" zeigt sich am konkreten, phonematisch und graphematisch vorliegenden Satz (Text); bei der" Tiefenstruktur" wird von der ber-
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50 Vgl. auch Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums, 54-56 (mit Literatur). 51 Zur Gewinnung von "Kleinen Einheiten" s. die methodischen Hinweise bei W. Richter, Exegese als Literaturwissenschaft (Göttingen 1971) 66-72.
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flächenstruktur eines Satzes (Textes) abstrahiert und nach dem bewußten und unbewußten Regelsystem gefragt, das die Generierung sinnvoller Sätze ermöglicht. Um das tatsächliche Vorliegen einer religionsgeschichtlichen Analogie feststellen zu können, genügen daher nicht Ähnlichkeiten in der Oberflächenstruktur, vielmehr muß auch eine weitgehende übereinstimmung in der aus den Oberflächen": strukturen zweier (oder mehrerer) Sätze (Texte) zu erschließenden Tiefenstruktur feststellbar sein. Denn die "Tiefenstruktur enthält alle für die Bedeutung eines Satzes wesentlichen Informationen. Die Repräsentation dieser Information in der Form eines konkreten Satzes ist die Oberflächenstruktur."51a Die Basiskomponente der Tiefenstruktur besteht aus zwei Subkomponenten: einem Regelteil und einem Lexikonteil, wobei der letztere die Formative mit bestimmten Informationen liefert. So sind z. B. die Sätze: Jesus ist der Retter der Welt, Hadrian ist der Retter der Welt, dem Regelteil nach zwar gleich strukturiert, nicht jedoch dem Lexikonteil nach; denn Jesus von N azareth ist ein anderer als Kaiser Hadrian, der sich gern "der Retter der Welt" nennen ließ. Der Lexikonteil, hier das je andere "Paradigma" Jesus bzw. Hadrian, ist aber mitbestimmend für die "Bedeutung" eines Satzes. Im Fall unseres Satzbeispiels bestimmt das "Paradigma" die semantische Valeur des von ihm ausgesagten Würdeprädikats, und nicht umgekehrt 52 . Zudem steht der Satz "Jesus (bzw. Hadrian) ist der Retter der Welt" je in einem anderen Kontext (Großsyntagma), was seine hermeneutisch-semantische Erschließung entscheidend mitbestimmt (s. o. unter 3). 5. Trotz der in den obigen Thesen gemachten Feststellung, daß die semantische Valeur eines sprachlichen Einzelelements primär von seiner synchronen Position bestimmt ist, muß beim religionsgeschichtliF. Hundsnurseher, Neuere Methoden der Semantik (Tübingen 1970) 4. Vgl. auch]. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (UTB 103) (München 1972) 125: "Die phonologisch-grammatischen Elemente organisieren die semantisch heterogenen Einheiten zu äquivalenten Klassen, und bringen dabei in die Semantik der Verschiedenheit ein Element der Identität. Umgekehrt aktivieren die formalen Kategorien bei Kongruenz der semantischen Elemente die Relation der Verschiedenheit, indem sie in dem (auf der Ebene der natürlichen Sprache) semantisch Homogenen eine Sinndifferenzierung (auf der Ebene der künstlerischen Struktur) hervortreten lassen." Die "die Relation der Verschiedenheit" aktivierenden "Kategorien" sind im oben angeführten Beispiel die nicht auswechselbaren "Paradigmen" Jesus bzw. Hadrian. Es spielt hier auch das Problem der "Inkompatibilität" eine wichtige Rolle, über das in der modernen Semantik viel diskutiert wird.
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chen Analogievergleich auch beachtet werden, daß die sprachlichen Einzelelemente, diachron gesehen, eine semantische Vorgeschichte haben, die in die "Bedeutung" miteinfließt, so z. B. bei den Würdeprädikaten, die auf J esus von N azareth von der Gemeinde übertragen wurden (wie "Messias" oder "Herr"). 6. Von einer solchen "übertragung" kann in der religions geschichtlichen Komparatistik legitim gesprochen werden. Sie liegt in der Tat im Fall Jesu vor, da auf ihn vorgegebene Hoheitstitel (alttestamentlich-jüdischer oder hellenistischer Herkunft) übertragen worden sind. Doch läßt sich methodisch zeigen, daß dadurch die J esustradition weder verfälscht worden noch verlorengegangen ist, vielmehr eine sachgemäße Interpretation und Explikation des "Jesusphänomens" erfolgt ist 53 . Trotz einer Fülle religionsgeschichtlicher übertragungsmöglichkeiten sind hierbei die interpretierenden Tradenten der Jesusüberlieferung selektierend und limitierend vorgegangen 54. Dieser selektierende und limitierende übertragungswille motiviert sich aus einem bestimmten Traditionswissen um Jesus, das aber seinerseits durch die Sätze der Homologese in der Funktion einer "Gegenkontrolle" reguliert wird, weil die Homologese immer wieder den Versuch verhindert, Jesus von Nazareth und seine "Sache" im Dienst einer bestimmten Ideologie zu interpretieren. Als kritische Forderung ergibt sich daraus, daß bei der Annahme von "übertragungen" nach der hinter einer übertragung liegenden Absicht zu fragen ist, und zwar in folgender Richtung: a) Soll Jesus und seine Sache erhalten bleiben? b) Soll aus Jesus "etwas gemacht" werden? c) Soll Jesus nur in gängige Schemata der religiösen überlieferung, sei es Israels, sei es des Hellenismus, eingeordnet werden? d) Oder was immer sonst? Grundsätzlich bedeutet das, daß in der religionsgeschichtlichen Dies hat am Fall des Würdeprädikats 6 aQX'l]y6~ für Jesus (vgl. Apg 3,15; 5,31; Hebr 2, 10; 12,2) P.-G. Müller in seiner Dissertation XPTLTOL APXHrOL. Der religionsgeschichtliche und theologische Hintergrund einer neutestamentlichen Christusprädikation (Europäische Hochschulschriften XXIII/28) (Bern - Frankfurt a. M. 1973) vorbildlich gezeigt. 54 Vgl. dazu H. Schlier, Die Anfänge des christologischen Credo, in: B. Weite (Hrsg.), Zur Frühgeschichte der Christologie. Ihre biblischen Anfänge und die Lehrformel von Nikaia (Quaest. disput. 51) 13-58; F. Mußner, Christologische Homologese und evangelische Vita Jesu: ebd. 59-73 (69-71).
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Komparatistik die Frage nach der "Sprachintention" des konkreten "Generators" von Sätzen (Texten) nicht ohne Belang ist. Das gilt sowohl im Hinblick auf Jesus als auch auf die Gemeinde. Ohne die Berücksichtigung der Sprachintention kommt man beim religionsgeschichtlichen Analogievergleich zu Fehlurteilen 54'. 7. "Wer sicher gehen will, muß sehr mit den Analogien auf der Hut sein; es ist doch eine gar zu gefährliche Art" (Platon, Sophistes 231a).
I. Weitere Probleme Bei dem Thema "Methodologie der Frage nach dem historischen Jesus" wären noch einige Faktoren und Fragen zu bedenken, die in den vorausgehenden Vorlagen nicht oder kaum berücksichtigt worden sind. Dazu gehören folgende: 1. Das Verhältnis von "Text" und Existenz. 2. Das Verhältnis von "Text" und Geschichte 55. 3. Die "Transformation eines Objekts in Sprache" (R. Barthes). 4. "Erkenntnis und Interesse" (J. Habermas). 5. Ideolekt - Soziolekt (ihre jeweilige Eigenart). 6. Was heißt "Kontinuität"?56 7. Was heißt "Rezeption"?57 8. Geschichte und "Wirkungsgeschichte" (H.-G. Gadamer). Der Hinweis auf diese Probleme soll ins Bewußtsein bringen, wie viele Dinge in der form geschichtlichen Arbeit, die beim methodischen Vorgehen in der Frage nach dem historischen Jesus selbstverständlich auch weiternin eine wichtige Rolle spielen wird, nicht oder nicht genügend bedacht worden sind. Es gibt im Hinblick auf unser Thema noch allzuviel "Ungedachtes". 54' VgJ. auch noch C. Westermann, Sinn und Grenze religionsgeschichtlicher Parallelen, in: ThLZ 90 (1965) 489-496. 55 Vgl. dazu E. Güttgemanns, "Text" und "Geschichte" als Grundkategorien der Generativen Poetik. Thesen zur aktuellen Diskussion um die "Wirklichkeit" der Auferstehungstexte, in: Linguistica Biblica 11/12 (1972) 2-12; S. J. Schmidt, "Text" und "Geschichte" als Fundierungskategorien. Sprachphilosophische Grundlagen einer transphrastischenAnalyse, in: W. D. Stempel (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik (München 1971) 31-52; R. Koselleck - W.-D. Stempel (Hrsg.), Geschichte - Ereignis und Erzählung (München 1973). 56 Vgl. dazu H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft (Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1972); H. Trümpy (Hrsg.), Kontinuität - Diskontinuität in den Geisteswissenschaften (Darm stadt 1973). 57 Vgl. etwa A. Grillmeier, Konzil und Rezeption, in: ThPh 45 (1970) 321-352.
144
Anhang: Ausgewählte Literatur
I. Zum Thema (im wesentlichen nur Literatur zur Kriterien/rage) Baird,J. A., Audience Criticism and the Historical Jesus (Philadelphia 1969). Calvert, D. G. A., An examinatioti of the criteria for distinguishing the authentie words of Jesus, in: NTSt 18 (1971/72) 209-218. Delling, G., Geprägte Jesus-Tradition im Urchristentum, in: Studien zum NT und zum hellenistischen Judentum (Göttingen 1970) 160-175. Gerhardsson, B., Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinie Judaism and Early Christian}ty (Uppsala 1961). Gerhardsson, B., Tradition and Transmission in Early Christianity (Lund 1964). Grant, F. c., The Authenticity of Jesus' Sayings, in: W. Eltester (Hg.), Ntl. Studien für R. Bultmann (Berlin 21957) 137-143. Greenwood, D., Rhetorical Criticism and Formgeschichte. Some methodological Considerations, in: JBL 89 (1970) 418-426. Hahn, F., Methodenprobleme einer Christologie des NT, in: FuV 15 (1970/2) 3-41. Jeremias,f., Kennzeichen der ipsissima vox Jesu, in: ABBA (Göttingen 1966) 145-152. /(äsemann, E., Das Problem des historischen Jesus, in: ZThK 51 (1954) 125-153. Kieffer, R., Essais de methodologie neo-testamentaire (Lund 1972). Kremer, J., Die Methoden der historisch-kritischen Evangelienforschung und die Frage nach Jesus von Nazareth, in: Bibel und Liturgie 46 (1973) 83-91. Lehmann, M., Synoptische Quellenanalyse und die Frage nach dem historischen Jesus (Berlin 1970). Mußner, F., Wege zum Selbstbewußtsein Jesu. Ein Versuch, in: BZ 12 (1968) 161-172. Neugebauer, F., Geistspruche und Jesuslogien, in: ZNW 53 (1962) 218-228. Perrin, N., Was lehrte Jesus wirklich? Rekonstruktion und Deutung (Göttingen 1972). Riesen/eld, H., The Gospel Tradition and its Beginnings. A study in the limits of the Formgeschichte, in: Stud. Evang. (TU 73) (Berlin 1959) 43-65. Robinson, J. M., The Dismancling and Reassem bling of the categories of N ew Testament Scholarship, in: Interpretation 25 (1971) 63-77. Roloff, J., Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien (Göttingen 1970). Schille, G., Literarische Quellenhypothesen im Licht der Wahrscheinlichkeitsfrage, in: ThLZ 97 (1972) 331-340. Simonsen, H., Zur Frage der grundlegenden Problematik in förm- und redaktions ge~chichtlicher Evangelienforschung, in: StTh 27 (1972) 1-23. Schürmann, H., Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, in: ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien (Düsseldorf 1968) 39-65. Schürmann, H., Wie hat Jesus seinen Tod bestanden und verstanden? Eine methodenkritische Besinnung, in: Orientierung an Jesus. Zur Theologie der Synoptiker (Freiburg i. Br. 1973) 325-363 (näherhin 325-332). Stein, R. H., The proper Methodology for ascertaining a Marcan Redaction History, in: NT 13 (1971) 181-198. Stuhlmacher, P., Kritische Marginalien zum gegenwärtigen Stand der Frage nach Jesus, in: Fides et Communicatio (Festschrift für M. Doerne) (Göttingen 1970) 341-361. Walker, W. 0., The Quest for the Historical Jesus: a discussion of Methodology, in: AThR 51, 38-56. Wie/el, W., Vätersprüche und Herrenworte. Ein Beitrag zur Frage der Bewahrung mündlicher Traditionssätze, in: NT 11 (1969) 105-120.
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l/. Zur Sprach- und Literaturwissenschaft
Antal, L. (Hrsg.), Aspekte der Semantik. Zu ihrer Theorie und Geschichte 1962-1969 (Frankfurt a. M. 1972).
Arens, H., Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart (Freiburg-München 21969).
Barthes, R., Literatur oder Geschichte (Edition Suhrkamp) (Frankfurt a.M. 1969). Bechert, J., u. a., Einführung in die generative Transformationsgrammatik (München 21971).
Blumensath, H., Strukturalismus in der Literaturwissenschaft (Köln 1972). Bühler, H., u. a., Linguistik 1. Lehr- und übungsbuch zur Einführung in die Sprachwissenschaft (Tübingen 21971).
Bünting, K.-D., Einführung in die Linguistik (Frankfurt a. M. 1971). Chomsky, N., Aspekte der Syntax-Theorie (Frankfurt a.M. 1970). Coseriu, E., Einführung in die strukturelle Linguistik (Tübingen 1969). Coseriu, E., Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels (München 1971).
Eco, u., Einführung in die Semiotik (UTB 105) (München 1972). Glinz, H. Linguistische Grundbegriffe und Methodenüberblick (Horn burg 1970). Greimas, A. ]., Strukturale Semantik (Braunschweig 1971). Güttgemanns, E., studia linguistica neotestamentica (München 1971). Hempter, K. W., Gattungstheorie. Information und Synthese (UTB 133) (München 1973).
Hirsch, E. D., Prinzipien der Interpretation (UTB 104) (München 1972). Hundsnurscher, P., Neuere Methoden der Semantik (Tübingen 1970). Koselleck, R., u. Stempel, W.-D. (Hrsg.), Geschichte - Ereignis und Erzählung (München 1973).
Kronasser, H., Handbuch der Semasiologie (Heidelberg 21968). Lämmert, E., Bauformen des Erzählens (Stuttgart 1970). Leibfried, E., Kritische Wissenschaft vom Text (Stuttgart 1970). Lepschy, G. c., Die strukturale Sprachwissenschaft. Eine Einführung (München 1969). Lotman,]. M., Die Struktur literarischer Texte (UTB 103) (München 1972). Lyons, J., Einführung in die moderne Linguistik (München 1971). Martinet, A., Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft (Stuttgart 41970). Martinet, A. (Hrsg.), Linguistik. Ein Handbuch (Stuttgart 1973). Mecklenburg, N., Kritisches Interpretieren. Untersuchungen zur Theorie der Literaturkritik (München 1972).
Müller, P. G., Die linguistische Kritik an der Bibelkritik, in: Bibel und Liturgie 46 (1973) 105-118 (mit reicher Literatur).
Propp, W., Morphologie des Märchens (München 1972). 5aumjan, S., Strukturale Linguistik (München 1971). de Saussure, P., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (Berlin 21967). Schiwy, G., Der französische Strukturalismus (Reinbek 41970). Schiwy, G., Neue Aspekte des Strukturalismus (München 1971). Stempel, W.-D. (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik (München 1971). Stiehl, U., Einführung in die allgemeine Semantik (Dalp 396 D) (München 1970). Ullmann, St., Grundzüge der Semantik. Die Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Sicht (Berlin 1967).
Vermeer, H. ]., Einführung in die linguistische Terminologie (München 1971). Weinrich, H., Tempus. Besprochene und erzählte Welt (Stuttgart 1964).
146
u.,
Winfried, Wörterbuch. Linguistische Grundbegriffe (Kiel 1972). Funk-Kolleg-Sprache: Eine Einführung in die moderne Linguistik (Fischer Taschenbuch, 2 Bde.) (Frankfurt a. M. 1973) (Diese "Einführung" ersetzt eine ganze Bibliothek!).
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IV Die überlieferung der Passion Jesu Von Rudolf Pesch, Frankfurt a. M.
Im Rahmen der Frage nach dem historischen Jesus gilt die Kreuzigung unter dem Prokurator Pontius Pilatus als das am besten gesicherte historische Datum 1. Die Fragen nach Anlaß der Hinrichtung, Hergang von Verhaftung und Verurteilung, kurz nach Prozeß und Verantwortung für den Tod Jesu werden immer noch heftig diskutiert 2 • Die Bedeutung des Todes J esu und eines Todesverständnisses J esu für die Anfänge des christlichen Glaubens werden in neuer Offenheit und wissenschaftlicher Genauigkeit erörtert 3 • Die Möglichkeit, historische Urteile überzeugend zu formulieren, hängt - das rückt wieder neu ins Bewußtsein - an der überlieferungsqualität der Passionsgeschichte, deren Entstehung und überlieferung noch keinesfalls zureichend untersucht oder gar aufgeklärt ist. Der hermeneutische Zirkel von Einzeluntersuchung und Konstruktion eines Gesamtbildes macht sich bei den divergierenden Urteilen zurPassionsgeschichte besonders bemerkbar. Die Behandlung der Passionsüberlieferung kann zum übungs- und Testfeld historisch-kritischer Methodologie werden, auch der Methodologie der Rückfrage nach dem historischen Jesus. Um der methodologischen Diskussion willen sind in der Arbeitsgemeinschaft II der Wiener Tagung Vorschläge zu folgenden FragenVgl. W. Trilling, Fragen zur Geschichtlichkeit Jesu (Düsseldorf 21967). Vgl. E. Lohse, Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi (Gütersloh 1964); S. G. F. Brandon, TheTrial of Jesus of Nazareth (London 1968); J. Blinzler, Der Prozeß Jesu. Vierte, erneut revidierte Auflage (Regensburg 1969); E. Bammel (ed.), The Trial of Jesus (London 1970); D. R. Catchpole, The Trial of Jesus. A Study in the Gospels and Jewish Historiography from 1770 to the Present Day (Studia Post-Biblica 18) (Leiden 1971); K. Schubert, Kritik der Bibelkritik. Dargestellt an Hand des Markusberichtes vom Verhör Jesu vor dem Synedrion, in: Wort und Waltrheit 27 (1972) 421-434. 3 Vgl. H. Schürmann, Wie hat Jesus seinen Tod bestanden und verstanden? Eine methodenkritische Besinnung, in: P. Hoffmann (Hrsg.), Orientierung an Jesus. Für J. Schmid (Freiburg 1973) 325-363. 1
2
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komplexen gemacht worden: I. Kriterien und Indizien zur Bestimmung des Umfangs der vormarkinischen, der ältesten Fassung der Passionsgeschichte; 11. Kriterien und Indizien zur Bestimmung des Alters der Passionsgeschichte; In. Kriterien und Indizien zur Bestimmung der Herkunft der Passionsgeschichte; IV. Beiträge zur Charakterisierung der Passionsgeschichte; V. Die Passionsgeschichte und_die Frage nach dem historischen Jesus. Die intensiven Aussprachen mit und unter den Teilnehmern der Arbeitsgemeinschaft haben eine weitere Ausarbeitung der Vorschläge ermöglicht; mit dieser Ausarbeitung soll der schuldige Dank für mannigfache hilfreiche Kritik und Antikritik abgestattet werden, mit dei wir in dreitägiger Arbeit unser kritisches Vermögen zu schärfen suchten.
I. Kriterien und Indizien zur Bestimmung des Umfangs der vormarkinischen, der ältesten Fassung der Passionsgeschichte Die Urteile über den Umfang einer vormarkinischen Passionsgeschichte, d. h. eines festen Erzählzusammenhangs von Passionsüberlieferung, divergieren gegenwärtig faktisch und tendenziell: Hat früh ein ausführlicher, langer Erzählzusammenhang existiert, oder sind erst spät Einzeldaten und Einzelerzählungen zu einer kurzen vormarkinischen Passionsgeschichte zusammengefügt worden, oder ist die Passionsgeschichte erst eine Bildung des Evangelisten Markus?4 Die aus 4 Für J. Schreiber, Die Markuspassion. Wege zur Erforschung der Leidensgeschichte Jesu (Hamburg 1969) gilt "Markus als Kompositeur" (47) der Passionsgeschichte wie des ganzen Evangeliums; ähnlich urteilt E. Linnemann, Studien zur Passionsgeschichte (Göttingen 1970), wonach die Passionsgeschichte "von Anfang bis Ende vom Evangelisten aus selbständigen Einzeltraditionen komponiert" (171) ist; mit starker Redaktionstätigkeit des Markus rechnet auch J. Gnilka, Die Verhandlungen vor dem Synedrion und vor Pilatus nach Markus 14, 53 - 15,5, in: Evangelisch-katholischer Kommentar zum NT, VorarbeitenH. 2 (Zürich-Neukirchen 1970)5-21. -Mit einer nur kurzen Fassung der vormarkinischen Passionsgeschichte operieren L. Schenke, Srudien zur Passionsgeschichte des Markus. Tradition und Redaktion in Mk 14, 1-42 (Forschung zur Bibel 4) (Würzburg 1971); G. Schneider, Die Passion Jesu nach den drei älteren Evangelien (München 1973); vgl. auch G. Schneider, Die Verhaftung J esu. Traditionsgeschichte vonMk 14,43-52,in: ZNW 63 (1972) 188-209. -Mit einer Langfassung der vormarkinisehen Passionsgeschichte rechnen U. Wilckens, Auferstehung (Sruttgart 1970); R. Pesch, Die Salbung Jesu in Bethanien (Mk 14,3-9). Eine Srudie zur Passionsgeschichte, in: P. Hoffmann a. a. 0., 267-285; Die Verleugnung des Petrus. Eine Studie zu Mk
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der Vielzahl sich widersprechender Hypothesen resultierende Unsicherheit sollte überwindbar sein, wenn neue Vorschläge ausführlich begründet werden, mit einer überprüfbaren Kriteriologie arbeiten und die urteilsfördernden und -begründenden Indizien möglichst vollständig vorlegen. 1. Indizien dafür, daß der Evangelist Markus nicht erster Autor der Passionsgeschichte ist, daß eine vormarkinische Passionsgeschichte existiert hat 1.1 Die Beurteilung von Indizien ist von der Einschätzung der Arbeit des Redaktors des Markusevangeliums im ganzen abhängig. 1.1.1 War Markus ein eigenständig erzählender, überlieferungen stark bearbeitender und zusammenschweißender Redaktor, ein selbständiger Stilist S und aufmerksamer Autor? 1.1.2 Oder war Markus eher ein "konservativer" Redaktor, der in die ihm vorgegebenen überlieferungen nur vereinzelt und in bescheidenem Umfang eingegriffen, der vorzüglich durch die Anordnung seines Materials - z. T. schon ausführlicherer überlieferungskomplexe 6 - redigiert und divergierende überlieferungen nicht miteinander ausgeglichen hat? 1.1.3 Mir scheint sich bei einer genauen Analyse des zweiten Evangeliums nur die Hypothese 1.1.2 zu bewähren 7. Einige wichtige Indizien seien in Kürze genannt: 1.1.3.1 Der Vergleich des Mk-Ev mit den Groß evangelien des Mattäus und Lukas lehrt, daß die späteren Evangelisten eine Reihe von 14,54.66-72 (und Mk 14,26-31), in: J. Gnilka (Hrsg.), Neues Testament und Kirche (Freiburg i. Br. 1973) 42-62; R. Peseh, Das Messias-Bekenntnis des Petrus (Mk 8,27-30). Neuverhandlung einer alten Frage, in: BZ 17 (1973) 178-195 und 18 (1974) 20-31; ders., Der Schluß der vormarkinischen Passionsgeschichte und des Markusevangeliums: Mk 15,42-16,8, in: M. 5.·1bbe (ed.), L'Evangile deMarc (Gembloux 1973) 365-409. 5 H. Thyen, Positivismus in der Theologie und ein Weg zu ihrer überwindung, in: EvTheol31 (1971) 472-495, hier S. 488, verneint die Frage, "ob das Markusevangelium in einer signifikanten Individualsprache abgefaßt ist" und meint: "Wer es dennoch behaupten will, hat dafür einen differenzierten Beweis anzutreten." 6 Vgl. H. W. Kuhn, Altere Sammlungen im Markusevangelium (SUNT 8) (Göttingen 1971); dazu BZ 17 (1973) 265-267. 7 F. Neirynck, Duality in Mark. Contributions to the Study of the Markan Redaction (BibI. Ephem. Theol. Lovan. 31) (Löwen 1972), vertritt die Auffassung, ein durchgehender markinischer Stil sei auszumachen. Zu fragen bleibt, ob nicht die vormarkinische Tradition schon ähnlich stilisiert war.
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U nausgeglichenheiten, stilistischen Nachlässigkeiten, Unklarheiten usw. zu beseitigen Anlaß nahmen. Im Vergleich erscheint Markus als konservativer Redaktor. 1.1.3.2 Besonders signifikant ist bei Markus das unausgeglichene Nebeneinander von Orts angaben (vgl. Mk 6,45.53; 7,24.31; 8,10.22) und Personennamen (vgl. Mk6,3 und 15,40; Mk2,14 und 3,18)8. 1.1.3.3 Auffällig bei Markus - und bezeichnenderweise ebenfalls in der ersten Hälfte seines Evangeliums - ist auch ein Mangel in der logischen Abfolge von offenbar mangelhaft ausgeglichenen traditionellen Angaben (vgl. z.B. Mk3,9.13.20; 4, 1.35f). 1.1.3.4 Verglichen mit den späteren Evangelien fehlt dem Mk-Ev auch durchweg die einheitliche Begrifflichkeit, ein Indiz, das vielfältig belegbar ist und wohl besonders starke Beachtung verdient. Die Variabilität der Ausdrucksweisen ist durch die Verschiedenheit der vorm arkinischen Traditionen bedingt. 1.2 Ist Markus ein konservativer Redaktor, so sind insbesondere Unterschiede in der Kohärenz zwischen erster und zweiter Hälfte seines Evangeliums als Indiz für eine vormarkinische Passionsgeschichte zu werten. 1.2.1 Der in geographischer und chronologischer Hinsicht (Itinerarium Jesu; Weg Jesu nach Jerusalem und Jerusalemer Woche) viel konsistentere 2. Teil des Mk-Ev (ab 8,27) unterscheidet sich deutlich vom ersten, wo der geographische und chronologische Rahmen lockerer, unübersichtlicher, z. T. fehlerhaft, jedenfalls deutlich aufgrund von Reihung von Einzelüberlieferungen oder kleinen Sammlungen erstellt ist. 1.2.2 Im zweiten Teil des Mk-Ev, besonders in den Passionsmaterialien, häufen sich nicht selbständige, d. h. auf den Kontext (der Passionsüberlieferung) angewiesene überlieferungseinheiten, wie sie im ersten Teil kaum begegnen 9. 1.3 Die eigentümliche Konsistenz der Passionsüberlieferungen innerhalb des Mk-Ev, ihre Konzeption in Form von mehrheitlich nicht selb8 Zur ausgleichenden Arbeit des Matthäus vgl. R. Pesth, Levi-Matthäus (Mc. 2,14; Mt 9,9; 10,3). Ein Beitrag zur Lösung eines alten Problems, in: ZNW 59 (1968) 40-56. 9 Zum formkritischen Begriff der selbständigen oder nicht selbständigen "kleinen Einheit" vgl. W. Richter, Exegese als Literaturwissenschaft (Göttingen 1971); E. Zenger, Ein Beispiel exegetischer Methoden aus dem Alten Testament, in: Einführung in die Methoden der biblischen Exegese, hrsg. von J. Schreiner (Würzburg 1971) 97-148.
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ständigen Erzähleinheiten, der deutliche Unterschied der Passionsüberlieferung zum sonstigen Bestand des Mk-Ev zwingt zum Schluß, daß der Evangelist Markus nicht erster Autor der Passionsgeschichte ist, sondern eine Passionserzählung vorgefunden hat. Markus ist "einer vorgegebenen Passionserzählung verpflichtet" 10, deren Umfang, Alter und Herkunft bestimmt werden muß, damit ihr überlieferungswert gewürdigt und ihr Bestand für die Rückfrage nach dem historischen Jesus genutzt werden kann. 2. Kriterien zur Bestimmung des Umfangs der vormarkinischen, der ältesten Fassung der Passionsgeschichte
2.1 Zwei leitende Fragen sind zur Bestimmung des Umfangs der Passionsgeschichte formulierbar: 2.1.1 Welche Materialien gehören zum Thema und in den Umkreis der Passionsüberlieferung ? 2.1.2 Welche Materialien gehören auf keinen Fall zum Thema und in den Umkreis der Passionsüberlieferung? 2.2 Zur Sichtung des Materials dienen dann weiterhin literarkritische Kriterien: 2.2.1 Dopplungen, die einander ausschließen, 2.2.2 Wiederholungen, die nicht integrierbar sind, 2.2.3 Spannungen, die unterschiedliche Horizonte und damit Herkünfte anzeigen, 2.2.4 Widersprüche, die durch sekundäre Komposition zustande gekommen sein müssen (die also nicht beabsichtigt sind), 2.2.5 Inkohärenz in Stil und Vokabular, 2.2.6 Sachlich-thematische Geschlossenheit oder Inkohärenz, 2.2.7 Eindeutig als markinische Redaktionsmittel erkennbare Motive, Wendungen, Formulierungen usw. 2.3 Zur Sichtung des Materials dienen dann weiterhin /ormkritische Kriterien: 2.3.1 Unterscheidung selbständiger und nichtselbständiger Erzähleinheiten, 2.3.2 Untersuchung des gemeinsamen Horizonts von Erzählungen, angezeigt in: Thematik, Formeln, formelhaften Wendungen, Erzählschemata, 10
G. Schneider, Passion, 156.
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2.3.3 Unterscheidung der Erzählgattungen, die auf selbständige überlieferung deuten, von gattungsmäßig nicht spezifizierbaren Erzählungen, die auf übergreifende Erzählzusammenhänge verweisen. 2.3.4 Beachtung von an die Passionsthematik gebundenen, wiederkehrenden Formelementen [z. B. dreifache Wiederholung: Drei Leidensweissagungen (8,31; 9,31, 10,33 f), drei Versuche der Gegner Jesu, sich seiner zu bemächtigen (11,18; 12,12; 14, lf), dreimaliges Hineinkommen nach Jerusalem (11,11.15.27), drei Gebetsgänge in Getsemani (14,32-42), dreifache Verleugnung des Petrus (14, 66-72), dreifacher Gesprächsgang in der Barrabas-Episode (15, 6-15), dreifache Aufzählung der Stunden im Kreuzigungsbericht (15,25-34)]11. 2.4 Zur Sichtung des Materials dienen dann weiterhin inhaltlichsachliche Kriterien: 2.4.1 Thema (Passions-)bezogenheit oder -fremdheit, 2.4.2 Vorkommen leitender sachlicher und theologischer Vorstellungen; Motivvetkettungen, 2.4.3 Erzählerisch-sachliche Verkettungen, 2.4.4 Inhaltlich-logische Struktur von aufeinanderfolgenden Erzählungen. 2.4.5 Als heuristische Grundannahme für eine Hypothesenbildung bietet sich folgende an: Zur Passionsgeschichte gehören alle Uberlieferungseinheiten, die den Weg Jesu zur Passion in Jerusalem erzählen bzw. damit in unmittelbarem (eventuell auch mittelbarem) Zusammenhang stehen. Nach Sichtung des Materials anhand der in 2.1.1 und 2.1.2 formulierten Leitfragen und der angeführten Kriterien bietet sich eine Hypothese, die Materialien ab Mk 8,27 beachtet, als heuristischer Vorentwurf zur weiteren Sichtung an. 2.5 Zur Sichtung des Materials können nicht untaugliche Kriterien benutzt werden, wie sie im folgenden beispielhaft aufgeführt werden: 2.5.1 Die Leitvorstellung von einem knappen Geschichtsbericht, in dem die Passion Jesu zunächst überliefert worden sei 12 • 11 Auch die Komposition der Erzählung mit jeweils drei Szenen verdient Beachtung; vgl. G. Schneider, Passion, 19f. 12 Diese Leitvorstellung findet sich in der Literatur häufig seit ·R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen 1921,71967) 298: "ein kurzer Bericht geschichtlicher Erinnerung von Jesu Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung". Vgl. die 4. Auflage des Ergänzungsheftes, bearbeitet von G. Theißen und Ph. Vielhauer (Göttingen 1971) loH für weitere Literatur.
153
2.5.2 Die Leitvorstellung einer Entstehung der Passionsgeschichte aus disparaten/nicht disparaten überlieferungsfragmenten 13. 2.5.3 Vorstellungen vom historischen Ablauf (Wahrscheinlichkeit des Erzählten). 2.504 Historische Irrtümer (weil sie von Anfang einer Erzählung an existieren können), ebenso sachliche Irrtümer. 2.5.5 Die Akoluthie der späteren Evangelien darf, zum al nicht ohne sorgfältige Prüfung von Abhängigkeiten und redaktionellen Intentionen, nicht als Kriterium zur Rekonstruktion vormarkinischer Tradition benutzt werden 14. 2.6 Mit Hilfe der genannten tauglichen Kriterien ist das zunächst möglichst umfassend in Betracht gezogene Material (vgl. 204.5) sorgfältig zu sichten. Bei dieser Sichtung müssen die zur Bestimmung des Umfangs der vormarkinischen Passionsgeschichte dienlichen Indizien sorgfältig (und möglichst umfassend) beachtet werden. 3. Indizien zur Bestimmung des Umfangs der vormarkinischen, ältesten Passionsgeschichte
Während wir die Kriterien - mit Rücksicht auf den begrenzten Umfang unserer Studie - nicht im einzelnen an Beispielen diskutieren bzw. das Material nicht anhand der Kriterien sichtend vorstellen konnten, müssen wir die Indizien, die unseren Diskussionsvorschlag (lA) begründen, so ausführlich wie möglich anführen 15. 3.1 Ortsangaben sind wichtige Indizien zur Bestimmung des Umfangs eines Erzählzusammenhangs (sofern sie literarkritisch als ursprünglich und nicht sekundär/redaktionell zu sichern sind). 3.1.1 In unserem Zusammenhang interessieren die Orts angaben ab Mk 8,27, also der Mitte des Evangeliums 16, von wo ab der Zug Jesu zur Passion in J erusalem im Blick bleibt. 3.1.2 Eine erste Sequenz von Ortsangaben bindet eine Reihe von überlieferungen in den Kap. 8-10 zusammen: Vgl. E. Linnemann, Studien. Kritik des Verfahrens beispielhaft bei R. Pesch, Salbung. lS Wir beanspruchen nicht, die aufgestellte Forderung bereits erschöpfend zu erfüllen; in einem stärker methodologisch orientierten Vorschlag dürfen wir dafür um Nachsicht bitten. 16 Vgl. R. Pesch, Naherwartungen. Tradition und Redaktion in Mk 13 (Düsseldorf 1968) 70. 13
14
154
3.1.2.1 8,27: Zug in die Dörfer von Cäsarea Philippi; 9,2: Auf einen hohen Berg; 9,9: Abstieg vom Berg; 9,30: Zug durch Gali1äa; 9,33: In Kafarnaum; 10,1: Zug durch Judäa und Transjordanien; 10,32: Unterwegs nach Jerusalem. 3.1.2.2 Die durch die Orts angaben ausgezeichneten Erzähleinheiten sind (bis auf 10,1) mit dem Thema Passion Jesu durch die Leidensund Auferstehungsweissagungen unmittelbar verbunden (8,31; 9,31; 10,33f), sie signalisieren Ausgangspunkt und Stationen auf dem Weg zur Passion. 3.1.2.3 10, 1a ("Und von dort aufgestanden, kommt er in die Gebiete Judäas und jenseits des Jordan") ist eine Angabe, die sich auf 9,30.33 zurückbezieht, die aber weder mit dem vorangehenden (der Spruchsequenz 9, 42ff) noch dem nachfolgenden Kontext (dem Streitgespräch über die Ehescheidung 10, 2-12) ursprünglich verbunden war. Da 10,1 a kaum als markinisch-redaktionelle Wegangabe aufgefaßt werden kann, haben wir mit einem vormarkinischen Traditionssplitter zu rechnen, der die Annahme eines Erzählzusammenhangs vom Weg J esu zur Passion in J erusalem nahelegt. 3.1.2.3.1 10,1a kann aus verschiedenen Gründen nicht als markinisch-redaktionelle Angabe gelten. Eine redaktionell-verbindende Notiz hätte sich (zumal im Blick auf 10, 10) am ehesten dem fast durchgängigen, die Jünger einschließenden Plural der Reisenotizen angeschlossen (vgl. 9,30.33; 10,32.46; 11,1). Die Genauigkeit der geographischen Notiz mit der Erwähnung der Gebiete "jenseits des Jordan" spricht nicht für den Redaktor Markus, der - wie kontrollierbar ist - keine Ortsangaben neu einführt, sondern höchstens Angaben der Tradition wiederho1t 17 . 3.1.2.3.2 Ist 10, 1a ein vormarkinischer Traditionssplitter, so ist sein traditionsgeschichtlicher Ort, der im unmittelbaren Kontext nicht gegeben ist, aufzusuchen. Zwischen 9,30.33; 10,32.46 paßt die Angabe vortrefflich in den Zusammenhang einer Erzählung vom Weg Jesu (zur Passion) in Jerusalem. Der Vers ist ein wichtiger Stützpfeiler für die Rekonstruktion des Umfangs der vormarkinischen Passionserzählung. 3.1.3 Eine zweite Sequenz von Ortsangaben bindet eine Reihe von überlieferungen in den Kap. 10-13 zusammen: 17 Zur mangelhaften Geographie des Mk-Ev vgl. K. Niederwimmer, Johannes Markus und die Frage nach dem Verfasser des zweiten Evangeliums, in: ZNW 58 (1967) 172-188, bes. 178-183.
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3.1.3.1 10,32: Unterwegs nach Jerusalem; 10,46: Jericho (Nennung der wichtigen Grenz- und Zollstation) 18; 11,1: Ankunft in der Nähe Jerusalems nach Betfage, Betanien und zum Olberg; 11,11: Nach Jerusalem, in den Tempel; nach Betanien; 11,12.15: Von Betanien nach Jerusalem, in den Tempel; 11, 19: Hinaus aus der Stadt; 11,27: Wieder nach Jerusalem, im Tempel; 12,41: Dem Opferstock gegenüber; 13,1: Hinaus aus dem Tempel; 13,3: Auf dem Olberg, dem Tempel gegenüber. 3.1.3.2 Die hier zusammengebundenen überlieferungen haben schon deshalb ein Recht auf Prüfung ihrer Zugehörigkeit zur Passionsgeschichte, weil sie an den Jersualemer Aufenthalt Jesu (vor seinem Tod) gebunden sind. Dopplungen und Wiederholungen machen jedoch eine überprüfung evtl. mk-redaktioneller Setzung von Angaben besonders dringlich. 3.1.3.3 Eine solche überprüfung hat insbesondere den Angaben in 11,11.12.15.19; 13,1.3 zu gelten. Daß die eschatologische Rede 13,3-37 nicht zur Passionsgeschichte gehörte, ist sicher 19. Fraglich ist, ob die geschachtelte Szene von der Verfluchung des Feigenbaumes hinzugerechnet werden darf, auch ob 13, 1-2 in Betracht gezogen werden muß. 3.1.3.4 Es darf schon hier angemerkt werden, daß die Entscheidung über Fragen, wie sie in 3.1.3.3 aufgeworfen sind, nur aufgrund der Kontrolle aller Indizien und der überprüfung der in 1.2 genannten Kriterien gefällt werden kann. Es geht im jetzigen Zusammenhang nur um jeweils begrenzte, exemplarische Erörterungen. 3.1.4 Eine dritte Sequenz von Ortsangaben verbindet überlieferungen in Kap. 14 (bis zur Verhaftung Jesu): 3.1.4.1 14,3: Aufenthalt in Betanien; 14,13: In die Stadt; 14,16: In die Stadt; 14,26: Zum Olberg; 14,32: In Getsemani; (dazu 14,28 Verweis auf das Vorangehen nach Galiläa; vgl. 16,7). 3.1.4.2 Daß ab 14,1 die Passionsgeschichte erzählt wird, ist nicht zweifelhaft. Der gleiche Erzählstil mit häufigen Ortsangaben begegnet aber auch schon in den 3.1.2 und 3.1.3 genannten Partien. 3.1.5 Die vierte Sequenz von Ortsangaben bindet die Leidensgeschichte im engeren Sinn, die überlieferungen von der Verhaftung J esu bis zur Auferstehungsverkündigung im geöffneten Grab zusammen: 18 19
Hinweis von Kurt Schubert, Wien. Vgl. R. Pesch, Naherwartungen.
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3.1.5.1 14,53: Zum Hohenpriester; 14,54: Im Hof des Hohenpriesters; 14,66: Im Hof des Hohenpriesters; 14,68: Im Vorhof des Hohenpriesters; 15,1: Zu Pilatus; 15,16: In den Hof, das Prätorium; 15,20: Hinaus; 15,22: Nach Golgota; 15,43: Zu Pilatus; 15,46: In ein Grab; 16,2: Zum Grab; 16,5: Ins Grab; 16,8: Weg vom Grab; (dazu: 15,41: In Galiläa, nach Jerusalem; 16,7: nach Galiläa; vgl. 14,28). 3.1.5.2 Die Verweise auf den Zug von Galiläa nach Jerusalem und von Jerusalem nach Galiläa (Stichwort: vorangehen) binden die überlieferung von 10,32 über 14,28; 15,41 bis 16,7 zusammen. (Der Zug nach Jerusalem wird darüberhinaus aber schon in 8,31 inauguriert.) 3.1.6 Vergleicht man die Sequenzen der Ortsangaben ab Mk 8,27 (von wo ab alle über den Zug Jesu nach Jerusalem, den Jerusalemer Aufenthalt und die Passion informieren) mit den Orts angaben in der ersten Hälfte des Mk-Ev, so zeigt sich in der ersten Hälfte eine weitaus mindere Dichte und überdies in den Kap. 6-8 eine deutliche Inkonsistenz; gerade hier ist aber deutlich, daß der Evangelist Einzelüberlieferungen bzw. kleinere Sammlungen zusammenstellt, daß er also keine konsistenten geographischen Sequenzen schafft. Die Sequenzen von Ortsangaben ab Mk 8,27 sind also ein deutlicher Hinweis auf einen vormarkinischen Erzählzusammenhang und damit Indizien zur Bestimmung der vormarkinischen Passionsgeschichte. 3.2 Zeitangaben sind ebenfalls wichtige Indizien zur Bestimmung eines Erzählzusammenhangs . 3.2.1 Die beiden ersten durch Orts angaben verbundenen Sequenzen von Erzähleinheiten sind weniger durch Zeitangaben verbunden, die beiden folgenden durchgehend und sehr fest. 3.2.2 Innerhalb der ersten beiden Sequenzen sind zu nennen: 9,2: Nach sechs Tagen; 11,11: Zu später Stunde, 11,12: Am folgenden Tage, 11,19: Spät. Hinzu kommen durch Ortsangaben insinuierte Zeitbestimmungen: 10,46: Als er aus Jericho hinauszog; 11,1: Als er sich Jerusalem näherte; ferner auf die Konstruktion der Abfolge von Hinrichtung und Grabesgeschichte zu beziehende Angaben 8,31; 9,31; 10,34: nach drei Tagen. 3.2.2.1 Besonders bemerkenswert ist die auffällig konkrete Zeitangabe in 9,2: Nach sechs Tagen. Im Kontext kann sie sich nur auf die Szene von Cäsarea Philippi beziehen. Daß eine isolierte Einzelüberlieferung mit einer solchen Zeitbestimmung (xai IlELa-rH-lI~Qa(:; ES) eingesetzt hätte, wäre zumindest ungewöhnlich; eine solche Zeitbestim157
mung verweist in der Regel auf einen Kontext, auch wenn sie symbolisch interpretiert sein will 20. Die Bemerkungen K. L. Schmidts bleiben gültig: "Es ist auffällig, daß hier die einzige Stelle des Markus vorliegt (abgesehen von der Passionsgeschichte), die den zeitlichen Abstand zwischen zwei Erzählungen angibt. Da Markus sonst die einzelnen Ereignisse kaum mit ganz allgemein gehaltenen Zeitangaben einführt, so ist sicher, daß die ,sechs Tage' nicht auf ihn zurückgehen, sondern Traditionsgut darstellen." 21 Zu fragen bleibt, ob die Tradition im Makrokontext Passionsgeschichte beheimatet war! 3.2.3 Ab Kap. 14 ist die zeitliche Folge des Passionsgeschehens durch ein durchgehendes Gerüst von Zeitangaben fest etabliert; der Sachverhaltistunumstritten, wir können uns kurz fassen: 14,1.12.17.30.37.70; 15,1.25.33.34.42; 16,1.2. Vgl. auch 14,2.7. Die wachsende Dichte der Zeitangaben ist charakteristisch, durch die erzählten Inhalte bedingt (die letzten Stunden werden am ausführlichsten dargestellt!). 3.2.4 Orts- und Zeitangaben weisen zwingend darauf hin, daß 14, 1 - 16,8 dem Evangelisten als Erzählzusammenhang vorlag 22 • Ab Mk 8,27 dürften einzelne - vor allem nicht selbständige - Erzähleinheiten vom Weg J esu zum Leiden in J erusalem Anspruch auf Prüfung haben, zumal wenn Orts- und (weniger) Zeitangaben hier erste deutliche Indizien für einen älteren Erzählzusammenhang (der freilich vom Evangelisten durch weitere Stoffe aufgefüllt wäre) bieten. 3.2.5 Daß die Orts- und Zeitangaben als Indizien jeweils in Bezug zum erzählten Inhalt gewertet werden müssen, versteht sich; die wachsende Dichte der Angaben ab 14,1 erklärt sich aus der für jeden Erzähler notwendigen Konzentration auf den Ablauf der letzten Stunden des Lebens J esu. 3.3 Wichtige Indizien zur Bestimmung eines Erzählzusammenhangs sind auch Angaben über Personen und Namen. 3.3.1 Nur im Zusammenhang der Passion Jesu begegnen im Mk-Ev die Hohenpriester (aQXLEQEL~), meist zusammen mit den Ältesten und Schriftgelehrten; durch die Hohenpriester sind überlieferungen um 8,31; 10,33; 11,18.27; 14,1.43.53; 15,1.10.31 verbunden. Hinzu Vgl. zur symbolischen Interpretation die Vorschläge in den Kommentaren. K. L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung (Berlin 1919 = Darmstadt 1964) 222. 22 Zu den umstrittenen Perikopen Mk 14, 3-9 und 14, 66-72 vgl. R. Pesch, Salbung, und R. Pesch, Verleugnung. 20 21
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kommen die Texte die vom (amtierenden) Hohenpriester reden und sein Personal erwähnen: 14,53.54.60.61.63.65.66. Wichtig ist, daß die Verbindungen über 14,1 zurück bis 8,31 reichen und Perikopen binden, die auch schon bei der Musterung von Orts- und Zeitangaben aufgefallen sind. 3.3.2 Im Horizont der mit dem Weg J esu zum Leiden nach Jerusalem heuristisch angesetzten Passionsgeschichte begegnen auffällig viele Personennamen: Bartimäus (10,46); Simon der Aussätzige (14,3); Judas Iskarioth (14,10.43); Pilatus (15,1.2.5.9.12.15.44f.); Barrabas (15,7.11.15); Simon von Kyrene mit Alexander und Rufus (15,21); Maria Magadalena, Maria des kleinen Jakobus, des Joses Mutter, Salome (15,40.47; 16,1). 3.3.3 Erwähnung verdienen ferner: die bewaffnete Schar (14,43); der Jüngling (14,51); die Diener des Hohenpriesters (14,54.65); das Synedrion (14,55; 15,1); Magd, Umstehende (14,66.69.70); Aufrührer (15,7); Soldaten (15,16); 2 Räuber (15,27); der Centurio (15,39.44). 3.3.4 Innerhalb der Passionszusammenhänge tritt neben Judas auch Petrus unter den Zwölfen besonders hervor: 8,29.32.33; 9,2 (mit Jakobus, Johannes). 5; 14,29.33 (mit Jakobus, Johannes). 37; 14,54. 66-72; 16,7. 3.3.5 Weitere Nennungen sind beachtlich: Elias (9, 11-13; 15, 35-36); Jesus, der Nazarener (10,47; 14,67; 16,6); die Zwölf (9,35; 10,32; 11,11; 14,10.14.17.20.43; sonst nur 3,14; 4,10; 6,7). 3.3.6 Schließlich verdienen auch christologische Titel Erwähnung: Christus (nur 8,29; [9,41; 12,35; 13,21;] 14,61; 15,32); Menschensohn (außer 2,10.28 nur 8,31.38; 9,9.12.31; 10,33.45; 13,26; 14,21.41.62); Davidsohn (10,47.48; 12,35.37)23. 3.3.7 Auch im Blick auf Personen, Namen und Titel lehrt der Vergleich mit der ersten Hälfte des Evangeliums (und Einzelstoffen in der zweiten), daß Markus wohl einen (an konkrete überlieferung gebundenen) Erzählzusammenhang von der Passion Jesu vorgefunden hat. Im Verein mit den anderen Indizien geben die Angaben zu Personen und Namen, auch die Hoheitstitel, sichere Hinweise zur Bestimmung des Umfangs der Passionsgeschichte. 3.4 Bei der Bestimmung des Umfangs der vormarkinischen Passions23 Der Evangelist hat auch mit redaktionellen Einschüben von Traditionsstücken mit Titeln (die nicht zur Passionsgeschichte gehörten) die vorgegebene Titelkonzentration nicht aufgehoben, sondern verstärkt.
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geschichte ist weiterhin auf Indizien zu achten, die aus der (nicht nachträglich redaktionell hergestellten) Verkettung von erzählten Geschehensabfolgen zu erheben sind. 3.4.1 Drei Geschehensabfolgen sirid (analog zur Dichte von Orts-, Zeit- und Personenangaben) in unterschiedlicher Dichte verkettet: Von der Verhaftung J esu bis zu Tod und Auferstehungsverkündigung im geöffneten Grab (14, 43 -16,8); von der Planung der Vernichtung Jesu bis zur Verhaftung (14, 1 - 42); vom Zug Jesu zum Leiden nach Jerusalem bis zur Planung seines Todes (ab 8,27, unterbrochen durch eingeschobene überlieferungen, bis 14,1). 3.4.2 Wir beschränken uns auf die Mitteilung von Beobachtungen zum am ehesten umstrittenen Teil unseres Vorschlags, den Stücken aus 8, 27 - 14,1, die zur vormarkinischen Passionsgeschichte gehört haben können. 3.4.2.1 Daß die Passionsgeschichte mit einem unvermittelten Satz, in dem nicht einmal Jesus genannt wird, wie 14,1 oder 14,43 eingesetzt hätte, halte ich für ganz unwahrscheinlich. Ein Erzähler pflegt einen längeren Erzählzusammenhang sorgfältiger zu exponieren. Mögliche Erzählanfänge liegen in 10,32 und 8,27 vor. 3.4.2.2 Ab 10,32 ist eine klare, zur Passion hinleitende Verkettung von erzählten Geschehensabfolgen festzustellen: Zug zum Leiden in Jersusalem (10, 32-34), Ankunft in Jericho (10,46) und Begebenheit unterwegs nach Jericho (10, 46-52); Annäherung an Jersualem und Einzug in Jerusalem (11, 1-10), in den Tempel (Tempelreinigung, 11, 15-19), darüber beim nächsten Besuch im Tempel Auseinandersetzung mit den Gegnern (11, 27 - 12,12), die Jesus vernichten möchten (11,18; 12,12); Episode im Tempel (12, 41-44). 3.4.2.3 Die Geschehensfolge ab 8,27 leitet zu 10,32 hin: Zug Jesu und seiner Jünger in die Dörfer von Cäsarea Philippi; Messiasbekenntnis und Leidensankündigung (8, 27-33); nach sechs Tagen Verklärung (9, 2-13); heimlicher Zug durch Galiläa (mit wiederholter Leidensankündigung9, 30-35); Zug nach Judäa und Transjordanien, unterwegs nach Jerusalem (10,la.32). 3.4.2.4 Die Leidens- und Auferstehungsweissagungen, die nicht als mk-redaktionelle Bildungen ausgegeben werden können, strukturieren die Passionsgeschichte als Erzählung von der passio und der iustificatio (Auferstehung) des Gerechten, des Menschensohnes Jesus bis hin zu Mk 16, 1-8 (vgl. dazu unten IV,3). 160
3.4.3 Ab Mk 8, 27 ist eine deutliche Verkettung des erzählten Geschehens konstatierbar (und über das Erwähnte hinaus in vielen Details nachweisbar); der Erzählanfang ist deutlich in 8,27 gegeben, 10,32 ist kein so guter Erzählanfang (obwohl weitaus besser als vergleichsweise 14,1.43). 3.5 Auch stilistische Indizien können zur Bestimmung des Umfangs der vormarkinischen Passionsgeschichte dienlich sein. Wir können hier freilich nur vereinzelte Hinweise auf auffälligere Indizien geben: 3.5.1 Gebrauch der Anrede gußß( in 9,5; 10,51; 11,21; 14,45. 3.5.2 Häufigkeit von übersetzungen in 10,46; 12,42; 15,22.34.42. 3.5.3 Gebrauch von aQX0l-taL in 8,31.32; 10,32.47; 11,15; 12,1; 14,19.33.69.71; 15,8.18. 3.5.4 Gebrauch der Periphrase (Prät. von dVaL + Partizip) in 10,32; 14,4; 14,40. 3.5.5 Sequenz passionsbezogener Sätze mit Amen-Formel (12,43); 14,9.18.25.30 24 . 3.5.6 Schachtelungen (11,11-21; 14, 1-11; 14,54-72)25. 3.5.7 Ordnung der Perikopen in Dreiergruppen (s. unten). 3.5.8 Die >Weissagung< als die Erzählung ordnende und motivierende Stilfigur: 8,31; 9,12; 9,31; 10,33f; 11,2f; 14,13f; 14,18.20f. 27f.30.41 f. 3.6 Besonders aufschlußreich ist die deutlich erkennbare alttestamentliche Substruktur der Passionsgeschichte. Sie ist insbesondere durch Bezüge auf die Psalmen vom leidenden Gerechten hergestellt, die sich von den Leidensweissagungen ab durch die Passionsgeschichte ziehen. 3.6.1 Als Leitpsalmen der Passionsgeschichte lassen sich bei aufmerksamer Lektüre, die entsprechende Bezüge in mehreren Perikopen auffindet, folgende Psalmen (nach der LXX-Zählung) benennen: 21; 30; 37; 38; 40; 41; 68; 87; 108. 3.6.2 Hinzu kommen mit weniger Bezügen folgende Psalmen: 26; 34; 42; 85; 117. 3.6.3 Eine weniger wichtige Rolle spielen auch noch die folgenden Psalmen: 31; 35; 36; 39; 53; 55; 70; 74; 81; 96. 3.6.4 Die Verzahnung von Perikopen durch alttestamentliche Vgl. dazu R. Peseh, Salbung. F. Neirynck, Duality, 133 nennt noch 15, 6-32; ich verstehe freilich nicht, wie man diesen Abschnitt als Schachtelung (sandwich arrangement) ansprechen kann.
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Anspielungen müßte anhand der entsprechenden Themen und Stichworte genau dargestellt werden. Hier ist nur ein genereller Hinweis möglich 26 . 4. Ein aufgrund der Indizien und einer Prüfung des Materials anhand der erörterten Kriterien verantwortbarer Vorschlag zur Rekonstruktion der vormarkinischen (und zugleich wohl ältest-erreichbaren) Passionsgeschichte sei zur Diskussion gestellt. 4.1 Wir stellen das Material gegliedert vor (4.2) und verweisen anschließend noch einmal auf Indizien und erfüllte Kriterien in den aufgeführten Texten. 4.2 Die vormarkinische Passionsgeschichte dürfte im ganzen so ausgesehen haben 27: A: Mk 8,27-33: Zug nach Cäsarea Philippi; Leidens- und Auferstehungsweissagung. 9,2-9: Verklärung. 9,10-13: [+ 14-15R?]: Gespräch über das Leiden des Menschensohnes. 9,30-32: B: Zug durch Galiläa; Leidens- und Auferstehungsweissagung. 9,33-35: In Kafarnaum; der Größte als Diener aller. 10,1a.32-34: Zug nach Judäa, Peräa, hinauf nach Jerusalem: Leidens- und Auferstehungsweissagung. 10,46-52: C: Nach Jericho; der blinde Bartimäus. 11,1-6: In der Nähe von Jerusalem: Vorbereitung des Einzugs. 11,7-11: Einzug in J erusalem; zurück nach Betanien. 11,12-14: D: Nächster Tag: Verfluchung des Feigenbaums. 11,15-19: Tempelreinigung. 11,20-21 : Nächster Tag: der verfluchte Feigenbaum. 11,27-33: E: Wieder in Jerusalem: Vollmachtsfrage. 12,1-12: Winzergleichnis . 12,41-44: Die arme Witwe.
J. Gnilka, Die Verhandlungen vor dem Synhedrion, 5-21, hat die Auswertung von alttestamentlichen Anspielungen angeregt, aber selbst beschränkt und irreleitend vorgenommen. 27 Kleinere redaktionelle Zutaten bleiben hier not( -raum)gedrungen außer acht. Sigel R. weist auf die Notwendigkeit von Rekonstruktion durch Abzug redaktioneller Verbindungen hin.
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F:
Zwei Tage vor dem Fest: Todesbeschluß. Salbung in Betanien. Judasverrat. G: Vorbereitung des Passamahls. Ansage des Verrats beim Mahl. Herrenmahl. H: Gang zum Olberg: Ansage der Jüngerflucht und der Verleugnung des Petrus. Im Garten Getsemani. 14,32-42: 14,43-52: Verhaftung und Flucht der Jünger. 14,53-54: I: Abführung zum Hohenpriester; Nachfolge des Petrus. 14,55-65: Verhör vor dem Synedrion. 14,66-72: Verleugnung des Petrus. Verhör vor Pilatus. 15,1-5: K: Jesus und Barrabas. 15,6-15: 15, 16-20a: Verspottung und Geißelung Jesu. L: 15,20b-24: Zur Kreuzigung abgeführt. 15,25-32: Verspottung des Gekreuzigten. 15,33-39: Tod Jesu. 15,40-41 : Die galiläischen Nachfolgerinnen. M: 15,42-47: Grablegung. 16,1-8: Auferstehungsverkündigung im geöffneten Grab. 4.3 Der Erzählzusammenhang gliedert sich in zwölf Dreiergruppen, deren Perikopen zum überwiegenden Teil nicht selbständige Erzähleinheiten sind, die durch Orts- und Zeitangaben eingeleitet und in einer Geschehensabfolge deutlich miteinander verkettet sind, die durch ein Gerüst alttestamentlicher Anspielungen zusammengebunden werden, durch die Struktur von Weissagung und Erzählung der Erfüllung, schließlich durch das einheitliche Thema von Leiden und Auferstehung des Menschensohnes Jesus. 4.4 Die gegliederte Erzählabfolge wird zunächst anhand der Perikopenanfänge deutlich: 8,27: Und hinaus ging Jesus und seine Jünger in die Dörfer von Cäsarea Philippi. 9,2: Und nach sechs Tagen nimmt Jesus den Petrus und den Jakobus und Johannes mit sich ... 14,1-2: 14,3-9: 14,10-11: 14,12-16: 14,17-21: 14,22-25: 14,26-31 :
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9,9: 9,30: 9,33: 10,la.32:
10,46: 11,1: 11,12: 11,15: 11,20: 11,27: 12,1: 12,41: 14,1: 14,3: 14,10: 14,12: 14,17: 14,22: 14,26: 14,32: 14,43: 14,53: 14,55: 14,66: 15,1: 15,6: 15,16: 15,20b: 15,25: 15,33: 15,40: 164
Und als sie vom Berge herabstiegen ... Und von dort hinausgehend zogen sie durch Galiläa. Und sie kamen nach Kafarnaum. Und von dort aufgestanden kommt er in die Gebiete Judäas und jenseits des Jordan; sie waren aber unterwegs hinaufziehend nach Jerusalem. Und sie kommen nach Jericho. Und als sie sich nähern nach Jerusalem, nach Betfage und Betanien beim Olberg ... Und am folgenden Tag, als sie hinausgingen von Betanien. Und sie kommen nach Jerusalem. Und vorbeiziehend frühmorgens. Und sie kommen wiederum nach Jerusalem. Und er begann zu ihnen in Gleichnissen zu reden. Und er setzte sich gegenüber dem Opferstock. Es war aber das Pascha und die ungesäuerten Brote nach zwei Tagen. Und als er in Betanien war, im Hause Simons des Aussätzigen ... Und Judas Iskariot, einer der Zwölf, ging weg zu den Hohenpriestern ... Und am ersten Tag der ungesäuerten Brote ... Und als es Abend geworden ... Und als sie aßen ... Und nach dem Hymnus gingen sie hinaus zum Olberg. Und sie kommen zu einem Landgut namens Getsemani. Und gleich, während er noch redete, erscheint Judas ... Und sie führten Jesus ab zum Hohenpriester. Die Hohenpriester aber und das ganze Synedrion suchten ... Und während Petrus unten im Hof war. Und gleich frühmorgens faßten die Hohenpriester einen Beschluß·· . Nach der Festsitte ... Die Soldaten aber führten ihn hinein in den Hof. Und sie führen ihn hinaus, damit sie ihn kreuzigten. Es war aber die dritte Stunde. Und als die sechste Stunde geworden ... Es waren aber auch Frauen von weitem schauend ...
15,42: Und als es schon Abend geworden ... 16,1: Und als der Sabbat vorübergegangen war. 4.5 Moventien des Geschehens sind zunächst die Leidensweissagungen (8,31; 9,31; 10,33f), dann die Notizen über die Bemühungen der Gegner Jesu, ihn zu vernichten (11, 18; 12,12; 14,1 f), dann wieder die Weissagungen Jesu (14, 18.20f.27f.30.41f). 4.6 In den Dreiergruppen D und E sind u. U. andere Beurteilungen möglich (durch Ausscheiden von 11, 12-14.20f und evtl. Hereinnahme von 13, 1 f). Unser Vorschlag kann - zumal wir ihn nicht im Detail wie im von dort her erhellbaren Gesamtzusammenhang erörtern können nicht als gleichmäßig gut gesichert gelten. Worauf es ankommt, ist dies: Zweifellos haben wir mit einer Langform der vormarkinischen Passionsgeschichte zu rechnen; die über 14,1 zurück bis 10,32 und 8,27 reicht. Diese Bestimmung des Umfangs der Passionsgeschichte hat Konsequenzen für die Beurteilung des Materials bei der Frage nach dem historischen Jesus.
II. Kriterien und Indizien zur Bestimmung des Alters der Passionsgeschichte Die Bestimmung des Alters der Passionsgeschichte ist insofern von der Bestimmung des Umfangs abhängig, als Kriterien am Material des jeweils bestimmten Umfangs erörtert werden müssen. Wir fassen uns in diesem Abschnitt besonders kurz, weil die wichtigsten Indizien nicht innerhalb des Mk-Ev selbst zu suchen sind und schon deshalb hier nur andeutungsweise behandelt werden können. 1. Die Kriterien, die zur Bestimmung des Alters der Passionsgeschichte dienen können, sind folgende: 1.1 Traditionsgeschichtliche Kriterien 1.1.1 Das Vorkommen christologischer Titel, ihrer Verbindung; die Entwicklung ihres Verhältnisses zueinander (hier besonders: Messias, Menschensohn, Sohn Davids, Sohn Gottes). 1.1.2 Das Vorkommen von Theologumena und Christologumena (bes. die Deutung des Todes Jesu betreffend) und deren Entwicklung. 1.1.3 Die erheb bare Konzeption der Passionsgeschichte (vgl. dazu unten IV). 1.1.4 Vergleiche mit Traditionen außerhalb der Passionsgeschichte 165
und deren Entwicklung sind hier angebracht; eine Beachtung der Chronologie des Urchristentums ist unumgänglich 28. 1.2 Inhaltlich-sachliche Kriterien 1.2.1 Vgl. 1.1.2 unter der Leitfrage: Welche Vorstellungen (etwa über den Tod Jesu) sind ausgebildet bzw. (noch) nicht benutzt? 1.2.2 Welche Vorstellungen über Jünger- und Zwölferkreis sind in der Passionsgeschichte gespiegelt? 1.2.3 Wie ist die Rolle Israels gesehen usw. 1.2.4 Wie ist die Autorität des Petrus gefestigt (im Blick auf seine Belastbarkeit durch Texte wie Mk 8, 31-33 und 14, 66-72)? 1.3 Sprachliche Kriterien 1.3.1 Sprachliche Kriterien haben nur höchst relativen Wert. Zu beachten sind: 1.3.1.1 Semitismen 29, 1.3.1.2 Ubersetzungsgriechisch, 1.3.1.3 Originär griechische Formulierungen. 1.4 Untaugliche Kriterien sollen auch hier eigens genannt werden: 1.4.1 üb die Passionsgeschichte ursprünglich griechisch oder aramäisch abgefaßt war, kann nicht zur Altersbestimmung dienen. 1.4.2 Ursprüngliche Kürze oder Länge der Erzählung sagt auch nichts über ihr Alter aus. 2. Die wichtigsten Indizien zur Bestimmung des Alters der Passionsgeschichte sind aus 1 Kor zu erheben. 2.1 1 Kor 11,23 könnte mit der Formulierung ev'tn vux'tl, TI :7ta(leöCöoLO darauf hinweisen, daß Paulus die Abendmahlstradition im Zusammenhang der Passionsüberlieferung kennengelernt hat. Die Stichworte ,Nacht' (vgl. Mk 14,30) und ,ausliefern' (häufig in der Passionsgeschichte) sind starke Indizien. 2.2 Die Abfolge "gestorben - begraben - auferweckt - erschienen" in 1 Kor 15, 3-5 entspricht der Abfolge in Mk 15-16. 2.3 Daß die Q-Uberlieferung keine Passionsgeschichte umfaßt, ist kein Indiz, da in dieser Tradition die Lehre des Menschensohns gesammelt ist. 28 Vgl. zum Problem: M. Bengel, Christologie und neutestamentliche Chronologie. Zu einer Aporie in der Geschichte des Urchristentums, in: Neues Testament und Geschichte. Festschrift O. Cullmann (Tübingen 1972) 43-67. 29 Vgl. die Zusammenstellung bei V. Taylor, The Gospel according to St. Mark (New York 21966) 655-658 (wo freilich nur das Material ab 14,1 berücksichtigt ist).
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Auch die Bestimmung der Herkunft der Passionsgeschichte (s. unten III) kann als Indiz für ihr Alter gewertet werden. Wenn sie aus der J erusalemer U rgemeinde stamm t, wird man ein hohes Alter annehmen dürfen. 3. Ein aufgrund der Indizien verantwortbarer Vorschlag zur Bestimmung des Alters der Passionsgeschichte sei zur Diskussion gestellt. 3.1 Die Passionsgeschichte ist älter als 1 Kor (ca. 55 n. ehr.); da Paulus die überlieferungen, die er hier anführt, sicher vor Beginn seiner Missionsreisen übernommen hat, kann die Passionsgeschichte wenigstens in die vierziger Jahre zurückdatiert werden. Vielleicht - wenn Paulus die Passionsüberlieferungen in Antiochien kennenlernte, wo man sie aus J erusalem mitgebracht hätte - darf man noch höheres Alter erschließen. 2.4
III. Kriterien und Indizien zur Bestimmung der Herkunft der Passionsgeschichte Auch die Bestimmung der Herkunft der Passionsgeschichte hängt von der Bestimmung des Umfangs ab; auch diesen Abschnitt fassen wir kurz, obwohl er für die Frage der Ergiebigkeit der Passionsgeschichte für die Frage nach dem historischen Jesus wichtig ist. 1. Die Kriterien, die zur Bestimmung der Herkunft der Passionsgeschichte dienen können, sind folgende: 1.1 Theologiegeschichtliche Kriterien (judenchristlichlheidenchristliche, judenchristlich-palästinische / judenchristlich-hellenistische Theologumena). 1.2 Sprachliche Kriterien (aus aramäisch sprechender Gemeinde/aus griechisch sprechender Gemeinde). 1.3 Untaugliche Kriterien sind: 1.3.1 Zu direkte Auswertung von Orts angaben (etwa: Gali1äa). 1.3.2 Zu scharfe Scheidung zu 1.1 und 1.2. 2. Indizien zur Bestimmung der Herkunft der Passionsgeschichte sind Orts- und Personenangaben. 2.1 Die Vertrautheit mit der Topographie von J erusalem und U mgebung (Jericho, Betanien, Betfage, Olberg, Getsemani, Golgota) läßt auf Jerusalem als Herkunftsort der Passionsgeschichte schließen. 2.2 Die Erwähnung der ,Galiläer' in 9,30; 14,28.70; 15,41 und 16,7 167
läßt an die Gemeinde der Gali1äer (vgl. Apg 1,11; 2,7), die Urgemeinde in Jerusalem denken. 2.3 Die Personenangaben (wie Simon der Aussätzige in 14,3; Simon v. Kyrene mit Alexander und Rufus in 15,21; die gali1äischen Frauen in 15,40 u. ö.; Josef von Arimatäa in 15,43) passen am ehesten zur Hypothese der Herkunft der Passionsgeschichte aus der Jerusalemer Urgemeinde. 3. Wir schlagen deshalb folgende Hypothese zur Diskussion vor: Die Passionsgeschichte, die den Weg des Menschensohnes zum Leiden in Jerusalem erzählte und mit der Auferstehungsverkündigung im geöffneten Grab schloß, ist eine alte überlieferung und stammt aus der Gemeinde der Gali1äer in Jerusalem, aus der Urgemeinde. Da die U rgemeinde sehr bald zweisprachig war (durch die Hellenisten um Stefanus), dürfte die Frage, in welcher Sprache die Passionsgeschichte zunächst überliefert wurde, kaum alternativ zu entscheiden sein.
IV. Beiträge zur Charakterisierung der Passionsgeschichte Eine vorläufige Chrakterisierung der Passionsgeschichte kann wenigstens in aller Kürze auf zu bearbeitende Themata aufmerksam machen. 1. Literarische Eigenart, Aufbau in gebündelten Perikopen (zu je drei), Strukturierung durch Weissagungen, dreifache Wiederholungen usw. sind schon erwähnt worden (s. oben 2.3.3). Eine sorgfältige Beschreibung ist nur aufgrund einläßlicher Einzelstudien möglich. 2. Die Rolle der alttestamentlichen Substruktur ist auch kurz erwähnt worden. Auch hier wäre eine ausgebreitete Darstellung der Anspielungen und Bezüge 30 , eine Untersuchung ihrer strukturierenden und interpretierenden Funktion notwendig. "Die große Zahl derartiger Anspielungen auf die alttestamentlichen Leidenspsalmen zeigt deutlich, daß die Passionsgeschichte J esu streckenweise völlig aus dem Alten Testament erzählt ist. Die Christen, die diesen Bericht gestalteten, haben offenbar im Leidensweg ihres Herrn das Geschick des para30 In mannigfacher Hinsicht unzureichend bleibt die Untersuchung von A. Suhl, Die Funktion der alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Markusevangelium (Gütersloh 1965); auch E. Flessmann - von Leer, Die Interpretation der Passionsgeschichtevom Alten Testament aus, in: Zur Bedeutung des Todes Jesu (Gütersloh 31968) 79-96.
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digmatischen Gerechten aus den Psalmen erkannt. Allein so haben sie verstehen können, was Jesus an Schrecklichem widerfahren war. In diesem Verstehen ist aber auch ein Urteil über ihn selbst enthalten: J esus ist der Gerechte Gottes ... Es gehört nun aber zum Charakter jener alttestamentlichen Leidenspsalmen, daß der ausweglosen Not der Klage des Gerechten der Lobpreis des Erretteten folgt ... " Von daher wird klar, "daß die Ostergeschichte Mark. 16, 1-8 im Erzählzusammenhang der Passionsgeschichte eben diese Funktion hat: Sie markiert die Antwort Gottes auf das frevelhafte Tun der Menschen an seinem Repräsentanten und zugleich die Frage nach Gott angesichts seines Leidens. Wo die Leidenspsalmen von der schließlichen Errettung des leidenden Gerechten durch Gottes Hilfe reden, da verkündigt am Ende der Leidensgeschichte Jesu, des Gerechten, der himmlische Bote Gottes seine Auferstehung als seine Errettung durch Gottes Machttat."31 Von daher wird auch klar, daß die Leidens- und Auferstehungsweissagungen zu Beginn der Passionsgeschichte ihren originären, den ganzen Bericht vorweg interpretierenden Ort haben. 3. Die Passionsgeschichte erzählt die passio et iustificatio iusti (Christi, filii hominum). Es ist das Verdienst von L. Ruppert, hierauf nach U. Wilckens mit Nachdruck aufmerksam gemacht zu haben 32 . Sein Ansatz bedarf weiterer Entwicklung aufgrund unserer Bestimmung des Umfangs der vormarkinischen Passionsgeschichte und einer intensiveren Kontrolle ihrer alttestamentlichen Substruktur. Im Rahmen der Frage nach dem historischen Jesus wäre besonders wichtig zu erfragen, ob die Zeichnung des Geschicks Jesu als des leidenden Gerechten durch Jesus selbst schon inauguriert war. 1. Ruppert hält dafür: "Die besondere theologische Leistung des historischen J esus hätte somit darin bestanden, daß er sich als leidenden Gerechten und leidenden Propheten begriff, wobei er seine in oder nach dem Tode erwartete Verherrlichung als Erhöhung und zwar in der Weise der Einsetzung zum eschatologischen Menschensohn verstanden haben kann. Einer schöpferischen religiösen Persönlichkeit wie Jesus ist eine solche Harmonisierung verschiedener (prophetischer und apokalyptischer) Traditionen durchaus zuzutrauen."33 Die Leidens- und AuferstehungsU. Wilckens, Auferstehung, 60-63. L. Ruppert, Jesus als der leidende Gerechte? Der Weg Jesu im Lichte eines alt- und zwischentestamentlichen Motivs (SBS 59) (Stuttgart 1972). 33 A. a. O. 75. 31 32
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weissagungen, die das Geschick des eschatologischen Propheten Jesus als Geschick des Menschensohnes auslegen, bedürfen neuer überprüfung; sie sind jedenfalls der Deutung des Weges J esu in der Passionsgeschichte zuzurechnen. 4. Sitz im Leben und Uberlieferungsintention der Passionsgeschichte sind nicht leicht bestimmbar. Vielleicht darf man aber überlegen, ob die Gemeinde, welche die passio et iustificatio iusti Jesu Christi erzählte, zugleich ihre Gründungslegende überlieferte, d. h. ihre Existenz durch Leiden und Erhöhung J esu rechtfertigte. Die Passionsgeschichte hätte dann gewiß ätiologischen Sinn (wie sie eine Reihe ätiologischer Einzelzüge aufweist), aber auch kultische Funktion. Erst eine genauere Ausarbeitung des theologischen, christologischen und insbesondere ekklesiologischen Horizonts der Passionsgeschichte kann in dieser Frage zu genauerer Charakterisierung führen.
V. Die Passionsgeschichte und die Frage nach dem historischen Jesus Daß die Passionsgeschichte für die Frage nach dem historischen Jesus eine bedeutendere Rolle spielen muß, als sie gemeinhin tut, dürfte aus den vorstehenden fragmentarischen Beiträgen schon andeutungsweise hervorgehen. Zum Abschluß sei das angezeigte Problem noch in gebotener Kürze thematisiert. 1. Prüfung der These, "daß die historische Ausbeute einer gewissenhaften Analyse der Leidensgeschichten im einzelnen nicht sehr ergiebig ist" 34 1.1 Läßt sich die These halten? Wenn der Umfang der Passionsüberlieferung neu zu bestimmen ist, wenn Alter und Herkunft auf frühe Jerusalemer Zeit der Tradition deuten, ist die Frage der historischen Ausbeute neu aufzuwerfen. Die historische Kritik kann nicht als Einzelkritik von (fälschlich für solche gehaltenen) Einzelüberlieferungen betrieben werden, sondern muß den Gesamtzusammenhang der Passionsgeschichte im Auge behalten. 34
So G. Schneider, Passion, 10.
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1.2 Eine Kriteriologie der historischen Kritik der Passionsgeschichte muß noch erarbeitet werden. Sie hätte im einzelnen zu berücksichtigen: Ziel und Horizont der Erzählstücke (geht es um Information, 1.2.1 Paränese, Deutung etc?). 1.2.2 Die Unterscheidung von erzählerisch notwendigen und nicht notwendigen Zügen, die Bewertung von nicht notwendigen, nicht theologisch motivierten Einzeldaten 35 . Die Korrelation mit gesicherten Daten der übrigen Wirksam1.2.3 keit Jesu. Die Eigenart der Gattung und ihr Verhältnis zu Einzelteilen 1.2.4 der Erzählungen. Die zeitgeschichtlichen Einordnungsmöglichkeiten 36. 1.2.5 Den religions- und traditionsgeschichtlichen Prozeß. 1.2.6 U. U. Vergleich mit mt, lk und joh Sondertradition. 1.2.7 1.3 Als mögliche historische Einzeldaten der Passionsgeschichte sollten m. E. ernsthaft nach Tatsächlichkeit und Bedeutung diskutiert werden: Das Messiasbekenntnis bei Cäsarea Philippi. 1.3.1 1.3.2 Jesu Bestreben, verborgen zu bleiben. Der bewußte Zug Jesu nach Jerusalem. 1.3.3 Die Heilung des blinden Bartimäus bei Jericho. 1.3.4 1.3.5 Der Einzug Jesu in Jerusalem. Das Itinerar des Weges Jesu nach Jerusalem. 1.3.6 1.3.7 Die Tempelreinigung. 1.3.8 Betanien als Ausweichquartier Jesu. 1.3.9 Die Vernichtungspläne der Gegner J esu. 1.3.10 Der Judasverrat. 1.3.11 Das Abschiedsmahl Jesu. 1.3.12 Die Verhaftung in Getsemani. 1.3.13 Das Verhör vor dem Hohen Rat. 1.3.14 Die Verleugnung des Petrus. 1.3.15 Die Verurteilung Jesu durch Pilatus. 1.3.16 Die Bevorzugung des Barrabas vor Jesus. 1.3.17 Der Titulus crucis. 35 36
VgJ. als Beispiele R. Pesch, Verleugnung; Schluß; Messiasbekenntnis. Hierzu von bleibendem Wert J. BLinzLer, Prozeß.
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1.3.18 Der Kreuzestod Jesu. 1.3.19 Das Begräbnis Jesu durch Josef von Arimatäa. 1.4 Kleinere Einzelheiten (wie etwa die Angaben über den Kreuzträger Simon u. a.) bedürften ebenfalls neuer überprüfung wie größere Zusammenhänge (z. B. Tempelreinigung oder messianischer Einzug als Anlaß der Todespläne der Gegner). Für viele Daten bieten sich Korrelationen mit anderen Daten des Lebens Jesu an, so daß die Passionsgeschichte im Rahmen der Frage nach dem historischen Jesus größte Bedeutung besitzt.
2. Eine Prüfung von Möglichkeiten der Auswertung von Daten der Pass ions geschichte für das Verständnis des historischen J esus hätte im ganzen zu betreiben: 2.1 Eine historische Rekonstruktion der Passion Jesu, deren Möglichkeiten nicht zu sehr unterschätzt werden müssen. 2.2 Ein Rückschlußverfahren aus der Passionsgeschichte auf das Wirken und das Selbstverständnis J esu. 2.2.1 So könnte z. B. die überlieferung des Weges Jesu nach Jerusalern noch die Bedeutung spiegeln, die Jesus selbst dem Zug in die Hauptstadt zugemessen hat. Entsprechende Rückschlüsse auf das Selbstverständnis Jesu (in Korrelation mit anderen ergiebigen Daten) wären dann angezeigt. 2.3 Die Prüfung aller traditions geschichtlichen Daten im Blick auf ihre mögliche Herkunft aus dem Leben Jesu und ihrer Bedeutung für die Verständigung über das Programm (und letztlich die Person) Jesu. 3. Die theologische Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus 37 macht gerade auch eine Beschäftigung mit der Passionsüberlieferung dringlich. Ist J. Noltes These richtig: "Die historische Person Jesus von Nazareth, die >Tatsache Jesus<, ist das einzige inhaltliche Kriterium des Christlichen. Aus dieser kriteriologischen Relevanz der Historizität J esu für die Authentizität des Christlichen ergibt sich die beherrschende Stellung der historischen Kritik als Methode der Chri37 Vgl. dazu R. Pesch, "Christus dem Fleische nach kennen" (2 Kor 5, 16)? Zur theologischen Bedeutung der Frage nach dem historischen J esus, in: Kontinuität in Jesus (Freiburg i. Br. 1974) S. 9-34; ders., Zur Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu, in: ThQ 123 (1973) 201-228.
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stologie"38, dann ist auch die Passionsüberlieferung im Horizont der historischen Frage nach Jesus, nach seinem Todesverständnis und nach seinem Tod neu zu vernehmen. Wenn unsere Diskussionsvorschläge zu einer sachgerechteren Würdigung dieser überlieferung und damit zu einem konkreteren Verständnis J esu beitragen können, ist genug gewonnen, auch wenn eine Revision der Vorschläge sich als unumgänglich erweisen sollte. 38 ]. No/te, Die Sache Jesu und die Zukunft der Kirche. Gedanken zur Stellung von Christologie und Ekklesiologie, in: F. J. Schierse (Hrsg.), Jesus von Nazareth (Grünewald Materialbücher 3) (Mainz 1972) 214-233, hier 217f.
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V Die überlieferung der Wunder Jesu und die Frage nach dem historischen Jesus Von Karl Kertelge, Trier I. FRAGESTELLUNG
Welchen Beitrag kann die exegetische Untersuchung der W underüberlieferung der Evangelien in die Diskussion um die Frage nach dem historischen Jesus einbringen? Diese Fragestellung bedarf im Rahmen des Tagungsthemas und im Blick auf die grundlegenden Referate (s. 0.) keiner eigenen Begründung. Die Frage nach dem historischen Jesus stellt sich ja gerade angesichts der besonderen überlieferungssituation im Neuen Testament. Bieten uns die neutestamentlichen Schriften keinen unmittelbaren Zugang zur Lebensgeschichte des irdischen Jesus und bleibt andererseits die Glaubwürdigkeit der im Neuen Testament niedergelegten Jesusüberlieferung an eine überprüfbare überlieferungs-geschichte ihrer Inhalte gebunden, dann kommt angesichts der zahlreichen Wundererzählungen der Evangelien der Frage besondere Bedeutung zu, ob und wieweit diese für eine möglichst zuverlässige Rekonstruktion der ursprünglichen Geschichte Jesu in Anspruch genommen werden können. Damit bleibt unsere Fragestellung im Vorfeld einer anderen, fundamentaltheologisch relevanten, ob und wieweit die Wunder Jesu den Glauben an ihn begründen 1. Die Beantwortung dieser Frage hängt nicht schlechthin von der Historizität der im Neuen Testament überlieferten Wunder Jesu ab. Sosehr die Wunder Jesu auf den Glauben bezogen sind und ihr sachgemäßes Verständnis in bestimmter Weise auch das fundamentaltheologische Problem der Glaubensbegründung berührt, so wenig läuft die Frage nach dem historischen Aussagewert der neutestamentlichen Wunderüberlieferung schon von sich aus auf dieses Problem zu. Die Frage nach dem historischen Wert der Wun1 Vgl. hierzu K. KeTtelge, Begründen die Wunder Jesu den Glauben?, in: TrThZ 80 (1971) 129-140.
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derüberlieferung ist zunächst eine Frage der Geschichtswissenschaft und ihrer rekonstruierenden Methoden, deren Beantwortung freilich ganz bestimmte Konsequenzen für das theologische Sachverständnis der neutestamentlich bezeugten Wunder Jesu impliziert. Mit unserer Fragestellung suchen wir über die anregende, aber auch mit verfänglicher Akzentsetzung geführte Diskussion um die als "ipsissima facta J esu" 2 verstandenen Wunder J esu hinaus weiterzuführen. Diese Diskussion wurde in den letzten Jahren katholischerseits vor allem zwischen F. Mußner 3 und R. Pesch 4 geführt. Im Blick auf die neutestamentliche Abendmahlsüberlieferung glaubt auch H. Schürmann 5 , "daß wir in den beiden Abendmahlshandlungen ipsissima facta Jesu auf die Spur kommen können". Das besondere Anliegen der "historischen Frage" Mußners, aber auch ihre Problematik und ihre Grenzen werden von Pesch in einer überdeutlichen Nachzeichnung aufgedeckt und zum Anlaß einer Gegendarstellung genommen, in der er auf der Unüberspringbarkeit der form- und traditionsgeschichtlichen Methoden besteht. Eben diese methodische Gebundenheit zieht Mußner in seiner Entgegnung in Zweifel. "Die Frage ist nur, ob mit alleiniger Hilfe formgeschichtlicher überlegungen historische Fragen entschieden werden können. Dies bestreite ich (mit anderen Forschern) ganz entschieden." Wie wenig für ihn die Unterscheidung von Tradition und Redaktion bzw. von jüngerer und ursprünglicherer überlieferung in der historischen Frage von Bedeutung ist, läßt er im Blick auf die umstrittene Aussätzigenheilung erkennen: "Ob markinisch oder vormarkinisch, ist für unsere Fragestellung (ipsissima facta Jesu) gänzlich ohne Belang. Das Entscheidende ist vielmehr dies, ob Mk oder sein Gewährsmann überhaupt etwas erzählt, was im Leben Jesu vorgekommen ist, oder ob es sich nur um eine nachösterlich er2 Dieser Ausdruck ist dem geläufigeren, besonders von J. Jeremias nahegelegten Ausdruck "ipsissima verba Jesu" bzw. "ipsissima vox Jesu" nachgebildet. F. Mußner führte diesen Begriff ein, als er in seiner Untersuchung (nächste Anm.) die Frage behandelte: "Gibt es analog zur ipsissima vox Jesu so etwas wie ipsissima facta Jesu?" (33). Er verweist hierzu auf J. B. Bauer, der diesen Ausdruck in einem Vortrag verwandte. 3 F. Mußner, Die Wunder Jesu. Eine Hinführung (Schriften zur Katechetik 10) (München 1967). Auf die "Quaestio" R. Peschs antwortete ders., Ipsissima facta Jesu?, in: ThRev 68 (1972) Sp. 177-184. 4 R. Pesch, Jesu ureigene Taten? Ein Beitrag zur Wunderfrage (Quaest. disp. 52) (Freiburg i. Br. 1970). 5 H. Schürmann, Jesu Abendmahlshandlung als Zeichen für die Welt (Leipzig 1970) 74.
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fundene Illustration im Dienste einer bestimmten Christologie ... handelt. " Diese pointierte Feststellung vermag auf besondere Weise unsere Fragestellung zu beleuchten. Man wird Mußner gerne zustimmen, daß eine bestimmte Methode nicht "monoman" gehandhabt werden darf. Aber man wird es einem Exegeten heute nicht verdenken können, wenn er den Weg der historisch-kritischen Exegese nicht leicht aufgibt und durch eine andere Methode ersetzt bzw. in Frage stellen läßt. Vielmehr gilt es, die bewährten Methoden der historisch-kritischen Exegese, für die Evangelienauslegung also vor allem die form-, traditions- und redaktions geschichtlichen Gesichtspunkte, durch weitere geeignete zu ergänzen. Darunter haben auch bisher schon die Religionsgeschichte und die von Mußner besonders geforderte Berücksichtigung der "Umweltreferenzen" ihren Platz gehabt. Wie gelangen wir aber zur Gewißheit, daß das vom Evangelisten oder seinem Gewährsmann Erzählte "im Leben Jesu vorgekommen ist"? Mußner scheint mit seiner Argumentation eine grundsätzliche übereinstimmung zwischen Evangelienerzählung und dem faktisch Geschehenen im Auge zu haben. An dieser übereinstimmung wird man kaum zweifeln, wenn man sie nur grundsätzlich und allgemein genug nimmt. Aber die historische Frage ist doch die, wieweit die Erzählungen der Evangelien von den Wundern Jesu unmittelbar bestimmte konkrete Fakten decken und nicht nur einem typischen Verhalten Jesu in etwa entsprechen. Diesbezüglich bleiben wir darauf angewiesen, die in den Evangelienüberlieferungen enthaltenen Erinnerungen an das vergangene konkrete Leben Jesu zu erfragen. Dabei können uns die form - und traditions geschichtlichen Unterscheidungen unentbehrliche und nicht leicht ersetzbare Hilfen leisten. Eben diese im Rahmen der gegebenen überlieferungs situation nur sehr sporadisch vorkommenden konkreten Erinnerungen sind wesentliche Anhaltspunkte für die kritische Erstellung eines möglichst ursprünglichen Lebensbildes von Jesus. Daher behandeln wir die Frage nach dem historischen J esus nicht unter dem Gesichtspunkt der ipsissima facta Jesu, sondern unter dem der "Erinnerungen", die an den Einzelüberlieferungen der Evangelien haften.
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11. METHODISCHE ü'BERLEGUNGEN
Fragen wir nach den Wundern J esu nicht nur im Hinblick auf die Aufgabe der sinnerschließenden Auslegung der uns vorliegenden Evangelientexte, sondern in sachinteressierter Rückfrage nach dem historischen Jesus, so haben wir vor allem den exegetisch-traditionsgeschichtlich gebotenen Weg der Analyse und Rekonstruktion zu gehen. Die exegetische Arbeit hat sich dabei auch mit der fundamentaltheologischen Fragestellung bezüglich des sachgemäßen Verständnisses von Wundern auseinanderzusetzen. Es muß geklärt werden, welchen Verstehenshorizont die neutestamentliche Rede von den Wundern Jesu voraussetzt, bevor aus den verfügbaren Wundertexten die gefragten Wundertaten erhoben werden. 1. Zur Hermeneutik des Wunderbegriffs
Zunächst ist zu fragen, woher der Wunderbegriff bestimmt wird, wenn wir heute theologisch von den Wundern Jesu sprechen. Soweit in der theologischen Diskussion die Denkkategorien und Einsichten der Formgeschichte rezipiert sind, ist die Rede von den Wundern Jesu weitgehend von der formgeschichtlichen Gattung der "Wundererzählungen" bestimmt. Wundererzählungen haben wunderbare Phänomene zum Gegenstand, ohne daß nach deren Erklärbarkeit im einzelnen gefragt wird. Sie setzen das Wunderphänomen als außerordentliches Geschehen voraus. Dabei ist von Bedeutung, daß das erzählte Wundergeschehen einen Nimbus von geheimnisvoller, "übernatürlicher" Kraft um den Wundertäter entstehen läßt. In den Erzählungen der Evangelien sind hierfür etwa die erstaunte Frage "Wer ist dieser?" oder Furcht und Entsetzen als Reaktion der Leute charakteristisch. Zu beachten ist, daß die formgeschichtlichen Kategorien die deutliche Unterscheidung von Wundererzählung und Wundergeschehen erfordern, um ein sachgemäßes Sprechen von Wundern ~u gewährleisten. Daß bei der formgeschichtlichen Kategorisierung der Wundererzählungen nicht nur rein literarische, sondern auch naturwissenschaftliche und weltanschauliche Gesichtspunkte im Spiele sind, zeigt schon die Unterscheidung Bultmanns zwischen "Heilungswundern" und "Naturwundern"6. Gattungsgeschichtlich muß diese Unterscheidunß 6
R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen 71967) 223 230.
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als zweifelhaft angesehen werden, zumindest im Blick auf die literarische Form und die religionsgeschichtlichen Motive dieser Erzählungen. Ein Großteil der Schwierigkeiten, die uns die Wunderproblematik in der Rückfrage nach dem historischen Jesus heute bereitet, hängt allerdings nicht an der Formgeschichte und ihren methodischen und geistesgeschichtlichen Implikationen als solchen, sondern an der Wundererwartung, die der homo religiosus von Natur aus mitbringt. Die allgemein gegebene religiöse Wundererwartung des Menschen ist in bestimmten Zeiten und Kulturen besonders wirksam. Es kann nicht bestritten werden, daß diese allgemeine Wundererwartung auch die urchristliche Wunderüberlieferungund in anderer Weise noch einmal die spätere christliche Wundertheologie und ihre begrifflichen Festlegungen stark beeinflußt hat. Allerdings zeigt sich sowohl im Neuen Testament als auch in der späteren christlichen Theologie ein entsprechendes Maß an "Wunderkritik", so daß eine sachgemäße Erarbeitung der Wunderfrage die Gesichtspunkte der innerchristlichen Kritik an den Wundern nicht außer acht lassen darf. Für den neutestamentlichen Wunderbegriff bedeutet dies, daß er im Sinne der einzelnen neutestamentlichen Autoren von dem der zeitgenössischen Wundererwartung abgehoben werden muß. Schon die nicht ganz einheitliche Wunderterminologie im Neuen Testament ist ein Hinweis auf die innerneutestamentliche Wunderkritik. Während die Synoptiker vorwiegend von den Dynameis (öuvaJ.tEL~) sprechen, bezeichnet das Johannesevangelium die außergewöhnlichen Taten Jesu als Semeia (01'JJ.teLa). Mit diesem Begriff erhalten die Taten Jesu ihre sachgemäße Deutung 7, so daß sie für den vierten Evangelisten nur in dieser Deutung" vorhanden" sind. So erschöpfend kennzeichnet der Begriff öuvaJ.tEL~ die Taten Jesu bei den Synoptikern nicht 8. Mit diesem Begriff wird zwar das außerordentliche Geschehen gekennzeichnet, nämlich als eindrucksvoll und aus einer verborgenen Kraft des Wundertäters stammend, aber ihre eigentliche Bedeutung zeigen die ,zMachttaten" erst im gesamten Kontext der Sendungsgeschichte
.
7 Das Wort bewahrt vor allem die alttestamentliche Erinnerung an die Befreiungswunder des Exodus. Vgl. K. H. Rengstorf, Art. O'I]J.tELOV, in: ThWNT VII 248. B Die Begrenztheit des Begriffs ÖUVelJ.tELS kommt auch darin zum Vorschein, daß daneben andere Begriffe von den Synoptikern gebraucht werden wie :n:aQ
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Jesu, die die Evangelisten darstellen. Dieser Bezugsrahmen hat im Sinne der Evangelisten immer auch eine kritische Funktion gegenüber den v,on ihnen aufgenommenen EinzelüberIieferungen 9 . In diesem Rahmen und darüber hinaus stellen vor allem einzelne Worte Jesu die Wunderkritik der Evangelien in das rechte Licht. Zu nennen ist hier die Zurückweisung der Zeichenforderung durch Jesus, Mk 8,11-13 Par. Mt 12,38f; Lk 11,29 (vgl. Mt 16,1.2aA), sowie die das Vertrauen auf Wunder relativierenden Worte Jesu Mt 7,22 und Lk 10,20 (zurückbezogen auf 10,17). Auch die Versuchungserzählung Mt4, 1-11 Par. Lk 4,1-13 enthält eine Zurückweisung der Wundererwartung im Sinne der Zeichenforderung. Mit diesen Texten konvergieren Joh 4,48 (vgl. 20,29) und vor allem Paulus und seine Einstellung zu den apostolischen Legitimationswundern, etwa in 2 Kor 12, 11-13. Damit wird deutlich, daß die Wunder Jesu (und seiner Apostel) nicht schlechthin dem Erwartungshorizont einer wundergläubigen Zeit entsprechen, sondern von sich aus einen neuen Verstehenshorizont angeben, der wesentlich von der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Evangeliums Jesu bestimmt ist. Für die Frage nach dem historischen Jesus bedeutet dies: Soweit die urchristliche Verkündigung des Gottesreiches der Verkündigung Jesu treu geblieben ist, im gleichen Maße entsprechen auch die im N euen Testament dargestellten Wunder Jesu einem vorgegebenen historischen Sachverhalt des Lebens Jesu.
2. Traditions- und religionsgeschichtliche Gesichtspunkte Das für unsere Fragestellung zu erörternde Textmaterial des Neucn Testaments umfaßt zwei verschiedene literarische Gattungen: die Wundererzählungen und die auf seine Taten bezogenen Logien Jesu. Im Hinblick auf die schematische Gebundenheit der Wundererzählungen einerseits und die größere Konsistenz der Wortüberlieferung andererseits wird den Logien Jesu besonderer Wert für die Frage der Geschichtlichkeit der in ihnen vorausgesetzten Wunder zugeschrie9 Daher ist auch die Frage berechtigt, ob und wieweit die von R. Peseh, Taten, 135 148, vorgeschlagene Ersetzung des Terminus "Wunder Jesu" durch "Machttaten Jesu" wirklich hilfreich ist. Zur Kritik siehe M. Seckler, Plädoyer für Ehrlichkeit im Umgang mit Wundern, in: ThQ 151 (1971) 337-345; dazu wiederum R. Peseh, Zur theologischen Bedeutung der "Machttaten" Jesu, in: ThQ 152 (1972) 203-213.
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ben. Dabei bleibt freilich immer auch noch zu fragen, welcher Wirklichkeitscharakter den in den Logien vorausgesetzten Wundertaten zukommt und wieweit aus ihnen ein genuines "Wunder" -Verständnis zu erheben ist. Der Weg, den die Logien zu einer historischen Identifizierung der Wunder Jesu ermöglichen, erfordert eine gen aue Prüfung der Ursprünglichkeit der einschlägigen Textstellen. Denn es ist damit zurechnen, daß diese Texte eine interpretierende Erweiterung, Umgestaltung oder auch Nachbildung ursprünglicherer Logien darstellen. Welche Konsequenzen sich hieraus für die historische Beurteilung der Wunder Jesu ergeben, soll unten am Beispiel von Mt 11,2-6 Par. erörtert werden. Neben den Logien sollte die erzählende Uberlieferung von den Wundern Jesu für unsere Fragestellung nicht vernachlässigt werden. Die Wundererzählungen erfordern ein genaueres Eingehen auf die Frage der Form- und Motivparallelen im Alten Testament wie in der religionsgeschichtlichen Umwelt des Urchristentums 9 '. Die Untersuchung der Wundererzählungen unter form -, traditions-, religions- und motivgeschichtlichen Gesichtspunkten verstellt nicht den Weg zur historischen Identifizierung der in ihnen vorausgesetzten Taten, wohl aber erschwert sie diesen Weg in einer Weise, die der Sachintention der historischen Fragestellung nur förderlich sein kann. Die exegetische Arbeit unter den genannten Gesichtspunkten läßt zunächst erkennen, wie es zur Uberlieferungdieser Erzählungen im urchristlichen Raum gekommen ist. Diese Untersuchungen verhelfen zu einer sachgemäßen Interpretation der Evangelientexte. Sie vermögen zu zeigen, in welcher Deutung die vorausgesetzten geschichtlichen Taten Jesu im Urchristentum überliefert wurden. Deutung und gedeutetes Geschehen sind dabei so sehr eine Einheit geworden, daß sich beides nicht ohne weiteres voneinander abheben läßt. Daher erlaubt eine Interpretation der Texte unter den genannten Gesichtspunkten noch nicht ohne weiteres ein Urteil über den historischen Wert des in diesen Erzählungen überlieferten 9' Zur Tragweite des religionsgeschichtlichen Vergleichs für die historische Frage vgl. aus neuerer Zeit besonders G. Petzke, Historizität und Bedeutsamkeit von Wunderberichten. Möglichkeiten und Grenzen des religionsgeschichtlichen Vergleiches, in: N eues Testament und christliche Existenz. Fs. für H. Braun. hrsg. von H. D. Betz und L. Schottroff (Tübingen 1973) 367-385. Petzke kritisiert die "Vermengung der Fragen nach der Historizität und nach der Bedeutsamkeit von Wunderberichten" (370), die allzu leicht zur einseitigen Disqualifizierung der religionsgeschichtlichen Parallelen führe.
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Materials im Sinne der Frage nach dem historischen Jesus. Sie gestattet aber wohl ein Urteil über die überlieferungs-bedingungen dieses Materials. Die Einzeluntersuchungen zeigen, daß nicht erst die Redaktion der überlieferung durch die Evangelien, sondern schon ihre (mündliche und schriftliche) Weitergabe im frühesten Stadium des Urchristentums christologisch bestimmt war. Eine besondere Rolle spielte dabei die Interpretation der Gestalt und Geschichte Jesu im Lichte der jüdischen Erwartung des "eschatologischen Propheten" 10 und, sich teilweise damit überschneidend, die sogenannte TheiosAner-Christologie l l . Sie fanden Verwendung in der urchristlichen Missionsverkündigung und Katechese. Besonders die Katechese hat auf bestimmte Entsprechungen der Taten Jesu zu überlieferungen des Alten Testaments unter verheißungsgeschichtlichem Gesichtspunkt Wert gelegt. In dieser Situation entstanden schon vor den Evangelien regelrechte Sammlungen von Wunderberichten, in denen die Taten J esu eine der urchristlichen Verkündigung dienliche Deutung erlangten 12. Die christologisch-kerygmatische Deutung der Gestalt und Geschichte J esu in der urchristlichen überlieferung war nicht nur an sich selbst und damit an Interessen und Zielsetzungen der urchristlichen Verkündigung gebunden, sondern vor allem an Jesus und sein irdisches Wirken. Bekanntlich konzentrierte sich für E. Käsemann die Frage nach dem historischen Jesus auf diesen Punkt: "Rechnet das 10 Vgl. besonders F. Hahn, Christologische Hoheitstitel (Göttingen 1963) 351-404, und schon vorher R. M eyer, Der Prophet aus Galiläa. Studie zum J esusbild der drei ersten Evangelien (Leipzig 1940). Vgl. auch R. Meyer und G. Friedrich. Art. :TtQOCjl~"t1]~, in: ThWNT VI 781-863. 11 Vgl. besonders F. Hahn, Hoheitstitel, 292-302; H. D. Betz, Jesus as Divine Man, in: Jesus and the Historian. Written in Honor of E. C. Colwell, ed. by F. T. Trotter (Philadelphia 1968) 114-133; H. Köster - J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums (Tübingen 1971) 173-179,201-204. 12 Fürdas Johannesevangelium hat vor allem R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (MeyerK 2) (Göttingen 16 1959) eine ältere Sammlung von Wunderberichten in der Gestalt der "Semeia-Quelle" wahrscheinlich gemacht. Vgl. auch R. T. Fortna, The Gospel of Signs. A Reconstruction of the Narrative Source underlying the Fourth Gospel (SNTS Mon Ser 11) (London 1970) und W. Nicol, The Semeia in the Fourth Gospel. Tradition and Redaction (Supp! NovT 32) (Leiden 1972). Auch das Markusevangelium wird sich auf gesammelte Wunderer zählungen gestützt haben. Vgl. H.-W. Kuhn, Altere Sammlungen im Markusevangelium (Studien zur Umwelt des NT 8) (Göttingen 1971); ferner P.J. Achtemeier, Toward the Isolation of Pre-Markan Miracle Catenae, in: JBL 89 (1970) 265-291; den., The Origin and Function of the Pre-Marcan Miracle Catenae, in: JBL 91 (1972) 198-221.
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Kerygma des Neuen Testamentes den irdischen Jesus zu den Kriterien seiner selbst?" 13 Damit stellt sich die Frage: Wieweit läßt sich aus der Jesusüberlieferung der Evangelien selbst nachweisen, daß sie letztlich und eigentlich an Jesus und nicht nur an einem bestimmten Bild von ihm orientiert ist? Die hiermit gestellte Aufgabe läßt sich nicht pauschal für die ganze Jesusüberlieferung erledigen, sondern nur in detaillierter Untersuchung der Einzelüberlieferungen. Freilich muß man das Einzelmaterial immer auch aus seiner schwerpunktmäßigen Bindung an Leiden und Tod Jesu in den Evangelien (und auch schon vor ihnen in der überlieferung) beurteilen. Dennoch fordern auch die Einzelüberlieferungen von den Worten und Taten Jesu für sich zu einer historischen überprüfung heraus, die zumindest experimentell auch von der Bindung der überlieferung an den Leidensweg Jesu absehen läßt 14. Für die Wundererzählungen ist grundsätzlich vorauszusetzen, daß sie in sachlicher Treue zum irdischen Jesus gestaltet und überliefert worden sind. Aber eben diese sachliche Treue muß auf dem Wege der überlieferungsgeschichte auch im Urteil der historischen Kritik überprüfbar sein. Das heißt: Der Weg der überlieferung muß aufgrund der Texte und mit Hilfe ihrer Analyse einsehbar gemacht werden. Für jede Einzelüberlieferung ist zu prüfen, wieweit ihre Untersuchung einen Weg der Annäherung an die historische Gestalt Jesu eröffnet. Hierauf ist jedenfalls nicht zu verzichten, wenn die überlieferten Jesuserzählungen nicht in unangemessener Weise als "unhistorische Legenden" abqualifiziert werden sollen. Zumindest für die Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus Mk 1,29-31 besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß sie in ihrer anspruchslosen erzählerischen Gestalt als historische Erinnerung zu gelten hat, da sich diese Erinnerung in der urchristlichen überlieferung an den Namen des Petrus anlehnen konnte. Diese Erzählung hat daher in gewisser Hinsicht biographische Bedeutung. Auch wenn es nur einzelne Erzählungen sind 15, die einen solchen E. Käsemann, Sackgassen im Streit um den historischen J esus. in: Exegetische Versuche und Besinnungen II (Göttingen 1964) 53. 14 H. Köster, in: H. Köster - j. M. Robinson, Entwicklungslinien, 151, überschätzt die Bedeutung von Leiden und Tod J esu als Kriterium der überlieferung: "In dieser Weise ist die überlieferung der Worte und Taten Jesu einer irdischen, menschlichen und ,tatsächlichen' historischen Offenbarung untergeordnet." 15 Hierzu wird vor allem die Erzählung von der Heilung des blinden Bartimäus Mk 10,46-52 gezählt, und zwar unter Hinweis auf ihre Ortsgebundenheit und die Mitteilung 13
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Rückschluß auf Historisches aus dem Leben Jesu erlauben, kann damit jedenfalls einer undifferenzierten Beurteilung der J esusüberlieferung entgegengetreten werden.
III. ZWEI TEXTBEISPIELE
1. Die Antwort Jesu auf die Täuferanfrage in Mt 11, 2-6 Par. Lk 7, 18-23 Unter den Worten Jesu, die auf sein irdisches Wirken, insbesondere auf die wunderbaren Taten, bezogen sind, spielt die Antwort auf die Täuferanfrage "eine hervorragende Rolle in der Diskussion um den historischen Jesus" 16. An dem Gesprächsstück Mt 11, 2-6 Par. Lk 7, 18-23 interessierte immer wieder die Frage, ob und wieweit die in ihm geschilderte Begebenheit eine historische Situation im Leben Jesu widerspiegelt, vor allem aber, ob und wieweit das Wort Jesu auf einen ursprünglichen "Sitz im Leben" Jesu zurückzuführen ist oder ob es sich insgesamt um eine urchristliche Bildung handelt. Würde es sich um eine Szene aus dem Leben Jesu oder wenigstens um ein von Jesus selbst und in diesem Wortlaut gesprochenes Logion handeln, so hätten wir damit gleichsam eine "authentische" Interpretation seines Wirkens aus seinem eigenen Munde, und insofern in diesem Wort auch entsprechende Taten J esu vorausgesetzt werden, könnte man es für ein zuverlässiges Zeugnis für die Historizität bestimmter Wunder halten. Nur eine gründliche exegetische Behandlung und die sorgfältige Erörterung der dabei aufgegebenen literarischen und historischen Fragen gestatten uns ein Urteil bezüglich der historischen Ursprünglichdes Namens des Blinden. Vgl. R. Peseh, Taten, 27. Pesch verweist hierzu noch auf J. Roloff, der auch für die Blindenheilung Mk 8, 22-26 "die Frage nach echter geschichtlicher Erinnerung" für "nicht ganz gegenstandslos" und in Mk 9, 14-19 die "dargestellte Situation innerhalb des Erdenwirkens Jesu durchaus" für "vorstellbar" hält (ders., Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien [Göttingen 1970] 128 145). Roloff stützt sich dabei vor allem darauf, daß "das Heilswirken (Jesu) in Machttaten und Zeichen ... in einer eigentümlichen, in der nachösterlichen Situation ohne Analogie bleibenden Weise mit dem Zuspruch der JtLITtL\; und der Ermöglichungvon Umkehr zum Gott Israels verbunden war" (ebd. 270). Gewiß, darf man hierin ein "Charakteristikum" des Verhaltens J esu sehen, das sich freilich nicht auf die Heilungstaten beschränken läßt. 16 A. Vögtle, Wunder und Wort in urchristlicher Glaubenswerbung (Mt 11, 2-5/ Lk 7,18-23), in: ders., Das Evangelium und die Evangelien (Düsseldorf 1971) 219-242.
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keit. Daß dies auch und gerade bei diesem Text nicht leicht möglich ist, gibt H. Schürmann am Ende seiner umfassenden Kommentierung hierzu deutlich zu verstehen: "Der Blick hinter die ganz kerygmatisch interessierte und formulierte Perikope in die Geschichte hinein muß sich im Dunkeln zurechtfinden."17 Die historisch interessierte Frage muß angesichts der bestehenden Schwierigkeiten nicht in der Skepsis enden. Vielmehr ergibt sich die Aufgabe, aus dem vorhandenen Text Anhaltspunkte für die Richtung der (vor- und nachösterlichen) überlieferung zu gewinnen, die in dem von uns nicht leicht einsehbaren "Dunkel" der Geschichte eingehalten worden ist. a) Historisch-kritische Analyse Gegenüber einem unmittelbar an den Text herangetragenen Interesse des heutigen Fragestellers für die zugrunde liegende Situation im Leben Jesu ist zunächst der literarische Charakter dieses Textes zur Geltung zu bringen. Das Textstück Mt 11, 2-6 Par. Lk 7,18.23 wird in seinem wesentlichen Wortlaut, vor allem in der Frage des Täufers und in der Antwort Jesu, von den beiden Evangelisten übereinstimmend geboten und ist daher der beiden vorliegenden Logienquelle zuzuweisen. Es ist im Anschluß an R. Bultmann zur literarischen Gruppe der "Apophthegmata" zu rechnen 18. Ein Apophthegma schildert eine Szene, die im wesentlichen als Gesprächsszene hervortritt und in der eine bestimmte Fragesituation ihre Lösung durch das Wort einer maßgeblichen Autorität findet. So bildet im vorliegenden Gesprächsstück das Wort Jesu Mt 11, 4-6 Par. Lk 7, 22-23 die Pointe, die in bestimmter Weise auf die Ausgangsfrage des Täufers bezogen ist. Dieser Rückbezug verrät etwas von der eigentlichen Intention des ganzen Stückes. Schon im H. Schürmann, Das Lukasevangelium I (HThK III, 1) (Freiburg i. Br. 1969) 414. R. Bultmann, Geschichte, 22. Zur form- und traditions geschichtlichen Analyse vgl. ferner besonders]. Dupont, L'ambassade de Jean-Baptiste (Matthieu 12, 2-6; Luc 7,18-23), in: NRTh 83 (1961) 805-821. 943-959; F.Hahn, Hoheitstitel, 393f; P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium I (FRLANT 95) (Göttingen 1968) 218-225; H. Schürmann, Lukasevangelium 1,406-414; D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle (WMANT 33) (Neukirchen 1969) 25f; R. Pesch, Taten, 36-44; J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I (Gütersloh 1971) 106f; A. Vögtle, a.a.O.; P.Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (NTA N. F. 8) (Münster 1972) 191-193. 198-215; S. Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten (Zürich 1972) 190-203. 17 18
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Blick auf den geprägten Charakter der Antwort Jesu, die im Anschluß an Jes 61,1 (sowie 26,19; 29, 18f und 35,5f) formuliert ist und damit das Geschehen der Gegenwart als eschatologisches Erfüllungsgeschehen erscheinen läßt, wird die kerygmatische Intention deutlich, die die Oberlieferung dieses Gesprächsstücks bestimmte. Freilich schließt diese·r in der Form eines Apophthegmas zur Sprache gebrachte kerygmatische Gehalt die Historizität des Geschehens im Leben Jesu nicht aus; sie wird darin sogar in gewisser Weise vorausgesetzt. Aber eben nur vorausgesetzt, ohne daß die Historizitätsfrage als solche bei den urchristlichen Tradenten überhaupt in den Blick gekommen wäre! Daher verbietet es der Hinweis auf den literarischen Charakter dieses Gesprächsstücks, den Text ohne weiteres wie einen "historischen Bericht" zu lesen und zu interpretieren. Ist es uns also nicht möglich, die im Text vorausgesetzte und von ihm auch nicht weiter befragte Geschichtlichkeit des Geschehens unkritisch zu übernehmen, so ergeben sich andererseits in der heutigen exegetischen Diskussion eine Reihe kritischer Bedenken gegen die Geschichtlichkeit nicht nur des Rahmengeschehens, sondern auch des Logions Jesu in Mt 11,4-6 Par. Hatte R. Buhmann bei seiner historischen Kritik an der Täuferfrage und der dabei vorausgesetzten Situation immerhin noch an der Ursprünglichkeit des Wortes Jesu festgehalten 19, so stellen neuere Untersuchungen dagegen die Einheitlichkeit des ganzen Apophthegmas (einschließlich des Logions ) heraus und verweisen dabei die Formulierung des Logions J esu in die Verantwortlichkeit urchristlicher Verkündigung 20 . Die Argumente, die hierzu angeführt werden, konzentrieren sich auf folgende zwei Punkte: 1. Zur Rahmenerzählung: Die Frage des Täufers ist als Anfrage des historischen Täufers an den historischen Jesus in dieser Formulierung nicht vorstellbar, da der Täufer "das eschatologische Kommen J ahwes selbst erwartet und als nahe bevorstehend angekündigt" 21 habe. Daß 19 R. Bultmann, Geschichte, 22: Mt 11,5f Par. wurde isoliert überliefert und brachte im Munde Jesu "die selige Endzeit" zur Sprache, die er "jetzt anbrechen spürt". 20 Hier ist vor allem die erneute Analyse des Logions durch P. Stuhlmacher, Evangelium I, 218-225, zu nennen, der R. Pesch, Jesu ureigene Taten, 36-44, und A. Vögtle, Wunder und Wort, weitgehend folgen. Auch die neueren Analysen der Q-Stoffe von P. Hoffmann, Studien, 198-215, und S. Schulz, Q, 190-202, stimmen im grundsätzlichen damit überein. 21 A. Vögtle, a.a.O.223. Vgl. P. Hoffmann,a.a.O.199: "Für Q war mit dem Kommenden der vom Täufer angekündigte Feuerrichter gemeint."
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die Johannesjünger in die Frage des Täufers miteinbezogen werden (:n:QoOÖO'X.Wj..tEV), zeige an, daß es nicht so sehr um den Täufer gehe, sondern um seine Jünger, die für den Glauben an Jesu Messianität gewonnen werden sollten. Die Funktion des Täufers liege "auch hier auf der Linie der wachsenden urchristlichen Tendenz, den Täufer zum Christuszeugen zu machen" 22. 2. Zum Jesus-Logion. In der Beurteilung der Antwort Jesu in Mt 11, 4-6 gehen neuere exegetische Arbeiten von der Feststellung aus, daß V.5 mit Worten und Motiven aus (Deutero-)Jesaja den eschatologisch-prophetischen Anspruch Jesu zum Ausdruck bringt 23. Das gleiche Verständnis J esu findet sich auch in anderen Logien wie Lk 11,31f Par. Mt 12,41f und Lk 10,23f Par. Mt 13, 16f, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf den historischen Jesus selbst zurückzuführen sind. Daher erscheint es nach A. Vögtle 24 "durchaus als möglich", daß in Mt 11, 5 Jesus selbst spricht. In diesem Sinne nennt H. Schürmann 2s diesen Vers ein "Selbstzeugnis Jesu". Aber gegen die Möglichkeit einer unmittelbaren Rückführung dieses Spruches auf den historischen J esus wendet Vögtle selbst ein, daß es schwer verständlich sei, daß in ihm die Exorzismen keine Erwähnung finden, die unter allen Taten in der Jesusüberlieferung doch "am sichersten verankert" seien. Freilich ist dieses Argument nur dann durchschlagend, wenn die Aufzählung in V. 5 bestimmte konkrete Taten im Auge hätte, was von Bultmann bestritten wurde. Vögtle möchte dagegen mit R. Pesch die Aufzählung zwar nicht als Wunderkatalog verstehen, wohl aber "auf die Oberlieferung der Wort- und Tatverkündigung Jesu"26 zurückführen. Der abschließende Makarismus in V. 6 hänge engstens mit dem vorhergehenden Logion zusammen (verbunden durch das vor den sonstigen A. Vögtle, a.a.O. 231. Abweichend P. Hoffmann, a.a.O.: In der Q-überlieferung bestand "ein deutliches Interesse am Täufer und seiner Verkündigung. Jesus wurde in ihr mit dem vom Täufer Johannes verheißenen Richter identifiziert. In dieser Perikope komm t nun die Frage, ob diese Identifikation berechtigt ist, als Täuferfrage zur Sprache" (215). Die von Johannes gesandten Jünger seien in dem "Traditionsbereich" zu suchen, "in dem diese Komposition entstand. Es dürfte sich (bei Q) um eine Gruppe handeln, die zum mindesten in der Tradition des Johannes stand, möglicherweise setzte sie sich - wenigstens zum Teil- aus ehemaligen Johannesanhängern zusammen" (ebd.). 23 So schon F. Hahn, Hoheitstitel, 393f. 24 A. Vögtle, a. a. 0.233. "Die Möglichkeit, daß Mt 11,5 f par ein ursprüngliches Jesuswort ist und später apophthegmatisch gefaßt wurde, sollte man gewiß nicht apriori bestreiten" (237). 2S H. Schürmann, Lukasevangelium I, 413 407. 26 A. Vögtle, a.a.O. 234. Hervorhebung von uns. Vgl. R. Pesch, Taten, 43f. 22
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Makarismen nicht begegnende %u(), da er die sich aus ihm ergebende Konsequenz unüberhörbar mache 27. Genügt dies, um das Kernlogion V. 5 als einen "urchristlichen Prophetenspruch"28 bzw. als urchristliche Bildun~, in dem "prophetische Sprache verarbeitet" 29 ist, zu bestimmen? Die form- und traditionsgeschichtlich arbeitende Analyse erklärt das Apophthegma und das in ihm enthaltene Jesus-Logion zunächst von seinem vermutlichen "Sitz im Leben" der überliefernden urchristlichen Jüngergemeinde her. Dabei ist anzuerkennen, daß die aufzählende Aussage in V. 5 notwendig einen Rahmen erfordert, der die in ihm enthaltene Freudenbotschaft eindeutig an die Person Jesu und an bestimmte Adressaten bindet. Daß ein ursprünglicherer Rahmen aus dem Leben Jesu diesem Logion zugrunde gelegen hat, ist nicht auszuschließen, aber auch nicht zu erweisen 30. Aus dem vorliegenden Apophthegma wird aber die allgemeine, nur andeutende Formulierung des Logions durchaus verständlich. Es bringt eine christologische Qualifizierung Jesu im Rückblick auf sein irdisches Wirken zum Ausdruck, die durch die bleibende Möglichkeit des "Ärgernisses" (V. 6) wirkungsvoll unterstrichen wird. b) Die Tragweite des Logions für die historische Frage Die Aufzählung Mt 11,5 Par. stellt keinen "Wunderkatalog" dar; sie nennt in Aufnahme eschatologischer Erwartungen, die von Jes 61,1 inspiriert sind, entsprechende Geschehnisse, die die Gegenwart als Erfüllungszeit charakterisieren. Allerdings ist der intendierte Bezug der prophetischen Verheißung auf die Gegenwart nur dann schlüssig, wenn bei der Aufzählung der einzelnen "Erfüllungen" das irdische Wirken Jesu im Blick steht. Die eigentliche Absicht ist es, das irdische Wirken Jesu als eschatologisches Erfüllungsgeschehen darzustellen. Dabei ist vorausgesetzt, daß das irdische Wirken Jesu entsprechende Taten aufzuweisen hat, die die eschatologische Erfüllung anzeigen. 27 Für P. Hoffmann, Studien, 210, ergibt sich aus der Kombination von V. 6 mit der Endzeitschilderung in V. 5 ein Hinweis auf den Rahmen der Szene. Auf diese Weise wird deutlich, "auf welche Fragestellung der Doppelspruch eine Antwort geben will". 28 P. Stuhlmacher, Evangelium I, 223. 29 S. Schulz, Q 193. 30 Diesbezüglich setzt]. Jeremias, Theologie, 106f, zu viel voraus, wenn er diesen "eschatologischen Jubelruf Jesu" unmittelbar aus dem Rahmen der Basileia-Verkündigung J esu verständlich zu machen sucht.
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Gehen wir davon aus, daß das Logion in V. 5 im Oberblick über das irdische Wirken Jesu unter dem Gesichtspunkt der eschatologisch-prophetischen Signatur dieses Wirkens und damit auch, überlieferungsgeschichtlich geurteilt, im Rückblick gewonnen ist, dann meldet sich in diesem Wort nicht nur ein Wissen um die eschatologische Bedeutung der Gegenwart (der Zeit Jesu und seiner Boten), sondern auch ein bestimmtes Wissen um die Entsprechung zwischen dem irdischen Wirken Jesu und der prophetischen Verheißung. Eben dieses Wissen beruht auf Erinnerungen an das wunderbare Wirken Jesu, die sich auf andere Weise auch in den zahlreichen Wundererzählungen niedergeschlagen haben. Die Anreihung der Geschehnisse und ihr Bezug auf das konkrete Wirken Jesu erklärt sich also nicht einfach nur aus. der Oberlieferung von den Wundern Jesu 31 , sondern auch und vor allem aus einer in der nachösterlichen Jesusüberlieferung noch lange wirksamen lebendigen Erinnerung 32 • Damit gerät der Versuch, aufgrund des Logions Mt 11,5 die den aufgezählten eschatologischen Erfüllungswerken entsprechenden Taten Jesu in seinem irdischen Wirken zu ermitteln und näher als Wunder zu identifizieren, an eine deutliche Grenze, die der Historiker mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr leicht verschieben kann. Diese Feststellung kann nicht Ausdruck einer Resignation vor der gestellten Aufgabe sein. Vielmehr ist das bisherige Ergebnis mit anderen Texten der neutestamentlichen Jesusüberlieferung zu vergleichen. So legt sich überlieferungs geschichtlich ein Vergleich des LogionsMt 11,5fPar. mit dem Makarismus Lk 10,23fPar. Mt 13, 1M nahe. Da die Seligpreisung der Augen- und Ohrenzeugen die wesentlichen Ansatzpunkte für das Apophthegma Mt 11,2-6 Par. enthält und diese Seligpreisung "mit starken Gründen als genuines Jesuswort"33 gelten kann 34, wird man die Rückfrage nach Jesus für Mt 11,5 in entspre31 So R. Pesch (vgl. oben S. 186). Es kann bezweifelt werden, ob die Aussage "Totewerden erweckt" sich im überlieferungsstadium von Q auf eine bestimmte Totenerwekkungserzählung wie Mk 5,21-43 beziehen konnte oder nicht eher das gläubige Wissen (und die Verkündigung) von Jesus, dem "Erstgeborenen von den Toten" und überwinder des Todes, voraussetzt. 32 Die Tatsache, daß die Aussage "Aussätzige werden rein" nicht durch einen prophetischen Text aus dem Alten Testament gedeckt wird (höchstens in weiterem Sinn durch die Elisäustradition in 2 Kön 5, 1-27), läßt daran denken, daß ihre Einfügung an dieser Stelle auf einer "Reminiszenz an Jesu Tätigkeit" (P. Hoffmann, Studien, 208) beruht. 33 A. Vögtle, a.a.O. 240. Vgl. P. Hoffmann, Studien, 21ef. 34 Für die Rückführung dieses Logions auf einen ursprünglichen Sitz im Leben Jesu
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ehe nd differenzierter Weise positiv beantworten können. Das Wesentliehe dieser Aussage, nämlich der sich in ihr anmeldende eschatologisch-prophetische Anspruch Jesu, kann in bestimmter Weise bis in das irdische Wirken Jesu zurückverfolgt werden 35 .
2. Die Heilung des Besessenen Mk 1, 23-28
Für die Textanalyse ist auf Vorarbeiten zu verweisen 36. Der Evangelist übernimmt eine in sich einheitlich gefaßte Wundererzählung aus einem urchristlichen überlieferungsbereich, der insbesondere das charismatisch-prophetische Heilungswirken Jesu zum Gegenstand hatte. Die Kategorie des "Augenzeugenberichtes"37 ist hier jedenfalls nicht angebracht. Vielmehr gehören die "Zeugen", die in V. 27 genannt werden, zum Stil der Wundererzählung. Sie zeigen Verständnislosigkeit und zugleich theologisch richtige Einsicht in den gemeinten Sachverhalt. Ihre Funktion liegt daher sowohl im Gefälle der Gattung, eben als Staunende, als auch in der kerygmatischen Intention des Autors. Das im Stil hellenistischer Wundererzählungen dargestellte Geschehen ist von christologisch-kerygmatischen Intentionen bestimmt. Diese zeigen sich nicht nur in der direkten Anrede, in der der Besessene J esus als den "Heiligen Gottes" identifiziert (V. 24), sondern auch und vor allem in der erstaunten Frage nach dem Geschehenen: "Was ist das?" (V. 27). Diese Frage zielt in ihrer Formulierung schon auf die darf vor allem das Kriterium der" Unähnlichkeit" in Anspruch genommen werden. (Zur Bedeutung dieses Kriteriums vgl. besonders N. Perrin, Was lehrte Jesus wirklich? Rekonstruktion und Deutung [Göttingen 1972]32-37. Vgl. auch in diesem Band S. 33f. 97-99. 132-134.) Die Einmaligkeit des eschatologischen Selbstverständnisses zeichnet den Sprecher dieses Wortes aus. Sie wird verständlich im Zusammenhang mit der die Gegenwart betreffenden Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Zur Analyse vgl. H. W. Kuhn, Enderwartung und gegenwärtiges Heil (Studien zur Umwelt des NT 4) (Göttingen 1966) 193-195, der in der Seligpreisung mit Recht ein an dieser Stelle sekundär eingefügtes "Einzelwort" erkennt. 35 Vgl. P. Stuhlmacher, Evangelium I, 224f. Auch nach A. Vögtle, Wunder und Wort, 242, ergibt sich schließlich ein durchaus positiver Aspekt der historischen Rückfrage, wenn er feststellt, daß das Apophthegma Mt 11,2-6 "in wesentlichen Punkten auf einem Logion Jesu und überhaupt auf dessen Wort- und Tatverkündigung aufruhen dürfte". 36 Vgl. im einzelnen K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium (StANT 23) (München 1970) 50-60, und R. Pesch, "Eine neue Lehre aus Macht", in: Evangelienforschung, hrsg. von J. B. Bauer (Graz 1968) 241-276. 37 In die Nähe der "original eyewitnesses" möchte V. Taylor, The Gospel according to St. Mark (London 1963) 171, diese Erzählung rücken.
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kerygmatische Deutung: "Eine neue Lehre in Vollmacht!" Möglicherweise ist die W as-Frage in der Redaktion des Evangelisten an die Stelle einer ursprünglicheren, stilgerechten Wer-Frage getreten 38 • Der Hinweis auf die entsprechende Formulierung am Ende der Seesturmerzählung Mk 4,41, die sich ebenfalls ganz im Schema der Wundergeschichten hält, macht diese Vermutung wahrscheinlich. Die kerygmatische Prägung der Erzählung zeigt sich indirekt auch darin, daß diese Heilung zwar am Sabbat erfolgt, aber anders als bei der Heilung der verdorrten Hand Mk 3, 1-6 nicht unter den Gesichtspunkt des Sabbatkonflikts gestellt wird. Die kerygmatische Intention ist in 1, 23-28 schwerpunktmäßig auf den Erweis der überlegenheit Jesu und der Unterlegenheit der Dämonen gerichtet. Erkennen wir also eine bestimmte gattungsgeschichtliche Prägung, die form- und religionsgeschichtliche Vergleiche mit anderen Erzählungen dieser Gattung erlaubt, und ergeben sich andererseits starke kerygmatische Akzente im dargestellten Geschehen, so wird uns die historische Erweisbarkeit dieses Geschehens zwar nicht unmöglich gemacht, wohl aber in einer Weise erschwert, die der Gewissenhaftigkeit des Historikers nur dienlich sein kann. Die Historizität des Geschehens ist nicht schon dadurch hinreichend gesichert, daß man auf die Orts angabe in V. 23 ("in ihrer Synagoge") bzw. in V. 21 ("sie kamen nach Kapharnaum ") hinweist. Die Verse 21 und 22 stellen weitgehend eine redaktionelle Rahmung zu den folgenden Erzählungen dar. Die Orts angabe von V. 23 ist aber, unabhängig von V. 21f betrachtet, so allgemein, daß sie keine wirkliche Stütze zur historischen Identifizierung bietet, zumal das erzählte Geschehen den Rahmen der Synagoge nicht erkennbar fordert. Dennoch dürfte sich in dieser auch sonst 39 begegnenden Orts angabe eine Erinnerung an das Wirken J esu zeigen, die sich nicht auf diesen oder jenen Erzählungstext allein festlegen läßt. Damit grenzt sich die historische Rückfrage darauf ein, wieweit wir mit der Austreibung eines Dämons als Geschehen im Leben Jesu zu rechnen haben. Von der Heilung Besessener ist in den synoptischen Evangelien verhältnismäßig häufig die Rede. Gleich im Anschluß an Vgl. R. Pesch, Lehre, 254: "Die alte Austreibungsgeschichte drängt von sich her zur Frage nach der Person des Wundertäters: Wer ist dieser?" 39 Nach 1,39 sind die Synagogen Galiläas der bevorzugte Ort der öffentlichen" Verkündigung" Jesu. Auch die Heilung des Bessenen ist in diesem Sinne als Verkündigungsgeschehen anzusehen. 38
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unsere Erzählung wird in einem "Sammelbericht", Mk 1, 32-34, berichtet, daß man Besessene (und andere Kranke) zu Jesus bringt und daß er sie heilt, ohne daß Einzelheiten nach Art der vorhergehenden Dämonenaustreibung berichtet werden. Für den Evangelisten hat die in 1, 23-28 erzählte Austreibung exemplarische Bedeutung; ihre wesentliche Aussage gilt grundsätzlich für das gesamte Wirken Jesu und für seine Exorzismen insbesondere, die er mit seiner Tradition in größerem Umfang Jesus nachrühmen konnte. Dann ist die Einzelerzählung 1, 23-28 (wie auch die übrigen Austreibungsgeschichten 5, 1-20; 9, 14-29 und die Sammelberichte) nicht nur auf einen bestimmten Einzelfall hin zu befragen, sondern auf die Zuverlässigkeit der Erinnerung an das dämonenaustreibende Wirken Jesu überhaupt in der urchristlichen überlieferung. Hierfür sind vor allem Konvergenzgründe ausschlaggebend, die sich aus der übereinstimmung der Erzählungs- und Logienüberlieferung ergeben. Nach Mk 3,22ff setzen der Vorwurf des Teufelsbündnisses und die Entgegnung Jesu seine Exorzismen als gegeben voraus. Diese überlieferung wird auch von Q geteilt (vgl. Mt 9, 32-34; 12, 22-30 und Lk 11, 14-23). Auch wenn es sich in diesem Streitgespräch um eine redaktionelle Bildung handelt, so ist doch nicht daran zu zweifeln, daß die in ihm zusammengestellten Einzellogien auf einen ursprünglicheren Zusammenhang zurückgehen. Besonders kann für Lk 11,19 f Par. Mt 12,27f ein Sitz im Leben Jesu wahrscheinlich gemacht werden, so daß in diesem Doppellogion nicht nur die Faktizität der Exorzismen, sondern auch ihre eschatologische Qualität nach dem eigenen Verständnis J esu selbst bezeugt wird 40. Sieht man zudem, daß die Qüberlieferung des Streitgesprächs (abweichend von der Mk-Parallele) einen Kurzbericht über eine Dämonenaustreibung durch Jesus an den Anfang setzt, so zeigt sich hiermit im Vergleich zu den ausführlicheren Austreibungserzählungen, daß der erzählte Einzelfall als Aufhänger oder als Darstellungsmedium für eine bestimmte theologisch-kerygmatische Aussage dient. Die historische Rückfrage darf sich dann nicht nur auf die Faktizität des Einzelgeschehens richten, sondern auch und vor allem darauf, wieweit die mit ihm verbundene kerygmatische Aus40 V gl. hierzu besonders N. Perrin, Was lehrte Jesus wirklich? 64-69. Für Perrin ist', hier das Kriterium der vielfältigen Bezeugung ausschlaggebend: "In allen Schichten der synoptischen Tradition finden sich Berichte von Exorzismen, und die antik-jüdischen Texte betrachten Jesus als Wundertäter, d. h. als einen Exorzisten" (ebd. 66).
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sage Anhalt an Jesus selbst hat. Diese Frage dürfte gerade für das Logion Lk 11,20 Par. Mt 12,28 und damit auch für das in der Erzählung Mk 1,23-28 zur Sprache kommende eschatologische Verständnis vom Wirken Jesu positiv beantwortet werden.
IV. ERGEBNIS UND AUSBLICK
Wir fassen das Ergebnis unserer überlegungen thesenartig zusammen, wobei besonders die Frage nach den Kriterien für historische Ursprünglichkeit hinsichtlich der Wunder Jesu berücksichtigt werden soll. 1. Die Wunder Jesu sind in der urchristlichen überlieferung nicht Gegenstand unmittelbar historischen Interesses, sondern vor allem Gegenstand christologischer und soteriologischer Verkündigung. In Zusammenhang mit dem dominierenden Gesichtspunkt der Verkündigung bewahrt die überlieferung von den Wundern Jesu die Erinnerung an sein außerordentliches, wunderbares, wohltätiges Wirken auf Erden. Dank dieser Erinnerung reflektieren die Einzelüberlieferungen immer auch Historisches aus dem Leben Jesu. 2. Mit Hilfe traditionsgeschichtlicher Analyse kann für Mt 11, 2-6 Par. wahrscheinlich gemacht werden, daß die Tradenten der Logienquelle mit dem Wirken Jesu in Wort und Tat seinen eschatologischprophetischen Anspruch verkündeten. Diese Verkündigung stützte sich auf bestimmte erinnerliche Taten Jesu, vor allem aber auf die Erinnerung an das Verhalten Jesu gegenüber den "Armen" (vgl. Lk 6,20 Par. Mt 5,3) sowie auf ursprünglichere Wortüberlieferung wie Lk 10,23f Par. Mt 13,16f. Letztere wird sowohl dem Kriterium der Unähnlichkeit als auch dem der Kohärenz (mit der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu) gerecht. 3. Die Wundererzählungen der Evangelien sind insgesamt von einer bestimmten Wundererwartung geprägt, die sich schon in ihrer gleichmäßigen Erzählungsform ausdrückt. Dennoch bieten sie mehr als die Deutung der Person Jesu als "Wundermann". So kann die Heilung des Besessenen Mk 1, 23-28 die kerygmatischen Intentionen der urchristlichen überlieferung deutlich machen. Wenn diese Erzählung auch nicht unmittelbar auf das Leben Jesu zurückgeht, so bietet sie doch eine beispielhafte Verdeutlichung dessen, was etwa mit der ur192
sprünglicheren Wortüberlieferung vom Vorwurf des Teufelsbündnisses offenkundig auf das Leben Jesu selbst zurückgeführt werden kann: Jesus hat Kranke geheilt und sie von der Dämonenplage befreit; eben dieses Wirken stand für ihn in engem Zusammenhang mit seiner eschatologischen Verkündigung. Diese Feststellung entspricht dem Kriterium der Breite der aberlieferung wie auch dem der Kohärenz. 4. Die überlieferungsgeschichtliche Untersuchung der Wunder J esu bietet einen Weg der Annäherung an das irdische Wirken Jesu. Von den Wundern Jesu aber kann immer nur im Kontext seines gesamten irdischen Wirkens und im Hinblick auf die innere Einheit von W ortund Tatverkündigung gesprochen werden. Darin liegt eine deutliche Grenze für jede Isolierung der der Wunderüberlieferung zugrunde liegenden historischen Phänomene. 5. Die urchristliche überlieferung von den Wundern Jesu bestätigt nicht ohne weiteres alle modernen Erwartungen bezüglich der Geschichtlichkeit des überlieferten. Ihre Untersuchung fordert vielmehr zu größerer Differenzierung in der historischen Rückfrage wie auch in der Beurteilung der Einzelergebnisse heraus. Dementsprechend vermag die historisch interessierte Rückfrage nach den Wundern Jesu in Zukunft weitere Ergebnisse zu erbringen, die der komplexen Problemsituation gerade in diesem überlieferungsbereich gerecht werden.
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VI Der geschichtliche Jesus in seiner ständigen Bedeutung für Theologie und Kirche Von Rudolf Schnackenburg, Würzburg
Wenn wir durch die Forschungsgeschichte der letzten zweihundert Jahre gelernt haben, nicht mehr nach dem historischen J esus an sich, losgelöst von der gläubigen Sicht des Urchristentums, zu suchen, heißt das noch nicht, daß wir ihn für Theologie und Kirche entbehren können. Im Gegenteil: Wie sich die Urkirche bei aller Verschiedenheit theologischer Ansätze stets in irgend einer Weise auf den geschichtlichen Jesus zurückbezog, so ist es der Theologie immer neu aufgegeben, sich um den geschichtlichen Jesus und sein Wollen zu bemühen. Nur so können einseitige und falsche Festlegungen im Glaubensverständnis und bedenkliche Entwicklungen des kirchlichen Lebens verhütet oder beseitigt werden. Allerdings leitete die Urkirche bei ihrem Rückbezug auf Jesus noch nicht das gleiche Interesse wie uns. Wir wollen wirklich den geschichtlichen Jesus in den Blick bekommen, wie er unter seinen Zeitgenossen auftrat und seine Sendung im damaligen Judentum erfüllte, auch in Konfrontation mit einzelnen Gruppen in seinem Volk. Ohne ein Persönlichkeitsbild von ihm zu entwerfen, wollen wir seine Gedanken und Intentionen erfassen, die für uns maßgeblich und richtungweisend bleiben. Wir scheuen auch nicht davor zurück, die urchristlichen Gemeinden daran zu messen und, wenn nötig, ihr Versagen und Zurückbleiben hinter den Forderungen Jesu festzustellen 1. In der Urkirche war diese Rückfrage nach dem geschichtlichen Jesus noch nicht in gleicher Weise, wenigstens nicht im gleichen Maß virulent. Sie schaute von ihrem österlichen Christus glauben auf den vorösterlichen, irdischen Jesus zurück, der für sie mit dem Christus ihres Glau1 Vgl. meinen Beitrag "Die nachösterliche Gemeinde und Jesus" in: Die Aktion Jesu und die Re-Aktion der Kirche. Jesus von Nazareth und die Anfänge der Kirche, hrsg. von K. Müller (Würzburg 1972) 119-149.
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bens identisch, in dieser Identität auch höchst bedeutsam war, freilich in unterschiedlicher Weise. Für Paulus trat der Gekreuzigte in das Zentrum seiner Theologie. Die judenchristliche Gruppe, der wir die Logienquelle verdanken, erwartete den irdischen Jesus in Kürze als den in Macht Kommenden, als den Menschensohn zurück, sah in ihm auch den Lehrer einer neuen, die alte Tora überbietenden Sittlichkeit, ließ sich von ihm in die Nachfolge rufen 2. Bei den Synoptikern macht sich die Rückfrage nach den Worten und Taten des irdischen J esus als Richtschnur für das Leben der Gemeinden stärker bemerkbar, jeweils getragen von einem Glaubensbild seiner Person, das in der Retrospektive vom nachösterlichen Standpunkt und im Verstehenshorizont der Gemeinden bestimmte Konturen gewann. Das letzte ist noch ausgeprägter im Johannesevangelium. Doch wir brauchen diese Fragen hier nicht weiter zu verfolgen 3 . Wichtig für unsere Fragestellung ist die Erkenntnis, daß schon im Urchristentum der Rezeptionsprozeß der Jesusüberlieferung notwendig mit theologischer Reflexion verbunden war. Nur so gelang es, bestimmte überlieferungen auf die geschichtliche Situation einer Gemeinde zu applizieren. Denken wir an die Naherwartung, das Liebesgebot, die Frage der Ehescheidung, das Verhältnis zum Judentum, die Heidenrnission u. a. In dem sich verändernden geschichtlichen Horizont mit neu auftauchenden Fragen wollte man sich an der Botschaft Jesu orientieren, um sie unter dem Anruf des gegenwärtigen Herrn aufs neue fruchtbar zu machen. Mehr noch: In der Auseinandersetzung mit anderen Heilsvorstellungen und Erlösungsbotschaften besann man sich auf das Einmalige und Unverwechselbare der Person 2 Vgl. die neueren Arbeiten zur Logienquelle und zu der hinter ihr stehenden Gemeinde: A. P. Polag, Die Christologie der Logienquelle (ungedr. Diss.) (Trier 1968); ders., Zu den Stufen der Christologie in Q, in: Studia Evangelica IV (Berlin 1968) 72-74; P. Hoffmann, Die Anfänge der Theologie in der Logienquelle, in: Gestalt und Anspruch des Neuen Testaments, hrsg. von J. Schreiner unter Mitwirkung von G. Dautzenberg (Würzburg 1969) 134-152; ders., Studien zur Theologie der Logienquelle (Münster i. W. 1972); D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle (Neukirchen 1969), bes. 93-100; S. Schulz, Q. Die Spruch quelle der Evangelisten (Zürich 1972), bes. 481-489. 3 Vgl. J. Schreiner - G. Dautzenberg, Gestalt und Anspruch des NT (vor. Anm.); S. Schulz, Die Stunde der Botschaft. Einführung in die Theologie der vier Evangelisten (Hamburg - Zürich 21970); J. Gnilka, Jesus Christus nach frühen Zeugnissen des Glaubens (München 1970); W. Pesch (Hrsg.), Jesus in den Evangelien (Stuttgart 1970); G. Schneider, Die Frage nach Jesus. Christus-Aussagen des Neuen Testaments (Essen 1971); H. Zimmermann, Jesus Christus. Geschichte und Verkündigung (Stuttgart 1973). - Zur grundsätzlichen Problematik s. den Beitrag von F. Hahn in diesem Band.
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Jesu Christi und des in ihm begründeten Heils. So wurde man mit Macht auf sein geschichtliches Auftreten und auf seinen blutigen Kreuzestod hingewiesen. Denken wir an die Mysterienreligionen, den Gnostizismus, die enthusiastische Frömmigkeit, Erscheinungen, von denen sich das junge Christentum absetzen und denen gegenüber es sich profilieren mußte. Rückbesinnung auf den geschichtlichen Jesus, Aufblick zum gegenwärtigen Christus, dem Herrn, und gläubig-hoffender Ausblick nach dem in ihm verbürgten Heil waren stets miteinander verbunden. Aber das geschah mit unterschiedlicher Akzentuierung und einer sich wandelnden Grundhaltung, die eben auch mit solchen theologischen Gewichtsverlagerungen zusammenhängt. Von daher erscheint das heute erwachte größere Interesse an der Gestalt des geschichtlichen Jesus berechtigt; nur müssen wir uns der Grenzen unserer Erkenntnis und der urchristlichen Blickweise auf den irdischen Jesus bewußt bleiben, wenn wir daraus für den Glauben relevante Einsichten gewinnen wollen. Wir setzen also die in der Diskussion um den "geschichtlichen J esus und den Christus des Glaubens" gereiften Erkenntnisse voraus und fragen, welche ständige und ständig neue Bedeutung der geschichtliche Jesus, wie er uns in der Glaubensperspektive unserer Quellen, besonders der Evangelien, faßbar wird, für Theologie und Kirche hat. Wir wenden uns ihm aus der besonderen Situation unserer Zeit des Umbruchs und der Neubesinnung zu. Das Interesse an der geschichtlichen Person Jesu von Nazaret ist heute sogar in Gruppen erwacht, die sich vom kirchlichen Christentum ab gewandt haben, manchmal, weil man jene faszinierende Gestalt für eigene Ziele und Programme vereinnahmen will, manchmal auch, weil man von seiner Gestalt wirklich fasziniert ist und die Kraft spürt, die von ihr ausgeht. Aber wir erfahren auch einen Widerstand nicht weniger gläubiger Christen gegen solche Bemühungen und überhaupt gegen jeden Versuch, das eingebürgerte und liebgewordene Bild J esu zu verändern oder den Blick vom kultisch verehrten Herrn auf den irdischen J esus zurückzulenken. In dieser Situation ist es Aufgabe der Theologie, den Stellenwert des Historischen im Glauben an Jesus Christus zu bestimmen und daraus kritische Anfragen nach beiden Seiten hin abzuleiten. Da uns die Unmöglichkeit einer bloßen historischen Rekonstruktion klar ist und die Widerlegung falscher Jesusbilder hier nicht zu unserer Aufgabe gehört, wollen wir besonders fragen, was wir aus jenen Bestrebungen 196
lernen können, welche berechtigte Kritik an traditionell christlicher Glaubenshaltung und an kirchlichen Verhaltensweisen daran aufbricht, oder mit anderen Worten, welche Bedeutung die Rückbesinnung auf den geschichtlichen Jesus für unser heutiges Glaubensverständnis und unsere jetzige kirchliche Situation hat. Das Thema wurde auch bewußt so formuliert, daß Theologie und Kirche zugleich angesprochen werden; denn Theologie kann sich nicht abseits und isoliert von der Kirche vollziehen, wenn sie sich nicht selbst verfremden und steril werden will 4. Ohne Anspruch auf eine erschöpfende Behandlung des Themas sollen einige Aspekte hervorgehoben werden.
1. Die Geschichtlichkeit Jesu in ihrer kritischen Funktion gegenüber Gnosis, Mythos und Ideologie
a) Am deutlichsten greifbar ist die Bedeutung der Geschichtlichkeit J esu für die Abwehr gnostischen Denkens, weil wir in dieser Hinsicht den Abwehrkampf des jungen Christentums gegen den Gnostizismus als lehrreiches Beispiel vor Augen haben. Das klassische Dokument dafür im Neuen Testament ist der erste Johannesbrief. Gegenüber einer doketistischen Irrlehre hören wir knappe christologische Bekenntnisse, die auf die Inkarnation und den blutigen Kreuzestod Jesu Bezug nehmen. So lesen wir in 1 Joh 4,2f: "Jeder Geist, der bekennt: Jesus Christus ist im Fleisch gekommen, ist aus Gott, und jeder Geist, der J esus nicht bekennt (bzw. zerstört), ist nicht aus Gott. " Hier ist der geschichtliche Jesus unlöslich in das Christusbekenntnis einbezogen. Von dem Christus (vgl. 2,22; 5,1), dem Sohn Gottes (4,15; 5,5), den die Gemeinde als den Erlöser der Welt (4,14) verehrt, heißt es, daß es niemand anders ist als der im Fleisch gekommene Jesus. In 5,6 wird außerdem betont, daß er durch Wasser und Blut gekommen ist, nicht nur im Wasser, sondern auch im Blut. Die antidoketistische Spitze wird noch deutlicher, wenn wir die Aussagen des Ignatius von Antiochien über die Irrlehrer in den von ihm adressierten Gemeinden
4 Das hat auch E. Käsemann in seiner Presidential Address "Das Problem einer Theologie des Neuen Testaments" auf dem Jahrestreffen der Studiorum Novi Testamenti Societas in Claremont/California noch vor kurzem (August 1972) betont; vgl. den Bericht in BZ 17 (1973) 156.
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vergleichen 5 . Das J ohannesevangelium ist schwieriger zu beurteilen. E. Käsemann 6 und L. Schottroff7 halten dieses Spätevangelium selbst für eine gnostisierende Schrift. Andere Forscher sehen den Evangelisten zugleich in Berührung und Auseinandersetzung mit gnostischer Geisteshaltung. G. Richter hat jüngst mit rigorosen literarkritischen Operationen einen dritten Weg eingeschlagen: Der Evangelist ist kein häretischer Gnostiker; aber er hat mit seiner Darstellung und Christologie dazu beigetragen, daß sein Evangelium sehr bald von Gnostikern für ihre Gedanken mißbraucht wurde, und darauf reagierte eine Redaktion aus der johanneischen Schule mit antidoketistischen Einschüben in das Evangelium. Zu ihnen rechnet G. Richter auch die Inkarnationsaussage 1,14 und die Deutung des Lanzenstichs in 19, 34b-35 B• Mir scheint, daß Richter sein Bild von der Entstehungsgeschichte des Johannesevangeliums noch nicht genügend bewiesen hat; aber an der antidoketistischen Tendenz von 1,14 ist nicht zu zweifeln. Vielleicht sind wir der Ansicht, daß unsere Zeit nicht mehr in der Gefahr gnostischer Geisteshaltung und speziell einer doketistischen Christologie steht. Im allgemeinen mag das zutreffen; aber manche Phänomene in und außerhalb des kirchlichen Christentums scheinen mir doch gnostisierende Tendenzen zu verraten. Es gibt eine Art Christusfrömmigkeit oder Christusmystik, die allein aus der gegenwärtigen Verbindung mit Christus lebt und für die Christus eine Heilsgestalt ist, die dem gnostischen Erlöser in manchem ähnelt. Wir brauchen nur einmal die stark gnostisch infizierten Oden Salomos zu lesen und zu überlegen, wie nahe sie der Frömmigkeit mancher heutigen Christen stehen. Was an Christus bewegt und mit ihm verbindet, ist der Weg der Erlösung, der zu seliger Gotteinigung führt. Der irdisch-geschichtliche Jesus ist ein bloßes Schemen; der Christus, in dem und aus dem man lebt, ist jener, der seinen Weg durch die irdische Fremde über Leid und Kreuz in die Glorie gegangen ist. Er ist vorausgegangen, 5 Vgl. R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe (Freiburg i. Br. 41970) 20ff; G. Richter, Die Fleischwerdung des Logos im J ohannesevangelium: NovT 13 (1971) 81-126, näherhin 118f; ebd. 14 (1972) 257-276, näherhin 259-265. 6 Jesu letzter Wille nach Johannes 17 (Tübingen 1966, dritte, veränderte Auflage 1971). 7 Der Glaubende und die feindliche Welt (Neukirchen 1970) 228-296 ("die johanneische Gnosis"). 8 Die Fleischwerdung des Logos (s.o.); ferner ders., Blut und Wasser aus der durchbohrten Seite Jesu (loh 19,34b), in: MüThZ 21 (1970) 1-21; ders., Der Vater und Gott Jesu und seiner Brüder in Joh 20,17: ebd. 24 (1973) 95-114.
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ein Prototyp der Seele, die ihren Weg zum Heil finden will, ein Heilsführer , von dem Erleuchtung und Kraft, Freude und Frieden zufließen. Gewiß werden sich solche Christen, wenn man sie auf den irdischen Jesus hin anspricht, zu ihm bekennen, auch seine Forderungen anerkennen, aber doch nur soweit, wie es in jene Gedankenbahn paßt. Anderes am geschichtlichen Jesus, z. B. seine provozierenden Handlungen, seine Kritik an gesetzlicher und ichbezogener Frömmigkeit und seine gesellschaftskritischen Forderungen, wird ihnen fern und fremd bleiben. In anderer Weise sind gewisse gnostisch-enthusiastische Züge auch in der Jesus-People-Bewegung zu erkennen. Soweit man es als Außenstehender beurteilen kann, erscheint Jesus in ihr oft nur als Chiffre für die emotionalen Kräfte, die in der menschlichen Seele liegen und nach einem vagen Bild vom geschichtlichen Jesus geweckt werden. b) Das Verhältnis zum Mythos ist schwieriger und komplizierter, schon wegen des unterschiedlich gebrauchten Mythos-Begriffes. Folgt man dem weiten und ziemlich vagen Mythos-Begriff R. Bultmanns 9 , so gerät man in die uferlose Diskussion um "Entmythologisierung" (oder "Entmythisierung"), die das Problem betrifft, wie die biblischen, an ein altes, "vorwissenschafdiches" Weltbild gebundenen Aussagen noch mit unserem heutigen, von der Naturwissenschaft bestimmten Wissen und Weltverständnis zu vereinbaren, nach ihren Intentionen aufzunehmen, neu auszusagen und in ihrer Relevanz für die menschliche Existenz begreiflich zu machen sind (Bultmann: existentiale Interpretation). Der in der modernen Religionswissenschaft erarbeitete Mythos-Begriff ist enger, schränkt den Mythos auf eine archaische Erzählungsform ein und erkennt ihm eine begründende, fundierende 9 Vgl. seinen grundlegenden Aufsatz: Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos, hrsg. von H. W. Bartsch (Hamburg 1948) 15-53. Sein Mythos-Begriff kommt am prägnantesten in dem Satz zum Vorschein: "Er (der Mythos) redet vom Unweltlichen weltlich, von den Göttern menschlich" (23). Die anschließende Diskussion ist in den weiteren Bänden "Kerygma und Mythos" gesammelt. ehr. Hartlich W. Sachs, Der Ursprung des Mythos-Begriffs in der modernen Bibelwissenschaft (Tübingen 1952) haben nachgewiesen, daß dieser Mythos-Begriff auf ehr. G. Heyne (t 1812) zurückgeht, von dem ihn J. G. Eichhorn, J. Ph. Gabler, D. F. Strauß, auch H. Gunkel und W. Bousset übernommen haben. Der Mythos wird als primitive Vorstellungsform gekennzeichnet und von vornherein abgewertet; dagegen vgl. E. Buess, Die Geschichte des mythischen Erkennens (München 1953); auch K. Jaspers in seiner Auseinandersetzung mit Buhmann: Die Frage der Entmythologisierung (München 1954).
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Funktion zu, die nicht leicht durch andere Aussageweisen zu ersetzen oder zu überholen ist 10. Das schließt eine Mythenkritik keineswegs' aus; sie ist schon im Alten Testament trotz übernahme mythischer: Sprechweise kräftig entwickelt. Aus dem Neuen Testament wird man zwischen mythischer Sprache, Benutzung mythischer Stoffe und innerer Rezeption eines Mythos unterscheiden müssen 11. Für unser Thema hat die Frage Gewicht, ob es in der Urkirche zeitig zur übernahme eines in der damaligen Zeit verbreiteten Erlöser-i Mythos gekommen ist, der den Christusglauben in eine bestimmte: Richtung lenkte, das Christentum zu einer Art Mysterienreligion gemacht und seinen Einfluß bis in unsere Zeit behalten hat. Bekanntlich ist R. Bultmann der Ansicht, daß der "gnostische Erlöser-Mythos" tatsächlich früh in die Christologie eingedrungen ist. Er beschreibt ihn wie folgt: "Der Erlöser erscheint demzufolge als eine kosmische Gestalt, als das präexistente Gottwesen, der Sohn des Vaters, der vom Himmel herabkam und Menschengestalt annahm, der nach seinem irdischen Wirken zur himmlischen Herrlichkeit erhöht wurde und die Herrschaft über die Geisterrnächte errang. So preist ihn das vorpaulinische, Phi12, 6-11 zitierte Christuslied. "12 Abgesehen davon, daß von der neueren religionsgeschichtlichen Forschung her gegen die Annahme eines einheitlich vorgegebenen gnostischen Erlöser-Mythos erhebliche Bedenken bestehen 13, müssen wir fragen, welchen theolo10 Richtungweisend für den aus dem religionswissenschaftlichen Material selbst erarbeiteten MytllOs-Begriff war B. Malinowski, Myth in Primitive Psychology (London 1926); ferner s. K. Th. Preuss, Der religiöse Gehalt der Mythen (Tübingen 1933); G. van der Leeuw, Die Bedeutung der Mythen, in: Festschrift für A. Bertholet (Tübingen 1950) 287-293; C. G. Jung - K. Kerenyi, Einführung in das Wesen der Mythologie (Zürich 41951); H. Rahner, Griechische Mytlten in christlicher Deutung (Zürich 21957); M. Eliade, Das Heilige und das Profane (Hamburg 1957); ders., Mythen, Träume und Mysterien (Salzburg 1961). - Zur Kritik an Bultmann vom Mythos-Begriff her vgl. besonders W. Pannenberg, Christentum und Mythos (Gütersloh 1972), näherhin 13-19. 11 Vgl. u. a. A. Vögtle, Rivelazione e Mito, in: Problemi e Orientamenti di Teologia Dommatica (Mailand 1957) 827-960; H. Schlier, Das Neue Testament und der Mythus, in: Besinnung auf das Neue Testament (Freiburg i.Br. 1964) 83-96; R. Marle, Art. Mythos, in: Handbuch tlteologischer Grundbegriffe, hrsg. von H. Fries, 11 (München 1963) 193-201; W. Pannenberg, Christentum und Mythos; H. Fries, Art. Mythos, Mythologie, in: Herders Theologisches Taschenlexikon 5 (Freiburg i. Br. 1973) 147-153. 12 Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 51965) 178f. 13 Vgl. C. Colpe, Die religions geschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythus (Göttingen 1961); H.-M. Schenke, Der Gott "Mensch" in der Gnosis (Göttingen 1962); C. Colpe, New Testament and Gnostic Christology, in: Studies in the History of Religions XIV (in Memory of E. R. Goodenough) (Leiden
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gischen Stellenwert ein solcher Mythos, wenn er existierte und vom hellenistischen Christentum aufgenommen wurde, für den Glauben an Jesus Christus besaß. Unverkennbar wirkte der geschichtliche Jesus im jungen Christentum als Korrektiv zu einer wirklichen Mythisierung. W. Pannenberg, der die Beziehung des Christentums zum Mythos in einer klärenden Studie untersucht, sagt dazu: "Der christliche ,neue Mythos' entstand als Auslegung des Sinngehaltes eines geschichtlichen Geschehens, und er hat die Bindung an diesen Ursprung, der zugleich sein Thema blieb, nie verloren, hat sich nie zum reinen Mythos verselbständigt. "14 Pannenberg sieht die Ansätze zur Sinndeutung der Gestalt Jesu, wie sie im angeblichen "Christus-Mythos" hervortritt, im geschichtlichen Auftreten J esu und im Glauben an seine Auferweckung. Wenn Jesus die kommende Gottesherrschaft in seinem Wirken schon zum gegenwärtigen Ereignis machte und wenn seine Auferweckung den Anbruch der endgültigen, von Gott verheißenen Zukunft des Heils zur Gewißheit erhob, dann "wurde die Gestalt Jesu für die Glaubenden als historische zugleich Erscheinung des Absoluten in der Geschichte, Inkarnation Gottes" 15. Daraus zieht er für die Rezeption des Mythos die Folgerung, daß darin "etwas der Natur des Mythos selbst Konträres (liegt), sofern das historisch Einmalige dem das Archetypische, jederzeit Gültige aussprechenden Mythos so entgegengesetzt wie möglich ist"16. Man sieht aus dieser m. E. den Kern des Problems treffenden Reflexion, wie tief der Abgrund zwischen dem Glauben an Jesus Christus und einem bloßen Mythos ist, aber auch, wie schmal der Abstand wird, wenn man die Geschichtlichkeit Jesu, Inkarnation und Kreuzestod, nicht scharf im Auge behält. Es ist zwar eine grobe Simplifizierung, wenn man behauptet, daß der Christuskult im Sinne eines solchen Mythos den geschichtlichen Jesus in der Folgezeit völlig absorbiert 1968) 227-243. Vgl. auch E. Yamauchi, Pre-Christian Gnosticism (London 1973), der allerdings in der Ablehnung eines vorchristlichen Gnostizismus zu weit gehen dürfte. Der Einfluß eines Sophia-Mythos auf die neutestamentliche Christologie kann schwerlich bestritten werden. Vgl. F. Christ, J esus Sophia. Die Sophia-Christologie bei den Synoptikern (Zürich 1970); M. J. Suggs, Wisdom, Christology and Law in Matthew's Gospel (Cambridge/Mass. - London 1970); G. W. MacRae, The Jewish Background of the Gnostic Sophia Myth, in: NovT 12 (1970) 86-101; B. L. Mack, Wisdom Myth and Mythology, in: Interpr 24 (1970) 20-45; ders., Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum (Göttingen 1973). 14 Christentum und Mythos 66f. 15 Ebd. 67. 16 Ebd. 69.
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hat, daß also die Kirche einen ganz anderen Christus verkündigte, als sich J esus selbst verstand 17; aber die Gefahr einer Mythisierung war zeitig gegeben und hat sich latent durchgehalten. Sie bricht immer dann auf, wenn man mit allem Nachdruck das Bekenntnis zum Sohn Gottes verlangt, aber eine Häresie wittert, wo J esus als Mensch unter Menschen gesehen und reflektiert wird. Diese monophysitische Tendenz ist auch heutzutage, besonders in Kreisen eines konservativen, für neue Blickweisen verschlossenen Christentums, noch häufig anzutreffen. Ihr gegenüber genügt es kaum, die Inkarnation in ihrer dogmatischen Tragweite bewußt zu machen; darüber hinaus muß man den irdischgeschichtlichen Jesus in seinen konkreten Zügen, mit seinen dezidierten Worten und Forderungen, seinem nicht selten provozierenden Verhalten, in seiner ganzen Menschlichkeit vor Augen führen. Eine Rückbesinnung auf den Menschen Jesus, auch eine Wiederaufnahme und Neudurchdenkungfrüher christologischer Ansätze im Judenchristentum erscheint dringend geboten. c) Wieder anders steht es mit der Gefahr der Ideologisierung. "Ideologie" ist heute zu einem Mode- und Kampfwort geworden. So unscharf der Begriff bleibt und so energisch wir einer globalen Verdächtigung des christlichen Glaubens als "Ideologie" entgegentreten müssen, können wir doch nicht leugnen, "daß partikulär in der kirchlichen Praxis Ideologien wirksam waren und sind" 18. So möchte ich den Begriff in dem Sinne aufnehmen, daß ein Glaube zur Ideologie ~lrd, wenn er sich von der lebendigen Glaubenswirklichkeit entfernt oder seine eigenen Aussagen so fixiert, daß er von ihnen her und nicht mehr vom Grund des Glaubens her denkt. Das geschieht zum Beispiel, wenn ge17 Die These von der "Kultisierung" eines ursprünglich anderen (judenchristlichen) Glaubens an Jesus, den Messias und Menschensohn, durch hellenistische Einflüsse (Gnosis, Mysterienkulte u. a.) geht auf die religionsgeschichtliche Schule zurück und hat in dem Werk von W. Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus (Göttingen 1913, 41935) ihren klassischen Niederschlag gefunden. Die neu esten Popularisierungen (von J. Lehmann, A. Holl, R. Augstein) vergröbern, was schon die religionsgeschichtliche Schule viel differenzierter sah. Inzwischen ist aber die Forschung vorangeschritten und hat das ganze Bild erheblich verändert, vor allem für die Frühgeschichte. Vgl. die neueren Werke zur Christologie (unten Anm. 20). 18 W. Post, Art. Ideologie, in: Herders Theol. Taschenlexikon 3 (Freiburg i. Br. 1972) 336-340, Zitat 340. Der Artikel gibt auch einen überblick über die Geschichte des Ideologiebegriffs und seine Problematik. Vgl. auch K. Rahner, Ideologie und Christentum, in: Schriften zur Theologie VI (Einsiedeln 1965) 59-76.
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schichtlich gewordene und geschichtlich gebundene Glaubensformeln so absolut gesetzt werden, daß sie ohne Rücksicht auf den veränderten Verstehenshorizont äußerlich festgehalten und nun falsch verstanden werden. Denken wir etwa an den Satz "Extra ecclesiam nulla salus", der im Kontext einer bestimmten Zeit und Aussageabsicht seinen guten Sinn hatte, heute aber in enger Interpretation einfach falsch ist. Wollten wir aufgrund dieses Satzes viele heutige Menschen, vielleicht sogar evangelische Mitchristen, des Heils für verlustig erklären, dann wäre das Ideologie. Sie wird als solche entlarvt, wenn wir auf Jesus zurückgehen und uns an bestimmte Szenen und Worte erinnern, die in eine ganz andere Richtung weisen, nämlich auf den universalen Heilswillen Gottes und viele Möglichkeiten der Heilsverwirklichung. Um nicht mißverstanden zu werden, füge ich hinzu: Wir können nicht einfach ein von uns selbst gefundenes anderes Verständnis der Worte J esu, die wir aus den Evangelien herauslösen, gegen das Verständnis der U rkirche und der durch die Jahrhunderte fortlebenden Kirche ausspielen, sondern müssen stets auch die Rezeption der J esusworte und die Interpretation der Kirche mitbedenken; aber wir können die Kirche nie von ihrem Ursprung, vom irdischen J esus, auf den sie sich selbst beruft, trennen. So müssen wir mit ihr und in ihr auf ein immer besseres und volleres Verständnis der Worte und Taten Jesu hinwirken 19. Es ist ein schwieriger Prozeß, den die Kirche selbst als Erinnerung des Heiligen Geistes an die Worte Jesu (Joh 14,26), als Hineinführen in die ganze Wahrheit (16, 13) begreift. Aber wenn sich die Theologie nicht diesem schon vom vierten Evangelisten in aller Klarheit erkannten, geschichtlich nie abgeschlossenen Prozeß öffnet, verfällt sie leicht der Ideologie oder macht sich mitschuldig an aufkommenden Ideologien in der Kirche. Ideologiegefahr besteht also für einen erstarrten Traditionalismus, 19 Hier ist an das Wort der Konstitution Dei Verbum des 11. Vatikanischen Konzils zu erinnern: "Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt ... " (Art. 10). Vgl. den Kommentar von]. Ratzinger in: Das zweite Vatikanische Konzil II (Freiburg i. Br. 1967) 527: "Auf diesem Hintergrund (früherer Lehräußerungen, d. Verf.) wird man die nachdrückliche Herausstellung der ministeriellen Funktion des Lehramtes ebenso begrüßen müssen wie die Aussage, daß sein erster Dienst das Hören ist - daß es selbst immer wieder auf das lauschende Vernehmen gegenüber den Quellen, auf deren je neue Befragung und Durchdenkung angewiesen ist, um sie so wahrhaft aus-legen und behüten zu können."
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der sich vom Urgrund des Glaubens entfernt und eigene Glaubensvorstellungen zu fixen Ideen macht, nach denen alles in und außerhalb der Kirche beurteilt wird, an denen Mitglaubende und Andersgläubige unerbittlich gemessen, gewogen und verdammt werden. Ideologiegefahr besteht aber auch für alle, die sich ihre Ideen von außerhalb der Glaubensgemeinschaft stehenden Gruppen zureichen lassen und unbesehen in den Glauben infiltrieren wollen. Unbesehen, das heißt ohne überprüfung an dem, was J esus gesagt, getan, gewollt hat. Auch dann, wenn man nur noch aus dem heutigen Problembewußtsein, aus dem gesellschaftlich-politischen Horizont unserer Zeit "Theologie" betreiben und sich der Konfrontation mit den nicht mehr als "zeitgemäß" empfundenen Texten des Neuen Testaments entziehen will, wird der Glaube leicht zu einer fremd- und ferngesteuerten Ideologie. In allen diesen Fällen, mögen sie von dieser oder jener Seite herkommen, müssen sich auch die Theologen stets äußerst selbstkritisch fragen, ob sie nicht als Kinder ihrer Zeit selber ideologieanfä1lig sind, ob sie wirklich auf das hinhören, was das Evangelium sagt. Denn für uns alle kommt der Glaube vom Hören.
2. Das geschichtliche Wirken und Schicksal Jesu
in seiner nie erschöpften Sinnfülle
a) Die ganze Kirche ist ständig gehalten, auf das Evangelium Jesu zu hören und es für die jeweilige Zeit fruchtbar zu machen. So wichtig und grundlegend die Interpretation der Urkirche dafür ist, weil erst durch die apostolische überlieferung und Verkündigung das Evangelium, wie es der geschichtliche J esus gebracht hat, überhaupt vernehmbar und verstehbar wird, notwendig dann auch als Evangelium von Jesus Christus, ist die Auslegung der Urkirche doch nicht in jeder Beziehung unüberholbar. Zunächst ist klar, daß auch die urchristliche Verkündigung und Theologie wie alles Menschlich-Geschichtliche zeitbedingt und -gebunden ist. Sodann sind wir durch die jüngste Forschung stärker als je auf die Verschiedenheit der christologischen Ansätze und auf die Entwicklungslinien der einzelnen Entwürfe aufmerksam geworden 20. Während früher eher die Tendenz bestand, die Vgl. außer den in Anm. 3 genannten Arbeiten: W. Kramer, Christos, Kyrios, Gottessohn (Zürich 1963); F. Hahn, Christologische Hoheitstitel (Göttingen 1963); E.
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Unterschiede einzuebnen bzw. trotz ihnen eine möglichst geradlinige Entwicklung aufzuzeigen, betont man heute die Pluralität christologischen Denkens im Urchristentum, so daß dieses unt("r dem methodischen Zugriff der Traditionsgeschichte in kaum noch homogene Traditions- bzw. Gemeindebereiche auseinanderzufallen scheint 21 . Man wird demgegenüber auf den Glauben an die Auferweckung Jesu als den Urgrund aller noch so divergierenden christologischen Perspektiven hinweisen müssen. In allen für uns erkennbaren "Christologien" (auch in jener der Logienquelle 22) wird der irdische Jesus erst im Licht des Osterglaubens zu einer deutbaren und für den Glauben bedeutsamen Gestalt. Aber es ist dennoch nicht unerheblich, wie der irdischgeschichtliche Jesus darin jeweils zur Sprache kommt. Es ist ein Unterschied, ob man mit einer vorpaulinischen Christologie Jesus als den Sohn Davids betrachtet, der seit der Auferstehung und durch die Auferstehung zum Sohn Gottes in Macht eingesetzt wurde (vgl. Röm 1,3f), oder ob man mit Paulus nur die menschliche Geburt Jesu und seine Unterstellung unter das Gesetz (vgl. Gal 4,4), im übrigen aber den Kreuzestod Jesu für entscheidend wichtig hält. Es ist auch ein Unterschied, ob die älteste Q-Gemeinde ihren Blick vom irdischen Jesus gespannt auf den kommenden Menschensohn richtet, auf den gleichen Jesus in seiner Herrscher- und Richterfunktion über Israel und die Welt, oder ob die Synoptiker gerade auf die Worte und Taten des irdischen J esus großes Gewicht legen. Innerhalb der synoptischen Evangelien gibt es, wie die redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen gelehrt haben, recht erhebliche Unterschiede in der Schweizer, J esus Christus im vielfältigen Zeugnis des N euen Testaments (München Hamburg 1968); M. Horstmann, Studien zur markinischen Christologie (Münster i. W. 1969); R. Schnacken burg, Christologie des Neuen Testaments, in: Mysterium Salutis HI/1 (Einsiedeln - Köln 1970) 227-388; R. N. Logenecker, The Christology of Early Jewish Christianity (London 1970); J. Ernst, Anfänge der Christologie (Stuttgart 1972); K. H. Schelkle, Theologie des Neuen Testaments II: Gott war in Christus (Düsseldorf 1973). 21 Vgl. S. Schulz, Spruchquelle .. 3. Er zählt fünf solche Bereiche "mit eigenständigen und auch unterschiedlichen kerygmatischen Entwürfen" auf: 1. Die Q-StoHe, 2. das Kerygma der Jerusalemer Gemeinden (die "Hebräer" und die Stephanus-Leute), 3. die Markus-Traditionen, 4. die vorpaulinische Gemeindetradition (d. h. die apokalyptische und gnostisierende Traditionsschicht) und 5. die vorjohanneische überlieferung. Dieses Modell bedarf dringend einer kritischen Nachprüfung, wenn sich nicht eine fragwürdige wissenschaftliche sententia communis bilden soll. 22 Vgl. zur Logienquelle noch W. Thüsing, Erhähungsvorstellung und Parusieerwartung in der ältesten nachösterlichen Christologie (Stuttgart o. J. [1969]) 55-66.
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Einschätzung und kategorialen Einordnung der Person Jesu, auch in der Frage, wieweit er sich offenbaren oder verhüllen wollte. Schreiten wir zum Johannesevangelium voran, so begegnet uns, äußerlich gesehen, ein ganz anderer J esus, nicht nur in seiner Konfrontation mit dem Judentum, sondern auch in seinem Selbstanspruch und seinem Sprechen in göttlicher Hoheit. Tiefer gesehen, ist freilich auch in ihm das markinische "Messias geheimnis" anwesend, nur in anderer theologischer Sicht und Darstellungsweise. Der johanneische Jesus offenbart sich mit hohen Prädikaten als der wahre, endgültige Gottgesandte, der wesenhafte, einzige Sohn Gottes, und zwar in aller Offentlichkeit, und doch wird er nur den Glaubenden als solcher offenbar, der ungläubigen Welt bleibt er unbegreiflich und anstößig 23 • Aus dem stark differierenden Bemühen der Evangelisten, den irdischen Jesus in seiner Eigenart, mehr noch in seinem tiefsten Wesen, in seinem nur dem Glauben zugänglichen Geheimnis vor Augen zu führen, muß man schließen, daß er schon den ältesten Zeugen und T rad enten in seiner Erscheinung und Verhaltensweise nicht voll begreiflich und "aussagbar" war. Auch die Fülle der auf ihn angewendeten Hoheitstitel, die sich in den Spätschriften des Neuen Testaments häufen, verrät das Bemühen, die Gestalt Jesu in ihrer Bedeutung von allen Seiten zu beleuchten, und doch zugleich die Unfähigkeit, seine Sinnfülle zu erschöpfen. Das gleiche läßt sich für die Passion und de.n Kreuzestod Jesu feststellen. Sobald man sein Sterben im Licht der Auferstehung betrachtete, waren verschiedene Sinngebungen möglich. Sie schließen sich gegenseitig nicht aus; aber es ist etwas anderes, seinen Tod als Prophetenschicksal zu begreifen (so wohl in der Logienquelle 24) oder seine Passion nach den Psalmen vom leidenden Gerechten nachzuzeichnen 25 oder als die Erfüllung der Prophetie vom sühnenden Gottesknecht zu deuten. In allen diesen Sichtweisen, noch vermehrt durch andere Deutekategorien, wie Loskauf und Opfer, liegt auch etwas 23 Vgl. F. Mußner, Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus (Freiburg i. Br. 1965); R. Schnackenburg, Offenbarung und Glaube im Johannesevangelium, in: Schriften zum Neuen Testament (München 1971) 78-98. 24 Vgl. O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten (Neukirchen 1967); P. Hoffmann, Theologie der Logienquelle 158-190; auch S. Schutz, Spruchquelle 336-360. 25 Vgl. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums (Tübingen 41961) 184-188; J. Gnilka, Jesus Christus 95-109; L. Ruppert, Jesus als der leidende Gerechte? (Stuttgart 1972).
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Gemeinsames, nämlich die Erkenntnis des uns zugute Geschehenen, eine Erkenntnis, die mit der Ostererfahrung unmittelbar zusammenhängen dürfte 26 . Aber wieder zeigt sich darin auch eine Sinnfülle des Todes Jesu Christi, die im jeweiligen Verstehenshorizont reflektiert und doch nie gänzlich ausgeschöpft wird. Dazu gehört nicht zuletzt das paulinische scandalum crucis, das eine unvergängliche und unersetzliche Bedeutung für die Theologie hat. In der johanneischen Theologie, in der die Erniedrigung zur "Erhöhung" und "Verherrlichung" Jesu wird, scheint dieser Anstoß beseitigt zu sein und wird doch in anderer Weise - im ungläubigen Widerstand der "Welt" - bestätigt. So ist es durchaus legitim, wenn sich heutige Theologie aufs neue mit der Sinndeutung des Todes J esu beschäftigt 27 und neue Artikulationen 26 "Uns zugute" soll hier nicht im Sinn von "für unsere Sünden" verstanden werden; denn diese engere soteriologische Deutung ist in einem Teil der überlieferungs schichten (vormarkinischer Passionsbericht, Logienquelle) tatsächlich nicht nachzuweisen. Das heißt aber nicht, daß der Tod Jesu, etwa für die Q-Gruppe, keinen Heilssinn enthielt. Die Meinung, daß es frühchristliche Traditionen ohne Deutung des Todes Jesu gab, scheint mir entgegen H. Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu (Düsseldorf 1970) 235-240, nicht haltbar zu sein. Kessler selbst schreibt zu Q: "Und doch bereitet Q die Möglichkeit solcher besonderen Sinndeutung vor. Denn der Dagewesene wird identifiziert mit dem kommenden Menschensohn; die Ablehnung dieses Boten Gottes bekommt daher eine einzigartige Relevanz: Der Abgelehnte kommt wieder, und zwar zum Gericht!" (238f). Er übersieht, daß der Wiederkommende für die Gemeinde auch eine Heilsbedeutung hat: Errettung aus dem Gericht (vgl. Lk 12,8f; 17,34f u.a.). P. Hoffmann, Theologie der Logienquelle 187-190, der seine übereinstimmung mit Kessler konstatiert, formuliert: "Die Basis für eine soteriologische Deutung des Todes Jesu ist mit dieser Entwicklung bereits geschaffen. Denn durch die Identifikation des Abgelehnten mit dem Menschensohn J esu partizipiert auch jene Ablehnung, das persönliche Geschick J esu, an dessen überragender Bedeutung und verlangt nach einer eigenen Deutung. Diese Deutung erfolgte, wie das von Paulus vorausgesetzte Kerygma der frühen hellenistisch-jüdischen Gemeinde zeigt, unter veränderten geistes geschichtlichen wie kulturellen Voraussetzungen mit Hilfe neuer Deutungsmodelle in der christlichen Tradition sehr schnell" (189f). Aber wie kam es zur Identifikation des Menschensohnes mit J esus? - durch das Osterereignis, wie Hoffmann 141 f richtig sieht. - Zum vormarkinischen Kreuzigungsbericht vgl. G. Schneider, Die Passion Jesu nach den drei ersten Evangelien (München 1973) 158: "Die Heilsbedeutung des Leidens Jesu wird schon in der vormarkinischen Tradition durch die Weise der Schrifrverwendung indirekt ausgesprochen. " 27 Vgl. F. Viering (Hrsg.), Zur Bedeutung des Todes J esu. Exegetische Beiträge (Gütersloh 1967); ders. (Hrsg.), Das Verständnis des Todes Jesu Christi im Neuen Testament (Gütersloh 1968); W. Popkes, Christus traditus (Zürich 1967); H. Kessler, Die theologische Bedeutung (vor. Anm.);]. B. Metz, Erinnerung des Leidens als Kritik eines teleogisch-technologischen Zukunfts begriffs, in: EvTh 32 (1972) 338-352; ders., Erlösung und Emanzipation, in: StZ 98 (1973) 171-184; B. Rinaldi, La presenza deIIa croce neIIe principali lettere di S. Paolo (Ed. Fonti Vive 1972);]. Moltmann, Der gekreuzigte Gott.
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versucht, solange sie nicht der Täuschung verfällt, Jesu Sterben innerweltlich-geschichtlich wie das Sterben anderer großer Menschen erklären zu können. b) Aus dieser überlegung, die uns zwingt, das Verfahren der Urkirche bei der Tradierung und Interpretierung der J esusüberlieferung und bei ihrer Ausformung und Artikulation des Kerygmas immer im Blick zu behalten, ergibt sich aber auch eine wichtige Konsequenz für unser Verhältnis zum Urchristentum. Wenn es den urchristlichen Theologen und Gemeinden nicht gelang, die ganze Sinnfülle dessen, was sich in und durch Jesus ereignet hatte, zu erfassen, geschweige denn, die dar-i aus entstehenden Anforderungen im Leben zu verwirklichen, so gibt es offenbar einen Sinnüberschuß der Worte und Taten Jesu und eine Bedeutungstiefe seiner Person, die der späteren Kirche noch immer' offenstehen und zu weiterem Bedenken und Ausschöpfen aufgegeben sind. Der Begriff des Sinnüberschusses spielt auch in der modernen Linguistik eine Rolle, da sich die Gedanken und Intentionen eines Sprechenden nie voll und zureichend in die verfügbare "Sprache" einbringen lassen und sich das Gesprochene oder Geschriebene wieder einer vollen Rezeption der Hörenden oder Lesenden entzieht. Der Sprechende kann mit einem Wort auch mehr sagen, als ihm selbst be-' wußt ist. Wenn wir diese Erkenntnisse auf die Jesusüberlieferung übertragen und theologisch unter dem Aspekt der "Offenbarung" betrachten, ergeben sich wichtige Einsichten für unsere Aufgaben und Möglichkeiten gegenüber der uns zur Verfügung stehenden Tradition. Die allgemein menschliche Beschränkung durch die Sprache gilt auch für Jesus und die Tradenten seiner Botschaft, und sie wird für den Glauben unter dem Aspekt der Offenbarung noch bedeutsamer. Wenn sich Gott den Menschen erschließen und mitteilen wollte, durch Menschen und für Menschen, vermittels menschlicher Sprache, dann kann das nur in unvollkommener, analoger und geschichtlich bedingter Weise erfolgen. Die Vermittlung durch Menschen und die Rezeption bei den Menschen erzwingen ein solches Eingehen des Gotteswortes ins Menschenwort, daß nicht alles zur Sprache kommen kann, was Gott den Menschen zu sagen hat. Nun ist Gott allerdings nicht nur Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologit! (München 1972); G. Schneider, Passion Jesu; Zur Kreuzestheologie: EvTh 33 (1973) Heft 4 (mit verschiedenen Beiträgen).
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in das gesprochene Wort gekommen, sondern zuletzt auch in das personhafte Wort, den Logos, in Jesus Christus. Zur Offenbarung in J esus Christus gehört nicht nur sein Wort, sondern auch sein Tun und Verhalten, die Totalität seiner Bekundungen als Mensch, der doch in der Tiefe seiner Person das Menschliche nach dem Glauben der Urkirche übersteigt. Im Johannesevangelium heißt es in analoger Sprechweise, daß Jesus das bezeugt, was er gesehen und gehört hat (3,32), daß er das in die Welt redet, was er von dem gehört hat, der ihn gesandt hat (8,26; vgl. 12,49). So gibt es gleichsam eine Meta-Sprache zwischen, Gott und Christus; aber dieser vollkommene und endgültige Offenbarer muß sich der Sprache der damaligen Menschen bedienen und kann nicht alles zur Sprache bringen, auch nicht in seinen "Zeichen" und in seiner Person, was Gott der Menschheit für alle kommenden Zeiten, für veränderte geschichtliche Situationen zu sagen hat. Wir können das die "innere Sprachgrenze" nennen, die mit dem Gedanken der geschichtlichen Offenbarung gegeben ist 28 . Dazu kommen die äußeren Sprachbarrieren, die durch die konkrete Sprache der neutestamentlichen Zeit und die je wieder verschiedenen Ausdrucksweisen der neutestamentlichen Schriftsteller errichtet werden, Barrieren, die für uns mit unserem stark gewandelten Erfahrungs- und Denkhorizont, mit unserer ganz anderen Sprache nur äußerst schwer zu bewältigen sind 29 .. Und doch ist es unsere Aufgabe, das zu erkennen, was uns Gott in unserer Zeit durch Jesus Christus zu unserem Heil sagen will. Schon vom sprachlichen Bereich her legt sich also die Frage nach einem Sinnüberschuß der neutestamentlichen Texte, den wir für unsere Zeit erkennen sollten, nahe. Aber wir können das Problem auch unter dem Aspekt historischer Forschung und kritischen Umgangs mit den Texten des Neuen Testaments betrachten. Beim Verfahrender Urkirche, wie sie die Forschung für das Material der Evangelien erhellt hat, handelt es sich nicht um freie Erfindung oder bloße Gemeindebildungen, Worte urchristlicher Propheten und ähnliches, sondern zu einem beträchtlichen Teil um wirkliche überlieferung, die allerdings zugleich gedeutet wurde und 28 Vgl. E. Biser, Grenzen religiöser Kommunikation. Zum Problem der theologischen Sprachbarrieren: Hochland 63 (1971) 533-551, näherhin 528f. 29 Vgl. E. Biser (vor. Anm.); W. Bartholomäus, Evangelium als Information. Elemente einer theologischen Kommunikationstheorie am Beispiel der Osterbotschaft (Einsiedeln - Köln 1972).
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nicht anders denn als gedeutete überlieferung auf uns gekommen ist. So wird es uns möglich, die Tradition neu zu bedenken, in unseren heutigen Verstehenshorizont einzubeziehen und vielleicht neue Erkenntnisse und Impulse für das Leben daraus zu gewinnen. Wir können und müssen auch fragen, ob die Urkirche nicht manche Inhalte und Aspekte der von ihr selbst gebotenen überlieferung übersehen und vernachlässigt hat. Das wäre ähnlich wie bei einem polizeilichen oder' gerichtlichen Verhör, bei dem Tatbestände aufgedeckt werden, die den, befragten Personen in ihrer Tragweite nicht klar, vielleicht ihren Interessen nicht konform sind und doch aus ihren eigenen Aussagen hervorgehen. Das ist nur eine unzulängliche Analogie; für unsere Texte, heißt das deutlicher: Wir können die urchristlichen Zeugnisse und Interpretationen von der Sache her kritisch lesen und versuchen, das Zeitbedingte und Menschlich-Unzulängliche zu erkennen und zu überschreiten. Wir können nach einem Sinnüberschuß fragen, der von den Autoren unserer Texte noch nicht wahrgenommen wurde, für uns: aber bedeutsam ist. Ein gutes Beispiel für unsere Zeit sind die gesellschaftlichen Aspekte und sozialkritischen Forderungen, die in der Verkündigung und im Verhalten des geschichtlichen Jesus enthalten sind und darum auch zum Evangelium gehören. Im Horizont der Urkirche wurden sie kaum oder nur undeutlich wahrgenommen, und auch die neuzeitlichen Theologen haben sie nicht genügend beachtet, bis im emotionalen Aufbruch der heutigen jungen Generation diese Frage stürmisch an das Evangelium gestellt und auf das Verhalten J esu hingewiesen wurde, und zwar in heftiger Kritik an den Kirchen, die sich auf ihn zurückführen. Das war ein Vorstoß von den Lebensfragen der heutigen Gesellschaft her, aber auch ein Impuls für die Theologie, sich auf jene vernachlässigten Aspekte der Jesusbotschaft zu besinnen. Von ihr her mußte sie freilich auch eine Vereinseitigung der Fragestellung und eine. Verabsolutierung der gesellschaftlichen Aspekte abwehren. Wenn sich heute schon wieder eine Gegenströmung bemerkbar macht, wird es Aufgabe der Theologie sein, die richtigen Erkenntnisse, die sich vom geschichtlichen Jesus her ergeben, nicht wieder absterben zu lassen. Für die Erkenntnis oder Wiederentdeckung von Verkündigungsgehal-I ten, die lange vernachlässigt wurden, gibt es noch andere Beispiele aus schon etwas zurückliegender Zeit. Denken wir an die Zurückdrängung' einer individualistischen Frömmigkeit, die vornehmlich nach dem 210
eigenen Seelenheil strebte, oder an die überwindung einer spiritualistischen Geisteshaltung, die das Körperliche und Sinnenhafte mißachtete, oder an bestimmte Wandlungen im Kirchenbild. Manche früheren theologischen Bemühungen sind heute nur wieder stürmischer aufgebrochen. c) Wenn solche innovierenden und kreativen Erkenntnisse theologisch gestützt und gesichert werden sollen, müssen wir stets auch nach dem geschichtlichen J esus zurückfragen, weniger nach einzelnen Worten und Taten Jesu als nach dem Grundzug seines Evangeliums, den Intentionen seines geschichtlichen Auftretens und Wirkens und nach dem Sinn des in ihm und durch ihn Geschehenen. Damit erhebt sich die Frage nach dem Sinn und der Sinnfülle des ganzen Geschehens, das für den Glauben sowohl das geschichtliche Auftreten und Wirken J esu bis zu seinem Tod am Kreuz als auch das von Gott her nach seinem Tod Geschehene, also Auferweckung und Erhöhung Jesu, umfaßt. Man hat es eine Zeitlang gern das Christus geschehen oder Christusereignis genannt; aber das ist ein mißverständlicher Ausdruck, weil er die Spannung zwischen Geschichte und Kerygma, die Aufnahme des geschichtlichen Geschehens in das Kerygma und seine unentbehrliche Funktion für das Kerygma überdeckt. Es ist jenes Mit- und Zueinander, das in dem Doppelnamen Jesus Christus zur dichtesten Aussage geworden ist. Es genügt theologisch nicht, sich auf das Kerygma zu berufen, ebenso aber auch nicht, auf das historische Geschehen, die bruta verba et facta Jesu, zurückzugehen. Es genügt nicht, das Kerygma in den heutigen Horizont zu rücken und von ihm aus mit neuen Aspekten anzureichern, z. B. mit dem von ihm ermöglichten Existenzverständnis oder mit einem gewandelten Gesellschaftsverständnis. Man muß theologisch bis zum Evangelium des geschichtlichen J esus zurückgehen und aufzeigen, daß die neu erkannten Aspekte. in ihm enthalten oder angelegt sind, eben in jener Sinnfülle, die zu anderen Zeiten, unter anderen Horizonten noch nicht ausgeschöpft war, im übrigen auch von uns im Horizont unserer Zeit nicht ausgeschöpft werden kann. Das ist nicht selten eine schwierige Aufgabe, wie z. B. die Fragen nach Verhinderung von Kriegen, Verzicht auf gewaltsame Revolution, Milderung des Scheidungsverbotes zeigen. Es ist ein ständiger Prozeß, der im Rückbezug auf den geschichtlichen Jesus, unter Aufnahme des urchristlichen Kerygmas, im Mitbedenken des bisheri211
gen kirchlichen Verständnisses und im geschichtlichen Horizont unse· rer Zeit das Evangelium immer neu nach seinem Sinn zu befragen erfordert. Es wäre aber zu wenig, aus dem geistigen Horizont der jeweiligen Zeit nach dem geschichtlichen Jesus zurückzufragen. Vielmehr sollte sich die Theologie bemühen, auch positiv, prospektiv, kreativ aus der Verkündigung Jesu neue Erkenntnisse zu gewinnen, die für das Leben und Wirken der Kirche in der menschlichen Gesellschaft fruchtbar und zukunftsweisend sind. Gewiß wird sie dazu aus dem geistigen Horizont unserer Zeit angeregt werden; aber im Aufgreifen bestimmter Fragestellungen kann sie durch Reflexion der Botschaft und Verhaltensweise J esu selber positive Vorstellungen entwickeln, die der Kirche und der heutigen Gesellschaft zugute kommen. Ein Beispiel dafür ist die in den letzten Jahren in Gang gekommene Diskussion um eine Theologie der Befreiung 30 . Nachdem man die Unzulänglichkeit einer Theologie der Revolution erkannt hatte, stellte sich die Frage, ob man nicht im Hinblick auf die Dritte WeIt eine Theologie der Entwicklung entwerfen und daraus Konsequenzen für die Aufgaben der Kirche, namentlich in Lateinamerika, ableiten sollte. Aber man ist, gerade durch Besinnung auf die Verkündigung Jesu, davon abgekommen und hat sich entschieden, lieber eine Theologie der Befreiung aufzubauen. Interessant ist folgender Vorgang: In der nationalen Iustitia-et-PaxKommission Belgiens wurde P. B. Olivier, Sekretär dieser Kommission, zunächst damit beauftragt, Grundzüge einer "Theologie der Entwicklung" auszuarbeiten; aber er hat sich dann dafür entschieden, statt dessen eine "Theologie der Befreiung" zu entwerfen. In seinem Arbeitspapier sagt er: "Was es zu machen gilt, so denken wir, ist eine Theologie, die ein Neubedenken (une relecture) der Botschaft des Evangeliums wäre, aus dem heutigen ,Ethos', diesem tieferen Sehnen der gegenwärtigen Menschheit, heraus, eine Theologie, die aufzeigen müßte, wie der Gedanke der Befreiung zutiefst im Evangelium be30 Die bisherige Diskussion, besonders im spanischen und französischen Sprachbereich, zum Teil angestoßen durch "Populorum Progressio" und die römische Bischofssynode von 1971, läßt sich noch nicht gut überschauen. Angekündigt ist das Buch eines führenden Theologen für eine "Theologie der Befreiung": G. Gutierrez, Theologie der Befreiung (Mainz [Grünewald] und München [Kaiser] Herbst 1973). Ferner erschien im Herbst 1973 im Verlag Herder ein Band "Erlösung und Emanzipation", hrsg. von L. Scheffczyk, der die Referate auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft katholischer Dogmatiker und Fundamentaltheologen in München von Ende Dezember 1972 enthält.
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gründet ist."31 Ohne daß wir weiter darauf eingehen müßten, ist uns klar, daß hier tatsächlich ein in der Botschaft J esu tief verankerter, viele Aspekte aufweisender Gedanke aufgenommen wird, der in der Urkirche wie auch in der späteren Kirche noch keineswegs nach allen Seiten hin durchreflektiert und für die Aufgaben der Kirche in der Welt fruchtbar gemacht worden ist. Die gnadenhafte, personale, sittliche und eschatologische Freiheit, die bei Paulus und im Urchristentum im: Vordergrund steht, ist noch nicht alles, was die Freiheitsbotschaft Jesu in sich trägt. Ohne alles Heil von der sozialen, gesellschaftlichen und' politischen Befreiung zu erwarten, kann nun eine christliche Theologie der Befreiung die positiven, heute so vordringlichen Momente jener Bestrebungen gemäß der J esusbotschaft aufnehmen und doch an den tieferen Dimensionen menschlicher Freiheit, wie sie das Evangelium aufdeckt, festhalten. Daraus kann sich ein reiches und konkretes Programm kirchlicher Tätigkeit ergeben, das noch längst nicht erstellt ist! und sich für die schwierigen Verhältnisse mancher Staaten und Völker, auch nicht leicht erstellen läßt, zu dem aber eine vom Evangelium herkommende Theologie der Befreiung einen wichtigen Beitrag leisten könnte. Dies soll nur ein Beispiel für die noch unausgeschöpfte Sinnfülle und Kapazität des Evangeliums zur Bewältigung heute anstehender Aufgaben sein. Grundsätzlich kann man es so formulieren: Der geschichtliche Jesus kann und soll ein ständiger Katalysator theologischen Denkens und kirchlichen Lebens sein.
3. Der geschichtliche Jesus als besondere Forschungsaufgabe der Exegese Für die Exegese ergeben sich aus diesen überlegungen noch besondere Aufgaben. Sie brauchen hier nicht im einzelnen dargelegt zu werden; nur einiges sei hervorgehoben, um uns unsere Verantwortung und unsere spezifischen Aufgaben im Rahmen der gesamten Theologie und im Leben der Kirche stärker bewußt zu machen. a) Die Exegese hat eine kritische Funktion unter den theologischen Disziplinen, besonders gegenüber den systematischen Fächern. Sie 31 Une theologie qui prend parti pour la liberation, maschinenschriftlich März 1972, 27. Zur "Theologie der Befreiung" wurde auch eine Arbeitsgruppe in der Kommission X der deutschen Bischofskonferenz gebildet (1972).
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muß durch Erforschung der urchristlichen Jesusüberlieferung und Christllsverkündigung, durch Rückfrage nach der ursprünglichen Jesusbotschaft und durch Beobachtung ihrer urkirchlichen Rezeption und Interpretation, auch durch Konfrontation des urchristlichen Denkens und Lebens mit dem Wollen und Verhalten Jesu jene Fixierungen aufdecken und, wenn nötig, auflösen, die in Theologie und Kirche eingetreten sind und die Gefahr der Ideologisierung in sich tragen. Lange genug waren die Exegeten Verdächtigungen und Angriffen ausgesetzt, als wollten sie mit Eifer die Grundlagen des Glaubens zerstören. Aber die kritische rückfrage, was in den neutestamentlichen Urkunden über den Ursprung und die Urdaten unseres Glaubens zu finden ist, gehört zur Aufgabe unserer Disziplin. Seit der Enzyklika "Divino afflante Spiritu" sind die grundsätzlichen Einwände gegen die Methoden der modernen Exegese immer mehr abgebaut worden 32. K. Rahner hat es in einer Zeit, als zwischen den Dogmati-' kern und den Exegeten noch erhebliche Spannungen bestanden, einmal so ausgedrückt: "Der Exeget aber ist als solcher auch Fundamentaltheologe, darf und muß es sein. Er hat also ... das Recht und die Pflicht, die Arbeit des fundamentaltheologischen Historikers dem Neuen Testament gegenüber zu tun, gerade wenn und weil er katholischer Theologe sein soll, der nicht einfach mit dem bloßen und unbegründeten Akt des Glaubens anfangen darf ... Er muß also seine Quellen, das Neue Testament, auch als Historiker untersuchen."33 Allerdings
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32 Schon in "Divino afflante Spiritu" (1943) heißt es: "Durch diese Sachlage darf sich jedoch der katholische Exeget ... keineswegs davon abhalten lassen, die schwierigen, bisher ungelösten Fragen immer und immer wieder anzugreifen, nicht nur um die Einwendungen der Gegner zu widerlegen, sondern vor allem um eine positive Lösung herauszuarbeiten ... Die Bemühungen dieser tüchtigen Arbeiter im Weinberg des Herrn soll man nicht nur mit Billigkeit und Gerechtigkeit, sondern auch mit Liebe beurteilen. Dieser Pflicht mögen alle anderen Söhne der Kirche eingedenk sein und sich von jenem wenig klugen Eifer fernhalten, der da meint, alles, was neu ist, schon deshalb, weil es neu ist, bekämpfen oder verdächtigen zu sollen" (lateinisch-deutscher Text, Ausgabe Verlag Herder 1947, 49f). Die Instruktion der Bibelkommission "über die historische Wahrheit der Evangelien" vom 21. 4. 1964 brachte dann einen weiteren Fortschritt in der Anerkennung der exegetischen Methoden (besonders der "formgeschichtlichen"), vgl. Ausgabe und Kommentar von J. A. Fitzmyer, Die Wahrheit der Evangelien (Stuttgart 1965). Schließlich hat die Konstitution "Dei Verbum" des II. Vatikanischen Konzils (1965) nicht nur diese Grundsätze anerkannt, sondern auch eine weitere Basis geschaffen, daß die Exegeten ihre Arbeit in größerer Freiheit fortsetzen können. Damit sollen die immer noch auftretenden Spannungen und Konflikte nicht geleugnet werden. 33 In einem Aufsatz: Exegese und Dogmatik, im gleichnamigen Buch, hrsg. von H. Vorgrimler (Mainz 1962) 25-52, Zitat 37.
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wurde in der Zeit vor dem H. Vatikanischen Konzil die kritische Funktion der Theologie in der Kirche noch wenig gesehen, geschweige denn anerkannt. Die kritische Funktion der Theologie im allgemeinen und der' Exegese im besonderen ist in der jüngsten Zeit genügend proklamiert und reichlich praktiziert worden. Wir werden nicht leugnen können, daß dies nicht immer in glücklicher Weise geschah. So gelten wir, Exegeten noch immer als unbequeme und gefährliche Leute. Wir sollten uns in unserer Aufgabe, die der ganzen Theologie und letztlich der Kirche zugute kommt, nicht beirren lassen, sie aber auch mit großem Verantwortungs bewußtsein ausüben. Gerade als Exegeten, die ständig Begriffe, Sprache, Sprechwirkung reflektieren, sollten wir uns auch selber kontrollieren, was, zu wem, zu welchem Zweck, unter welchen Umständen wir jeweils reden oder schreiben. Ferner müssen wir uns noch mehr und noch genauer über die Grenzen unserer wissenschaftlichen Forschung, über die Stellung der Exegese im Rahmen der Gesamttheologie und über unser Verhältnis zur Glaubensgemeinschaft, in der wir stehen, Rechenschaft geben. Wir haben uns früher sicherlich zu selbstbewußt auf die historisch-kritische Methode berufen und hinter ihr verschanzt, und wir haben dabei zuwenig die hermeneutischen Grundlagen und Fragwürdigkeiten unseres ganzen Verfahrens beachtet 34 • Erst wenn wir uns selbst mit unseren Methoden in Frage stellen und den Sinn unserer Arbeit tiefer bedenken, können wir auch unsere kritische Funktion sinnvoll ausüben. b) Die Exegese hat die positive Aufgabe, mit allen verfügbaren Mitteln und Methoden das herauszuarbeiten, was wir vom geschichtlichen Jesus wissen und wissen können. Manchmal wird bezweifelt, ob das möglich und ob das nötig ist. Darauf ist zu antworten: Es ist in einem Zur Hermeneutik gibt es inzwischen eine reiche Literatur. Für die Zusammenarbeit evangelischer und katholischer Exegeten ist beachtlich: W. Joest, F. Mußner, L. Scheffczyk, A. Vögtle, U. Wilckens, Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift? (Regens burg 1966); ferner vgl. F. M ußner, Geschichte der Hermeneutik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (Freiburg i.Br. 1970); P. Stuhlmacher, Neues Testament und Hermeneutik - Versuch einer Bestandsaufnahme, in: ZThK 68 (1971) 121-161. Zur kritischen Reflexion der Methoden vgl. K. Lehmann, Der hermeneutische Horizont der historisch-kritischen Exegese, in: J. Schreiner (Hrsg.), Einführung in die Methoden der biblischen Exegese (Würz burg 1971) 40-80; P. Stuhlmacher, Zur Methoden- und Sachproblematik einer interkonfessionellen Auslegung des Neuen Testaments, in: Ev.-Kath. Kommentar zum N euen Testament, Vorarbeiten 4 (Zürich - Neukirehen 1972) 11-55. 34
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bestimmten Ausmaß möglich. Wir wissen heute besser als früher um die Grenzen, die uns durch die Eigenart unserer Quellen gesetzt sind; aber nach einer Phase völliger Skepsis sind viele Forscher, nicht nur "konservative", zu der Einsicht gelangt, daß wir mit genügender Kritik und Vorsicht doch manches Wesentliche vom Auftreten und von der Botschaft Jesu erkennen können. Gewiß müssen dafür noch sorgfältiger die Kriterien für die ursprüngliche überlieferung, die "echten" Worte und Taten J esu herausgearbeitet werden; es bedarf einer methodisch hieb- und stichfesten "Kriteriologie". Aber in diese Arbeit sind wir bereits eingetreten, und ein klärender Prozeß ist im Gange 35 . Das Bemühen, bessere und zuverlässigere Erkenntnisse vom Auftreten Jesu im damaligen Judentum, seiner Botschaft und seinen Intentionen zu gewinnen, ist aber auch nötig. Die Forschungen zum zeitgenössischen Judentum, zu seinen Strömungen und Gruppierungen, seinen damals bewegenden Ansichten, namentlich auch zur sogenannten Apokalyptik 36 , zeigen, daß wir noch längst nicht alle Möglichkeiten erschöpft haben, um das Eigentümliche des Wollens Jesu zu erfassen und ihn selbst stärker zu profilieren. Je mehr es uns gelingt, die redaktionellen Schichten abzutragen, den Traditionsprozeß zurückzuverfolgen, die aus dem Glauben der urchristlichen Gemeinde hinzugewachsenen Elemente zu eliminieren, um so stärker werden wir durch das überwuchernde Gestrüpp der überlieferung zum Urgestein vordringen. Obwohl das historische Geschehen in das Kerygma der Urkirche eingegangen ist und nur als solches, im Glauben gedeutetes Geschehen theologische Relevanz besitzt, ist die Bedeutung des Historischen für Glaube und Kerygma groß genug, daß sich unsere Disziplin darum bemühen muß. Nur so kann es auch gelingen, den schon in der Urkirche einsetzenden Interpretationsprozeß schärfer zu erfassen und die zeitbedingten Auslegungen und Anwendungen der J esusbotschaft von den unaufgebbaren, glaubensrelevanten Aussagen zu unterscheiden. Vgl. die Beiträge von F. Lentzen-Deis und F. Mußner in diesem Buch. Vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus (Tübingen 1969); ferner das kürzlich erschienene instruktive Werk]. Maier-]. Schreiner (Hrsg.), Literatur und Religion, des Frühjudentums. Eine Einführung (Würzburg - Gütersloh 1973) (mit Bibliographie). Zur Apokalyptik ist eine notwendige Diskussion in Gang gekommen; vgl. besonders ]. M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik. Geschichte ihrer Erforschung (Neukirchen 1969); K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik (Gütersloh 1970); W. A. Beardslee, New Testament Apokalyptic in Recent Interpretation, in: Interpr 25 (1971) 419-435; neue Perspektiven eröffnet K. Müller, Die Ansätze der Apokalyptik, in: Maier-Schreiner, Literatur und Religion des Frühjudentums 31-42. 3S
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Wenn wir uns des theologischen Stellenwertes unserer historischen Nachforschungen bewußt bleiben, sind sie eine unentbehrliche Aufgabe, die wir im Rahmen der gesamten Theologie übernommen haben. Sonst können wir auch nicht jene kritische Funktion ausüben, von der die Rede war. Wie können wir z. B. gegen eine legalistische Auslegung der sittlichen Weisungen Jesu Stellung nehmen, wenn wir nicht nachweisen können, welche Stellung Jesus selbst zum jüdischen Gesetz und zur kasuistischen Gesetzesauslegung seiner Zeit eingenommen hat? Wie können wir unter dem Anruf unserer Zeit die im Evangelium J esu enthaltenen sozialkritischen Forderungen herausstellen, ohne seine Stellungnahme zu einzelnen Gruppen in seinem Volk, zu den herrschenden wie zu den unterdrückten und mißachteten, in den Blick zu bringen? Wie können wir etwas über Friedensbemühungen, Gewaltlosigkeit, Recht oder Unrecht einer Revolution im Licht des Evangeliums sagen, wenn wir nicht Jesu Einstellung zu den Zeloten, den Sinn seiner Tempelreinigung, die Tragweite der Worte zu Wiedervergeltung und Feindesliebe noch genauer erforschen? Auf diese Grunglagenforschung sind auch andere Disziplinen, wie die Moraltheologie, angewlesen. c) Die Exegese hat weiterhin die positive Aufgabe, mit den Mitteln philologischer, historisch-kritischer Forschung möglichst genau festzustellen, welchen Sinn die neutestamentlichen Texte, auch die zeitund situationsgebundenen der Briefliteratur, nach dem Verständnis ihrer Verfasser haben. Man hört bisweilen die Meinung, dieser Aufgabe, den Literalsinn herauszuarbeiten, habe sich die Exegese lange und ausgiebig genug gewidmet; heute sei das zu einer unfruchtbaren Beschäftigung geworden. Es komme nicht darauf an, noch größere Klarheit im Detail zu schaffen, noch dickere Kommentare zu schreiben, noch spitzfindiger die geringsten Textprobleme zu erörtern, sondern man müsse die Texte kritisch aus dem heutigen Horizont besehen und prospektiv für die heutigen Menschen erklären. Vorn letzten ist sogleich noch zu sprechen; aber wenn man die philologische Aufgabe, den von den Verfassern intendierten Sinn präzise zu erheben, für erledigt hält, ist das eine gefährliche Meinung. Jeder, der die Wandlungen exegetischer Erkenntnisse beobachtet und studiert, weiß, daß neue Weichenstellungen häufig von kleinen, exakten Untersuchungen am Text herkommen. Es ist der berühmte hermeneutische Zirkel: Man entdeckt 217
Einzelheiten oft nur, wenn man sich in der weiten Landschaft bewegt; aber bestimmte Einzelheiten können auch das ganze Landschaftsbild verändern. Auf keinen Fall dürfen wir die saubere Detailarbeit vernachlässigen. Für die Frage nach dem geschichtlichen Jesus hat auch die Untersuchung jener neutestamentlichen Schriften eine Bedeutung, die nicht unmittelbar die Jesustradition reflektieren. Sie geben indirekt Zeugnis von der Einbeziehung des geschichtlichen Jesus in den Horizont des Christusglaubens. Sie lassen erkennen, wie verschieden dieser Rückbezug war; denken wir etwa an die Anspielung auf J esusworte im J akobus brief oder an das in der Apokalypse festgehaltene Bild vom geschlachteten Lamm. Besonders instruktiv dafür ist Paulus. Nur gelegentlich bezieht er sich auf Worte Jesu, nicht zufällig gerade auf sittliche Weisungen, die ihm weiter als Wille des Herrn gelten (vgl.: 1 Kor 7,10; Gal 5,14; Röm 13,9; ferner Röm 12,14; 1 Kor 6,7). Dagegen erlangt der Kreuzestod Jesu für ihn ein solches theologisches Schwergewicht, daß Jesu sonstiges irdisches Wirken ganz zurücktritt. In dieser "genialen Einseitigkeit", die für den geschichtlichen Jesus einen besonderen, unübersehbaren Akzent setzt, sind ihm nicht alle neutestamentlichen Theologen gefolgt. Aber in der Verschiedenheit der Rückbezüge auf den irdischen Jesus liegt kein Widerspruch, eher ein Gewinn. Damit erhalten wir ein Anschauungs- und Vergleichsmaterial, wie unsere Zeit wieder in anderer Weise auf den geschichtlichen J esus zurückgreifen kann. d) Die Exegese hat aber auch eine prospektiv-kreative Aufgabe. Wenn wir die heutige Diskussion um Hermeneutik, Linguistik und sprachliche Kommunikation verfolgen, werden wir die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die sich dem Verstehen alter Texte und ihrem Verständlichmachen für heutige Menschen entgegenstellen. Bei den Glaubenstexten, die wir zu erklären haben, geht es ja nicht nur darum, ihren damaligen Sinn zu konstatieren und den Menschen unserer Tage rational begreiflich zu machen. Vielmehr müssen wir ihnen die gemeinte Sache so nahebringen, daß sie von ihr berührt und betroffen sind, daß eine innere Kommunikation mit den neutestamentlichen Autoren entsteht und eine Rezeption ihrer Glaubensaussagen möglich wird. Dies erfordert mehr als eine philologische Texterklärung, näm.lich ein Hinüberführen in den Verstehenshorizont unserer Zeit. In die218
ser Hinsicht ist das Unbehagen an unserer traditionellen Weise der Erklärung berechtigt und müssen wir noch viel hinzulernen. Wir dürfen die Aufgabe, die "fremde" Sprache der Bibel in die Sprache unserer Zeit zu übersetzen, ohne den heilsamen "Verfremdungseffekt" aufzuheben, sicher nicht nur den Katecheten und Homileten überlassen. e) Eine spezielle Aufgabe wächst der Exegese im Abbau konfessionell verengter Fragestellungen zu. Sie ist durch ihr Forschungsfeld, auf dem Vertreter verschiedenster Kirchen und Konfessionen arbeiten, wie kaum eine andere Disziplin auf Kooperation mit anderen christlichen Theologen angewiesen und durch die Konfrontation mit anderen Auffassungen zum Nachdenken angeregt, ob nicht geschichtlich bedingte Blickweisen überwunden und im gemeinsamen Bemühen überholt werden können. Die Arbeitsgruppe, die einen Evangelisch-Katholischen Kommentar zum Neuen Testament vorbereitet, hat zuletzt ihre Zielvorstellung so formuliert: "Die Exegese, die sich heute ohnedies nicht mehr in der gleichen Weise wie früher im Spannungsfeld konfessioneller Fragestellungen bewegt, muß die Rezeption ihrer Aussagen mitbedenken und wie die gesamte Theologie darum bemüht sein, den Verstehenshorizont heutiger Menschen zu erreichen. Darum soll versucht werden, vor allem das im Neuen Testament sachlich Gemeinte, letztlich die Wirklichkeit Gottes, transparent und kommunikabel zu machen. " Weiter heißt es, es sollten neue Impulse gegeben werden, um aus deskriptiver und retrospektiver Exegese zu kreativen und prospektiven Aussagen vorzudringen 37. Damit sind wir von grundsätzlichen überlegungen zur Bedeutung des geschichtlichen Jesus für Theologie und Kirche zu speziellen Aufgaben der Exegese in der heutigen Zeit vorgedrungen. Es ist ein weit gespannter Bogen von Fragen und Aufgaben, der sich vor uns erhebt. Aber im Grund ruht er auf den zwei Fragen auf, die Jesus nach der urchristlichen überlieferung seinen Jüngern und unter ihrer Adresse allen Späteren, auch uns Exegeten stellt: "Für wen halten mich die Menschen?" und "Für wen haltet ihr mich?" Wenn wir uns auf die Fragen der heutigen Menschen einlassen, die sie aus ihrem Verstehenshorizont aufwerfen, werden wir mit Macht 37
Vorwort zu EKK 4 (s. Anm. 34) 6.
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auf den geschichtlichen J esus verwiesen und sind ihnen als Exegeten eine Antwort schuldig. Wir werden dann mit unserem eigenen, wissenschaftlich verantworteten Urteil und unserem Bekenntnis nicht zurückhalten dürfen. Aber wir müssen uns auch selbst ständig von diesem Jesus in Frage stellen lassen. Dabei treten wir immer neu in die Spannungsfelder von historischer Erkenntnis und Anforderung des Glaubens, von kirchlicher Tradition und theologischer Progression, von gläubiger Theorie und Praxis des christlichen Lebens. Der irdisch-geschichtliche J esus dynamisiert uns als lebendig fortwirkender Christus zu immer stärkerer Durchdringung seiner Botschaft, zum Ausschöpfen seiner nie erschöpften Sinnfülle und nicht zuletzt zur Realisation dessen, was er zu unserem und aller Menschen Heil gewollt, getan und gelitten hat.
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AUTORENREGISTER
Aufgeführt sind die in den vorliegenden Beiträgen zitierten Autoren mit ihren Arbeiten in Kurztiteln. Die Zahlen beziehen sich auf die Seitenziffern. Zudem sei auf das Literaturverzeichnis von F. Mußner S. 145-147 verwiesen. Achterneier, P. J.: Isolation 181 - Origin 181 Anderson, C. c.: Quests 79 Aron, R.: Introduction 87 Arthur, H. K. Me: Issues 3335 - Search 93 Baird, J. A.: Audience 125 Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit 89 Bammel, E.: Trial 148 Barbour, R. S.: Criticism 32 Bartholomäus, W.: Evangelium 209 Bauer, G.: "Geschichtlichkeit" 78 Bauer, G. L.: Mythologie 96 Bauer, W.: Rechtgläubigkeit 106 Baumbach, G.: Jesus 127 Baumgartner, H. M.: Kontinuität 144 Beardslee, W. A.: New Testament 216 Berger, K.: Amen - Worte 35 - Geschichte 35 - Gesetzesauslegung 44 108 109 - Materialien 108 109 Bernheim, E.: Lehrbuch 8895 96 103 Betz, H. D.: Logion 23 - Jesus 181 Biehl, P.: Frage 61 Biser, E.: Grenzen 209 Black, M.: Appraoch 1636 - Erforschung 21 Blank, J.: Jesus 56 68 75 Blinzler, J.: Prozeß 41 148 171 Bogatyrev, P.: Folklore 124 Bornkamm, G.: Jesus 43 46 49 51 66 Bousset, W.: K yrios 202 Brandon, S. G. F.: Trial 148 Braun, H.: Jesus 55 76 133
Brocke, M.: Judentumsbild 132 Brox, N.: Selbstbewußtsein 49 Bülfinger, G. B.: Spinosae 85 Buess, E.: Geschichte 199 Bultmann, R.: Geschichte 20 98 114 153 177 184 185 - Theologie 41 49 70 200 - Verhältnis 53 - Evangelium 181 - Neues Testament 199 - Jesus 98 Burchard, Chr.: Jesus 30 34 38 Burney, C. F.: Poetry 36 Calvert, D. G. A.: Examination 33 93 Catchpole, D. P.: Trial 41 148 Christ, F.: Jesus 201 Collingwood, R. G.: Idea 82 87 Colpe, c.: Spruch 133 - Schule 200 - New Testament 200 Conzelmann, H.: Jesus 33 47 49 - Methode 47 48 - Mitte 66 - Grundriß 72 Cullmann, 0.: Jesus 42 Curtius, E. R.: Literatur 81 Dahl, N. A.: Jesus 30 347499 - Messias 42 51 - Parables 46 Dalmann, G.: Worte 35 Delling, G.: Jesus 62 Dibelius, M.: Formgeschichte I 192066 138206 - Formgeschichte II 27 - Jesus 42 Dodd, C. H.: Founder 59 Downing,F. G.: Church 14 32 Dupont, J.: Ambassade 184 Ebeling, G.: Wort 56 - Frage 61 65 - Wesen 67 - Bedeutung 79
Eliade, M.: Heilige 200 - Mythen 200 Ernst, J.: Anfänge 205 Evans, C. F.: Jesus 59 Faber, K.-G.: Theorie 95 96 Fitzmyer, J. A.: Wahrheit 214 Flessmann- von Leer, E.: Interpretation 168 Flusser, D.: Philologie 17 Fortna, R. T.: Gospel 181 Fries, H.: Mythos 200 Fuchs, E.: Frage 41 56 - Jesus 56 Fuller, R. H.: Foundations 50 Gadamer,H. G.:Wahrheit 81, 88 Gerhardsson, B.: Memory 22 - Tradition 22 Geiger, W.: Spekulation 86 Gnilka, J.: Jesus 50195206 - Verhandlungen 149 162 Gogarten, F.: Entmythologisierung 75 Gooch, G. P.: History 88 111 Goossens, c.: Liberte 91 - Methode 91 Goppelt, L.: Messias 70 Gräßer, E.: Messias 42 - Naherwartung 69 Grant, F. c.: Authenticity 33 Grillmeier, A.: Konzil 144 Güttgemanns, E.: Fragen 27 121 138 140 141 - "Text" 144 Gunkel, H.: Grundprobleme 137 - Formen 137 - Schriften 138 - Literaturgeschichte 137 Gutierrez, G.: Theologie 212 Hahn, F.: Frage 12 68 - Bildworte 24 - Petrusverheißung 25 - Hoheitstitel 42 47 50 181 184 196 204 - Nachfolge 47
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- Verständnis 48 - Probleme 57 80 - Methodenprobleme 18 66 68 - Sehen 129 Hartlich, C. H.: Ursprung 199 Harvey, A. van: Frage 59 Hasler, V.: Amen 36 Hazard, P.: Crise 80 83 86 Heitsch, E.: Aporie 65 Held, H. J.: Matthäus 14 Hengel, M.: Jesus 42 - Ursprünge 48 - Nachfolge 50 - Christologie 166 - Judentum 216 Heussi, K.: Krise 87 Hirsch, E.: Geschichte 86 Hoffmann, P.: Studien 119 184 185 187 188 195 - Anfänge 195 - Theologie 206 207 Horning, G.: Anfänge 86 Horstmann, M.: Studien 205 Hübner, H.: Gesetz 44 Hünermann, P.: Durchbruch 88 Hundsnurseher, F.: Methoden 142 Jaspers, K. : Frage 199 Jeremias, J.: Theologie 16 23 28 35 36 50 71 99 184 187 - Gleichnisse 21 35 46 71 138 - Kennzeichen 35 - Problem 71 - Hypothese 119 - Lösegeld 136 Joest, W.: Auslegung 79 215 Jung, C. G.: Einführung 200 Jüngel, E.: Paulus 46 Kähler, M.: Jesus 62 Käsemann, E.: Problem 3335 43 58 66 96 98 99 132 - Sackgassen 65 66 72 181 - Wille 129 198 - Sätze 136 - Theologie 197 Kasper, W.: Glaubensbuch 76 Keck, L. E.: Future 59 80 Kee, H. c.: Jesus 59 Kertelge, K.: Jesus 67 - Wunder 1110,189 - Wunder 11 174 Kessler, H.: Bedeutung 207 Kirn, P.: Einführung 95 Kittel, G.: Probleme 124
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Kjolseth, R.: Soziologie 130 Klatt, W.: Gunkel 137 Koch,K.:Formgeschichte 137 138 - : Apokalyptik 216 Köhler, L.: Problem 13 Köster, H. - Robinson, J. M.: Entwicklungslinien 103 181 182 - Jesus 107 Koselleck, R.: Kritik 79 - Geschichte 122 144 Kramer, W.: Christos 204 Kraus, H.-J.: Geschichte 79 82 86 87 91 96 - Theologie 86 Kümmel, W. G.: Theologie 30 - Jesusforschung 32 - Anspruch 49 - Diakritik 52 - Neues Testament 79 86 87 89 90 91 92 - Problem 93 Kuhn, H. W.: Sammlungen 150181 - Enderwartung 189 Kuhn, K. G.: Achtzehngebet 36 Lämmert, E.: Bauformen 123 Leeuw, G. vander: Bedeutung 200 Lehmann, K.: Horizont 80 86 215 - Erscheinungen 123 Lehmann, M.: Quellenanalysen 32 33 34 93 96 97 98 99 100 104 Lentzen-Deis, F.: Wunder 99 107 - Taufe 115 - Motiv 115 Lenz-Tiede, D.: Figure 116 Lessing, G. E.: Beweis 55 Leon-Dufour, X.: Evangiles 91 117 Liebing, H.: Theologie 86 Linnemann, E.: Studien 131 149 154 Lohse, E.: Geschichte 148 Logenecker, R. N.: Christology 205 Lonergan, B.J.F.: Method 78 88 111 117 Lotmann, J. M.: Struktur 142 Lührmann,D.: Redaktion 119 184 195
Mack, B. L.: Wisdom 201 - Logos 201 MacRae, G. W.: Background 201 Maier, J.: Literatur 216 Malet, A.: Traite 85 Malinowski, B.: Myth 200 Manson, T. W.: Teaching 35 Marin, L.: Semiotique 79 Marle, R.: Mythos 200 Marrou, H. J.: Connaissance 88 - Theologie 88 Meinecke, F.: Entstehung 87 103 Metz, J. B.: Erinnerung 207 - : Erlösung 207 Meyer, R.: Prophet 181 - :JtQOtpT)"CT), 181 Mirri, F. S.: R. Simon 86 Moltmann, J.: Gott 207 Moule, C. F. D.: Phenomenon 59 Müller, G.: Bedeutung 122 - Erzählzeit 122 Müller, K.: Ansätze 216 Müller, P. G.: XQLatO, 143 Mußner, F.: Jesus 16 - Sehweise 25 129 206 - Wunder 28 110 134 175 - Jesus 11 33 34 49 - Krise 42119 - Wege 49 133 - Homologese 60 143 - Sache 69 - Ablösung 119 121 - Auferstehung 123 - Jude 132 - facta 28, 175 - Geschichte 215 Neirynck, F.: Duality 150161 Neugebauer, F.: Geistsprüche 25 136 Nicol, W.: Semeia 181 Niederwimmer, K.: Jesus 17 41 55 - Joh. Markus 155 Nolte, J.: Sache 173 Olivier, P. B.: Theologie 213 Pannenberg, W.:Grundzüge60 - Christentum 200 201 Patsch, H.: Abendmahl 136 Perrin, N.: Jesus 28 30 33 34 35 5965 134 189 191 - Kingdom 93 - Rediscovering 93 99
Peseh, R.: Taten 289399 110 175 179 183 184 185 186 - Bedeutung 28 179 - Salbung 149 154 158 161 - Verleugnung 149 158 171 - Messias 150 - Schluß 150 - Levi -Matthäus 151 - Naherwartungen 154 156 - Christus 172 - Entstehung 172 - Lehre 189 190 Peseh, W.: Jesus 195 Petzke, 'G.: Historizität 180 Plümacher, E.: Lukas 130 Polag, A.: Bemerkungen 34 42 - Christologie 119 195 - Stufen 195 Popkes, W.: Christus 207 Post, W.: Ideologie 202 Potterie, I. de la: Olöa 129 Preuss, K. Th.: Gehalt 200 Rahner, H.: Mythen 200 Rahner, K.: Christologie 130 - Ideologie 202 - Exegese 214 Ranke, 1. von: Werke 88 Ratzinger, J: Konzil 203 Rengstorf, K. H.: OTJI!Eiav 178 Reumann, J: Jesus 59 Richter, G.: Fleischwerdung 198 - Blut 198 - Vater 198 Richter, W.: Exegese 27 141 151 Ricceur, P.: Conflit 117 RiesenfeId, H.: Gospel 22 - Bemerkungen 30 Rinaldi, B.: Presenzia 207 Robinson, J. M.: Kerygma 56 5968 93 Rohde, J: Methode 24 Roloff, J: Markusevangelium 66 - Kerygma 66 80 93 183 - Anfänge 136 Rüger, H. P.: Problem 21 Ruppert, 1.: Jesus 169 206 Schäfer, R.: Jesus 13 56 Schaller, B.: Sprüche 137 Scheffczyk, 1.: Erlösung 212 Schelkle, K. H.: Theologie 205 Schenke, H. M.: Gott 200 Schenke, 1.: Studien 149 , Schille, G.: Prolegomena 13 1i 30 38 52
Schlier, H.: Anfänge 143 - Neues Testament 200 Schmid, J: Einleitung 91 Schmid, S. J: "Text" 144 Schmidt, J M.: Apokalyptik 216 Schmidt, K. 1.: Rahmen 158 SchmiedeI, P. W.: Gospel 97 Schmithals, W.: Bekenntnis 13 - Antwort 63 Schmitz, J.: Fundamentaltheologie 75 Schnacken burg, R.: Christologie 50205 - Johannesevangelium 12) - Gemeinde 194 - Johannesbriefe 198 - Offenbarung 206 Schneider, G.: Passion 149152 153 170207 - Verhaftung 149 - Frage 195 - Passion II 208 Scholder, K.: Ursprünge 79 83 84 85 86 Schottrof, 1.: Glaubende 198 Schreiber, J.: Markuspassion 149 Schreiner, J: Gestalt 195 - Einführung 215 Schubert, K.: Kritik 148 Schürmann, H.: Reminiszenzen 15 - Anfänge 17 105 121 138 - Sprache 20 - Jesus 3951 105 116 117 136 148 - Evangelienschrift 125 - Abendmahlshandlung 175 - Lukasevangelium 184 186 - Symbolhandlungen 46 Schulz, S.: Frage 18 38 - Spruchquelle 107 114 119 184 185 187 195 205 206 - Stunde 195 Schweitzer, A.: Geschichte 47 5558 8789 97 Schweizer, E.: Jesus 50 205 - Frage 65 Seckler, M.: Plädoyer 179 Slenczka, R.: Geschichtlichkeit 54 63 75 88 89 Soiron, T.: Logia 119 Stählin, G.: Gleichnishandlungen 46 Steck, 0.: Israel 206
Stempel, W. D.: Möglichkeiten 122 Strauß, D. F.: Leben 97 Strauß, 1.: Religionskritik 85 Strecker, G.: Problematik 13 4666 - Weg 66 - Bedeutung 79 Strobel, A.: Jesusforschung 49 Stuhlmacher,P.: Marginalien 56 - Neues Testament 80 84 86 215 - Thesen 80 94 - Evangelium 184185 187189 - Methodenproblematik 215 Suggs, M. J: Wisdom 201 Suhl, A.: Funktion 168 Taylor, V.: Gospel 166 189 Theißen, G.: Ergänzungsheft 32 Thüsing, W.: Zugangswege 31 - Gottesbild 51 - Erhöhungsvorstellung 205 Thyen, H.: Positivismus 150 Trilling, W.: Geschichte 38 - Fragen 70 148 Troerne, E.: Jesus 22 Troeltsch, E.: Historismus 87 Trümpy, H.: Kontinuität 144 Viering, F.: Bedeutung 207 - Verständnis 207 Vögtle, A.: Jesus 31 - "Theo-Iogie" 48 - Erwägungen 50 - Wunder 110 183 185 189 - Spruch 123 - Rivelazione 200 Wach, J.: Verstehen"87 111 Walker, R.: Heilsgeschichte 66 Wegener, H.: Krise 80 Weintich, H.: Tempus 122 Weiß, J: Predigt 56 104 Westermann, C.: Sinn 144 Wilckens, U.: Auslegung 79 - Auferstehung 149 169 Windisch, H.: Jesus 92 - Problem 92 Winkler, G. B.: Erasmus v. R. 94 Winter, P.: Trial 41 Wolter, H.: Bildung 81 82 Yamauchi,E.: Gnosticism 201 Zac, G.: Spinoza 85 Zenger, E.: Beispiel 151 Zimmermann, H.: Jesus 64 65 74195 - Methodenlehre 13 8
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