DieLiebeim Neuen Testament Ein Beitrag zur Geschichte des Urchristentums
Monographien und Studienbücher Wilhelm Lütger...
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DieLiebeim Neuen Testament Ein Beitrag zur Geschichte des Urchristentums
Monographien und Studienbücher Wilhelm Lütgert (1867-1938) , ein Schüler Hermann Cremers , war Professor für Systematik und NeuesTestament in Greifswald, Halle (als Nachfolger von Martin Kähler) und Berlin . Er war neben Adolf Schlatter Jahrzehnte hindurch Mitherausgeber der "Beiträge zur Förderung christlicher Theologie" . Sein Hauptwerk "Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende" (Nachdruck Hildesheim 1967) gilt bis heute als Standardwerk. Weitere wichtige Werke: "Natur und Geist Gottes" (1910), "Reich Gottes und Weltgeschichte" (1928) , "Schöpfung und Offenbarung" (1934) , "Ethik der Liebe" (1938) .
Mit der vorliegenden Arbeit gelang Wilhelm Lütgert 1905 gewissermaßen eine Ergänzung zu der preisgekrönten Schrift von Adolf Schlatter "Der Glaube im NeuenTestament" (1885) , nämlich die Erhellung eines zentralen neutestamentlichen Begriffs. Aus dem Inhalt: - Die Liebesübung in der palästinensischen Synagoge - Der Einfluß des Hellenismus auf das Verständnis und die Erfüllung des Liebesgebotes - Die Liebe in den synoptischen Evangelien - Die Liebe im Johannesevangelium - Die Liebe in der ersten Gemeinde - Paulus - Die Pastoralbriefe - Paulus und Jesus - Die katholischen Briefe und der Hebräerbrief - Liebe und Zorn in der Apokalypse
Auch nach über 80 Jahren ist die Arbeit W. Lütgerts in weiten Bereichen nicht überholt. Dem Buch ist eine sachkundige Einführung von Dr. Werner Neuer vorangestellt. ISBN 3-7655-9237-4
Wilhelm Lütgert Die Liebe im Neuen Testament
Wilhelm Lütgert
Die Liebe im NeuenTestament Ein Beitrag zur Geschichte des Urchristentums
BRUNNEN VERLAG GIESSEN/BASEL
DieTHEOLOGISCHEVERLAGSGEMEINSCHAFT(TVG) ist eine Arbeitsgemeinschaft derVerlage Brunnen Gießen und R. Brockhaus Wuppertal. Sie hat das Ziel, schriftgemäße theologische Arbeiten zu veröffentlichen.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Lütgert, Wdhelm: Die Liebe im NeuenTestament: E. Beitr. zur Geschichte d. Urchristentums / Wilhelm Lütgert. - Nachdr. d. Aufl. Leipzig, Deichert, 1905. Giessen; Basel: Brunnen-Verlag, 1986. ISBN 3-7655-9237-4
Nachdruck der 1. Auflage von 1905 erschienen beiA. Deichert, Leipzig © 1986 Brunnen Verlag Gießen
Umschlag: Martin Künkler Herstellung: Weihert-Druck, Darmstadt
EINFÜHRUNG Wilhelm Lütgerts 1 Untersuchung "Die Liebe im NeuenTestament" darf auch über 80 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung als bahnbrechende exegetische Studie gelten: Sie ist nicht nur die erste ausführliche Gesamtdarstellung der Liebe im NeuenTestament innerhalb der deutschsprachigen evangelischen Theologie, sondern blieb bis auf den heutigen Tag die einzige umfassende Behandlung dieses Themas durch einen evangelischen Exegeten!2 Diese auffällige Vernachlässigung einer theologisch derart wichtigen Thematik in der protestantischen Exegese scheint im Nachhinein Lütgerts Eindruck zu bestätigen, daß in der mangelnden Bemühung um eine "Theologie der Liebe" eine der entscheidendsten Schwächen der evangelischen Theologie liege. 3 Um einen Beitrag zur Überwindung dieses Defizits zu leisten, schrieb Lütgert - angeregt von seinem Lehrer Adolf Schlatter4 - dIe vorliegende Studie. Sie war für ihn gleichzeitig der Auftakt zu einer lebenslangen Beschäftigung mit dem neutestamentlich-christlichen Verständnis der Liebe, die sich in seinem 1938 veröffentlichten letzten systematischen Werk "Ethik der Liebe" vollendete. 5 An sich läßt sich die Veröffentlichung des vorliegenden Werkes schon durch die Tatsache rechtfertigen, daß damit die bislang (zumindest im deutschsprachigen Raum) einzige evangelische Gesamtdarstellung der
Zu Leben und Werk Wilhelm Lütgerts vgl. meine Einführung in: W. Lütgert, Schöpfung und Offenbarung. EineTheologie des erstenArtikels, Giessen/BaseJ21984, 3*-16*. 2 Die Behandlung des Themas beschränkte sich seither im Wesentlichen auf Aufsätze, Lexikonartikel (z.B. imThWNT) oder Kurzdarstellungen innerhalb derzurTheologie und Ethik des Neuen Testaments erschienenen Literatur. Auch die Untersuchung von A. Brieger, Die urchristliche Trias Glaube, Liebe, Hoffnung (Heidelberg 1925) kann nicht als Gesamtdarstellung der "Liebe im Neuen Testament" gelten. Das berühmte Werk des schwedischen Theologen Anders Nygren, Eros und Agape, I. u. 11., Gütersloh 1930 u. 1937 wird man weit eher als systematische denn als exegetische Studie bezeichnen müssen. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die katholischeTheologie allein nach dem zweiten Weltkrieg mehrere bedeutende exegetische Gesamtdarstellungen zur neutestamentlichen Lehre von der Liebe hervorgebracht hat: W. Warnach, Agape. Die Liebe als Grundmotiv der neutestamentlichen Theologie , Düsseldorf 1951; C. Spicq, Agape dans le Nouveau Testament, I-lU, Paris 1958/59; A. Penna, Amore nella Bibbia, Brescia 1972. 3 Vgl. dazu meine in Anm. 1 erwähnte Einführung, 7*-9*. 4 Vgl. den unveröffentlichten Brief Lütgerts an Adolf Schlatter vom 14.5.1937 (SchlatterArchiv-Nr.421). 5 W. Lütgert, Ethik der Liebe, BFChTh 2/39, Gütersloh 1938. Vgl. auch LütgertsArtikei "Liebe", in: RGG2 III, 1638-1641. 1
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Liebe im Neuen Testament wieder für die Öffentlichkeit greifbar wird. Bedenkt man darüber hinaus die kaum zu überschätzende theologische Bedeutung der von Lütgert behandelten Thematik , bekommt dieser Gesichtspunkt noch größeres Gewicht. Geht es doch nicht nur darum, eine bedauerliche Lücke im gegenwärtigen Angebot theologischer Literatur zu füllen, sondern ein Standardwerk zu einem der wichtigsten Themen neutestamentlicher Theologie bereitzustellen. Letztlich ausschlaggebend aber für eine Neuherausgabe von Lütgerts Studie ist die Tatsache, daß man dieses Werk auch heute noch als wohlgelungen bezeichnen mußwohlgelungen deshalb, weil hier sowohl das rabbinische als auch das neutestamentliche Material in einer gut lesbaren,umfassenden und systematisch-theologisch reflektierten Gesamtschau dargelegt wird. Lütgerts Untersuchung bestätigt das Urteil des GreifswalderTheologen Hermann Cremer, Verfasser des bedeutenden "Biblisch-theologischen Wörterbuchs der neutestamentlichen Gräzität" (Gotha 91902), daß Lütgerts "Begabung für Exegese ... eine mehr und mehr sich als hervorragend herausstellende (ist) ... , zumal er alle Exegese dogmatisch verwertet, ja dogmatisch betreibt". 6 Gerade heute, wo die Exegese in eine kaum noch übersehbare Fülle von historischen Spezialuntersuchungen zu zersplittern droht, könnte Lütgerts im besten Sinne theologische Auslegung neutestamentlicher Texte fruchtbare Impulse geben für eine wieder stärker an den theologischen Grundfragen ausgerichtete Exegese. Daß in Anbetracht der voranschreitenden exegetischen Wissenschaften Lütgerts Werk 80 Jahre nach seinem ersten Erscheinen hier und dort der historischen Korrektur oder Präzisierung bedarf, ist ebenso selbstverständlich wie die Tatsache , daß ein so zentrales und umfassendes Thema wie die "Liebe im NeuenTestament" auch in theologischer Hinsicht noch weiterer Ausdeutung fähig ist, als es in LütgertsWerk geschehen konnte. Lütgert war sich der Grenzen einer solchen Arbeit zu sehr bewußt,? als daß er den nie einlösbarenAnspruch auf eine "abschließende" Behandlung desThemas erhoben hätte. Er wollte vielmehr- wie der Untertitel erkennen läßt - nur einen (allerdings gewichtigen) "Beitrag zur Geschichte des Urchristentums" liefern. Daß dieser Beitrag in der evangelischen
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Brief Hermann Cremers an Adolf Schlatter vom 30.1.1898, in: Stupperich (Hg.). Vom biblischen Wort zur theologischen Erkenntnis, Hermann Cremers Briefe an Adolf Schlatter und Friedrich von Bodelschwingh (1893-1903); Bethe11954, S. 64. Vgl. S. VII Anm. 2
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Exegese nach dem Zweiten Weltkrieg erstaunlich wenig Beachtung fand, 8 kann seine grundlegende Bedeutung nicht in Frage stellen, sondern unterstreicht nur die Dringlichkeit, Lütgerts Untersuchung im gegenwärtigen und zukünftigen theologischen Gespräch nicht weiter zu ignorieren. Die bahnbrechende Bedeutung von Lütgerts Werk fand übrigens in der ihrerseits grundlegenden (über 700 Seiten umfassenden) Monographie des katholischen Theologen Viktor Warnach "Agape"9 durch über 60 (meist positive) Verweise und Zitate die ihr gebührende Anerkennung. Zum Inhalt von Lütgerts Untersuchung braucht hier nicht viel gesagt zu werden. Gedankenführung und sprachlicher Ausdruck Lütgerts dürften auch dem heutigen Leser hinreichend verständlich sein, auch wenn sich die Forschungssituation inzwischen gewandelt hat. Von besonderer Bedeutung für die gegenwärtige Theologie (insbesondere für die in der ethischen Grundlagendiskussion verhandelte Frage nach der inhaltlichen Besonderheit des christlichen Ethos') scheint mir Lütgerts Versuch zu sein, die materiale Neuheit des neutestamentlichen Liebesgebotes, den spezifisch christlichen, nicht in ein allgemein-menschliches Ethos einebenbaren Charakter der neutestamentlichen Agape herauszuarbeiten. Besondere Hervorhebung verdient auch sein Bemühen, die christliche Agape nicht nur als Gebot, sondern auch als eine in der Erlösung Christi enthaltene, dem Christen angebotene gnadenhafte Wirklichkeit deutlich werden zu lassen: Jesu "Werk ist nicht nur das Liebesgebot, sondern die Liebe ... Jesus ist nicht ein Denker, der ein Problem löst, sondern ein Täter, der eine Aufgabe löst" (S. 268f). Erst Jesus überwindet nach Lütgert die vorchristliche Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit, Liebe und Gottesdienst, Liebe und Furcht, Liebe und Zorn, erst die von Jesus gebotene und geschenkte Liebe ermöglicht eine gereinigte Mystik, Askese und Zucht (S. 269-275). Die christliche Liebe "trägt das Kennzeichen der Liebe Christi an sich, durch welche sie geweckt ist" (S. 275) und ist deshalb unverwechselbar. Trotz aller (von Lütgert nicht geleugneten) Berührupgspunkte unterscheidet sie sich wesentlich von den
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Vgl. die Nichterwähnung von Lütgerts Untersuchung in den Artikeln "Liebe" in RGG3 IV, 364-369 und im EKL II, 1096-1099 oder auch in den Darstellungen zur "Ethik des Neuen Testaments" des NTD (Ergänzungsreihe 4) von H.-D. Wendland (Göttingen 1970) und Schrage (Göttingen 1982). S.o. Anm. 2. Lütgert ist in Warnachs Untersuchung nach den großen "Denkern der Liebe" Augustinus und Thomas von Aquin unter nahezu 700 angeführten Autoren der meistzitierte Theologe! Warnach hat auch Lütgerts "Ethik der Liebe" und seinen Artikel "Liebe" in RGG2 berücksichtigt (s.o. Anm. 5).
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vor- und außerchristlichen Gestalten der Liebe, da sie im Unterschied zu diesen aus der Realität der am Kreuz Christi geschehenen Erlösung entsteht: Als aus dem Erlösungshandeln Jesu erwachsende Liebe ist sie nicht einfach nur eine Steigerung der natürlichen, unerlösten Liebe, vielmehr setzt sie als vom Kreuz Christi gezeichnete Liebe letztlich den" Untergang der natürlichen Liebe und des Egoismus", den "Tod des ,Ich'" voraus (ebd). So grundlegend sich die Sittlichkeit des Erlösten von der des unerlösten Menschen unterscheidet, so grundlegend unterscheidet sich nach Lütgert auch die dem Christen geschenkte und gebotene Agape von der vorchristlichen Liebe. Lütgert bestätigt in seiner Weise die Position jenerTheologen, die von einem spezifisch christlichen Ethos und einer spezifisch christlichen Gestalt der Liebe ausgehen. 10 Seine Untersuchung stellt all jene Positionen in Frage, welche die christliche Ethi.k nur in ihrer Begründung, nicht aber in ihrem Inhalt von einer bloß humanen Ethik unterscheiden. Es wäre um der hohen Bedeutung des hier verhandelten Themas willen zu wünschen, daß Lütgerts anregende und in vieler Hinsicht auch herausfordernde Arbeit nicht nur von der gegenwärtigen Exegese, sondern auch von der systematischen Theologie ernsthaft zur Kenntnis genommen würde. Denn es gehört zweifellos zu den wichtigsten Aufgaben der christlichen Theologie, der Christenheit Anleitung zum rechten Verständnis und zur glaubhaften Verwirklichung jener Liebe zu geben, an der die Welt die Jünger Jesu zu erkennen vermag (Joh 13,35). Gomaringen, in der Passionszeit 1987
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Werner Neuer
In neuerer Zeit fand diese Position beispielsweise durch Hans Halter eine umfassende exegetische Begründung: H. Halter, Taufe und Ethos. Paulinische Kriterien für das Proprium christlicher Moral, Freiburg/Basel/Wien 1977. Zum Problem vgl. auch meine Dissertation: Der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik bei Adolf Schlatter. Eine Untersuchung zur Grundlegung christlicher Ethik, GiessenlBasel1986, 297 -304 (v.a. 302f) und die ebd. 388 inAnm. 2 angegebene Literatur.
Vorbemerkungen. Die Bedeutung, welche der Liebe in der ersten christlichen Gemeinde zukommt, ist allgemein anerkannt: sie ist ein charakteristischer Zug der christlichen Frömmigkeit. Um so auffallender könnte es erscheinen, daß es an einer wissenschaftlichen Untersuchung über die Liebe im Neuen Testament bisher fehlt. Auch die Literatur, die sich mit der Liebe als einem psychologischen, sozialen und religiösen Problem. beschäftigt, ist mit der ausgedehnten und eindringenden Arbeit, die der Glaubensfrage gewidmet ist, nicht zu vergleichen. Über den Glauben gibt es - wenn auch nicht Erkenntnisse, die man als anerkannte Ergebnisse der theologischen Arbeit ansehen könnte - so doch eine Anzahl von Fragestellungen, die· aller theologischen Arbeit gemeinsam sind. Die Fragen über Glauben und Wissen, Glauben und Handeln, Vorsehungsglauben und Versöhnungsglauben, über Grund und Ziel des Glaubens werden immer neu untersucht. Ähnliche gemeinsame Probleme gibt es in Bezug auf den Liebesgedanken noch nicht. Und doch hat er in der Kirche eine reiche Geschichte. Das Hinüberschlagen jüdischer Gedanken und Tendenzen in die alte Kirche, das Verhältnis von Liebe und Askese, der sehr reiche und bestimmte Liebesgedanke Augustins und dessen Geschichte in der mittelalterlichen Kirche, die Zurückdrängung desselben durch die Glaubenspredigt der Reformatoren, die Liebe in der reformatorischen Predigt und daneben die Nachwirkung des Augustinismus in der protestantischen Mystik, die Verschmelzung des christlichen Lieliesgebots mit der antiken Humanitätsidee, die Trennung und
-xschließlich der Kampf dieser beiden verschiedenen religiösen Strömungen in der neueren Zeit - das alles sind geschichtliche Probleme von großer Bedeutung, die gleichwohl der Bearbeitung noch harren. Geschichtlich ist dieser Mangel jedoch wohl verständlich. Er hat seinen Grund darin, daß der Verlauf der protestantischen Dogmengeschichte die Aufmerksamkeit auf andere Fragen gerichtet und bei ihn~ festgehalten hat. Besonders wird das theologische Interesse durch die Glaubensfrage absorbiert und pflegt sich in der Erörterung derselben zu erschöpfen. Darin zeigt sich, daß die religiösen Fragen der Reformationszeit die Theologie immer noch beherrschen. Die reformatorische Theologie beschäftigt sich lediglich mit der Glaubensfrage, sie ist "Lehre vom Glauben." Die anderen Stücke der Frömmigkeit, die Furcht, die Erkenntnis, die Buße, die Liebe, das Gebet werden in der protestantischen Theologie traditionell nur so weit untersucht, als ihr Verhältnis zum Glauben in Frage kommt. Und doch sind sie nicht nur in dieser Beziehung Probleme, speziell die Liebe schließt eine Reihe konkreter geschichtlicher, psychologischer und theologischer Probleme in sich. Die hiermit gestellte Aufgabe wird auch darum nicht in Angriff genommen, weil hier das Vorurteil störend eingreift, daß die religiösen Vorgänge in einer gewissen Spannung zur Erkenntnis stünden, da es sich bei ihnen um Stimmungen handelte, die sich der Beobachtung entzögen. Auch die Mängel der traditionellen Psychologie, besonders der Psychologie des Willens, wirken hier mit. Schon die Fragestellung, durch welche bestimmte Probleme fixiert werden, wird durch diese Sachlage gehindert. Die in der Liebe liegenden Probleme werden zu greifbaren und lösbaren Aufgaben nicht als psychologische, sondern als historische Probleme. Liebe ist Wille und Tat, und darum macht sie Geschichte und stiftet Gemeinschaft, wie sie wiederum Ertrag der Geschichte ist. In dieser Geschichte liegt sie als eine für die Beobachtung zugängliche Tatsache vor. Es handelt sich also zunächst um eine geschichtliche Untersuchung. Wo diese einzusetzen hat, kann nicht zweifelhaft sein. Die Liebe ist aus einem Ideal zu einer geschichtlichen Macht, aus einer Lehre zum Willen und zur Tat geworden durch die Geschichte Jesu und in der ersten christlichen Gemeinde. Daß
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diese Geschichte in irgend einem Grade epochemachend für die Liebe geworden ist, wird meistens anerkannt. Die Bedeutung zu untersuchen, die die Geschichte des Urchristentums für die Liebe hat, ist das Thema der folgenden Untersuchung. Die Aufgabe ist nicht eine sprachgeschichtliche ,1) philologische oder exegetische, sondern eine geschichtliche im eigentlichen Sinne des Wortes, für die alle exegetischen Einzeluntersuchungen nur als Vorarbeiten in Betracht kommen, die in die geschichtliche Darstellung nicht hineingehören. Es handelt sich im folgenden nicht bloß um eine Geschichte des Liebesgebots oder des Liebesgedankens, sondern um eine Geschichte der Liebe selbst. Die Hauptaufgabe bleibt deshalb derjenige Teil der Untersuchung, der sich mit der Geschichte Jesu beschäftigt, und zwar steht vor und über dem Liebesgebot als die eigentlich wirksame Geschichte die Liebesübung Jesu selbst, denn aus ihr ist die Liebe in der christlichen Gemeinde entstanden. Die Aufgabe erforderte, da in der Liebe das Innerste der Person mit dem äußeren Ergebnis des Lebens, dem "Werk" zusammengefaßt wird, eine vollständige Darstellung des Christusbildes in den beiden uns vorliegenden Typen. Ebenso wird notwendig eine Darstellung der Liebesübung des Paulus - denn um diese handelt es sich und nicht nur um seine Interpretation des Liebesgebotes - zu einer Charakteristik des Apostels. Eine der wichtigsten Fragen, die die folgende Untersuchung zu beantworten hat, ist die, ob und in welchem Sinn mit dem Liebesgebot und der Liebe in der christlichen Gemeinde ein Neues in die Geschichte getreten ist. Um dies festzustellen, mußte die Vorgeschichte des Liebesgebotes durchforscht werden. 2) Diese Aufgabe ist nicht damit gelöst, Analogien und Parallelen zu sammeln ohne Rücksicht darauf, ob hier kausale ge1) Die Geschichte des Wortes behalte ich mir für eine andere Stelle vor. 2) Die große Schwierigkeit dieser Aufgabe gibt nicht das Recht, sich von ihr zu dispensieren, aber sie wird es erklären und entschuldigen, wenn in der folgenden Untersuchung diese Aufgabe nur annäherungsweise und vielleicht sehr unvollkommen gelöst ist. Vorarbeiten, auf welche man wirklich fußen kann, gab es hier nicht. Die vorhandene Literatur konnte lediglich die Auffindung des Stoffes erleichtern, aber in keiner Weise die Durchforschung wenigstens eines Teiles des weitschichtigen und schwer zugänglichen Quellenmaterials ersparen.
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schichtliehe Zusammenhänge nachweisbar sind. Es kommt vielmehr darauf an, den geschichtlichen Zusammenhang, so weit er sich wirklich beobachten läßt, darzustellen. Im ersten Kapitel ist darum nur die Frage untersucht, wie zur Zeit und in der Umgebung Jesu das Liebesgebot aufgefaßt und erfüllt wurde. Auch die Frage nach dem Einfluß des Hellenismus auf das Verständnis des Liebesgebots und die Erfüllung der Liebespflicht soll nur insofern beantwortet werden, als ein tatsächlicher Einfluß auf die Synagoge wirklich zu beobachten und zu beweisen ist. Was in der hellenischen Religionsgeschichte etwa unter den Begriff der Liebe fallt, ohne jedoch einen nachweisbaren Einfluß auf die Synagoge und durch sie auf die erste Gemeinde geübt zu haben, gehört nicht in die Darstellung hinein. Daß die Geschichte der Liebe im Urchristentum nicht nur individuelle Gedankenbildungen einzelner Männer vorzuführen, sondern diese auf dem Grunde der Gemeinde darzustellen hat, aus der sie hervorgegangen sind, in der sie standen und in die der Ertrag ihrer Arbeit ausmündete, das braucht jetzt kaum mehr begründetzu werden. Die verschiedenen individuellen Ausprägungen, in denen uns die Liebe im N. Testament entgegentritt, stellen die Aufgabe, ihr Verhältnis zu einander festzustellen. Diese Aufgabe darf nicht beiseite geschoben werden, denn es handelt sich um die Frage, ob in der neutestamentlichen Gedankenbildung Einheit herrscht, freilich nicht die Einheit eines Systems, aber die Einheit der Geschichte. Von den Vorarbeiten kommt die Schrift von Cohen über die Nächstenliebe im Talmud für unseren Zweck nicht in Betracht. Die Ethik des Judentums von Lazarus hat mich nur auf einige Stellen aufmerksam gemacht. Sie ist aber zu sehr geschichtslose Systematik und dazu mit modemen Gedanken durchtränkt, als daß sie einer geschichtlichen Untersuchung wesentliche Dienste leisten könnte. Das Buch von Bousset hat mir an einigen Stellen, die ich angegeben habe, die Auffindung des Materials bei Philo erleichtert. Von den Arbeiten jüdischer Ge· lehrten bin ich am meisten dem Buch von Bacher, Die Agada der Tanna'iten zu Dank verpflichtet. Wenn ich auf ein Zitat durch andere aufmerksam gemacht worden bin, so habe ich das angegeben. Für alles, was aus der Mischna, dem Toseftatraktat Berachot und demselben J'raktat aus dem babylonischen Talmud, aus den Apokryphen und Pseudepigraphen, Josephus und Philo angeführt ist, bin ich selbst verantwortlich. Zitate habe ich oft nach Übersetzungen, z. B. der von Kautzsch zu den Apokryphen und Pseudepigraphen, von Laible zum Toseftatraktat Berachot, gegeben. Wo es mir auf den Wortlaut ankam oder sonst notwendig schien, bin ich, ohne es anzumerken, natürlich von den Übersetzungen abgewichen.
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Die Frage ist nicht die, ob das synoptische und das johanneische Christusbild identisch sind, sondern ob die johanneische Christologie die synoptische voraussetzt, in sich aufnimmt und abschließt oder in Gegensatz zu ihr tritt und sie ausschließt. Ebensowenig darf der Frage ausgewichen werden, wie sich das Evangelium des Paulus zum Evangelium und zur Geschichte Jesu verhält. Auch hier ist die Frage nicht die, ob das Evangelium des Paulus identisch ist mit dem Evangelium Jesu, sondern ob es sich als Ertrag der Geschichte Jesu begreifen läßt. Wenn das der Fall ist, so führt die Bejahung des einen zur Bejahung des anderen. Nur dann, wenn hier der geschichtliche Zusammenhang fehlen würde, würde auch die Zustimmung zum einen Evangelium die Zustimmung zum anderen ausschließen. Die durch das Neue Testament bezeugte Geschichte schließt ein göttliches und darum ein wunderbares Element in sich. Darauf beruht ihr Wert. Speziell die Liebe trägt das Merkmal ihres göttlichen Ursprunges an sich. Ich habe nicht versucht, das zurückzudrängen, sondern mich vielmehr bemüht, es möglichst klar und geschichtlich treu ohne dogmatische Einschränkungen und Vergewaltigungen heraustreten zu lassen. Man kann seinen Gottesgedanken bei der Geschichtsforschung nicht suspendieren, am wenigsten in der Erforschung der Geschichte des Urchristentums. Damit würde sie ihren eigentlichen Inhalt verlieren und zu einem unverständlichen Rätsel werden. Auch die Wirkung, die diese Geschichte gehabt hat, bliebe dann unerklärlich. Freilich tritt der göttliche Faktor, der in dieser Geschichte wirksam ist, in den straffen kausalen Zusammenhang der Geschichte hinein. Er zerbricht diesen Zusammenhang nicht, sondern setzt einfach die vergangene Geschichte fort, indem er teils in Gegensatz zu ihr tritt, teils sie weiterführt. Auch diesen geschlossenen Zusammenhang habe ich mich bemüht, möglichst scharf hervortreten zu lassen. Inwiefern innerhalb dieses Zusammenhanges ein Neues, Göttliches in die Geschichte eingetreten ist, habe ich am Schluß zu zeigen versucht. Es handelt sich hier nicht um relative Differenzen und eine quantitative Steigerung der Liebesübung durch Jesus, sondern um eine von allem Vorhergehenden qualitativverschiedene Wirkung, durch die die in der Vergangenheit liegenden Tendenzen zum Abschluß gebracht und ans Ziel geführt werden.
Inhaltsverzeichnis. Seite
Vorbemerkungen
V-IX
Erstes Kapitel: Die Liebesübung in der palästinensisehen Synagoge
1-
32
Die Liebe Gottes zu Israel. - Die Liebe Israels zu Gott. Die Heiligung des Namens Gottes. - Das Studium. - Das Martyrium. - Die Debatte über das Verhältnis von Fycht und Liebe. -Liebe und Gerechtigkeit. - Wohltätigkeit und \Verdienst. - Die "Liebeserweisungen". Das Friedestiften. Das Gemeindeleben. - Liebe und Beliebtheit. - Liebe und Ruhm. - Die Begrenzung der Liebespfiicht. - Der Haß. - Die Verzeihung. Die Störungen und Probleme in der Liebesübung der Synagoge. Zweites Kapitel: Der Einfluß des Hellenismus auf das Verständnis und die Erfüllung des Liebesgebotes .
33- 52
Die Debatte über die Willensfreiheit. - Der Rationalismus. Der Staatsgedanke. Die Freundschaft. - Der Begriff der Tugend. - Die Ethik des Aristeasbriefes. - Philo. - Frömmigkeit und Humanität. - Die Debatte über das Verhältnis von Furcht und Liebe. - Die Liebe Gottes. - Die himmlische Liebe und die Mystik. - Die Humanität. Drittes Kapitel: Die Liebe in den synoptischen Evangelien Die Wohltätigkeit Jesu Die Ausdehnung der Liebesübung Jesu: Die Heilungen Jesu. - Die Grenzen der Liebesübung Jesu. - Abgeschlagene Bitten: Die Versuchungsgeschichte und die Verweigerung des Zeichens. - Wunder und Glaube. Die Armen. I.
2.
Die Gnade Jesu Die Sündenvergebung. -
53-136 53-112
I. Die Liebesübung Jesu
53- 70
70- SI Die Aufnahme ins Himmelreich.
-XVISeite
3. Die Heiligung des Namens Gottes Die Bestätigung des Gesetzes. - Die Heiligung des Tempels. Liebe Jesu zu Gott. - Das Wirken Jesu als Kampf. - Der Zorn Jesu. Die Erweckung der Furcht. - Die Erweckung des Hasses. - Das Leiden Jesu. 4. Die Erweckung der Liebe Ir. Das Liebesgebot I. 2.
Die Kritik der synagogalen Liebesübung Die vollkommene Liebe . Die Wohltätigkeit. - Der Nächste. - Die Vergebung.
3. Der Dienst Gottes Viertes Kapitel: Die Liebe im Johannesevangelium I. Die Liebe Jesu Die Liebe Gottes zu Jesus. - Die Liebe Jesu zu Gott. - Die Heiligung des Namens Gottes. - Die Liebe zu den Menschen als Außerung der Liebe zu Gott. - Sinn und Ziel der Wunder Jesu. - Wort und Werk. - Der Tod Jesu. 1I. Die Erweckung der Liebe III. Das Liebesgebot . Zusammenstellung beider Berichte
82-1°7
107-11 2 112-136 115-118 119-1 27
12 7- 136 137-167 137- 155
155-160 160-164 165-167
Fünftes Kapitel: Die Liebe in der ersten Gemeinde Der Sprachgebrauch. - Liebe und Glauben. - Nachahmung Christi. - Das Liebesgebot. - Liebe und Freiheit. -- Die Heiligung des Namens Gottes. - Das Martyrium. - Das Studium. Die Erkenntnis. - Die Liebe zu Christus. - Die Liebe zu den Brüdern. Die Wohltätigkeit. Die Gemeinschaft. Die Mission. - Die Liebe zu den Brüdern und die über die Gemeinde hinausgehende Liebe. - Das Verhältnis zur Welt. - Die Bekämpfung und die Heiligung des Zornes.
168- 185
Sechstes Kapitel: Paulus . Die Liebe Christi und die Liebe Gottes. Der Untergang der natürlichen Liebe. - Die Liebe zu Gott. - Liebe und Menschenknechtschaft. - Liebe und Freiheit. - Liebe und Ruhm. - Liebe und Askese. Liebe und Gerechtigkeit. - Liebe und Vollkommenheit. - Liebe und Glaube. - Liebe und Werke. - Liebe und Geist. - Liebe und Wohltätigkeit. - Liebe und Erbauung. - Liebe und Gemeinde.
186-236
Die Pastoralbriefe . Liebe als Ziel des Gebotes. - Liebe und Werke. - Liebe und Glaube. - Die Erfüllung des Liebesgebotes in der Familie und in der Gemeinde.
227-2 32
-XVIISeite
Paulus und Jesus . Die Liebe als Ziel Christi. - Die Entstehung der Liebe. Die Bedeutung des Glaubens für die Entstehung der Liebe. Siebentes Kapitel: Hebräerbrief
Die
23 2- 2 36
katholischen Briefe und der
237-260
Johannes 237-248 Das alte und doch neue Gebot. - Die Liebe Gottes. - Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Brüdern. - Das Geben der Seele. - Liebe und Gerechtigkeit. - Liebe und Glaube. - Furcht und Liebe. - Vollkommene Liebe. - Das Verhältnis zur Welt.Liebe und Haß. 1.
Jako bus. Das königliche Gebot. Die Liebe zu Gott. - Liebe und Werke. - Liebe und Gnade. - Die Bedeutung des Wortes. Die vollkommene Liebe. - Liebe und Wahrheit. - Zorn und Haß.
2.
3. Der erste Petrusbrief . Die Liebe Christi. - Die Liebe zu Christus. - Die Liebe zu den Brüdern. - Der Verzicht auf die Rache. - Liebe und Furcht.
256-218
4. Der Hebräerbrief Das Mitleid Christi.
25 8- 260 Liebe und Buße.
Achtes Kapitel: Liebe und Zorn in der Apokalypse Liebe und Zorn Christi. - Liebe und Werke in der Gemeinde. Das Martyrium. - Der Haß gegen das Böse in der Gemeinde und der Zorn über die Welt. Neuntes Kapitel: Schluß Gemeinde und Liebe als Jesu Werk. - Liebe zu Gott lind zu den Menschen. - Liebe und Gerechtigkeit. - Die Überwindung des Verdienstgedankens. - Liebe als Vollkommenheit. - Liebe und Furcht. - Die Heiligung des Zornes. - Die Demut. - Die Mystik. - Die Askese. - Die Seelsorge. Die Wurzeln der christlichen Liebe.
268- 2 75
Die Liebesübung in der Synagoge. I.
Kapitel.
Die Liebesübung in der palästinensischen Synagoge. Das Liebesgebot wird im Neuen Testament niemals als eine Erfindung Jesu angesehen. Weil es Gottes Gebot ist, so gilt es von Anfang an. Darum wird es in den Evangelien da, wo es Jesus in den Mund gelegt wird, in der Form eines Zitates gebracht. Es stammt aus dem Gesetze. Es macht darum auf die Hörer auch nicht den Eindruck überraschender Neuheit. Markus drückt dies dadurch aus, daß er dem Schriftgelehrten, dem Jesus das Liebesgebot sagt, eine lebhafte Zustimmung in den Mund legt Mark. 12, 32. Das Gebot erscheint ihm nicht als eine Neuheit, die er seinem übrigen religiösen Besitz erst einordnen müßte, sondern unwillkürlich stimmt er ihm zu, und diese Zustimmung wird nicht als etwas Besonderes bezeichnet, sondern sie gilt durchaus als normal. Noch deutlicher stellt Lukas die Tatsache dar, daß das Liebesgebot bekannt ist; denn bei ihm muß der Schriftgelehrte selbst auf Jesu Frage hin das Liebesgebot aussprechen, und zwar als das erste Gebot Luk. 10, 27. Die Evangelisten erkennen also ohne weiteres an, daß Jesus das Liebesgebot vorgefunden hat, und zwar auch als Doppelgebot , als Gebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Auch diese Zusammenstellung beider Gebote ist nicht etwa erst Jesu Gedanke. Alle religionsgeschichtlichen Konstruktionen, die Jesu Bedeutung in der Aufstellung Lütgert, Die Liebe im N. T.
2
des Liebesgebotes sehen, entsprechen darum der Geschichte nicht, und auch nicht der Meinung der Evangelien. Der von den Evangelien vorausgesetzte Tatbestand wird durch die synagogale Literatur bestätigt. Der traditionelle Ausdruck für das Grundmoment der Frömmigkeit war für die jüdische Gemeinde die Furcht Gottes. Daneben tritt nach dem Liebesgebot die Forderung der Liebe zu Gott. Sie kann darum gefordert werden, weil die Liebe Gottes zum Volk ein feststehendes Stück des Bekenntnisses ist. Als Liebe wird freilich auch das Verhältnis Gottes zur Welt beschrieben. "In der Gnade schuf ich meine Welt" und "die Welt ist seine (Gottes) Welt": solche Worte finden sich in der palästinensischen Synagoge auch. 1) Aber im eigentlichen Sinne wird die Liebe Gottes auf Israel bezogen. "Der Heilige, gebenedeiet sei er, tat den Völkern der Erde die Liebe kund, mit der er die Israeliten liebt; denn er ging in eigener Person vor ihnen her, damit sie (d. h. die Völker) sich ihnen ehrerbietig zeigten." Mechilta. Ug. 141, 142.2) Wie sich beide Gedanken zueinander verhalten, zeigt etwa ein Spruch wie Abot IH, 15 "Ein Liebling (Gottes) (:l'~':') ist der Mensch, denn er ist im Bilde geschaffen; eine besondere Liebe ist ihm kundgetan, daß er im Bilde erschaffen sei, denn es heißt: denn im Bilde hat Gott den Menschen geschaffen. Lieblinge Gottes sind die Israeliten, denn sie sind Kinder Gottes genannt worden, eine besondere Liebe ist ihnen kundgetan worden, daß sie Kinder Gottes heißen, denn es heißt, Kinder seid ihr dem Ewigen, eurem Gotte." Nach dem Spruch wird also die Liebe Gottes darin gesehen, daß den Israeliten der Name der Kinder Gottes gegeben ist. Schon im Geben des Namens liegt die Liebe, sie wird also schon im Willen und Worte Gottes gesehen, und nicht erst in den Gaben, die er den Seinigen gibt. Darum wird die Menschheit als Gottes Schöpfung von Israel, seinen Kindern unterschieden (i1l'$'!~) vgl. Ab. I, 12; II, 11; ill, IO; IV, I ll. VI, 6, 1 und x:r;[f1l'; Mark. 16, I 5 ; Röm. 8,22. Findet man im Namen der Gotteskindschaft die Liebe Gottes ausgesprochen, so ist es selbstverständlich, daß auch der Vatername Gottes für das Judentum Gottes Liebe ausdrückt. 1) SchlaUer, Die Sprache und Heimat des vierten Evangelisten, Beiträge VI,4, S. 46. 2) Bei Fiebig, Altjüdische Gleichnisse S. 34.
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Es steht jetzt fest, daß es historisch nicht richtig ist, und im Fortgang dieser Untersuchung wird sich zeigen, daß es auch die Meinung der Evangelisten nicht ist, die Anrufung Gottes als des Vaters sei eine Erfindung Jesu, oder wenigstens die Anwendung des Kindschaftsverhältnisses auf den einzelnen, führe sich auf ihn zurück. Auch das ist nicht richtig, daß der Vatername früher nur gelegentlich oder vereinzelt auftauche und erst in der neutestamentlichen Gemeinde zur stehenden Anrede Gottes werde, vielmehr war die Anrede "Unser Vater in den Himmeln" die gewöhnliche und verbreitete. So schließt die Beschreibung der Not in den Tagen des Messias m. Sota IX, 15 mit den Worten: , ,Auf wen sollen wir uns verlassen? Auf unsern Vater in den Himmeln." Cf. z. B. noch m. Joma VIII, 9 Tosefta baba kama VII, 6. Im Buche der Jubiläen I, 25 wird Gott das Wort über Israel in den Mund gelegt: "Und sie alle sollen Kinder des lebendigen Gottes heißen, und alle Engel und alle Geister werden wissen, ja sie werden erkennen, daß sie meine Kinder sind und daß ich ihr Vater bin, in Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit, und daß ich sie liebe." 1) Alle Darstellungen der Predigt Jesu, die in der Erfindung oder Popularisierung dieses neuen Gottesnamens das Werk Jesu sehen, sind geschichtswidrig. Den Erweis der Liebe Gottes sieht man freilich auch in Gottes Vorsehung, vgl. z. B. ein Wort wie das folgende: "Komm und sieh, wie geliebt Israel vor Gott ist, und weil sie vor Gott geliebt sind, verändert er für sie das Werk der Schöpfung." 2) Allein hauptsächlich wird die Liebe Gottes zum Volke darin gefunden, daß er Israel das Ge set z gegeben hat. Der angeführte Spruch Akibas Abot III, 15 schließt mit den Worten: "Lieblinge sind die Israeliten, denn es ist ihnen ein kostbares Gerät gegeben worden; eine besondere Liebe ist ihnen kundgetan worden, daß ihnen ein kostbares Gerät gegeben worden ist, durch das die Welt erschaJfen worden, denn es heißt: denn eine gute Lehre habe ich euch gegeben, meine Thora, verlasset sie nicht." Cf. Tosefta berach. VII, 25: "Du findest keinen Menschen in Israel, den nicht die Gebote förmlich umgeben." Der Gedanke ist nicht 1) Eine Reihe von Beispielen finden sich noch bei Dalman, Die Worte Jesu J, 151-155. 2) Schlatter a. a. O. S. 46. *1
etwa gelegentlich, sondern er kehrt regelmäßig wieder. V gl. z. B. b. Menachot 43. b: "Gottes Liebe zu Israel zeigt sich darin, daß er es mit Geboten rings umgeben hat./t Oder b. Berachot I I. b: "Mit ewiger Liebe hast du das Haus Israel, dein Volk geliebt. Die Thora und Gebote, Satzungen und Vorschriften hast du uns gelehrt." 1) Durch seine Gebote hat Gott das Volk geheiligt. Darum findet sich häufig die Gebetsformel : "Gepriesen sei, der uns geheiligt hat durch seine Gebote./t Z. B. Tosefta, berach. VII, 9-13. Ebenso offenbart sich im S ab bat die Liebe Gottes zu Israel: "R. Eleazar bar Zadok hat gesagt: Mein Vater pflegt ein kurzes Gebet zu sprechen an den Feiertagabenden : Nach deiner Liebe, Herr unser Gott, womit du geliebt dein Volk Israel, und nach deinem Erbarmen unser König, womit du dich erbarmt über die Söhne deines Bundes, hast du uns gegeben, Herr unser Gott, diesen großen und heiligen siebenten Tag in Liebe." T osefta, berach. III, 7. Der Liebe Gottes zu Israel entspricht nun das Li e b e s ge bot, die Forderung der Liebe Israels zu Gott. m. Berach. IX, 15 heißt es: "Jedermann ist verpflichtet, für das Böse Gott ebenso zu danken, wie man für das Gute Gott dankt. Denn es heißt: Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allen Kräften. Von ganzem Herzen heißt mit beiden Trieben, dem guten und dem bösen. Von ganzer Seele heißt: selbst wenn er dir das Leben nimmt. Aus allen Kräften heißt: mit deinem ganzen Eigentum." Mit den Trieben, dem Leben und dem Vermögen liebt man Gott. Diese Formel kehrt häufig wieder. Der zusammenfassende Ausdruck für alle Äußerungen der Liebe zu Gott ist die "Heiligung des Namens Gottes".2) Wie Gott Israel durch seine Gebote geheiligt hat, so niuß Israel Gottes Namen heiligen. Daß im Gebete Jesu die Bitte: "Geheiligt werde dein Name" an die Spitze aller Bitten tritt, entspricht der Empfindung der jüdischen Frommen durchaus: über Israel ist Gottes Name genannt, die Gemeinde ist Träger des Namens Gottes und damit Vertreter der Ehre Gottes. Geheiligt wird sein Name 1) Die bei den letzten Stellen verdanke ich Perles, Boussets Religion des Judentums, S. 43. 2) Perles a. a. O. S. 68 ff.
5 dadurch, daß er als Gott behandelt wird. Indem der Israelit zum Maßstab seiner Taten, zur Regel, nach der er handelt, die Ehre und Heiligkeit Gottes macht, wird er zum "Zeugen" Gottes. In der Tosefta, ber. IV, 18 wird eine Debatte über die Frage berichtet : Weshalb wurde Juda des Königtums würdig? Die Frage wird schließlich so entschieden: "Weil er den Namen Gottes heiligte am Schilfmeer. Damals kamen die Stämme und standen am Schilfrneer, da sagte der eine: ich will nicht erstmals hineinsteigen, und der andere: ich will nieht erstmals hineinsteigen. Da sprang das Los des Stammes Juda heraus, und er stieg erstmals hinein und heiligte so den Namen Gottes am Schilfrneer . . .. Juda, weil er den Namen Gottes heiligte am Schilfrneer, darum ward Israel sein Herrschaftsgebiet." Sein Gehorsam und sein Glaube war Heiligung des Namens Gottes. V gl. Abot II, 2: "Alle, die fur die Gemeinde tätig sind, sollen sich für sie im Namen Gottes bemühen." II. 12: "Alle deine Handlungen seien im Namen Gottes." Die schlechte Lehre ist darum gef
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dein Gesetz außer Gültigkeit gesetzt: Zeit ist's für Jahve etwas zu tun." Tosefta Berach. VII, 24. Der Eifer fürs Gesetz ist Eifer für Jahve, Dienst Gottes. Und die Liebe zum Gesetz besteht im Studium des Gesetzes. Das Studium des Gesetzes ist die erste und höchste Pflicht des Frommen. Abot II, 8. "Hast du viel Thora gelernt, so tue dir darauf nichts zugute, denn dazu bist du erschaffen worden." Die Festigkeit, mit der dieser Satz sich durchsetzt, erklärt sich nur daraus, daß das Studium der Thora als die eigentliche Form der Liebe angesehen wird. b. Nedarim 62 a. 1) "Lerne aus Liebe, und die Ehre wird am Ende schon kommen." Das Studium der Thora ist wertvoller als Vater und Mutter zu ehren, als die Werke der Barmherzigkeit und das Friedenstiften unter den Leuten: m. Peah I, I, vgl. dazu Matth. 15,4ff. Die Gabe an den Tempel steht höher als das Gebot, Vater und Mutter zu ehren. Weil sich im Studium der Thora die Liebe zu Gott äußert, und weil die Liebe zu Gott jeder anderen Pflicht und Liebe vorangeht, so ist das Studium der Thora die wichtigste Pflicht. Als Beweis für Jochanans ben Saccai Liebe zur Thora wird berichtet, daß er seinen Landbesitz verkauft habe, um sich mit der Thora beschäftigen zu können. Seine Zeitgenossen sagen von ihm: "Wenn ein Mann hingeben wollte alle Habe seines Hauses um die Liebe, mit der R. Jochanan die Thora liebte man würde ihn höhnen." 2) Daß die Liebe zu Gott über der Liebe zur Welt steht, führt daher zu der Konsequenz, daß das Thorastudium über jedem Handwerk steht und allen Pflichten vorangeht. b. Berach 3 b wird als Beweis für Davids Frömmigkeit erzählt: "Wenn er in der Thora studierte, sprachen die Weisen zu ihm: unser Herr und König, Israel bedarf der Nahrung; er entgegnete ihnen: gehet hin und ernährt euch, einer den andern." Lieber sollen die Kinder hungern, als daß man das Lehrhaus verläßt. Diese Moral blieb für das Volksganze undurchführbar. Mit Notwendigkeit bildete sich ein besonderer Stand aus, der in der Lage war, sich danach zu richten, während die große Masse des Volkes schon durch das Erwerbsleben von dieser höheren Form der Frömmigkeit ausgeschlossen war. Rabba sagt: "Die früheren Geschlechter haben die Thora 1) Die Stelle nach Perles a. a. O. S. 58. 2) Bei Weber, Jüdische Theologie. S. 26.
7 zur Hauptsache, ihr Geschäft zur Nebensache gemacht, die späteren haben das Verhältnis umgekehrt. Daher sind jene gesegnet worden, diese nicht." R. Nahorai sagt: "Ich will alle Handwerke der Welt fahren lassen, und meinen Sohn nur die Thora lehren, denn davon genießt der Mensch den Lohn in dieser Welt und das Kapital bleibt ihm stehen für jene Welt." m. Kiddusch, IV, 14. Neben dem Studium der Thora steht freilich das Tun, aber das Studium ist die eigentliche Äußerung der Liebe j daraus erklärt es sich, daß es über das Tun gestellt wird. Entgegengesetzte Äußerungen finden sich freilich Ab. I, 17: "Nicht die Lehre ist die Hauptsache, sondern die Tat" und III, 10: "Wessen Weisheit seiner Sündenscheu vorangeht, dessen Weisheit hat keinen Bestand." Von Jochanan wird das Wort überliefert: "Der eine ist ein Weiser und hat nicht Werke in seiner Hand j siehe, das ist der Handwerker, der sein Werkzeug nicht in der Hand hat. In des andern Hand sind gute Werke j er ist aber nicht ein Weiser. Das ist der, der das Werkzeug in der Hand hat und nicht Handwerker ist. Ein anderer ist ein Weiser, und in seiner Hand sind gute Werke j si~he, der ist der Handwerker, in dessen Hand sein Werkzeug ist." 1) Ab. Nathans 67. Ähnlich sagt Raba b. berach 17a: "Der Endzweck der Weisheit ist Buße (;,~,wn) und gute Werke (C'~'~ c'wV~). Es heißt nicht lernen, sondern ausüben." Cf. auch Jes. Sir. 38, 24-39, 11. Aber die Tatsache, daß diese Frage überhaupt zur Diskussion stand, ist ein Beweis dafür, wie unsicher der Grundsatz war, daß das Tun über dem Wissen stehe. Dementsprechend schließt denn auch die Debatte mit dem Votum Akibas, daß das Studium über dem Tun stehe, denn das lag in der Konsequenz des Gedankens, daß die Liebe zu Gott in der Liebe zur Thora zum Vorschein komme. Kiddusch. 40 b. 2) Als besondere Äußerung der Liebe zu Gott gilt aber das M art y1) Schlatter, Jochanan. S. 53. Schlatter urteilt: "Diese Schätzung des Wissens ist das, was der Hellenismus in Jerusalem hervorgebracht hat." Neben der hellenischen Schätzung der Erkenntnis spricht sich darin aber auch die jüdische Bibelverehrung aus, die mit dem Sabbatgebot und der Schätzung des Tempelkultus auf einer Stufe steht und als Ausdruck der allen anderen Pflichten vorangehenden Liebe zu Gott gilt. 2) Die Stelle im Kommentar zur m. von Hoffmann und bei Weber, S. 56.
8 ri um. Der Tod für das Gesetz - denn um diesen handelt es sich beim Martyrium - ist der Beweis, daß der Fromme mehr an Gott hängt, als an seinem Leben. Besonders in den Kämpfen der Makkabäerzeit handelt es sich um die Heiligung des Namens Gottes durch die Treue gegen das Gesetz. Die Märtyrer der Makkabäerzeit sterben um des Gesetzes willen, vgl. z. B. 2. Makk. 7, 23. Für das Gesetz zu sterben bildet auch nach Josephus den Ruhm des Volkes, c. Ap. I, 8 j Niese 43 j 2, 30 j Niese 2 18. Das Martyrium ist Heiligung des Namens Gottes. Darum gilt im Bar-Kochba-Aufstande das Martyrium als Erweis "der Liebe, die Gott über alles liebt". 1) "Stark wie der Tod ist die Liebe, die Liebe, mit der das Geschlecht der Verfolgungszeit den Heiligen geliebt hat Denn es ist gesagt: "Um Deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag." Von Akiba wird erzählt, daß er, als er zum Tode geführt wurde, lachte, und zur Rechtfertigung seines Lachens dem Richter erwiderte: "Ich habe an jedem meiner Tage diesen Vers (nämlich das Schema) gelesen und mir Sorge gemacht, wann wohl diese drei mein eigen sein würden: Und du sollst den Herrn, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deinem ganzen Vermögen lieben. Ich habe ihn geliebt mit meinem ganzen Herzen und habe ihn geliebt mit meiner ganzen Habe, aber mit meinem ganzen Leben, das habe ich noch nicht erprobt. Jetzt aber, da es eintraf: "Mit meinem ganzen Leben" und die Stunde da ist, das Schema zu sprechen, und ich nicht schwanke in meinem Sinn, darum spreche ich es lachend." Eine Parallele zu diesem schönen Worte bietet Tosefta berach. Vll, 7: "R. Metr sagte: Siehe, die Schrift sagt: Du sollst lieben Jahve deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen", d. h. mit deinen beiden Trieben, mit dem guten Trieb und dem bösen Trieb - "und mit deiner ganzen Seele", d. h. auch wenn er dir deine Seele (dein Leben) nimmt." . . . . Ben Azzaj sagt: "mit deiner ganzen Seele, d. h. gib deine Seele hin um seiner Gebote willen". 2) Doch wird das Martyrium nicht gefordert, d. h. die ganze Liebe zu Gott gilt als eine über das unerläßliche Maß der Frömmigkeit hinausgehende, besonders verdienstliche Leistung. 1)
Schlatter, Die Tage Trajans und Hadrians. S.
22.
2) Diese Parallele legen für die Glosse zu Sir. 13. 13: ncl.o'fl 1;wji oov dyana ".lw
1("(I'o'P
die Übersetzung nahe: "Mit deinem ganzem Leben liebe den Herrn."
Zur Heiligung des Namens Gottes gehört neben dem Halten der Gebote die Heiligung des Tempels. Die Liebe zu Gott äußert sich in der Liebe zum Kultus. Wie aus der Furcht Gottes folgt, daß der Priester zu ehren ist, so folgt aus der Liebe Gottes die Opfergabe. Si. 7, 29 ff. Als der Ort der Gegenwart Gottes in der Gemeinde muß der Tempel vor jeder Befleckung und Entweihung geschützt werden. In der Energie, mit der dies unter Preisgabe des Lebens geschieht, wird die Liebe zu Gott gesehen. Für die Macht dieser Tendenz sind alle Kämpfe um den Tempel ein Beweis. Es handelt sich hierbei nicht um einzelne Worte, sondern um eine Tendenz, die die Geschichte der Gemeinde gestaltet hat. Das Gebet der Priester 2. Makk. 14, 36: "Und nun, heiliger Herr aller Heiligung, bewahre auf ewig unbefleckt dieses soeben gereinigte Haus" oder etwa das Gebet für die Heiligkeit des Tempels 3. Makk. 2, 1 ff. drückt diesen Zug präzise aus. Antastung und Lästerung des Tempels gilt deshalb als Gotteslästerung, und der Aufgabe, den Tempel vor Entheiligung zu schützen, ist die Existenz des Volkes untergeordnet. Nun war der traditionelle Ausdruck für die gesamte Frömmigkeit der der F ure h t Go t t e s. Indem neben dieselbe die Liebe Gottes trat, entstand eine Schwierigkeit, die nicht bloß theoretisch blieb, vielmehr ist die Debatte über das Verhältnis von Furcht und Liebe, der Ausdruck der reellen Schwierigkeiten für die Frömmigkeit, die hier ungelöst vorlagen. Die Liebe zu Gott wird wie vom Glauben, so auch von der Furcht deutlich unterschieden. Schon bei Jesus Sirach ist sie ein stehender Begriff. "Die Weisheit gibt Gott denen, die ihn lieben." I, 10; 2, 15 ff. stehen neben denen, die ihn fürchten, die, die ihn lieben, und beide Formen der Frömmigkeit sind parallel. Aus der Furcht Gottes wie aus der Liebe Gottes folgt der Gehorsam. Ebenso steht 7, 29 ff. neben der Furcht des Herrn mit ganzer Seele die Liebe zu ihm mit aller Kraft. Beide gelten offenbar als zusammenfassende Ausdrücke für die gesamte Frömmigkeit. Sie treten für Jesus Sirach nicht in Spannung zueinander. Eine Debatte über das Verhältnis von Furcht und Liebe bietet erst der Glossator des griechischen Sirach. Nach I, 10 hat er den Zusatz: die Liebe zum Herrn ist herrliche Weisheit. Denen, welchen er erscheint, teilt er sie zu, damit sie ihn schauen. In dem Wort werden
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Liebe und Weisheit zusammen gesellt, während sonst Furcht Gottes und Weisheit nebeneinander stehen. Die Liebe gilt ihm nicht als Erzeugnis des menschlichen Willens, sondern als Gabe Gottes. Sie ist Bedingung für das Ziel des Menschen, nämlich für das Schauen Gottes: um Gott zu schauen, muß man ihn lieben. Auch in dem Text, den der Glossator 10, 19 hat, sind Furcht und Liebe nicht Gegensätze, sondern Parallelen: "Ein gesichertes Geschlecht sind die, die den Herrn fürchten, und eine in Ehren stehende Pflanzung (cpv";EVfla cf. cpvula Matth. 15, 13) sind die, die ihn lieben." Ebenso stehen in der Glosse zu 17, 15 Furcht und Liebe - Liebe Gottes - einfach ohne Gegensatz nebeneinander. "Furcht des Herrn ist der Anfang der Annahme , Weisheit aber erwirbt sich Liebe von ihm." Die Weisheit ist deshalb ebensowohl die Mutter der schönen Liebe (,,;~~ &yan~(JEw~ ,,;~~ xa)..~~) wie der Furcht. Daneben steht die Erkenntnis und die Hoffnung. Nach 2, 9 folgt die Glosse: "Die ihr den Herrn fürchtet, liebt ihn, und es werden erleuchtet werden neue Herzen." Die Furcht Gottes gilt ihm als Tatsache, die Liebe Gottes muß denen, die ihn fürchten, geboten werden. Dabei wird aber nach diesem Wort die Furcht durch die Liebe nicht abgelöst, doch gilt sie deutlich als das Höhere: zur Furcht soll die Liebe hinzutreten. Am eigentümlichsten ist die Glosse 25, 1 I. Schon die Textschwankungen sind charakteristisch. Der eine Text preist als das, was am höchsten steht, die Furcht Gottes: "die Furcht des Herrn übertrifft alles; wer sie ergreift, wem wäre der zu vergleichen?" Nach diesem Text ist die Gottesfurcht die höchste Form der Frömmigkeit. Der andere Text bietet statt dessen die Worte: "Aber die Liebe zum Herrn übertrifft alles zur Erleuchtung, und wer sich an ihn hält, wem wäre dieser zu vergleichen? Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Liebe zu ihm, die Treue aber der Anfang der Vereinigung mit ihm." Für den Verfasser dieses Textes ist die Liebe die höchste Form der Frömmigkeit. Dabei wird aber die Furcht Gottes nicht übersprungen, sondern sie gilt als Anfang der Liebe. Gegensätze sind also Furcht und Liebe auch für diesen Text nicht. Wohl aber steht die Liebe als das Ziel der Frömmigkeit über der Furcht als deren Anfang. Das Verhältnis ist also auch nicht so gedacht, daß mit der Liebe die Furcht verschwindet, sondern so, daß die Liebe
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die Furcht in sich aufnimmt. Die Liebe ist das Ganze der Frömmigkeit, die Furcht der Anfang. Wie man sich auch die Textgeschichte dieses Verses erklärt,1) in jedem Falle spiegelt sie die Debatte von Furcht und Liebe wieder. Zunächst erscheint die Furcht als die höchste Form der Frömmigkeit; sobald aber neben sie die Liebe tritt, wird sie übergeordnet. Wie diese Glosse, so enthält auch die nach I, 12 eingeschobene, eine Reflexion über das Verhältnis von Furcht und Liebe. Dem Preise der Furcht fügt der Glossator die Worte bei: "die Furcht des Herrn ist eine Gabe vom Herrn, denn sie stellt auch auf die Pfade der Liebe". In diesem Worte wird die Liebe deutlich auch über die Furcht gestellt, aber nicht im Gegensatz zu ihr. Sie führt zur Liebe, und darin, daß sie dies tut, besteht ihr göttlicher Charakter und ihr Wert. Nach dieser Glosse steht also die Liebe als das Ziel, zu dem die Furcht bringt, über ihr. Die Debatte über das Verhältnis von Furcht und Liebe findet sich häufig. Es bleibt später niemals bei der ursprünglichen NebeneinandersteIlung , sondern das Verhältnis beider zueinander wird als Problem empfunden, das nach einer Lösung verlangt. 2) Nebeneinander stehen Furcht und Liebe z. B. in den Testamenten Benj. 3: "Ihr nun meine Kinder, liebet den Herrn, den Gott des Himmels." Bald darauf heißt es: "Fürchtet den Herrn und liebet den Nächsten . . . . Denn wer Gott fürchtet und den Nächsten liebt . . . . . wird von der Furcht Gottes beschirmt." Traten aber einmal beide nebeneinander, so erhob sich sofort die Frage, wie sie sich zueinander verhalten. Ein Zeugnis dafür ist die Debatte m. Sota 5, 5. Josua ben Hyrkan folgert aus Hiob 13, 15: "Siehe wenn Gott mich töten würde, so will ich auf ihn hoffen", Hiob habe Gott aus Liebe gedient, aus 27,5: "Bis daß mein Ende kommt, will ich nicht weichen von meiner Frömmigkeit", daß er 1) Über den Text vergleiche Schlatter, Der Glossator des griechischen Sirach. Beiträge I, 5 u. 6 S. II 2. Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen im Kommentar zu Jesus Sirach z. d. St. 2) Schlatter sieht in dieser Debatte griechischen Einfluß. J ochanan ben Saccai Beitr. III, 4 S. 55. Israels Geschichte S. 251. Mir scheint das nicht notwendig. Die Reflexion auf das Verhältnis beider zueinander erklärt sich auch ohne die Annahme eines von außen herkommenden Einflusses aus der Nebeneinanderstellung.
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Gott aus Liebe allein gedient. Dazu sagt Josua ben Chananja: "O! wer konnte den Grabesstaub von deinen Augen nehmen, Jochanan ben Saccai, mein Meister, der du in deinem ganzen Leben gelehrt hast, daß Hiob nur aus Furcht Gott diente, weil geschrieben steht I, I: Er fürchtete Gott und mied das Böse; und nun lehrt Josua, der Schüler deines Schülers, daß er aus Liebe zu Gott fromm war." Die Anekdote zeigt, daß die Überordnung der Liebe über die Furcht als Neuerung und Ketzerei angesehen wird. Liebe und Furcht erscheinen dabei als Gegensätze. Dient er aus Liebe, so dient er nicht aus Furcht. Und zwar wird die Liebe zu Gott darum bezweifelt, weil sie als etwas dem Menschen Unerschwingliches erscheint; die dem Menschen gebührende Stellung ist die Furcht, während befürchtet wird, daß er durch die Behauptung der Liebe zu Gott die ihm gesteckte Schranke überschreitet. Es liegt in ihr eine dreiste Annäherung an Gott. 1) Dieselbe Debatte über das Verhältnis von Furcht Gottes und Liebe Gottes liegt der Anekdote Jalkut 267a zugrunde. 2) Ein König vertraut seine Angelegenheiten einem Diener, der ihn liebt, und einem, der ihn fürchtet, an. Die Frage ist, bei wem sie besser aufgehoben sind. Auch an dieser Stelle wird die Liebe über die Furcht gesetzt. Der, der den König ·liebt, sorgt besser für seine Anliegen, als der, der ihn fürchtet. Der Gehorsam gegen Gott erscheint sowohl als ein Ausfluß der Furcht Gottes als auch als Äußerung der Liebe zu Gott. Die Erfüllung der Gebote, die den Dienst Gottes festsetzen, die Sabbathfeier, die Heiligung des Tempels, das Studium usw., ergibt die Werke, aus denen sich die Gerechtigkeit zusammen1) Anders deutet Sc h I a t t e r das Wort. J ochanan S. 56: "J osua wünscht, er möchte aus dem Grabe geholt werden können, um zu hören, was Akiba in der Schrift zu lesen vermöge, wie er an Hiob die über die Furcht sich erhebende Liebe zeige." Für diese Deutung des Wortes spricht, daß in den übrigen zitierten Stellen die Überordnung der Liebe über die Furcht nicht als Ketzerei angesehen wird, sondern daß dieser Gedanke sich durchsetzt. Trotzdem kann ich das oben mitgeteilte Wort nicht anders verstehen als als Klage über den Widerspruch gegen die Lehre Jochanans. 2) Die Parabel findet sich bei Levi, Parabeln, Legenden und Gedanken aus Talmud und Midrasch übersetzt von Seligmann S. 62. Trotzdem die Sammlung sehr spät ist, gehört die Parabel doch in die im Text besprochene Debatte hinein.
13 setzt. Sich vor Versäumnis dieser Pflichten zu hüten, das bildet die "Sündenscheu". Sie ist ein feststehender und für die Frömmigkeit der Synagoge charakteristischer Begriff cf. z. B. Ab. II, 8, 10, 18,III, I. Nun ist sich aber der Fromme bewußt, das Gesetz niemals vollkommen zu erfüllen: besonders verborgene Sünden sind nicht zu vermeiden. Darum gehört ein beständiges Schuldgefühl, das neben dem Selbstbewußtsein des Gerechten und Erwählten steht, als ein wesentlicher Zug zum Charakter der synagogalen Frömmigkeit. Daraus ergibt sich die Frage, worauf sich nun angesichts der mangelnden Gesetzeserfüllung das Vertrauen und die Zuversicht auf Gott begründe. Auf diese Frage wird geantwortet: Durch die Liebe wird Gottes Liebe erworben. In die Lücken der Gerechtigkeit tritt als Ersatz die Liebesübung ein. Der Dienst Gottes und die Wohltätigkeit zusammengenommen ergeben die Gerechtigkeit. Das Almosen ist Ersatz für die Gerechtigkeit und darum selbst Gerechtigkeit. Die Wohltätigkeit, das Almosen ist Gerechtigkeit :-t~1~. Wer Almosen gibt, der wird angesehen als einer, der alle Gebote (rml:tI) erfüllt hat, von ihm heißt es: er wird nicht wanken in Ewigkeit. l ) Tanch., Mischpatim 9. Die Almosen treten also an die Stelle der Gebotserfüllungen. Diese gelten als Erweis der Liebe zu Gott, die Almosen als Erweis der Liebe zu den Me n s c h e n. Der Erweis der Menschenliebe ersetzt die Mängel der Liebe zu Gott. Daher treten neben die Gebotserfüllungen die "guten Werke" C'~i~ C'~~.~' In dem Maße als der Fromme nicht vollkommen gerecht ist, sondern selbst Barmherzigkeit bedarf, muß er Barmherzigkeit üben, während mit dem Bewußtsein der Gerechtigkeit die Neigung zur Härte wächst. Die Absicht, Barmherzigkeit zu erlangen, wird zum Motiv der Liebesübung. Durch die Liebe erwirbt man sich Gottes Gnade. Damit schleicht sich der Ver die n s t g e dan kein die Liebesübung ein. Von Gamaliel II. wird das Wort überliefert: "Wenn du selbst barmherzig bist, erbarmt sich auch Gott deiner; bist du nicht barmherzig, erbarmt sich auch Gott deiner nicht." 2) Denselben Sinn hat die Bemerkung von Eliezer zu Deut. 15,9, daß. die Herbeiführung der göttlichen 1) Diese Stelle bei Weber 287.
2) Cf. Bacher S. 99 (2. Autl. 94). häufig.
Der Satz ist wie Bacher zeigt, überaus
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Strafgerichte über Israel in der Hand der Armen liege. Besonders das Buch Tobit dient der Darstellung dieses Gedankens 12, 8 ff.: "Wohltätigkeit errettet vom Tode, und reinigt von jeder Sünde." 4, 7 ff.: "Almosen erlöst vom Tode und wird nicht zugeben, daß man in die Finsternis eingehe." Besonders 14, II wird als Moral der Erzählung angegeben: "Und nun sehet meine Kinder, was das Almosen vermag und daß Wohltätigkeit rettet." Denselben Gedanken vertritt Jesus Sirach, z. B. 3, 30: "Mildtätigkeit sühnt Sünden." 7, 10: "Wohltat ist das rechte Mittel Gott zu gefallen." Sir. 14, 24: "Besser als Bruder und Freund errettet aus der Not Almosen." In etwas allgemeinerer Form: Sir. 4, 10: "Sei den Waisen wie ein Vater, und Stellvertreter des Mannes ihrer Mutter, so wirst du sein wie ein Sohn des Höchsten, und dieser wird dich mehr lieben als deine Mutter." Der Grundsatz, daß die Wohltätigkeit Gottes Liebe erwirbt, wird Pirke Abot 2, 7 so ausgedrückt: "Viel Wohltätigkeit, viel Frieden." 1) Man kann daher sagen: "Gott hat die Armen gegeben, um den Menschen vor dem Urteil zu bewahren, das ihn der Hölle zuweist." bab. bathr. lOa. 2) b. Berach. 43 b heißt es: "Die ganze Welt wird durch Freigebigkeit ernährt." (ilp'lt) Eine eigentümliche Parallele bietet auch: b. Berach. 8, a: "der Heilige, gebenedeit sei er, sagt: wer sich mit der Gesetzeslehre und Liebeswerken befaßt und mit der Gemeinde betet, dem rechne ich es an, als hätte er mich und meine Kinder von den Völkern der Erde erlöst." Das Eigentümliche dieses Wortes besteht darin, daß hier die Liebeswerke neben die Beschäftigung mit der Thora treten. Beide zusammen bilden das Verdienst. Die Beschäftigung mit der Thora ist Ausfluß der Liebe zu Gott; n~ben. sie tritt die Liebesübung an den Menschen. Das Studium der Thora ist nach Abod. sar. 17 b nur dann verdienstlich, wenn damit die Übung der Wohltätigkeit verbunden ist. 3) Diese Verbindung ist überaus häufig: Ab. 3, 12 werden diejenigen aufgezählt, die keinen Anteil an der zukünftigen 1) Beim Frieden denken auch die Rabbinen zuerst an den Frieden mit Go t t. Der Altar stiftet Frieden, d. h. er versöhnt. "Der Altar stiftet Frieden zwischen Israel und seinem Vater im Himmel." Tosefta baba kama VII, 6. Bacher S. 31 (2. Auf!. 28). 2) Diese Stelle bei Weber 288. 3) Diese Stelle angeftihrt bei Weber 32.
15 Welt haben, "selbst wenn sie haben Kenntnis der Thora, also Studium, und gute Werke." 1) Voraussetzung ist, daß sonst diese beiden Anteil an der zukünftigen Welt geben. Eine ähnliche Zusammenstellung gibt das Wort Pirk. Ab. 1,2: "Auf drei Dingen beruht die Welt, auf der Thora und auf dem Opferdienst (Abodah) und auf den Liebeserweisungen." Denn "Thora" hat die Bedeutung: Studium der Thora. 2) Hier tritt zu den beiden im vorigen Spruch genannten Stücken noch der Opferdienst hinzu. Der Ausdruck, daß auf den dreien die Welt beruht, sagt nichts anderes, als daß diese drei die Gnade Gottes, die den 'N eltbestand erhält, gewährleisten. Für den Ausdruck vergleiche Hebr. I, 3. Die Liebe tritt also neben das Gesetzesstudium und den Opferdienst als Sühne für die Sünde. Auch die Zusammenstellung von Liebesübung und Opferdienst hat ihre Parallelen. So sagt Jochanan ben Sakkai: "Wie das Sündopfer für Israel Vergebung erwirkt, so erwirkt die Wohltat Vergebung für die Völker der Welt." 8) Die Wohltätigkeit verschafft also sogar den Heiden die Gnade Gottes und den Zutritt zu ihm und hat darum dieselbe Bedeutung wie für Israel die Opfer. Denselben Sinn hat ein Wort Jochanans, mit dem er seine Schüler über die Zerstörung des Tempels tröstet: "Laß es dir nicht leid tun; uns bleibt eine Sühne, die der durch Opfer gleichkommt. Das ist die Übung von Liebeswerken ; denn so heißt es: Liebe begehre ich und nicht Opfer." 4) Unter diesen Gesichtspunkt tritt auch die Verzeihung. Sie wird geübt, weil von ihr die göttliche Vergebung abhängt. Sir. 28, 2: "Erlaß das (dir getane Unrecht) deinem Nächsten und alsdann werden, wenn du darum bittest, deine Sünden vergeben werden." Daß das Unrecht nur dann vergeben werden muß, wenn um V ergebung gebeten wird, daran wird festgehalten. Eleazar ben Azarja sagt: "Am Versöhnungstage werden nur die Sünden gegen Gott vergeben, die gegen den Nächsten nur dann, wenn man sich vorher mit ihm ausgesöhnt hat" m. Joma VII 19. Den Widerspruch zwischen den Stellen: Deut. 10, 17 und Num. 6, 26 (Gott 1) C\~l~ C\ivy~, ~",n ,,\~ Il;'w \i
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2) Cf. zur Exegese der Stelle Perles S. 81. 3) b. baba bathra 10 b. Schlatter, Jochanan ben Saccai S. 37. ''l SchlaUer S. 39·
16 nimmt keine Rücksicht - und: er erhebt sein Angesicht, d. h. er wandelt sich) gleicht Jose ben Kohen so aus: "Meine Beleidigung sei dir vergeben, aber gehe hin und beschwichtige deinen Nächsten, dem du schuldig bist." So ist von jenen Bibelsprüchen der eine, nach welchem Gott Rücksicht nimmt auf die Sünden des Menschen gegen Gott, der andere, das Gegenteil aussagende, auf die Sünden gegen den Nebenmenschen zu beziehen. 1) Da die Liebe vor Gott dieselbe Bedeutung hat wie das Opfer, so tritt sie an seine Stelle. Mit diesen Gedanken war eine Erkenntnis gegeben, von der aus die Überordnung des Kultus über die Nächstenliebe überwunden werden konnte. Der Gedanke tritt hervor, daß die Gaben an Gott in dem bestehen, was dem Menschen gegeben wird. Dieser Gedanke kehrt häufig wieder; z. B. Sir. 32, 2: "Wer Wohltaten erweist, bringt ein Speisopfer dar, und wer W ohltätigkeit übt, opfert ein Lobopfer." Oder b. Berach. 32 b: "Größer ist Wohltun als Opfer." So wird die Bezeichnung Opfer zum feststehenden Ausdruck für die Wohltätigkeit, vgl. Hbr. 13, 16. Allein dieser Gedanke brachte auch eine Gefahr mit sich. Das Almosen gilt darum als Opfer, weil es als eine an Gott gegebene Gabe aufgefaßt wird. Sie hat wie das Opfer den Zweck, den Zutritt zu Gott zu gewähren. Dieser Zweck ist das Motiv der Wohltätigkeit. Die Gabe entspringt nun nicht dem Bedürfnis des Nächsten, sondern dem eigenen Bedürfnis nach Gnade. Die Liebesübung tritt unter den Begriff des Verdienstes. Dadurch wird die Liebe, aus der sie entspringt, gefahrdet. Die Tat wird von ihrem Motiv getrennt. Der Wille, aus dem sie entspringt, ist nicht Liebe. Indem die Tat vom Motiv getrennt wird, entsteht der Begriff des guten Werkes. Dieses wird abgelöst von seinem Motiv und darum sachlich gewertet. Es kommt nun auf die einzelnen guten Werke an, auf den Effekt, nicht auf das zugrunde liegende Wohlwollen. Wie sehr der Verdienstgedanke die Aufmerksamkeit vom Wohlwollen auf das äußere Resultat ablenkt, zeigt z. B. eine Bemerkung wie Sifre zu Deut. 24, 19. Hiernach ist es ein Verdienst, ein Goldstück zu verlieren, das von einem Armen gefunden wird. 2) Die Liebe wird zersplittert m einzelne Liebeserweise. Da diese als Verdienste angerechnet 1) Bacher 73 (2. Auf!. 68). 2) Nach Eleazar b. Azarja cf. Bacher 228 (2. Auf!. 220).
17 werden, die die Sünden aufwiegen sollen, so kommt es auf ihre Zahl und Größe an; der Maßstab wird quantitativ. Es erhebt sich die Frage, wieviel zu geben sei. Je mehr einer gibt, desto gesicherter erscheint die göttliche Gnade. Nach Peah I, 1 haben die Liebeserweisungen kein bestimmtes Maß. Man tut, um sich zu sichern, das Größere, um auf alle Fälle das Notwendige getan zu haben. So entsteht als die wichtigste Äußerung der Liebe eine ausgedehnte Wohltätigkeit. Sie besteht vor allen Dingen im Almosengeben, im Speisen und Kleiden der Armen, z. B. Tob. I, 16; 4, 16; 14,2.9. Daneben steht das Besuchen der Kranken Sir. 7, 35: "Laß dich's nicht verdrießen den Kranken zu besuchen, denn auf Grund solcher Dinge wirst du geliebt werden." Nach der Tradition fordert besonders Akiba diese Liebespflicht. Auch das Gebet für Kranke gilt als Pflicht des Frommen m. Ber. V, 5. Daneben steht als verdienstliches Werk die Bestattung der Toten, so besonders im Buche Tobit, vgl. Sir. 7, 33: "Wenn einer tot ist, so versage ihm die letzte Ehre nicht." In welchem Maße z. B. die Totenbestattung als Verdienst aufgefaßt wird, zeigt die Anekdote aus dem Leben Akibas, nach der die Bestattung eines Toten für ihn der Anlaß des Studiums wurde, da ihn ein Rabbine darauf hinwies, wieviel Fehler er bei diesem guten Werke gemacht habe. Tritt das Werk unter den Gesichtspunkt des Verdienstes, so muß es korrekt sein. Wenn die Wohltätigkeit darum geübt wird, weil sie verdienstlich ist, so ist damit nicht gesagt, daß sie nur in egoistischem Interesse gepflegt wird; es finden sich auch Worte von großer Zartheit, die aus echter Liebe stammen, wie Sir. 18, 16: "So ist auch das, was man dazu sagt, besser als das Geben selbst." Auch bleibt die Liebesübung nicht beim Almosengeben stehen, vielmehr unterscheidet man vom Almosen das, was man in weiterem Sinn Liebeserweisung nennt O'1!?t:\ n~,'~~, Den Unterschied bestimmt Succa 49 B so: "Die Liebeserweisungen zeichnen sich vor den Almosen durch drei Vorzüge aus. W ohltätigkeit betätigt man nur mit Geld, Liebeserweisung auch mit persönlicher Bemühung. Wohltätigkeit gilt nur den Armen, Liebeserweisungen auch den Reichen. Wohltätigkeit erstreckt sich nur auf die Lebenden, Liebeserweisungen .auch auf die Toten." Hierin zeigt sich der Wille zu einer Liebesübung, die über sachliche Lütgert, Die Liebe im N. T. z
18 Wohltätigkeit hinausgeht. Doch zeigt schon das Wort, daß man dabei zunächst wieder an einzelne gute Werke denkt. Unter ihnen tritt besonders das Friedestiften hervor. m. Peah I, 1 rechnet zu den Liebesdiensten auch das Friedestiften zwischen dem Menschen und seinem Nächsten. Wie hoch diese Pflicht gestellt wird, zeigen Äußerungen wie Gittin 59 B.I) Die ganze Thora ist nur wegen der Sitten des Friedens da. "Wenn Israeliten auch den Götzendienst betreiben, .aber zugleich den Frieden bewahren, so spricht Gott: "Ich kann ihnen nichts anhaben, weil Friede unter ihnen ist." 2) Dabei wird es auch ausdrücklich als Verdienst bezeichnet: "Gottes Strafgericht wird fern von jemandem bleiben, der Frieden stiftet zwischen den einzelnen, zwischen Mann und Weib." 3) Als Wort Hillels wird überliefert: "Sei von den Jüngern Arons, den Frieden liebend und nach Frieden strebend, die Menschen liebend und sie hinführend zur Thora," Ab. I, 12. 4 ) Ähnlich Ps. Sal. 12, 5 : "Der Gerechte dagegen wirkt Frieden in seinem Hause." Die Aufgabe des Friedenstiftens, der Beseitigung des Streites wird zunächst in der Familie gesehen. Sie geht aber über diesen engsten Kreis hinaus. Von Jochanan wird das Wort überliefert: "Wer Frieden stiftet zwischen Mann und 'Mann, dem Mann und seiner Frau, Stadt und Stadt, Volk und Volk, Reich und Reich, Geschlecht und Geschlecht, wieviel mehr wird über ihn nicht kommen Strafe I" 5) Das Wort zeigt wiederum, daß das Friedestiften als Verdienst geschätzt wird, welches die göttliche Vergebung erwirkt. Ähnlich heißt es b. Berach. 17 a: "Er mehrte Frieden mit seinen Brüdern, mit seinen Verwandten und mit jedermann, selbst mit einem Nichtjuden auf der Straße." Während dieses Wort die Aufgaben über die Menschheit ausdehnt, richtet sich, wie überhaupt beim Liebesgebot, so auch in diesem speziellen Falle das Interesse zunächst auf den Nächsten oder den Bruder. Darin zeigt sich 1) 2) 3) 4)
Bei Lazarus 183. Bei Lazarus 359. Bacher 31. Zu dem Ausdruck "zur Thora bringen" cf. Mech, Ug, 351: "Siehe ich will in mein Land gehen und will alle Kinder meiner Stadt zu Proselyten machen und will sie bringen zum Studium der Thora und sie herzubringen unter die Flügel der Schechina" bei Fiebig, Gleichnisse, S. 53. 0) SchlaUer, Jochanan ben Saccai 55 Anm. 1.
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ein gesunder Zug. Die Liebe wird nicht ins Weite gewiesen und damit zu einer wirkungslosen Phrase, sondern sie bekommt ihre Aufgabe in dem jeden einzelnen umgebenden Kreis. In ihm allein kann die Liebe wirklich zur Tat, zum Werk werden. Als derjenige Kreis, in dem die Liebe zunächst betätigt werden muß, gilt vor allen Dingen die Familie, als einfachste und wichtigste Form der Liebe steht deshalb neben der Wohltätigkeit der Friede im Familienkreis. Chanina bezieht den Wunsch des Priestersegens hauptsächlich auf den Frieden im Hause. l ) Eliezer ben Jakob denkt beim Gebot der Nächstenliebe vor allem an das Verhältnis der Ehegatten zu einander. Wie hoch der Friede in den Familien geschätzt wird, zeigt sich darin, daß man das Werk des Elias vor allem in der Versöhnung der Eltern mit den Kindern sah. Der Christus muß vor allen Dingen Liebe und Frieden in den Familien vorfinden, m. Edujoth VIIl, 7. R. Simon sagt: "Seine Sendung ist bloß Streitigkeiten auszugleichen." Die Gelehrten sagen weder "zu entfernen" noch "aufzunehmen," sondern seine Anwesenheit wird bloß zum Zweck haben, Frieden in der Welt zu stiften, denn es heißt: "Ich sende euch den Propheten Elia, der das Herz der Väter den Kindern und das Herz der Kinder den Vätern zuwenden wird." Diese Beziehung des Liebesgebotes auf den Familienkreis ist ein Beweis für den Ernst und die Nüchternheit, mit der man die Liebespflicht in der Synagoge ergriff. Es ist für die Gesundheit und Reinheit des Gemeindelebens von großer Bedeutung gewesen, daß vor allen Dingen die Pietät gegen die Eltern als Erfüllung des Liebesgebotes galt. Ein ausgeprägter Familiensinn gehört zu den wohltuenden Zügen in der synagogalen Gemeinde, Sirach 3, 1-16. Freilich schleicht sich auch in die Erfüllung dieser Pflicht der Verdienstgedanke ein. Das hat zur Folge, daß die Pietät in übertriebener, ängstlicher Weise geübt wird, so daß sie für beide Teile zur Last wird: Das gute Werk und das Verdienst soll möglichst groß sein. 2) Die Familienliebe wird auch auf das Gesinde ausgedehnt, Sirach 7, 18-28. Dieser enge Zusammenschluß der Hausgenossenschaft trägt freilich die Gefahr in sich, sich nach 1) Bacher S. 56. 2) Schlatter, Geschichte Israels 258.
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außen abzuschließen. Der Kreis, auf den sich die Liebe ausdehnt, wird leicht zu ihrer Grenze. Die Gefahr, die Liebespflicht durch den Familienkreis abzugrenzen, wird jedoch überwunden durch das rege Gemeindeleben. In der Gemeinde wird die Liebe nicht nur in der Form der Wohltätigkeit geübt, sondern man fühlt sich durch das Liebesgebot vor allen Dingen zum allgemeinen Friedehalten verpflichtet. Zur Erfüllung des Liebesgebotes gehört es nicht nur, den Streit für seine Person zu meiden, sondern auch den vorhandenen Streit zu schlichten. Weil es auf den Frieden in der Gemeinde ankommt, so verlangt man zunächst Freundlichkeit im Verkehr. Pirke Ab. I, 15 fordert Schammai: "Empfange jeden Menschen mit freundlichem Gesicht." Zu den drei Merkmalen der Schüler Abrahams gehört darum das gute Auge, d. h. das neidlose Wohlwollen, Pirke Ab. V, I9. Dies ist der gute Weg, an dem der Mensch festhalten soll, Pirke Ab. II, 9. Die Liebenswürdigkeit gilt als eine Haupttugend der Frommen. Allein die in ihr liegende Liebe wird durch den Grundsatz gefahrdet, daß man liebenswürdig sein müsse, um beliebt zu sein. "Stets sei der Mensch erfinderisch in der Gottesfurcht, sanftmütig und den Zorn dämpfend und den Frieden fördernd mit seinen Brüdern und seinen Freunden und allen Menschen, selbst mit den Fremden auf dem Markte, damit er geliebt sei in der Höhe und geliebt hier unten, und annehmlich bei allen Geschöpfen", Berach. 17 a. 1) Es bildet, wie gleich darauf erzählt wird, den Ruhm Jochanans ben Saccai, daß seine Zuvorkommenheit jedermann, auch den Fremden auf dem Markte galt. Das Zitat zeigt, daß man durch Freundlichkeit zunächst die Liebe Gottes erwirbt; aber man wirbt damit auch um die Liebe der Menschen. Ab. III, I I heißt es: "An wem die Menschen Wohlgefallen haben, an dem hat auch Gott Wohlgefallen. An wem aber die Menschen kein Wohlgefallen haben, an dem hat auch Gott kein Wohlgefallen." Nach diesem Grundsatz ist das Bewerben um das Wohlgefallen der Menschen verständlich. Er bildet denn auch einen feststehenden Zug der Frommen in der synagogalen Gemeinde. Sehr deutlich tritt er bei Sirach hervor 4, 7: "Mache dich beliebt bei der Gemeinde." 7, 35 werden. sogar die Krankenbesuche damit
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motiviert: "Laß dich's nicht verdrießen, den Kranken zu besuchen; denn auf Grund solcher Dinge wirst du geliebt werden." Hier wird jedenfalls an Beliebtheit bei Gott und Menschen gedacht. 15, 13: "Jeglichen Greuel haßt der Herr, und nicht ist solcher beliebt bei denen, die ihn fürchten." 20, 13: "Wenn der Weise redet, so macht er sich beliebt; die Liebenswürdigkeiten der Toren aber werden nutzlos verschwendet." 21,28: "Der Ohrenbläser bringt über sich selbst einen Makel, und bei seiner Nachbarschaft ist er verhaßt." Dies Trachten nach Beliebtheit bringt die Gefahr einer allgemeinen Liebedienerei mit sich. Man fürchtet sich deshalb vor Unbeliebtheit und Haß. 9,18: "Wer mit seinen Reden voreilig ist, ist verhaßt." 20, 5: "Mancher ist auf Grun.d seines vielen Schwatzens verhaßt." v. 8 : "Wer sich das Recht anmaßt zu reden, macht sich verhaßt." Wie leicht durch dieses Trachten nach Beliebtheit die Liebesübung zur Heuchelei wird, zeigt ein Wort wie 38, 17: für einen Verstorbenen soll man trauern "einen Tag lang oder zwei, um der Verleumdung zu entgehen (oder um der Leute willen)". Die Folge dieses Strebens nach Beliebtheit ist Abhängigkeit von den Menschen und ihrem Urteil, von der öffentlichen Meinung und der Sitte, eine Menschenknechtschaft, die jede Selbständigkeit und Freiheit gefährdet. Das Verlangen nach Beliebtheit führt zur kleinlichsten Eitelkeit. Da der Rabbine Schmeicheleien hören will, so wird seine Liebenswürdigkeit beständig selbst zur Schmeichelei. Die Regel Ab. m, 1 1 wirkt sehr bedenklich. Im Wohlgefallen der Menschen sieht man die Garantie für das Wohlgefallen Gottes. Weil der Fromme nach Popularität in der Gemeinde hascht, so hat er nicht den Mut alleine zu gehen und den Haß der anderen zu tragen. Man scheut sich Feinde zu haben: Das Murren der Stadt gehört zu den Dingen, vor denen Jesus Sirach sich scheut, 26,6. Er fürchtet sich aufzufallen und von der allgemeinen Sitte abzuweichen. Neben dieser Liebedienerei steht stolze Gleichgültigkeit und Verachtung gegen den Am - Haarez und das stärkste Selbstbewußtsein. Die Folge ist keineswegs allgemeiner Friede, sondern beständiger Streit, weil naturgemäß das Streben nach Beliebtheit niemals gelingt. Über Ohrenbläserei und Klatsch wird beständig geklagt. So bei Jesus Sirach oder z. B. Ps. Sal. 12.
22 Diese Gefahr ist mit dem intensiven Gemeindeleben unmittelbar verbunden. Zunächst aber war das Gemeindeleben der Synagoge das umfassende Ergebnis ihrer Liebesübung. Josephus schildert das Gemeindeleben und sein Motiv, c. Ap. 2, 19, Niese 179--181: "Dies vor allem hat die wunderbare Eintracht unter uns bewirkt. Denn ein und dieselbe Meinung über Gott haben, im Leben und in den Sitten sich nicht von einander unterscheiden, das ruft die schönste sittliche Übereinstimmung unter den Menschen hervor. Denn bei uns allein hört man weder einander widersprechende Worte reden wider Gott . . . . . . ., noch sieht man inbezug auf die Lebensweise Verschiedenheiten, sondern gemeinsam ist unser aller Tun, einheitlich das, was wir in Übereinstimmung mit dem Gesetz von Gott sagen, daß er nämlich alles sieht." Die einzelnen fühlen sich nicht nur jeder für sich, sondern für einander verantwortlich. Denn es handelt sich nicht nur darum, daß im Leben des einzelnen keine Sünde ist, vielmehr haftet die göttliche Verheißung daran, daß in der Gemeinde kein Anstoß ist. 1) Daraus ergibt sich als die höchste und innerlichste Form der Liebesübung eine allgemeine Seelsorge. Den Nächsten zurechtzuweisen gilt als Pflicht nach Lev. 19, 17. 2) Die Glieder der Gemeinde fühlen sich verpflichtet, einander vor der Sünde zu schützen und die Gemeinde vor dem Sünder dadurch zu schützen, daß man ihn straft und ihm die Gemeinschaft verweigert. Eine ernste und strenge Zucht regiert in der synagogalen Gemeinde. Wenn sich die Frommen vom Volke scheiden, so bilden sie keine Sekte, sondern der Ausschluß der Gottlosen soll diese zur Buße treiben, behält also den Zweck sie zu gewinnen. Man gibt das Volk nicht auf, sondern hält den Anspruch an alle seine Glieder aufrecht. Insofern liegt in der pharisäischen Strenge auch ein gutes Stück Liebe. Aber die Gemeindezucht ist wie die ganze Frömmigkeit des Volkes gesetzlich. Die Seelsorge wird beständig zu einer zudringlichen Schulmeisrerei. Über der Aufmerksamkeit auf die anderen wird die Achtsamkeit auf das eigene Leben versäumt, wie das im Gleichnis Jesu vom Splitter und Balken anschaulich dargestellt wird. 1) Lazarus, Ethik des Judentums, S. 18. 2) Bacher S. '1.27 (2. Auf!. 219).
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Wie durch das Streben nach Lohn und nach Liebe, so wird die Liebesübung in der Synagoge durch das Verlangen nach Ehre gefährdet. Sowohl die Äußerung der Liebe zu Gott als die Wohltätigkeit wird durch den Ehrgeiz gehemmt. Der Ehrgeiz gehörte überhaupt zu den religiösen Motiven in der Gemeinde. Man will nicht nur "beliebt sein in der Gemeinde", sondern auch einen Namen haben, berühmt sein oder "groß" sein im Himmelreich. Diese Tendenz setzt der Spruch Matth. 5, 19 voraus cf. Matth. 18, I. Oder man will der Erste sein im Himmelreich Matth. 20, 16. 21. 26. Die, die den Herrn fürchten, sind das Geschlecht, das in Ehren steht, a7re(!tJ.a ~nttJ.o'/l. Sie sind in der Mitte der Brüder geehrt, Jes. Sir. 10, 20. Auf die Ehre, die Aron und Pineas durch ihre Frömmigkeit und ihren Heldenmut gewinnen, macht Jesus Sirach aufmerksam (d6ga, 'i~~ v. 20, auch v. 23 zu ergänzen). Die Geschichtserzählung der MakkabäerbÜcher und die geschichtlichen Überblicke etwa bei Jesus Sirach stehen vollständig unter dem Gesichtspunkte, für die Ehre, den Ruhm, den Namen der Frommen zu sorgen. Der Name, d. h. der Ruhm, ist eine Gabe, die nur Gott geben kann. Die Märtyrer der Makkabäerzeit trösten sich mit der Aussicht auf den Ruhm, den ihnen ihr Leiden und Sterben einträgt. Alles, was zur "Heiligung des göttlichen Namens" dient, bringt auch Ehre. Das Schriftstudium bringt Ehre. Daher die Ermahnung: "Lerne aus Liebe, und die Ehre wird hernach schon kommen".l) Liebe und Ehrgeiz gelten in diesem Spruch als Gegensätze, die sich ausschließen. Aber er ist ein Zeugnis clafür, daß der Ehrgeiz ein kräftiges Motiv des Studiums ist. Er fordert auch keinen Verzicht auf Ehre, sondern vertröstet darauf, daß sie nachkommt. Der Ehrgeiz der Schriftgelehrten, das Trachten nach "Ehre bei den Menschen" ist auch nach den Evangelien eine feststehende Gefahr. Ebenso muß vor einer Wohltätigkeit aus Ehrgeiz gewarnt werden. Gerade weil sie so hoch geschätzt wurde, brachte sie Ruhm. Es ist ein hohes Zeugnis für die Liebesübung in der Gemeinde, daß sie es war, die neben dem Sterben für Gott und dem Schriftstudium Ruhm brachte. Allein eben darum gefährdete der Ehrgeiz die Liebesübung auch beständig. Von Nikodem ben 1) Bei Perles a. a. O. S. 58.
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Gorion, der von beispielloser Wohltätigkeit war, wird erzählt, daß seine Tochter so arm war, daß sie den Sachanom ben Saccai anbetteln mußte. Dieser Fall seines Hauses wird daraus erklärt, daß er seine Wohltätigkeit nur übte "':l~', d. h. aus Ehrgeiz. Darum entging ihm der Lohn.!) Der Talmud urteilt wie Jesus: "Er hatte seinen Lohn dahin."
Neben das Gebot der Liebe zu Gott trat also das Gebot der Nächstenliebe. Formeln, in denen beide Gebote zusammengefaßt werden, finden sich z. B. im Testamente Isaschars v. 7, wo die normale Frömmigkeit beschrieben wird: "Den Herrn liebte ich mit meiner ganzen Kraft, und jeden Menschen liebte ich gleichermaßen wie meine Kinder." Benj. 3 steht die Liebe zum Nächsten neben der Furcht des Herrn. Es ist für die religionsgeschichtliche Sachlage ohne wesentliche Bedeutung, daß ahnliche Zusammenstellungen beider Gebote in einer Formel sich nicht häufig nachweisen lassen. Man kann um deswillen nicht etwa die Zusammenstellung beider Gebote als die Tat Jesu bezeichnen, wie das z. B. auch Wellhausen tut. Das ist auch nicht die Meinung der apostolischen Gemeinde, sonst hätte die Form, die das Liebesgebot Luk. 10,27 bekommen hat, nicht entstehen können. Hier stellt der Schriftgelehrte selbst beide Gebote neben einander. Es ist für unsere Frage gleichgültig, ob das eine genaue Tradition ist. Der Verfasser des Evangeliums nahm jedenfalls keinen Anstoß daran. Man hat darum keine Veranlassung, im apologetischen Interesse die bekannte Anekdote herabzusetzen, nach welcher Rillel einem Heiden das ganze Gesetz in die Worte zusammenfaßte : "Was du nicht willst, daß man dir tue, das tue auch keinem andern." Daß in der Synagoge das Gebot der Nächstenliebe bestand, ist eine Tatsache, die nicht auf ein paar einzelnen Zitaten beruht, 2) 1) Perles a. a. O. S. 85. 2) Lehrreich ist die Art, wie ]osephus die jüdische Frömmigkeit zusammen-
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fassend charakterisiert, c. Ap. 2, 14, Niese 146: ,olpao ')'d~ loeotJoao 'l'allB~O'/l, "a, 7C~OS efloi{Jeoa'/l "al 7C~OS "ow€/J'/Iia.'/I T"lI IUT' dUqÄ.€/J'/I "a' 7C~OS T,,'/I "atJooÄ.ov 'l'0Ä.a'/ltJo(J€/J7Cia'/l ln Je 7C~OS Jo"aooov'II1'/'/I "". Trrp 1'/1 Tols 7C01l00S "~7:B~ia.'/I "a' tJoa'/laTOV 7Ce~''I'~O'/l7JOW 1J.~,oTa "B.pi'/loVS l;tops'/l TOVS '/I0povs.' Zu beachten ist auch die Charakteristik der jüdischen Frömmigkeit 2, 16, Niese 170 u. 171:
und daß es neben das Gebot der Liebe zu Gott tritt, ergibt sich daraus, daß dieses Nebeneinander als eine Schwierigkeit empfunden wurde, und eben darin, daß dieses Nebeneinander zu einer Schwierigkeit wurde, wurzelt der Mangel der synagogalen Liebesübung. Für das, was der Fromme dem anderen schuldet, war aus dem Gesetz her der Ausdruck Gerechtigkeit überliefert. Er hat ihm das zu leisten, was ihm recht ist. Unter den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit tritt also auch die Liebesübung. "Um des Gebotes willen nimm dich des Armen an", sagt Jesus Sirach 29, 9. Ebenso gibt Josephus im Erbarmen gegen die Bittenden ein Gebot des Gesetzes. c. Ap. 2, 27, Niese 207. Was die Gesetze lehren, ist Frömmigkeit und Wohltätigkeit (eiJut{Juall ...• xat 7;~11 7;WlI 01l7;WlI xotVwJltall), c. Ap. 2,41, Niese 291. Daher ist Wohltätigkeit Gerechtigkeit (Otxawuv1I1]. iT~1~)' Die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, gibt jedem, was ihm recht ist, was er verdient, so wie der Mensch empfängt, was er von Gott verdient. Der "Weg Gottes", den Abraham nach Jubit. 20, 2 seinen Kindern einschärft, besteht darin, "daß sie Gerechtigkeit üben und ein jeder seinen Nächsten liebe". Gerechtigkeit und Liebe gehören zusammen. Eleazar aus Modien sagt zu Gen. 18, 20 ff.: "Der Weg und die Tat, zu denen Moses das Volk anleiten soll, sind die Betätigung der Nächstenliebe, des Rechtes und der Billigkeit." Indem die Liebesübung unter den Begriff der Gerechtigkeit gefaßt wird, wird sie ausgedehnt auf das, was der andere zu fordern berechtigt ist, und hiernach wird auch ihre Grenze bestimmt. Das Streben, das sich bei der Gesetzeserfüllung im allgemeinen geltend macht, das Maß des Gebotenen so weit auszudehnen, daß man in jedem Falle sicher geht, das Notwendige getan zu haben, einen "Zaun um das Gesetz" zu machen, macht sich auch in diesem Falle geltend. In der Bereitwilligkeit, die Wohltat möglichst groß zu machen, wirkt eine echte Liebe, die möglichst reichlich geben will. Daneben steht die Tendenz, das Gebot auf das Maß des Erfüllbaren und Mög,ov ya(' fli('o~ u('sTii~ hroir;osv i~v Evaifls,av, dUa TavTr;' fli('r; dUa, ).iyw (Je T~V (Ji ..a,oo{w'7v, T~V OWtp('OOIW'7V, T~V .. a('TE('iav, T~V unv no).,unv n('o. aU~)'ovs 8V t'lnam owtp('oviav. änaoa, yaf! al n('a~Ets ..at (J,aT("fia< ..at ).oyo, narTE' En< T~V n('os {hov 7;fllV Evoifis,av &"atpi('ovow' oMiJv ya(' TOWWV aVE,iTaoTov ov(JiJ ao('tOTov na('iJ.tnEv.'
26 lichen einzuschränken. Diese beiden Bestrebungen wirken gegen einander, und so entsteht ein Suchen nach der Grenze des Gebotenen. Die Tendenz sie sicherheitshalber möglichst weit hinauszuschieben, die Forderung aber doch nicht zu überspannen, erweckt beständige Fragen nach der Grenze der gebotenen Liebe. Ein lehrreiches Beispiel bietet Matth. I8, 2 I ff. Petrus fragt nach der Grenze der Versöhnlichkeit und nennt in der Meinung, ein möglichst großes Maß von Geduld zu fordern, siebenmalige Verzeihung. Ähnliche Schwierigkeiten entstehen bei der Frage nach dem Maße der Wohltätigkeit. Auch hier liegt die Neigung vor, sie möglichst weit auszudehnen, dann aber auch die Grenze geltend zu machen. Z. B. Ab. V, IO: "Das Meine ist mein und das Deine ist dein, dies ist eine mittelmäßige Sinnesart; das Deine ist mein und das Meine ist dein, so spricht ein Unwissender, das Meine ist dein und das Deine auch dein, so spricht ein Frommer." Ein resultatloses Ringen bleibt die Frage, wie die Liebe mit dem berechtigten und notwendigen Streben der Selbsterhaltung auszugleichen sei. Das Gesetz bot hier die Formel: Lieben wie dich selbst. Dem entspricht das Wort von Elieser Ab. II, IO: "Es sei dir die Ehre des Nächsten so lieb wie die deinige", und Josuah Ab. II, I2: "Es sei das Vermögen des Nächsten dir so teuer wie das deinige." Auf derselben Linie hält sich das Wort von Hillel: "Was dir unlieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht." Der Spruch wird von Akiba als Deutung des Liebesgebotes Lev. I9, I8 wiederholt als das "große Gebot" in der Thora: sifra z. d. St. Die darin gegebene Umschreibung des Liebesgebotes bildet offenbar ein feststehendes Stück der Tradition, denn sie findet sich auch bei Philo in der Form: [1 'Hg 1ta:Jelv Ex:Jal(lEl, !J~ 1to18lvafn;ov. "Was man zu leiden haßt, soll man auch nicht einem andern tun."!) Aber die Frage, wo die Grenze der gebotenen Aufopferung und des erlaubten Egoismus liege, führte zu unlösbaren Schwierigkeiten. So erwägt Hillel: Ab. I, I4 : Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? und wenn ich allein für mich bin (d. h. nicht auch für andere), was bin ich? Eine ähnliche Frage knüpft ben Paturi an Lev. 25, 36 an: dein Bruder lebe mit dir, d. h. 1) Cf. Bernays, Abhandlungen 272 ff.
27 man dürfe nicht mit Preisgebung des Lebens seines Mitmenschen das eigene Leben retten. Akiba entscheidet, im Konfliktsfalle sei das eigene Leben in erster Linie zu berücksichtigen. Dieser Verlauf der Debatte zeigt anschaulich, daß das Ringen zwischen Liebe und Egoismus zu keinem Resultat kommt, nicht einmal zu einer anerkannten Formel. Man kommt nicht hinaus über ein Schwanken zwischen unerfüllbaren Forderungen, die ein böses Gewissen erzeugen, und solchen, die die Grenzen des berechtigten Egoismus möglichst nahe rücken. Auch die Frage, wer die Liebe zu fordern hat, führt zu Schwierigkeiten. Das Liebesgebot bezieht sich auf den Nächsten oder den Bruder. Seitdem sich Volk und Gemeinde nicht mehr deckten, sieht der Fromme im Frommen den Bruder, den ':;1IJ. Es ergibt sich nun die Frage, wer ist der Nächste, wer ist berechtigt Liebe zu fordern, Luk. 10, 29, wo liegt die Grenze, über die hinaus man nicht mehr verpflichtet ist? Damit hängt die Frage nach der Berechtigung des Zornes zusammen. Darf man überhaupt zürnen oder nicht, und wem darf man zürnen, und wie zürnt man ohne zu sündigen? Man ringt danach, das Liebesgebot mit dem aufrichtigen Zorn über das Böse zu vereinigen. Das Bewußtsein um das Unrecht des Hasses ist lebendig, doch führt es nicht zum wirklichen Sieg über ihn, z. B. Ab. IV, 19: "Wenn dein Feind fällt, freue dich nicht, und wenn er strauchelt, frohlocke dein Herz nicht. Der Ewige könnte es sehen, und es mißfiele ihm, und er wendete von ihm seinen Zorn." Die Erkenntnis, daß Gott den Haß nicht will, ist klar, aber nur die Äußerung des Hasses wird unterdrückt und nur darum, damit er um so sicherer befriedigt wird. Der Widerwille Gottes gegen den Haß wird mit dem Willen des Frommen zum Hassen vereinigt. Die Versöhnlichkeit ist Gottes Wille, aber nicht der Wille des Menschen. Man darf durchaus nicht sagen, daß die Unterdrückung des Hasses nicht als eine notwendige Aufgabe erkannt und ergriffen wäre. Zu den Pflichten des Frommen gehört auch der Kampf gegen den grundlosen Haß C~I") M~til:' 1); "Zorn und besinnungslosen Grimm halte fern von mir", Ps. Sal. 16, 10. Allein die Frage 1) Vgl. Perles, S. 88.
ist die: wann der Haß begründet und berechtigt ist. Religiöse Pflicht aber ist der Haß gegen die Feinde des Volkes. In dieser Regel spiegelt sich einfach der Gottesgedanke wieder: Gott liebt sein Volk und haßt dessen Feinde. Die Gefährdung der Liebe ergibt sich aus dem hochmütigen Glauben. Der Kampf gegen die Feinde des Volkes gewinnt deshalb den Charakter der Rache. Zur Begründung des Hasses dient die Unterscheidung von Frommen und Sündern, und die Regel ist die, den Frommen Liebe zu erweisen und sie dem Sünder vorzuenthalten, Sirach 12, 1-6 ~ "Wenn du Gutes tust, so achte darauf, wem du es erweisest, und es wird deinen Wohltaten Lohn zuteil werden. Tue dem Frommen Gutes, und du kannst auf Vergeltung rechnen, und wenn nicht von ihm, so doch vom Höchsten. Nicht sind Wohltaten am Platze bei dem, der immer darauf aus ist, Böses zu tun, und bei dem, der nicht Wohltätigkeit vergilt. Gib dem Frommen und nimm dich nicht des Sünders an, tue Gutes dem Demütigen und gib nicht dem Gottlosen. Deine Waffen liefere ihm nicht aus. damit er dich nicht in seine Gewalt bekommt. Denn auf doppelt so viel Schlimmes mußt du dich gefaßt machen bei allen W ohltaten, die du ihm erweisest. Denn auch der Höchste haßt den Sünder, und dem Gottlosen zahlt er mit Ahndung heim." Der Grundsatz ist also, die Wohltat gehört dem Frommen; nur die dem Frommen erwiesene Wohltat ist verdienstlich. Nur von ihm kann man Vergeltung erwarten. Dagegen ist die Wohltat dem Gottlosen vorzuenthalten, da man ihm nur die Möglichkeit gewährt, sein gottloses Leben fortzusetzen. Der Grund ist der: Auch Gott haßt die Sünde. Es gibt daher zwischen Sündern und Frommen keine Gemeinschaft. Cf. Sirach 13,16.17: "Mit seinesgleichen schließt sich der Mensch zusammen. Was hat der Wolf für eine Gemeinschaft mit dem Lamm? So auch der Sünder gegenüber dem Frommen." Tobit 4, 17: "Spende reichlich deine Speise beim Begräbnis dem Gerechten, aber gib nicht den Sündern." Ab. I, 7: "Halte dich fern von einem bösen Nachbar, geselle dich nicht zu einem Bösewicht und gib den Gedanken der Vergeltung nicht auf." Dem Frommen ist die Liebe darum zu gewähren, und den Bösen ist sie deshalb zu versagen, weil Gott so handelt. In der Absicht mit der Liebe Gerechtigkeit zu üben, behandelt der Fromme die Leute beständig nach dem
29 Urteil Gottes, d. h. er richtet. Er handelt nach der Regel: Lieben soll man den, den Gott liebt, und hassen den, den Gott haßt. Die Liebesübung hängt darum mit dem Gottesgedanken und dem Glauben eng zusammen, und das hochmütige Selbstbewußtsein, das mit dem Glauben verbunden war, störte auch die Liebe. Wie Gott parteisüchtig gedacht wird, wie die Frommen seine Partei, seine Lieblinge sind und ihre Gegner seine Feinde, wie er es nicht genau nimmt mit der Sünde der Seinen, so wird auch die Liebesübung parteisüchtig. Die Feinde der Frommen sind Gottes Feinde. Die Regel des Frommen schlägt aus der: Wem Gott zürnt, dem zürnt der Fromme, beständig in die andere über: Wen ich hasse, den haßt Gott. Dieser Haß ist das Ergebnis der Geschichte des Volkes. Der Streit gegen das Volk wurde beständig zum religiösen Gegensatz, und damit wurden die Feinde Israels zu Gottes Feinden. Die Erkenntnis, daß auch im Volke selbst Sünde ist, hinderte diese Entwicklung nicht, sondern führte nur zu einer Unterscheidung zwischen dem Volk und der Gemeinde, denen, die die Geltung des Gesetzes vertreten, und denen, die es ignorieren, den llvOflOl. Von der &voftia scheiden sich die Frommen mit grenzenlosem Abscheu. Die, die in den Makkabäerkämpfen das Gesetz. verleugnet haben, verdienen keine Liebe und keine Gemeinschaft. Der Haß gegen sie gehört zur Frömmigkeit und wird zum Inhalt des Gebetes. Der Gedanke, daß jede Sünde auch im Kreise der Frommen &lIoftla ist und daß darum das Volk nicht in zwei Kreise zerfällt, von denen der eine nur Haß und der andere nur Liebe von Gott und Menschen verdient, dieser Gedanke erblaßt. Der fromme Haß, der sich in Wort und Tat Luft macht, wird zu einem wesentlichen Stück der Frömmigkeit, ohne daß dabei eine Versündigung befürchtet wird. Für Jesus Sirach gehört es zu den zehn Dingen, die des Lobpreises wert sind, daß man bei Lebzeiten dem Fall seiner Feinde zusieht, 25,7. Mit Befriedigung wird von der Rache an den Abgefallenen erzählt, z. B. 3. Makk. 7, 10 ff.: "Sie baten den König, daß die aus dem Geschlechte der Juden, die vom heiligen Gott freiwillig abgefallen und sein Gesetz übertreten hätten, durch sie die verdiente Züchtigung erhalten möchten . . . .. So töteten sie jeden Volks· genossen aus der Zahl der Befleckten, der ihnen auf dem Wege in die Hände fiel und brachten ihn unter Beschimpfungen um.
30 An jenem Tage aber brachten sie über dreihundert Männer um und begingen ihn mit Freuden als einen Festtag, weil sie die Unreinen getötet hatten." Der glühende Haß gegen die Verfolger der Gemeinde spricht sich in den Worten der sterbenden Märtyrer der Makka:bäerzeit leidenschaftlich aus. Er bekommt seine Schärfe dadurch, daß er sich als etwas Heiliges darstellt, er äußert sich im Gebet. "Möchte, Herr, sein Teil vor dir in Schande sein, sein Ausgang in Seufzen, sein Eingang in Fluch; in Weh, Not und Mangel sein Leben; sein Schlaf in Trübsal und sein Erwachen in Ängsten; es werde der Schlaf seinen Gliedern geraubt in der Nacht; es möge ihm mißlingen jedes Werk seiner Hände; mit leeren Händen komme er in sein Haus, und sein Haus leide Mangel an allem, was den Hunger stillt; einsam und kinderlos sei sein Alter bis zu seinem Hingang." Ps. Sal. 4, 14-18. Ebenso malen die eschatologischen Bilder mit wollüstiger Phantasie die Rache Israels über seine Feinde aus. Dieser heiße Haß ist freilich das verständliche Ergebnis eines furchtbaren Kampfes. Allein wie die Frömmigkeit, so hat auch die Liebesübung in diesem Kampfe ihre Reinheit eingebüßt. Der Haß richtet sich nicht mehr gegen das Böse, wo es sich auch findet, sondern gegen die Feinde der Gemeinde. Den religiösen Gefahren, die sich aus dem Streit um das Gesetz ergaben, sind die Frommen in dieser Beziehung nicht entronnen, sondern erlegen, und auch in der Gemeinde selbst wird der fanatische Haß gegen die Übertreter des Gesetzes zu einem feststehenden Zuge. Eliezer ben Hyrkanos, der im Banne starb, sagt von den Rabbinen: "Ihr Biß ist Schlangenbiß und ihr Stich Skorpionenstich," Ab. II, 10. Und noch in der römischen Zeit sagt Eleazar ben Ladok von den Ärzten, die seinem Vater geholfen haben: " Vater, gib ihnen ihren Lohn in dieser Welt, damit sie kein Verdienst in der künftigen durch dich haben" (vgl. un8xovlTtJl Matth. 6, 2 f.). Weil sich so der Haß nur nach außen wendet und nach außen hin nur Haß wendet, so wird auch die reiche Liebesübung innerhalb der Gemeinde gefährdet. Hier wird freilich in reichem Maße Liebe geübt und Wohltätigkeit gepflegt. Die Liebe ist nicht nur ein Anliegen des einzelnen, sondern eine Sache der Gemeinde. Sie wird gesetzlich geregelt, der Anteil der Armen wird bestimmt. Es wird in der Gemeinde für sie kollektiert.
31 cf. m. Peah und Demai. Dadurch wird die Versorgung der Armen wirksamer. Freilich war damit auch die Gefahr gegeben, daß die Beziehung von Person zu Person gelockert wurde, das Geben wurde eine sachliche Leistung, das in der W ohhat liegende \Vohlwollen wurde gefahrdet. Indem ferner die Wohltätigkeit nur auf den Kreis der Gerechten ausgedehnt wird, wird sie parteisüchtig. Sie grenzt sich mit dem Kreis der Frommen ab. Mit der immer. schärfer werdenden Scheidung zwischen dem Volk und den Heiden, dem Frommen und dem Volk, wird die Liebe immer mehr auf den Kreis der Parteigenossen beschränkt. Ihnen verzeiht Gott und darum auch der Fromme. Dies ist die Sinnesart, die Paulus f"~l:Jeia und 7tfloownolWttfJia nennt. Die Aufgabe, dem Menschen die Gemeinschaft zu gewähren und sie gleichzeitig dem Bösen zu versagen wird nicht erkannt und ergriffen. Die Frommen sind zugleich die Abgesonderten. Verkehr mit den Sündern ist eine Sünde. Man spricht von Sündern und von Frommen, wie von fest gegen einander abgeschlossenen Volksklassen. Zur Überwindung von Spannungen und Gegensätzen reicht darum die Liebe nicht aus. Sie überwindet die Parteisucht nicht, sondern verschärft sie nur. Aus der Absicht, die Pflicht der Liebe abzugrenzen nach dem Grundsatz dem andern zu tun, was er zu fordern berechtigt ist, ergeben sich auch unlösbare Schwierigkeiten bei der Frage nach der Verzeihung: wie weit soll und darf sie gehen? In dieser Frage streiten mit einander der Gruqdsatz der Strenge und die Furcht, es zu weit zu treiben. Beide schränken einander ein. Aus der Absicht der Schonung und Milde ergibt sich die Tendenz, das Gesetz zu erweichen, das Joch des Gesetzes zu erleichtern und erträglich zu machen. Darum werden Umgehungen des Gesetzes möglich gemacht. Es wird unterschieden zwischen großen Geboten, die gehalten werden müssen, und kleinen, die übertreten werden dürfen. Die Verzeihung besteht wie bei Gott so auch bei den Menschen darin, daß man es nicht genau nimmt, sondern von Todsünden läßliche Sünden unterscheidet. So wird die Milde zur Laxheit. Daneben steht das Streben nach exakter Gesetzeserfüllung , die Neigung unerträgliche Lasten zu binden und den Menschen aufzulegen Matth. 23, 4. Beide Tendenzen stehen neben einander, Verzeihung und Ernst einigen sich nicht,
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sondern begrenzen einander. Je strenger der Rabbine ist, desto liebloser ist er. Je mehr Gerechtigkeit desto weniger Gnade. Diese Schwierigkeit entspricht einer Spannung im Gottesgedanken. Im Gottesgedanken tritt neben das Maß der Güte das Maß des Rechtes. Beide sind innerlich nicht geeinigt. Gott handelt nach dem einen oder nach dem andern und gibt mit dem einen das andere preis. Dieses Schwanken zwischen Recht und Liebe im Gottesgedanken spiegelt sich in der Liebesübung wieder und nimmt auch ihr die Einheitlichkeit. So lagen in der Liebesübung der Synagoge eine Reihe von ungelösten Problemen und Aufgaben. Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen treten neben einander, und damit in Spannung und Gegensatz. Das Verhältnis von Furcht und Liebe wird nicht klar. Furcht und Liebe erscheinen als Gegensätze, und doch soll aus der Furcht Liebe werden. Ungelöste Schwierigkeiten entstehen auch dadurch, daß nach der Grenze der gebotenen Liebe gesucht wird. Besonders aber wird die Liebe durch den Verdienstgedanken gefährdet. Man unterscheidet das Werk vom Willen: es gibt gute Werke ohne Liebe. Es lagen hier reelle Schwierigkeiten vor, die durch eine neue Formel nicht zu beseitigen waren.
2.
Kap i te 1.
Der Einfluß des Hellenismus auf das Verständnis und die Erfüllung des Liebesgebotes. Der Einfluß der Griechen auf die jüdische Lebenshaltung ist nicht in erster Linie durch die Literatur vermittelt, sondern ist eine Wirkung des griechischen Lebens. Dabei werden die verschiedenen Richtungen des Hellenismus nicht voneinander unterschieden, sondern zunächst tritt ihr gemeinsamer Charakter in seiner Eigenart dem Judentum entgegen. Vor allem steigert der Hellenismus die Freude an der Kultur. Sie erscheint als ein Werk von Menschen für Menschen, ohne religiöse Motive und Ziele. Nachdem die akute Gefahr der Hellenisierung in der Makkabäerzeit überwunden war, beginnt ein allmählicher und friedlicher, innerlicher und um so tiefer gehender Einfluß des Hellenismus. Er zeigt sich zunächst in der Steigerung des Selbstbewußtseins und zwar nicht nur des selbstbewußten Auftretens nach außen hin, sondern vor allen Dingen im Abschließen des Selbstbewußtseins Gott gegenüber. 1) Es bildet sich ein Gefühl und Bewußtsein der Selbständigkeit Gott gegenüber aus. Das Bewußtsein der Abhängigkeit wird matt. Das Volk hat neben den religiösen Interessen nun neue eigene weltliche Ziele. Die Frömmigkeit wird zu ein e m seiner Anliegen, neben welchem es noch andere gibt. Diese Emanzipationsbewegung, die das Leben Israels umgestaltet, spiegelt sich wieder in der in der Synagoge auftauchenden Debatte über die Willensfreiheit. Sie führt zu keinem 1) Philo M. I, 93 leg. allegor. IH. Lütgert, Die Liebe im N. T.
Cohn 29 ff. spricht einen ähnlichen Ge· 3
34 einheitlichen Resultat, sondern bildet zwei einander gegenüberstehende Sätze aus. Die Willensfreiheit wird bald stark betont, wie etwa im 4. Esra und im Psalterium Salamonis, bald durch deterministische Gedankengänge geleugnet. So entstellt auch die Darstellungen des jüdischen Parteiwesens bei Josephus sein mögen, so verraten sie doch den Zusammenhang dieser theoretischen Debatte mit den konkreten religiösen und politischen Fragen und zeigen, wie sehr die Fragen Ergebnisse der reellen Strömungen des Volkslebens waren. Sie werden nicht als psychologische Probleme behandelt, sondern sind Glaubensfragen. Es handelt sich um die Frage, ob und in wieweit es für das Volk einen vom religiösen Leben gelösten selbständigen Spielraum für das kulturelle, politische und wissenschaftliche Leben gibt. Man kann die bei den entgegengesetzten Antworten, die Behauptung und die Leugnung der menschlichen Selbständigkeit und Willensfreiheit, nicht etwa auf die Synagoge und den Hellenismus verteilen. In der religiösen Art beider Völker lagen Ansätze zu den beiden Gedankengängen vor. Allein daß die Frage überhaupt auftauchte und diskutiert wurde, führt sich auf den Zusammenstoß des Hellenismus mit dem Judentum zurück. Unter dem Eindruck der griechischen Lebensführung wird man sich teils seiner Abhängigkeit, teils seiner Freiheit von Gott bewußt. 1) Dieser Einwirkung des Hellenismus parallel geht die Emanzipation des Denkens von Gott. Während der Jude gewohnt war, seine Gedanken über Gott und den Menschen aus der Schrift zu danken aus 0 ya(' voliv -rov ~8.0" J7I:OÄE'7I:OJV Of'OÄOYSl f'1J8"8v Elva. -ra "a-ra -rop d'll'[}('oJ1<wOV voliv, a7l:avnx 88 7I:('oua7l:u, .[}up - 0 8"8 7I:aÄw &n:08.8(,au"OJv .[}E(W 'fW'V Je y,vofLevCIJ'V a,navcldv iavTov. UysTat ön -ra EV -rq; "ouf'o/ 7taVTa 'J18('ETat xOJ(,', ~YEf'OVO~ dnavToJe "al trrn:r;oevpaTa "al. vopovr;; "al. l&1] "al. noÄ.tTt"iZ "a" 'f8.a "a, "owa 8;"ata 71:('0. -rE dv'[}('oJ7toV~ "a' 71:('0. Ta l1Äoya !;q;a '.[}ETO flOva.
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1) Im Nomismus und im Verdienstgedanken lagen Motive, die zur Behauptung der Willensfreiheit f"ührten. Sobald das Gottesbewufltsein stärker hervortritt, wird die Abhängigkeit auch des menschlichen Willens von Gott betont. cf. z. B. den Aristeasbrief. Die Debatte über die Willensfreiheit ist jedenfalls in die Kirche nicht unmittelbar aus dem Hdlenismus eingedrungen, sondern aus der Synagoge. Die Diskussion über die Willensfreiheit in der Synagoge verdient daher eine besondere Darstellung. Vorherwissen Gottes und menschliche Freiheit steht. zum erstenmal nebeneinander in dem Wort Ab. III, 16.
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schöpfen, trat ihm beim Griechen ein selbständiges Denken entgegen, das ihn durch seine Ungebundenheit und durch das damit verbundene starke Selbstbewußtsein zugleich anzog und abstieß. Es widersprach seiner Frömmigkeit und zog zugleich seine Eitelkeit an. Der Gegensatz gegen den griechischen Rationalismus, der Anschluß an ihn und die verschiedenen Vermittelungen beweisen gleichmäßig, wie stark die Auseinandersetzung mit diesem Zug des Griechentums die Juden beschäftigt hat. Bald äußert sich das durch die Behauptung, daß der Jude mit der Bibel ebenfalls eine Philosophie besitze, bald durch den Versuch, das Gebot der Schrift auch rational zu begründen. Neben rationalistischer Begründung der Beschneidung und des Sabbatgebotes finden wir zum Beispiel eine rationalistische Begründung der Speisegesetze ; vgl. etwa 4- Makk. 5, 25, die sehr charakteristisch ist. "Obgleich wir gl a u ben, daß das Gesetz eine Sache Gottes ist, so w iss e n wir doch, daß der Schöpfer der Welt als Gesetzgeber seiner Natur nach mit uns empfindet; was unserer Seele verwandt sein würde, das gestattet er uns zu essen." Ähnliches bietet der Aristeasbrief ed. Wendland 143 ff. Ebenso gibt es rationale Begründungen des Liebesgebotes, z. B. Sir. 13, 15: "Jedes Lebewesen liebt seinesgleichen und jeder Mensch seinen Nächsten." Hier erscheint das Liebesgebot als ein Naturgesetz, und zwar deshalb, weil es als vernünftig dargestellt werden soll. Auch Philo leitet das Sittengesetz aus der Natur ab M. 1,1. 1) Das Gesetz ist Naturgesetz. Adam lebte nach der Verfassung des Weltalls M. I, 34. Auch die Humanität ist ein Zug der Natur II, 392. Der Rationalismus hat wie immer, so auch hier apologetische Motive. Infolge dieses Bewußtseins eines selbständigen und produktiven Denkens dringt der griechische Intellektualismus in die Synagoge ein. In ihm verbindet sich das Bewußtsein der Willensfreiheit mit dem Rationalismus. Der Hellenismus wird seit Sokrates durch den Gedanken beherrscht, daß die Tugend lehrbar sei. Aus der Erkenntnis der Tugend folgt die Fähigkeit und die Willigkeit zu ihr. Die griechische Ethik wird deshalb dargestellt im Ideal des Weisen. Dieses Ideal dringt auch in die Synagoge ein. Neben den Frommen tritt nun der Weise. Denn auch auf diesen Gedanken war die Synagoge 1) -roii 'IIo~l~o'll &.'IIlJ~os 8~8'vS ovros "oU~On:OUTOV n:~os -ro fJov).TJ~u. -rijs; -ras n:~d'8tS d.n:sv9'V'llO'll'ros.
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vorbereitet. Er entsprach der Hochschätzung der Schriftgelehrsamkeit und des Thorastudiums. Wie der Schriftgelehrte dem 1"1'$'::1 cv., so stand der Weise den "Vielen" gegenüber. Wie sich der Pharisäer vom Volke abschloß, das das Gesetz nicht kennt, so der Weise von der gedankenlosen Menge. Das Ideal des Frommen, der sich von der Welt abschließt und sich dem Thorastudium widmet, verband sich leicht mit dem Ideal der wissenschaftlichen Muße, die nur der Philosophie gewidmet ist. Wie nahe beide Ziele miteinander verbunden waren, das zeigt das Ideal des beschaulichen theoretischen Lebens, wie es Philo geschätzt und gesucht hat. Derselbe Philo zeigt aber auch, daß neben dieses Ideal als zweites das des Mannes tritt, der in den Staats- und Gemeindegeschäften tätig ist, wie Philo es an Joseph schildert. Das Schwanken zwischen beiden Typen ist in diesem Falle nicht bloß für Philos unsichere Gedankenwelt charakteristisch, sondern es spiegelt die ganze Situation wieder. Denn ein weiteres Element des griechischen Lebens, das in das Judentum eingedrungen ist, ist der hellenische S t a at s ge dan k e. Der Ehrgeiz, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, konkurrierte bei den Griechen und Römern mit dem Verlangen nach der Muße eines wissenschaftlichen Lebens. Das rege Gemeindeleben in der Synagoge bereitete . die Juden auf das Verständnis des antiken Staatsgedankens vor. Der Organismus ist schon bei den Griechen ein Bild für den Staat, weil er ein Zusammenwirken aller einzelnen Glieder für das Ganze, und dadurch die Zusammenfassung der Vielheit zu einer Einheit zeigt. Auch in der jüdischen Synagoge gilt es als Regel, daß jeder einzelne sich am Gemeindeleben beteiligt. Es gibt nicht einen tätigen Stand in der Gemeinde, sondern alle ihre Glieder wirken mit j so wenigstens soll es sein. Ein anderer Zug, der mit dem Hellenismus in das Judentum eindringt, ist die Fr eu n d sc ha f U) Im Hellenismus bildet sie sich 1) V gl. über diesen Zug des Hellenismus: Ernst Curtius, Altertum und Gegenwart. 1. Band S. 183 ff. bes. S. 193: "So ist alles wahre Lehren auf Geben und Nehmen, auf volle Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit des Besitzes, auf persönliches Zusammensein, auf Liebe und Freundschaft gegründet." Über die Freundschaft bei den Hellenen cf. bes. Aristoteles. das VIII. Buch der Nikomachischen Ethik.
37 besonders in den Kreisen der philosophischen Schulen aus, Hier verbindet nicht nur die Waffenbrüderschaft oder die Interessengemeinschaft, sondern das gemeinsame Studium, die Teilnahme am inneren geistigen Besitz, In den Kreisen der philosophischen Schulen überbietet deshalb die Freundschaft das Interesse am Familienleben bei weitem. Im älteren Judentum spielt die Freundschaft keine hervorragende Rolle, während das Familienleben stark ausgebildet ist. Schon Jesus Sirach schätzt den Freund sehr hoch. "Ein treu er Freund ist ein starker Schutz; wer ihn gefunden hat, hat einen Schatz gefunden. Für einen treuen Freund gibt's keinen Kaufpreis und kein Gewicht für seinen Wert; ein treu er Freund ist eine Arznei des Lebens, und die, die den Herrn fürchten, werden ihn finden" (vgl. auch 22, 19-26), Der Freund, der bei Jesus Sirach dem Feinde gegenübersteht, ist der Gesinnungs- und Parteigenosse, mit dem die Überzeugung und das Interesse verbindet. Auch bei Josephus, c. Ap. 2, 27, Niese 207, findet sich eine Bemerkung über die Freundschaft, Der Freund ist für ihn der Vertraute. "Vor Freunden darf man nichts verbergen"; denn das sei keine Freundschaft, die nicht alles anvertraue; vgl. zu diesem Begriffe der Freundschaft Joh. 15, 15. Allein indem im Anschluß an die hellenischen Philosophenschulen sich auch im Judentum um die Rabbinen Jüngerkreise bilden, entsteht unter den Studiengenossen das wechselseitige Geben und Nehmen des geistigen Besitzes. Der klassische Zeuge dafür ist Philo; aber z. B. auch Pirke Ab. V, 16 finden wir ein Zeugnis dafür. "Jede Liebe, die von einer Sache abhängig ist, - hört die Sache auf, hört die Liebe auf; die aber von keiner Sache abhängt, hört niemals auf. Welches ist eine Liebe, die von einer Sache abhängig ist? Das ist die Liebe von Amnon und Thamar; die von keiner Sache abhängende ist die Liebe von David und Jonathan." Also der unreinen Liebe wird als Gegensatz nicht die eheliche Liebe gegenübergestellt, sondern die Freundschaft. Ein weiteres Kennzeichen der Einwirkung des Hellenismus ist das Auftreten des Begriffes der Tu gen d. Auch hierin wird man eine allgemeine Wirkung des Hellenismus und nicht einen Einfluß der hellenischen Literatur oder gar eine bestimmte philosophische Schule sehen. Denn der Begriff nicht nur, sondern die ganze Form des ethischen Streben.s, die in ihm zum Auwruck
kommt, ist für den Hellenismus charakteristisch und bildet eine feste und klare Grenze gegen das Judentum hin. Denn jüdisch ist der Begriff gar nicht. So ist die weite Verbreitung dieses Wortes in einem Teile der jüdischen Literatur ein unverkennbares Merkmal griechischen Einflusses. Es tritt neben und gelegentlich an die Stelle des echt jüdischen Begriffes: Werk. In dieser Bereicherung und Verschiebung des Sprachgebrauches kommt ein tiefgreifender Wechsel der Lebensauffassung und Lebensführung zum Vorschein. Nach der einen Seite hin wird die Lebensauffassung damit bereichert. Eine der Gefahren, die im Werkbegriffe liegen, ist durch den Begriff der Tugend überwunden. Die Aufmerksamkeit wird von dem äußeren Ergebnis des Handelns auf ihr inneres Motiv, vom Werk auf den Willen, also in dem hier untersuchten Falle, von der Leistung auf die Liebe, von außen nach innen zurückgelenkt. Ferner ist das Werk etwas Vereinzeltes, die Tugend eine bleibende Eigenschaft, die immer wieder hervortritt. Das Interesse an der Tugend führte also nicht zu der Zerspitterung und Isolierung der Werke. Die Gefahr der sachlichen Auffassung, der Ablösung von der Person lag nicht vor. Dagegen waren mit dem Streben nach Tugend andere Gefahren verbunden, die wieder im Interesse am Werk überwunden waren. Das Streben nach Werken lenkte die Aufmerksamkeit nach außen auf den, der der Hilfe bedürftig ist; der Werkbegriff stellte die Aufgabe wirklich zu helfen und leitete deshalb zu reeller Hilfe an. Dagegen der Tugendbegriff beschäftigte den Menschen mit seiner eigenen Person. Die Tugend gilt freilich nicht wie das Werk als Verdienst bei Gott, dafür aber als Schmuck des Menschen. Unter dem Gesichtspunkt des Schmuckes wird sie auch in der jüdischen Literatur immer wieder empfohlen. Es werden Tugendverzeichnisse aufgestellt, und wie die Aufgabe des Juden darin besteht, sich durch viele und große Werke ein möglichst sicheres Verdienst zu erwerben, so besteht die Aufgabe des Griechen darin, möglichst viele verschiedene Tugenden in sich auszubilden. Das ethische Ideal ist das der xa}..oxo.ya.[Ha der ethischen Schönheit der Person durch die Tugend. Das kehrt im sog. 4- Makkabäerbuch immer wieder. Das Gute und das Schöne fallen zusammen. Damit kommt ein den Juden völlig fremdes ästhetisches Element in die Lebenshaltung hinein. Wo das auf-
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tritt, ist es immer ein sicheres Zeichen hellenischen Einflusses. Das Handeln wird mit dem Prädikat xaM~ bezeichnet, vgl. z. B. 2. Makk. 5, 18-31; 15, 12; 4. Makk. 4, I; Bacher. 75. Das Streben des Juden ist es, ein Werk zu hinterlassen, das Streben des Griechen, aus sich selbst etwas zu machen. Das jüdische Motiv alles Handelns, das Trachten nach Ruhm und nach einem Namen verwandelt sich in das Verlangen nach Bewunderung. Auch der jüdische Fromme trachtet nach Bewunderung, aber nach Staunen über die Größe des Werkes; die Hellenen trachten nach Bewunderung des Adels ihrer Person. Die Ausdrücke E"rEJI~~, rE'JIJlalo~, rE'JIJlat6.,;'I'}~ treten hervor. Sie weisen auf die Bedeutung hin, die die Handlungsweise für die Person des Täters hat. Einige Beispiele aus Philo mögen das beweisen: Das Verbot des Zinsnehmens rechtfertigt Philo II, 389, M. so: Die Gläubigen empfangen statt des Zinses .,;a xciUw.,;a xal u!1-uIJ7:a.,;a ";WJI 8J1 &JI:fflcfJ11:OL~. Dann folgt die Aufzählung der Tugenden: "Denn was kann mit diesem Besitz wetteifern, denn auch der Großkönig steht als sehr arm da im Vergleich mit einer einzigen Tugend, denn dessen Reichtum ist seelenlos./I Als Motiv des Verzichtes auf Zinsen wird also nicht etwa die Wohltat genannt, die dem anderen damit getan ist, sondern die Tugend, mit der sich der Wohltäter dadurch geschmückt hat. Er ist damit reich geworden. Ähnlich wird II, 395, M. Ex. 23, 4 das Gebot, das verirrte Vieh den Besitzern zurückzubringen, so motiviert: "Du wirst damit dir mehr als ihm nützen. Ihm verschaffst du ein stummes Vieh von geringem Wert, dir aber ";0 !1-ertf1't;OJI xal ufucfna,,;oJl ";W'JI 8J1 .,;fj PVf1Et: xcX}..ox&ra:fia./I Also nicht mit dem Dienst, der dem anderen geschieht, sondern mit der Tugend, die sich der Wohltäter erwirbt, wird auch hier der Liebesdienst motiviert. Wo sich der hellenische Einfluß im Hervortreten des Tugendbegriffs geltend macht, da wird aus dem Tode für Gott oder für das Gesetz in der Verfolgungszeit ein Sterben für die Tugend, besonders 4. Makk., auch 2. Makk. 14, 42. Während früher über die Liebe zu den Verwandten als etwas Höheres die Liebe zu Gott trat, wird sie jetzt gegen Schwachheit und Menschenknechtschaft durch die Liebe zur Tugend abgegrenzt. So treten Tugend und Liebe in Gegensatz zueinander, vgl. z. B. 4. Makk. 2, IO: "Das Gesetz herrscht über die Zuneigung zu den Eltern, es gibt um
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ihretwillen die Tugend nicht preis; weiter beherrscht es die Liebe zur Gattin, im Fall eines Vergehens weist es sie zurecht. Ferner gebietet es über die Liebe zu den Kindern; im Fall einer Schlechtigkeit bestraft es sie. Endlich regiert es auch über die Anhänglichkeit an die Freunde; im Fall einer Bosheit gibt es ihnen einen Verweis ..... ist doch die Vernunft imstande, durch das Gesetz sogar den Feindeshaß zu beherrschen." Es folgt ein Hinweis auf Dt. 20, 19; Ex. 23, 4. Ebenso heißt es 4. Makk. 14, I: "Die Vernunft beherrscht auch die Triebe der Bruderliebe" oder 1 5, 5: "Die Mutter liebte die. Frömmigkeit mehr als ihre Söhne." Wie schon das letzte Zitat zeigt, entspricht dem Hervortreten des Tugendbegriffs das Hervortreten des Religionsbegriffs. Wie man die Tugend liebt und nicht die Menschen, so liebt man die Religion und nicht Gott. Die Religion und Moral wird subjektivistisch und damit egoistisch. Durch das Streben nach Tugend wird die Liebe gefährdet.
Ein lehrreiches Beispiel des Einflusses hellenischer Gedanken auf die Ethik des Judentums geben die Tischgespräche des Aristeasbriefes. Das jüdische und das hellenische Element treten in ihnen freilich nicht so auseinander, daß sie sich klar sondern ließen. Jüdisch ist das starke Hervortreten des Gottesgedankens. Jede Güte erscheint nicht nur als Gottes Gebot, sondern auch als Gottes Werk. Der beherrschende Begriff der Ethik ist der der Gerechtigkeit. In die Forderung jedem zu tun, was ihm recht ist, faßt sich die Weisheit zusammen. Die rJlxaUl'Ilv1j steht neben der efJaifJEla, 13 I. Die Pflicht gegen den Nächsten ist durch die Gerechtigkeit erfüllt. ftaxw/-lEv rJlXaLOavV1jV 1t~O~ 1t&na~ ftv:f~cb1tOV~, /18/1vTj/1ivOl '&ou rJvvacne6ov'∨ :feau 168. Das Gesetz gebietet, weder durch Wort noch durch Werk irgend jemanden zu schädigen (8 rJe v6/1o~ ~/1WV X8A8VEt ft~'&8 A6Y4! /1~'&8 E~Y4! /1TjrJiva xaxo1touiv 168). Das Vorbild für die Gerechtigkeit ist Gott. Gerecht sein wie Gott, ist deshalb die Losung 209, 212. Gott ist auch das Vorbild für die Güte. Er tut der ganzen Welt Gutes 210. Darum lautet das Liebesgebot, den Würdigen ihre
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Bitten erfüllen, wie Gott; wie Gott die Menschen nicht nach ihren Sünden behandelt, so auch milde sein, wie Gott 192, 207. Wie du nicht willst, daß dir das Böse widerfahre, sondern wie du an allem Guten Anteil haben willst, so tu auch gegen deine Untergebenen und gegen die, die sündigen vgl. Matth. 7, 12. Mitleidig sein wie Gott (208), und gnädig sein wie Gott, wird deshalb vom Menschen gefordert. Gut jüdisch ist es, daß als erste Pflicht die Dankbarkeit gegen die Eltern genannt wird 228, und als größte Versäumnis das Unterlassen der Fürsorge für die Kinder und der Kindererziehung. Aber das Wohlwollen wird ausdrücklich auf alle Menschen ausgedehnt 225, und über die Feindesliebe heißt es 227: Alle meinen, man müsse Gunst bezeugen denen, die sich freundlich zu uns stellen, ich aber glaube, man müsse gegen die Widersacher bereitwilligst Gunst üben. Wie in der Synagoge, so wird auch hier als Ziel der Liebe bezeichnet, bei allen Menschen Wohlwollen zu gewinnen. Wir hören das charakteristische Wort: Bei allen Menschen beliebt zu sein, ist die größte Gabe Gottes 225. Ebenso sorgt man durch Gnade und Wohltätigkeit am besten für den Ruhm. Ziel und Erfolg der Güte ist Popularität und Ruhm. Durch Teilnahme gewinnt man Ruhm und Ansehn bei den Verwandten 242. Das eigentümlichste und charakteristischste Wort über die Liebe findet sich 229. Auf die Frage des Königs, was der Schönheit an Wert gleich sei, erfolgt die Antwort: Die Frömmigkeit, Ei;ot{1ew. . Die Frömmigkeit ist die größte Schönheit. Der Maßstab und das Urteil sind hier echt hellenisch. Nun heißt es weiter 7:0 !Je !Jvva7:ov afn;ij~ eouv &y&n:Tj. af!7:Tj rCxf? .{}eof} MOt~ eodv. Die Liebe ist darum die Kraft der Frömmigkeit, weil sie Gottes Gabe ist. Nur wer fromm ist, vermag zu lieben. Die Liebe folgt aus der Frömmigkeit als das Vermögen, das mit ihr verbunden ist. Der Zusammenhang wird aber hier nicht psychologisch gedacht, sondern theologisch. Der Fromme vermag darum zu lieben, weil Gott ihm Liebe gibt. Diejenigen, mit welchen die Liebe verbindet, heißen im Briefe Freunde cp(),OL; Das Gesetz nennt den Freund so lieb als das Leben 228. Dabei ist aber nicht an Freundschaft mit einem Einzelnen gedacht, denn es heißt weiter: "du tust gutdir alle Menschen zu Freunden zu machen." Von dem allgemeinen Einfluß des Hellenismus ist zu unter-
42 scheiden der Einfluß spezieller philosophischer Ideen. Auf die Auffassung und darum auch auf die Führung des Lebens haben platonische, besonders aber stoische Ideen eingewirkt. Ein lehrreiches Beispiel für den Einfluß stoischer Ideen auf jüdisches Denken und Leben ist das sog. 4. Makkabäerbuch. Hinter den Gedanken der Autonomie der Vernunft tritt der Gottesgedanke stark zurück. Der ).0YUJft6~, die vernünftige Überlegung, beherrscht die Triebe. Als Ideal gilt die Überwindung des Schmerzes in stoischer Ruhe. Dabei wagt aber der Verfasser doch nicht, wie die Stoa, die Ausrottung der Triebe durch die Vernunft zu fordern. Als Israelit schätzt er die natürliche Empfindung als etwas Wertvolles. Darum fordert er nur die Dämpfung und Einschränkung der natürlichen Triebe. So ist bei aller Energie die stoische Ethik gelähmt. Die natürlichen Empfindungen werden nicht getötet, sondern gehemmt und gemindert. Das im Judentum vorwaltende natürliche Interesse, die Forderung auf das Maß des Erftillbaren einzuschränken, waltet vor. Das stoische Selbstbewußtsein zeigt sich in der Betonung der eDye'llla, ye'll'llal6'f7)~, &'IIo(leia (Fähigkeit zur Askese), xa).oxfxya'{}la, es zeigt sich auch in dem Verlangen nach Bewunderung. Stoisch ist auch die Übermalung der Erzählung von I. Makk. im 2. Makk. Onias wird wegen seiner awp(loav'II1j und eDwgla gerühmt, Eleasar wegen seiner rCJIJlat6r1j~ und &(lE'f~, wegen seiner bt 1fatOO~ xa)'Ua'f7)~ &'IIaa'f(lopij~; die Märtyrer sterben re'll'llalw~, in edler Haltung. Sogar ein Selbstmord wegen der rewat6'f7)~ kommt vor. Onias ist ein fxvT)(I xa).o~ xat fxya'{}6~. Dabei ist die Tendenz der Schrift zugleich pharisäisch, ein Beweis, wie leicht Pharisäismus und Stoizismus sich verbanden. Der klassische Typus für die Vermischung von Judentum und Hellenismus ist Phi I o. Bei ihm stehen jüdische und hellenische, und zwar stoische und platonische Gedanken zum Teil unvermittelt nebeneinander. Als Grieche erweist er sich dadurch, daß er den Tugendbegriff und das Ideal des Weisen hat. Auch die Form, die im Anschluß an die Stoiker das Ideal des Weisen bekommt, nämlich die Apathie, die Freiheit von den Affekten konnte nur lähmend auf die Liebesübung wirken. Die Askese, die bei Philo energisch empfohlen wird, ist für ihn Selbstzweck: sie soll den Weisen von der Welt frei machen. Ein weiterer
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griechischer Zug, der die Liebesübung hemmte, ist die Auffassung der avo(!Ela als eines Gegensatzes zur 'Wrr:lilvwal~. Echt hellenisch sieht Philo in derselben etwas Unmännliches, Schimpfliches. 1) Der Hellenismus wird aber bei Philo zum Teil durch seinen Gottesgedanken wieder überwunden. Er teilt daher die Tugenden in Tugenden gegen Gott und gegen die Menschen ein, nämlich eDat{JEta und Oato7:Tjr;; einerseits, cplAav{}(!wrr:ia und olxawav"Tj andrerseits (Il, 282, M.). Zeller sieht hierin einen Anschluß an die zwiefache Beziehung der Gerechtigkeit auf die Götter und die Menschen, wie sie bei den Stoikern vorlag. Allein mindestens ebenso deutlich ist hier ein jüdischer Gedanke zu erkennen: In dieser Form drückt Philo die Verbindung von Liebe zu Gott und zu den Menschen aus. Evai{JEta und cptAavS(!wn:la stehen auch M. Il, 391 nebeneinander als die beiden Haupttugenden, mit denen das Volk sich zu schmücken hat: sie gehören bei Philo überhaupt zusammen. Er hat sie auch sonst, z. B. TI, 384, M: cplAaoEAcpia und eVat{Jlita sind aDE)"cpal. Umgekehrt gehören ftlaav3-(!wn:ia und aai{Jlita zusammen Il, 391, M. Ebenso TI, 211 Aucher "solet enim dei amator illico et hominum amator esse, ita ut non solum cognatis, verum etiam universis deligenter curam adhibeat." Hier wird aus der Liebe zu Gott die Liebe zu den Menschen abgeleitet, und zwar ausdrücklich nicht nur die Liebe zu den Verwandten, sondern die Liebe zu allen Menschen. Eine ähnliche Verbindung von Liebe zu Gott und den Menschen findet sich auch TI, 269, A. affines sunt enim virtutes, pietas (erga deum) et humanitas (erga homines) quibus et sapiens utitur. Also für Philo gibt es eine Liebe zu Gott 7;0 "ev olJv xadt 3-EOV ~fjv BV 7;0/ ayarr:iiv afn;ov o(!I~EWt Mwvafjf,; M. I, 239. Darum findet sich nun auch bei ihm die schon dargestellte Debatte von Furcht und Liebe Gott gegenüber, ein Beweis, wie allg.emein diese Debatte war. Furcht und Liebe gelten als zwei Formen der Frömmigkeit. Furcht und Liebe (cp6{Jov 7;E xat aY&1t1]v) entsprechen den beiden nebeneinander stehenden Anschauungen, daß Gott wie ein Mensch und, daß er nicht wie ein Mensch ist. Denn alle Mahnungen des Gesetzes lilr;; eVai{1ElaV beziehen sich ~ n:(!0r;; 7;0 ayarriiv ~ n:(!0r;; 7;0 cpo{1Eia3-at 7;OV öV'W. Aus dem Zusammenhange ergibt sich, daß für Philo die Furcht dem anthro1) M. I, 57:
~ 8e d-Jl8~ta ra1tewwo .. "at 8e,J.tlf 1toUf"ov,
44 pomorphen Gottesbegrif(, die Liebe dem reinen Gottesbegriff entspricht (I, 283, M.). Eine ähnliche Verteilung von Furcht und Liebe findet sich (I, 343, M.; Cohn und Wendland 90) 'Z"ov f-/eV ola bti, dEureo'Z"T), cpo{Jov Ixvat~wv, 'Z"~v de tJ~ e7i' wE~rhT) cptUav xat EVVOLaV 'Z"~ 1/lvxfJ rea~Exwv.
Auch in diesem Worte erscheint die Furcht, die dem Herrn gegenüber am Platze ist, als ein Moment der Frömmigkeit, das aufgehoben wird und an deren Stelle die "Freundschaft" dem Wohltäter gegenüber tritt. Ein ganz ähnlicher Gedanke findet sich im Traktat de somniis M. I, 645. Hier bemerkt Philo zu Genesis 28, 21: xv~to~ rEJIT}'Z"at El~ .:tEOV zur Erklärung der wechselnden Gottesbezeichnungen : e{JoVAE'Z"O ra~ fJTJXE'Z"t tJ~ l:t~xoV'Z"a EVAa{JElu.:tat, Ix').').' tJ~ E~E~rhTJv &rareTJ'Z"txw~ 'Z"tftfiv. Also als Herr gebührt Gott Furcht, Liebe gebührt ihm als dem Wohltäter. Dabei erscheint auch hier die Liebe als das -höhere; denn Jakob betet, wie Philo sagt, das wunderbare Gebet, daß der Herr ihm zum Gott werde. Darum kann Philo zu Genesis 15, 1 die Bemerkung machen M. I, 647: Ilw~ ra~ E'Z"t cpo{JTJ.:tTJuOfJE.:ta, 'Z"o cpo{Jov xat 7faV'Z"o~ 7f&.:tov~ Av'Z"1~toV ue 'Z"OV -UreE~aU7fUn1Jv Ö7fAOV EXOV'Z"E~.
Eine ähnliche Unterscheidung findet sich M. I, 581 u. 582. Die beiden Gottesnamen xv~to~ und ,9EO~ entsprechen der Furcht und der Liebe: dlxawl ra~ 'Z"WV fJeV cpavAwv UrEu.:tat xv~to~ xat dECm6'Z"TJ~,
oe
'Z"wv de 8V 7f~oxo7fal~ xat {JE').oz-uiJaEUtV .:tEO~, 'Z"WV &~lo'Z"(IJV xat 'Z"EAEtO'Z"&HtlV &'lcpO-,;E~OV, XV~tO~ Of-/O'Ü xat .:tE6~. Hier erscheint
die Vereinigung beider Gottesbezeichnungen als die höchste Stufe. Diej enigen, welche vom Herrn beherrscht werden (tJ~ -ureo xVf!iov dEureo~Eu.:tat), müssen ihn füchten, die, welche seine Wohltaten empfangen (E~E~rE-,;Elu.:tat), lieben ihn. Dies ist der Standpunkt des Fortgeschrittenen (re~ol(07f'Z"wv); die Vollkommenen aber ('Z"ÜUOt) gebrauchen beide Gottesnamen nebeneinander, weil von ihnen beides gilt: ~rEfJOVEVEC1.:tat (t~ V7fO xv~iov xat WE~rE'Z"Elu.:tat tJ~ vreo .:tEoD (582). Eigentümlich ist die Art, wie Philo A II 483 das Problem löst, wie sich beide zu einander verhalten: "Divinitatem homines honorant, amore et timore; amare autem est tardius in senioribus locum habens timere verum prius." Also Furcht und Liebe sind die beiden Formen, in denen Gott geehrt wird. Philo faßt sie als Stufen auf. Die Furcht ist das frühere ursprünglichere
45 Verhältnis zu Gott, die Liebe ist schwerer zu erreichen und darum später; sie ist erst den älteren Leuten möglich, sie kann erst in einem Menschen gedeihen, der mit Tugend geschmückt ist. Sie erscheint also als das Ziel, zu dem sich die Tugend erst erhebt. Durch Tugend erwirbt man sich die Fähigkeit zur Liebe: Non ergo inaniter dictum est, praecurrere timorem, cum amor posterior sit et sero acquiratur, ne forte timere quoque sit iure digneque; sicut enim insipientia minor prudentia est natu, sic et timor amore, quoniam timor nascitur in contempto, amor vero in homine virtute ornato. Die Liebe zu Gott, die für Philo der Gipfel der Frömmigkeit ist,!) ist in Gottes eigener Liebe begründet. Gott ist für ihn der "Gute", das liegt in der Bezeichnung .:teor;. Als der .:teog ist und verdient er Liebe; von ihm kommt nur Gutes. Zu den Worten ).,&fJe ,tOt Gen. 15, 9 bemerkt Philo (I, 487): "Ein kurzes Wort, aber von großer Kraft, denn es zeigt nichts Geringes an. Zuerst nämlich: eigenes Gutes hast du nicht, sondern was du zu haben meinst, hat ein anderer dir dargereicht. Daraus folgt, daß dem gebenden Gott aller Besitz gehört, aber nicht der nach ihm hin auch die Hände zum Nehmen ausstreckenden Kreatur. Zweitens aber, auch wenn du es empfangen hast, nimm es nicht für dich selbst, sondern halte das Gegebene für ein Darlehen und Depositum, und gib es dem, der es deponiert hat." Es wird dann ausgeführt, daß der Mensch von Gott l/JvX~JI, MyoJl, aYU:J.r;ULV empfangen hat. Daß er sie von Gott empfangen hat, darin wird Gottes Liebe erkannt, diese verpflichtet ihn dazu, sie Gott zu geben. Dieses Geben der geistigen Kräfte an Gott besteht darin, daß sie in der Betrachtung Gottes gebraucht werden, "daß der Mensch über nichts anderes als über Gott und seine Tugenden nachdenke" und daß er mit seiner Stimme diese Welt und ihren Schöpfer lobt, also in der denkenden Betrachtung und im Lobe
1) Nicht darin, daß Philos Frömmigkeit nicht nur Glaube ist, sondern über den Glauben hinausstrebt , liegt die Überschreitung der jüdischen Frömmigkeit (so urteilt Bousset). Was Philo neben und über dem Glauben sucht, ist eben Liebe, und das ist alttestamentlich. Das hellenische Element liegt nicht hierin, sondern in dem Charakter seiner Liebe.
Gottes. Das heißt ~ija(lt .[}efjJ !lfiJ"Äov ~ eav'tfjJ (quis rer. div. her. 1 1 I i M. 1,488). Auch den Vaternamen Gottes hat Philo i darin liegt für ihn nicht nur, daß er der Schöpfer der Welt ist, dem sie die Existenz verdankt, sondern vor allen Dingen die Vor s e h u n g. Seine Liebe offenbart sich in der Fürsorge für seine Geschöpfe, er sorgt wie ein Vater für sie, cf. II, 331,635.1) Seine Liebe kommt zum Vorschein in seiner grenzenlosen Bereitwilligkeit zu geben. Die Fülle seiner Gaben ist so reich, daß die Welt nicht fähig ist, sie zu empfangen I, 362.2) "Gott ist gütig, er schenkt Güter allen, auch denen, die nicht vollkommen sind, indem er sie einlädt, daß sie Nachahmer und Teilhaber seiner Tugend seien, und ihnen zugleich seinen übergroßen Reichtum zeigt, weil er auch für diejenigen genügt, die davon keinen Nutzen haben können. Dies aber zeigt er auch durch andere Dinge aufs deutlichste i denn wenn Gott in das Meer regnen läßt, wenn er Quellen in der Wüste entstehen läßt und leichtes, rauhes und fruchtloses Land bewässert, indem er Ströme darüber fluten läßt, was anders beweist er damit, als das Übermaß seines Reichtums und seiner Güte." Allein Philo sieht die Güte Gottes nicht nur in seiner Vorsehung i der eigentliche Kern seiner Frömmigkeit ist nicht das Verlangen nach Gottes Hilfe, sondern ist das Verlangen nach ihm selbst und seiner Offenbarung. Und darum sieht er die vollendete Offenbarung der Güte Gottes darin, daß Gott sich selber gibt. Der Mensch vermag sich nur darum zu Gott zu erheben, weil Gott selbst ihn zu sich heraufzieht. leg. alleg. I, 38 i M. 5I. 3) Philo will nicht nur Gott erkennen, sondern er will ihn haben. Darum ist seine Frömmigkeit Liebe. Dies ist das tiefste Motiv seiner Religion. Darum steht bei ihm der Besitz Gottes über dem Erkennen Gottes, Religion ist für ihn das Verlangen nach Gott selbst, und das heißt Liebe. Darum, weil er Gott liebt, spricht er mit Bewunderung und Begeisterung von ihm,
1) dU" J.allolq ..'tEOV, Oll n:aTE(!a "al n:O'TJT~lI 6110fla~Elll ..'tEfl'S. Wendland, Philos Schrift über die Vorsehung S. 51. 2) E1 Je TaS EUE(!YEoias dovlIaTovl"ElI JEXEo..'ta •. 3) OU ya(! .%11 dn:ETO).I"TJOB TOOOVTOll d-IIaJ(!aI"Blll (, dll..'t(!.oltWO~ 1I0V., cJ~ dlln).a!1Eo..'ta, ..'tEOV ",VOEWS, B1 I"~ aVTOS 0 ..'tEOS dllEOltaOElI aVTOll n:(!OS tavTOlll.
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und darum ist er ihm das höchste Gut. 1) Die Seele "brennt in Dankbarkeit gegen Gott" (M. I, 60). Die ganze Welt ist kein würdiger Aufenthalt und Wohnplatz für Gott, da dieser sein eigener Ort, seiner selbst voll und sich genügend ist, welcher das andere, das öde, leer und hohl ist, füllt und umfaßt, selbst aber von nichts anderem umfaßt wird, indem er selbst ein und alles ist. 2) Dabei erfüllt ihn die Gewißheit, Gott nicht nur zu suchen und zu kennen, sondern ihn zu finden und zu haben. Das Streben nach Gott gelingt ihm, da Gott sich wirklich offenbart. Die Voraussetzung für dieses Gelingen ist die vollkommene SeI b s te n t ä u ß e run g; wer Gott gewinnen will, muß sich selbst verlieren. Wer zu Gott gelangen will, muß nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst verlassen. Diese Selbstverleugnung beschreibt Philo quis rerum divinarum heres 74 (M. I, 483): "Ebenso aber, wie du das andere verlassen hast, verlaß auch dich selbst und gehe aus dir heraus. Was ist das abed" Das geschieht dadurch, daß der Mensch seine geistigen Kräfte nicht für sich selbst aufspart, sondern sie dem darbietet, der ihr Urheber ist. Hier wird also das Aufgeben und Verlassen seiner selbst als die Gegenliebe, als das durch das göttliche Geben geforderte Opfer beschrieben. Dieses Verlassen seiner selbst ist das Hingeben der Seele an Gott, welches das Wesen der Liebe ist quis rer. divin. her. 78,81-85 u. ö. Dann kommt der Mensch zur Anschauung und zum Genusse Gottes. In dem Maße, als er bei Gott ist, ist er nicht mehr bei sich selbst und in der Wirklichkeit. Das Haben Gottes, welches aus dieser Selbsthingabe entspringt, ist ein Verschmelzen mit Gott, ein Verzicht auf die eigene Existenz, d. h. Philos Liebe zu Gott ist Mystik. "Wenn die Vernunft aus sich selbst herausgeht und sich Gott darbringt (&:Jl8vtYKrJ .{}8{jJ), dann verschafft sie sich Gemeinschaft (o!wAoyiav) mit dem Seienden. Wenn sie aber sich selbst zur Grundlage macht als Ursache von etwas, dann ist sie weit von der Nähe und Gemeinschaft Gottes entfernt" (leg. alleg. I, 82; M. I, 60). "Wer Gott entläuft, flieht zu sich selbst. . . . Wer seine eigene Vernunft verläßt, bekennt damit, daß der menschliche Geist nichts vermöge und weist alles Gott zu" (reg. alleg. III, 29; M. I, 93). 1) Zeller, 404; Bousset, 420. 2) Vgl. weitere Stellen bei Bousset S. 420.
Eine ähnliche Beschreibung quis rerum divin. her. 69 : "Wenn ein Verlangen in dich einzieht, 0 Seele, die göttlichen Güter zu erben, so verlaß nicht allein den Leib etc., sondern auch dich selbst." Für diese Vereinigung mit Gott gebraucht Philo den Ausdruck Liebe. Die Stelle Deut. 30, 20 zitiert Philo häufig M. I, 228, 238, 538, 554. In dieser Stelle werden die Worte ltyaniiv -rov :tEOV durch die Ausdrücke ELaaxOvEtV -r~~ cpwv~~ a[;-rov und Ilxw:tat erläutert. Es ist für Philo charakteristisch, daß er sich nicht an die erste, sondern an die zweite der beiden Erläuterungen hält. IIavv
0'
E!lcpavuxw~ ent ri]v -roD 'Cf!tno:t~'lOv xat a;uf!aawv xaAE;;
U!l~V, EIn WV "IlXEa:tat a[;'loD",
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UVVEXef: xat enaU1)Aov xat ltÖt-
atJ7;a'lov ~[; xa-r' olxEiwUtv af!!tOvla~ xat EvwaEw~ 1raf!ltJ7;a~.
Mit den stärksten Ausdrücken wird das Anhängen an Gott als substanzielle Einigung, als physische Verschmelzung mit Gott beschrieben. M. I, 555 erklärt Philo die Stelle mit der Bemerkung zu den Worten: ,,&ya71iiv xVf!tOV 'lOV :tEOV aov": Ilf!wu xat cptUct :tEoD ltaaf!xcp xat &aW!Ia-rc.,.rJ xauax~a:tat. Zu beachten ist, daß Philo den Ausdruck &yaniiv durch 1lf!c.tJ~ und cptUa ersetzt. Analog versteht Philo den Ausdruck xoUiia:tal, Deut. 10, 20. 1) Frömmigkeit und Glauben vereinigen substanziell mit der unverweslichen Natur (roai(3ua o~;rrov xat niau~J af!!lO~OVal yaf! xat EvoDUtv at &f!E'lat ltcp:taf!'lf(! cpvau Ötavotav). Ähnlich wird der Ilf!w~ o[;f!avtO~ M. Ir, 42 I· gedacht. Die himmlische Liebe 2) führt zu Gott hin und bringt dadurch zur Erfüllung aller Tugenden. Diejenigen, welche zum Schauen der verborgenen Geheimnisse Gottes gekommen sind, redet Philo M. I, 646 an: tpvxat Oe öaal :tEiov ~f!wntJv ~YEvaaa:iE. Eine der charakteristischsten Stellen ist M. Ir, 473, die Beschreibung der Frömmigkeit der Therapeuten. Zum Tun des Guten aus Gewohnheit oder wegen des Gebotes steht im Gegensatz die Frömmigkeit der Therapeuten, welche von himmlischer Liebe hingerissen zum Anschauen der Gottheit kommen (ot Oe ~nt :tEf!anEiav lOVlE~ 01!U ~g Il:tov~ 01!7:E uvwv, &Al'
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7Wf!all.A~acW~ ~ naf!atViaEwv
Ilf!W'lOt; af!traa:itv'lEt; o[;f!aviov, xa:ta71E(! ot (3axxevo-
/-IEVOt xat xOf!v(3avUWV'lEt;, 8v:tovaui:~oval, !dXf!It; /Xv 'lO no:tOVfIEVOV
1) Den Begriff der l
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t'cJWOty).l) Also die mystische Ekstase ist die höchste Form der Liebe zu Gott. Der Ausdruck "himmlische Liebe" (E{!Wg Ofl{!clYWg) ist feststehend für das Verlangen nach Vereinigung mit Gott. Die Vernunft ist nicht mehr bei sich selbst, der Mensch wird von himmlischer Liebe in wahnsinniger Leidenschaft erregt und von dem wahrhaft Seienden geführt und nach oben zu ihm gezogen. Quis rerum divin. her. 70. Die Ekstase hat aber nicht den Erfolg bleibender Vereinigung mit Gott, cf. z. B. quis rer. divin. her. 265. Eine dauernde Gemeinschaft mit Gott gibt es für Philo nicht. Der Erhebung zu Gott folgt die Rückkehr der Seele zu sich selbst. Aufschwung und Rückfall wechseln ab. Ist die Seele bei Gott, so ist sie nicht in der Wirklichkeit, ist sie in der Wirklichkeit, so ist sie nicht bei Gott. Die Vereinigung mit Gott ist ein vorübergehender Genuß, sie ist lediglich eine passive Betrachtung, die ohne Einfluß auf die Tat des Menschen bleibt. Sie ist resultatlos. So wenig sie eine bleibende Gemeinschaft mit Gott begründet, so wenig gibt sie der Tat des Menschen Motiv, Ziel oder Kraft. Die Ekstase entfremdet den Menschen der Welt. Leben in der Welt und Leben im Genuß Gottes wechseln ab, eines schließt das andere aus und unterbricht es. "Religion" und "Moral" fallen aus einander. So aufrichtig und begeistert Philos Liebe zu Gott ist, so steht sie doch noch mehr als die der Palästinenser im Gegensatz zur Liebe zu den Menschen. Sie isoliert den Menschen und ist ihrem Wesen nach egoistisch und tatlos. Die Liebe zu den Menschen nennt Philo qnJ..ay:f{!wlda: Humanität. 2) Dieser Begriff ist stoisch. Er entspringt der durch· das Weltreich Alexanders des Großen angebahnten und möglich gewordenen Idee des Weltbürgertums. Der Vorzug des Gedankens bestand darin, daß er zu einer Liebe anleitete, die über die Grenzen des Volkes hinausging. Schon die Einschränkung der Liebe, die in dem kräftig ausgebildeten Familiensinn des Judentums lag, empfindet Philo als Mangel, der in der Idee der cptJ..aY:f{!wlda verschwunden ist. Als Beweis für die Humanität des Moses führt er an, daß er nicht seine Verwandten zu Nachfolgern machte, denn die Liebe 1) Ob die Schrift über die Therapeuten echt ist, ist bekanntlich streitig. 2) Aus dem Traktat nEe' 'I',Äavf}eamlas Auszüge bei Clemens Alexandrinus, Strom. II. cf. darüber Wendland, Hermes XXXI, 435 ff. Lütgert, Die Liebe im N. T.
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5° richtet sich über den Familienkreis hinaus immer auf das Ganze, auf das Volk M. TI, 384. Aber Philo dehnt die ptAav{)(!wn:ia auch über den Kreis des Volkes und der Religionsgemeinschaft aus. Non cognatos solos ac vicinos, sed etiam alienigenas et alienae sectae homines salvat et invitat ad se. Die Menschen sind "Verwandte und Brüder von Natur" TI, 398/99. Sie sind Kosmopoliten. Das ist für Philo das ethische Ideal. Adam war Kosmopolit: sein Vaterland war die Welt, sein Gesetz die Verfassung des Weltalls M. I, 34. 1) Ebenso hat Philo ein Interesse an dem Gebot der Feindesliebe. Es fordert nicht nur die Schonung des Feindes, sondern positive Hilfeleistung. Das Gesetz gebietet: dem Feinde nicht nur nicht zu schaden, sondern ihm zu nützen. Durch den stoischen Gedanken der pLAav:t(!wn:ia ist also bei Philo die Gefahr nationaler Beschränkung in der Liebesübung im Prinzip überwunden. Aber um welchen Preis? Die Liebe ist nun nicht. mehr wie im Judentum Tat, konkrete Hilfeleistung, die sich an bestimmte Menschen wendet, sondern sie ist die allgemeine Stimmung der Einheit mit der ganzen Menschheit, ein völlig inhaltloses und zielloses Wohlwollen, das als solches nicht mehr Motiv werden kann und das Leben nicht über die passive Betrachtung emporhebt. Sie ist nichts als Verneinung der natürlichen und geschichtlichen Differenzen der Menschheit. Die Welt gilt als eine w_yaAon:OALr; xat ,uiC! X(!~7:at n:oAtuiC! xal, VOflr"O svi. Die Menschen sollen angesehen werden als verschiedene Glieder eines Wesens, durch wechselseitiges Wohlwollen verbunden und vereint (M. TI, 392). Die ptAav{)(!wn:ia ist zunächst nicht mehr als eine Weltanschauung und eine sich mit ihr verbindende Stimmung. Sie ist nicht Ergebnis der konkreten Beziehungen der Menschen zu einander, sondern sie erklärt sich aus der natürlichen Verwandtschaft der Wesen. Dieses durch die physische Wesensgleichheit angedeutete Ziel soll nun durch die Gesetzgebung erreicht werden. Der Zweck des Gesetzes ist OflOVOta, xOLvwvia, OflOp(!Oavvfj, x(!aatr; ~{)wv, woraus die Familien und Städte, Völker und Länder und das ganze Menschengeschlecht zur höchsten Glückseligkeit fortschreiten. "Aber das 1) Cf_ hierüber Wend land in Hermes XXXI 1896 S. 435. >
51 sind bis jetzt nur fromme Wünsche, es wird aber geschehen, wie ich überzeugt bin ," Die Erreichung dieses Ideals ist von der Fruchtbarkeit der Tugend zu erhoffen, denn nicht ein erreichbares, konkretes Ziel, sondern ein fernes Ideal, welches nicht unmittelbar zum Motiv werden kann, wird damit fixiert. Mit der Ausdehnung auf die Natur 1) wird der Gedanke der Humanität vollends blaß und unfcihig, das wirkliche Handeln zu dirigieren. Gleichwohl ist diese Ausdehnung des Gedankens korrekt, weil Philo die Liebe mit der gemeinsamen Abstammung von der Natur begründet. Die konkreten Forderungen, die Philo aus der cpt).av.[}~wJtla ableitet, sind: I. das Gebot sich der Kränkungen zu enthalten, die Vermeidung des Streites, der Friede (M.II, 398f., Au. 11,475). Hiermit ist das jüdische Ideal des 8l~1)vo:JtOt6~ in den Gedanken der cpt).av.[}~w:Jtla aufgenommen; 2. folgert Philo aus dem Gebot der Humanität die allgemeine Gütergemeinschaft. Diese folgt aus der allgemeinen Wesens gleichheit aller Menschen. Auch diese Forderung bleibt ein reines Ideal. Verwirklicht wird es in der Form der Wohltätigkeit. Ihr Motiv ist die Erkenntnis, daß die sachlichen Güter ein allgemeiner Besitz sind (M.II, 388). Daß die Wohltätigkeit in der Gütergemeinschaft begründet ist, zeigt z. B. der Kommentar, den Philo dem Gebot gibt, den Acker nicht abzuernten (M.II, 390). Das Gebot ist nach Philo darin begründet, daß es sich hier nicht um das Produkt eigener Arbeit, sondern um Gaben der Natur handelt, die als solche nicht dem einzelnen als sein alleiniges Eigentum gehören und darum den anderen nicht vorenthalten werden dürfen (M.II, 390). Man soll daher "nicht mit trägem Zögern und Überlegen geben, sondern mit offenen Händen und Sinn am meisten den Bedürftigen": das reichliche Geben ist Merkmal der Liebe. Bei der W ohltätigkeit hält Philo den Lohngedanken fest; doch nicht ohne ihn an seinem hellenischen Grundgedanken zu korrigieren. Der Lohn ist die Tugend, die man sich durch die Wohltätigkeit erwirbt. Doch gibt Philo auch eine Deutung der Liebe, nach der SIe über die Wohltätigkeit hinausgeht (M. 11, 392). Die Nächsten 1) Denselben Gedanken spricht übrigens auch Josephus aus: "Milde und Menschenliebe (~flE~OTTJS "al 'l',).a'}J{T~anrla) ist auch den Tieren gegenüber Pflicht." c. Ap. 2,29. Niese 213.
52 soll man lieben, nicht allein wie Freunde und Verwandte, sondern auch &g eav'fovg. Hiermit ist gemeint, daß alle Menschen so viel als möglich gemeinschaftlich handeln, nach der Gesinnung aber über dasselbe trauern und sich freuen sollen: Gemeinschaft der Empfindung und der Tat. Wo nun aber Philo so die Liebe über sachliche ,äußere Hilfe ausdehnt und in einer tieferen innerlicheren Gemeinschaft sieht, vermag er den ursprünglichen Gedanken der allgemeinen Menschenliebe nicht festzuhalten. Denn eine solche Gemeinschaft ist natürlich nicht mit allen Menschen möglich. Darum zieht sich hier, wo zugleich etwas Tieferes und doch auch etwas Mögliches gesagt werden soll, die Liebe auf die Freundschaft mit gleichgestimmten Seelen zusammen. Ausdrücklich spricht es Philo aus, daß sich diese Art der Gemeinschaft nicht auf alle ausdehnen kann. Genesis 2, 18 findet er die Notwendigkeit einer Gemeinschaft ausgesprochen, die nicht mit allen gehalten wird, sed cum iis qui iuvare et prodesse volunt, etsi vix possint. Denn Liebe bestehe nicht sowohl im Nutzen als in . der festen Harmonie der Sitten, so daß jeder von denen, die in die Gemeinschaft der Liebe eingehen, sagen kann: "Der Freund ist mein alter ego." Also bei der Gemeinschaft kommt es nicht sowohl auf die sonstigen Gaben an, die man sich gegenseitig vermittelt, als auf die Gemeinschaft selbst, und ihr Wert besteht nicht in dem Nutzen, den sie vermittelt, sondern in ihr selbst. Es kommt darum mehr auf den Willen zum Helfen als auf die reelle Hilfe an. Eine solche Liebe läßt sich natürlich nicht mehr ins Allgemeine und Unbegrenzte erweisen, und Philo beschränkt sie daher auf den Freundeskreis. Es stehen also bei ihm neben einander die allgemeine Stimmung der cpllav3-(!wn:la, die sich in Friedfertigkeit und W ohltätigkeit äußert, und als Ergänzung der hellenische Freundschaftskultus. Die beiden für unsere Frage in Betracht kommenden Züge der Frömmigkeit Philos, seine Mystik und seine Humanität, gehen hinaus über das, was die palästinensische Synagoge kannte, denn Mystik gab es in Palästina schwerlich in nennenswertem Maße. Mystik und Humanität haben geschichtlich große Bedeutung gewonnen, aber die obige Darstellung zeigt, daß die in der Synagoge liegenden Schwierigkeiten und Probleme damit nicht gelöst waren. Dagegen wurden neue Probleme damit geschaffen.
3. Kap i tel.
Die Liebe in den synoptischen Evangelien.
I. Die Liebesübung Jesu. I.
Die Wohltätigkeit Jesu.
Im Christusbild der Synoptiker ist der am deutlichsten hervortretende Zug die Liebe Jesu. Er hat die Liebe nicht nur geboten, sondern zuerst selbst geübt. Sie ist nicht nur sein Gedanke, sondern sein Wille und nicht nur sein Wille, sondern vor allen Dingen seine Tat. Er hat sie darum auch nicht nur geboten, sondern geweckt. Sie äußert sich daher nicht nur im Wort, sondern in erster Linie im Werk. Jesu Bedeutung besteht für die Synoptiker nicht darin, daß er das Liebesgebot erfunden, sondern darin, daß er es erfüllt hat. Jesus ist für sie nicht nur ein "Weiser", der alte oder neue Wahrheiten lehrt, sondern ein Täter, der die Wahrheit wahr macht, d. h. zur Tat macht. Es wäre daher falsch, die Darstellung der Liebe Jesu mit der Darstellung des Liebesgebots zu beginnen. Auch damit würde man das Bild verzeichnen, wenn man mit der Kritik der jüdischen Liebesübung anfinge. Auch der erste Evangelist hütet sich, den Eindruck zu erwecken, als wenn Jesus seine Wirksamkeit mit der Kritik des synagogalen Liebesgebots begonnen habe. Vor der ersten Rede Jesu steht eine allgemeine Schilderung seiner umfassenden Liebesübung. Durch seine Tat hat er das Recht für seine Kritik, und weder sein Gedanke noch sein Wille entspringen aus dem Gegensatz gegen seine Umgebung. Sie kommen ihm
54 auch nicht erst durch diesen Gegensatz zum Bewußtsein, viel· mehr ist Liebe sein eigener Wille. Auch wird ihm seine Liebe nicht erst durch die Menschen eingeflößt oder abgerungen. Man kann Jesus kaum gründlicher mißverstehen, als durch die Meinung, daß er sich zu seinen Hilfeleistungen erst durch die Wünsche des Volkes habe drängen lassen. 1) Diese Meinung fügt nicht etwa nur einen fremdartigen Zug in das Christusbild ein, sondern zer· stört es gänzlich. Jesus ist selbständig, unabhängig von den Menschen. Seine Haltung wird als eine vollkommen königliche geschildert. Er fügt sich nicht etwa dem Willen der Menschen, sondern sie müssen seinem Willen gehorchen. Er tut nichts ohne oder gar gegen seinen Willen. Er tut den Willen Gottes und nicht den der Menschen. Die Meinung, er habe sich durch das ungestüme Verlangen des Volkes etwas aufdrängen lassen, was ursprünglich oder nach seiner eigenen Meinung nicht zu seinem Beruf gehört habe, bestreitet den Gehorsam Jesu gegen Gott. Er erkennt auch nicht etwa in den Wünschen der Menschen den Willen Gottes, sondern den Willen Gottes kennt er allein. Er tut dar um seinen und nicht den Willen der Menschen, weil er Gottes Willen tut. Das heißt also: die Liebe Gottes ist sein eigener Wille. Und zwar ist sie auch nicht ein dunkler, ihm selbst unverständlicher Trieb, eine ihn überwältigende Kraft, sondern sein Will e, seine bewußte Liebe, d. h. nach dem Ausdruck des Evangelisten Geist. Aber seine Liebe bleibt nicht Wille, sondern wird beständig zur Tat. Auch dieser besondere Charakter der Liebe Jesu ist ein wesentlicher Zug, den man aus dem Christusbilde nicht heraus· lösen kann, ohne es völlig zu zerstören. Seine Liebe bleibt niemals ein ohnmächtiger Wunsch, d. h. ein mißlingendes Wollen, sondern sie gelingt ihm beständig. M. a. W: das Wirken Jesu wird in den Evangelien als allmächtige Liebe beschrieben. Es ist begreiflich, daß an diesen Zug vor allen Dingen die Kritik sich anheftet; aber es ist nicht richtig, zu tun, als ließe sich derselbe aus dem Christusbild herauslösen, 1) So Weizsäcker, Die evangelische Geschichte S. 366:, "Unwillkürlich hat er dabei zugleich gezeigt, wie Jesus in diese neue Bahn mehr von innen und außen gedrängt war, als daß er dieselbe absichtsvoll betreten hätte."
55 ohne daß es im übrigen verletzt würde. Es ist der in den Evangelien am stärksten hervortretende Grundzug des Christusbildes. 1) Auch damit würde es wesentlich verändert, daß man annähme, es handle sich hier um gelegentliche einzelne Wirkungen Jesu. Vielmehr beschreiben die Evangelien diese Seite seiner Wirksamkeit als eine regelmäßige und dauernde, und das nicht nur in den Abschnitten, welche eine zusammenfassende Schilderung seiner Wirksamkeit geben, vielmehr ist das die Voraussetzung der gesamten Erzählung. Im anderen Falle müßten wir ein Wort oder eine Erzählung haben, in welcher Jesus die Bitte um Hilfe abweist. Eine solche findet sich nicht. Die Evangelien erzählen von abgeschlagenen Bitten, allein eine Bitte um Hilfe wird niemals abgeschlagen. Weder fehlt es Jesus an Willen noch an Kraft dazu. Auch gibt es in der evangelischen Erzählung keine Grenze, an der er stehen bleibt, er heilt nicht etwa nur psychische Leiden, sondern auch physische. Er steht auch dem Tode und dem Reich des Teufels nicht machtlos gegenüber. Dieser absolute Charakter seines Wirkens ist natürlich kein zufälliger Zug in der evangelischen Erzählung. Jesus handelt genau nach seinem eigenen Gebot: Gib dem, der dich bittet. Und in diesem Gebot selbst und in der Art, wie er es erfüllt, spiegelt sich sein Gottesbild. Er handelt darum so, und darum soll der Mensch so handeln, weil die Regel der Liebe Gottes lautet: Bittet, und es wird euch gegeben. Es findet sich daher nicht nur keine Klage über die Bitten der Hilfsbedürftigen, sondern umgekehrt dann Klagen, wenn die Bitte unterbleibt, oder wenn sich Zweifel an der Willigkeit oder Fähigkeit Jesu, zu helfen, regen. Matthäus berichtet als Form der ersten an Jesus gerichteten Bitte die Worte : "Wenn du willst, so kannst du." Offenbar gilt ihm dies als die normale Form der Bitte, dagegen der Zweifel des Vaters: "Wenn du irgend etwas kannst" Mark. 9, 22 f., wird nicht ungerügt gelassen: "Jenes: wenn du etwas kannst - alles ist möglich dem, der glaubt." Wie wesent1) Wer den geschichtlichen Charakter der Wundererzählungen bezweifelt, der mag die oben gegebene Darstellung daran messen, ob sie das Christusbild der Evangelien ihrer Absicht entsprechend wiedergibt. Diese Aufgabe habe ich mir gestellt. Nur in der von den Evangelien dargebotenen Form ist das Christusbild ein Faktor der Geschichte geworden. Die Wahrheitsfrage habe ich damit nicht umgangen, sondern beständig gestellt und beantwortet.
lieh das beständige Helfen Jesu ist, zeigt sich auch darin, daß er nicht auf die Bitte wartet. Seine Liebe ist sein eigener Wille. Er hilft daher spontan, auch ungebeten, oder er erweckt die Bitte. Deutlich ist es die Meinung der Evangelisten, daß nicht erst die Bitte die Hilfe hervorgerufen hat, sondern daß Jesus begann und dadurch das Vertrauen erweckte. Dabei trägt diese ge sam t e Wirksamkeit Jesu durchaus den Charakter der Li e b e s übung. Es ist eine sehr ungerechte Charakteristik der Evangelisten, wenn z. B. Wellhausen bemerkt/) sie schilderten Jesus als Thaumaturgen, was er selbst doch schwerlich habe sein wollen. In der evangeli. sehen Darstellung werden die Taten Jesu als allmächtige H i I felei s tun gen beschrieben. Nicht daß er irgendwelche Wunder tut, ist das Entscheidende, sondern daß er in der Macht Gottes gibt und hilft. Durch diesen Charakter ist seine Wirksamkeit mit einem scharfen und klaren Strich von aller Zauberei geschieden. Wunder ist für die Evangelisten etwas Göttliches, Zauber etwas Satanisches. Da seine Taten wirklich Liebe sind, so haben sie zunächst einfach den Zweck, zu helfen. Ihr Motiv ist kein anderes als das Mitleid Jesu. Sie sind nicht Demonstrationen. Nur so ist eine Reihe von Erzählungen verständlich, auf deren scheinbar widerspruchsvollen Charakter Wrede 2) aufmerksam gemacht hat, nämlich die Erzählungen, in denen regelmäßig das Verbot Jesu wiederkehrt, von dem Wunder zu sprechen. . Schon dieses Verbot zeigt, daß das Wunder nicht den Charakter einer Demonstration hat. Die Evangelisten unterlassen nicht, ebenso regelmäßig auf die Erfolglosigkeit dieses Verbotes hinzuweisen, und so scheint es freilich völlig zwecklos zu sein. Diese Erzählungen sind nur verständlich, wenn man beachtet, daß für die Evangelisten Jesu Machttaten aus seiner Liebe entspringen. Auch bei den Liebesübungen handelt er genau nach seinem eigenen Gebot, die Wohltat im Verborgenen zu lassen und die linke Hand nicht wissen zu lassen, was die rechte tut. Damit ist der Protest gegen die ehrgeizige Wirksamkeit der Synagoge ausgesprochen. Diesen seinen Willen, mit seiner Wohltätigkeit im Verborgenen zu 1) Israelitische und jüdische Geschichte, 2. Auf!. S. 351. 2) Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Göttingen
1901.
57 bleiben, sprechen die sich immer wiederholenden Gebote aus. Sie haben ihren Grund darin, daß Jesus keine Ehre sucht und will. Er sucht durch seine Wunder Dank für Gott und nicht Ehre für sich. Die starken Ausdrücke, mit welchen dieses Verbot erzählt wird, zeigen den energischen Ernst, mit welchem Jesus die Ehre mied. Daß es sein eigener Wille nicht ist, geehrt zu werden, soll unzweideutig zum Ausdruck kommen. Dabei ist es charakteristisch, daß er diesen Willen festhält, selbst dann, wenn er immer wieder nicht geschieht. Das Verbot konstatiert, daß das sein Wille jedenfalls nicht ist. Für seine Person hält er diesen Willen fest, ohne Rücksicht darauf, ob ihm die Leute gehorchen. Ausgesprochen soll es jedenfalls werden, daß Jesus mit seiner Liebe nicht Ehre sucht. Im allgemeinen zeigen die Evangelien einen Christus, der handelt, nicht einen solchen, der über Gründe und Ziele seines Handelns reflektiert und redet. In der Regel ist seine Tat stumm, allein in einigen Worten bricht er dies Schweigen und diese bestätigen das bisherige Ergebnis. Am Schluß von Matth. 1 I, in dem Wort, in dem Jesus sein messianisches Machtbewußtsein ausspricht, schließt er daran den Ruf an alle, die eine Last tragen, bedrückt sind, mit der Verheißung, sie zu erleichtern. Es ist dogmatische Vergewaltigung dieser Worte, sie in irgendeiner Beziehung einzuschränken oder zu umzäunen, als rede Jesus vom Schuldgefühl oder vom Druck des Gesetzes oder von der Last, die die Pharisäer auflegen. Man muß dem Ruf die Allgemeinheit lassen, in der er ausgesprochen wird; er gilt allen Gedruckten, ohne Rücksicht auf das, was sie drückt. Wort und Werk Jesu erläutern sich gegenseitig. In seinem Wort spricht sich der Wille aus, der seinen Taten zugrunde liegt, seine Bereitwilligkeit und Macht, allen zu helfen. Di~ses Wort bestätigt die evangelische Erzählung und zeigt, in welchem Umfange es zur Wahrheit wird. Willigkeit und Fähigkeit Jesu, zu helfen, dehnt sich über alle Leute aus. Nach diesem Worte entspricht die umfassende Hilfeleistung Jesu seinem eigenen Willen. Nach der Meinung der Evangelisten haben sich also die Hilfsbedürftigen nicht ohne oder gegen Jesu Willen an ihn gedrängt, sondern von ihm selbst gerufen. Das spricht auch Lukas aus, wenn er als erstes Wort Jesu eine Rede über Jesaias 61, v. I, 2 nennt. Hiernach ist es
Jesu Aufgabe, Armen das Evangelium, Gefangenen Befreiung, Blinden das Gesicht zu verkündigen. Die folgende Erzählung zeigt, daß das keineswegs bildlich zu verstehen ist, sondern daß der Evangelist an die Heilungen Jesu denkt. Unter den Gefangenen versteht er jedenfalls die Dämonischen. Also seine machtvolle Hilfe rechnet der Evangelist ebenso wie die Verkündigung des Evangeliums in den Beruf Jesu hinein. Das spricht Jesus auch in der Antwort an den Täufer aus. Die Kennzeichen, aus denen dieser selbst schließen mag, wer Jesus ist, sind die wunderbaren Heilungen Jesu: "Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören und Tote werden erweckt und Armen wird das Evangelium verkündigt." Es wird in allen diesen Worten nicht nur der wunderbare Charakter des Wirkens Jesu hervorgehoben, sondern die machtvolle Liebe, in der er handelt. Daraus, daß es Jesus als seinen Beruf bezeichnet, zu helfen, erklären sich auch die Seligpreisungen am deutlichsten in der Form, in der sie bei Lukas vorliegen: hier schließen sie jede bildliehe Umdeutung aus. Wie alle Worte Jesu, so sind auch diese Seligpreisungen nicht etwa allgemeine Wahrheiten, sondern Jesus spricht mit ihnen seinen Willen und die Regel seines Tuns aus. Sie beziehen sich in derselben Allgemeinheit wie der Ruf Matth. I I auf jede Not. Alle Elenden werden selig gepriesen, ihnen bringt Jesus das Himmelreich. Wenn der Apokalyptiker die Gegenwart des Himmelreichs mit den Worten beschreibt: "Gott wird mit ihnen sein, und er wird jede Träne von ihren Augen wischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein", so entspricht diese Beschreibung der Gegenwart des Himmelreichs genau den Worten Jesu, in denen er auf seine Liebesübung als auf den Beweis der Gegenwart des Himmelreichs hinweist. Dies erwartet man vorn Himmelreich, dies leistet er. Daneben stehen die Weherufe über die Glücklichen. Das Glück gilt als eine Gefahr. Diese Worte stehen keineswegs so vereinzelt da, daß ihre Deutung besondere Schwierigkeiten machte. Jesus wendet sich ausschließlich an die Not. Lieben heißt für ihn helfen und geben, seine Liebe wendet sich darum an die, denen etwas fehlt. Aus dem Bedürfnis entspringt das Verlangen und die Bitte. Aber mit Absicht werden nicht diese genannt als Bedingungen seiner Hilfe. Eben weil sein Wille wirklich Liebe ist,
59 bedarf er keines anderen Anlasses zur Hilfe als der Not. Auch diese Worte erläutern einfach das Wirken Jesu; sie sprechen den Willen Jesu aus, alle Not zu beseitigen. Aus diesem seinem Willen erklärt sich auch das Drohwort. Glück ist darum eine Gefahr, weil er dem Glücklichen nichts zu geben vermag. Durch das Glück wird das Verlangen befriedigt, und damit erlischt es, und die Gegenwart Jesu erzeugt keine Bitte. Glück macht satt. Das zeigt auch das Gleichnis vom Reichen Luk. 16, 19ff. Die sättigende und verhärtende Wirkung des Glücks wird am Reichen dargestellt. Diese sättigende Wirkung des Glücks scheidet von Jesus. Auch dieses Wort steht nicht vereinzelt da. Jesus hat nicht nur die Bitte gewollt, sondern auch das Unterbleiben der Bitte ihm gegenüber als Verhärtung und schwere Gefahr angesehen, das spricht sich am schärfsten in dem Wort über Israel Matth. 8, 1 1 f. aus. Weil Israel ihm nicht mit demselben unbegrenzten Vertrauen entgegenkommt wie der heidnische Hauptmann, so wird es aus dem Himmelreich in die Finsternis verstoßen. Es wird keine andere Schuld Israels genannt als dieses Unterlassen der gläubigen Bitte, aber diese reicht aus, um das Volk vom Himmelreich auszuschließen. Die Bedürfnislosigkeit erstickt die Bitte und schließt vom Geben und Lieben Jesu und damit vom Himmelreich aus. Nach den. Evangelien liebt also Jesus die Bedürftigen. Wenn Wernle behauptet, die Evangelisten zeigten uns einen Christus, der ein Leben führe "im Jubel über die Natur und die guten Menschen" (.63), so widerspricht dies Christusbild dem Ernst der Evangelien durchaus; das ist gerade charakteristisch für die Evangelien, daß das Motiv der Liebe Jesu nach ihnen, soweit es in den Menschen liegt, in erster Linie negativ ist. Ihn jammert das Volk Matth. 9, 36. Jesu Liebe trägt nicht den Charakter der Bewunderung, sondern lediglich den des Mit lei des. Sie ist nicht Genuß, sondern Tat, Gabe und Hilfe. Er bedarf daher eines bedürftigen Empfängers. Aber die Liebe Jesu zu den Leuten hat auch ein positives Motiv, niemals jedoch wird ausgesprochen, daß es die Freude an ihrer Güte ist. Der entgegengesetzte Gedanke wird gelegentlich ausgesprochen. Er ist der Arzt, der zu den Kranken kommt und nicht zu den Gesunden, er sucht das Verlorene und nicht die Gerechten. Das positive Motiv der Liebe
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Jesu liegt in seinem Gottesbewußtsein. Weil Gottes Wille Liebe ist, so ist auch sein Wille Liebe. Weil Gott jedem Bittenden gibt, so erhört auch Jesus jede Bitte. Er hat den Liebeswillen Gottes nicht nur erkannt, sondern er tut ihn auch. Auch hier gibt das Liebesgebot den Schlüssel für das Wirken Jesu: wie er es mit den Worten begründet: "damit ihr Söhne seid eures Vaters im Himmel", so erweist auch er sich durch seine Liebe als Gottes Sohn. Darum wurzelt seine Liebe in seinem messianischen Bewußtsein und trägt es zugleich, darum ruft er alle zu sich, weil der Vater ihm alle gab. Sein messianisches Selbstbewußtsein hat die Form, daß er nichts Sachliches, sondern die Menschen als sein ihm vom Vater gegebenes Eigentum ansieht. Sie sind sein Eigentum; auch dann, wenn sie ihm nicht gehorchen, gehören sie ihm doch. Das wird durch den Begriff "verloren" ausgedrückt. Er sieht das Volk nicht nur als den Kreis seiner Brüder an, sondern als sein Eigentum. Und als das ihm vom Vater geschenkte Eigentum liebt er sie. Diese Begründung der Liebesübung Jesu tritt auch hervor in der Grenze, die sie hat. Als der Messias ist er der König Israels. Darum beschränkt er seine Hilfe auf Israel und weist zunächst die Bitte der Heidin ab. Aber innerhalb dieses Gebietes hat die Liebe Jesu keine Schranke. Freilich wird die Hilfe Jesu nicht so geschildert, daß er die Hilfsbedürftigen aufsuchte, um ihnen zu helfen. Nicht er geht ihnen nach, sondern sie kommen zu ihm. Sein eigentlicher Beruf liegt in der Verkündigung des Evangeliums; daß dieses überall hinkommt, dafür sorgt er planmäßig (Luk. 4, 43). Aber alle Kranken, die ihm dabei gebracht werden, heilt er. Die Liebesübung Jesu hält sich auch in dieser Beziehung genau in der Linie seines eigenen Gebotes und wird durch dasselbe erläutert. Die Liebe gilt dem Nächsten, d. h. jedem Hilfsbedürftigen, den man trifft (Luk. 10, 30 ff.). Die Evangelisten heben daher geflissentlich hervor, daß Jesus kein Elend in seiner Nähe läßt. Er setzt sich nicht zu Tisch, ehe er die Kranke, die im Zimmer ist, geheilt hat (Mark. I, 29ff.). Nur dann ist das Liebesgebot, wie er es selbst gegeben hat, erfüllt. Aber hiermit ist es ganz erfüllt. In dieser Begrenzung seiner Aufgabe zeigt sich, daß das Himmelreich noch nicht gekommen ist. Unter den Hilfeleistungen Jesu nimmt eine eine besondere Stellung ein, nämlich die Heilung der D ä mon i s c he n. Die Evangelisten
61 stellen sie höher als die Totenerweckungen, und das tut offenbar Jesus selbst, denn Matth. 12, 28 knüpft er an sie den Schluß, daß das Himmelreich gekommen ist. Sie gelten als die höchsten Erweise der Liebe und der Macht, denn durch diese Heilungen zeigt sich, daß Jesu Macht nicht nur in den Hades, sondern in die Hölle hineinreicht. Die Besessenen sind unter der Macht des Satans und damit ebenso gut schon jetzt in einem ähnlichen Sinne in der Hölle, wie die Jünger Jesu schon jetzt im Himmelreich sind. Was sie leiden sind Höllenqualen. Das zeigt sich unter anderem darin, daß die Gegenwart Jesu sie nicht mit Vertrauen, sondern mit Höllenangst erfüllt. Er kommt als der Richter, um sie zu verderben. Darum sind diese Heilungen der höchste Erweis der Liebe Jesu j sie zeigen, daß seine Hilfe nicht in gesetzlicher Weise an die Bitte gebunden ist, denn er hilft da, wo seine Hilfe abgewiesen ist. Diese Erlebnisse sind für die Urgemeinde der anschauliche Beweis, daß Jesus aus der Hölle erlöst. Daraus erklärt sich die hohe Schätzung dieser Erzählungen. Es ist geschichtlich nicht zulässig, sie darum zu bezweifeln, weil die Beurteilung, die in der Darstellung hervortritt, nicht modern ist. Entkleidet man sie dieser Form, so erzählen sie einfach, daß Jesus auch den Wahnsinn geheilt hat, und das ist eine Tatsache die sich nicht als Postulat aus einer Theorie erklären läßt. 1) Neben diesen Erzählungen, in denen die Allmacht der Liebe Jesu dargestellt wird, steht nun eine zweite Reihe von Geschichten und Worten, die eine deutliche Tendenz gegen das Wunder aussprechen, zuerst die Versuchungsgeschichte. Sie knüpft an das Machtbewußtsein des Sohnes Gottes an. Nach seinen drei Seiten hin wird das messianische Bewußtsein wachgerufen: ihm gehorcht die Natur, ihm dienen die Engel, ihm gehören die Menschen. Dies Selbstbewußtsein bietet den Anknüpfungspunkt für die Versuchung. Im Machtgefühl Jesu liegt der Reiz sich selbst aus der Not zu helfen. Dieser Gedanke wird als satanische Versuchung abgewiesen. Sünde ist die Selbsthilfe darum, weil in ihr Unglaube liegt an die erhaltende Macht des Wortes Gottes. Mit diesem Gebrauch seiner Macht würde Jesus Gottes Macht vergessen: ein von Gott gelöster Gebrauch seiner Macht aber wäre eine satanische Sünde. 1) Gegen Wrede, Das Messiasgeheimnis.
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Die gegen das Wunder gerichtete Tendenz dieser Erzählung wird deutlich, wenn man die Speisungsgeschichte vergleicht, denn hier gebraucht Jesus seine Macht zu einer wunderbaren Speisung: den Schluß, den er in der Versuchungsgeschichte zieht, zieht er hier nicht. Der Grund ist deutlich, er liegt darin, daß Jesus seine Macht nur zur Liebesübung gebraucht; sie für andere zu gebrauchen ist sein Beruf, sie für sich selbst zu gebrauchen ist die Versuchung, die in seinem Machtbesitz liegt. Die Selbsthilfe ist ihm damit als Möglichkeit gegeben, und diese Versuchung muß zunächst überwunden werden. Merkwürdig ist die Schärfe des Urteils, die in dieser Erzählung liegt. Allmacht im Dienst der Liebe ist etwas Göttliches, im Dienst Ger Selbsthilfe etwas Teuflisches. Durch die Geschichte wird mit großer Schärfe und Klarheit ausgesprochen, daß nicht die Macht an sich, sondern die allmächtige Liebe das Merkmal der Messianität Jesu ist. Es kommt den Evangelisten durchaus darauf an, wozu die Macht gebraucht wird, jenachdem ist sie etwas Göttliches oder etwas Teuflisches. In dieser Bahn bleibt nun auch die evangelische Erzählung. Niemals gebraucht Jesus seine Macht, um sich selbst zu helfen, sondern nur um anderen zu helfen. Dieses Zeugnis muß deshalb bei Matthäus im Munde seiner Gegner am Schluß seines Lebens stehen 27, 42. Dieser Wille zum Dienst beherrscht sein ganzes Leben. Die Erzählung zeigt, wie er diesen Willen faßte. Die Liebe Jesu ist für die Evangelisten kein naiver Trieb, der ihm "natürlich" ist, sondern sie ist im vollsten Maße Wille, der durch die Versuchung hindurch fest wird. Seine Güte ist nicht eine mit der Bosheit unbekannte Unschuld, sondern sie ist durch eine bewußte Erkenntnis und Verwerfung des Bösen hindurchgegangen und damit fest geworden. Die Gefahr, die für ihn allein bestand, lag in seinem Machtbewußtsein. Neben einander liegen in ihm Macht und Liebe. Die Frage ist, welches von beiden dem anderen übergeordnet wird. Die Erzählung beschreibt, wie Jesus die Macht in den Dienst seiner Liebe stellt. Das gelingt ihm aber dadurch, daß er sich unter Gott beugt. Der Glaube Jesu, den diese Erzählung darstellt, steht in einem eigentümlichen Verhältnis zu dem Glauben, den er selbst erwartet. Während er selbst unbedingte Zuversicht auf seine Macht verlangt und mit unbedingter Zuversicht seine Hilfe in
Aussicht stellt, übt er für seine Person eInen ebenso un bedingten Verzicht. Dadurch bekommt das Verhältnis Jesu zu Gott eine doppelte Gestalt: einerseits ist es absolutes Vertrauen, eine Gewißheit alles zu empfangen, ein auf Gott gerichtetes Begehren und Bitten, welches zu einer absoluten Erhebung über die Natur führt; aber diese Seite seines Glaubens übt Jesus nur für die Menschen aus. Kraft dieser seiner Zuversicht erfüllt er die Wünsche aller, die ihn bitten. In diesem Gebrauch seines Glaubens äußert sich seine Liebe zu den Menschen. Der Glaube Jesu hat aber auch noch eine andere Seite, er ist Beugung, Verzicht, Unterordnung unter Gott. Diese Seite seines Glaubens wendet Jesus nur für sich an. Die Versuchungs geschichte zeigt, daß Jesus diesen Verzicht übt, um Gott zu ehren. Es würde Verleugnung Gottes sein, wenn er das nicht täte. Vor und über der Zuversicht Gott gegenüber muß die Beugung und der Verzicht stehen, sonst würde Gott zum Diener der menschlichen Wünsche werden. Diese Beugung vor Gott aber nimmt Jesus ausschließlich für sich in Anspruch, während er niemals von einem Bittenden Resignation und Fügung in sein Geschick verlangt. Für sich verzichtet er beständig, für andere nie. Dies ist das zum Geben Jesu gehörige Entbehren: was er andern gibt, auf das muß er selbst verzichten. Auch Jesu Liebe ist Selbstverleugnung. Hinter seinem Geben liegt ein Entsagen. Die zweite Versuchung knüpft daran an, daß im Machtbewußtsein Jesu der Reiz lag, sich von der Ordnung der Natur zu dispensieren. Steht er mit schöpferischer Macht über der Natur, so liegt in diesem Machtgefühl der Reiz, die Naturordnung zu ignorieren und zu überspringen, ihren Lauf zu durchbrechen. Auch diese Zumutung wird als satanische Versuchung abgewiesen. Sobald die Einordnung in die Natur verlassen wäre, wäre die Unterordnung unter Gott aufgegeben. Die Loslösung von der einfachen schlichten Ordnung des Lebens wäre Loslösung von Gott; Überhebung über die schlichte glanzlose Form des Lebenslaufes wäre Überhebung über Gott. Auch diesen Willen zur Einfachheit, zur Einordnung und Unterordnung in die menschliche natürliche Form des Lebens zeigt die evangelische Erzählung beständig an Jesus. Wie er seine Macht nicht gebraucht, um sich zu helfen, so gebraucht er sie auch nicht, um sich zu erhöhen und zu verherrlichen. Neben
seiner Machtentfaltung steht völlig damit vereinigt seme Fügung in das irdische Leben, seine Beugung unter die Ordnung der Welt. Das Ineinander .dieser beiden Züge ist vollkommen sicher und fest. Jesus gebraucht seine Macht nicht, um sich selbst vom Naturprozeß zu dispensieren. Auch der Jüngerkreis führt ein schlichtes einfaches Leben. Er wird nicht durch Wunder über die natürliche Mühsal des Lebens hinausgehoben, er trägt den Druck des Naturlaufs. Jesus wird durch Hitze und Müdigkeit überwältigt. Dieser nüchterne Zug im Christusbild ist kein Zufall, sondern mit Bewußtsein hervorgehoben und durch die ganze evangelische Geschichte hindurch mit Sicherheit festgehalten. Das bildet die feste, klare, scharfe Grenze des Christusbildes gegen das Märchen und die Heiligenlegende hin. Fragt man, wodurch es im Unterschied von der Legende glaubwürdig wird und den Charakter der Geschichte nicht verliert, so ist auf diesen Zug hinzuweisen. Jesus lebt in der evangelischen Erzählung nicht in einer Traumwelt, sondern in der Wirklichkeit. Das Wunder wird niemals zum Zauber. In der natürlichen Ordnung der Dinge ehrt Jesus den Willen Gottes, in ihrer Überschreitung sieht er satanische Auflehnung. Seine Wundermacht hat er lediglich, um anderen zu helfen. Diese Unterordnung seiner Macht unter seine Liebe wird in der ganzen evangelischen Erzählung nicht verlassen. Die beiden Versuchungen zeigen, warum Jesus jeden egoistischen Machtgebrauch verworfen hat. Die Erzählung enthält eine scharfe Kritik eines Christus, der ein Wundertäter wäre. Schärfer als der Evangelist kann man ein solches Christusbild nicht verurteilen. Der Thaumaturg ist für ihn eine satanische Erscheinung. Das Merkmal des Göttlichen ist allmächtige Liebe. Diesen Willen zur Unterordnung unter Gott und damit zum Liebesdienst erringt Jesus nicht erst allmählich, sondern einmal am Anfang seines Wirkens durchläuft er die Versuchung, und nachdem er sie überwunden hat, ist der Wille zum Dienen da, und der Wille zur Macht ist ihm untergeordnet, denn jedenfalls ist die Meinung der Erzählung, daß Jesus sich die Bereitwilligkeit zum Dienen nicht immer neu erringen mußte, aber wohl einmal am Anfang seines Wirkens. Indem er die Versuchung überwindet, ist sein Wille fest geworden. Sein Machtbewußtsein hat sich mit einer festen und stetigen Liebe verbunden. Die Geschichte beschreibt, wie die im
Selbstbewußtsein und Machtbesitz Jesu liegende Gefahr, die in der Unwilligkeit zum Dienen besteht, von ihm überwunden wurde. Die Erzählung drückt aus, daß Jesu Liebe nicht aus einer physischen Unrahigkeit zur Sünde entsprang, sondern, daß seine Liebe sich aus einer bewußten Verneinung und Überwindung der Selbstsucht erhebt. Sie hat die Form einer beständigen siegreichen Über· windung der Versuchung, die im Machtgefühl Jesu lag. Wie man auch den historischen Charakter der Geschichte beurteilen mag, daß sie den Willen des in den Evangelien dargestellten Christus plastisch darstellt, kann man nicht verkennen. Das Wirken Jesu, wie es die Evangelien beschreiben, zeigt die Durchführung des in dieser Geschichte dargestellten Willens Jesu. Eine Verweigerung des erbetenen Zeichens enthält nun noch eine andere Reihe von Erzählungen Matth. 12, 38 ff. i 16, 1 ff. und die Parallelen. Hier werden Bitten um ein Wunder erzählt, die Jesus mit der größten Bestimmtheit abschlägt. Man hat deshalb oft die Vermutung ausgesprochen, daß uns in diesen Erzählungen allein der wirkliche Wille Jesu treu dargestellt werde. Allein man hat kein Recht wegen der einen Tatsache die andere zu ignorieren. Neben einander stehen solche Bitten, die erhört, und solche, die abgeschlagen werden, und es fragt sich, ob sich in diesem Verhalten eine Regel erkennen läßt. Die Entscheidung Jesu fciHt ohne jedes Schwanken, in jedem einzelnen Falle ist sein Wille fest und klar. Auch zeitlich lassen sich die Erzählungen nicht auf verschiedene Perioden des Lebens Jesu verteilen. Der Grund der entgegengesetzten Antwort Jesu liegt in der verschiedenen Art der Bitten. Nie wird eine Bitte um Hilfe erzählt, die Jesus abgeschlagen habe. Die Bitten, die er abschlägt, sind immer Bitten um ein Zeichen. Die Bittenden sind nicht Hilfsbedürftige, sondern Gegner oder Schwankende i ihr Wunsch entstammt nicht dem Glauben, sondern dem Zweifel oder dem Unglauben, sie verlangen nicht nach Hilfe, sondern nach Widerlegung ihres Unglaubens. Der Machterweis, den sie erbitten, soll kein Liebesbeweis sein, sondern eine Legitimation, eine Selbstrechtfertigung Jesu. Er soll seine göttliche Sendung und das Recht seiner Worte beweisen. Die Erzählungen sind der Versuchungsgeschichte verwandt. In bei den Fällen kommt die Bitte vom Gegner. In beiden Fällen Lütgert, Die Liebe im N. T.
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handelt es sich um einen Beweis der Messianität Jesu. Auch die Weigerung Jesu hat ähnliche Gründe. Er tut keine Wunder, um sich zu legitimieren. Er erzwingt den Glauben nicht. Die Bitte behandelt er als Heuchelei. Das beständige Schwanken, welches mit seinem Urteil über ihn nie zum Schluß kommt, entstammt aus einem verdorbenen Herzen. Beweise seiner göttlichen Sendung liegen hinreichend vor. Es verrät sich in ihm nicht der Wille zum Glauben, sondern der Wille zum Unglauben. Die Bittenden sind nicht Hilfsbedürftige, sondern Kritiker. Wenn Jesus solche Bitten abschlägt, so handelt er also nach derselben Regel, nach der er gläubige Bitten erhört: ungläubige Bitten schlägt er eben deshalb ab. Er macht Glauben nur aus dem Willen zum Glauben, nicht aber aus dem Willen zum Unglauben. So handelt er aber eben darum, weil er hinreichende Beweise seiner göttlichen Sendung gegeben hat. Er ist mehr als Jonas und mehr als Salomo. Zur Heuchelei wird der Zweifel angesichts der offenbaren Beweise, die Jesus für seinen Anspruch gegeben hat. Dies ist der Beweis dafür, daß dem Zweifel eine heimliche Entschlossenheit zum Unglauben zugrunde liegt. In diesem wie in allen Fällen behandelt Jesus den Zweifel an Gott und seinem Willen, welcher tut, als bedürfe es noch besonderer Beweise oder Belehrungen, als sei der Unglaube im Recht, diesen Zweifel behandelt er mit Härte. Wie nach seinem Urteil Willen und Wirken Gottes erkennbar und verständlich ist, so trägt auch er selbst das Kennzeichen Gottes für jeden, der es sehen will, deutlich an sich. Dieses Merkmal Gottes ist eben die allmächtige Liebe, in der er handelt. Um ihretwillen hat er ein Recht, die Zeichenforderungen als Heuchelei zu behandeln. Die beiden Reihen von Erzählungen, die erhörten Bitten und die versagten Bitten, schließen sich also nicht aus, sondern sie entspringen aus ein und demselben Willen Jesu. Der eine Fall erklärt den anderen. Das Bestreben, das wunderbare Element aus dem Leben Jesu zu streichen, ist ja verständlich, aber man darf nicht sagen, daß es an der Überlieferung eine Stütze hat. Es ist geschichtlich nicht zulässig, die gegen das Wunder gerichteten Worte Jesu allein festzuhalten und den so beherrschend hervortretenden Zug der allmächtigen Liebe auszulöschen. Man kann nicht die eine Beobachtung mit der anderen beiseite schieben.
67 In Gewährung und Versagung zeigt sich derselbe Wille. Die Liebe Jesu gibt ihm das Recht zu seiner Strenge. Vor dieselbe Frage nach der Geschichtlichkdt der allmächtigen Liebesübung Jesu stellt uns auch das Wort Joh. 4, 48: "Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubet ihr nicht." Daß das Wort Klage ist, ist klar. Es wird als Schuld beurteilt, daß das Volk zum Glauben Zeichen und Wunder bedarf. Insofern steht es den Worten über die Zeichenverweigerung nahe. Aber daraus folgt nicht, daß es den Entschluß Jesu, kein Zeichen zu tun, ausspricht. Gehört es an die Stelle, wo es berichtet wird, so ist das deutlich, denn hier folgt ihm ja nicht eine Verweigerung, sondern eine Gewährung des Zeichens. Auch ist das Wort keine Entgegnung auf eine Zeichenforderung, sondern in der Erzählung, in der es steht, auf eine Bitte um Hilfe. Die Bitte will nicht ein Glaubensmotiv erbitten, sondern einfach eine Heilung. Das Wort kann daher kein Abweis der Bitte sein sollen. In dem Zusammenhange, in dem es steht, soll es nicht sagen, warum Jesus nicht Wunder tut, sondern warum er sie tut und tun muß, nämlich weil er Glauben wecken will. Dies ist sein Beruf. Alles, was zu diesem Zwecke nötig ist, muß er tun. Nun ist es eine 'Tatsache, die Jesus beklagt, aber eine Tatsache, daß das Volk ohne Zeichen nicht glaubt. Jesus nimmt die Leute, wie sie sind. Darin, daß er sich ihrer Art anbequemt, zeigt sich seine Liebe. Weil das Volk nun einmal ohne Zeichen nicht glaubt, so muß er Zeichen tun. Das Wort gibt also Grund und Zweck seiner Zeichen an. Selbst wenn es nun hier nicht in seinem ursprüngliehen Zusammenhang stünde, so kann es doch auch in seinem Originalsinn keine andere Bedeutung gehabt haben. Das ganze Christusbild der Evangelien widerspricht der Vermutung, daß Jesus eine Bitte um Hilfe mit einem Scheltwort über den Unglauben des Volkes abgewiesen habe. Denn diese Bitte selbst ist ja keine Äußerung des Unglaubens, sondern des Glaubens. Aber freilich spricht das Wort aus, daß Jesus die Heilungen nicht als seinen eigentlichen Beruf ansieht. Dieser liegt in der Erze u gu n g des Glaubens. Aber weil die Heilungen diesem Zwecke dienen, sind sie ein wesentliches Stück seiner Aufgabe. Freilich heilt Jesus ohne Rücksicht auf den tieferen Erfolg. Die Heilung wird nicht davon abhängig gemacht, daß ein bleibender 5*
68 Glaube entsteht. Vielmehr heben die Evangelisten geflissentlich hervor, daß der beabsichtigte innere Erfolg der Heilungen Jesu auch ausgeblieben ist. Gerade weil er aus wirklicher Liebe hilft, so ist die Bedingung seiner Hilfe nur die Not und die gläubige Bitte. Es ist ein für Jesus charakteristischer Zug, daß er nicht nur mit der religiösen, sondern auch mit der äußeren Not des Volkes Erbarmen hat und daß er nur aus diesem Erbarmen heraus handelt. Die Vollkommenheit seiner Liebe besteht gerade darin, daß sie vom Danke unabhängig ist. Er hilft, um zu helfen. Allein das regelmäßig wiederkehrende Wort: "Dein Glaube hat dir geholfen", macht die Geheilten darauf aufmerksam, was Jesus an ihnen schätzt und sucht. Er will einen bleibenden Erfolg, der über die momentane Hilfe hinausgeht, erreichen. Er will unbedingtes Vertrauen zu sich erwecken. Dies ist sein eigentliches und höchstes Ziel. Die klagenden Worte über die galiläischen Städte, Matth. 1 I, nennen statt des Glaubens die Buße. Angesichts seiner Wunder ist das Ausbleiben der Buße eine größere Schuld als die Verstockung gegenüber den Propheten. Dies gilt darum, weil Jesus Glauben und Buße nicht nur gefordert hat, sondern weil in seinen Wundern die Macht liegt, sie zu erzeugen. Sie sind ein unwiderleglicher Beweis der Gegenwart Gottes, und als solche haben sie die Kraft, Buße und Glauben w erzeugen. 1) In dem Wort an den Täufer, durch welches Jesus seine allmächtige Liebe als das Merkmal seiner Messianität bezeichnet, werden auch die Arm en genannt. Während Jesus seine Liebe zu den Kranken mit dem Wort beschreibt, daß er ihnen allen hilft, drückt er seine Liebe zu den Armen mit den Worten aus: die Armen erhalten das Evangelium. Wie der erste Teil dieses Wortes, so wird auch dieser zweite durch die Darstellung der Tat Jesu bestätigt. Die Armut rechnet Jesus nicht zu derjenigen Not, die er zu beseitigen hat. Die Evangelien erzählen nichts vom Almosengeben Jesu, nur durch eine ganz gelegentliche Bemerkung erfahren wir, daß er wohl auch Almosen zu geben pflegte, Joh. 13,29. Aber diese Form der Wohltätigkeit spielt eine so geringe Rolle, daß sie durch keine Geschichte dargestellt und überhaupt nicht weiter erwähnt wird. Angesichts der großen 1) Vgl. über diese Frage Nr. 2, besonders aber Schlatter, Der Glaube im neuen Testament.
Bedeutung, die das Almosengeben in der Synagoge hatte, ist dieses Schweigen auffallend. Offenbar hat das Almosen im Leben Jesu keine irgendwie hervorragende Bedeutung gehabt; die Beseitigung der sozialen Not rechnet Jesus nicht zu seiner Aufgabe. Das liegt nicht etwa daran, daß Jesus in asketischer Weise die Armut nicht als Not beurteilt, die Armen stehen für ihn neben den Kranken, und Matth. 6 wird die in der Armut liegende Not ausdrücklich anerkannt. Also Mitleid verweigert er den Armen nicht, allein die Hilfe, die er ihnen zusagt, besteht lediglich im Evangelium und in der Verheißung des Himmelreichs. Als sozialer Reformator dagegen tritt er nicht auf. Diese Grenze der W ohltätigkeit Jesu hängt zusammen mit seinem Urteil über das Geld. Geld gilt ihm nicht als ein Gut, obgleich er auch in der Armut eine Gefahr sieht. Gilt ihm doch der Reichtum als im höheren Maße gefährlich; er schließt daher aus den Gaben, die er gibt, das Geld aus. Allein damit ist das Schweigen der Evangelien über die Wohltätigkeit Jesu doch noch nicht vollständig erklärt. Daß das Geld in der Liebesübung Jesu keine Rolle spielt, ist auch darum auffallend, weil in seine Auslegung des Liebesgebots das Geldgeben ausdrücklich eingeschlossen ist. Er bestätigt das Almosen durch sein Wort, aber nicht durch seine Tat. Für die Seinigen ist es eine Pflicht, aber nicht in demselben Maße für ihn. Die untergeordnete Bedeutung, die das Almosen in Jesu Liebesübung hat, erklärt sich also nicht nur daraus, daß ihm das Geld als eine bedenkliche Gabe gilt; damit bliebe die Forderung der Wohltätigkeit unerklärt; vielmehr gilt ihm das Geld als etwas Menschliches. Es ist keine göttliche Gabe, er selbst aber gibt nur göttliche Gaben, und nur solche Erzählungen, in denen der allmächtige Charakter seiner Hilfe hervortritt, werden von den Evangelien aufbewahrt, da nur diese für Jesus charakteristisch sind. Jesus gibt lediglich solche Gaben, die dem Gebiet der Natur angehören. Gesundheit gilt ihm als göttliche Gabe, aber nicht Geld. Diese Begrenzung seiner Wohltätigkeit spricht sich auch in dem Wort Luk. 12, 14 aus: Die Bitte, jemandem zu seinem Erbe zu verhelfen, schlägt Jesus ab. In dieses Gebiet hinein reicht sein Beruf nicht. Auch hier handelt es sich um Geld, und dazu verhilft er niemals. Lukas schließt ein Wort gegen die Habgier an; damit soll der Grund ausgesprochen sein,
7° warum Jesus hier nicht hilft. Die Bitte stammt aus der Habsucht, und eine solche erhört Jesus nicht. Die Grenze seiner Wohltätigkeit ist ihm nicht etwa aufgezwungen: freilich er gehört selbst zu den Armen, auch er selbst ist nur im Besitz göttlicher Gaben. Der Verzicht auf soziale Hilfe ist aber keine Resignation, die sich aus seiner Lage ergibt, sondern ein bewußter Verzicht, ein positiver Wille, der in seinem Urteil über das Geld begründet ist. 2.
Die G n ade Je s u.
Neben der Wohltätigkeit Jesu steht seine Sündenvergebung. Seine Liebe trägt den Charakter der G n ade: das ist ein weiterer und geschichtlich deutlicher Zug im Christusbild. Jesus übt sie als sein persönliches Recht. Auf den Einwand der Gegner: "Sünden kann nur Gott vergeben, sie werden daher erst im Himmelreich vergeben", lautet Jesu Antwort: "Der Menschensohn hat Recht auf der Erde Sünden zu vergeben." Der Beweis für dieses Recht ist die Macht zu heilen. Damit wird anerkannt, daß nur Gott Sünden vergeben kann. Es ist ein tiefgreifendes Mißverständnis,in dem Wort den Gedanken zu finden, daß der Mensch Sünden vergeben dürfe; Sündenvergebung gilt J esu, mehr noch als seinen Gegnern, als Go t t e s Re c h t. Sie ist eine göttliche Gabe. Wer sie geben kann, der handelt in Gottes Namen. Der Beweis, daß Jesus in Gottes Namen handelt, ist die Heilung. I ) Sie trägt das Merkmal Gottes unwidersprechlich an sich. Aber die größere Gabe Gott~s ist die Sündenvergebung. Die Heilung gilt nur als Gewähr für diese größere Gabe. Für Jesus selbst ist das heilende Wort leichter 1) Wellhausen, Das Evangelium Marci S. 17 f.: "Im Zusammenhange lag aber nicht die mindeste Nötigung dazu vor, von der gewöhnlichen Bedeutung abzugehen, da der Me n s c hau f Erd end ar f S ü n den ver g e ben als Rückschlag auf nur Go t tim H i m meld a r fes einen ausgezeichneten Sinn gibt. Da nun die Schriftgelehrten so und nicht anders verstehen müßten, so kann es auch Jesus nicht anders gemeint haben, wenn er nicht die Absicht hatte, sie irre zu leiten und seine Gedanken zu verbergen. Das richtige Verständnis ist merkwürdigerweise nach Matth. 9, 8 erhalten: "Der solche Befugnis den Me n s ehe n gegeben hat." Natürlich ist die Meinung nicht, daß jeder Mensch die Befugnis hat, Sündenver,gebung auszusprechen, sondern, daß Menschen die Befugnis haben können." Nach dem Zusammenhang hat der Mensch die Befugnis, der he i I e n kann. Er hat sie ;und gibt sie Matth. 16,19.
als das vergebende. In der Verzeihung liegt eIne größere Macht als in der Heilung. Nur den Gegnern gilt das heilende Wort als schwerer, weil seine Erfüllung beobachtet werden kann. Ist aber das vergebende Wort wirklich Wahrheit, d. h. hat es die Vergebung Gottes zur Folge, ist es nicht nur ein "Sagen", sondern ein Tun, so ist es das schwerere Wort. Denn die Beseitigung der Sünde ist etwas Größeres als die Aufhebung der Krankheit. Das vergebende Wort ist nicht nur eine Theorie, auch nicht nur eine Verheißung, sondern eine Tat im eigentlichsten Sinne des Wortes, eine reelle Gabe, ein Akt göttlicher Macht und Liebe. In dem Wort spricht sich das ganze Gottesbewußtsein Jesu aus. Heilung und Vergebung, beides sind göttliche W erke. Vergebung ist so wenig etwas Menschliches, daß es schwerer ist zu vergeben als zu heilen. So mächtig ist sein Gottesbewußtsein, daß ihm im Gegensatz zu seinen Gegnern, denen das Wunder als unmöglich und die Vergebung als wahrscheinlich erscheint, Vergebung schwerer und größer ist als ein Wunder. Sie ist etwas Wunderbares. Eben weil er so urteilt, liegt schon in der Vergebung, die er übt, der messianische Anspruch. In dem Recht zu vergeben liegt für ihn ein unbegrenztes Machtbewußtsein, denn auch in diesem Punkte unterscheidet sich die Liebesübung Jesu von der, die er gebietet, dadurch daß er in göttlicher Macht gibt. Seine Vergebung besteht nicht nur in einer Verzeihung der Kränkungen, die er selbst erfahren hat, sondern in einer Vergebung aller Sünden, d. h. der Schuld vor Gott, d. h. seine Vergebung ist G n ade. Sie ist daher seine größte Gabe und die höchste Äußerung seiner Liebe. Darin sieht er nun seine eigentliche Aufgabe. Seine Liebe besteht darin, daß er gekommen ist, das Verlorene zu suchen. Vergebung ist für J esus nicht eine Lehre, die er bringt, sondern eine Gabe. Vergeben ist ihm ein Handeln im höchsten Sinne; nicht ein Erkennen und Lehren, sondern ein Wollen und Tun, schwerer als Wundertun. Tat ist es, denn es ist ja Liebe. Darum liegt schon in seinem Vergeben ein messianisches Machtbewußtsein und nicht nur prophetisches Selbstbewußtsein. Denn als Prophet wird der angesehen, durch den Gott redet, aber durch den Christus handelt Gott. Es ist begreiflich, daß solchen, denen die Vergebung als eine allgemeine Wahrheit erscheint, die nur erkannt zu werden braucht, der
72 messianische Anspruch, der im Verzeihen liegt, nicht ohne weiteres deutlich ist. Allein man muß diese Abblassung nicht in das Bewußtsein Jesu hinein verlegen. Für ihn ist Vergebung göttlicher Wille, göttliche Liebe und Tat, und darum liegt in seinem Vergeben messianisches Machtbewußtsein. Er hat nicht diese Wahrheit erkannt, sondern diesen Willen Gottes zur Tat gemacht. Eben weil Jesu Vergebung nicht Ergebnis seines Denkens, sondern seiner Liebe ist, nicht nur seine Erkenntnis, sondern seine Tat, so redet er nicht viel über die Vergebung, sondern er vergibt. Darum äußert sich sein Verzeihen nicht nur als Erkenntnis und Wort, sondern als Wille und Tat. Die Evangelisten berichten daher nur selten ein ausdrücklich vergebendes Wort. Denn auf diese einzelne Zusicherung beschränkt sich für sie die Vergebung Jesu nicht. Angesichts der Sünde, die ihn umgibt, ist alle seine Liebe Gnade. Auch das wird nur gelegentlich ausgesprochen; so sagt Luk. 5, 8 Petrus zu Jesus nach dem Fischzug: "Gehe von mir weg, denn ich bin ein sündiger Mann, Herr." Dieses Wort gilt aber den Evangelisten natürlich nicht als Phrase, die nur einer momentanen Stimmung entspringt, sondern als Wahrheit, die er bei dieser Gelegenheit erkannt hat. Es ist ftir die Evangelisten der treffende Ausdruck des normalen Erfolges Jesu, und darum ein allgemein gültiges Wort. Es ist derjenige Erfolg, den Jesus selbst will. Von seiner eigenen Gnade spricht Jesus in dem Gleichnis Mt. 18, 23 ff. Darum nennt es Matthäus ein Himmelreichsgleichnis. Das Gleichnis soll keineswegs eine allgemeine zeitlose Wahrheit ausdrücken, sondern den Petrus auf die Gnade hinweisen, die er selbst genießt, weil daraus die Pflicht folgt, selbst zu verzeihen. Mit deutlicher Absichtlichkeit wird die Gnade, die der Jünger genießt, als unendlich groß bezeichnet. Er genießt sie eben dadurch, daß er Jesu Gemeinschaft genießt. Damit erfcihrt er unendliche, d. h. göttliche Gnade. Unendlich ist sie darum, weil sie Vergebung unendlich großer Schuld ist: die im Dienste Gottes begangene Sünde beurteilt Jesus als unendliche Schuld. Das Gleichnis macht ferner deutlich, daß Jesus, indem er Gnade übt, auf sein Recht verzichtet; auch seine Gnade trägt den Charakter der Selbstverleugnung. Eben wegen dieser
73 vollkommenen Gnade, die Petrus erlebt hat, wird auch vollkommene Geduld von ihm gefordert. Denn das Gleichnis soll Geduld ja nicht nur fordern, sondern diese Forderung begründen und damit Geduld erwecken.!) Und Jesus weist durch das Gleichnis auf die vollkommene Geduld hin, um derentwillen er die vollkommene Geduld des Jüngers verlangen kann. Das Recht seiner Gnade zeigt Jesus in den Gleichnissen Luk. 15. Freilich reden die Gleichnisse von der Liebe Gottes. Aber es ist ein seltsames Mißverständnis, zu schließen, daß sie darum von der Liebe Jesu nicht redeten. Auch ohne die Ein. leitung ist klar, daß Jesus hier von seiner eigenen Liebe redet. Eben weil Gott so liebt, wie die Gleichnisse beschreiben, so liebt auch Jesus so. Denn Jesu Liebe hat an Gottes Liebe ihren Grund, ihr Maß und ihr Gesetz. Was Jesus Luk. 15 ausspricht, ist ebenfalls nicht nur seine Erkenntnis, sondern sein Wille und seine Tat. Die Gnade, die er schildert, kennt er nicht nur, sondern er übt sie. Das Gleichnis drückt eben nicht nur eine Idee Jesu aus, sondern zeigt eine Tatsache. Es beschreibt die Liebe Gottes nicht nur als seinen abstrakten Willen, sondern als konkrete geschichtliche Tat, als Wirklichkeit. Und zur Wirklichkeit wird die Liebe Gottes, wie sie hier beschrieben ist, in der Gnade Jesu. Also Sätze wie der: es handle sich hier um Gottes und nicht um Jesu Liebe, sind für das Verständnis des Gleichnisses nicht zu gebrauchen. In Jesu Liebe steht eben das Vaterhaus, d. h. das Himmelreich, offen, und durch ihn nimmt Gott die Sünder auf. 2) Alle drei Gleichnisse wollen den Satz verständlich machen,
1) J ü I ich er, Gleichnisreden J esu II 313 sagt: "Als Pointe der Parabel bleibt nur eins übrig. Entsprechend dem Verhalten des Königs gegenüber jenem bösen Knecht kann und wird Gott trotz seiner ewig gleichen Bereitwilligkeit zum Vergeben auch der schwersten Schuld trotz alles Bittens um Vergebung uns nicht vergeben, wenn wir den von uns Ähnliches erbittenden Schuldnern die Vergebung versagt haben." Aber es handelt sich eben nicht nur um eine "ewig gleiche Bereitwilligkeit zum Vergeben", sondern um wirklich vollkommene gegenwärtige Vergebung, die der Jünger erlebt hat und aus der die Versöhnlichkeit entstehen soll. 2) Jülicher, Gleichnisreden Jesu II 365: "Überhaupt bleibt für einen Vermittler zwischen Gott und dem Sünder in der Anwendung unserer Parabel kein Platz; Jesus hat nicht daran gedacht, sich für einen solchen zu halten." Das wäre dann richtig, wenn Jesus nicht im Namen Gottes verziehen hätte. Er redet nicht
74 daß man sich im Himmel über einen bußfertigen Sünder mehr freue als über Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Man darf den Satz nicht dadurch zu einer selbstverständlichen Trivialität machen, daß man den Gerechten von vornherein einen Makel anhängt. Der Satz wird psychologisch verständlich gemacht. Neben die Ruhe, die ein nicht gefährdeter Besitz gibt, wird die Freude über das Verlorene, das sich wieder findet, gestellt. Der Beweis liegt einfach im Hinweis auf die psychologische Tatsache, daß aus dem ruhigen Bewußtsein des Besitzes die Freude nur dann entsteht, wenn Verlorenes wiedergefunden ist. Das Gleichnis erklärt diese Tatsache in keiner Weise. Sie behält ihr Geheimnis und wird einfach als Tatsache hingestellt. Die Gleichnisse zeigen nur, daß das der Liebe wesentlich ist. In der Freude zeigt sich die Liebe. So steht es auch bei Gott. Bekehrte Sünder erfahren eine größere Liebe als Gerechte. Der Satz: je größer die Not, desto größer die Liebe, wird auf die Sünde angewandt. Die Liebe mißt sich nach dem Maß des Bedürfnisses. Der Sünder bedarf sie in höherem Maße als der Gerechte, und darum erfährt er sie auch in höherem Maße. Weil Liebe für Jesus nicht ein Genießen, sondern ein Geben und Helfen ist, weil sie Mitleid ist, so entspricht sie dem Bedürfnis. Wie seine Hilfe um so größer ist, je größer die Not ist, so ist auch seine Gnade um so größer, je größer die Sünde ist. Der Schluß des dritten Gleichnisses ist nun keineswegs ein entbehrlicher Zusatz. Wer sich vorstellt, daß Jesus bei der Erzählung vor allem das ästhetische Interesse an stilreinen Parabeln gehabt hat, der mag den Schluß als fremdartigen Zusatz ansehen. Der Schluß hat aber auch nicht den Zweck, die Pharisäer zu ärgern. Vielmehr spricht der ältere Sohn einfach die dem Gedanken des Gleichnisses gegenüber natürliche Empfindung aus. Die Art, wie der ältere Bruder charakterisiert wird, hält sich von jeder gehässigen Karikatur fern. Der Sohn bringt die natürliche Empfindung einfach zum Ausdruck. Nicht dagegen,daß überhaupt der Bruder angenommen wird, protestiert er, aber dagegen, daß er besonders gefeiert wird. Durch diesen nur von Gottes Gnade, sondern er handelt in Gottes Gnade. Gottes Liebe wird durcb ibn nicht nur erkannt. sondern empfangen, er zeigt sie nicht nur, er gib t sie. Eben dies ist das messianische Moment in seinem Selbstbewußtsein.
75 Protest läßt Jesus dem wunderbaren Charakter seiner Liebe gegenüber die natürlichen menschlichen Gedanken zu Worte kommen. Aber er zeigt, daß der Bruder eben dadurch, daß er dieser Empfindung Raum gibt und sie zu Worte kommen läßt, die Liebe verleugnet und zwar sowohl die Liebe gegen den Vater wie gegen den Bruder. Denn auch sein Dienst beim Vater erscheint ihm als ein Knechtsdienst. Am Bruder wird also gezeigt, daß man gegen die Liebe, die sich an dem wiedergefundenen Verlorenen am vollkommensten offenbart, nur protestieren kann um den Preis, die Liebe überhaupt zu verleugnen und zu verlieren. Das Gleichnis gehört in die Reihe der Worte, die zeigen, wie aus dem Unterschied von Liebe und Gerechtigkeit ein Gegensatz werden kann. Jesu Liebe ist nicht ein Gegensatz zur Gerechtigkeit, sondern sie ist Gerechtigkeit, aber sie ist mehr als das. Sie ist besser als die Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten. Eben darum tritt sie in Gegensatz zur Gerechtigkeit der Pharisäer. Denn auch in diesem Punkte faßt der Pharisäer das Gebot der Gerechtigkeit nicht nur als Begrenzung der Bosheit, sondern auch als Begrenzung der Güte auf. Das ist der Kern des Gegensatzes zwischen Jesus und dem Pharisäismus. Indem Jesus im Namen Gottes vergibt, indem er "auf der Erde" tut, was erst "im Himmel" möglich ist, nimmt er ins Himmelreich auf. Wem die Sünden vergeben sind, dem ist das Himmelreich zugesagt; eben darum, weil die Vergebung Jesu diese Wirkung hat, ist sie kein leeres Wort, kein bloßer Wunsch, sondern göttliche Macht, eSovaia. Darum ist sein Wort Tat und Gabe. Freilich tritt Jesus als Prophet auf. Wellhausen 1) bemerkt: "er verkündigt nicht, daß das Reich mit ihm gekommen sei, sondern daß es bald kommen werde. Er trat damit nicht als Messias, als Erfüller der Weissagungen auf, sondern als Prophet. Seine Botschaft war anfänglich selber Weissagung." An dieser Stelle liegt auch für die Zeitgenossen Jesu die Schwierigkeit, den messianischen Charakter des Wirkens Jesu zu erkennen. Er gilt dem Volke als Prophet, Matth. 16, 14, aber nicht als der Christus denn er redet nur, und der Christus ist zum Handeln berufen. Allein Jesus selbst verbindet gerade mit seinem Wort das messia1) Israelitische und jüdische Geschichte.
2. Ausgabe S. 342.
76 nische Bewußtsein. Während es so scheint, als stelle er nur die Nähe des Himmelreiches in Aussicht und lehre die Bedingungen für den Eingang ins Reich, also als sei er nur Prophet, beurteilt er selbst sein Wort nicht nur als Lehre, die ein Wissen begründet, und nicht nur als Gebot, sondern als reelle schöpferische Macht, 1) Indem er seine Aufgabe damit beschreibt, daß er gekommen sei, zur Buße zu rufen, stellt er sich freilich neben den Täufer und nimmt dessen Predigt zunächst auf und setzt sie fort. Nicht in der äußeren Form des Wirkens besteht ein Unterschied zwischen ihm und dem Täufer, aber im inneren Charakter seiner Wirksamkeit. Freilich nimmt auch der Täufer ins Himmelreich auf, aber er selbst unterscheidet sich sehr bestimmt von Jesus; er reinigt mit Wasser, Jesus mit heiligem Geist. Damit ist die Überlegenheit Jesu über den Täufer in der einfachsten Form beschrieben. Er fordert nicht nur Buße, sondern er fühlt sich mächtig, sie zu wirken, und darum ist die Schuld der galiläischen Städte so groß, weil selbst Jesu Macht die Buße nicht erzeugt hat. Diese Macht seines Wortes, die in der Täuferrede daraus erklärt wird, daß er heiligen Geist hat, unterscheidet seine Predigt von einer bloßen "Lehre". Er lehrt nicht nur die Bedingungen für den Eingang ins Reich und gebietet ihre Erfüllung; dies würde freilich die Linie des prophetischen Berufs nicht überschreiten; aber der Inhalt des Machtbewußtseins Jesu wäre damit auch historisch nicht richtig beschrieben. Jesus beurteilt sein Wort als messianische Macht, weil er ihm schöpferische Macht beilegt oder, wie der Täufer sagt, Geist. 2) Der Geistgedanke tritt sonst bei den Synoptikern zurück, an seine Stelle tritt das Wort Jesu. Die Art, wie Jesus sein Wort beurteilt, wird Matth. 13 beschrieben. Die Gleichnisse sprechen vom Kommen des Himmelreiches und wollen es beschreiben. Es kommt, indem der Christus 1) Diesen Satz, daß Jesus in seinem Wort das Mittel messianiscl.en Handeins sieht, es also als allmächtige Tat beurteilt, daß dies der Himmelreichsgedanke von Matth. 13 und damit die Wurzel des paulinischen Satzes Röm. 1, 16 ist, habe ich in meiner Erstlingsarbeit (Das Reich Gottes in den synoptischen Evangelien, Gütersloh 1895) durchzufrihren versucht, und an diesem Satze jener Schrift halte ich fest, wenn ich auch zugebe, daß er sich sehr viel energischer durchführen ließe. 2) Der apostolische Geistgedanke bildet sich an J esus, und sein Wort gilt als Merkmal des Geistes.
77 die Welt verwandelt. Diese Erwartung des Volkes bestätigt Jesus; das Geheimnis des Himmelreiches aber liegt darin, daß die Weltverwandlung in seiner Predigt kommt. Sein Wort ist Same, d. h. es hat erzeugende, schöpferische Macht und schafft hundertfältige Frucht. Es gleicht dem Senfkorn, aus dem der Baum erwächst, dem Sauerteig, der das Mehl durchsäuert Darum ist es das Mittel seines messianischen Handelns. Als der Christus handelt Jesus insofern, als er die Bedingungen für den Eingang ins Himmelreich nicht nur fordert, sondern erzeugt, nicht nur lehrt, sondern schafft. Darum ist auch in diesem Punkte sein Wirken "Lieben". Wie er nicht richtet, sondern verzeiht, so fordert er nicht, sondern er gibt. Sein Wort begründet nicht nur ein Wissen, sondern ein Haben und Können. Er vermag den guten Willen und den Glauben nicht nur zu fordern, sondern zu erzeugen. Darum ist Liebe und Macht in seinem Worte eins. I) Sein Wort ist Liebe, weil es Macht ist, d. h. Fähigkeit, zu geben. Auf die Lösung dieser Aufgabe, auf die Erzeugung des Menschen, der ins Himmelreich eingeht, beschränkt Jesus seinen gegenwärtigen messianischen Beruf. Er sucht seine Aufgabe nicht auf dem Gebiete der Natur, auch nicht in dem Kreis der sozialen Ordnungen und der geschichtlichen Verhältnisse, sondern lediglich auf dem innerlichen, moralischen Gebiet. Seine Aufgabe ist reelle Beseitigung der Sünde, Erweckung des Glaubens und Erzeugung der Liebe. An dieser Stelle hat nach der messianischen Erwartung des Volkes der Christus keine Aufgabe und keine Macht. Er verklärt die Natur und kommt als der Richter, der ins Himmelreich aufnimmt oder von ihm ausschließt. Allein der Frage gegenüber, wie der Mensch entsteht, der ins Himmelreich ein geht, ist er machtlos, und daher die messianische Erwartung des Volkes ratlos. 2) Dies ist nun gerade die Frage, die Jesus beantworten will, oder vielmehr die Aufgabe, die er lösen will; nach dieser Seite wendet sich sein messianischer Wille ausschließlich, und die Lösung dieser Aufgabe beurteilt er als messianische 1) Hierauf beruht der Gegensatz Jesu gegen den Nomismus. Wäre es nicht so, so wäre die "Lehre Jesu" eben nichts anderes als ein neues Gesetz. DaB sie Evangelium ist, beruht auf ihrem schöpferischen Charakter, und dieser wieder be· ruht auf dem messianischen BewuBtsein Jesu. 2) Diese Ratlosigkeit kommt im Pseudoesra ergreifend zu Worte.
Macht, ja als den höchsten Machterweis. An dieser Stelle ist sein Machtbewußtsein unbegrenzt. Er fühlt sich als Täter und nicht nur als Denker, Lehrer oder Redner. Sein Wort ist ihm Mittel allmächtiger Tat. Darum wird sein messianisches Bewußtsein nicht dadurch gestört, daß die Offenbarung des Himmelreiches ausbleibt, und er verlangt auch von den Seinigen die Erkenntnis des messianischen Charakters seiner Wirksamkeit. Er sieht deshalb auch in seinem Worte wie seine höchste Macht so seine größte Gabe und darum den höchsten Erweis seiner Liebe. Er gibt die köstliche Perle, für die alles andere hingegeben wird; er gi bt sie, er beschreibt sie nicht nur. Er hat den verborgenen Schatz, um deswillen der Acker gekauft wird; er hat ihn, er kennt ihn nicht nur, d. h. mit einem Wort: er gibt das Himmelreich. Und zwar gibt er es jetzt und hier. Dieses jetzt und hier gibt der Predigt Jesu ihren Charakter. Es handelt sich bei der Frage, ob für ihn das Himmelreich nur Zukunft oder auch Gegenwart war, nicht etwa um einzelne Ausdrücke und Wendungen. Daß Jesus das Himmelreich nicht nur hat verheißen, sondern hat geben wollen, ist als ein durch sein ganzes Wirken hindurchgehender Wille erkennbar. Er ruft jetzt in Gottes Weinberg, und die Folgsamkeit gegen diesen Ruf ist Eingang ins Himmelreich. Matth. 22, 2 ff.: Er ladet zur Hochzeit, und zwar sollen die Geladenen jetzt kommen, das Mahl ist bereit, die Hochzeit wird jetzt gefeiert. Dieses messianische Bewußtsein Jesu, das Bewußtsein, mit dem Himmelreich die vollkommene Gabe Gottes zu geben, spricht sich auch in der Art aus, wie er von seinen Jüngern redet. Was sie sind, das sind sie durch ihn. Sie sind aber das Licht der Welt und das Salz der Erde. Eine Macht, die über die Welt und über die Erde geht, ist aber Gottesrnacht, Himmelreich. Jesus öffnet nicht nur selbst das Reich, sondern er übergibt seinem Jünger die Schlüssel des Himmelreichs; der kann es jetzt öffnen und jetzt schließen; was er auf Erden tut, das gilt im Himmel. Wem er das Reich öffnet, der wird auch wirklich hineingenommen. Dieses Recht und diese Macht kann Jesus dem Jünger nur darum gebsn, weil er sie selber hat und gibt. Aus diesem Bewußtsein Jesu heraus, mit Gottes Liebe lieben zu können und darum Gottes Gabe geben zu können, sind die Seligpreisungen gesprochen.
79 Sie stehen bei Matthäus am Anfang seiner Worte. Auch mit ihnen spricht Jesus nicht nur seine Gedanken aus, sondern seinen Willen und seine Kraft; denn selbstverständlich ist es die Meinung des Evangelisten, daß die Seligpreisungen nicht nur große Worte sind, sondern daß Jesus diesen seinen Willen auch tut; er mac h t selig; selig sein aber heißt: im Himmelreich sein. Indem diese Worte an den Anfang der Predigt Jesu gestellt werden, ist die Liebe Jesu als sein erster und höchster Wille bezeichnet und damit zugleich auf den höchsten Ausdruck gebracht. Gibt er die Seligkeit, so liebt er mit allmächtiger, göttlicher Liebe. Diese höchste Gabe Jesu, das Himmelreich, ist jedoch nichts Sachliches. Er ruft ins Himmelreich, indem er zu sich ruft; ihm nachfolgen, bei ihm sein, das heißt im Himmelreich sein. Darin spricht sich die Höhe des messianischen Bewußtseins Jesu aus, daß er die Gemeinschaft mit sich als seine höchste Gabe ansieht. Das Gleichnis von der Perle wird erläutert durch die Erzählung Matth. 19, 21, und es erläutert wiederum diese Erzählung. I ) Wer alles verkauft, um Jesus nachzufolgen, der gleicht dem Manne, der alles verkauft, um die köstliche Perle zu gewinnen. Was der Jünger gewinnt, ist nichts als die Gemeinschaft mit Jesus. Seine Predigt gewinnt deshalb die Form des Rufes zur Nachfolge. Mit dieser Predigt ist die Bußpredigt nicht etwa abgelöst, sondern beides gehört zusammen. Die Buße ist Bedingung und Kehrseite der Nachfolge. Indem Jesus an sich bindet, läßt er los von der Welt. Es kann daher zweifelhaft erscheinen, ob die Jünger das Himmelreich wirklich haben; es gleicht dem im Acker verborgenen Schatz, dem ins Mehl gelegten Sauerteig, dem unscheinbaren Senfkorn. Ihr Anteil am Himmelreich besteht in nichts anderem als in ihrem Verkehr mit Jesus. Weil sie ihn sehen und sein Wort hören, gilt ihnen die Seligpreisung, durch die sie über Könige und Propheten gestellt werden, Matth. 13, 16ff. 1) Wellhausen bemerkt zu Mark. JO, 19: "Aber schließlich erklärt er doch, daß diese Nachfolge mit Aufgabe aller irdischen Beziehungen und Güter allgemeingültige und unerläßliche Bedingung für jeden sei, um in das Reich Gottes zu kommen. Das ist eine gewaltige Steigerung. Die Entfernung von der einen zur anderen Stufe ist so groß, daß sie sich nur unter Voraussetzung eines dazwischen liegenden Prozesses begreifen läßt." Aber das steht schon Matth. 13, 44 f. und schließlich noch 5, 29. Der Eintritt ins Himmelreich ist eben "das völlige Hinaustreten aus der Welt".
80 Der Jünger genießt zuerst nichts weiter als die Liebe Jesu. Jesus selbst nimmt von Gott als das von ihm gegebene Eigentum keine sachlichen Gaben. Sein messianisches Bewußtsein erstreckt sich auf die Menschen. Sie sind sein Eigentum, sie und nicht Sachliches will er daher haben, das heißt sein messianischer Wille ist Liebe. Wie sich sein Verlangen nur auf die Menschen richtet, so soll sich deren Verlangen nur auf ihn richten, das heißt, es soll zur Liebe werden. Daher muß ihr Verlangen nach dem Himmelreich hindurchgehen durch einen Verzicht auf jeden sachlichen Besitz und zu einem Verlangen nach Gemeinschaft nur mit ihm werden, das heißt zur Liebe. Damit ist zunächst Jesu Ziel erreicht. Die Macht, die Jesus seinem Worte beilegt, ist daher nicht als Zwang gedacht, er löst die Seinigen nicht mit Gewalt von der Welt. Jede Vergewaltigung weist er zurück. Seine Macht besteht in nichts anderem als in der Fähigkeit, durch seine allmächtige Liebe, durch sein Geben, Helfen und Verzeihen, Liebe zu erwecken. Dies ist der Höhepunkt des Machtbewußtseins Jesu, er hat nicht nur Macht über die Natur, sondern vor alle1l Dingen Macht über den Willen der Menschen. Er fühlt sich mächtig, durch seine Liebe die Liebe der Leute zu gewinnen. Weil Jesus die Leute, die sein Eigentum sind, durch Liebe gewinnt und nicht durch Zwang, so hat seine Macht eine Grenze. Auch diese Grenze der Macht Jesu gehört zu den Geheimnissen des Himmelreichs. Einerseits hat sein Wort schöpferische Macht, anderseits ist es ohnmächtig und bleibt wirkungslos. Einerseits steht er vor dem Satan in dem Bewußtsein, der Mächtigere zu sein, anderseits reicht des Satans Wirkung in sein Reich hinein. Dieses Zusammensein von Allmacht und Ohnmacht ist das Geheimnis des Himmelreichs. Wo sein Wort aufgenommen wird, wirkt es mit schöpferischer Macht, wo es auf Verschlossenheit stößt, ist es ohnmächtig. Allmächtig ist nur die Liebe Jesu, ohnmächtig ist er, weil er auf Zwang und Gewalt verzichtet. Die Grenze seiner Macht hat also ihren Grund in seiner Liebe. Jesus faßt seine messianische Aufgabe nicht so auf, daß er sich Gehorsam erzwingt, sondern er gewinnt sein Eigentum, indem er durch die Macht seiner Liebe und seines Wortes Vertrauen und Liebe erweckt. Daraus erklärt sich die Grenze, die Jesus bei seinem mes-
81 sianischen Verhältnis innehält. Nach der gesamten evangelischen Überlieferung hat Jesus aus dem Amte des Messias die Aufgabe des Richters ausgeschieden. Auch in dieser Beziehung ist sein Tun und Lassen die Erfüllung seines eigenen Gebots. Er handelt nach seinem eigenen Gebot, nicht zu richten. Dieser umfassende Verzicht auf das Gericht ist Jesu Verzeihung: nicht richten, d. h. vergeben. Allein darin liegt auch eine Grenze der Liebesübung Jesu. Mit klarem Bewußtsein und Willen verzichtet Jesus darauf, diejenigen zu schützen, die nicht zu ihrem Rechte kommen. Dem Unrecht zu steuern und den Leuten zu ihrem Rechte zu verhelfen, das ist die Aufgabe des Richters und darum nicht Jesu Beruf. Vor Vergewaltigung und Unrecht schützt er nicht. Vollkommen ist seine Liebesübung insofern, als er teil gibt an der Liebe und den Gaben Gottes. Nach· dieser Richtung hin verlangt er keinen Verzicht, sondern verurteilt jede Resignation als Unglauben. Aber er kann und will nicht die Liebe der Menschen garantieren. Hier liegt eine Grenze seiner Macht. Wie er selber Unrecht erträgt, so verlangt er in diesem Punkte Ergebung und vollkommene Geduld. Er selbst verzichtet auf die Liebe der Leute und verlangt diesen Verzicht auch von den Seinigen. Hier hat seine Liebesübung eine feste Grenze, die mit vollkommener Sicherheit innegehalten wird. Das Verlangen des Volkes, als der Christus aufzutreten und dem Rechte zum Recht zu verhelfen, das ist die eine große Bitte, die er nicht erhört. Am Lauf der Welt ändert er nichts, sondern er läßt alles beim Alten. In diesem Punkte läßt er die messianische Hoffnung des Volkes unerfüllt. Mit Bestimmtheit und Schärfe wird jeder nach dieser Richtung hingehende Wunsch des Volkes abgeschlagen. Dabei stimmt auch an dieser Stelle das Gebot Jesu mit seinem Selbstbewußtsein vollkommen überein. Jesus handelt auch hier nach seinem eigenen Gebote, dem anderen nichts zuzumuten, was man nicht selbst erträgt. Wie er es verlangt, auf die Liebe der Leute zu verzichten und das Unrecht zu ertragen, so leistet er es auch.
Lütgert, Die Liebe im N. T.
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82 3. Die Heiligung des Namens Gottes. Jesu Predigt beginnt mit einem scharfen Protest gegen Erleichterung und Umgehung des Gesetzes. Er schützt seine Liebe gegen den Verdacht der Laxheit. Diese Begrenzung der Liebe Jesu hat ihren Grund in seiner Liebe zu Gott. Die He i li gun g des Na me n s Gott es, in der sich in der Synagoge seine Liebe zu Gott ausspricht, diese Pflicht des Frommen ist nach der Darstellung der Evangelien auch Jesu erstes Anliegen und wird von ihm als seine höchste Pflicht ergriffen. Das spricht sich schon darin aus, daß die Heiligung des Namens Gottes der Inhalt der ersten Bitte seines Gebets ist. Die Form, in der der Name Gottes vor allen Dingen geheiligt wird, ist genau wie bei den Rabbinen, die Ehrung des Gesetzes. Diese volle Bestätigung des Gesetzes wird vom ersten Evangelisten an die Spitze der öffentlichen Verkündigung Jesu gestellt. Sie steht der Bekundung seiner Freiheit vom Gesetz voran. Diese Strenge behält Jesus während seines ganzen Lebens bei. Nie wird seine Liebe und Vergebung als Erlaubnis zur Sünde dargestellt. 1) Die Milde der Schriftgelehrten besteht in der Lockerung des Gesetzes. Jesus tritt in schärfsten Gegensatz dazu: das Charakteristische seiner Predigt sind die absoluten Imperative. Die relativen Maßstäbe und die Anbequemung oder die Annäherung an den tatsächlichen sittlichen Stand des Menschen werden rundweg abgelehnt. Die totale Scheidung vom Bösen und die ganze Güte wird gefordert. Die Gnade Jesu besteht nicht in einem Dispens vom Gesetz, nicht in einer Einwilligung in die Emanzipationsbestrebungen, die sich gegen und neben dem Nomismus geltend machten. Er steht nicht etwa auf der Seite der sogenannten milderen Richtung der Schriftgelehrten, vielmehr beginnt er seine Predigt mit einem Streit gegen sie. Jesu Predigt gehört weder der auf Korrektheit noch der auf Umgehung des Gesetzes gerichteten Bewegung an. Seine Befreiung vom Gesetz ist nicht 1) Das Wort könnte nur dann ungeschichtlich sein, hier von Jesus bekämpfte "Meinung" nicht nachweisbar Tendenz auf Erleichterung des Gesetzes, die zur Zeit Jesu des Gesetzes stand und die man die "milde" Richtung zu diese "Meinung" wach.
wenn im Judentum die wäre. Aber die ganze neben der Verschärfung nennen pflegt, rief eben
Emanzipation und seine Bestätigung des Gesetzes nicht Bestätigung des Pharisäismus. Er steht vollständig außerhalb und oberhalb dieses Gegensatzes. Zu beiden Richtungen steht er in gleicher Weise im Gegensatz. Die Stellung Jesu zum Gesetz ist vollkommen originell. Er ist vollkommen einig mit dem Gesetz und vollkommen frei von ihm. Er steht nicht unter dem Gesetz, aber er stellt sich auch nicht gegen das Gesetz, sondern über dasselbe. Er spricht als Gesetzgeber. Die Stellung Jesu zum Gesetz wurzelt in seiner Stellung zu Gott; denn das Gesetz gilt ihm als Gottes Wille. Das Gesetz tun heißt, den Willen Gottes tun. Die Strenge Jesu, die jede Rücksicht auf die Schwäche des Menschen ausschließt, ist der Ausdruck seiner Li e b e zuG 0 t t. Sie steht über der Liebe zu den Menschen und darf durch sie nicht geschädigt werden. Jede Umgehung des Gesetzes, die ein rücksichtsvolles Zugeständnis an die menschliche Schwäche ist, ist für Jesus darum ausgeschlossen, weil sie eine Antastung Gottes ist. In seinem Protest dagegen spricht sich seine Liebe zu Gott aus, und in dem Beginn seiner Wirksamkeit mit diesem Protest zeigt sich, daß dieser Schutz des Rechtes Gottes, diese Heiligung des Namens Gottes, Jesu erster und oberster Wille ist. Er macht damit sein Wort zur Tat, daß die Liebe zu Gott das erste und vornehmste Gebot ist. Das Eintreten Jesu für das Gesetz war seiner Umgebung durchaus verständlich als eine Äußerung seiner Liebe zu Gott: "Sie haben dein Gesetz außer Gültigkeit gesetzt; Zeit ist's, für Jahwe etwas zu tun." Für das Recht des Gesetzes und damit für das Recht Gottes tritt Jesus in derselben Weise während seines ganzen \Virkens ein. Das zeigt sich in der letzten Rede gegen den Pharisäismus, Matth. 23. Diese Kritik des Pharisäismus zeichnet sich vor jeder anderen dadurch aus, daß sie ihn nicht wegen seiner gesetzlichen Strenge verurteilt, sondern wegen seiner Umgehung des Gesetzes. Weil sie, was sie lehren, nicht tun, verfallen sie dem Gerichte Jesu. Darum steht an der Spitze der Rede das Wort: "Alles was sie euch sagen, tut und beobachtet, nach ihren Werken aber tut nicht." Die großartige Einfachheit dieser Kritik liegt darin, daß er nach Jesu Urteil an nichts anderem zu Falle kommt als an seinem Widerstand gegen das Gesetz und die Propheten. Steht der Schutz des Gesetzes am Anfang und am Ende 6·
des Wirkens Jesu, so ist deutlich, daß hiermit sein Grundwille ausgesprochen ist. Es zeigt sich in dieser Frage kein Schwanken und keine Entwicklung, und das ist vollkommen begreiflich, weil ja das Gesetz für Jesus Gottes Wille und seine Bestätigung des Gesetzes sein Eintreten für Gottes Recht und Ehre ist. Es wäre vollständig verfehlt, in diesem Anschluß an das Gesetz eine bewußte oder unbewußte Anbequemung Jesu an das Judentum zu sehen, eine Konzession an seine Umgebung oder eine kritiklose Herübernahme eines Vorurteils, vielmehr fühlt sich Jesus bei seiner Bestätigung des Gesetzes als Gegner des Judentums. Er schützt es gegen den Pharisäismus, er steht nicht etwa auf der Seite des Judentums, sondern auf der Seite Gottes gegen das Judentum, ja gegen die Menschen. Man darf sich diese geschichtlich ganz klare Tatsache nicht dadurch verwirren lassen, daß man moderne Gedanken in die Evangelien einträgt. Den Modernen gilt das Gesetz als Werk des Judentums und darum Jesu Bestätigung des Gesetzes als Anschluß an das Judentum und nur seine Emanzipation vom Gesetz als originell. Solche Gedanken darf man nicht in das Bewußtsein Jesu hineintragen. . Für Jesus selbst ist das Gesetz Gottes Werk, seine Zustimmung zu ihm nicht einfach ererbtes Vorurteil, sondern sein eigener positiver bewußter Wille, der im Gegensatz zu seiner Umgebung steht, ihm also nicht von außen her zugeflossen ist, sondern der ihm von oben kommt, als Ausfluß seiner Liebe zu Gott. Die Strenge, mit der er gegen alle Menschen am Gesetz festhält, ist der Beweis dafür und der Ausdruck davon, daß er die Liebe zu Gott über jede andere Liebe stellt. Die Nachgiebigkeit gegen die Menschen, die Liebedienerei, die die Liebesübung der Synagoge verdarb, ist dadurch überwunden. Daher hat Jesus seine freie und selbständige Haltung; ihn trägt nicht die Zustimmung oder die Liebe des Volkes, auch nicht der Beifall der Besten des Volkes. Er ist deshalb auch nicht abhängig vom Erfolg, so daß seine Stimmung mit ihm stiege oder sänke. Sein Selbstbewußtsein hat seine Stütze nicht außer ihm oder hinter ihm. Es gibt deshalb auch keinen Wechsel zwischen Enthusiasmus und Depressionen. Sein Selbstbewußtsein ist allein in Gott begründet, ihn trägt nicht die Liebe des Volkes, sondern die Liebe des Vaters. Darum steht am Anfang seiner Wirksam-
keit und wieder am Anfang seines Leidens das Wort des Vaters, daß er sein geliebter Sohn sei. In dieser Gewißheit der Liebe Gottes, die ihm nach der evangelischen Erzählung mit dem Geist gegeben ist, ist sein messianisches Selbstbewußtsein und seine Freude begründet, von innen und nicht von außen, von oben und nicht von unten. Darum ist Jesus frei von den Menschen, frei von dem Erfolg, frei von krankhafter Liebebedürftigkeit, frei von krankhaften Schwankungen. Das messianische Bewußtsein bekommt nun einen ganz anderen Charakter. Er ist der Christus nicht deshalb und insoweit, als ihm die Leute gehorchen, sondern weil er der Sohn ist, den der Vater liebt. l ) Er bleibt es dadurch, daß er den Vater liebt. Er bedarf daher keiner empirischen Bestätigung seiner Messianität. Matthäus setzt deshalb das Bekenntnis zu seiner Messianität unmittelbar hinter die Klage der Erfolglosigkeit seines Wirkens. Damit soll kein Wechsel der Stimmung ausgedrückt sein, sondern beides steht neben einander, ohne daß das eine das andere stört. Wegen dieser Liebe Gottes vermag es Jesus, auf die Liebe der Leute zu verzichten, er steht nach der Darstellung der Evangelien alleine, niemand versteht ihn, aber da ihn der Vater versteht, so stört ihn das nicht. Zur Heiligung des Namens Gottes gehörte für die Synagoge auch die Heiligung des Tempels. Sie geht mit dem Studium und der Sabbatfeier allen anderen Pflichten voraus. Zu dieser Schätzung des Tempels hat sich Jesus nicht etwa nur in Gegensatz gestellt, der entscheidende Beweis dafür ist eine Tat von unzweifelhafter Geschichtlichkeit, nämlich die Reinigung de s Tempels. Jesus erkennt den Tempel als Gottessitz an und empfindet seine Entweihung mit stärkerem Widerwillen als die Priesterschaft. In beiden Formen der evangelischen Erzählung wird die Geschichte an die Stelle gestellt, wo zum erstenmal der Eintritt Jesu in den Tempel berichtet wird. Die chronologische Differenz, die hier vorliegt, ist von geringer Bedeutung im Vergleich damit, daß das Christusbild beide Male dasselbe ist. Woran niemand Anstoß nimmt, das empfindet Jesus als Profanation des 1) Die Begriffe Christus und Sohn Gottes sind nicht von vorneherein identisch. Vgl. darüber Wrede, Das Messiasgeheimnis. Dalman, Worte Jesu I 219 ff., besonders Zahn, Kommentar zu Mattbäus S. 145 ff.
86 Tempels, und dabei kommt es sofort und definitiv zum völligen Bruch mit der Priesterschaft. Wie der Bruch mit dem Pharisäismus darin seinen Grund hat, daß Jesus das Gesetz ernster anerkennt als die Rabbinen, so hat auch der Bruch mit den Priestern seinen Grund nicht etwa darin, daß Jesus dem Kultus als Aufklärer gegenübersteht, sondern vielmehr darin, daß er es mit der Heiligung des Tempels ernster nimmt als die Priester. Er empfindet die Entweihung des Tempels als Entheiligung Gottes. Diese wird rücksichtslos gestraft. Dabei bleibt es nicht bei Worten, sondern dieses eine Mal schreitet Jesus zur Tat. Die Heiligung Gottes steht ihm über jedem anderen Interesse. Die Tat ist um so merkwürdiger, als sie äußerlich angesehen keinen bleibenden Erfolg haben konnte und also scheinbar keinen Zweck hatte. Aber das ist gerade charakteristisch. Es kommt Jesus nur darauf an, seinen Willen zum Ausdruck zu bringen. Damit, daß sein Urteil durch eine offenkundige Tat ausgesprochen ist, ist sein Zweck erreicht. Es ist dadurch unzweideutig festgestellt, daß ihm die Heiligung Gottes an erster Stelle steht. In dieser Beziehung schließt sich Jesus der synogogalen Schätzung des Kultus nicht nur an, sondern er überbietet sie. Auch die Freiheit Jesu vom Gesetz erklärt sich daraus, daß sein Verhältnis zu Gott Liebe ist. Jesu Stellung zu Gott wird als Gehorsam beschrieben. Er tritt mit dem Versprechen auf, das Gesetz ganz zu erfüllen. Auch ist sein Gehorsam gegen Gott Gehorsam gegen die Schrift. An entscheidender Stelle in der Versuchungsgeschichte wird nachdrücklich hervorgehoben, daß Jesus die Versuchung durch eine Berufung auf die Schrift abweist. Allein neben dieser Beugung unter die Schrift und das Gesetz steht die souveräne Freiheit vom Gesetz. Sie bildet einen vollkommen feststehenden Zug im Christusbild der Evangelien und kann darum nicht bezweifelt werden, weil sich an sie notorisch der Konflikt Jesu mit dem Pharisäismus anknüpft. Dabei ist sie etwas im eigentlichen Sinne Wunderbares , historisch nicht ableitbar. Denn sie ist nicht etwa Fortsetzung und Durchführung der im Judentum vorliegenden Emanzipationstendenzen, sondern mit einem starken Protest gegen sie verbunden. Sie fußt aber auch nicht auf einer Unterscheidung von Sittengesetz und Zeremonialgesetz. Sie gründet sich auch nicht auf eine Kritik
des Gesetzes, die ihm seinen göttlichen Charakter ganz oder teilweise bestritte. Sie ist nicht Emanzipation oder Antinomismus. Jesus fühlt sich mit seiner Freiheit vom Gesetz nicht als Gegner des Gesetzes. Man kann das Problem auch nicht so lösen, daß man die verschiedene Stellung Jesu zum Gesetz auf zwei verschiedene Perioden seines Lebens verteilt. Dem widersprechen die Quellen. Die Bestätigung des Gesetzes und die vollkommene Freiheit vom Gesetz stehen in vollkommen wunderbarer Weise im Leben Jesu neben einander. Von Anfang an und bis zum Schluß stehen beide fest. Jesu Freiheit wird nicht als Ergebnis einer Entwicklung dargestellt, auch nicht als Resultat einer Reflexion. Jesus übt sie als etwas Selbstverständliches. So viel ist richtig an der Bemerkung, daß die Freiheitsübung Jesu als etwas Naives und Unreflektiertes zu denken sei. Aber falsch ist diese Charakteristik, wenn damit gesagt sein soll, daß die Freiheit Jesu etwas unbewußtes "Geniales" sei. I) Indem man sie in das Gebiet des Unbewußten versetzt, nimmt man ihr den Charakter des Willens und der Tat und drückt sie aus dem ethischen Gebiet herab in die Sphäre eines blinden naturhaften Triebes. Aber es handelt sich hier um das Verhältnis Jesu zu Gott, und das fällt in sein bewußtes klares Leben, ist Wille und deshalb begründet. Jesus gebraucht seine Freiheit vom Gesetz gerade darum mit solcher Sicherheit, weil er sich ihres Grundes und ihres Rechtes bewußt ist. Dabei ist seine Freiheit nicht, wie zum Beispiel die Bestätigung des Gesetzes, Lehre, sondern sie ist Tat. Jesus übt sie und gibt sie, und nur in Form von Antworten auf Einwände begründet er sie gelegentlich. Dabei behandelt er sie ganz wie die Sündenvergebung als sein Recht, das er als der Sohn hat. Seine Freiheit vom Gesetz erklärt sich daraus, daß sein Gehorsam gegen Gott ihm nicht erst durch das Gesetz abgenötigt wird. Freilich trägt die Einheit seines Willens mit dem Willen Gottes den Charakter des Gehorsams, das heißt Jesus gibt den eigenen Willen preis, um den Willen Gottes zu tun. Das zeigt die Versuchungsgeschichte und der Kampf in Gethsemane. Allein dieser Gehorsam stellt sich nicht als etwas Erzwungenes dar, er ist nicht 1) Cf. hierüher Holtzmann, Neutestamentliche Theologie I 139 Anm. 2. Baldensperger, Das Selbstbewußtsein Jesu. Bousset, Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum.
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der Gehorsam des Knechtes, sondern des Sohnes. Seine Willigkeit zum Gehorsam ist Li e b e, und seine Liebe ist Willigkeit zum Gehorsam. Darum wird Jesus nicht erst durch das Gesetz zum Gehorsam gegen Gott genötigt, auch erfahrt er nicht erst aus dem Gesetz den Willen Gottes. Daher wird Jesus nicht als Bibelleser geschildert. Wir erhalten keine Anekdote, in der vom "Studium" Jesu die Rede ist Dieses Schweigen ist um so auffallender, als das Studium im Judentum eine so entscheidende Rolle spielt. Diese Lücke ist natürlich nicht zufallig: er kennt den Vater selbst und allein, weil er der Sohn ist, und darum trägt er auch selbst den Willen in sich, ihm zu dienen, d. h. sein Verhältnis zu Gott ist Liebe und darum Freiheit vom Gesetz. Die religions geschichtliche Situation ist also nicht die, daß Jesus zuerst die Lie.be zu Gott gelehrt oder geboten habe. Das wird durch das synagogale Liebesgebot widerlegt. Aber er hat die Liebe zu Gott gehabt und geübt, und zwar hat er darum Gott geliebt, weil Gott ihn geliebt hat. Die Liebe des Vaters gehört zunächst dem Sohne und die Liebe des Sohnes dem Vater. Als erste und ursprüngliche Form der Liebe nennt Jesus dabei das Verstehen; dieses geht dem Geben voran und steht -als höchste Äußerung der Liebe über ihm. Nicht in dem, was der Vater ihm gibt, sieht er den eigentlichen Kern seiner Liebe, sondern darin, daß der Vater ihn versteht Und so ist auch der Grundzug der Liebe des Sohnes zum Vater, der über dem Gehorsam steht, ihm vorausgeht und ihn begründet, dies, daß Jesus den Vater kennt und versteht. Die Liebe ist in keiner Weise ein sachliches, sachlich bedingtes Verhältnis. Daher ist Jesus der Liebe Gottes auch dann gewiß, wenn er kein göttliches Geben mehr erfahrt. Weil das Verhältnis Jesu zu Gott Liebe ist, so ist es frei von Furcht. Niemals wird Jesu Frömmigkeit als F u r c h t vor Go t t beschrieben. Der entscheidende Beweis dafür ist der Kampf Jesu in Gethsemane, die Evangelisten beschreiben ohne Scheu und ohne jede Abschwächung die Todesangst Jesu. Aber so stark und wahrhaftig sie ist, zur Furcht vor Gott wird sie nicht. Lediglich der Tod wird ihm zu etwas Furchtbarem, aber nicht der Vater, vielmehr überwindet Jesus die Todesangst durch die Einwilligung in den Willen Gottes. Dieselbe Haltung bewahrt Jesus bei seinem Tode. Auch hier berichtet der erste Evangelist mit
nüchterner und ernster Wahrhaftigkeit die Klage Jesu über seine Gottverlassenheit. Aber gerade diese Klage beweist, daß auch das Sterben keine Furcht vor Gott in Jesus wachruft. Er vermißt ihn, aber er flieht ihn nicht. Tritt an dieser Stelle keine Furcht hervor, so ist damit bewiesen, daß Jesu Frömmigkeit überhaupt nicht den Charakter der Furcht trägt. Sie wird darum auch nicht als Glaube beschrieben. Freilich soweit Glaube unbedingte Zuversicht ist, ist er die Voraussetzung des gesamten Wirkens Jesu. 1) Allein das Moment der Ergebung und Beugung, das in der gläubigen Bitte liegt,2) das Abwarten, welches die Bereitwilligkeit zum Verzicht in sich trägt, fehlt der Wirksamkeit Jesu durchaus. Er steht nicht in derselben Haltung vor Gott, wie der Gläubige vor ihm. Die in der Bitte liegende Frage liegt nicht auch zwischen dem Willen Gottes und zwischen dem Willen Jesu. Er braucht nicht erst eine Sorge, eine Furcht, eine Ungewißheit niederzuringen, ehe ihm die. Gewährung seines Willens gewiß wird. Nie tritt er als Bittender auf, sondern unmittelbar als Gebietender: "ich will es, sei rein". Seine Macht zu helfen wird nach der evangelischen Erzählung nicht in einer in jedem Falle neuen Bitte für jeden Fall neu erworben: sie ist ihm ein für allemal gegeben, er hat Vollmacht (e;oveTia). Das heißt aber, Jesu Verhältnis zu Gott wird nicht als Glaube beschrieben. Es ist mehr als Glaube. Das im Glauben liegende negative Element der überwundenen Sorge oder Furcht oder Ungewißheit fehlt der Frömmigkeit Jesu völlig. Sein Verhältnis zu Gott ist nichts als Liebe, darum bevorzugt Jesus den Va t ern am e n. Die Meinung, daß er ihn erfunden habe oder daß er ihm einen neuen Sinn untergelegt habe, ist historisch unhaltbar. Es ist auch nicht die Meinung der Evangelisten. Er nennt Gott, wie ihn jedermann nennt, und lehrt auch die Seinigen nicht, Gott einen neuen geheimnisvollen Namen beizulegen. Auch in diesem Punkte besteht die Bedeutung Jesu nicht im Ersinnen und Lehren, sondern im Empfangen, Haben und Geben. Die Meinung der Evangelisten ist nicht, daß er die Väterlichkeit Gottes zuerst erkannt habe, sondern daß er das erste wirkliche 1) In diesem Sinne wurde oben vom Glauben Jesu gesprochen. 2) In w e 1 c h e m Sinne es da ist J zeigt die Besprechung der Versuchungsgeschichte.
9° Kind Gottes war, d. h. der erste, der Gott wirklich liebte, für den die Liebe Gottes nicht nur Gebot, sondern Wille, Tat und Wirklichkeit war und zwar darum, weil Gott ihn liebte. Er wird als der vom Vater geliebte Sohn beschrieben. Und zwar äußert sich die Liebe Gottes darin, daß er ihm seinen Geist gibt. Indem aber die Liebe Jesu als Gehorsam beschrieben wird, als ein Preisgeben des eigenen Willens, wird jeder Gedanke an eine mystische Verschmelzung mit Gott, wie sie sich bei Philo findet, abgelehnt. Die Gemeinschaft Jesu mit Gott beruht auf einer Unterscheidung von ihm und auf einer Beugung unter ihn, die jede Tendenz auf Verschmelzung ausschließt. Auch in der Äußerung seiner Liebe zu Gott erfüllt nach der Darstellung der Evangelisten Jesus sein eigenes Gebot, seine Frömmigkeit nicht öffentlich zu beweisen, sondern sie im Verborgenen zu üben. Die Evangelisten heben daher geflissentlich hervor, daß Jesus zum Gebet die Einsamkeit aufsucht. Der Verkehr Jesu mit Gott, das "innere Leben" Jesu fällt deshalb aus ihrer Darstellung heraus. Das Verhältnis Jesu zu Gott wird nicht besprochen, seine Gemeinschaft mit Gott bleibt ein Geheimnis. Jesus verleugnet sie freilich nicht, sondern bekennt sie durch ein ausdrückliches Wort. Allein er stellt sie nicht öffentlich dar, sondern bleibt mit ihr im Verborgenen. Seine Gemeinschaft mit Gott kommt nur durch seine Tat und darum nur indirekt zur Darstellung, nämlich an seinen Verhältnis zur Natur und zu den Menschen. Seine Liebe zu Gott äußert sich als Dienst an den Menschen. Es ist nicht die Meinung der Evangelisten, daß sie darin aufginge, als wäre dem Blick und dem Willen J esu der Vater verborgen, vielmehr kennt er den Vater, und darum hindert ihn seine Verborgenheit nicht an der Liebe. Allein soweit die Liebe zu Gott Tat ist, äußert sie sich nur in der Art, wie er die Menschen behandelt. Neben der Heiligung des Tempels steht als ein ebenso unzweifelhafter Bestandteil des Liebens Jesu die Herabsetzung des Kultus unter die Liebespflicht. Geschichtlich ist dieser Zug deshalb sicher, weil sich auch an ihn der Konflikt Jesu mit dem Pharisäismus anschließt. Der Mensch steht über dem Sabbat und darum der Dienst an den Menschen über der Sabbatruhe. Die Hilfe am Sabbat gilt ihm nicht nur als erlaubt, sondern ihre Verweigerung als Sünde.
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Für die Synagoge ist der Mensch um des Sabbats willen da, weil er um Gottes willen da ist, Sabbatfeier ist "Gottesdienst". Für Jesus dient Gott mit dem Sabbat dem Menschen, und darum dient man Gott an den Menschen. Dieser Grundsatz kehrt regelmäßig wieder: der Pflicht des Opfers geht die Pflicht der Versöhnlichkeit voraus Matth. 5,24. Wichtiger als die Gabe an den Tempel ist die Versorgung der Eltern, 15, 4 ff. Für die Synagoge sind Gottesdienst und Menschendienst Gegensätze. Da der Gottesdienst dem Menschendienst übergeordnet ist, so verdrängt und hemmt er ihn. Nach Jesu Urteil ist damit die Liebe Gottes zu den Menschen verkannt. Aus Gottes Liebe zu den Menschen folgt für ihn, daß man Gott an den Menschen dient. Einen Konflikt zwischen Gottesdienst und Liebespflicht gibt es darum für ihn nicht. Die Meinung, daß man über dem Gottesdienst die Liebesübung zurückstellen müßte, gilt ihm als Verleugnung der Liebe Gottes. Gott will das Mitleid: E).80~ f}iAw xat oi; .:Jv(Jiav. Das Wort stellt in regelmäßiger Wiederkehr den Abstand Jesu vom Gottesgedanken des Judentums dar. Diese Regel wird nicht als ein neuer Gedanke eingeführt. Vielmehr behandelt Jesus jedes Schwanken in dieser Frage als Heuchelei und Verstockung. Auch in diesem Punkte gilt ihm der Wille Gottes als etwas ganz Unzweifelhaftes. Weder Jesus selbst noch die Evangelisten machen den Anspruch, damit etwas Neues zu sagen. Diese Erkenntnis hat die Selbstverständlichkeit, die für Jesus der ganze Wille Gottes hat. Was ihn auszeichnet, ist auch in diesem Punkte wieder für die Evangelisten nicht die Erkenntnis, sondern die Tat. Daraus, daß Jesus Gott nur an den Menschen dient, folgt freilich auch, daß er an den Menschen nur Gott dient. Er bleibt deshalb vollkommen frei und richtet sich nicht nach den Wünschen der Menschen, sondern nach dem Willen Gottes. Daß an den Menschen Gottes Wille geschehe, ist das Ziel seiner Liebesübung. Mit diesem Grunde der Liebe Jesu ist auch ihre Grenze gegeben. Darum scheidet sich der Himmelreichsgedanke Jesu von der Himmelreichshoffnung Israels. Für ihn bringt das Himmelreich nicht die Erfüllung der Wünsche Israels, sondern die Erfüllung des Willens Gottes i wo Gottes Wille geschieht, da ist Gottes Reich. Daher ist die Liebesübung Jesu frei von aller energielosen Schlaffheit und Weichheit.
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Neben der Liebesübung Jesu, neben seinem Geben und Helfen steht deshalb in der evangelischen Darstellung ein zweiter ebenso feststehender Zug: sein Wirken gewinnt den Charakter des Kampfes. Seine Tat ist nicht nur Liebe, sondern auch Kampf. Denn aus dem Volke kommt ihm nicht nur Vertrauen und Bitten, sondern auch Widerstreben entgegen. Liebe und Kampf lassen sich aber nicht etwa auf zwei Perioden des Lebens Jesu verteilen, so daß sie einander ablösten. Das wäre eine historisch grundlose Konstruktion des Lebens Jesu. Beide gehen von Anfang an bis zum Schluß neben einander her. Schon die erste Rede Jesu ist nach Matthäus eine Kampfesrede. Er beginnt mit dem Kampf gegen die falsche Frömmigkeit. Wie ihm die Liebe nicht erst abgerungen wird, so wird ihm auch der Kampf nicht erst aufgezwungen: beides ist sein eigener freier Wille. Sein Kampf ist nicht Abwehr, sondern Angriff. l ) Jesus spricht nicht zuerst seine Gemeinschaft mit dem Pharisäismus aus und läßt erst dann seinen Widerspruch zu Worte kommen, sondern an der Spitze seiner öffentlichen Verkündigung steht neben und nach dem Ruf an die Hilfsbedürftigen die Ankündigung des Kampfes gegen die Pharisäer. Dieser Kampf geht also nicht erst, infolge der Freiheit Jesu vom Gesetz, vom Pharisäismus aus, sondern nach der sehr bestimmten Darstellung des ersten Evangeliums von Jesus selbst: er beginnt mit der Bußpredigt, mit einem Kampf gegen die falsche Frömmigkeit. Das Volk erwartet in Christus den Friedebringer. Ist Friedestiften die Aufgabe des Frommen, so ist es erst recht die des Christus. Dem setzt Jesus seinen Willen entgegen, nicht den Frieden zu bringen, sondern den Kampf. Kampf ist nicht nur der unbeabsichtigte Erfolg seines Wirkens, sondern sein eigener positiver Wille. Neben der Seligpreisung über die Friedensstifter steht deshalb das entgegengesetzte Wort, Matth. 10, 34. Jesus ist nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern Streit. Darum erweckt er nicht nur Liebe, sondern es gibt auch eine falsche Liebe, die er bekämpft. Wie er nicht nur gegen den Unglauben kämpft, sondern auch gegen einen falschen Glauben, einen Mißglauben, ein freches Vertrauen auf Gott, das nicht Recht erhalten wird, so 1) Wernle, Die Anfänge unserer Religion 2. Auf!. S. 61: "Aber nicht Jesus fing den Kampf an, das Auflauern der Pharisäer hat ihn hineingetrieben."
93 kämpft er auch nicht nur gegen die Lieblosigkeit, sondern gegen eine schlechte Liebe. Er hat nicht nur die Aufgabe, Glauben zu begründen und Liebe zu erwecken, sondern auch die, einen verdorbenen Glauben und eine falsche Liebe zu zerstören. Nach seinem Urteil ist das Volk nicht nur unwillig zum Lieben, sondern auch in seiner Liebe verdorben. Sie lieben wie die Heiden und wie die Sünder, um geliebt zu werden, d. h. ihre Liebe ist selbstsüchtig. Aus dieser Selbstsucht entsteht nach Jesu Urteil Liebe, nicht etwa dadurch, daß sie entschränkt und gereinigt wird, sondern erst dadurch, daß alle falsche Liebe zugrunde geht. Darum löst er die Seinigen zunächst los aus den natürlichen Gemeinschaften, in denen sie stehen. Das geschieht nicht nur durch sein Wort und Gebot, sondern dadurch daß er sie an seine Person fesselt. Wer ihm nachfolgt, der muß die Selbstliebe aufgeben, sich selbst verleugnen. Indem er die Liebe zu Jesus gewinnt, verliert er die Selbstliebe. Der Wille, sich selbst zu behaupten, dem alle natürliche Liebe unter- und eingeordnet ist, geht in der Liebe zu Jesus zugrunde. An ihn verliert sich der Mensch, er bekommt ein Ziel, das nicht in ihm selbst liegt, sondern außer ihm und über ihm. In diese Liebe zu Jesus ist nun nicht etwa die Selbstbehauptung eingeschlossen, sondern die Selbstverneinung. Die Zustimmung zu Jesus ist ein Nein zur eigenen Seele. Aus der Liebe zu Jesus entsteht ein gegen sich selbst gerichteter Wille, ein Nein zum eigenen Ich, das nicht nur Urteil bleibt, sondern Wille wird. Mit der Selbstliebe geht auch die natürliche Liebe zugrunde. Jesus fordert eine Liebe für sich, die jede andere Liebe überbietet und sich unterordnet. Wer auch nur die nächsten Verwandten mehr liebt als ihn, ist sein nicht wert. Jede Liebe, die der Liebe zu Jesus vorangestellt wird, ist schlecht. Mit großer Härte wird diese Forderung Matth. 8, 21 f. ausgesprochen. War für die Synagoge die Bestattung der Toten eine wichtige Pflicht, so ist die Bestattung des Vaters die höchste. Die ganze Größe der Bereitwilligkeit des Mannes wird beschrieben, wenn er nur diese höchste Liebespflicht noch erfüllen will. Demgegenüber spricht sich das ganze Selbst bewußtsein Jesu in dem Worte aus, daß vor der Anhänglichkeit an ihn jede andere Pflicht zurücktreten muß. Die natürliche Liebe wird von der Forderung Jesu völlig zurückgeschoben; den schärfsten Ausdruck gibt Luk. 14,26
94 diesem Willen Jesu: hier wird jede andere Liebe der Liebe zu Jesus nicht nur untergeordnet, sondern entgegengesetzt. Sie muß nicht nur ganz untergehen, sondern dem Haß Platz machen. Aus der Liebe zu Jesus entsteht der Haß gegen die eigenen Verwandten. Das Wort ist gegen jedes Mißverständnis und jeden Mißbrauch dadurch gesichert, daß es gipfelt in der Forderung des Hasses gegen die eigene Seele. Es hält sich völlig an die Regel des Gebotes, dem anderen nichts zu tun, was man selbst nicht erleiden mag. Der Haß, von dem hier die Rede ist, bleibt dadurch rein, daß er sich ebenso wie gegen die Menschen gegen die eigene Seele wendet. Das Wort steht in seiner Schärfe keineswegs allein da. Die Forderung, sich selbst zu verleugnen, spricht denselben Willen aus. Das erste Wort spricht vom Willen, das zweite von der Durchführung dieses Willens, vom Lossagen. Es handelt sich in dem Wort nicht um Askese, sondern die Loslösung von der Welt und der Gegensatz gegen sie entsteht als die notwendige Kehrseite aus der Anhänglichkeit an Jesus, weil Jesus selbst frei von der Welt ist und einen Gegensatz gegen sie in sich trägt. Diesen seinen Widerwillen gegen die Welt und gegen die eigene Seele überträgt er auf die, die ihm anhängen. Indem Matthäus diese Selbstverleugnung ein Tragen des Kreuzes nennt, bezeichnet er es als ein Sterben. Es liegt in dieser Lösung von der Welt die Bereitwilligkeit zum Sterben. Er deutet dann an, daß erst durch Jesu Kreuz diese Forderung Jesu zur Tatsache geworden ist. Erst durch sein Sterben hat Jesus seine Nachfolger reell von der Welt gelöst, aber diese Wirkung hat sein Sterben doch nur darum, weil in Jesus selbst der Haß gegen die Welt lebt. Denn mit dem Wort spricht Jesus zunächst sein eigenes Urteil über die Menschen und seinen Willen aus. Den Willen, den er fordert, hat zuerst er selbst. Neben der Liebe zu den Menschen, die ihn erfüllt, steht ein Widerwille gegen sie und zwar gegen sie alle. Man würde dem Wort die Wahrheit nehmen, wenn man es als Stimmungsurteil ansehen wollte, das aus einer vorübergehenden Situation entsprungen wäre. Was er hier ausspricht, ist nicht nur eine Stimmung, sondern, weil es ein Wille ist, den er auch in den Seinigen erzeugt, darum ein Urteil. Seine Liebe ist überwundener Widerwille. Es ist etwas in allen Menschen, was ihm widerwärtig ist. Auch dieses Wort Jesu wird durch seine
95 Tat zur Wahrheit gemacht, und eben damit ist der Beweis geführt, daß es nicht nur ein momentanes Stimmungsurteil ist. Der Widerspruch und der Widerstand, den Jesus allen Menschen beständig leistet, offenbart seinen Widerwillen gegen sie. Der Streit, den er von Anfang an führt, ist ein Beweis seines Hasses. Er steht neben der Willfährigkeit den Menschen gegenüber und durchzieht das Leben Jesu von Anfang bis zu Ende. Wenn man meint, sein Leben in zwei Hälften zerlegen zu können, einen Anfang, in dem er in Illusionen und darum in Liebe gelebt hätte, und einen Schluß, in dem er durch Enttäuschungen resigniert oder verbittert worden wäre, so ist das nichts als ein Postulat, das an den Quellen keine Grundlage hat. 1) Liebe und Haß stehen in Jesus neben einander vom Anfang bis zum Schluß. In beiden kommt ein ungeteilter Wille zu Worte, der, eben weil er Liebe ist, alle Selbstsucht haßt. Die Liebe Jesu, welche die Evangelien darstellen, hat nichts mit gutmütigen Täuschungen und idealistischen Illusionen zu tun. Er ist kein Schwärmer, und seine Liebe wird nicht als naives Wohlgefallen an den Menschen geschildert. Er liebt die Menschen nicht wegen ihrer eigenen Liebenswürdigkeit, sondern seine Liebe hat ihren Grund in Gott. Sie erhebt sich über einem Widerwillen gegen die Menschen, den er darum hat, weil er alle Bosheit haßt, und von den Menschen urteilt er: ihr seid boshaft. In diesem seinem Haß muß ihn jeder verstehen, und jeder muß in ihn einwilligen. Eben darum erweckt er den Streit und vernichtet die selbstsüchtige Liebe. Die Evangelien unterlassen es nicht, zu erzählen, daß auch dieses Wort Jesu von ihm selbt erfüllt sei; er selbst verläßt die Seinen und weist jeden Anspruch auf ein besonderes Anrecht, das sie an ihn hätten, mit Schroffheit zurück. Zu ihm gehören die, die den Willen Gottes tun. Dieser Haß Jesu gegen das, was in allen Menschen böse ist, kommt in den Evangelien reichlich zu Worte. Dieses Wort Jesu wird durch seine Tat bestätigt. Seine ge1) Wernle a. a. O. S. 65: "Es gab eine Zeit in Jesu Leben, wo eine ganz außergewöhnliche Hoffnung seine Seele schwellte... Damals wußte Jesus sich noch in Einklang mit allen guten Kräften seines Volkes .. , Das war die glücklichste Periode seines Lebens. .. Es fragt sich nur, ob Jesus diesen enthusiastischen Glauben bis an sein Ende festhielt. Auf jene Periode jubelnder Hoffnung folgt eine tiefe Ernüchterung." Ähnlich Jülicher I S. 144.
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samte öffentliche Wirksamkeit trägt den Charakter des Kampfes. Alle öffentlichen an das Volk gerichteten Reden sind Kampfesreden. Der Kampf Jesu wendet sich nicht nur gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten, sondern gegen das Volk. Jesus hat es nach seinem eigenen Urteil mit einem falschen und ehebrecherischen Geschlecht zu tun, von dem das Urteil gilt: "ihr, die ihr arg seid." Man darf nicht sagen, daß solche Worte Stimmungsurteile seien, aus denen man kein Dogma machen dürfe. Damit spricht man dem Wort die Wahrheit ab und macht es zur Phrase. Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der solChe Urteile ganz gelegentlich herauskommen ist lehrreich. Die Sünde der Menschen ist für Jesus eine Tatsache, über die nicht erst lange gelehrt oder disputiert wird. Sie wird als Tatsache hingenommen und als Tatsache nicht besprochen, sondern behandelt Jesu Urteil über sie liegt unzweideutig vor in dem Kampf, den er will und fordert Wo es zu Worte kommt, wird es nieht zu hilfloser, ohnmächtiger Klage, die ein Al,lsdruck der Ratlosigkeit ist, sondern zum drohenden Scheltwort. .Sein Kampf ist wahrhaftig, d. h. er entspringt dem Zorn. Ist die Tat Kampf, so ist der Wille Zorn. Neben einander steht die Verzeihung und der Zorn. Beide aber begrenzen sich nicht in der Weise, daß die Liebe Jesu durch seinen Zorn beschränkt und der Zorn durch die Liebe gedämpft würde, so daß beide Regungen gelähmt werden. In dieser Weise lösten die jüdischen Stoiker die Aufgaben der Regelung des Zornes. Allein wie Jesus verbietet, nach einer Grenze der Verzeihung und Geduld zu suchen, so wird seine eigene Geduld als vollkommene beschrieben. Der Verzieht auf Rache ist vollständig, Lästerung gegen den Menschensohn wird verziehen. Der Verzieht auf Rache liegt schon in dem Verzicht auf Selbsthilfe. Am umfassendsten kommt das in der Leidensgeschichte zur Darstellung. Es wird aber auch am Verhältnis Jesu zu Judas dargestellt Die Geduld Jesu gegen ihn wird in dem nie durchbrochenen Schweigen dargestellt, das er bis zum Schluß beobachtet. Absichtlich wird nie eine Anekdote von Judas erzählt. Die Meinung soll nicht aufkommen, als sei der Haß des Jüngers das Ergebnis einer Entzweiung mit Jesus. Jesu Verhältnis zu ihm geht nicht weiter als zu einer Warnung und Klage; zu einer Äußerung des Zornes kommt es nicht. Ähnlich wird das Verhältnis Jesu zu seinen
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Richtern beschrieben j auch hier wird als charakteristisch sein Schweigen berichtet. Darin soll keine Nichtachtung liegen j es wird nur hervorgehoben, daß er auch das böse Wort vermied. Schließlich wird erzählt, daß er auch sein Gebot, für die Verfolger zu beten, erfüllt habe. Neben dieser Schilderung der vollkommenen Geduld Jesu steht die Beschreibung seines Zornes. Er ist ebenso absolut wie seine Geduld. Er wird nicht gedämpft und eingeschtänkt, vielmehr spricht er sich mit großer Schärfe aus. Die Äußerungen des Zornes Jesu nehmen bei den Synoptikern einen breiten Raum ein. Es gibt für ihn ein Verderben, in dem es keine Gnade mehr gibt und in dem kein Bitten mehr hilft. Das Salz, das nicht mehr salzt, wird zertreten, Matth. 5, 13. Die Propheten, die trotz ihres Geistbesitzes die Gesetzlosigkeit taten, werden auch trotz ihrer Bitte nicht ins Himmelreich genommen, Matth. 7,21 ff. Weil Israel nicht mit demselben Glauben wie die Heiden zu Jesus kommt, weist Jesus es in die Finsternis, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht, 8, II f. Den Jünger, der ihn verleugnet, den wird er verleugnen, 10,33. Wer sich seiner schämt, dessen wird er sich schämen, Luk. 9, 26. Den Städten, die trotz seiner Wunder nicht glaubten, wird es schlimmer gehen als Sodom, Matth. I I, 20 ff. Lästerung des Geistes, d. h. die Erklärung des Wirkens Jesu aus satanischer Macht, wird niemals vergeben werden, 12, 31 f. Durch seine U nbußfertigkeit angesichts der Zeichen Jesu wird Israel im Gericht unter die Heiden gestellt, 12, 41. Das Volk, das nicht hat glauben wollen, soll nun auch nicht glauben, 13, 12 ff. Den Gegnern, die durch die Wunder Jesu nicht gläubig geworden sind, wird das erbetene Zeichen verweigert, 12, 38 ff., 16, 1 ff. Dem Verführer der Kleinen wäre es besser, daß er mit einern Mühlstein am Hals im Meere läge, 18,6. Wer kein Erbarmen übt, erfahrt auch kein Erbarmen, 18,32 ff. Die Gärtner, die den Sohn getötet haben, werden vernichtet und verlieren den Weinberg, 21, 41 ff. Der dreiste Gast wird in die Finsternis gewiesen, wo Heulen und Zähneklappen herrscht, 22, 13. Den Schriftgelehrten und Pharisäern gelten die Weherufe am Schluß der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, Kap. 23. Der Knecht, der seine Mitknechte schädigt, anstatt sie zu versorgen, wird von dem heimkehrenden Herrn zerhauen, Matth. 24, 5I. Den törichten Jungfrauen wird trotz ihres Wartens und trotz ihres Lütgert, Die Liebe im N. T.
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Bittens das Himmelreich verschlossen, 25, 1 ff. Der träge Knecht wird in die Finsternis geworfen, in der Heulen und Zähneklappen herrscht, 25, 30. Wer keine Wohltätigkeit übte, wird zur ewigen Pein verurteilt, zu dem ewigen Feuer, daß dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist, 25, 41. Weil der reiche Mann den Lazarus darben ließ, so wird ihm auch der Tropfen Wasser verweigert, Luk. 16, 19ff. Diese Härte Jesu steht jedoch nicht im Widerspruch zu seiner Liebe, vielmehr äußert sich in Zorn und Liebe der gleiche Wille. Die Einheit beider liegt darin, daß das Ziel der Liebe Jesu auch ihre Grenze ist. Wo er sein Ziel definitiv nicht erreicht, da verwandelt sich seine Liebe in Zorn. Der Lieblosigkeit gegenüber kennt er gerade darum kein Erbarmen, weil die Liebe sein Wille ist. An dieser Stelle ist Einheit von Liebe und Zorn am deutlichsten. Ebenso versteht sich sein Zorn dem Unglauben gegenüber. Weil er durch seine Liebe Glauben erwecken will, so erregt das definitive Ausbleiben dieses Erfolges seinen Zorn. Als unverzeihlich wird nicht der Unglaube behandelt, der aus der Schwäche stammt, sondern der, der aus einem entschlossenen Willen stammt. Dies Urteil erklärt sich daraus, daß Jesus sein eigenes Wirken als das höchste und allmächtige Glaubensmotiv ansieht. Dadurch wird der Unglaube zu einer Schuld, die nicht mehr überwunden werden kann. Vermag Jesus den Glauben nicht zu erwecken, so ist der Glaube überhaupt zur Unmöglichkeit geworden, und damit tritt an die Stelle der Liebe der Zorn. Ebenso versteht sich der Zorn Jesu in den Drohworten über die Sünde im Kreise der Jünger. Hier gibt es gerade darum eine unverzeihliche Sünde, weil die Seinigen die von der Sünde lösende Macht Jesu bereits hinter sich und verbraucht haben. Die Härte gegen die sündigen Propheten, gegen den trunkenen Knecht und die törichten Jungfrauen, die Drohworte über das salzlose Salz und über den trägen Knecht, d. h. über die, die die Gaben Jesu nicht weitergeben, entspringen demselben Willen. Im Kreise der Seinigen trifft der Zorn Jesu nicht nur die festgehaltene Sünde, sondern auch den verweigerten Dienst. Das Urteil hat denselben Grund, wie das Urteil über die Lieblosigkeit. Wer die Gabe Jesu nicht weitergibt, sondern selbstsüchtig genießt, unterläßt die höchste Wohltat, zu der er verpflichtet ist. Wie der Besitz des Geldes
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zur Wohltat verpflichtet, so der Besitz des Wortes Jesu zur Mitteilung dieses Wortes. Aus dieser Regel erklärt sich vollends das harte Urteil über die Verführer. Wird es schon als Sünde beurteilt, den anderen nicht zu erretten, so gilt es als noch höhere Schuld, ihn zu verderben. Der Zorn Jesu wird niemals zur Ra c h e. Auch in dem abschließenden Urteil über seine Gegner, Matth. 23, wird das mit Sicherheit vermieden. Jesus begründet seinen Weheruf nicht mit dem, was die Gegner ihm getan haben, sondern lediglich mit dem, was sie gegen das Gesetz und gegen die Propheten gesündigt haben. In Gesetz und Propheten spricht sich Gottes Wille aus. Der Zorn Jesu bleibt also dadurch rein, daß er zürnt über das, was Gott angetan ist, aber nicht über das, was ihm geschehen ist. Dieselbe einfache Regel liegt auch dem Wort über die Lästerung des Geistes zu Grunde. Was gegen den Menschensohn gesprochen ist, d. h. gegen ihn persönlich, das verzeiht Jesusj was dagegen gegen den Geist gesprochen ist, d. h. gegen Gott, das ist unverzeihlich. Jede Antastung Gottes vergilt Jesus mit seinem Zorn. Der entschlossene Wille des Unglaubens, der in dem Jesu!,? gegebenen Geist Gottes lieber teuflische Kräfte sieht, als daß er seinen Widerspruch und Zweifel aufgibt, ist darum unverzeihlich, weil er eine Profanation Gottes ist Ebenso ist die Sünde der prophetischen Geistträger und die Dreistigkeit des Gastes ohne Hochzeitsgewand eine Entheiligung Gottes, ein Mißbrauch und eine Entweihung seiner Gnade. In derselben Weise erklärt sich die Schärfe des Urteils über den Pharisäismus aus dem Widerspruch zwischen Wissen und Tun. Gerade weil Jesus als Wahrheit anerkennt, was sie lehren, so beurteilt er ihr Tun um so mehr als Schuld. Denn durch diesen Gegensatz wird es zu einer Verleugnung Gottes. Doch ist das Urteil über die Sünde im Kreis der Seinigen schärfer, weil hier bereits der Antrieb verbraucht ist, der in der anerkannten Anwesenheit Gottes in Jesu Wirken liegt. Das Urteil über den Pharisäismus wird regelmäßig mit einem Vorbehalt für die Zukunft ausgesprochen, da ihm in der Auferstehung Jesu, dem Zeichen des Jonas, noch ein Zeichen bevorsteht. Wie sich die Liebe Jesu durch Geben äußert, so äußert sich sein Zorn durch Versagen. Er verweigert das geforderte Zeichen. Aber er entzieht nicht nur seine Tat, sondern auch sein Wort. 7*
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Dies wird Matth. 13 geschildert: er entzieht sein Wort, indem er es verhüllt, und er verhüllt es durch Gleichnisse; darum versagt er nicht nur, sondern er nimmt. Er handelt nach der Regel: wer nichts hat, dem wird genommen, was er hat. Wie seine Liebe in der Erweckung des Glaubens ihr Ziel hat, so ist das Ziel seines Zornes die Verstockung. Man hat die hierin liegende Härte unglaublich gefunden. Jülicher 1) bemerkt: "Welche schauerliche Vorstellung von einem Heilande, der extra Mittel erfindet, um seinem stumpf gewordenen Volke die Belebung unmöglich zu machen, der ihnen die Wahrheit in einer Form bietet, die sie wirkungslos macht! Ist das derselbe Mann, der in den schönen Parabeln Luk. 15 die unermüdliche Liebe zu den Verlorenen so ergreifend schildert, der auf Erden kein irreparabile damnum eines Zuspätkennt, da er selbst den gekreuzigten Verbrecher noch mit sich nimmt ins Paradies 1" Es ist hier zweierlei von ~inander zu unterscheiden: die Frage, ob Jesus überhaupt die Verstockung des Volkes sich kann zum Ziel gesetzt haben, und die andere, wie es zu verstehen ist, daß ihm das Gleichnis als Mittel zu diesem Zwecke dienen muß. Nur die erste Frage beschäftigt uns hier. Ein solcher Zweck scheint in grellem Widerspruch zur Liebe Jesu zu stehen. Diesem Ein· wand liegt die Voraussetzung zu Grunde, daß die Liebe Jesu den Zorn ausschließe. Allein auch sonst kommt der Zorn Jesu in den Evangelien reichlich zu Worte. Eine Liebe Jesu, die niemals dem Zorn Platz machte, kennen sie nicht. Auch wird sein Zorn nicht etwa als eine Empfindung dargestellt, die ihn überwältigte, so daß er ihrer nicht mehr Herr zu werden vermöchte; vielmehr ist auch sein Zorn sein bewußter und klarer Wille, den er mit Bewußtsein und in der Überzeugung, damit Gottes Willen zu tun, ausspricht. Wie sich seine Liebe darin zeigt, daß er Glauben weckt, so zeigt sich sein Zorn darin, daß er keinen Versuch mehr macht, Glauben zu erzeugen. Das tut er freilich nicht dann, wenn er einer Schwäche gegenübersteht, die sich zum Glauben nicht aufschwingen kann, sondern dann, wenn er einer Bosheit gegenübersteht, die nicht mehr glauben will. Diesen Widerstand läßt er sich nicht dauernd gefallen, sondern einmal gibt es einen Punkt, an dem es zu spät ist. So gut Jesus schon 1) Gleichnisreden Jesu I 141.
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jetzt ins Himmelreich aufnimmt, so gut schließt er auch jetzt daraus aus. Die Entscheidung, das Gericht vollzieht sich eben jetzt und darum die Verwerfung auch jetzt; und sie besteht darin, daß das Glauben nun zur Unmöglichkeit gemacht wird. Diese Härte übt Jesus darum mit vollkommen gutem Gewissen, weil er sich bewußt ist, bis dahin mit vollkommener Liebe geliebt zu haben. Da diese Liebe zur Lästerung des Geistes geführt hat, so ist der Glaubensantrieb, der in Jesu Liebe liegt, verbraucht. Ein höheres Glaubensmotiv gibt es nun nicht mehr. Die Differenz zwischen der Kritik Jülichers und der Anschauung Jesu zeigt sich in ganz derselben Weise in Jülichers Bemerkung zu Matth. 5, 13 1) "Jesus hat . . . . auch nicht, was heute zu betonen wichtiger sein dürfte, ein Dogma über die Unmöglichkeit einer restitutio in integrum bei einem einzelnen Abgefallenen auf~ stellen wollen, cfr. Hebr. 6, 4 ff.; dem 8V '1:LVL hätte er selbst, um solch einen Gefallenen vor Verzweiflung zu retten, 8V ffeijJ entgegengehalten"; aber dieses 8V :JeijJ ist nach Jesu Urteil eben schon geschehen; dadurch, daß der Mensch Jesu Wort empfangen hat, dadurch ist er zum Salz der Erde geworden. Hat er diese höchste Gabe umsonst empfangen - etwas Größeres gibt es nicht mehr. Es bleibt nur noch die Frage, womit soll salzloses Salz noch gesalzen werden? Es ist die notwendige Kehrseite des Selbstbewußtseins Jesu, nach welchem in seinem Wort und Wirken Gottes Liebe liegt, daß, wenn dies sein Wirken nur boshaften Gegensatz hervorgerufen hat, nur noch das Gericht übrig bleibt. Dieses wird in der Form vollzogen, in der es in Jesu geschichtlichem Wirken allein möglich ist, nämlich durch Entziehung des Glaubensmotivs. Wie Jesus durch seine Liebe Glauben wecken will, so will er durch seinen Zorn Furcht wecken. F u r c h t gilt ihm als ein notwendiges Stück der Frömmigkeit, Matth. 10, 28. Darum gelten seine Drohworte nicht nur dem Volk und seinen Gegnern, sondern in gesteigertem Maße seinen Jüngern. Dadurch daß Gott sie liebt, hört er nicht auf furchtbar für sie zu sein. Neben das Gebot der Liebe tritt das Gebot der Furcht. Wie sich beide zu einander verhalten, darüber wird keine Theorie aufgestellt. Alle Imperative Jesu treten einfach neben einander, ohne daß über 1) Gleichnisreden
Jesu
II, 72.
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ihr psychologisches Verhältnis zu einander reflektiert wird, wie über das Verhältnis von Liebe und Furcht in der Synagoge reflektiert wird. Die Jünger sollen Gott lieben und furchten. Ebenso sollen sie Jesum fürchten. Zu den Jüngern sind die Worte gesprochen über den trägen Knecht, dem sein Pfund genommen wird, und über den gewalttätigen Verwalter. Furcht fordert Jesus vor Gott darum, weil er der Richter ist, und aus demselben Grunde vor sich selbst. Auch von ipm gilt, daß er Leib und Seele vernichten kann in der Hölle. Als der Richter kann er verdammen. Während jetzt sein Zorn Drohung bleibt, wird er dann zum Gericht. Zwar erfüllt Jesus beständig sein eigenes Gebot, nicht zu richten, er vollstreckt das Urteil nicht, aber er spricht es. Denn dadurch gewinnt sein Urteil für die Gemeinde seine Bedeutung, daß es das Urteil des Richters ist. So schließt er seinen Kampf mit dem Pharisäismus Kapitel 12 und Kapitel 23 mit einem Urteil. Wo der Zorn Jesu nicht Furcht erweckt, da erweckt er Haß. Auch dies entspricht dem eigenen Wort und Willen Jesu. Er verzichtet mit Bewußtsein auf Liebe. Die Liebedienerei in der Synagoge erfährt die schärfste Verurteilung. Unter den Weherufen bei Lukas steht auch einer über die allgemein Beliebten. Er erklärt sich aus der dargestellten Liebesübung in der Synagoge vollständig; neben dem Streben nach Ehre und Lohn wird die Liebe in der Synagoge durch die Liebedienerei gefährdet. Man ist wohltätig und freundlich, um in der Gemeinde beliebt zu sein. Für Jesus ist Popularität das Kennzeichen der falschen Propheten, sie ist Menschenknechtschaft. Jesus selbst ist frei von jeder Liebedienerei, er tut nicht den Willen des Volkes, sondern seinen eigenen Willen, weil er den Willen Gottes tut. Er stützt sich deshalb in seiner Haltung nicht auf das Volk. Wellhausen pemerkt zu Mark. 12,41 ff. "Die trübe Stimmung, die Jesus auf dem Wege nach Jerusalem beherrscht, steigert sich in Jerusalem selber nicht, sondern legt sich und macht einer zuversichtlichen und unternehmenden Platz. Er fuhlt sich getragen von dem Enthusiasmus der Menge!' 1) Im Gegensatz dazu ist nach den Evangelien Jesus in seinem Selbstbewußtsein von Erfolg und von den Menschen völlig unabhängig. Wenn Wellhausen 2) sagt: "Zu1) Das Evangelium Marci S. lOS. 2) Geschichte Israels, 2. Auf!. 346.
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weilen bricht eine Äußerung des Hochgefühls bei ihm durch, doch den Höhepunkten der Stimmungen stehen auch Depressionen gegenüber", so ist vielmehr nach der Darstellung der Evangelien Jesu Selbstbewußtsein von solchen krankhaften Schwankungen vollkommen frei. Denn der Wechsel eines gesteigerten Selbstbewußtseins mit Depressionen, die durch diese Steigerung hervorgerufen werden und natürlich um so tiefer sind, je mehr die Steigerungen die Linie der Wahrheit überschreiten, ist etwas Krankhaftes. Solche Schwankungen erklären sich nur daraus, daß das Selbstbewußtsein seine Stütze außen hat. Dann steigt oder fciHt es mit dem Grade der Zustimmung und des Erfolges, den es findet. Dagegen ist Jesu Selbstbewußtsein in vollständigem Gleichgewicht und über alle Schwankungen, die sich aus der Situation ergeben könnten, erhaben. Das liegt an seiner Freiheit von den Menschen; seine Liebe ist keine Abhängigkeit von ihnen. Sein Selbstbewußtsein wird lediglich getragen durch Gott. Darauf, daß er sich von Gott geliebt weiß, beruht es, und durch die Gleichmäßigkeit dieser Erfahrung bekommt es sein Gleichgewicht und seine Stetigkeit. Wie sein Bewußtsein daher niemals hinaufsteigt über die Linie seines Seins, d. h. seiner Kraft, so sinkt es auch niemals unter diese Linie herab. Matthäus setzt deshalb die höchste Äußerung des Selbstbewußtseins Jesu, I I, 25 ff., gerade an die Stelle (tv ExelvqJ ,,;fjJ xatflfjJ), an der Jesus die Erfolglosigkeit seines Wirkens ausspricht. Diese Freiheit von den Leuten ergibt sich für Jesus nicht erst aus seiner Lage, sie stellt sich darum nicht erst allmählich mit dem Ausbleiben des Erfolges ein, sondern ist von Anfang an da als Ergebnis seiner Liebe zu Gott. Eben weil seine Liebe zu den Menschen niemals zur Menschenknechtschaft wird, sondern immer Freiheit von den Menschen bleibt, so vermag er es, sich gegen die Wünsche des Volkes zu ve'rschließen und das Kommen des Himmelreichs als das Geschehen des Willens Gottes zu erfassen; und wie er mit Bewußtsein auf Liebe verzichtet, so zieht er sich auch den Haß des Volkes mit Bewußtsein zu. Er macht auch die Seinigen gefaßt auf einen Haß, der sich in Wort und Tat, in Lästerung und Verfolgung äußert; in dieser Beziehung ist es von jeder Illusion frei, Matth. 5, I I; 10, 22 und 24, 9. Das Ergebnis dieses Hasses ist das Lei den Je s u. Die Leidens-
104 geschichte zeigt seine eigene Bereitwilligkeit, die Lästerung und Verfolgung, die ihm als Boten Gottes gebührt, zu ertragen. Durch sein Leiden erläutert und erfüllt er sein eigenes Gebot, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten. Dadurch, daß diese Forderung vollkommener Geduld in seinem Leiden zur Tat wird, erhebt sich das Liebesgebot über den Vorwurf phantastischer Schwärmerei. Das Leiden Jesu wird jedoch nicht nur als Leiden dargestellt. Eine Notwendigkeit, oei, ist ihm sein Leiden, weil es Gottes Wille ist. Der Tod ist der Kelch, den ihm der Vater reicht, den er daher trinken, d. h. in den er einwilligen muß. Darum ist Jesu Tod auch sein eigener Wille und deshalb nicht nur ein Verhängnis, sondern als sein Wille seine Tat. Dies ist der Hauptgesichtspunkt, unter welchem das Leiden Jesu in den Evangelien dargestellt wird. Er gibt nicht eine Theorie über das Leiden, sondern er leidet. Er gibt nicht eine Lehre über den Wert seines Todes, sondern er stirbt, und sein Tod hat eine reelle Wirkung. Diese Taten und Tatsachen werden dargestellt. Allein eben weil Jesu Tod nicht nur eine passive Resignation, ein dumpfes Tragen eines blinden Verhängnisses, sondern sein Wille ist, so hat er auch einen Gedanken über seinen Tod, und den behält er nicht für sich, sondern er spricht seinen "rillen aus und macht seine Tat dadurch verständlich. Ist der Tod Jesu Wille und Tat, so hat er einen Zweck, und diesen Zweck spricht Jesus aus. Zunächst stirbt er aus Gehorsam gegen Gott. Das wird in der Gethsemane-Geschichte dargestellt. Die Einwilligung Jesu ins Sterben bedarf einer Selbstüberwindung. Sein Wille zum Sterben ist ihm nicht von Natur eigen, vielmehr treten einander gegenüber der Wille Gottes und der natürliche Wille Jesu zum Leben. Indem Jesus in den Willen Gottes einwilligt, muß er seinen eigenen Wunsch aufgeben; so wird sein Gehorsam gegen Gott zur Selbstverleugnung. Sein eigener Wunsch wird aber weder durch einen gesetzlichen noch durch einen naturhaften Zwang überwunden, sondern lediglich durch seinen eigenen Willen, den Willen Gottes zu tun. Liebe zu Gott und die Selbstliebe treten in Konflikt. Es ergibt sich die Wahl, wem die Liebe und die Verleugnung gebührt. So wird Jesu Liebe zu Gott zur Selbstverleugnung, und es entsteht der von ihm geforderte Wille, die Seele zu verlieren. Die Geschichte
105 beschreibt jedoch nicht die erste Entstehung der Sterbenswilligkeit Jesu, sie beschreibt nur den Moment, in dem aus dem Willen die Tat werden soll, aus dem Gedanken die Wirklichkeit. Dieser Moment schließt noch einmal eine Wahl in sich. 1) Dagegen ist der Wille Jesu zum Sterben schon vorher da. Der Versuch, ihn zu erschüttern, wird in derselben Weise als satanische Versuchung abgelehnt, wie die Versuchung, seine Macht für sich selbst zu gebrauchen, Matth. 16, 23. Satanisch ist die Versuchung darum, weil sie von Jesus verlangt ein cp(!oveiv 'ltl '&iiJ'JI &'JI/}(!W7tW'JI statt eines cp(!o'JIei'JI 'ltl 'lO'V /}eov. Sein Gedanke und sein Wille würde sich auf Menschliches richten und nicht auf Göttliches. Darin aber, nach Menschlichem zu trachten, liegt für Jesus die satanische Versuchung. Nicht sterben zu wollen, wäre menschlich; aber sterben zu wollen ist göttlich, und darum will Jesus sterben. Er stirbt, weil sein Begehren auf das, was Gottes ist, gerichtet ist, d. h. aus L i e b e zuG 0 t t. Der göttliche Wille in ihm überwindet den menschlichen. Jesu Tod wird also als Gehorsam gegen Gott dargestellt. Sein Sterben ist ein Gottesdienst. Diese Betrachtungsweise war der Gemeinde darum völlig verständlich, weil sie sich an die synagogale Denkweise anschloß, denn auch der Synagoge war ja das Martyrium Beweis der Liebe, mit welcher man Gott über alles liebt, Heiligung des Namens Gottes. Daher hat es Jesus auch in seinem Leiden allein mit Gott zu tun. Nach der Darstellung der Evangelisten beschäftigt sich Gedanke und Wille des Sterbenden nicht mit der Gemeinde, um derentwillen er stirbt, sondern er hat es allein mit dem Vater zu tun. Er leidet und stirbt um Gottes willen. Alles nach außen gehende Wirken bricht ab, Reden und Handeln erlischt, auch die Klage des Sterbenden bezieht sich riicht auf die Verlassenheit von Menschen, sondern darauf, daß ihn Gott verläßt. Auch die einzelnen Worte, die sonst noch berichtet werden, durchkreuzen diesen Eindruck nicht. Keines seiner Worte hat den Zweck, den Ein1) Ich kann darum nicht finden, daß diese Geschichte im Widerspruch mit den Leidensweissagungen steht. Die Entstehung des Willens und das Hervortreten der Tat sind zwei deutlich von einander unterschiedene Momente und darum auch verschiedene Aufgaben.
106 druck seines Todes zu sichern oder seine Wirkung verständlich zu machen. Er stirbt vor Gott und nicht vor den Menschen. Sein Tod ist zunächst lediglich ein Diens~ Gottes. Auf der anderen Seite sieht Jesus seinen Tod als einen den Menschen geleisteten Dienst an. Das kommt in dem Wort Matth. 20, 25 ff. zum Ausdruck. Sein Lieben ist ein Dienen; er stellt sich durch die Liebe unter die, denen er hilft; er wird ein Diener und Knecht der Menschen. Weil Liebe Dienst ist, so ist sie Demut. Den Willen zum Dienen hat er gerade darum, weil er den Willen hat groß zu sein und der Erste zu sein. Das Wort hat messianischen Sinn. Durch Dienen wird er zum Herrn. Dieser Dienst schließt ab durch seinen Tod. Auch sein Tod ist eine Tat der Liebe, ein Dienst, eine Gabe. Jesus gibt seine Seele, sich selbst. Damit ist der Tod der höchste Erweis seiner Liebe. Seine Seele wird zum Kaufpreis, durch den er sich die vielen erwirbt. Auch darin spricht sich der messianische Wille aus. Durch seinen Tod wird er zum Herrn und Eigentümer der Menschen, d. h. zum Christus. Lieben, Geben und Dienen werden mit einander verbunden. Seine Seele gibt er dadurch, daß er stirbt. Liebe ist dieses Geben auch darum, weil er gibt, um die Vielen zu seinem Eigentum zu machen. Denn dieser Wille, der die Menschen haben möchte, ist Liebe. Auch in dem Worte beim letzten Mahle spricht sich das Machtbewußtsein aus, das Jesus auch als Sterbender behält. Auch in diesem Wort bezeichnet Jesus seinen Tod als Tat und zwar als ein Geben, d. h. als Liebe. In diesem Wort nennt er jedoch nicht die Seele seine Gabe, sondern seinen Leib und sein Blut. Sie werden ihm durch seinen Tod nicht genommen, sondern er gibt sie den Seinigen. Sein gestorbener Leib und sein vergossenes Blut werden aber darum für die Seinigen zu einer Gabe, weil er durch sie einen Bund stiftet, d h. Gott und die Menschen zusammenbringt; dies darum., weil der Zweck seines Todes Vergebung der Sünden ist. Auch in diesem Worte bezeichnet Jesus sein Sterben als ein Lieben. Liebe ist es nicht nur darum, weil es vollkommene Geduld ist, vollkommene Erfüllung des Gebotes, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten, sondern es ist ein positives Geben. Das Letzte, was er zu geben hat, ist seine Seele, sein Leib und sein Blut. Das Bewußtsein, zu göttlichem Geben befähigt zu sein, verläßt
1°7 ihn auch in seinem Sterben nicht. Sein Leib und sein Blut gelten ihm als Gaben von göttlichem Werte. 4. Die Erweckung der Liebe. Das normale Ergebnis der Liebesübung Jesu ist nicht nur der Glaube, den er findet, sondern die Liebe, die er gewinnt. Neben dem Verzicht auf Liebe steht die Forderung der Liebe, und zwar hat Jesus Liebe zu sich nicht nur gefordert, sondern geweckt. Sie entsteht nicht auf sein Gebot hin, sondern als der natürliche Erfolg seiner Liebe und seines Gebens. Aber dieser Erfolg ist nicht ein unbeabsichtigtes Ergebnis der Liebe Jesu, sondern er entspricht seinem Willen und ist sein Ziel; und zwar erweckt er durch die Allmacht seiner Liebe, durch ihre göttliche Art, eine vollkommene Liebe. Weil er sich bewußt ist ganze Liebe erwecken zu können und verdient zu haben, so fordert er sie auch. Auch die Liebe zu den nächsten Verwandten, die in der Synagoge besonders geschätzt wurde, muß zurücktreten hinter die Liebe zu ihm. Die Forderung der Liebe ist der des Glaubens durchaus parallel. Genau wie Jesus nicht irgend einen Grad von Vertrauen erwartet, sondern sich nur mit vollkommenem Glauben begnügt, der ihm alles zutraut, und alles bedingte Vertrauen als Unglauben abweist, 1) so erwartet er nicht nur überhaupt Liebe, sondern er nimmt nur vollkommene Liebe an, die ihn über alles stellt; alle andere Liebe wird abgewiesen. Nur durch vollkommene Liebe wird der Jünger wert, Jesu zu folgen, Matth. 10, 37. Das Wort steht neben den stärksten Äußerungen des Selbstbewußtseins Jesu, er gibt seiner eigenen Person damit die höchste Bedeutung. Dabei ist zu beachten, daß er diese Liebe nicht nur weckt, sondern auch fordert. Sie ist nicht ein naturhafter Trieb, der von selbst alle anderen Neigungen sich unterwirft, sondern sie ist Wille. Sie tritt zunächst neben die anderen Neigungen und Begehrungen, die im Menschen sind; aber bei diesem Nebeneinander soll es nicht bleiben, sondern der Liebe zu Jesus soll jede andere Liebe sich unterordnen. Dies geschieht nicht ohne den bewußten Willen des Menschen, und daher wird die Liebe 1) Cf. hierüber: Schlatter, Der Glaube im neuen Testament.
108 nicht nur durch Liebe erweckt, sondern auch durch ein Gebot gefordert. Darum ist die Forderung der Liebe nicht ohne Härte: selbst die Bestattung des Vaters, die höchste Pflicht des Frommen, muß unterlassen werden, wenn es sich um die Nachfolge Jesu handelt, Matth. 8, 22. Ebenso auffallend ist das Wort bei der Salbung in Bethanien. Jesus nimmt die Huldigung der Frau als sein gutes Recht in Anspruch. Auch die Wohltätigkeit an den Armen, die sonst so hoch gestellt wird, muß zurücktreten hinter einer Liebe, die ihm erwiesen wird. Wird die Wahl gestellt: Jesus oder die Armen, so nimmt er das höhere Recht Liebe zu fordern für sich in Ansptuch. Er hat das höchste Recht auf Liebe. Wohltätigkeit gegen die Armen neben Lieblosigkeit gegen Jesus ist ein Widerspruch und wird in der Darstellung des Johannes als Heuchelei gebrandmarkt. Wer Jesus gegenüber lieblos bleibt, bei dem ist auch die Wohltätigkeit gegen die Armen keine wirkliche Liebe. Die Geschichte wird durch das Schlußwort mit Nachdruck gegen die Meinung geschützt, daß es sich nur um ein vereinzeltes Ereignis mit vorübergehender Bedeutung handele. Das Wort Jesu stellt fest, daß die Frau ihm eine Verehrung widmet, die seinem eigenen Willen entspricht. Ihre Tat gehört zum Evangelium, weil sie die Liebe zeigt, die Jesus erwartet und verdient. An dieser Frau hat er sein Ziel erreicht. Er macht sie deshalb durch sein Wort weltberühmt.. Auch diese Art der Belohnung ist lehrreich. Berühmt Zu sein in der' Gemeinde ist der Lohn, auf den der Fromme mit seiner Liebesübung hoffte. Er erwartet dog" oder ein 15"01-'''. Es ist beachtenswert, daß Jesus durch die Art, wie er die Tat belohnt, diese Erwartung gerade da erfüllt, wo sie gar nicht vorliegt. In dem Wort spricht sich das majestätische Selbstbewußtsein Jesu kraftvoll aus. ~r ist sich bewußt, der Frau einen unvergänglichen Namen geben zu können. In der Parallelerzählung bei Lukas spricht Jesus dieselbe Schätzung der Liebe zu ihm aus. Das Gleichnis von den beiden Schuldnern soll den Anstoß des Pharisäers beseitigen, daß Jesus die sündige Frau zu sich läßt. Die Antwort, die das Gleichnis gibt, lautet: Die Gnade Jesu ist darum berechtigt und rein, weil die Vergebung vieler Sünde große Liebe weckt. Je größer die Sünde, desto größer die Gnade, je größer die Gnade,
109 desto größer die Liebe, und je weniger Sünde, desto weniger Gnade und desto mattere Liebe. Da der Pharisäer weniger Gnade bedarf, so hat er auch weniger Liebe. Damit ist das Recht" der Gnade Jesu erwiesen. Weil er durch seine Gnade Liebe zu sich erweckt, so ist er mit ihr im Recht. Damit ist wieder die hohe Schätzung der Liebe zu Jesus ausgesprochen. Hat die Vergebung den Erfolg, Liebe zu erwecken, so ist sie damit gerechtfertigt. Der Erfolg rechtfertigt sie. Die Frau steht schließlich höher als der Pharisäer, da seine Gerechtigkeit ihn an der Liebe gehindert hat. Auch dieses Wort stellt fest, daß Liebe zu sich zu erwecken Jesu Wille ist. Diesen Wert hat aber die Liebe nicht in sich selbst. Wie nur Jesus eine solche Liebe erwecken kann, weil nur er vergeben darf, so hat die Liebe darum einen so hohen Wert, weil sie auf Jesus gerichtet ist Es kommt ihm nicht darauf an, daß die Frau überhaupt liebt, sondern daß sie ihn liebt. 1) Die Liebe über alles andere, die er von den Seinigen fordert, ist nun in der Frau geweckt. Während das Gleichnis sagt, sie liebt viel, weil ihr viel vergeben ist, sagt Jesus zum Pharisäer, ihr ist viel vergeben, weil sie viel geliebt hat. Beide Aussagen darf man aber nicht so vereinigen, als gebe das Gleichnis nur den Erkenntnisgrund für die Vergebung an. Denn es handelt sich gar nicht um die Frage, ob der Frau vergeben ist, sondern um die Rechtfertigung der Vergebung durch ihren Erfolg. Vielmehr entsprechen die beiden Worte dem lebendigen Charakter des wirklichen Vorganges. Die Gnade Jesu erweckt die Liebe der Frau, und ihre Liebe erwirbt ihr wieder seine Gnade. Beides greift in einander in lebendiger Wechselwirkung und läßt sich nicht wie Ursache und \Virkung auseinandernehmen. Die Lebendigkeit, mit der die wirklichen Vorgänge ins Auge gefaßt werden, zeigt sich auch darin, daß Jesus im Schlußwort den Glauben nennt. In der Liebe, mit der die Frau Jesus nachgeht, liegt Vertrauen zu seiner Gnade. Liebt sie ihn, so glaubt sie ihm. Im lebendigen Vorgange selbst läßt beides sich nicht scheiden. Fraglich ist nur, warum in dem Schlußwort der Glaube der Frau genannt wird. In der Liebe liegt eine gewisse Gleichstellung, während im Glauben eine Unterordnung unter Jesus 1) Gegen Jülicher S. 300. "Das Liebenkönnen ist überhaupt ein Gnadengeschenk Gottes, gleichviel an wem, in welcher Weise es geübt wird."
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liegt. Diese hebt Jesus hervor, um die Frau in die rechte Stellung zu sich zu setzen. Eine Liebe, aus der dieses Glied ausgeschaltet wäre, wird damit abgewiesen. Nur eine Liebe, die den Glauben in sich trägt, erkennt Jesus an. Die Erzählung ist eine Parallele und eine Ergänzung zu Luk. 15. Wenn Luk. 15 sagt: Je größer die Sünde, desto größer die Gnade, so sagt Luk. 7: Je größer die Gnade, desto größer die Liebe. Beide Erzählungen behandeln die Frage nach Sünde und Liebe. Die eine zeigt, daß der reuige Sünder die größte Liebe Gottes erfahrt, die andere, daß er die größte Liebe zu Jesus faßt. In beiden Erzählungen werden Liebe und Gerechtigkeit einander gegenübergestellt; in Gegensatz zu einander treten sie nicht. Dem Sohn, der beim Vater blieb, gehört ebenfalls des Vaters ganzes Gut. Allein größere Freude erweckt der heimgekommene Sohn. Auch die Gerechtigkeit des Pharisäers erkennt Jesus willig an, im Vergleich zur Frau hat er wenig gesündigt; dieser U nterschied wird nicht verwischt. 1) Allein weil er nun weniger Liebe gebraucht, so hat er auch weniger Liebe. Liebe und Gerechtigkeit werden einander auch gegenübergestellt in dem Gleichnis Matth. 20, 1-16. Auch hier treten sie nicht in Gegensatz zu einander; Liebe ist nicht ungerecht, jeder empfangt, was ihm zukommt, und keiner mehr als der andere. 2) Allein die Letzten empfangen mehr, als sie verdient haben. Das Gleichnis zeigt, daß die Liebe mehr tut, als die Gerechtigkeit fordert. Alle drei Erzählungen machen zugleich deutlich, daß man diesen Kanon nur bestreiten kann, indem man die Liebe verleugnet. Indem der älteste Sohn das Recht des Vaters bestreitet, verleugnet er zugleich die Liebe gegen ihn und den Bruder. Ebenso zeigt das Gleichnis vom gleichen Lohn für ungleiche Arbeit am Schluß, daß der Protest gegen diese Regel nichts anderes als Neid auf die Güte des Herrn ist. Und auch dem Pharisäer wird deutlich gemacht, daß ihn seine Gerechtigkeit lieblos gegen Jesus und hart gegen die Frau macht. Jesus beweist in allen Fällen das Recht seiner Gnade damit, daß
1) Cf. Schlatter, Die Demut Jesu.
Beiträge VIII,
I.
Heft S. 86 ff.
2) Schlatter, Die Demut Jesu S. 86: "Ein Riß zwischen der Gerechtigkeit und der 'Güte ist im Gedankengang J esu nicht aufzuzeigen, da sonst mit der Zuerkennung der Gerechtigkeit die ganze Zustimmung verbunden ist."
III
sie Liebe erweckt und daß das Bedenken gegen sie zur Lieblosigkeit führt. Weil Liebe das ist, was Jesus erwartet, so macht er von Bekenntnis und Verleugnung seiner Person das Geschick im Weltgericht abhängig. Liebe bezieht sich nicht auf seine Lehre und auch nicht auf sein Gebot, sondern auf seine Person. Als die einfachste und ursprünglichste Äußerung derselben wird das Bekenntnis genannt: ihn zu bekennen, das ist der ihm geleistete Dienst, den er mit dem Himmelreich belohnt. Vollkommene Liebe kann Jesus fordern, weil seine eigene Liebe vollkommen ist, d. h. weil er mit der Macht und dem Rechte Gottes liebt. Weil er liebt wie Gott, kann er eine Liebe fordern wie Gott. Ziel und Ergebnis seines Wirkens ist ein unbegrenztes Vertrauen und eine unbegrenzte Liebe. Hat er diese erweckt, so hat er sein Ziel erreicht. Alle anderen Wirkungen ergeben sich, wenn die unzerbrechliche Anhänglichkeit an ihn entstanden ist. In die Nachfolge faßt sich die Pflicht der Jünger zusammen. Er verpflichtet die Seinen nicht auf seine Lehre oder auf sein Gebot, sondern er fesselt sie an seine Person. Dadurch wird ihr Lebensgang dem Lebensgange Jesu gleich. Wert und Wirkung bekommt also die Liebe nur dadurch, daß sie auf Jesus gerichtet ist. Da Jesu Lebensweg hindurchgeht durch einen vollkommenen Verzicht auf Liebe und Ehre, auf alle Menschen, auf die ganze Welt, auf das Leben und die eigene Seele, so gilt das auch von dem, der ihm nachfolgt. Diesen ganzen Verzicht auf Liebe, Recht und Ehre, d. h. die fl8UXVOUX, erweckt Jesus dadurch, daß er die Jünger an seine Person bindet und dadurch in sein Geschick verflicht. Damit erweckt er die Bereitwilligkeit zur Selbstverleugnung, das Hassen der eigenen Seele. Es ist deshalb verfehlt, die Predigt Jesu in zwei Perioden zu zerlegen, in eine Zeit der Bußpredigt und eine Zeit, in der er die Nachfolge fordert. Das eine ist die Kehrseite des anderen. Indem er an sich fesselt, löst er von der Welt, und das heißt: damit wirkt er die Buße. Eine Askese, die ihren Wert und Zweck in sich selbst hätte, gibt es für Jesus nicht. Askese ist die Kehrseite der Liebe, die zu ihr gehörige Selbstverleugnung. Mit der Liebe zu Jesus ist auch die Liebe zu Gott erweckt.
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Wie Jesus darum absolutes Vertrauen erwarten kann, weil das auf ihn gerichtete Vertrauen sich auf Gott wendet, so kann er darum vollkommene Liebe fordern, weil in ihm Gott geliebt wird. Den Dank für seine Hilfe weist er an Gott. Die Regel, daß die guten Werke die Leute zum Lobe des Vaters im Himmel bringen sollen, gilt zuerst VOn Jesu eigenem Werk. Weil es Gottes Macht und Gottes Gnade ist, in welcher Jesus liebt, und weil Jesus selbst dies beständig bekennt, so wird in seiner Liebe Gottes Liebe erkannt und geliebt. Weil Jesus durch die Liebe, die er gewinnt, Liebe zu Gott erwecken will, so gibt es auch eine Liebe und Verehrung, die er zurückweist, nämlich eine solche, die nicht zur Liebe zu Gott führt, sondern sich an seine Person heftet und ihn von Gott trennt. Darum erkennt er kein Anrecht der Seinigen an seine Person an. Er gehört denen, die den Willen Gottes tun, Matth. 12, 50. Am schärfsten wird das ausgesprochen in der Erzählung Mark. 10, 17 ff. Hier weist Jesus eine Verehrung, die ihm gewidmet wird und sein Wort über das Gebot Gottes stellt, aufs schärfste zurück. Gott ist der eine Gute, und eine Liebe, die ihn von Gott trennt, weist er zurück, weil auch er nur wegen seiner Gemeinschaft mit Gott Liebe verdient. 1) So faßt sich Ziel und Erfolg des Wirkens Jesu zusammen in die Erweckung der Liebe zu Gott. Er hat sie nicht nur geboten, sondern erzeugt, und zwar dadurch, daß er mit Gottes Liebe geliebt hat.
11. Das Liebesgebot. Daß die Evangelisten das Liebesgebot nicht für eine Entdeckung Jesu halten und noch viel weniger diese Entdeckung für seine eigentliche Tat, das zeigt schon die Art wie das Liebesgebot eingeführt wird. Bei keinem Evangelisten lehlt Jesus es spontan, er gibt es als Antwort auf eine Frage, und dies Gespräch findet nach Markus und Matthäus erst beim letzten Aufenthalt Jesu in Jerusalem statt. Jesus beginnt nicht mit dem Liebesgebot, sondern nach Matthäus mit einer Kritik der jüdischen Liebesübung. Dies nicht etwa darum, damit zuerst die Negation 1) Cf. Schlatter, Die Demut Jesu S. 49 und meinen Aufsatz über die Anbetung J esu, Beiträge VIII, 4. Heft.
II3 klar würde, vielmehr setzt seine Kritik die Anerkennung des Liebesgebots voraus. Daß es nicht ein neues Gebot ist, wird dadurch ausgedrückt, daß es in Schriftzitaten gegeben wird. Es ist für die Evangelisten nicht erst Jesu Wille, sondern Gottes Wille, und das ergibt sich daraus, daß es im Gesetz steht. Es wird dabei auch nicht als ein vergessener Teil des Gesetzes hervorgehoben, sondern das Gebot der Liebe zu Gott wird mit den Worten des Schma gebracht. Es ist das bekannteste von allen Schriftworten. Nach Lukas nennt es der Schriftgelehrte auf die Frage selbst. Das ist nicht etwa eine wichtige Abweichung, die für Matthäus und Markus unmöglich gewesen wäre: für sie alle ist das Liebesgebot das bekannteste Wort des Gesetzes. Es ist dem Evangelisten gerade sehr wichtig, daß Jesus kein neues Gebot gibt. Er tritt nicht nur für das Gesetz ein, er läßt auch die Meinung nicht gelten, daß es unklar und unvollständig sei, daß es der Ergänzung und Erläuterung bedürfe. Die Meinung, als sei die Pflicht des Menschen unentschieden, behandelt er als Heuchelei. Wenn der Wille Gottes nicht geschieht, so liegt es nicht daran, daß er nicht klar und bekannt wäre. Auf die Frage nach dem Guten gibt es keine andere Antwort als die: Halte die Gebote, und eine andere Antwort hat Jesus auf die Frage, was man tun müsse, um ins ewige Leben zu kommen, nach den Synoptikern nie gegeben. I) Nach Jesu Urteil gibt auf diese Frage die Schrift eine vollkommen deutliche ausreichende Antwort. Besonders die Versäumnis der Liebespflicht ist damit nicht entschuldigt, daß sie unbekannt wäre. Auch in der Schärfe, in der sie Luk. 16 gefordert wird, mußte sie nach Jesu Urteil aus Moses und den Propheten bekannt sein. Jesus macht also nicht nur keinen Anspruch darauf, mit dem Liebesgebot etwas Neues zu sagen, im Gegenteil er legt Gewicht darauf, daß jeder Israelit den Willen Gottes kennen kann und muß und zwar aus der Schrift. Nicht am Wissen fehlt es nach Jesu Urteil, sondern am Wollen und Tun. Mit der Kenntnis des Willens Gottes ist nicht ,schon der Wille und die Tat da. Nach Markus antwortet Jesus auf die Zustimmung des Schriftgelehrten: "Du bist nicht weit vom Reiche Gottes." Wer das w eiß, der ist dem Himmelreich 1) Cf. Zahn zu Matth. 19, 16 ff. Lütgert, Die Liebe im N. T.
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114 nah; im Himmelreich ist der, der es tut. Nach Matthäus und Markus gibt das Gebot Antwort auf die Frage nach dem großen oder bei Markus nach dem ersten Gebot. Es ist also den Evangelisten bekannt, daß neben der Tendenz, die auf die Zerspaltung des Gesetzes hinstrebt, eine zweite steht, die nach einem behenschenden Gebot sucht. Auch diese Tendenz, die Menge der Gebote unter einer Einheit zusammenzufassen, leiten die Evangelisten nicht von Jesus ab. Schon der Schriftgelehrte fragt, was für ein Gebot ist groß im Gesetz. Er unterscheidet zwischen großen und kleinen Geboten und sucht nach einem Merkmal der großen Gebote. Nach Matthäus handelt es sich nicht um die Frage nach einem einzigen zusammenfassenden Gebot, sondern nur um das Kennzeichen, an dem ein großes Gebot als solches erkannt werden kann. Die Eigentümlichkeit der Antwort Jesu besteht nach diesem Bericht darin, daß er das Gebot der Liebe zu Gott als das eine große Gebot bezeichnet. Darum ist es das erste Gebot. Nach Markus fragt schon der Schriftgelehrte nach dem ersten Gebot. Das Gebot, mit dem Jesus antwortet, fordert Liebe zu Gott. Durch dieses Gebot ist sein eigener Wille ausgedrückt. Nicht die Furcht Gottes oder der Glaube an Gott gilt ihm als höchste Pflicht des Menschen, sondern die Liebe. Damit ist gesagt, daß sie alles andere in sich schließt; sie ist das Ganze, alles andere, Glaube, Furcht, nur ein Teil. Das Gebot bleibt bei dem, was innerlich ist, bei Herz, Seele und Sinn. Zunächst wird nicht das Werk, sondern die Liebe selbst gefordert, nicht die Tat, sondern der Wille, nicht der Dienst, sondern das Verlangen und Begehren, nicht die Furcht vor Gott, sondern die Freude an Gott. Markus und Lukas fügen noch hinzu: mit deiner ganzen Kraft. Weil er der einzige ist, so fordert er den ganzen Menschen. Daneben wird als zweites Gebot, das Gebot der Nächstenliebe gestellt. Es wird ausdrücklich als zweites bezeichnet, das neben das erste tritt. Es ist das Zweite, aber es: ist ihm gleich. Man kann auch nicht sagen, daß diese Zusammenstellung das originelle am Liebesgebot Jesu sei. Das wäre nur dann richtig, wenn die Synagoge das Liebesgebot nicht hätte_ Aber das Nebeneinander von Gottesliebe und Nächstenliebe ergibt gerade in der Synagoge die hervorgehobenen Schwierigkeiten .. Diese sind ein Beweis dafür, daß Gottes- und Menschenliebe als
115 zwei nebeneinanderstehende Pflichten angesehen werden. Dabei wird die Liebe zu Gott übergeordnet. Das kommt auch im Liebesgebot Jesu dadurch zum Ausdruck, daß das Gebot der Liebe zu Gott das erste genannt wird. Wenn Jesus das Gebot der Nächstenliebe dem der Gottesliebe gleichstellt, so ist damit freilich gesagt, daß beide einander nicht einschränken sollen. Aber eine Formel, wie beides zu vereinigen ist, gibt Jesus nicht. Das Gebot stellt nur beide Forderungen neben einander. I.
Die Kri tik de r synago galen Lie b es ü bu ng.
Matthäus stellt an die Spitze der Verkündigung Jesu nicht das Liebesgebot, sondern eine Kritik der synagogalen Liebesübung. Diese wird kritisiert, nicht etwa das alttestamentliche Liebesgebot. Jesus stellt sein Wort nicht etwa dem mosaischen entgegen, sondern er stellt es neben dasselbe. Die gesamte Kritik der Bergpredigt richtet sich nicht gegen den religiösen Standpunkt des alten Testamentes mit der Absicht, das Volk über diesen hinauszuheben, sondern mißt den Standpunkt des Volkes am Willen Gottes. Das Volk steht für Jesu Urteil in jeder Beziehung religiös und moralisch auf dem Standpunkt der Heiden, d. h. es hat nur menschliche Liebe und nicht, wie dies eigentlich möglich und notwendig wäre, göttliche Liebe. Gegen den menschlichen und also heidnischen Standpunkt des Volkes richtet sich die ganze Rede Matth. 5, 47 i 6, 7 u. 32. Mehr als heidnische, d. h. menschliche Liebe wäre ihm aber gerade darum möglich, weil es das Gesetz hat. Die Liebesübung in der Synagoge gilt ihm nicht als Erfüllung, sondern als Auflösung des Gesetzes. Gegen diese Umgehung des Gesetzes wendet sich Jesus. Das Gesetz muß ganz erfüllt werden. Dabei richtet sich Jesu Kritik gegen die Lehre und gegen die Praxis. Der Punkt, an dem seine Kritik einsetzt, ist die Unterscheidung zwischen großen Geboten, die erfüllt werden müssen, und kleinen, die umgangen werden können. Die Hemmung und Einschränkung des Bösen, die das Gesetz beabsichtigt, wird als teilweise Gestattung der Sünde aufgefaßt. Für den Pharisäismus erscheint die Sünde durch das Gesetz nicht total verurteilt und verneint, sondern begrenzt. Daß das Verbot als die Grenze erscheint, an der die er8*
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laubte Sünde beginnt, dagegen richtet sich die Polemik Jesu. Die ganze Frage, wie weit die Sünde noch gestattet sei, wird verworfen. Das Eigentümliche am Gebot Jesu ist sein absoluter Charakter. Wie er vollkommenen Glauben fordert, so fordert er auch vollkommenen Gehorsam. Mit der bösen Tat ist auch der böse Wille verurteilt, und zwar fordert Jesus keine Einschränkung und Mäßigung des Zornes, keine Herabstimmung und Dämpfung auf ein erträgliches Maß; die Voraussetzung ist also nicht etwa die, daß nur das Übermaß sündig ist, so daß der Zorn bis zu einem gewissen Grade gestattet und berechtigt wäre, vielmehr gebietet er, den Zorn vollständig fahren zu lassen. Alle Formeln über den Grad der Berechtigung des Zornes, alle Grenzbestimmungen zwischen Maß und Übermaß werden durch diese radikale Entscheidung abgeschnitten. Jesus fordert eine vollkommene Überwindung des Zornes. Mit einem Worte, Zorn ist Sünde, und jede Sünde ist Bestreitung des Gesetzes, &voftla. Jesus behandelt die Pharisäer als lJ."O!lOt. Jede Anbequemung an die schlechte Wirklichkeit und jede Rücksicht auf die Durchführbarkeit, jede Beschränkung auf das Maß des Möglichen, wird abgelehnt. Haß und Liebe sind nicht gradweise verschieden, sondern sind Gegensätze. Darum ist erst durch eine Vernichtung des Hasses, und nicht erst durch seine Einschränkung, die ganze Liebe ermöglicht. Als die ursprünglichste Äußerung des Zornes gilt nicht die Tat, sondern das Wort. Auch die Unterscheidung zwischen verbotenen Taten und erlaubten Worten wird aufgehoben. Vielmehr achtet Jesus in besonderem Maße auf das Wort. Das ist ebenfalls ein eigentümlicher Zug seiner Predigt. Er beurteilt das Wort nicht als bedeutungsloser und unwirksamer als das Werk und als die Tat, sondern als die wichtigste und einflußreichste Äußerung des Menschen. Das entspricht seiner Selbstbeurteilung. Auch den Wert seines Wortes schlägt er höher an als den seiner Tat, und diese Schätzung erwartet er auch von den Seinigen. Neben dem Grundsatz, daß nach den Werken gerichtet wird, steht der andere, daß nach den Worten gerichtet wird, Matth. 12, 34-37. Damit soll nicht etwa ein anderer Kanon ausgesprochen werden, vielmehr liegt dem die Voraussetzung zu Grunde, daß das wichtigste und wirksamste Handeln des Menschen sich durch das Wort vollzieht. Von jedem Wort muß
117 darum ebensowohl Rechenschaft gegeben werden, wie von jedem Werk. Ein schlechtes Wort wird als reelle Schädigung beurteilt. Diese Beurteilung des Wortes war für die Synagoge durch die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Geboten unmöglich gemacht. Sie lähmte den Kampf gegen den Klatsch. Jesu Urteil trifft deshalb vor allem das böse Wort. Die Verurteilung der bösen Tat gilt als selbstverständlich. Derselbe absolute Maßstab wird an die Ra ehe angelegt. Auch hier faßt die Synagoge die Einschränkung der Rache durch das alttestamentliche Gebot als eine teilweise Erlaubnis auf. Dagegen schneidet Jesu Wort jeden Versuch, zwischen erlaubter und unerlaubter Rache zu scheiden ab. Es gibt kein berechtigtes Maß der Rache, vielmehr fordert er vollkommene Geduld, ganze Bereitwilligkeit auf das Recht zu verzichten und das Unrecht zu erleiden. Auch hier wird nicht eine Einschränkung, sondern eine radikale Vernichtung der Rachsucht, ein vollständiger Verzicht auf das Recht gefordert. Das Wort zeigt, was Jesus unter Selbstverleugnung versteht. Doch ist es nicht asketisch gemeint, sondern ordnet sich dem Liebesgebot unter. Es beschreibt die vollkommene Geduld, die notwendig ist, wenn Gemeinschaft festgehalten werden soll. Ebenso urteilt Jesus über die Ver g e b u n g. Auch die Bereitwilligkeit zu verzeihen soll vollkommen sein. Das Recht, eine Grenze des Verzeihens zu ziehen und ein Maß anzugeben, wird dem Jünger abgesprochen. Die Bereitwilligkeit zur Verzeihung, wie sie in der Synagoge vorlag, drückt Petrus 18,21 aus. Das Charakteristische ist hier die Begrenzung der Vergebung. Dabei wird nach der Regel "mache einen Zaun um das Gesetz" ein möglichst hohes Maß der Geduld festgesetzt. Aber eben damit wird auch eine Grenze angegeben, bei der die Pflicht zur Vergebung aufhört. Das Urteil Jesu über diese Art der Vergebung bleibt auf derselben Linie, wie sein Gesamturteil über die Liebesübung in Israel überhaupt. Er verwirft die Begrenzung und fordert ganze, vollkommene Geduld. Hinter der Tendenz, ein Maximum des Gebotenen festzustellen, versteckt sich die Absicht, das Minimum des Notwendigen zu tun. Die Maximaltendenz und die Minimaltendenz wirken immer neben einander und ergeben die Frage: ist es nun genug? In diesem Suchen nach einer Grenze verrät sich
118 die Unwilligkeit zur Geduld. Sie ist nur durch das Gesetz erzwungen, nicht der eigene Wille des Menschen. Ist sie Wille, so ist sie ganz. Auch der Wille zum Verzeihen soll ein vollkommener, grenzenloser sein, wie Gottes Verzeihung eine grenzenlose ist. Ganze Verzeihung kann Jesus fordern, weil er ganze Vergebung gewährt, Matth. 18, 23 ff. Seine Vergebung hat nicht nur die Bedeutung, zu zeigen, was Verzeihung ist, sondern die Bereitwilligkeit zur Verzeihung zu erwecken. Denselben Willen drückt das Verbot des Richtens aus. Dabei wird jedoch nicht an die Beurteilung, sondern an die Behandlung des andern nach dem Maß seiner Schuld gedacht. Das Wort entspricht also dem Gebote der Verzeihung. Dem Verbot entspricht das Gebot. Für die Synagoge folgt aus dem Gebot der Nächstenliebe das Recht, seinen Feind zu hassen. Für Jesus gilt mit dem Verbot des Hasses das Gebot der Liebe. Darf der Feind nicht gehaßt werden, so soll er geliebt werden. Die Liebe soll nicht vom anderen abhängig sein, sondern frei, sie soll nicht durch den anderen eingeflößt werden, sondern dem eigenen Willen des Menschen entspringen. Die Liebe, die von der Gegenliebe abhängig ist, ist auch bei den Heiden und Zöllnern, d. h. bei denen, die ohne Gott sind. Sie ist etwas Menschliches, dagegen die Liebe zu den Feinden ist etwas Göttliches. So liebt Gott selbst. Als Beweis dafür wird auf die Natur hingewiesen. Durch sie teilt Gott gleichmäßig seine Gaben aus. Es ist bemerkenswert, daß Jesus das Liebesgebot wie die Glaubensforderung auf das in der Natur offenbare Handeln Gottes stützt. Schon durch sie erweist Gott seine Liebe und setzt damit die Sorge und den Haß ins Unrecht. Die Tatsache einer menschlichen Liebe erkennt Jesus an. Aber sie ist keine ganze Liebe, denn sie ist abhängig von der Gegenliebe und mißt sich an der Gegenleistung. Sie ist darum selbstsüchtig und deshalb doch wieder nicht eigentlich Liebe. Sie tut kein rrE(!WaOV, d. h. sie gibt nicht mehr, als sie empfängt. Diese Liebe ist auch möglich ohne Gott, auch die Zöllner und Heiden lieben so.
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Die vollkommene Liebe.
Vollkommene Liebe aber ist etwas Göttliches. Die göttliche Liebe ist das Vorbild der vollkommenen Liebe. Jesu Forderung lautet daher: lieben wie Gott, Matth. 5,48, vergeben wie Gott, d. h. unbegrenzt, 18, 2 I ff., barmherzig sein wie Gott, Luk. 6, 36. Göttliches und Menschliches unterscheiden sich aber nicht quantitativ und graduell, sondern qualitativ·. Liebe ist deswegen, weil sie etwas Göttliches ist, etwas V 011kommenes. 1) Diese Beurteilung der Liebe als Vollkommenheit entspricht der vollkommenen Verurteilung des Hasses. Ein Gemisch von Liebe und Haß wird nicht anerkannt. Liebe ist vollkommene Verurteilung und Verneinung der Bosheit. Sie ist ganz und gar Güte, und Haß ist ganz und gar Bosheit. Diese beiden absoluten Urteile gehören zusammen. Die Beurteilung der Liebe entspricht daher vollständig der des Glaubens. Wie nur unbedingter Glaube Glaube ist, so ist auch nur unbedingte Liebe wirklich Liebe; sie ist, wie der Glaube, entweder ganz da oder gar nicht, sie ist etwas Qualitatives. Genau wie gerade dem Senfkornglauben die ganze Macht Gottes verheißen wird, so daß die Aufmerksamkeit von seiner Größe auf seine Art gelenkt wird, so wird auch die Verheißung des Himmelreichs gerade an eine unscheinbare und geringfügige Tat geknüpft, es kommt nicht auf die Größe der Gabe und nicht auf die Zahl der Werke an, das Liebesgebot fordert in keiner Weise etwas Besonderes, was aus dem Rahmen des alltäglichen Geschehens herausfällt. Wer die einfache Tat des Samariters nachmacht, der geht ins ewige Leben ein, Luk. 10, 25 ff. Der Becher kalten Wassers, die Gabe, die auch der Ärmste geben kann, empfängt den Lohn Gottes, Matth. 10, 42. Für die einfachsten, von jedem Frommen erwarteten Liebeserweisungen, für die Speisung der Hungrigen, die Kleidung der Nackten, für die Gastfreiheit, für den Besuch der Kranken und Gefangenen werden die Barmherzigen ins Himmel1) Wellhausen bemerkt zu Matth. 5, 48: "Jesus legt kein Gewicht auf die Ausbildung der vollkommenen, gerechten und heiligen Persönlichkeit, sondern auf den Dienst des Nächsten." Allein Vollkommenheit ist eben für Jesus Liebe, wie die obige Ausführung zeigt. Sie ist ein Tüe
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reich aufgenommen, und zwar ohne daß ihnen der Wert dieser ihrer Tat zum Bewußtsein kam. Nicht auf die Größe oder Zahl der Wohltaten, sondern darauf kommt es an, daß sie wirklich Liebe sind. Darin zeigt sich der ganze Gegensatz zwischen Jesus und der Synagoge. Für die Synagoge ist das Zählen und Messen der Wohltaten wesentlich. Das hängt damit zusammen, daß die Liebe Stückwerk ist und bleibt. Daraus ergibt sich eine quantitative Schätzung der Liebe. Je größer und reichlicher die Gabe, desto größer die Liebe. Diese Beurteilung ergibt sich aus dem Verdienstgedanken. Weil für Jesus die Liebe etwas in sich Ganzes und Vollkommenes ist, so hört die quantitative Schätzung auf. Es liegt deswegen in Jesu Liebesgebot ineinander die hoch· gespannte Forderung vollkommener Liebe und die schlichteste Nüchternheit in Bezug auf das, was gefordert wird. Er fordert nichts Besonderes, nichts Neues, sondern hält sich mit wohlüberlegter Absichtlichkeit an die Forderung, die jedem jüdischen Frommen geläufig war. Es ist deswegen ein tiefgreifendes Mißverständnis, wenn man den Synoptikern den Vorwurf gemacht hat, daß sie in der Schätzung der Wohltätigkeit den Standpunkt des Judentums nicht überschritten hätten. An der jüdischen Liebesübung hat Jesus nicht etwa auszusetzen, daß sie die Form der Wohltätigkeit hat und also äußerlich ist; denn Wohltätigkeit ist ja auch für Jesus die ursprünglichste Äußerung der Liebe. Die Kritik Jesu bezieht sich vielmehr auf eine W ohltätigkeit, die nicht Liebe ist. Selbstsüchtig wird sie dadurch, daß ihr Motiv Ehrgeiz ist, Matth. 6, 2 f. Ehrgeiz und Liebe sind Gegensätze, die sich ausschließen. Die Wohltätigkeit soll im Verborgenen geübt werden, damit ist die Gefahr des Ehrgeizes überwunden. Vielleicht geht der Ausdruck, daß die linke Hand nicht wissen solle, was die rechte tut, noch etwas weiter: auch sich selbst soll der Mensch nicht zum Bewußtsein bringen, nicht vorrechnen, was er tut. l ) Schon dann, wenn er sein eigenes Bewußtsein durch seine Wohltätigkeit steigert, ist das Motiv seiner Tat Ehrgeiz und deshalb nicht Liebe. Auch die Gerichtsszene Matth. 25 legt auf die Naivetät der Liebesübung Wert. Die Bedeutung ihrer Liebesübung ist den Barmherzigen nicht zum Bewußtsein gekommen. 1) Cf. Zahn z. d. St.: "daß nicht einmal ihnen selbst bewußt wird, wie viel und wie oft sie Gutes tun."
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Nur eine ganz unreflektierte Wohltätigkeit ist Liebe. Jede Reflexion, durch welche die Tat einen anderen Grund bekommt als den, dem anderen zu helfen, nimmt ihr den Charakter der Liebe. Wer gibt, um zu empfangen, dessen Geben ist kein Lieben, sondern Selbstsucht. Nur die Gabe, die dem Geber nichts einträgt, ist Liebe, Luk. 14, 12ff. Jede andere Liebe hat ihren "Lohn dahin". Nicht darin liegt für sie die Erhabenheit Jesu über die Synagoge, daß er andere, vielleicht feinere und tiefere Forderungen aufgestellt hätte; er hat überhau pt an der Synagoge nicht auszusetzen, daß die feineren und tieferen Gebote Gottes unverstanden und unerfüllt bleiben, sondern, genau wie der Täufer, daß die großen und einfachen Grundgebote nicht erfüllt werden. Darum bleibt auch für ihn der erste Erweis der Liebe, genau wie für die Synagoge, die Wohltätigkeit. Freilich verlangt Jesus das Wohlwollen, aber ein Wohlwollen ohne Wohltat gibt es für ihn nicht. Auch da, wo dem Wesen der Sache nach Wohltat unmöglich ist, wie bei der Feindesliebe, wird als einfachste und doch umfassende Äußerung des Wohlwollens die Fürbitte genannt. Aber im allgemeinen äußert sich für Jesus das Lieben im Geben. Auch hier besteht das Charakteristische des Gebotes ]esu einfach darin, daß er ein ganzes Geben fordert. Das Vorbild für das menschliche Geben ist das göttliche. Der Regel: Bittet so wird euch gegeben, entspricht die andere: Gib dem, der dich bittet. Die göttliche Liebe erweist sich in einem Geben, das nur am Bitten seine Bedingung hat und gerade wegen der Dreistigkeit der Bitte gibt, und in einer Bereitwilligkeit zum Geben und einer Freude daran, die die Bitte erwartet und fordert. Aus diesem Willen Gottes zum Geben entspringt der Wille ]esu, und er entspricht ihm; und daran soll sich auch die menschliche Bereitwilligkeit zum Geben messen. Nach ]esu Urteil hat man, um zu geben; so beurteilt er den Besitz. Die Worte über das Geld entsprechen genau denen über die Wohltätigkeit. Die Beurteilung des Reichtums ist die Kehrseite des Urteils über die Wohltätigkeit. Zum Geben gehört das Verzichten und Entsagen. Jesus fordert nicht Verzicht auf den Besitz, nie wird das als allgemeiner Grundsatz ausgesprochen. Er ist auch in dieser Beziehung nicht Asket. Das ist auch nicht der Sinn des Wortes Matth. 19, 2I. Trotzdem steht dieses Wort keineswegs isoliert unter den Worten ]esu, so daß es ein dunkles
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Rätsel wäre oder gar einen Wendepunkt in der Predigt Jesu verriete. Daß der, der ihm nachfolgen will, alles preisgeben muß, hat Jesus von Anfang an gefordert, Matth. 4, 20 und z. T. in weit härterer Form Matth.8, 19-22. Darin, daß der Jüngling dies kann, würde sich eben zeigen, daß er wirklich, wie das Gesetz fordert, Gott liebt. Denn in der Liebe zu Jesus kommt ja nach Jesu Meinung die Liebe zu Gott zum Vorschein. Das Wort gehört also in die Reihe derjenigen Worte, in denen die Liebe zu Jesus über jedes andere Interesse gestellt wird, und es ist nicht das stärkste in dieser Richtung. Man darf deshalb auch nicht sagen, daß "der Gedanke des opus supererogatorium und des consilium evangelicum in 19,12 durchschimmere". 1) Die ganze Liebe (das "6Aewv) zeigt sich für Jesus immer darin, daß ihre Kehrseite, die ganze Bereitwilligkeit zur Entsagung, die Selbstverleugnung, da ist. Eine eigenwillige Askese im Dienste der Tugendübung fordert Jesu niemals. Der Jüngling soll sein Geld nicht deshalb fortgeben, weil das nach einer allgemeinen Regel notwendig ist, sondern weil Jesus es von ihm fordert. Damit würde er die Vollkommenheit seiner Liebe zu Gott beweisen. Aber der Verzicht auf das Geld hat so wenig wie der auf das Recht in sich seinen Zweck, sondern er gehört zur Liebe als deren Bedingung: zum Geben gehört das Entbehren. Der Reichtum gilt ihm als Gefahr, aber nicht als Sünde. Liebe zu Gott und Liebe zum Geld schließen sich aus. Die Liebe zum Geld verzehrt die Liebe zu Gott, und sie wird dadurch überwunden, daß die Liebe zu Gott entsteht, Matth. 6, 24. Auch in diesem Worte wird es wieder deutlich, daß Jesus nur einen ga n zen Willen anerkennt. Wogegen er kämpft und zu kämpfen hat, das ist nicht die totale Bosheit, sondern die Halbheit, der Versuch, Gegensätze mit einander zu vereinigen. Für Jesus ist das nicht etwa nur verboten, sondern es ist unmöglich, eben weil die menschliche Liebe eine unteilbare Einheit, etwas Ganzes ist, was Gott eben dadurch entzogen wird, daß es dem Geld gewährt wird. Und zwar ganz entzogen wird damit Gotte die Liebe: liebt man das Geld, so haß t man Gott. Diese Gefahr zu überwinden, ist nur für Gottes Allmacht möglich. Zur Gefahr wird der Reich1) Wellhausen z. d. St.
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turn dann, wenn er selbstsüchtig genossen wird, wenn aus dem Haben kein Geben wird. Dies wird in dem Gleichnis Luk. 16, 19ff. dargestellt. Daß der Reiche in die Hölle kommt, wird als eine Tatsache erzählt, die durch die vorangehende Erzählung ausreichend motiviert ist. Dies bedarf für Jesus keiner weiteren Begründung. Mit wohlüberlegter Absicht wird keine positive Sünde des Reichen genannt, damit einzig die Schuld hervortritt, die ihn in die Hölle gebracht hat. Auch das Wort Abrahams soll dies Urteil nicht begründen; denn die Bitte des Reichen hat nicht den Sinn, das Urteil anzufechten. Das Urteil gilt als ein in sich vollkommen begründetes. Weil der Reiche seinem Genuß gelebt hat und den Armen bei den Hunden auf der Gasse hat liegen lassen, so wird ihm auch die geringste Linderung seiner Pein versagt. Wegen seiner Lieblosigkeit verfällt er der ewigen Pein. Genau dasselbe Urteil wird Matth. 25 gefällt. Den Verworfenen werden nicht die Sünden vorgeworfen, die sie getan haben, sondern die Liebe, die sie unterlassen haben. Da in ihrem Leben keine Liebe ist, so kommen sie in das Feuer, das den Teufeln und seinen Engeln bereitet ist. Das Urteil ist genau so scharf und genau so begründet wie Luk. 16. In der Beurteilung der Wohltätigkeit unterscheiden sich beide Evangelien nicht. Vom rechten Gebrauch des Geldes spricht das Gleichnis Luk. 16, I ff. Die Lage des Menschen ist der des Haushalters vergleichbar, der seine Stellung noch inne hat, dem sie aber schon gekündigt ist. So steht auch der Mensch zu seinem Besitze. Noch hat er ihn, aber mit seinem Tode verliert er ihn. Darum fordert schon die Klugheit, das Geld dazu zu benutzen, um sich Freunde zu machen. Das Geben ist der kluge Geldgebrauch. Auch hier wird an die Wohltätigkeit unmittelbar die Aufnahme ins Himmelreich geknüpft. Freunde, die man sich durch Wohltätigkeit erworben hat, nehmen in die ewigen Hütten auf. Auch dieser Gedanke wiederholt sich Matth. 25. Um der Wohltätigkeit willen nimmt der König die zur Rechten ins Himmelreich auf. Der Grundgedanke bleibt immer derselbe. Was Gott will, ist Liebe. Nicht die Sünde, die die einen taten, bringt sie in die Verdammnis. Verdammt wird wegen der Lieblosigkeit, und ins Himmelreich aufgenommen nicht wegen der Sündlosigkeit, sondern wegen der Liebe. Darum liegt im Gericht nach der
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Liebe Gnade. Um der Liebe willen werden die Sünden verziehen. Damit kehrt die Regel wieder, die Jesus Luk. 7 ausspricht: "Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, weil sie viel geliebt hat." Das ist bei den Synoptikern ein feststehender Grundsatz. Die Barmherzigen erfahren Barmherzigkeit Matth. 5,7, wer vergibt, dem wird vergeben, und wer nicht vergibt, dem wird nicht vergeben 6, 14 f.; 18, 22 ff., wer nicht richtet, wird auch nicht gerichtet werden 7, 1 f. Der Liebe gehört die Gnade. Dieser Grundsatz tritt in der Predigt Jesu noch mehr in den Vordergrund als die Verbindung von Glaube und Gnade. Die Erweckung der Liebe ist sein letztes und höchstes Ziel, und eben weil Liebe Ziel seiner Liebe ist, so ist anderseits auch seine Liebe von der menschlichen Liebe abhängig. Diesen Wert, der mit dem Himmelreich belohnt wird, hat die Liebe nicht in sich. Es kommt Jesus nicht nur darauf an, daß überhaupt geliebt wird. Denn neben dem Liebesgebot steht ja zugleich der Kampf Jesu gegen die falsche Liebe. Die Liebe bekommt ihren Wert, ihre Wirkung und Bedeutung durch den, der geliebt wird. Sie ist genau so viel wert wie ihr Objekt. Weil die Sünderin Je s u s liebt, so sind ihr ihre Sünden vergeben. Ebenso wird Matth. 25 der Wert erklärt, der der unscheinbaren Liebesübung gegeben wird. Weil die Liebe Jesu erwiesen ist, darum bringt sie ins Himmelreich. Das Urteil ist ganz dasselbe wie Luk. 16. Die Freunde, die man durch Liebe gewinnt, nehmen ins Himmelreich auf: so nimmt Jesus für die ihm erwiesene Liebe ins Himmelreich auf. Ebenso wird der Becher kalten Wassers mit dem Himmelreich belohnt, weil er dem Boten Jesu gegeben wird. Dabei wird aber dieser Zusammenhang zwischen der Liebesübung und Jesus nicht etwa als bewußtes Motiv in den Barmherzigen selbst vorausgesetzt. Das wird dadurch ausgeschlossen, daß sie sich der Bedeutung ihrer Tat ausgesprochenermaßen nicht bewußt sind. Ihre Barmherzigkeit war vollkommen naiv, und darauf wird gerade Wert gelegt. Sie entsprang nicht einer Reflexion, sondern der Liebe und zwar der Liebe zu den Elenden. Damit ist der Verdienstgedanke aus dem Motiv der Barmherzigkeit ausgeschlossen. Der Zusammenhang zwischen der Liebe und Jesus ist nicht subjektiv, liegt nicht im Bewußtsein der Barmherzigen, sondern er ist objektiv, er liegt im Willen Jesu.
125 Er liegt darin, daß Jesus die Elenden als seine Brüder anerkennt. Weil er die liebt, denen die Liebe erwiesen ist, so liebt er auch die, die sie erwiesen haben. Die Liebe zu Jesus und zu denen, die er liebt, ist des Himmelreichs wert. Die Frage, wem die Liebe gilt, beantwortet die Erzählung Luk. 10, 25 ff. Nach dem Gesetz gilt sie dem Nächsten. Die Meinung, als sei die Liebespflicht nicht klar bestimmt, erkennt Jesus ebensowenig an, als er überhaupt zugesteht, daß an dem Fehlen der Liebe das Gesetz schuldig sei. Die Erzählung vom barmherzigen Samariter soll zeigen, wie das Gebot der Nächstenliebe erfüllt wird. Die Umkehrung der Fragestellung am Schluß ist zu auffallend, als daß sie absichtslos sein könnte. 1) Die Antwort, zu der Jesus durch seine Fragestellung den Schriftgelehrten nötigt, lautet: "Der, der die Liebe übt, ist der Nächste dessen, der sie erfährt." Das Eigentümliche dieses Gedankens liegt nicht nur darin, daß der Geber statt des Empfängers der Wohltat der Nächste genannt wird, sondern vor allem darin, daß gesagt wird, durch die Liebesübung wird der Samariter dem anderen zum Nächsten. Darum wird der Samariter gewählt. Von Natur ist er nicht der Nächste des Kranken, allein durch seine Liebe macht er sich dazu, während Priester und Levit, weil sie dem Kranken nicht helfen, nicht seine Nächsten sind. Der Sinn der Antwort ist also: Nicht die natürliche Verwandtschaft, sondern Liebe macht zum Nächsten, Liebe verbrüdert. Diese Antwort auf die Frage soll den Schriftgelehrten auf die Gefahr aufmerksam machen, die in der Frage selber liegt. Tritt vor die Liebesübung die Frage, wer sie zu fordern berechtigt ist, so entsteht die Gefahr, daß darüber die Liebe unterbleibt. Daraus folgt derselbe Mißbrauch des Liebesgebots, der in der Bergpredigt bekämpft wird: die im Gebot ausgesprochene Bestimmung der Liebe wird als Beschränkung aufgefaßt. Aus dem Gebot der Nächstenliebe zieht der Schriftgelehrte den Schluß, daß er· sich zu hüten habe vor einer Liebe zu jemand, der nicht sein Nächster ist. Über diesem Zweifel unterbleibt die Liebesübung dann ganz. Die Erzählung gibt daher auf die Frage, wer die Liebe zu fordern habe, die Antwort: jeder Bedürftige, den man trifft; indem man ihm hilft, macht 1) Wie
J.
Weiß z. d. St. meint.
126 man ihn zum Nächsten. Von Natur wären Juden und noch dazu Priester und Leviten die Nächsten des Verwundeten gewesen, in der Tat wird es der Samariter, der es von Natur nicht ist. Auch in der Erzählung vom Reichen und Lazarus wird die Verdammnis des Reichen dadurch begründet, daß Lazarus vor seiner Tür lag. Damit war dem Reichen die Pflicht zum Helfen nahegelegt. Beständig hebt Jesus hervor, daß die Gelegenheit zur Erfüllung des Liebesgebotes nicht gesucht zu werden brauche. Sie ist jedem in den Hilfsbedürftigen gegeben, die ihm nahe liegen. Liebe ist darum eine einfache Pflicht, die ohne künstliche und schwierige Überlegungen klar ist. Neben die Wohltätigkeit stellt Jesus als zweite Äußerung der Liebe die Ver g e b u n g. Von ihr wird in derselben Weise wie von der Wohltätigkeit die Gnade Gottes abhängig gemacht-. Die Barmherzigen erfahren Barmherzigkeit Matth. 5, 7. Wer vergibt, dem wird vergeben, und, wer nicht vergibt, dem wird nicht vergeben 6, 14; 18, 35. Auch die Forderung der Vergebung gilt den Evangelisten nicht als ein neues Gebot Jesu: das Originelle ist vielmehr auch hier der absolute Charakter des Gebotes. Diese Forderung wird bei Matthäus motiviert durch das Gleichnis 18,23 ff. Das Gleichnis soll die Forderung nicht nur aussprechen, sondern begründen; es zeigt die Schuld, die in der Härte liegt. Denn daß Härte Schuld ist, dies behauptet Jesus nicht nur, sondern er zeigt es auch. Er schilt nicht nur über die Härte, sondern erkennt die in der Verzeihung liegende Schwierigkeit an. Sie liegt darin, daß der, der verzeiht, auf sein Recht verzichten muß. Daher dient der Knecht, der eine Forderung hat, zum Vergleich. Nach Jesu Wort gebietet nun Gott nicht einfach die Vergebung, sondern er erweckt die Bereitwilligkeit zu ihr. Zur unverzeihlichen Schuld wird die Härte erst dadurch, daß der Jünger unendliche Gnade empfangen hat. Deswegen kann auch unerschöpfliche Geduld von ihm erwartet werden. Und nicht nur den Willen Gottes zur Gnade nennt das Gleichnis als Motiv des menschlichen Erbarmens, sondern die Tat. Durch die gnädige Tat Gottes wird die Härte des Menschen zur Schuld, und zwar zeigt das Gleichnis, daß auch in der Gnade Gottes ein Verzicht auf sein Recht liegt. Darum kann er auch vom Menschen Verzicht auf sein Recht fordern. Da das Gleichnis das Gebot der Verzeihung auf eine positive
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Tat der göttlichen Gnade gründet, so ist es so wenig wie irgendein anderes Gleichnis die Darstellung einer allgemeingültigen Wahrheit, sondern Jesus erläutert durch dasselbe den Sinn und das Ziel seiner eigenen Gnade. Er lehrt nicht nur die Gnade Gottes, sondern er übt sie. Wie immer, so bezeichnet auch durch dieses Gleichnis Jesus seine Gnade und Geduld als Gottes Geduld. Darum nennt Matthäus mit Recht dies Gleichnis ein Gleichnis vom Himmelreich. Der Verzicht auf das Gericht durch die Gnade, die Jesus übt, wird verglichen mit der Gnade des Königs. Der König, der auf sein Recht verzichtet und Gnade übt, ist das Bild des Christus. Das Gleichnis soll also zeigen, daß Jesus darum berechtigt ist, unendliche Geduld zu fordern, weil er und durch ihn Gott unendliche Geduld übt. Jesus spricht nicht nur als einer, der die Liebe fordert, sondern als der, der sie durch seine eigene Liebe weckt. 3. Der Die n s t Gott e s. Wohltätigkeit und Vergebung sind aber weder die einzigen noch die höchsten Formen der Liebesübung, die Jesus von den Seinigen fordert j wie seine eigene Liebe darüber hinausgeht und ihr Ziel in der Aufnahme ins Himmelreich hat, so gibt er auch den Seinigen ein höheres Ziel. Seine Jünger sind seine Diener, sie sind nicht nur seine Gemeinde, nicht nur die Empfcinger seiner Liebe, sondern die Organe seiner Arbeit, nicht nur die Empfci.nger seines Wortes, seine Gläubiger, sondern die Überbringer seines Wortes, seine Boten. Ihre Liebe zu Jesus soll zum Dienst werden, und dieser besteht darin, die Arbeit Jesu fortzusetzen. Schon in dem Wort, mit dem Jesus die Jünger beruft, spricht er dies aus: er beruft sie, um sie zu Menschenfischern zu machen. Das Wort ist vom messianischen Bewußtsein getragen. Die Menschen gelten Jesus als sein Eigentum, und die Aufgabe der Jünger besteht darin, sie ihm zu sammeln. Das ist der Dienst, den sie Jesus zu leisten haben, und zugleich der höchste Liebeserweis an den Menschen. Indem sie die Menschen in Jesu Besitz bringen, bringen sie sie in Gottes Reich. Sie haben in keiner Weise ein sachliches Ziel, ihre Aufgabe liegt nicht im Lehren oder in Institutionen, sondern sie ist höchst persönlich, Jesus gibt
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ihnen ihr Ziel in den Menschen, sie zu gewinnen ist ihr Beruf. Die ganze Erziehung der Jünger bei den Synoptikern hat den Zweck, sie zu dieser Aufgabe auszurüsten. Daher werden die Gleichnisse Matth. 13, die von Kraft und Ziel, Bedingungen und Schwierigkeiten, Erfolg und Mißerfolg der Arbeit Jesu reden, nur zu den Jüngern gesprochen. Indem Jesus von den Regeln seiner Arbeit spricht, spricht er auch von den Gesetzen ihrer Arbeit. Der Ruf ins Himmelreich ist für Jesus nicht nur ein Ruf zur Freude, sondern ein Ruf zur Arbeit. Zwei traditionelle, stehende Bilder für das Himmelreich kehren in den Reden Jesu immer wieder: das Bild von der Hochzeit und das Bild vom Weinberg. Das eine beschreibt das Himmelreich als Freude, das andere als Arbeit, vgl. Matth. 20, 1 ff.; 21, 28 und 33 ff. Durch die Berufung ins Himmelreich gibt Jesus nicht nur Gottes Gnade, sondern er stellt auch in Go t t e s Die n s t; beides gehört für ihn untrennbar zusammen. Auch die Berufung zum Dienst tritt unter den Ge· sichtspunkt der Liebe. Die höchste Gabe der Gnade Gottes ist ein Beruf; zur Arbeit im Himmelreich beruft Jesus daher in dem Bewußtsein, damit eine große Wohltat zu erweisen. Er erlöst damit von dem ziel- und zwecklosen Leben und gibt einen Zweck, der über der Selbsterhaltung liegt. In der Welt ist die Selbsterhaltung das höchste Gesetz und das höchste Ziel. Dagegen die von Jesus Berufenen bekommen damit ein Ziel, in dessen Dienst sie ihr Leben verbrauchen, Matth. 16, 24 ff. Denn in diesen Worten handelt es sich nicht um Askese, sondern um diejenige Selbstverleugnung, die die Bedingung des Dienstes Christi ist. Durch diesen Dienst bekommt der Mensch ein außer ihm und über ihm liegendes Ziel. Indem er sein Leben an dieses setzt und damit seinen Zweck über sich hinaus verlegt, gewinnt er zugleich sich selbst. In allen Worten Jesu, welche von Arbeit sprechen, wird nicht an irgendwelche Arbeit gedacht, denn ihren Wert und ihre Bedeutung bekommt die Arbeit durch ihr Ziel. Die Gleichnisse sprechen von derjenigen Arbeit, welche im ,;Himmelreich" geschieht, d. h. welche Dienst Gottes ist. Indem Jesus in den Dienst Gottes beruft, beruft er ins Himmelreich. Als Dienst Gottes aber wird nur diejenige Arbeit angesehen, die für Menschen und an ihnen geschieht. Ohnehin beurteilt ja Jesus, wie Matth. 25, 31 ff. zeigt, jede Liebesübung, auch die
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einfache Wohltätigkeit, als einen ihm persönlich geleisteten Dienst, der erst durch die Beziehung auf ihn seinen Wert bekommt. Jeder den Menschen geleistete Dienst ist ein Jesus geleisteter Dienst und damit ein Gottesdienst Aber in den Gleichnissen, die von der Arbeit im Himmelreich sprechen, handelt es sich um einen Dienst Gottes, der mit dem Bewußtsein, daß es ein solcher ist, getan wird. Zu einer solchen Arbeit, durch die der Mensch zum Organ Gottes wird, beruft Jesus durch den Ruf ins Himmel· reich. Im Gleichnis Matth. 21, 33 ff. stellt Jesus den Dienst Gottes in Gegensatz zur Arbeit des Menschen für sich selbst Die Gemeinde, zu der er gesandt ist, arbeitet für sich selbst, und wie alle Boten Gottes hat er den Zweck, Arbeit für Gott zu fordern, d. h. aus der selbstsüchtigen Arbeit den Dienst Gottes zu machen. Matthäus stellt an den Beginn der Predigt Jesu die heiden Gleichnisse vom Salz der Erde und vom Licht der Welt. Wie das Salz nicht für sich selbst da ist, sondern zum Salzen, und das Licht nicht für sich selbst, sondern zum Leuchten, so ist auch der Jünger Jesu nicht für sich selbst da. Das Wort gilt nicht in abstrakter Allgemeinheit, sondern es gilt denen, die Jesu Wort empfangen. Auch hier ist deutlich, daß es auf dem messianischen Bewußtsein ruht; denn es hat einen universalen Horizont. Salz der Erde und Licht der Welt werden die Jünger nur durch Jesus, da er selbst einen über die Erde und Welt gehenden Beruf hat. Diesen überträgt er auf die Seinigen; nicht für sich selbst, sondern für die Erde und die Welt sind sie da. Sie sind .zum Wirken bestimmt, wie das Salz zum Salzen und das Licht zum Leuchten. Was sie durch Jesu Wort empfangen, das sollen sie geben. Dies tun sie dadurch, daß sie gute Werke tun, d. h. daß sie Liebe üben; daß der Ausdruck diesen feststehenden Sinn hat, zeigt der Erfolg, der daran geknüpft wird. Gute Werke sollen sie dazu tun, damit Gott vor den Leuten gepriesen wird. Das Wort gibt den Jüngern dasselbe Ziel, das Jesus mit seiner .eigenen Tat verfolgt. Auch er will durch seine Liebe Dankbarkeit gegen Gott erwecken, Luk. 8, 39, der Ehre Gottes dienen, Luk. 17, 18, und diesen Zweck erreicht er auch, Matth. 9, 8; IS, 31; Luk. 13, 13; S,2S; 17, ISi 18,43. Wie Jesus nicht für sich selbst und seine eigene Ehre wirkt, sondern für Gott und Gottes Ehre, so haben auch die Seinigen ihr Ziel erst dann erreicht, Lütgert, Die Liebe im N. T.
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13° wenn sie Dankbarkeit gegen Gott geweckt haben. Für Gott wirken sie darum, weil sie in seiner Kraft wirken, und aus ihm stammen ihre guten Werke darum, weil sie durch Jesu Wort dazu befähigt sind. Durch sein Wort befähigt Jesus zu einem solchen Dienst an den Menschen, der zugleich ein Dienst Gottes ist. Jndem er sie dazu befähigt, beauftragt er sie damit. Was. sie von Jesus empfangen, empfangen sie nicht, um es für sich zu behalten, sondern um es weiter zu geben. In der Gabe liegt die Aufgabe. Das Bild vom Salz drückt einen noch weiter gehenden Gedanken aus: wie Salz, das seinen Salzgehalt verloren hat, nicht mehr gesalzen werden kann, sondern ganz wertlos geworden ist, so ist auch ein Jünger, der nicht wirkt, unrettbar verloren. Damit ist die entscheidende Bedeutung ausgesprochen. die Jesus dem Wirken gibt. Unheilbar ist das Verderben, dem der tatlose Jünger Jesu verfallen ist, eben darum, weil für Jesus in seinem Worte der höchste Antrieb und die vollständige Ausrüstung zur Tat liegt. Hat ihn Jesus nicht zum Täter gemacht, so gibt es nichts, was ihn zur Tat erwecken könnte. Der höchste Antrieb ist damit verbraucht. l ) Dieses Urteil hängt mit dem Selbstbewußtsein Jesu unauflöslich zusammen. Es folgt daraus, daß für ihn sein Wort die größte Macht und Gabe ist, über die hinaus es nichts Höheres mehr gibt. Der Gedanke ist dadurch gesichert, daß er in den Evangelien nicht allein dasteht; denn mit demselben Gedanken schließt die Unterweisung der Jünger bei Matthäus 25, 14 ff. Schon der Platz, den Matthäus diesem Gleichnis gibt, ist zu beachten: es. steht vor der Gerichtsszene und ist eine Parallele zu ihr. Das letzte Wort Jesu zeigt, was er im Gericht von den "Völkern" fordert, vorher geht das Gleichnis, das darstellt, was er von seinen Jüngern erwartet. Beide zeigen den Maßstab, nach dem er richtet. Nach der Liebe werden beide gerichtet, und beide Male wird die Verwerfung nicht mit der Sünde begründet, die geschehen ist, sondern mit dem Liebesdienst, der unterlassen ist. Verschieden ist nur die Art des Dienstes, der von beiden erwartet wird. Beide Male besteht die Liebe darin, daß man gibt, was man hat. Die 1) Zahn bemerkt treffend: "Was die s e Menschen zur Jüngerschaft macht, ihr Verhältnis zu Jesus und ihr dadurch bestimmtes Verhältnis zu Gott, eben das. befahigt sie auch zur Wirkung auf die übrige Menschheit."
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Völker werden nach der Wohltat gerichtet, die sie getan haben. Das erste Gleichnis bestimmt den Jüngern ihren Dienst. Es spricht nicht von der natürlichen Begabung des Menschen, denn es behandelt die Frage, wozu die Gabe Jesu sie verpflichtet. Es wäre verkehrt, nach Einzelheiten zu fragen, deren Bild die Talente sind. Nicht einzelnes, sondern alles, was er selbst hat, gibt Jesus den Seinen. Er gibt ihnen Anteil an dem gesamten Besitz. der seinen eigenen Reichtum bildet. Darin besteht die Vollkommenheit seiner Liebe. Dabei betont Matthäus durch die Form, die er dem Gleichnis gibt, daß der Anteil an Jesu Gabe verschieden ist; er richtet sich nach der Kraft, die jeder hat. Jesus ignoriert die natürliche Begabung des Menschen nicht, sondern nimmt sie als eine Tatsache hin, die bleibende Bedeutung hat. Die Leistung entspricht der Gabe, die Tat der Kraft. So viel der Jünger empfangen hat, so viel wirkt er auch. In der Form, die Lukas dem Gleichnis gibt, tritt ein anderer Gedanke hervor. Er nennt eine kleinere Summe, um die äußere Unscheinbarkeit der Gabe Jesu darzustellen, ähnlich wie in den Gleichnisreden Matth. 13 durch die Bilder die Unscheinbarkeit des Wirkens Jesu hervorgehoben wird. Nach Lukas ist ferner die Gabe Jesu an alle Knechte die gleiche. Sie alle empfangen Jesu Wort. Dagegen ist das Ergebnis ihrer Arbeit verschieden. Lukas drückt damit aus, daß es Jesus nicht auf die Größe des Erfolges ankommt, sondern darauf, ob überhaupt Arbeit und ein Werk da ist. Mag das Ergebnis klein oder groß sein, es wird belohnt. Freilich richtet sich der Lohn und die Stellung des Jüngers im Himmelreich nach dem Ergebnis seiner irdischen Arbeit. Allein bestraft wird nur der Knecht, der keine Arbeit getan hat. Darin stimmen beide Formen des Gleichnisses mit einander überein. Die Differenzen in der Erzählung der Parabel zeigen die Verschiedenheit der Interessen, durch die die Erzähler geleitet sind. Matthäus hebt die Größe der Gabe hervor: groß ist sie nach ihrem wahren Wert, Lukas ihre äußere Unscheinbarkeit. Die Tatsache, daß der Erfolg der Arbeit ein verschiedener ist, erkennen beide an; Matthäus hebt hervor, daß die Leistung der Gabe entspricht und die Gabe der Kraft; Lukas stellt den Unterschied einfach als Tatsache dar, ohne ihn zu erklären. Matthäus drückt durch die Art, wie er die Belohnung der Knechte erzählt, aus, daß es Jesus nur auf die Treue 9·
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des Dienstes ankommt: alle Knechte erhalten den gleichen Anteil an der Freude des Herrn. Während bei Lukas die Gabe die gleiche ist, ist bei Matthäus der Lohn der gleiche. Nach Lukas übersteigt der Lohn die Leistung bei weitem, aber er richtet sich nach ihr. Darum spricht Lukas nicht von der Freude, die der Kneoht erhält, sondern von der Arbeit, zu der er im Himmelreich berufen ist. Diese Differenzen zeigen, unter wie verschiedenen Gesichtspunkten die beiden Evangelisten die apostolische Arbeit betrachten. Es ist lehrreich, aus dem Gleichnis die Reflexionen zu erkennen, die der verschiedene Erfolg der Arbeit in ihnen erweckt j aber der Grundgedanke des Gleichnisses ist bei beiden derselbe. Das Urteil des Herrn über den trägen Knecht und das Motiv der Trägheit stellen beide übereinstimmend dar. Das Ziel des Gleichnisses ist bei beiden, zu zeigen, daß die Jünger alles, was sie von Jesus haben, dazu erhalten haben, um damit zu wirken. Diese Wirksamkeit wird in dem Gleichnis nicht unter dem Gesichtspunkt einer den Menschen erwiesenen Liebe, sondern als ein Jesu geleisteter Dienst dargestellt. Die Gefahr, vor der das Gleichnis warnt, ist das Unterlassen dieses Dienstes, die Trägheit, die nicht arbeiten will. Um dieser Trägheit willen wird der Knecht verurteilt j weil es Jesus auf Liebe ankommt, so erwartet und fordert er Tat und Arbeit, und schon das Ausbleiben der Arbeit begründet die Verwerfung des trägen Knechtes. Die Worte, die die Evangelisten dem Knechte in den Mund legen, sind natürlich kein Luxus, der nur in der poetischen Freude am Ausmalen seinen Grund hätte: genau wie im Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus und wie Luk. 15, kommt der Verurteilte darum zu Worte, weil Recht und Grund des Urteils ausgesprochen werden soll. So sollen auch hier die Worte des trägen Knechtes das Motiv aufdecken, um deswillen die Arbeit unterbleiben kann. Der Herr, der die Knechte für sich arbeiten läßt, erscheint dem Knecht als hart. Der Grund seiner Trägheit ist Furcht, er fürchtet sich davor, daß ihm der Ertrag seiner Arbeit genommen werden soll. Für einen anderen mag er nicht arbeiten, und daher arbeitet er garnicht. Erscheint dem Knecht die Forderung des Herrn, für ihn zu arbeiten, als Härte, so verrät er damit seine Lieblosigkeit. Trägheit und Furcht stammen aus der Unwilligkeit zur Liebe. Für den lieblosen Knecht ist die Forderung des Herrn in der
I33 Tat eine Härte, dem Lieblosen muß er lieblos erscheinen. Die Bereitwilligkeit zu einem Dienste, wie Jesus ihn fordert, ist freilich nur dem möglich, der ihn liebt. Jesus ist sich dieses Anscheines von Härte, der für den Liebosen zur wirklichen Härte wird, sehr wohl bewußt. Das zeigt das Gleichnis Luk. I7, 7 ff. Es beschreibt die Dienstwilligkeit, die Gott und darum Jesus verlangt. Er behandelt die Seinen wirklich als Knechte, die zu nichts anderem da sind als dazu, ihm zu dienen, und deren Dienst er daher als etwas Selbstverständliches hinnimmt. Der Knecht ist um des Herrn willen da. Wie Jesus den Dienst ansieht, so sollen ihn auch die Jünger ansehen, als eine selbstverständliche Pflicht. Ist ein solcher Dienst ihr eigener Wille, so ist die Liebe da, die Jesus zu erwarten berechtigt ist. Dagegen muß die Forderung, nicht für sich selbst, sondern ganz fur den Herrn zu leben, so lange als Härte erscheinen, als nicht die Liebe da ist, die diese Dienstwilligkeit in sich schließt. Diese Liebe, die vollkommene Dienstwilligkeit ist, soll das Gleichnis beschreiben; es zeigt, daß durch sie die Lohnsucht überwunden ist. Lohnsucht und Liebe schließen sich aus. Nicht etwa den Lohngedanken bekämpft Jesus, er wird ausdrücklich aufgenommen, anerkannt und verwertet. Einen Dienst, der keinen Lohn findet, kennt er nicht. Damit wäre die Liebe Gottes geleugnet. Weil Gott liebt, so lohnt er mit göttlicher Vollkommenheit; den, der liebt, liebt er und belohnt die unscheinbare menschliche Liebe mit ganzer göttlicher Liebe. Schon dadurch, daß jeder Dienst ohne Rücksicht auf seine Größe mit dem Himmelreich belohnt wird, dadurch, daß also die quantitativen Maßstäbe in der Beurteilung der Liebe abgelehnt werden, wird freilich nicht der Lohngedanke, aber der Verdienstgedanke ausgeschlossen. Wird die Liebe um des Lohnes willen geübt, so ist sie selbstsüchtig und eben darum nicht Liebe. Nicht um ihrer Schwäche und ihrer Geringfügigkeit willen verurteilt Jesus die Liebe, sondern um deswillen, was an ihr Selbstsucht und darum Lieblosigkeit ist. Die Wohltätigkeit und der Dienst, der um des Lohnes willen geübt wird, hat im Menschen selbst Grund und Ziel und ist darum egoistisch, Liebe und doch nicht Liebe. Nur ein Dienst, der lediglich um des anderen willen geschieht, ist wirklich Liebe, während die Reflexion auf den Lohn aus der Wohltätigkeit und dem Dienst die Liebe ausschaltet.
134 Für Jesus ist darum der Erfolg nur desjenigen Dienstes Lohn, dessen Motiv nicht der Lohn, sondern Liebe ist. Darum wird die Überraschung derer hervorgehoben, deren Wohltat mit dem Himmelreich belohnt wird. Schon darin, daß Jesus den Dienst zum Himmelreich rechnet, wird eine Schätzung der Arbeit ausgesprochen, die sie nicht als Last, sondern als Freude ansieht und schon die Berufung zum Dienst als Wohltat erkennt. Die entgegengesetzte Gesinnung, die um Lohn dient und darum den Dienst selbst als Härte beurteilt, wird auch am ältesten Sohn, Luk. 15, und an den murrenden Arbeitern, Matth. 20, I ff., geschildert. Als Freude kann der Dienst nur dann erscheinen, wenn er aus Liebe getan wird, während mit dem Verschwinden der Liebe die Lohnsucht hervortritt. Eine andere Gefahr, die durch das Ausbleiben der Liebe mit dem Dienste Christi verbunden ist, zeigt das Gleichnis, Matth. 24, 45 ff. Das Gleichnis stellt dar, daß die Jünger dadurch Jesus zu dienen haben, daß sie die Seinigen versorgen. Sie dienen Jesus an den Seinigen. Die Gefahr ihrer Stellung besteht darin, daß sie sie gewalttätig und genußsüchtig ausnützen. Die Macht, die sie mit ihrer Stellung haben, können sie ebenso wie Jesus zum Dienst oder selbstsüchtig gebrauchen. Bleibt die Liebe aus, so tritt an ihre Stelle neben den egoistischen Genuß die Gewalttat. Die Gefahren der regierenden Stellung in der Gemeinde sind damit mit prophetischer Schärfe und Klarheit gezeichnet. Die besprochenen Gleichnisse zeigen, daß der Dienst Jesu Liebe fordert und wohin er ohne Liebe ftihrt. Dem Knecht, der nicht dienen mag, erscheint der Herr hart, das zeigt das eine Gleichnis. Darüber wird er selbst zum harten Herrn, das stellt das zweite Gleichnis dar. Das erste zeigt, wie er ohne Liebe in Trägheit versinkt, das zweite, wie er ohne sie zur Gewalttat kommt; das erste zeigt, wohin die Lieblosigkeit gegen den Herrn, das andere, wohin die Lieblosigkeit gegen die Seinen führt. Alle besprochenen Worte beschreiben die Arbeit der Jünger als einen Jesus geleisteten Dienst. Er wird ihm an den Menschen geleistet und zwar dadurch, daß die Arbeit Jesu fortgesetzt wird. Sein Ziel besteht darin, die Menschen in Jesu Besitz und damit 10 Gottes Reich zu bringen. Indem Jesus den Seinen dieses höchste Ziel steckt, zeigt
135 er, daß sein Ziel die Gründung einer Gemeinde ist. Auch dieser Zug ist dem Christusbilde der Evangelien wesentlich. Er läßt sich nicht herauslösen, ohne daß wesentliche Züge dieses Bildes zerstört werden. Jesus selbst wird nicht als ein Frommer geschildert, der seinen inneren Besitz absichtslos ausstrahlt und so unwillkürlich wirkt. Er ist ein Täter im vonsten Sinne des Wortes. Er wirkt nicht nur, er will, und darum handelt er. Er hat ein bewußtes Ziel, dem Wort und Werk dienen. 1) Dasselbe verlangt er von seinen Jüngern. Er erwartet keineswegs nur unbewußte, ungewollte Wirkungen, die von einer naiven Frömmigkeit von selbst ausgehen. Weil er Liebe von den Seinigen fordert, so fordert er eine bewußte und beabsichtigte Fortsetzung seiner Arbeit, nicht nur unwillkürliche Wirkungen, die sich wie von selbst von seinen Jüngern loslösen, sondern Tat im vollsten Sinne. Eben weil es sich hier um Wille und Tat handelt, so kann diese Wirksamkeit der Jünger unterbleiben. Darin aber liegt ein Versäumnis, das mit dem Gericht bedroht wird. Mit dieser Drohung ist ausgesprochen, daß in diesem Dienst die eigentliche Aufgabe der Jünger Jesu liegt und zwar die Aufgabe jedes Jüngers. Sie sollen das Werk Jesu fortsetzen. Diese Aufgabe bekommen sie erst dadurch, daß sie die Gabe Jesu empfangen, aber dadurch wird sie zu ihrer eigentlichen Lebensaufgabe. Jesu Werk fortzusetzen und ihm dadurch zu dienen, das wird zum Inhalt und Ziel ihres Lebens. Was in der Synagoge als Liebes· pflicht galt, konnte nicht zum eigentlichen Inhalt und Zweck des Lebens werden. Es ging neben dem eigentlichen Lebensinhalt her. Das gilt nicht nur von der Wohltätigkeit und Verzeihung, sondern z. B. auch von der Pflicht des Friedestiftens. Auch diese Pflicht konnte immer nur als etwas Gelegentliches geübt werden. Mehr konnte auch die in der Synagoge übliche gegen· seitige Seelsorge nicht werden. Dagegen besteht der höchste Erweis der Liebe Jesu darin, daß er den Seinigen mit dem Liebes· gebot einen Beruf, eine Aufgabe, ein Ziel, ein Werk gibt, welches den Inhalt und Zweck ihres Lebens und nicht nur eine Zugabe zu demselben bildet. Zu dieser Arbeit rüstet er sie durch sein Wort aus. Darum ist sein Wort dem Samen und Sauerteig ähn· 1) Darum genügen alle die Christologieen nicht, die Jesu Werk als eine von seinem Bilde ausstrahlende Wirkung beschreiben.
lieh. Es verleiht die Kraft zum Wirken. Dies ist seine höchste Gabe und damit zugleich sein höchstes Gebot. Er macht die Seinigen nicht nur zu Empfängern seiner Gabe, sondern zu Tätern seines Willens. Er gibt ihnen als seine höchste Gabe die Ausrüstung zur Tat. Eben damit blickt er auf eine künftige Gemeinde hinaus. Denn aus der Wirksamkeit der Jünger, von der diese Gleichnisse reden, entsteht die Gemeinde. Weil er die Liebe gewollt hat in der Form der Tat, die seine eigene Wirksamkeit fortsetzt, so hat er die Gemeinde gewollt, und weil er sie gewirkt hat, so hat er die Gemeinde gestiftet.
4. Kapitel.
Die Liebe im Johannesevangelium.
I. Die Liebe Jesu. Im Johannesevangelium steht das Liebesgebot in der Mitte der Predigt Jesu. Auch für Johannes entsteht alle Liebe aus der Liebe Jesu. Die Jünger sollen einander lieben, wie Jesus sie geliebt hat. Dabei führt Jesus bei Johannes das Liebesgebot als ein neues Gebot ein. Die Liebe, wie er sie geübt hat, ist etwas Neues j er ist der erste, der wirklich geliebt hat. Darum ist das Gebot, welches diese Liebe fordert, ein neues Gebot. Die Erweckung der Liebe ist das positive Ziel Jesu und zwar sein letztes und höchstes Ziel. Darum hat er sie geliebt, damit sie einander lieben, 13, 34 j 15, 12. Die Liebe Jesu entsteht aus der Liebe Gottes, die Liebe Gottes gilt der Welt. Mit diesem Ausdruck meint Johannes die Menschheit; indem er ihn gebraucht, will er nicht nur sagen, daß die Liebe Gottes sich über Israel ausdehnt, sondern daß sie alle Menschen umfaßt, auch ohne Rücksicht auf ihre moralische Art; d. h. sie ist Gnade. Der Gedanke ist im eigentlichen Sinne universalistisch. Das Wort spricht vom Willen Gottes. Zur Tat wird dieser Wille dadurch, daß Gott seinen einzigen Sohn gibt. Die Liebe Gottes äußert sich im Geben. Darin, daß es sein einziger Sohn ist, den Gott gibt, zeigt sich ihre Vollkommenheit. Johannes mißt also die Liebe Gottes nicht an sachlichen, natürlichen Gaben, er nennt also nicht wie die Reden Jesu bei den Synoptikern die durch die Natur vermittelten Gaben Gottes als Beweis seiner Liebe, vielmehr nennt er seiner ganzen Denkweise
entsprechend allein und nur die höchste Gabe Gottes. Ihr Wert wird nicht an der Schätzung der Menschen gemessen, sondern vielmehr nach Gottes Urteil bestimmt. Nicht was die Welt begehrt, sondern was Gott liebt, ist seine höchste Gabe. Die Vollkommen· heit seiner Liebe zeigt sich darin, daß er den gibt, dem seine ganze Liebe gehört. 1) Er gibt ihn, um der Welt durch ihn ewiges Leben zu erwerben. Das Motiv seiner Liebe ist die Gefahr, in der die Welt schwebt. Denn nicht nur als Not oder als Mangel beurteilt Johannes die Lage der Welt, die Gott zum Geben veranlaßt, sondern als Gefahr. Eben darum mißt er die Liebe Gottes nicht an den Gaben, durch die die Sorge und die Not der Welt beseitigt werden. Der Sohn hat daher nicht nur die Aufgabe zu geben und zu helfen, sondern zu retten, Gott schickt ihn als den Retter. Der Ausdruck bekommt bei Johannes seinen Sinn durch den Gegensatz gegen das Amt des Richters. 9) Als solcher wird der Christus erwartet. Die Liebe Gottes aber zeigt sich darin, daß er den Sohn nicht zum Richten sendet, sondern zur Errettung vor dem Gericht. Das Verderben gilt noch nicht als Tatsache, aber als Gefahr, und zur Beseitigung derselben erscheint der Retter, 3, 16 f. Die Liebe Gottes gehört zuerst dem Sohne und durch ihn erst der Welt. Er ist das Organ der Liebe Gottes. Auch die Liebe Gottes zu seinem Sohne äußert sich in seinem Geben. Er liebt .ihn mit vollkommener Liebe, und darum gibt er ihm alles, 3, 35. Das Wort ist in strenger Allgemeinheit zu verstehen: der Vater gibt ihm teil an seinem ganzen Besitz. Darauf beruht das messianische Bewußtsein Jesu. Die Welt ist sein Eigentum, weil sie Gottes Eigentum ist, I, 1 I. Allein die größte Gabe an Jesus ist nicht die Welt und die Natur, sondern Gottes Geist. Darin äußert sich seine vollkommene Liebe, daß er ihm seinen Geist ohne Maß gibt, 3, 34. Johannes urteilt hier ganz wie die Synoptiker: den Geist Gottes erhält Jesus als Gottes geliebter Sohn. Der Geist ist darum Gottes höchste Gabe, weil er durch ihn dem Sohne nicht nur Anteil an seinem Besitz, sondern an sich selber gibt. Durch den Geist gibt er ihm Anteil an allem, 1) Cf. hierzu den formell parallelen Gedanken aus der Synagoge, oben S. 3. B) Diese Beziehung auf die Gefahr und den Gegensatz gegen das "~'"B''' ist das Motiv der Wahl des Ausdrucks.
139 was er tut, 5, 20. Das Selbstbewußtsein Jesu ist nicht nur das des Propheten, dem Gott alles sagt, was er tut, sondern das des Sohnes, dem der Vater in seiner Liebe alles zeigt, was er tut, und damit Anteil gibt an seiner Tat. Wenn nach Johannes Gott durch seinen Sohn schafft und richtet, so hat das seinen Grund nicht etwa darin, daß er um seines oder der Welt willen eines Organes oder Mittlers bedürfte, wie etwa Philo sich das Verhältnis denkt, sondern es ist allein begründet in der Liebe des Vaters zum Sohne. Er gibt ihm an allen seinen Werken bis zur Totenerweckung hin Anteil, damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Nicht um seinetwillen, auch nicht um der Welt willen, sondern allein um des Sohnes willen wirkt er durch ihn und zu keinem andern Grunde und zu keinem andern Zwecke als dazu, daß der Sohn geehrt werde, und zwar ebenso geehrt werde wie der Vater. Die Größe der Stellung Jesu hat lediglich in der Liebe des Vaters zum Sohne ihren Grund. Die Gemeinschaft Jesu mit dem Vater besteht jedoch nicht nur in der Gemeinschaft des Wirkens; dies ist die machtvollste, aber nicht die innerlichste und tiefste Form der Gemeinschaft. Über und hinter ihr liegt die zentrale Äußerung der Liebe Gottes, die sich in Gottes Geben wohl äußert, aber nicht darin besteht. Sie besteht darin, daß der Vater ihn kennt und er den Vater, 10, 15. Gottes Wille und Gedanke ist auf ihn gerichtet. Selbst dann, wenn er nicht mehr in Gottes Macht handelt, ist Gott selbst bei ihm, so daß Jesus nicht allein ist, 8, 16 u. 29; 16, 32. Darum vermag er die vollkommene Einsamkeit zu ertragen. Diese Liebe Gottes, die Jesus beständig genießt, drückt der Evangelist durch das Wort aus: Er ist Gottes Lamm, I, 29. Gott verhält sich zu ihm, wie er sich zur Gemeinde verhält. Wie er der Hirte der Gemeinde ist, so ist Gott sein Hirte. Die Kinder Gottes werden mit der Herde verglichen und der Sohn Gottes mit dem Lamm. Was im 10. Kapitel Jesus von seiner Stellung zur Gemeinde sagt, das gilt zuerst von Gottes Stellung zu ihm. Da Gott ihn versorgt, so fehlt ihm nichts. Denselben Gedanken spricht das Bild vom Weinstock, Kap. 15, aus. Gott ist der, der Jesum versorgt. Er macht Jesum fruchtbar wie Jesus die Seinen. Aus der Liebe Gottes zu Jesus entspringt die Li e be Je s u zu Gott. Denn für Johannes gilt die Liebe zuerst und zuhöchst dem
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Vater. Sie äußert sich darin, daß er dem Vater dient. Wenn Jesus das Werk, das er erreicht hat, zusammenfaßt, so nennt er nicht einen empirischen Erfolg; etwa den Glauben oder die Liebe, die er erweckt hat, sondern den Dienst, den er Gott geleistet hat: Ich habe dich verherrlicht auf der Erde, 17, 4. Die Ehre Gottes ist Jesu Werk. Wenn Johannes beschreibt, wie Jesus den Willen zum Sterben faßt, 12, 28, so stellt er dem natürlichen Willen, der sich zunächst meldet, als den normalen Willen, der mit Gottes Willen einig ist, das Gebet gegenüber: Vater verherrliche deinen Namen. Die Heiligung des Namens Gottes ist für Johannes wie für die Rabbinen der Ausdruck der Liebe zu Gott. Daß Gottes Name herrlich werde, ist das Ziel, dem Jesus dient j er lebt für die Ehre Gottes. Durch die Antwort Gottes wird das bestätigt. Durch den bisherigen Lauf des Lebens Jesu hat Gott seinen Namen verherrlicht, durch seinen Tod wird er ihn verherrlichen. Als Ziel und Erfolg des Lebens Jesu wird auch in diesem Wort, das den Grundwillen Jesu ausspricht, die Verherrlichung des Namens Gottes genannt. Damit ist kein empirisches, an den Menschen erreichtes Ergebnis angegeben, sondern lediglich ein Gott geleisteter Dienst. Durch Jesu Leben und Sterben ist der Gottesgedanke groß geworden. Unter diesen Gesichtspunkt stellt Johannes das ganze Wirken Jesu. Er dient der Ehre des Vaters mit seinem Reden und Handeln, Leben und Streben. Auch durch Jesu eigene Verherrlichung wird der Vater verherrlicht, 13, 31 j 14, 13. Darum erbittet er von Gott Herrlichkeit, damit er den Vater verherrlichen kann, 17, I. Durch die Frucht, die die Jünger bringen, wird der Vater verherrlicht, 15,8. Dadurch, daß Jesus Gottes Ehre sucht, 7, 18j 8,50, wird er den Judt!n Jerusalems unverständlich, 5, 44ft"· Denn damit verzichtet er selbst auf Ehre. Ehrgeiz und Liebe sind für Johannes Gegensätze: Ehrgeiz ist Egoismus. Jesus ist dadurch vom Ehrgeiz frei, daß er die Menschen nicht für sich, sondern für Gott gewinnt. Darin besteht seine Liebe zum Vater, daß das Trachten nach Gottes Ehre sein letztes und höchstes, sein eigentliches Ziel ist. Diese Liebe trägt den Charakter der Selbstverleugnung, weil er damit selbst auf Ehre verzichtet. Weil er seinen ganzen Willen dransetzt, die Ehre Gottes zu suchen, so sucht er nicht seine Ehre. Und zwar verzichtet er nicht etwa auf falsche Ehre, sondern er
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verzichtet überhaupt auf Ehre: er verzichtet auf sein Eigentum, auf das, was ihm gebührt. So ist das Ergebnis des Lebens Jesu, daß Gott groß und Jesus klein dasteht. Das kann er in der Gewißheit, daß die ihm gebührende Ehre ihm werden wird: nicht er sucht sie, sondern Gott. "Es ist einer, der sie sucht." Darum ist er vom Ehrgeiz vollkommen frei, er ist demütig und damit imstande, nur nach Gottes Ehre zu trachten. Jesus sucht Gottes Ehre und Gott Jesu Ehre: Dieses "Trachten" des einen für den anderen ist Liebe. Jesu Liebe zum Vater äußert sich darin, daß er des Vaters Willen tut und sein Werk vollendet. Dabei wird seine Liebe zu Gott nicht als ein naturhafter Trieb beschrieben, den Jesus unbewußt und unwillkürlich tut, indem er mit müheloser Selbstverständlichkeit aus ihm hervorbricht. Auch für Jesu Liebe zu Gott gilt, daß sie Selbstverleugnung ist, ein beständiger Verzicht auf seinen eigenen Willen und insofern ein Opfer an Gott. Den Willen Gottes kann er nur so tun, daß er den eigenen Willen preisgibt. Denn ftir Johannes hat Jesus einen eigenen Willen, da er ja Fleisch ist. D~r Wille des Fleisches darf nicht geschehen, damit der Wille Gottes geschieht. Daher gilt auch für Jesus das Wort 12, 25. Dadurch, daß er seine Seele in dieser Welt haßt, bewahrt er sie fürs ewige Leben. Mit Hassen wird der der Selbstverleugnung und dem Sterben zu Grunde liegende Wille beschrieben. Haß ist der Wille zum Töten; so nennt daher Jesus die Einwilligung in sein eigenes Sterben. Dabei hält sich der Ausdruck von jeder Übertreibung frei. In der Welt gilt der Haß der Seele; soweit Jesus zur Welt gehört und Fleisch ist, gilt auch ihm diese Regel. In den Worten 12, 27 ff. deckt Johannes den inneren Kampf zwischen dem Willen des Fleisches und dem Willen Gottes auf. Der eine äußert sich in dem Willen zum Leben und bleibt dadurch rein, daß er zum Gebet wird. Er wird überwunden und preisgegeben durch den zweiten Willen, welcher auf die Herrlichkeit des Namens Gottes geht. Daß er um deswillen auf sein Leben verzichtet, das ist der Haß der eigenen Seele, aus der sich seine Liebe zu Gott erhebt. Eben weil die Liebe zu Gott nicht Trieb ist, sondern Wille im eigentlichen Sinne, so spricht Johannes auch von Gottes Gebot an ihn. Gottes Gabe ist zugleich Gebot, ein Wille, der Jesu Willen erzeugen will und auf seine Einwilligung rechnet.
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Der Gehorsam Jesu wird nicht nur als Tun des Willens Gottes, sondern auch als Vollendung seines Werkes beschrieben. Das Wollen wird zum Wirken. Mit seinem Wirken dient Jesus Gott. Das gilt auch von seiner ganzen Liebesübung. Das wird in dem Wort 9, 4 ausgesprochen. Die Worte zeigen das Motiv der Wunder Jesu. Sie sagen, warum er nicht tatlos vor dem Elend stehen bleiben darf. Die Not ist dazu da, damit die Werke Gottes offenbar werden. Offenbar werden sie durch Jesu allmächtige Hilfe. Er muß deshalb helfen, denn er muß die Liebe Gottes offenbar machen und die Werke Gottes wirken. Die Hilfe ist Jesu Pflicht gegen Gott. Er macht durch sie die Güte Gottes sichtbar und wird dadurch zum Licht der Welt. Daß damit keine vorübergehende Stimmung ausgesprochen ist, sondern ein feststehender Gedanke, der Wille und Tat Jesu regiert, zeigt die Parallele I I, 4 ff. Wie der Blindgeborene, so ist auch die Krankheit des Lazarus zur Ehre Gottes. Durch seine Auferstehung soll die Herrlichkeit Gottes sichtbar werden, v. 40; darum muß ihn Jesus erwecken. Denn Gott zu verherrlichen ist sein Beruf. Die Liebe des Vaters sieht Jesus darin, daß er es ihm überläßt, sein Werk zu vollenden. Er sieht deswegen als die Gaben, die ihm der Vater gibt, vor allen Dingen die Menschen an, die er zu ihm sendet. Darin, daß sie zu ihm kommen, wird offenbar, daß der Vater sein Werk an ihnen getan hat. Sie sind aus der Wahrheit. Indem er die Menschen zu Jesu Eigentum macht, macht Gott die Messianität Jesu offenbar. Der Grundsatz, daß niemand sich etwas nehmen kann, was ihm nicht aus dem Himmel gegeben wird, gilt auch für Jesus. Darum macht die Gemeinde, die zu ihm kommt, ihn als den Christus offenbar. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam, 3, 29. Darin, daß Jesus die Leute annimmt, die zu ihm kommen, zeigt sich seine Liebe zum Vater, 6, 37. Indem er die, die aus der Wahrheit sind, gläubig macht, vollendet er des Vaters Werk. Die Liebe Jesu zu den Menschen ist also in seiner Liebe zu Gott begründet. Er liebt die Seinen darum, weil ihn der Vater liebt, 15, 9: wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Die Liebe Jesu zu den Seinen soll mit der Liebe Gottes zu ihm nicht nur verglichen werden, sondern das Wort soll sagen, daß sie in der Liebe Gottes zu ihm begründet ist. Er erwidert die Liebe
143 Gottes, die er genießt dadurch, daß er die Menschen liebt. Was Gott ihm gibt, das gibt Jesus den Seinen. Seine Liebe zu den Menschen ist aber durch seine Liebe zu Gott nicht nur begründet, sondern auch beg ren z t. Wen ihm der Vater nicht gibt, den nimmt er nicht und kann ihn auch nicht nehmen. Daher wird Jesus durch seine Liebe zu Gott auch frei von den Menschen und bleibt rein von aller Liebedienerei. Johannes stellt mit besonderer Schärfe dar, wie selbständig und frei Jesus ist. Er braucht die Menschen nicht. Freilich hat er ein Bedürfnis nach Liebe, er mag nicht alleine bleiben, 12,24; 16,32. Aber da der Vater bei ihm ist,so ist das Bedürfnis beständig befriedigt. Er kann deshalb den Verlust der Menschen ertragen und kann es ertragen, allein zu stehen. Er läuft darum den Menschen auch nicht nach, seine Haltung bleibt königlich. Er bleibt auch in seiner Liebesübung von der Bitte vollkommen unabhängig. Niemand protestiert so scharf wie Johannes gegen die Unterstellung, als lasse sich Jesus ohne oder wider seinen Willen durch das Volk zu Wundern drängen. Allen Bitten gegenüber wahrt sich Jesus seine Selbständigkeit. Das Gespräch mit seiner Mutter auf der Hochzeit hat lediglich den Zweck, dies zu zeigen. Zunächst wird ihre Bitte mit einer gewissen Schroffheit zurückgewiesen. Es soll damit gezeigt werden, daß sich Jesus selbst seiner Mutter gegenüber seine Freiheit wahrt. Er läßt sich nicht zum Helfen zwingen, er handelt nicht schon dann, wenn er von Menschen gebeten wird, sondern erst dann, wenn seine Stunde gekommen ist. Ihn regieren nicht die Wünsche der Menschen, sondern allein das Gebot des Vaters. Ebenso läßt Jesus die in der Botschaft 1 I, 3 liegende Bitte zunächst unbeachtet. In bei den Fällen erfüllt er sie schließlich, - aber nur, nachdem er sie zuerst abgeschlagen hat. Ebenso steht es mit der Bitte seiner Brüder, 7, 3. Auch diese schlägt Jesus zuerst rund ab, um später doch nach ihr zu verfahren. Es handelt sich in allen diesen Fällen nicht um eine willkürliche Laune Jesu, vielmehr kommt darin zutage, daß er sich die Freiheit seiner Liebe wahrt, weil er nur Gott gehorchen darf. Einen Gehorsam gegen Menschen gibt es für ihn nicht. Darum werden gerade Gespräche mit seiner Mutter, seinen Brüdern, seinen Freunden erzählt. Normal ist die Bitte deshalb nur dann, wenn die Erfüllung Jesus vollkommen anheim-
144 gegeben wird. Darum haben normale Bitten bei Johannes lediglich die Form der Meldung, 2, 3 j 11, 3, 21 ff. Jesus erreicht durch diese vollkommene Souveränität, daß jeder selbstsüchtige Wunsch unterdrückt wird. In jeder Bitte muß Ergebung in seinen Willen liegen. Jesu Liebe hat also ihren Grund allein in Gott. Er liebt den Menschen nicht wegen des ihm eigenen Wertes, sondern als die ihm von Gott gegebene Gabe, als sein Eigentum. Das wird auch im Gleichnis vom Hirten ausgesprochen. Der gute Hirte liebt die Schafe darum, weil sie sein Eigentum sind, im Unterschiede vom Mietling, dem sie nicht gehören. Darum ist seine Liebe vom moralischen Stand des Menschen auch unabhängig. Sie ist Gnade, von oben kommende Liebe, ist an keine andere Bedingung gebunden als an die, daß jemand zu ihm kommt. Er verfahrt nach der Regel: Wer zu mir kommt, wird nicht hinausgestoßen. Dadurch, daß Jesu Liebe zu den Menschen aus seiner Liebe zu Gott entspringt, ist sie jedoch für Johannes in keiner Weise beschränkt. Auch bei Johannes wird, wie in den synoptischen Evangelien, das Wirken Jesu als allmächtige Liebe beschrieben j unbegrenzte Bereitwilligkeit und Macht zur Hilfe stehen bei ihm neben einander. Niemals steht er der Not mit Härte oder mit ohnmächtiger Klage gegenüber. Freilich beschreibt der Evangelist die Empfindung Jesu dem Tode gegenüber auch als Schmerz, aber es ist schwerlich absichtslos, wenn er hierbei nicht stehen bleibt j ein bloßer Schmerz wäre für den Evangelisten der Ausdruck der Ratlosigkeit. Aber Jesus ist auch in seiner Empfindung nicht nur passiv, sondern frei und aktiv, 1 I, 33. 1) Dies darum, weil er in aller Not nicht nur ein unverständliches Elend sieht, sondern etwas, was seinen Zorn hervorruft j im Zorne aber kündigt sich der Wille Jesu zu Tat und Hilfe an. Sichtlich will der Evangelist mit diesen Worten die Freiheit und Göttlichkeit der Empfindung Jesu beschreiben. Er bleibt auch in seinem Mitleid nicht passiv, sein Wille wird beständig zur Tat. Es gibt auch bei ihm wohl Bitten, die Jesus abschlägt, aber keine Bitte um Hilfe, der er sich verweigert. Seine Hilfe umfaßt alle Anliegen des menschlichen Lebens, von der Stillung des Hungers bis zur Erweckung der 1) Cf. die teilweise sehr treffenden Bemerkungen von Holtzmann z. d. 5t.
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Toten. Niemals verlangt er von den Seinen oder von dem Volke Resignation. In dieser Beziehung deckt sich das Christusbild des Johannes durchaus mit dem der Synoptiker. Bei heiden handelt er mit vollkommener Liebe. Neben den Bitten, die erhört werden, stehen bei Johannes wie bei den Synoptikern die abgewiesenen Zeichenforderungen, 2, 18 ff.; 6, 30. Es ist sehr wichtig, daß Johannes mit den Synoptikern auch in diesem Punkte vollständig übereinstimmt. Eine Bitte um ein Zeichen, die nicht eine Bitte um Hilfe ist, sondern eine Prüfung seiner Legitimation, wird nicht erfüllt. Das Gesetz, nach dem Jesus handelt, ist in beiden Erzählungstypen dasselbe. Die Bitte um Hilfe erhört Jesus immer, die um ein Zeichen nie. Als Zeichen, d. h. als Beweis seiner göttlichen Sendung, darf das Wunder nicht gefordert werden. Denn das setzt voraus, daß die göttliche Sendung Jesu zweifelhaft ist, und darin verrät sich angesichts der Beweise, die Jesus beständig gibt, Unwilligkeit zum Glauben. Diese behandelt Jesus immer mit derselben Härte. In der Zeichenforderung erkennt er Heuchelei. Dagegen zeigt das Gespräch mit dem Volk 6, 26 ff. umgekehrt, daß Jesus am Wunder selbst das Zeichen geschätzt wissen will. Das Verlangen nach Wundern wird nicht nur darum verworfen, weil es eine Unwilligkeit zum Glauben zeigt, die immer erst der stärksten Nötigung bedarf; vor allem zeigt sich darin, daß dem Volke nur an Hilfe in äußerer Not, an den physischen Gaben Jesu gelegen ist. Das Volk schätzt das Wunder hoch, weil es satt geworden ist; nach Jesu Willen sollte es das darin liegende Zeichen hochschätzen. Denn darin liegt der eigentliche Wert der Wunder Jesu. Sie sind Zeichen, (11Jfleia. Dieses Wort bevorzugt Johannes, während sich ~vVaflt~ nie und dea~ nur in dem Worte 4, 48 findet, vielleicht deshalb, weil es in fester Prägung überliefert war. Als Zeichen wird das Wunder nicht etwa darum angesehen, weil es eine Idee ausdrückt, findet sich doch diese Bezeichnung ebenso häufig bei den Synoptikern. Nicht als Versinnlichung einer Idee ist für Johannes das Wunder wichtig, sondern als Kennzeichen der Gegenwart Gottes. Ihm steht die Schwierigkeit vor Augen, die in der Verborgenheit Gottes liegt, I, 18; 6, 46; I. Joh. 4, 12. Das Wunder aber durchbricht die Verhüllung Gottes durch die Natur; es ist eine Offenbarung Lütgert, Die Liebe im N. T.
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Gottes. Weil es Gewißheit Gottes gibt, darum soll es hochgeschätzt werden. Nach Gott soll das Volk suchen und nicht nur nach Brot. Die Bedeutung der Erweckung des Lazarus für Maria ist nach J esu Wort die, daß die Herrlichkeit Gottes offenbar werde; die Bedeutung der Heilung des Blindgeborenen liegt darin, daß die Werke Gottes an ihm offenbar werden. Die Nebeneinanderstellung beider Willensäußerungen Jesu ist lehrreich. Die Hilfe darf nicht nur, sondern sie soll erbeten werden. Aber als Zeichen darf das Wunder nicht gefordert werden. Dagegen an dem Wunder, das Jesus tut, an der Hilfe, die er leistet, soll nicht sowohl die Hilfe als vielmehr der Gottesbeweis, der darin liegt, geschätzt werden. Diese Bedeutung der Wunder Jesu ist nicht etwa eine zweite, die neben der ersten hergeht, vielmehr sind Jesu Wunder als Taten allmächtiger Liebe Taten Gottes und machen eben darum Gott sichtbar. Darum ist ihr Zweck die Erweckung des Glaubens. Dies ist der Sinn des \Vortes 4, 48 : Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht. Denn das Wort soll nicht etwa ein Tadel der Bitte sein j denn sie entspringt garnicht dem Verlangen nach einem Glaubensrnotiv, sondern nach Hilfe in der Not. Jesus verlangt auch von den Bittenden keinen Verzicht auf Hilfe, vielmehr leitet das Wort nur die Erfüllung der Bitte ein. Niemals, auch im Johannesevangelium nicht, behandelt Jesus die Bitte in der Not als Unglauben j so dürfte man nur dann urteilen, wenn Johannes von einer nicht erfüllten Bitte erzählte. Das Wort enthält freilich einen Tadel, aber nicht die Bitte um Hilfe wird getadelt j es ist eine Klage über den nach Wunder verlangenden Unglauben der Galiläer. Es gibt nicht den Grund an, warum Jesus das Wunder verweigert, sondern warum er es tut. Durch die Versagung der Bitte würde er den Glauben gefahrden, und dies darf er nicht, da es seine Aufgabe ist, Glauben zu erwecken. Das Wort soll also gerade den Grund angeben, warum er Wunder tun muß. Jesus tut nach Johannes, wie nach den Synoptikern, Wunder, um Glauben zu erwecken. Der Unterschied zwischen beiden liegt hier nur im Glaubensbegriff. Während die Synoptiker jedes wirkliche Vertrauen Glauben nennen, nennt Johannnes erst die
147 Zustimmung zur Messianität Jesu Glauben. 1) Dem entspricht bei beiden die Bedeutung der Wunder Jesu. Zeichen, d. h. Beweise der Messianität Jesu, sind sie bei beiden. Aber nach Johannes kann jedes Wunder darum die Erkenntnis der Messianität Jesu wecken, weil jedes sein letztes und höchstes Ziel darstellt. Das Wunder auf der Hochzeit ist freilich, wie durch ein einleitendes Gespräch festgestellt wird, eine Tat der Hilfe. Allein durch dasselbe stellt sich Jesus als den Christus dar. Die Hochzeit gehörte zu den stehenden Bildern des Himmelreichs. Indem Jesus die Hochzeitsfreude bringt, offenbart er sich, und zwar im Gegensatz zum Täufer, als den Christus. Gerade in ihrer Liebe zeigt die Tat das messianische Ziel Jesu. Eine Parallele ist die Speisung des Volkes in der Wüste. Auch hier zeigt ein Gespräch zu Anfang, daß es sich um wirkliche Hilfe in der Not handelt. Allein gerade damit hat die Tat messianischen Sinn. Den hat sie auch bei den Synoptikern. Johannes bringt also nicht etwa einen ganz neuen Sinn in das Wirken Jesu hinein. Durch die Heilung des Blinden offenbart sich Jesus als das Licht der Welt, durch die Erweckung des Lazarus als den Erwecker der Toten. Der Sinn aller dieser Taten ist also messianisch. Aber auch in dieser ihrer Bedeutung bleiben sie Liebeserweisungen. Sie sollen ja Glauben erwecken, und Glaube wird auch bei Johannes nicht anders erweckt als durch Liebe. Jesus offenbart seine Messianität, um das Verlangen nach dem Himmelreich auf sich zu richten und zu befriedigen. Er bietet durch seine Wunder nicht nur Heilung und Brot, sondern ewiges Leben dar. 2) Eine dem Johannes eigentümliche Bezeichnung des Wirkens Jesu ist E~ra. Sie findet sich nur noch Matth. 1 I, 2, bei Joh. 4, 34; 5, 36 ; 7,3 u_ 21; 9, 3 f.; 10, 25· 32. 37 f.; 14, IOff.; 15,24; 17,4· Das Wort bezeichnet nicht bloß die Wunder Jesu, aber es ist .auch falsch sie auszuschließen. Es bezeichnet gerade die Werke Jesu im Unterschied von seinen Worten, und zwar sind die Werke, die Jesus tut, die Werke Gottes 4,34; 5,36; 9,3; ro,37. Er tut die Werke im Namen seines Vaters 10,25; oder sie sind aus dem Vater 10,32; oder der Vater, der in ihm ist, tut sie 14,10; 1) Cf. Schlatter, Der Glaube. 3. Auf!. 2) Zur Auseinandersetzung mit Wendt, Das Johannesevangelium. 10"
17,4 spricht von einem einzigen Werke, das Jesus vollendet hat. Der Ausdruck umfaßt das gesamte Wirken Jesu. Auch seine Worte sind Taten, und zwar darum, weil sie wirken. Er wirkt durch das Wort, wie durch das Wunder, in göttlicher Allmacht" d. h. schöpferisch. Er ist nicht nur ein Redner, sondern ein Täter; sein Wort hat reelle Ergebnisse von bleibender Bedeutung. Auch seine Wunder tut er durch sein Wort 4, 50. Alle diese Taten, die Jesus in göttlicher Macht tut, sind seine Werke. Wegen der Macht, die sich in ihnen offenbart, beweisen sie seine gött· liche Sendung. Sie sind deshalb der Beweis für sein Wort, die: Gemeinde, die er sammelt, der Beweis für seine Messianität, und jeder Glaube, den er findet, das Siegel für das Wort Gottes" welches er redet 3, 33. Als Beweis der göttlichen Sendung Jesu sind seine Werke das stärkste Glaubensmotiv 5,36; 10,25. 37f.; 14,10; 15,24. Seiner Kraft nach stehen die Werke über dem Wort. Der Erfolg des ersten Wunders Jesu ist der, daß seine Jünger an ihn gläubig wurden 2, 11; infolge seiner Zeichen in Jerusalem wurden viele gläubig. Wegen der Heilung seines Sohnes wird der Königliche gläubig 4, 53. Das Volk wird gläubig an ihn, weil er viele Zeichen getan hat 7, 3 I. Das ist nicht etwa eine Schranke des Volksglaubens, sondern es entspricht dem Willen Jesu : Wenn ich nicht die Werke meines Vaters tue, so glaubet mir nicht~ Wenn ihr mir nicht glaubt, so glaubt doch meinen Werken 10,37 f. Lazarus wird erweckt, damit sie glauben, daß du mich gesandt hast, 1 I, 42. Dieser Erfolg wird auch erreicht v. 45; 12, 1 I. Ist Glaube nicht der Erfolg der Wunder Jesu, so gilt dem Evangelisten das als unnatürlich 12, 37. Um der Werke willen sollen auch die Jünger glauben 14, 1 I. Die Zeichen erzählt der Evangelist, damit die Gemeinde glauben soll, daß er der Christus ist 20, 3 I. Auch in diesem Punkte stimmt also Johannes mit den Synoptikern überein. Jesus will durch seine Wunder nicht nur aus der unmittelbaren Not helfen, sondern darüber hinaus Glauben erwecken; sie sind daher in ihrem nächsten wie in ihrem letzten Zweck Li e b e. Denn die Erweckung des Glaubens ist ein höherer Liebesbeweis als die Heilung des Kranken. Darum stellt anderseits Jesus sein Wo r t übe r sei n Wer k. Er tut das dadurch, daß er den auf Wunder gestützten Glauben
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geringer schätzt als den Glauben, der durch sein Wort geweckt wird. Den Leuten in Jerusalem, die um seiner Zeichen willen glauben, vertraut Jesus sich nicht an 2, 23 f. Den Samaritern, die um seines Wortes willen glauben 4, 41, werden die Galiläer gegenübergestellt, die nicht glauben wollen, wenn sie nicht Zeichen und Wunder sehen 4, 48 ff. Der echte Glaube kommt zu seinem treffenden Ausdruck in dem Bekenntnis des Petrus; die Jünger glauben, weil Jesus Worte des ewigen Lebens hat 6, 68. Ebenso wird vom Glauben der Leute im Ostjordanland in der Absicht erzählt, ihn als normal zu schildern. Er ist eine Frucht ihres Glaubens an Johannes. Nicht die Wunder des Johannes, sondern sein Wort hat sie gläubig gemacht 10,41 f. Auch den Jüngern gegenüber beruft sich Jesus auf seine Werke erst, wenn sie seinen Worten nicht glauben 14, IOf. Wie wichtig dem Evangelisten der Glaube ans Wort ist, zeigt die Seligpreisung 20, 29: Nicht zu sehen und doch zu glauben, ist der normale Glaube. Er blickt hinaus in eine wunderlose Zeit, in der das Wort das einzige Glaubensmotiv bildet. Der Glaube ans Wort wird nicht nur darum höher geschätzt, weil sich in ihm die größere Bereitwilligkeit zum Glauben zeigt, sondern weil das Wort wertvoller ist als das Werk. Das Wunder ist das sinnenfällige und darum das stärkere Glaubensrnotiv, aber das Wort das wertvollere. Es wird hiermit nur das Urteil 6, 26ff. fortgesetzt. Wie auch im Wunder nicht die Hilfe, sondern das Zeichen geschätzt werden soll, so soll aus demselben Grunde das Wort über das Werk gestellt werden. Die Samariter wollen mit Jesu Wort ihn selber haben, die Galiläer werden zu Bitte und Glauben nur durch die physische Not getrieben; sie verlangen nur Hilfe und schätzen Jesum als Hilfsmittel; sie wollen natürliche, aber keine geistigen Gaben. Allein Jesus zeigt schon durch seine Werke, daß er ewiges Leben und das Himmelreich zu bringen gekommen ist. Durch sein Werk s tell t er sich als Geber des ewigen Lebens dar, durch sein Wort gib t er es 6, 63 u. 68, während auch das größte Zeichen Jesu den Lazarus nur ins irdische Leben zurückruft. Die Gnade Jesu drückt der Evangelist durch die Worte aus, daß Jesus nicht richtet 3, 17; 12,47; 8, 15. Seine Gnade ist vollkommen, er richtet niemanden. Auch hierin stimmt Johannes mit den Synoptikern überein. Nach beiden hat Jesus das Gericht
aus seiner messianischen Aufgabe ausdrücklich ausgeschlossen. Die Gnade Jesu ist jedoch nicht nur etwas Negatives, er verzichtet nicht nur auf das Gericht, sondern er rettet. Die Benennung Jesu als Retter der Welt 4, 42 bekommt ihren Sinn durch den Gegensatz zu dem Amt des Richters der Welt. Beide schließen einander aus. Weil Jesus rettet, so richtet er nicht. Mit dem Ausdruck Rettung wird die Liebe Jesu nicht nur bezogen auf Krankheit und Not, sondern es ist damit ausgedrückt, daß die Welt in Gefahr schwebt, es droht ihr die dmhAeLa, und vor dieser bewahrt sie Jesus. Das ist die höchste Liebestat Jesu. Er rettet vor dem Verderben, indem er das ewige Leben gibt. E w i g e s Leb e n aber gibt er durch sein Wo r t. Durch seine Zeichen errettet er aus der Not, durch sein Wort aus der Gefahr des Verderbens. Sein Wort trägt Geist und Leben in sich 6,63, und dies sind seine höchsten Gaben. Auch die Gnade Jesu ist, wie seine ganze Liebesübung, v 0 11kom m e n. Die Regel, nach der er gibt, lautet: "Bätest du mich, so gäbe ich dir" 4, 10. "Was ihr auch in meinem Namen bittet, das will ich tun" 14, 13. Das lebendige Wasser bietet Jesus jedem, der durstig ist, an 7, 37. Das Bedürfnis und die dadurch hervorgetriebene Bitte ist die einzige Bedingung des Gebens. So wenig wie bei den Heilungen Jesu, gibt es hier eine vergebliche Bitte. Er verfährt nach der Regel: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen 6,37. Die Vollkommenheit der Liebe Jesu besteht ferner darin, daß er das Bedürfnis durch sein Wort ganz und darum definitiv stillt. Wer von dem Wasser trinkt, das er gibt, dem wird nicht mehr dürsten 4, 13. Wen er speist und tränkt, den wird nicht mehr hungern noch dürsten 6, 35. Er gibt auch in dieser Beziehung in göttlicher Allmacht. Er hat nicht nur einen beständigen Willen zum Geben, sondern eine unerschöpfliche Fülle, aus der er gibt. Er gibt aus dem, was ihn selbst erfüllt, und zwar gibt er nicht, um dem Bitten ein Ende zu machen, sondern um die Bitte immer neu zu erzeugen und immer neu zu befriedigen. Er gibt um immer neu zu geben in einem beständig sich steigernden Grade. Der Evangelist drückt das so aus: "Er gibt Gnade um Gnade." Um seine Liebe zu erläutern, stellt ihn der Evangelist neben Moses und macht durch einen Vergleich mit ihm deutlich, was Jesus ist. Auch Moses gilt ihm als Gottes Bote. Allein er ist
d er Bote des fordernden Gottes. Durch ihn ist das Gesetz gegeben. Johannes stellt nun Moses und Jesus nicht in Gegensatz zu einander; Jesus ist einig mit Moses und steht mit ihm zusammen dem Volke gegenüber. Allein Jesus steht über Mosesj durch ihn gibt Gott, und da sich im Geben die Liebe offenbart, so ist er das Organ der Liebe Gottes. Weil er über dem Gesetzgeber steht, so ist er selbst frei vom Gesetz, und seine Gnade erweist s ich darin, daß er die Freiheit, die er hat, auch gibt. Er gibt s ein ganzes 1t)..~flwfJ.a, d. h. alles, was ihn innerlich erfüllt, alles, was Gott ihm gegeben hat, seine Freiheit 8, 36, seinen Frieden 14, 27, seine Freude 15, 11, seine Kenntnis Gottes, seinen Geist und sein ewiges Leben, seinen Platz: wo er ist, sollen auch die Seinen sein, 12, 26; 14, 3; 17,24. Alles, was er von Gott empfangt, das gibt er an die Seinen; wie ihn der Vater liebt, so liebt er die Seinen. Die Gaben Jesu faßt Johannes je nachdem verschied enen Gesichtspunkt in verschiedene Formeln zusammen. Meist nennt er das ewige Leben oder den Geist, so im Nikodemusgespräch, im Gespräch mit der Samariterin, in dem Wort 7,37; cf. 39. Die Gabe Jesu ist für Johannes etwas Ganzes, nicht diese od er jene Einzelheit. Er fügt in das Leben der Menschen nicht ir gend einen ergänzenden Bestandteil hinein, Religion oder Glauben, sondern er schafft die ganze Persönlichkeit des Menschen, er wirkt eine Geburt aus Gott. Er schafft den Menschen, der ins Himmelreich eingeht; und dies tut er durch den Geist. Daher ist Geist das eine, was er geben will. Der Geist schafft nicht etwas in dem Menschen, sondern den Menschen, seine Persönlichk eit. Eben weil Jesu Wille Liebe ist, so geht er auf die Person d es Menschen. Aber an der Stelle, wo Johannes Jesum als Organ d er Liebe Gottes in umfassender Weise darstellt, nennt er zwei Gaben, die seine Herrlichkeit ausmachen: G n ade und W a h rh ei t. Die beiden entsprechen dem zu Eingang genannten Paar: Licht und Leben. Dementsprechend erweckt er im Menschen Glauben und Erkennen. Gnade und Wahrheit, Leben und Licht, Glauben und Erkennen sind bei Johannes drei einander entsprechende Paare. Sie entsprechen der doppelten Benennung der Gefahr, aus welcher Jesus errettet: Tod und Finsternis. Diese doppelte Benennung der Gefahr, aus der Jesus errettet, und der Gaben,
die er gibt, kann nicht zufällig sein. Johannes sieht Gefahr und Hilfe auf zwei Seiten: im Wollen des Menschen und in seinem Erkennen. Das verfolgt er bis in den jenseitigen Ursprung des Bösen hinein. Die Kennzeichen des Satans sind Haß und Lüge. Das ist das genaue Gegenbild der Gnade und Wahrheit des Sohnes Gottes 8,44. Die Vollkommenheit der Liebe Jesu besteht darin, daß er nach beiden Seiten hin hilft, und zwar ist beides aufs engste mit einander verbunden. Das Licht ist das Licht des Lebens, und das Leben ist das Licht der Menschen. Beide hängen in unauflöslicher Wechselwirkung zusammen. Für Johannes ist das Verlangen nach Seligkeit nicht das einzige religiöse Motiv und der Verlust derselben nicht die einzige religiöse Gefahr. Auch die Wahrheitsfrage ist ein religiöses Problem. Sie steht gleichwertig neben dem Verlangen nach Seligkeit und hängt innerlich mit ihm zusammen. Jesus erwartet nicht nur Bitten, sondern auch Fragen. Auch die Fragen gelten ihm als Bitten. Denn auch in der Frage nach Gott liegt das Verlangen nach ihm. Denn freilich ist Wahrheit nichts Geringeres als Kenntnis Gottes; wo sie fehlt, ist Finsternis, und "der Mensch weiß nicht, wohin er geht." Auch dies gilt Jesus als eine Not und Gefahr, in der zu helfen er befähigt ist. Seine Liebe äußert sich darum auch darin, daß er Kenntnis Gottes gibt und damit Licht. Mit dem Licht gibt er das Leben. Denn Licht ist für Johannes die Bedingung alles Lebens. Leben ist Wandel im Licht 8, 12. Kenntnis Gottes ist ewiges Leben 17, 3. Denn Jesus gibt nicht nur einen Gottesgedanken, sondern Erkenntnis Gottes und damit ganze Wahrheit. Darum ist er das Licht der Welt. Kenntnis Gottes gibt Jesus nicht nur durch seine Lehre, sondern durch seine Tat, indem er Gottes Werke wirkt. Er ist nicht nur das Organ des redenden, sondern das Organ des handelnden Gottes. Licht ist Jesus darum, und Licht ist die Kenntnis Gottes darum, weil Gott selber Licht ist, d. h. nichts als Güte. Darum ist Jesus durch die Macht seiner Liebe Offenbarung Gottes. Er redet nicht nur von der Liebe Gottes, sondern er handelt in der Liebe Gottes. Gleichwohl gibt er Gnade und Wahrheit vor allen Dingen durch sein Wort; denn nur durch sein Wort kann er Geist geben. Die vollkommene Äußerung der Liebe Jesu besteht aber
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darin, daß er si c h seI b ergibt. Das ist einer der Grundgedanken des Evangeliums. Jesus gibt nicht sachliche Gaben, auch nicht Kräfte oder Ideen, sondern er gibt sich -selber. Der Evangelist drückt das schon dadurch aus, daß er alle Gaben Jesu mit ihm selbst identifiziert. Jesus ist das Leben, der Weg, die Wahrheit, die Auferstehung, das Licht, das Wort. Das alles sind nicht Gaben, die Jesus an die Seinigen abtritt, um dann zurückzutreten, vielmehr gibt er das alles, indem er sich selber gibt. Er gibt auch nicht etwa den Geist an die Gemeinde ab, so daß er nur als Träger und Geber des Geistes Wert hätte, vielmehr gibt er sein F lei s c h, d. h. sich selbst in seiner menschlichen Art. Diese Selbsthingabe ist die höchste Äußerung seiner Liebe. Sein Fleisch ist das Brot, d. h., indem er sich gibt, gibt er ewiges Leben. Dieser Gabe entspricht die Forderung, die er stellt. Das Bild des Essens bedeutet das Hinnehmen seiner Person. Wie er sich gibt, so will er genommen sein. Dabei denkt Johannes nicht nur an ein äußeres Aufnehmen, sondern an ein Verlangen, das sich auf Jesus richtet und sich ihm öffnet, so daß das Innere des Menschen Jesu zugänglich wird. Was Jesus mit diesem Bilde fordert, ist also Liebe. Seine Liebe besteht darin, daß er sich gibt, die Liebe, die er erwartet, darin, daß er genommen wird. Im zweiten Teil der Rede nennt Jesus neben seinem Fleische sein Blut. Dabei werden die bei den Teile der traditionellen Formel getrennt. Diese Trennung ist eine Hindeutung auf Jesu Tod. Er kann sich selbst nur dadurch hingeben, daß er stirbt. Sei n Tod wird damit als Vollendung seiner Selbsthingabe und also als Vollendung seiner Liebe beschrieben. Sein Tod ist nicht nur ein Leiden, sondern Wille, Tat und Liebe. Auch den Tod Jesu bezieht Johannes zunächst auf Gott. Der Tod ist Äußerung seiner Liebe zu Gott 14, 31. Darin, daß Jesus mit eigenem und freiem Willen dem Verräter entgegengeht, soll die Welt erkennen, daß er den Vater liebt. Die Freiwilligkeit seines Todes ist der Beweis seiner Liebe zu Gott, und zwar ein Beweis nicht nur für die Jünger, sondern gerade für die Welt. Darum offenbart er durch seinen Tod seine Liebe, und zwar legt Johannes Wert darauf, daß es sich hier nicht um Wort und Wille, sondern um die Tat handelt. Erst durch die Tat, das Aufstehen und Fortgehen, wird die Liebe wirklich bewiesen. Denselben Gedanken
154 drückt das Wort 13, 31 aus. Weil Jesus durch die Entlarvung des Verräters seinen Tod selbst beschleunigt hat, so kann er sagen, daß Gott in ihm verherrlicht sei. Durch seine Bereitwilligkeit zu sterben hat er Gott verherrlicht. Ebenso stirbt nach dem WOlt 12,28 Jesus zur Ehre Gottes. Dem Zweck, dem sein Leben gedient hat, dient auch sein Sterben. Mit den Worten: "Verherrliche deinen Namen" willigt Jesus in sein Sterben ein, und mit der Antwort: "Ich werde ihn verherrlichen", wird die Ehre Gottes als das Ergebnis des Sterbens Jesu genannt. Jesus stirbt aus Liebe zu Gott und zu Gottes Ehre. Das Verhältnis zwischen Jesus und Gott ist in vollstem Sinne Liebe: Der Vater gibt sich selbst dem Sohne, und der Sohn gibt seine Seele, sich selbst dem Vater. Anderseits ist der Tod Jesu Äußerung seiner Li e b e zu den Me n s c h e n. Das Wort 13, 1 ist eine Parallele zu 12, 28. Nach dem einen Wort wird das bisherige Leben Jesu als Verherrlichung Gottes, nach dem andern als Liebe zu den Seinigen beschrieben. Die Liebe, die er in seinem Tode übt, stellt der Apostel neben die Liebe, die er bisher geübt hat; anderseits wird sie als ein besonderer, neuer Liebeserweis von seiner bisherigen Liebe unterschieden. Durch die in seinem Tode geübte Liebe liebte er sie bis zum Äußersten.!) Nun ist seine Liebe eine ganze, vollkommene Liebe geworden, denn ganz ist die Liebe erst dadurch, daß er seine Seele gibt. Der Tod Jesu gilt also für Johannes nicht nur als die letzte und höchste Probe seiner Liebe, sondern als ihre Vollendung. Erst Sterben ist ganze Liebe. Auch im Hirtengleichnis des zehnten Kapitels stellte Jesus seinen Tod als Tat der Liebe zur Gemeinde dar. Er gibt sein Leben für die Herde. Die Fußwaschung im dreizehnten Kapitel erklärt den Sinn seiner Liebe. Die Handlung zeigt, daß Liebe Dienst ist und darum Demut. Daher steht sie auch bei Johannes im Gegensatz zum Ehrgeiz. Liebe und Ehrgeiz schließen sich aus. Dabei macht Johannes ausdrücklich darauf aufmerksam, daß Jesus sich durch 1) Eis 7:E).OS bedeutet nicbt: bis ans Ende, sondern bis zum Äußersten, ganz und gar i vgl. 1. Thess.2, 16; Luk. 18, 5 und außer den von Jülicher, Gleichnisreden Jesu, S. 282 dazu angegebenenen Parallelen aus Hermas noch Barnabas IV, 6 eis 7:E).OS d:rw).euav airrfov und XIX, I I eis 7:iÄos fJ.u~oe.s 7:iv :rOV7J(!OV Also auch Johannes hat den Begriff: ganze, vollkommene Liebe.
155 diese Selbsterniedrigung nicht wegwirft. Sie steht in keinem Gegensatz zu seinem Machtbewußtsein , sondern verbindet sich damit. Gerade die Höhe seines Selbstbewußtseins bewegt ihn zu dieser Selbsterniedrigung 13, 3. Nicht trotzdem, sondern weil er: wußte, daß er der Herr der Welt und der von Gott gekommene sei, verrichtet er den Sklavendienst In seiner Gemeinschaft mit Gott ist seine dienende Liebe begründet. Das Bewußtsein seinet Größe gibt ihm die Freiheit dazu, es begleitet ihn dabei und macht ihm die Erniedrigung möglich. Die Handlung zeigt aber auch den inneren Grund, wodurch die Liebe zur Erniedrigung wird. Sie stellt den Dienst dar, durch den Jesus die Seinigen in Gemeinschaft mit sich hält, und zwar den immer neuen, durch den er alle Störungen der Gemeinschaft immer wieder beseitigt. Die Erzählung hat also nicht etwa einen doppelten Sinn, sondern sie stellt die innere Verknüpfung von Demut und Verzeihung dar: weil er verzeihen will, so muß er sich erniedrigen. 11. Die Erweckung der Liebe. Die Liebe Jesu hat den Zweck, Liebe zu erwecken, und zwar ist seine Absicht und sein Erfolg zunächst, Liebe für sich selbst zu gewinnen 8, 42. Wer Gott zum Vater hat, der muß Jesum lieb gewinnen. Wenn Jesus 15, 24 sagt: "Wenn ich die Werke unter ihnen nicht getan hätte, die niemand getan hat, so hätten sie keine Sünde, nun aber haben sie sie gesehen und hassen doch mich und meinen Vater ," wenn er hier also den negativen Erfolg seines Wirkens als Haß beschreibt, so setzt das voraus, daß. seine Absicht war, Liebe zu gewinnen. Und zwar wird durch seine Werke der Haß zur Sünde, denn seine Werke sind Liebe. Um seiner Liebe willen hätte er Liebe verdient. Das wird auch durch die Worte an die Jünger bestätigt Alle seine Gebote knüpft hier Jesus an die Bedingung der Liebe zu ihm. "Wenn ihr mich liebt" 14, 15. 21. 23. 28; 15, 10. 14; 16, 27. Darin liegt, daß Liebe zu Jesus zugleich Jesu Wille und der Wille seiner Jünger ist Das ist der von Jesus erreichte Erfolg. Die Abschiedsgespräche stellen dar, was er erreicht und was er nicht erreicht hat Schlagend zeigt sich, daß sie ihn nicht verstanden haben. Allein, wenn er alle seine Gebote an die Liebe zu sich
anknüpft, so setzt das voraus, daß sie den Anspruch machen, ihn zu lieben. Einerseits erkennt Jesus das an und knüpft darum an diesen Erfolg sein Gebot an, anderseits stellt er ihre Liebe in Frage. 14, 28 findet sich ebenso gut der Zweifel: "wenn ihr mich liebt," wie v. 7 "wenn ihr mich verstündet". Die Versicherung des Petrus 13, 37, die Johannes in die Formel für die vollkommene Liebe faßt: "Ich will meine Seele für dich geben", glaubt Jesus nicht. Die Meinung des Evangelisten in der ganzen Darstellung ist deutlich: Das Wissen und damit der Wille zur Liebe ist da, aber Kraft und Tat noch nicht. Diese sind erst das Werk des Geistes. "Wenn ihr dies wißt, selig seid ihr, wenn ihr es tut" 13, 17. Dagegen wird die Liebe für die Zeit nach seiner Auferstehung als vollendete Tatsache angesehen. Das Gespräch mit Petrus dreht sich deshalb um die Frage, ob der Jünger ihn liebt. Ist dies erreicht, so ist Jesu Werk gelungen. Das Wort Jesu drückt keinen Zweifel aus, aber es ist Frage, da die Liebe nicht als etwas Selbstverständliches gilt, sondern als eine Schwierigkeit, die sich nur durch Überwindung von Widerständen hält. An dieser Stelle, wie 15, 14 ff. und 16, 27, tritt an die Stelle des Wortes Liebe der Begriff der Freundschaft. Der Wechsel ist nicht absichtslos j 15, 15 wird der Ausdruck am Gegensatz zum Knecht erläutert. Während der Knecht gehorchen muß, ohne daß der Herr sein Gebot begründet, sind die Jünger Jesu Freunde, weil er ihnen sagt, was er vom Vater gehört hat. Der Begriff der Freundschaft, der hier angewandt wird, ist dem von den Griechen herstammenden nahe verwandt. Die Mitteilung des geistigen Besitzes ist das Wesen der Freundschaft. Weil Jesus ihnen seinen inneren Besitz mitteilt, so nennt er sie seine Freunde. Ihr Gehorsam ist nicht blind, wie der des Knechtes, der ein sacrificium intellectus in sich schließt, sondern er wird gefordert, indem das Gebet begründet wird. Darum ist auch Gott ihr Freund 16, 27. Der Ausdruck bezeichnet also ein intimes Verhältnis. Offenbar denkt Johannes dabei an sein eigenes Verhältnis zu Jesus. Eigentümlich ist der Wechsel beider Ausdrücke in dem Gespräche 21, 15 ff. Da Jesus zunächst von Liebe und Petrus regelmäßig von Freundschaft spricht, so daß Jesus diesen Ausdruck bei der dritten Frage ebenfalls aufnimmt, so ist es deutlich, daß der Wechsel einen Grund haben muß, und zwar
157 muß hier der Ausdruck Freund der bescheidenere sein. Nicht Liebe, aber Freundschaft wagt Petrus von sich zu behaupten. Der Grund ist deutlich, Liebe ist bei Johannes da, wo Willigkeit zum Sterben ist. Sie ist nicht Sympathie, Trieb, Neigung, Leidenschaft, sondern Wille. Kann Petrus diese nicht behaupten, sonimmt er wenigstens die natürliche Regung der Freundschaft für sich in Anspruch, denn so unterscheiden sich hier offenbar beide Begriffe. I) Liebe ist etwas Geistiges, Wille und Tat. Freundschaft ist eine Regung natürlicher Sympathie und in dieser Beziehung steht sie unter der Liebe. In dieser Forderung der Liebe spricht sich das ganze mes-sianische Bewußtsein Jesu aus. Jesus nimmt auch nach Johannes eine Liebe in Anspruch, die der Liebe zu den Armen vorgeht 12, 8. Das Recht dazu liegt in seiner Gemeinschaft mit Gott. Wie er Glauben an Gott erweckt in dem Glauben an sich selbst,. so wird in ihm auch Gott geliebt und gehaßt 15,23. Wer Gott zum Vater hat, der muß ihn lieben 8, 42. Jesus sorgt beständig dafür, daß die Liebe zu ihm Liebe zu Gott wird. Er erreicht das durch seine beständige Selbstverleugnung, indem er bekennt, daß sein Wort und Werk nicht sein, sondern Gottes ist. Jede Verehrung, die an ihm haften bleibt, wird mit dem Hinweis darauf, daß was er hat, von Gott stammt, zurück- und auf Gott hingewiesen 7, 15 ff. In der Liebe zu Jesus geht die Selbstliebe zu Grunde 12, 25. Wer ihm nachfolgt, muß die eigene Seele hassen. Die Selbstgefalligkeit macht der Selbstverurteilung Platz._ Den inneren Grund davon deutet Johannes durch den Ausdruck an "seine Seele in dieser Welt"; die Seele gehört zu dieser Welt, und zwischen Jesus und dieser Welt besteht ein Gegensatz. Die Welt haßt Jesum 7,7; 15, 18, weil er ihre Sünde offenbar macht 3, 20. Sie kommt ihm gegenüber zum Bewußtsein und zum Vorschein und zwar in der Weise, daß er das Gewissen unwillkürlich weckt. Er überfUhrt. Wenn neben dieser Überführung der sündige Wille bestehen bleibt, so entsteht der Haß gegen Jesus. Wo das nicht der Fall ist, entsteht der Haß gegen die eigene Seele. Wer sein Werk in Gott tut, dem gewinnt Jesus Liebe ab. 1) Cf. Cremer s. v. dya:rrato.
Die Liebe zu Jesus ist für Johannes das normale notwendige Verhältnis zu Jesus. Es entsteht nicht erst bei dem, dem Jesus persönlich Liebe erwiesen hat. Normalerweise ist es nicht erst die Folge seiner Gabe, sondern der Herrlichkeit Jesu .an sich selbst. Die Widerstände, die die Liebe erschweren, liegen nicht in Jesu Person, vielmehr ist die Liebe zu ihm das natürliche notwendige korrekte Verhalten, welches schon aus der Wahrnehmung Jesu folgt, nicht erst dann, wenn sich Gnade und Hilfe Jesu dem Menschen direkt zuwendet. Liebe zu Jesus ist jedoch nur für den natürlich, der mit Gott Gemeinschaft hat 8, 42. Wer sein Werk in Gott tut, der liebt das Licht. :Darum erwartet Jesus auch eine wirkliche Liebe, die frei ist von selbstischem Interesse. Wenn die Seinen ihn liebten, so würden sie sich über seinen Fortgang zum Vater freuen, weil ja Jesus dadurch gewinnt. Nicht auf den Gewinn, den sie haben, .sondern auf den, den er hat, weist er sie hin. Jesus erwirkt von -den Jüngern ein Interesse an seiner Person, welches nicht erst
159 Die Liebe Jesu zu den Seinen spricht sich darum darin aus, daß er von sich selbst spricht, nicht von seinem Verhältnis zu der Welt und zu ihnen, sondern von seinem Verhältnis zum Vater. Das Evangelium ist deshalb ganz und gar die Christologie. Die zweite Äußerung der Liebe ist das Ne h m e n Jesu. Er will hingenommen sein. Deshalb wird der Mißerfolg Jesu in den Worten ausgedrückt, "die Seinen nahmen ihn nicht auf" I, 1 I, und sein Tadel lautet: "Ihr nehmt mich nicht auf" 5, 43. Die Verheißung gilt denen, die er aufnimmt I, 12; 13, 20. Was Jesus zunächst verlangt, ist, daß sich das Verlangen des Menschen auf ihn wendet und sich ihm öffnet. Nicht Aktivität, sondern Rezeptivität, ist das erste, was er fordert. Diese Forderung wird im sechsten Kapitel in das Bild des Essens und Trinkens gefaßt. Johannes scheidet in der Aufnahme Jesu nicht zwischen GI a u b e und Li e b e. Die Synonyma, die er wählt, sind ebensogut Ausdrücke für Liebe wie für Glaube: Hinnehmen, Aufnehmen, Essen, Trinken bezeichnen das auf Jesus gerichtete Verlangen, das seinem Geben entsprechende Verhalten. Dieses Verhalten ist Glaube und Liebe. Sachlich läßt sich beides nicht von einander scheiden. Liebe und Glaube verbindet Johannes 3, 18-21 in umgekehrter Reihenfolge. Der vermag ihm nicht zu glauben, der ihn nicht liebt i wer ihn liebt, der glaubt, und wer sein Werk in Gott tut, der liebt ihn. Die Glieder der Kette werden hier also in einem Zusammenhange vorgeführt, der dem traditionellen entgegengesetzt ist. Aus dem Wirken des Menschen entsteht sein Lieben und aus seinem Lieben sein Glauben. Aus der Liebe zu Jesus soll nach Johannes der Geh 0 r sam folgen. " Liebt ihr mich, so haltet meine Gebote." Liebe und Gehorsam werden von einander unterschieden. Die Liebe kann deshalb da sein und der Gehorsam ausbleiben. Es bedarf eines neuen Entschlusses, damit aus der Liebe der Gehorsam wird, und darum eines Gebotes, das diesen Entschluß sicher stellt. Denn Liebe ist Rezeptivität und Gehorsam Aktivität. Normalerweise ist mit der Liebe die Bereitwilligkeit zum Dienst, der Gehorsam da. Liebe und Gehorsam verhalten sich wie Wille und Tat 14,23; 15,10, 17i 21, 15 ff. "Wer meine Gebote hält und sie bewahrt, der ist es, der mich liebt" 14, 21; 15, 10. Erst durch die Tat wird der Wille vollkommen. Liebe ohne Gehorsam
160 ist darum doch keine wirkliche, "vollkommene" Liebe. Daß mit der Liebe die Bereitwilligkeit zur Folgsamkeit da ist, das zeigt das Gleichnis vom Hirten, Kapitel 10. Der rechte Hirte ist daran zu erkennen, das ihm die Herde willig folgt, während die, die Zwang nötig haben, eben damit beweisen, daß sie falsche Hirten sind. Das Machtbewußts.ein Jesu aber spricht sich darin aus, daß er gewiß ist, willige Folgsamkeit zu erzeugen. Darum ist Liebe Freiheit vom Gesetz. Kapitel 10 stellt sich Jesus dem Nomismus gegenüber. Wie er selbst vom Gesetz frei ist, Sohn und nicht Knecht, weil er aus Liebe dem Vater gehorcht 15, 10, so sind auch die Seinen frei vom Gesetz. Es ist aber nicht ganz richtig, dies so auszudrücken, Liebe sei Autonomie. Der Liebende stellt sich nicht selbst das Gebot, sondern Jesus stellt es. Die aus der Liebe folgende Tat hat den Charakter des Dienstes, des Gehorsams gegen Jesu Gebot. Wie Jesus durch seinen Gehorsam gegen Gott in der Liebe Gottes bleibt, so bleiben die Seinen durch Gehorsam gegen ihn in seiner Liebe 15, 9 ff. Aus der Liebe entsteht der Gehorsam, und der Gehorsam erhält in der Liebe. Durch den Ausdruck "Bleiben in meiner Liebe" wird die Liebe zu Jesus als etwas Objektives bezeichnet. Sie ist nicht Erzeugnis des Menschen selbst, sondern etwas ihm Gegebenes. Er kann die Liebe nicht willkürlich in sich erwecken, sondern das Behalten der Liebe oder ihr Verlust ist der indirekte Erfolg seiner Tat.
111. Das Liebesgebot. Das Gebot Jesu, das der halten soll, der ihn liebt, ist das Gebot der Liebe zu den Brüdern. Sie zu erwecken, ist nach Johannes das Ziel Jesu. Er liebt, damit sie lieben. Wo die Liebe ist, da ist sein Ziel erreicht. Sie ist deshalb das Kennzeichen seiner Jünger. Sie ist das eine und einzige Gebot Jesu, und zwar bezieht sich die Liebe auf die Brüder. Sie ist dann da, wenn sie alle eins sind. Eine Gemeinde zu begründen, die in sich einig ist, das ist Jesu Ziel. Weil die Erweckung der Liebe sein Zweck ist, so besteht sein Werk nicht in der Rettung einzelner. Durch die Liebe, die er erreicht, wird die Vereinzelung aufgehoben, und es entsteht eine in sich verbundene Gemeinde, die eine
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Einheit, ein Ganzes bildet. Die zerstreuten Kinder Gottes ,zu:r Einheit zusammenzuführen, ist der Zweck seines Todes. Einheit ist da, wo Liebe ist. So wird also die Erweckung der Liebe auch als Zweck seines Todes bezeichnet 1I, 52. Durch die Erweckung der Liebe wird aus der Vereinzelung und Zersplitterung die in sich einige Gemeinde. Liebe und Gemeinde gehören für Johannes zusammen: durch die Liebe entsteht die Gemeinde. Im 17. Kapitel nennt Jesus als sein Ziel, daß sie alle eins seien 17, 11. 21. 22. 23. Dies ist sein letztes und höchstes Ziel, alles andere ordnet sich ihm unter. Jesus nennt als die Gabe, die er den Seinen gegeben hat, den Namen Gottes. In seinem Namen soll Gott sie bewahren, damit sie eins seien v. 6, v. 1 I. Auch seine Herrlichkeit hat er ihnen dazu gegeben, damit sie eins seien v. 22. Alle seine Gaben haben dieses eine Ziel: sie sind Befähigung zur Liebe. Die Einheit der Gemeinde entsteht durch die Gemeinschaft ihrer Glieder mit Jesus. Dadurch, daß Jesus in ihnen und Gott in Jesus ist, werden sie vollendet zur Einheit. Einheit ist Vollendung, indem sie erreicht ist, ist etwas Ganzes erreicht. 1) Das Werk Jesu ist nun kein Bruchstück, sondern wenn die Einheit erreicht ist, so ist es gelungen. Die Gemeinde ist etwas Vollkommenes. Die Einheit der Gemeinde vergleicht Jesus mit seiner Einheit mit Gott. Der Gedanke ist keineswegs erschöpft, wenn man darin die Einigkeit, die Einheit des Zweckes ausgedrückt findet. Die Einheit zwischen Gott und Jesus besteht darin, daß Gott seinen ganzen inneren Besitz, seinen Geist Jesus mitteilt. Dieses wechselseitige Geben und Nehmen stiftet auch die Einheit der Gemeinde. Liebe vollzieht sich für Johannes im Geben und Nehmen, in der Gemeinschaft des inneren Besitzes. In v. 21 wird die Einheit der Gemeinde durch die \\7 orte be.schrieben: "Wie du in mir und ich in dir." Damit ist noch deutlicher ausgedrückt, daß es sich hier nicht um sachliche Gaben handelt, sondern daß jeder dem anderen sich selbst gibt. Dies ist auch die Liebe, die Jesus in der Gemeinde erwecken will. Die Einheit der Gemeinde ist für die Welt der Beweis der göttlichen Sendung Jesu v. 23. Sie ist sein Werk, und sie trägt, auch für die Welt erkennbar, das Merkmal Gottes an sich. Liebe ist etwas 1) Auch hier ist wieder Liebe und Vollkommenheit, "Ganzheit" mit einander -verbunden. Lütgert, Die Liebe im N. T.
II
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Göttliches. Das ist sie auch für das Urteil der Welt. Gerade weil die Welt sie nicht zu erzeugen vermag, so kann sie erkennen, daß sie nicht Ergebnis menschlichen Willens und Wirkens, sondern Gottes Werk ist. Ist Jesus also die Erweckung der Liebe gelungen, so ist damit seine göttliche Sendung, auch für die Welt, bewiesen. Ferner erkennt die Welt daran, daß Gott die Gemeinde so geliebt hat, wie er Jesum geliebt hat. Sagt der erste Schluß, Liebe entsteht aus Gott, so sagt der zweite, Liebe entsteht aus Gottes Liebe. Aus der Wirkung wird die Ursache erkannt: nur wer geliebt ist, vermag zu lieben, und wie Jesus zu lieben vermag nur der, der wie Jesus geliebt ist. Ist Liebe etwas Göttliches, so kann sie nur aus göttlicher Liebe entstehen. Die Liebesübung innerhalb der Gemeinde, durch welche die Einheit der Gemeinde entsteht und in der sie besteht, beschreibt Kapitel 15, 1-17. Denn das Fruchtbringen, von dem hier die Rede ist, ist eben die Liebesübung , die Jesus erwecken will. Das Bild vom Weinstock sagt, daß die Fähigkeit zum Fruchtbringen, zum Wirken, d. h. zum erfolgreichen Lieben, zu einem solchen Lieben, das zum reellen Geben wird, von der Gemeinschaft mit Jesus abhängt. Jesus gibt nicht nur den Willen, sondern auch die Kraft zur Liebe. Die Liebe ist schöpferische Tat. Für sich selbst ist der Mensch nicht produktiv, er vermag nicht zu geben und zu wirken. Nun ist es Jesu Ziel, ihn zum produktiven schöpferischen Wirken, zum Geben, zum Fruchtbringen zu befahigen. Diese Fähigkeit empfangt er durch die Gemeinschaft mit Jesus. Und zwar handelt es sich hier nicht um sachliche Erträge der Wirksamkeit, sondern um persönliche, um den gestaltenden, bildenden Einfluß, den sie auf Menschen gewinnen. Die Frucht ist das Ergebnis ihrer Liebe. Li e ben und Wirken ist für Johannes dasselbe. Daß Jesus gekommen ist, um Liebe zu erwecken, und daß er das Ziel hat, fruchtbar zu machen: beide Sätze sagen dasselbe. Die Gemeinschaft mit ihm macht fahig zu einem reellen Geben, zu einer Produktivität, die wirkliche Ergebnisse hat. Er gibt ihnen Anteil an seiner schöpferischen Macht. Da das Fruchtbringen ihr Zweck ist, so werden sie nach diesem Zweck behandelt. Bringen sie keine Frucht, so werden sie von Jesus getrennt, bringen sie Frucht, so werden sie gereinigt. Die Reinigung ist das Bild der Befreiung-
von der Sünde. Sie wird hier der Liebesübung untergeordnet: die Sünde wird entfernt, weil sie die Liebesübung stört und hemmt. Das letzte Ziel Jesu ist positiv. Zum Wirken befähigt Jesus nicht so, daß er den Seinigen eine Kraft mitteilte, die er an sie abgibt, vielmehr müssen sie in dauernder Gemeinschaft mit ihm bleiben, immer neu empfangen, um immer neu wirken zu können. Das Bild führt denselben Gedanken aus, der 17, 23 so ausgedrückt ist, daß sie eins sind, dadurch, daß Jesus in ihnen und Gott in Jesus ist. Sie verhalten sich zu Jesus, wie Jesus sich zu Gott verhält. Wie Gottes Liebe Jesum zur Liebe befähigt, so Jesu Liebe sie; wie Jesus ohne Gott nicht wirken kann, so sie nicht ohne Jesus. Wie Jesus ihnen gibt, was Gott ihm gab, so geben sie einander, was Jesus ihnen gab. In dieser Willigkeit und Fähigkeit zum Geben besteht die Liebe, die Jesus erweckt v. 9, 10, 12, 17. Das Gleichnis zeichnet das johanneische Gemeindeideal und damit zugleich sein Lebensideal. Zum Wirken sind die Jünger bestimmt. Sie wirken, indem sie den anderen geben, was sie selbst von Jesus empfangen haben. Aus diesem wechselseitigen Geben und Nehmen entsteht die in sich einige Gemeinde. Aus der Liebe entsteht die Fr e u d e v. 11; indem in der Gemeinde jedem eine Aufgabe gegeben ist, ist ihm Freude gegeben und zwar ganze Freude. Sie entspringt als Ergebnis aus dem gelingenden Wirken. Das Verlangen nach Freude ist für Johannes nicht das letzte und höchste religiöse Motiv, dies ist vielmehr das Verlangen nach Liebe und Wirksamkeit. Aber mit dem einen wird auch das andere befriedigt. Weil Johannes erst die Gemeinschaft in der Gemeinde, erst die gegenseitige Mitteilung der Gemeinschaft mit Jesus und Gott Liebe nennt, so formuliert er das Liebesgebot so: die Jünger sollen ein an der lieben, denn nur die vollkommene Liebe, die die Gemeinschaft mit Gott mitteilt, nennt er Liebe, und nur die gelungene Liebe, in der der eine nimmt, was der andere gibt. Die Liebe ist daher nur in der Gemeinde Tatsache, von der Welt ist sie durch den Haß geschieden 15, 18 ff. Doch spricht Johannes nicht vom Haß der Gemeinde zur Welt. Der Haß geht von der Welt aus, er ist nicht nur eine Tatsache, sondern eine Innere Notwendigkeit. Die Welt haßt die Gemeinde, weil sie Jesum 11
gehaßt hat, und diesen Gegensatz wird die Gemeinde ebensowenig überwinden, wie Jesus ihn überwunden hat. Er stammt aus dem Gegensatz zwischen Gott und Welt. Der Beweis für die Größe und den satanischen Charakter dieses Hasses ist Christi Kreuz. Johannes sieht daher zwischen Gott und Welt und darum zwischen \Velt und Gemeinde nur Gegensätze: Leben und Tod, Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Liebe und Haß, Gotteskindschaft und Teufelskindschaft. Er kennt darum keine relativen Differenzen, sondern sieht in ihnen allen absolute Gegensätze, zwischen denen es keine Vermittlungen gibt. Liebe zur Welt gibt es darum nicht. Wo die Liebe wirklich gelingt, da bildet sich eben die Gemeinde. Diese Spannung in der Liebe entspricht der Spannung in der göttlichen Liebe. Einerseits spricht Johannes von einer Liebe Gottes zur Welt, daneben stehen die Worte über seine Liebe zur Gemeinde. Gott liebt den, der seinen Sohn liebt 14,21. 23. Er liebt die Gemeinde so, wie er Jesu liebt 17, 23. Am eigentümlichsten wird der Gedanke 17, 26 ausgedrückt: Jesus hat den Seinigen Gottes Namen kundgetan, "damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen". Der Ausdruck soll sagen, daß die Liebe Gottes ihnen nicht etwas Äußerliches bleiben soll, sondern in ihr Inneres hineinreicht. Die Liebe Gottes zur Welt bleibt der Welt etwas Äußeres. Sie äußert sich darin, daß er seinen Sohn gibt. Von dieser Liebe unterscheidet Johannes die Liebe, die ins Innere des Menschen hineindringt und ihn gestaltet. Sie besteht wie das besonders im ersten Briefe deutlich wird, darin, daß Gott seinen Geist und damit sich selbst gibt. Der höchste Erweis seiner Liebe ist, daß Gott im Menschen Wohnung macht 14, 23. Dies ist nur bei dem möglich, der sich ihm öffnet. Die Liebe Gottes zur Welt besteht darin, daß er seinen Sohn gibt, die Liebe zur Gemeinde darin, daß er mit seinem Sohne seinen Geist gibt, den die Welt nicht empfangen kann 14, 17. Der Geist aber dringt ins Innere des Menschen ein. Erst dies ist wirklich ganze und gelungene Liebe. Sie ist nicht nur Bereitwilligkeit zur Liebe, sondern hingenommene Liebe und darum vollendete Tat.
Z usa m m e n s t e 11 u n g bei der B e r ich t e. In einer Reihe von wichtigen Zügen s tim m t die Darstellung des Johannes mit der der Synoptiker übe r ein. I. Beide schildern Jesu Wirken als allmächtige Liebe, nach beiden hat er seinem eigenen Worte gemäß keine Bitte um Hilfe abgewiesen. 2. Nach beiden Berichten schlägt Jesus die Zeichenforderungen, die ihren Grund nicht in der Not, sondern im Unglauben haben und also nicht um Hilfe bitten, sondern eine Legitimation Jesu und ein Glaubensmotiv fordern, regelmäßig ab. 3- Nach beiden Berichten will Jesus durch seine allmächtige Liebe Glauben erwecken. 4. Nach beiden fordert Jesus um seiner Liebe willen für sich eine Liebe, die jeder anderen Liebe vorangeht, ja die in Gegensatz zu ihr tritt und sie zerstört. Durch die Liebe zu Jesus geht mit der Eigenliebe auch alle natürliche Liebe unter. 5. Nach beiden Berichten ist die Liebe Jesu Gnade, d. h. er schließt das Gericht aus seiner messianischen Aufgabe aus. 6. Nach beiden hat Jesus als die höchste Äußerung seiner Liebe nicht seine Heilungen, sondern die Sündenvergebung, die Gnade angesehen. 7. Nach beiden vergibt Jesus die Sünden im Namen Gottes, d. h. er handelt auch hier in allmächtiger Liebe. 8. Nach beiden sieht Jesus sein Wort als seine höchste Gabe an, weil er mit demselben das Reich Gottes oder das ewige Leben gibt. 9. Nach beiden beurteilt Jesus selbst seinen Tod als eine Tat seiner Liebe. Er sieht seinen getöteten Leib und sein vergossenes Blut als eine Gabe an, durch welche er den Seinen die Sündenvergebung oder das ewige Leben gibt. 10. Nach beiden hat Jesus das Liebesgebot als das eine höchste Gebot gegeben. 1 I. Nach beiden fordert das Liebesgebot die Liebe zu Gott und zu den Menschen. 12. Nach bei den hat Jesus die Liebe nicht nur gefordert, sondern geweckt.
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13. Nach beiden hat Jesus als höchste Liebespflicht gefordert, das, was er selbst g~geben hat, weiter zu geben, und die U nterlassung dieser Pflicht mit dem Gericht bedroht. Johannes u nt er s ehe i d e t sich dadurch von den Synoptikern, daß er erst die ganze Liebe, die die höchsten Äußerungen in sich schließt, Liebe nennt. Nach beiden ist Liebe etwas Vollkommenes, Ganzes. Der Unterschied entspricht genau der im Glaubensbegriff vorliegenden Differenz. Wie Jesus nach den Synoptikern jedes wirkliche und ganze Vertrauen ohne Rücksicht auf den Inhalt der Bitte, in der es sich äußert, Glauben nennt, während er nach Johannes erst die Zustimmung zu seiner Messianität als Glauben anerkennt, so erkennt er auch nach den Synoptikern jede, auch die kleinste Wohltat als Liebe an, die mit dem Himmelreich belohnt wird. Liebe ist etwas Ganzes, wo sie überhaupt ist, ist sie ganz. Johannes kehrt diesen Grundsatz um: nur die ganze Liebe, die alles getan hat, was zu tun ist, ist Liebe. Daraus ergeben sich im einzelnen folgende Differenzen. I. Für Johannes liegt in jedem 'Wunder Jesu sein ganzes und höchstes Ziel. Er bietet mit jeder Hilfe das Himmelreich an, jedes seiner Werke stellt sein eines Werk dar. 2. Da der Tod Jesu die höchste Äußerung seiner Liebe ist, so hebt er von Anfang an seinen Willen zum Sterben hervor. Ebenso sieht Johannes im Haß den Willen zum Töten, er sieht deshalb in dem ersten Gegensatz seiner Gegner den Entschluß, Jesum zu töten. 3. Johannes stellt von der gesamten Predigt Jesu nur das Liebesgebot dar. Alle die mannigfachen und konkreten Aufgaben und Probleme, die nach den Synoptikern besprochen werden, fallen bei Johannes fort. Da sich im Liebesgebot der Wille Jesu zusammenfaßt, so hat Johannes die Absicht, auch bei seiner Darstellung den ganzen Willen Jesu unverkürzt und vollständig wiederzugeben. Faßt sich wirklich in das Liebesgebot der ganze Wille Gottes und Jesu zusammen, so ist mit dem höchsten Gebot Jesu sein ganzes Gebot wiedergegeben. Diese Reduktion der Predigt Jesu entspricht also nur der Eigentümlichkeit des Johannes, nur die höchste Äußerung zu geben, in der Meinung und Absicht, damit das Ganze zu geben. 4. Aber auch in der Wiedergabe des Liebesgebots selbst
setzt sich diese Eigentümlichkeit der johanneischen Denk- und Darstellungsweise fort. Während die Synoptiker vor allen Dingen Worte Jesu über die Wohltätigkeit geben, während sie bei ihm freilich nicht die einzige und erst recht nicht die höchste, wohl aber die gewöhnlichste und einfachste Form der Liebesübung ist, überspringt Johannes diese Äußerung der Liebe vollständig. Statt dessen nennt er nur die höchste Liebesäußerung, das Geben der Seele und die Mitteilung der Gabe Christi, durch welche die Gemeinde gestiftet wird. Auch dies tut er nicht in der Absicht oder in der Meinung, die Predigt Jesu zu entstellen, sondern wiederum in der Überzeugung, mit der höchsten Äußerung der Liebe die ganze Liebe darzustellen. Mit der Liebe, die er darstellt, ist die Bereitwilligkeit zu jeder anderen Gabe da, und erst mit dem Willen, den Johannes beschreibt, ist die Liebe wirklich und ganz da. Er nennt deshalb als Hemmung der Liebe nicht den Geiz, sondern nur den Ehrgeiz. Liebe ist ihm ein Wirken. Beim Wirken besteht die Wahl zwischen dem Wirken für sich oder für andere, dem Ehrgeiz oder der Liebe. Bei den Synoptikern stehen die Gebote Jesu in ihrer Vielheit und Mehrheit neben einander, durch verschiedene Anlässe hervorgerufen als Antworten auf bestimmte Fragen und Auskünfte in verschiedenen Situationen. Ihre Darstellung hat den Wert konkreter Anwendung des Liebesgebots in bestimmten Lagen. Jesus gibt keine Ethik, er ist kein Theoretiker, sondern beantwortet immer nur die Frage, was jetzt und hier Gottes Wille ist. Daran konnte und kann sich das Mißverständnis heften, daß Jesus keinen einheitlichen Willen, kein klares und festes Ziel gehabt habe, sondern über allerlei Fragen allerlei Auskunft gegeben habe, Kasuistik. Damit war die Gefahr einer neuen Gesetzlichkeit gegeben, als sei der 'Wille Jesu geschehen, wenn seine einzelnen Gebote erfüllt seien, Eid und Ehescheidung vermieden, Almosen gegeben usw. Johannes übergeht daher alle diese Einzelheiten und gibt auf die Frage nach Ziel und Willen Jesu die Antwort: die Erweckung der Liebe.
5. Kapitel.
Die Liebe
In
der ersten Gemeinde.
Die Bedeutung, die die Liebe in der Gemeinde hat, spiegelt sich in der Verbreitung des Wortes in der neutestamentlichen Literatur. 1) Die Gemeinde ist sich bewußt, von Gott geliebt zu sein. Die christliche Gemeinde in Rom heißt: "Die Geliebten Gottes, die in Rom sind" Röm. I, 7. Sie sind die Heiligen und Geliebten KoI. 3, 12. Sie sind Gottes geliebte Kinder Eph. 5, I. Von derLiebe Gottes wirdgesprochenLuk. II,42; Joh.5,42; Röm. 5, 5; 8, 39; 2. Kor. 13, 13; Eph. 2, 4; 2. Thess. 3, 5; I. Joh. 2, 5. 15; 3, 17; 4,9. 12. 16 (die Liebe, die Gott hat); 5,3. Der Gott der Liebe findet sich 2. Kor. 13, II. Die Liebe Gottes gilt zuerst seinem Sohne, er ist der Geliebte Matth. 3, 17; 12, 18; 17, 5; Mark. I, II; 9, 7 (12, 6); Luk. 3, 22; 9, 35 (20, 13); 2. Petr. I, 17; Joh·3, 35; 10,17; 15,9; 17, 23 ff. 26 ; Eph. 1,6. Der Sohn seiner Liebe KoI. I, 13. Von der Liebe Gottes zu den Menschen wird gesprochen Joh. 3, 16 (er liebte die Welt); 14, 21. 23; 17, 23; RÖm. 8, 37; 9, 13 (Jakob); 2. Kor. 9,7; 2. Thess. 2, 16; Hebr. 12,6; I. Joh. 4, IOff., 19. Ebenso wird von der Liebe Christi zu der Gemeinde gesprochen Joh. 13, I; 15, 9. 12; Röm. 8, 35; 2. Kor. 5,14; Eph. 3,19; 5,2.25; 2. Thess. 2,13; Apoc. 1,5; 3, 9; Gal. 2,20 (er hat mich geliebt). Von der Liebe Christi zu Gott spricht Joh. 14,31; 15,10. Von der Liebe der Menschen zu Gott wird gesprochen im Liebesgebot Matth. 22, 37; Mark. 12, 30; Luk. 10, 27; ferner Röm. 8, 28; 1. Kor. 2,9; 8, 3; Jak. I, 12; 2, 5; I. Joh. 1) In der folgenden Statistik sind nur die Hauptbeziehungen, in denen das Wort vorkommt, zusammengestellt.
169 4, 21; 5, 2 (im verneinenden Sinne I. Joh. 4, 10. 20). Das Verhältnis der Gemeinde zu Christus wird als Liebe beschrieben Joh. 14, 23; Eph. 6, 24; I. Petr. I, 8; 2. Tim. 4, 8 (Joh. 8,42). Die Liebe steht als wesentliches und charakteristisches Moment der christlichen Frömmigkeit sehr häufig ne ben dem GI a ub e n. Beide zusammen bilden sie das Kennzeichen der Gemeinde I. Kor. 13, 13 (mit der Hoffnung); GaI. 5,6 (Glaube durch Liebe wirkend); 5, 22 steht die Liebe in der Reihe der Wirkungen des Geistes, die die Frucht des Geistes ausmachen, an erster Stelle. Eph. 6, 23 stehen Friede, Liebe mit Glauben als Wunsch des Apostels für die Gemeinde neben einander, PhiI. I, 9 ist das Gebet des Apostels, daß die Liebe der Gemeinde mehr und mehr Z\:lnehme. KoI. I, 4 wird der Christenstand in der Gemeinde, für den der Apostel dankt, bezeichnet als Glaube und "die Liebe, welche ihr habt zu allen Heiligen", cf. Eph. I, 15. Ebenso bildet es 3, 17 den Inhalt des Gebetes des Apostels, "daß Christus durch den Glauben Wohnung machen möge in den Herzen (der Gemeinde) und daß sie in Liebe festgewurzelt und gegründet seien." In demselben Sinne steht beides neben einander Philemon 5. Was Epaphras dem Apostel von der Gemeinde erzählt hat, ist deren Liebe im Geist KoI. 1,8. Ebenso ist das, was Timotheus dem Apostel von der Gemeinde zu berichten hat, deren Glaube und Liebe I. Thess. 3,6. Neben dem Werk des Glaubens und der Standhaftigkeit der Hoffnung steht I. Thess. I, 3 die Mühe der Liebe als Beweis des Christenstandes der Thessalonicher. Glaube und Liebe stehen neben der Hoffnung auch I. Thess. 5, 8 j ebenso in dem Zusammenhang Hebr. 10, 22-24. In den Pastoralbriefen findet sich die Zusammenstellung von Glaube und Liebe I. Tim. I, 14; 4, 12 in einer längeren Tugendliste 6, 11: hier folgt die Geduld. 2. Tim. I, 13 j 2, 22 mit Gerechtigkeit und Frieden zusammen. 2. Tim. 3, 10 wiederum in einer längeren Liste von Tugenden neben dem Glauben und der Geduld. Als Vorbild der Liebe gilt Christus. In dieser Beziehung gilt das Gebot der Nachahmung Christi. Es bezieht sich also freilich nicht auf eine Askese, welche ihren Zweck in sich selber hätte; aber es gilt in Bezug auf die Liebe. Was Liebe ist, hat erst Christus gezeigt, darum lautet das Liebesgebot : lieben wie Christus, Matth. 20,28 j Joh. 13, 34; Röm. 15,2 f. j Eph. 5,2; 1. Kor.
17° J I, I. Nachahmung Christi ist Nachahmung Gottes Eph. 4, 32-5,2: "wie Gott euch vergeben hat in Christo, so vergebt auch ihr einer dem andern; werdet also auch ihr Gottes Nachahmer als die lieben Kinder". V gl. weiter Phil. 2, 4 ff.; I. Petr. 2, 2 I ff.; I. J oh.
4, 17. 1) Das Li e b e s g e bot wird in den Briefen nicht häufig zitiert, Röm. 13,8; Gal. 5,14; Jak. 2,8. Die Liebe gilt in der Gemeinde nicht nur als das Gebot Christi, sondern sie ist als Wirkung Jesu in ihr zur Tatsache geworden. Jesus hat die Liebe erweckt, jedoch nicht in der Weise, daß sie nicht auch geboten werden müßte. Sie ist Wille, der zwar durch Jesus begründet ist, der aber auch gefaßt werden muß und daher geboten wird. Durch das Liebesgebot, welches als das eine Gebot für zwei so weit von einander abstehende Typen der ersten Gemeinde wie Paulus und Jakobus das ganze Gesetz zusammenfaßt, ist die Kasuistik überwunden. Während sie in der Synagoge die entscheidende Rolle spielt, ist sie in der Gemeinde sofort und ganz verschwunden. Den stärksten Gegensatz gegen alle Kasuistik zeigt Johannes. Hier lautet das Gebot nur: einander lieben, ohne daß dem Gebot irgendein konkreter Inhalt gegeben wird. Die Freiheit vom Gesetz bleibt nicht nur Theorie, sondern ist zur Tatsache geworden. Die Gemeinde hat nur ein Gebot. Die Freiheit vom Gesetz führt darum nicht zum Antinomismus, es tritt nur an Stelle der vielen Gebote das eine Gebot. Aber damit ist nicht nur ein einfacheres Gesetz an die Stelle des komplizierten Gesetzes getreten, denn die Liebe ist nicht nur Gottes Wille, der als Gesetz auf der Gemeinde liegt, sondern sie ist zum eigenen Willen der Gemeinde geworden, und insofern ist die Gemeinde autonom. Die Anwendung des Liebesgebots auf die Situation der einzelnen und deren konkrete Aufgaben wird dem einzelnen überlassen. Mit der Liebe ist er frei. Der Unterschied von der synagogalen Gemeinde ist in diesem Punkte radikal. In einer Schrift, die der Synagoge so nahe steht wie der Jakobusbrief, findet sich nichts von Kasuistik, selbst nicht bei Gelegenheiten, die das so nahe legten, wie die im zweiten Kapitel besprochenen Anliegen. Eine 1) Vgl. auch Bosse, Proleg. zu einer Geschichte des Begriffes "Nachfolge Christi". Berlin 1895.
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Berufung auf das Liebesgebot ersetzt hier jede Kasuistik. Ebenso auffallend ist das Fehlen der Kasuistik in solchen Erörterungen, wie in I. Kor. 7 oder 8. I. Kor. 8 wird die vorliegende Frage nicht durch kasuistische Erwägungen, sondern durch Berufung aut die Liebespflicht entschieden. Dieselbe Beobachtung läßt sich Röm. 14 machen. Die Schwierigkeit, die hier besprochen wird, würde in der Synagoge sicherlich zu kasuistischen Erwägungen Anlaß gegeben haben. In allen diesen Fällen tritt das Liebesgebot an die Stelle der Kasuistik. Streitigkeiten über praktische Fragen werden nicht exegetisch entschieden, sondern den Maßstab über das, was zu tun und zu lassen ist, gibt das Liebesgebot ab. Zum Beispiel die Argumentation Jak. 2,8 setzt voraus, daß die Gemeinde sich für ihr Entgegenkommen gegen die Reichen auf das Liebesgebot berufen hat. Jakobus weist demgegenüber nach, daß damit das Liebesgebot nicht erfüllt, sondern übertreten ist. Daß der Maßstab für Recht oder Unrecht ihres Benehmens im Liebesgebot zu suchen ist, das wird von beiden Teilen vorausgesetzt. Ebenso wird Röm. 14 und I. Kor. 8 nur nach diesem Maßstab entschieden, was den anderen fördert ist gut, was ihn schädigt, ist Sünde. In dieser Allgemeinheit bleibt die Regel: eine konkrete allgemeingültige Entscheidung für den bestimmten Fall wird nicht gegeben. Der einzelne hat im gegebenen Fall selbst zu entscheiden, was zu tun ist. Durch diese Pflicht der Rücksicht auf den anderen wird die Freiheit des Glaubens eingeschränkt. Die Liebe ist insofern Freiheit vom Gesetz, als der, der liebt, sich den Imperativ selbst stellt. Diese Freiheit ist jedoch nicht nur Freiheit von der Schrift, sondern auch Freiheit von der Vorschrift der Apostel. In ethischen Fragen tritt daher keiner von ihnen mit gesetzlicher Autorität auf. Das zeigt sich zunächst darin, daß alle ethischen Imperative begründet werden; ferner in der Sorgfalt, mit der z. B. Paulus seine persönliche Meinung gegen die Autorität des Herrn abgrenzt, I. Kor. 7. Eigene Kenntnis Gottes und seines Willens und damit Unabhängigkeit vom Lehramt bildet einen Grundzug der apostolischen Gemeinde, Joh. 6, 45; Ebr. 8, 11; I. Thess. 4, 9; I. Joh. 2, 20. 27; Röm. 15, 14. Die Befreiung der Gemeinde von der gesetzlich gebrauchten Schriftautorität bleibt bei den Aposteln dadurch rein von aller revolutionären Emanzipation, daß der
17 2 Apostelkreis die Gemeinde auch frei macht von einer gesetzlichen apostolischen Autorität. Ja sogar die Autorität Jesu wird nicht gesetzlich gebraucht. Wie oft wird es als ein schwerer Fehler der Briefliteratur hervorgehoben, daß die Worte Jesu so überaus selten zitiert werden. Man sieht darin häufig ein Zurücktreten der Predigt Jesu, das verhängnisvoll gewirkt habe. Aber das ist kein Zufall und noch viel weniger eine bewußte oder unbewußte Loslösung der Gemeinde von Jesus. Während die Gemeinde einerseits in ihrem ganzen Besitz von Jesus abhängig und an ihn gebunden ist, vermeidet der Apostelkreis andererseits mit gutem Grunde seine Forderungen mit einer Berufung auf einzelne Worte Jesu zu begründen, denn damit würde nur ein neuer Nomismus an die Stelle des alten getreten sein. Nicht als wären die Worte Jesu für die Gemeinde nicht wirklich Ge set z. Er hat ein neues Gesetz gegeben. Das Liebesgebot ist das Gesetz Christi, die Liebe ist auch für Johannes sein Gesetz, und Gesetz sind für die Gemeinde die Worte Jesu auch im einzelnen. Seine Worte über die Ehe haben für Paulus die Autorität eines für die Gemeinde geltenden Gesetzes, das er sorgfaltig von seiner eigenen Meinung unterscheidet. I. Kor. 7, 10. 12j 14, 37. Aber in der Liebe zu Jesus ist eben sein Wille zum eigenen Willen der Gemeinde geworden. Sie hält seine Gebote darum, weil sie ihn liebt. So begründet diese Freiheit vom Worte Jesu ist, so wird sie doch ganz unreflektiert und unwillkürlich geübt, weil eben Jesus der Gemeinde nicht nur als Gesetzgeber gilt, sondern als der, der die Liebe erzeugt hat. Die Art, wie sich die Liebe in der Gemeinde äußert, ist durch den Grundsatz bestimmt, der das Wirken Jesu regiert: man dient Gott an den Menschen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Liebe zu Gott nicht auch einen besonderen Spielraum hat j allein soweit sie Dienst und Tat ist, kann sie nur an den Menschen geübt werden. Ihre ursprünglichste und einfachste Äußerung hat sie im Gebet, sofern dasselbe nicht nur Bitte und Dank, sondern Anbetung ist. So urteilt auch Paulus: die Anbetung Gottes durch das Zungenreden - denn das Zungenreden war Gebet - ist ein Reden nicht für Menschen, sondern für Gott I. Kor. 14, 2. Dieser Zug der Frömmigkeit, daß die An-
173 betung (ei;J..oyla) als Äußerung der nach oben gewendeten Liebe der Lobpreis Gottes, die höchste Form des Gebetes ist, ist der Gemeinde mit Israel gemeinsam. Allein ein Unterschied lag insofern vor, als der Tempelkultus fortfiel. Dieser galt in der Synagoge als die höchste Äußerung der Liebe zu Gott. Nun hat in der ersten Gemeinde die Freiheit vom Tempelkultus, die Polemik gegen den Tempelkultus und die Predigt dieser Freiheit eine ähnliche Bedeutung, wie die Freiheit vom Gesetz und der Streit um diese Freiheit. Beide Tendenzen stammten aus dem Leben Jesu, denn neben der Anerkennung des Tempelkultus steht auch im Leben Jesu die Freiheit davon. Soweit das Opfer Äußerung der Liebe zu Gott ist, wird es durch die Wohltätigkeit abgelöst. Ähnliche Äußerungen haben wir ja auch in der Synagoge gefunden. I) Aber es besteht zwischen beiden doch ein Unterschied. Für das Judentum ergeben sich diese Gedanken erst aus der Zerstörung des Tempels. Die Sachlage nötigt zu diesem Ersatz. Die Gemeinde dagegen wird nicht erst durch die Zerstörung des Tempels von ihm losgerissen, sondern ist durch Jesu Wirken innerlich vom Tempel frei. Jener Grundsatz spricht darum nicht das Ergebnis einer Zwangslage, sondern ihren eigenen Willen aus. Die "Heiligung des Namens Gottes", die im M art y ri u m liegt, wird sehr bald auch von der Gemeinde gefordert. Allein die Beurteilung des Martyriums in der Gemeinde unterscheidet sich von der in der Synagoge. Das Martyrium soll nicht etwa als ein besonderes Verdienst gesucht werden. Die Flucht wird erlaubt und geboten. Es haftet kein Schatten an ihr. Matth. 10, 23; 24, 16; Apoc. 12, 6. Allein sobald das Martyrium unvermeidlich ist, ist es für jedermann Pflicht und darf nicht durch ein wahrheitswidriges Verstecken des Bekenntnisses in den Schein einer Verleugnung vermieden werden. Das offene Bekenntnis wird auch angesichts der Todesgefahr gefordert. Matth. 10, 28; Apoc. 2, 10. 13. Zu den Formen, in denen sich die Liebe zu Gott äußerte, gehörte in der Synagoge auch das Bi bel s t ud i u m. Nun bezeugt das Neue Testament eine ausgebreitete Bibelkenntnis in der Gemeinde, 1) Cf. oben S. 24.
I74 und zwar ist sie nicht nur Ergebnis früheren Studiums, sondern dieses wird auch in der Gemeinde fortgesetzt, weil die Schrift in eine neue Beleuchtung tritt. Um so auffallender ist es, daß das Ideal des Bibellesers, dem seine Beschäftigung über alle seine anderen Pflichten geht, in der Gemeinde verschwunden ist. Während zahlreiche Anekdoten das Bibelstudium der Rabbinen verherrlichen, wird zwar wohl gelegentlich, wenn auch selten von Jesu Gebet, aber niemals von seinem Schriftstudium erzählt. Er kennt die Schrift, aber sein Schriftstudium wird nicht als besondere Äußerung seiner Liebe geschildert. Ebensowenig geschieht das in der Gemeinde. Die Liebe zur Schrift wird nicht besonders hervorgehoben. Wenn z. B. Act. 2, 42 die Frömmigkeit der Gemeinde geschildert wird, so ist vom Verharren der Gemeinde bei der Lehre der Apostel, der Gemeinschaft, dem Brotbrechen und den Gebeten die Rede, aber es fehlt eine Bemerkung über das Schriftstudium. In diesem Schweigen liegt gar keine Polemik, es ist etwas ganz Unwillkürliches; das reichlich vorhandene Schriftstudium gilt dem Verfasser als Mittel zum Zweck, aber nicht direkt als Erweis der Liebe zu Gott. Dagegen zeigt sie sich in dem starken Interesse an Erk e n n t n i s, das sich in der Gemeinde findet. Man darf diesen Zug der urchristlichen Frömmigkeit nicht dadurch dem modernen religiösen Empfinden näher zu bringen versuchen, daß man das Erkenntnisinteresse dem Heilsinteresse unterordnet, indem man behauptet, im Apostelkreis finde sich nur soviel Interesse an der Erkenntnis Gottes, als dieselbe dem Glauben und dem persönlichen Heile diene. Damit ist das kraftvolle Auftreten des Wahrheitsgedankens und des Erkenntnistriebes im Neuen Testamente nicht erklärt. Dieser Zug hat keine egoistischen Motive. Er erklärt sich aus der Liebe zu Gott in der Gemeinde. 1) Wie die 1) Das Hervortreten des Wahrheitsbegriffs in der Gemeinde ist überhaupt geschichtlich merkwürdig. Indem hervorgehohen wird, daß die Erkenntnis Gottes, die die Gemeinde hat, Wahrheit ist, wird auf den durch diese Erkenntnis erfolgreich überwundenen Zweifel hingewiesen. Der Gemeinde ist Gott gewiß. Das erklärt sich nur aus der inzwischen erfolgten Auseinandersetzung mit dem Hellenismus. Hier liegt die Wurzel der Schätzung des Dogmas in der Kirche. Der Anspruch, Wahrheit zu bringen, wirkte unter den Griechen als das kräftigste Missionsmotiv. Freilich mußte, wie schon die Korintherbriefe zeigen, zunächst die hellenische Schätzung der Weisheit überwunden und gereinigt werden.
175 einfachste und höchste Äußerung der Liebe Gottes zu Jesus darin gesehen wird, daß der Vater und der Sohn einander kennen, so besteht auch der einfachste und höchste Besitz der Gemeinde darin, daß Gott sich ihr zu erkennen gibt, und in der Schätzung ihrer Kenntnis Gottes als eines Besitzes von höchstem Werte kommt die Liebe der Gemeinde zu Gott zum Vorschein. Das anschaulichste Beispiel für die in der Gemeinde vorhandene L i e b e zu C h r ist u s bieten die Evangelien, denn sie haben kein anderes Interesse als das, ein vollständiges Christusbild zu zeigen. Sie wollen nicht nur die Lehre Jesu oder seine Forderung, auch nicht eine genaue Darstellung seiner Geschichte und Entwicklul!-g geben. Noch weniger hat man sie verstanden, wenn man annimmt, daß sie nur zusammengestellt hätten, was ihnen etwa an Erinnerungen und Anekdoten über die Person Jesu zufallig zugänglich war i vielmehr ist ihre Absicht, ein Charakterbild Jesu zu geben, aus seinem Reden, Handeln und Leiden soll er selbst erkannt werden. Seine Worte bekommen ihre Bedeutung dadurch, daß er sie sprach. Er hat für die Gemeinde nicht nur Bedeutung als Lehrer, der neue Ideen gebracht hat: man scheut sich nicht, ihm alte bekannte Worte in den Mund zu legen. Nicht in der Neuheit seiner Gedanken besteht seine Bedeutung. Er fesselt das Interesse auch nicht nur als eine Kraft, von der Wirkungen ausgehen und sich ablösen: zu ihm und nicht zu der von ihm ausgehenden Kraft oder zu dem an die Gemeinde von ihm abgegebenen Geist wendet sich das Interesse. Gerade dann, wenn er weder redet noch handelt, sondern nur noch leidet, ist es am stärksten. Es wendet sich nicht an seine Gedanken und an seine Gaben, sondern an ihn, an seine Person, d. h. es ist eben nicht nur Interesse, sondern Liebe. An die Nebenfiguren dagegen heftet sich keinerlei Interesse i sobald die Art, wie Jesus zu ihnen spricht oder an ihnen handelt, zur Darstellung gekommen ist, hat die Erzählung ihr Ziel erreicht. Und nicht nur alle Aufmerksamkeit, sondern auch alles Licht wird auf Jesus gelenkt, während der Jüngerkreis in tiefen Schatten tritt. l ) Keiner der Jünger wird legendarisch verherrlicht, am sorgfaltigsten wird dem bei Petrus vorgebeugt. Verständnis und Glaube der Jünger 1) Cf. die richtigen, von Wrede nur nicht gerecht gewürdigten Beobachtungen in seinem Buch über das Messiasgeheimnis bei Markus.
17 6 erscheint dürftig, ebenso tritt die Familie Jesu zurück. Der wunderbare Charakter Jesu, aber auch die Verständnislosigkeit
177 nicht nur die Pflicht, sondern die Bereitwilligkeit und Fähigkeit einander zu lieben. Die Liebe ist in der Gemeinde nicht nur Aufgabe, sondern Tatsache. Während die Gemeindeglieder mit Gott durch den Glauben verbunden sind, sind sie mit einander durch die Liebe verbunden. Die Gemeinde wird nicht durch irgend eine Organisation, durch ein Gesetz, durch eine Verfassung, durch eine Verpflichtung, sondern lediglich durch die Liebe zu.sammengehalten. Indem Jesus die Liebe geweckt hat, hat er zugleich die Gemeinde gegründet, denn erst in der Gemeinde kann diejenige Liebe geübt werden, die Jesus v.on den Jüngern gefordert hat, nämlich die Mitteilung seines Wortes; und indem sie geübt wird, bildet sich die Gemeinde. Das wechselseitige Geben und Empfangen des Wortes Christi konstituiert sie. FreiHch wird Jesus im Neuen Testament nicht eigentlich als der Stifter der Gemeinde aufgefaßt, und zwar darum nicht, weil die Gemeinde Gottes nach israelitischem Bewußtsein seit Abrahams Erwählung besteht. Das messianische Werk, das Jesus getan hat, wird im Anschluß an die messianische Hoffnung als Sammlung der zerstreuten Gemeinde beschrieben. Indem die Herde zum Hirten kommt, kommt sie zusammen. Das wird nicht, wie in der messianischen Hoffnung äußerlich, also räumlich gedacht, sondern besteht eben in der Vereinigung der Gemeinde durch die Liebe. Die Auffassung und Erfüllung des Liebesgebotes schließt sich also in der Gemeinde an die synagogale Liebesübung an und nicht an den hellenischen Humanitätsgedanken. Sie ist nicht die allgemeine Stimmung des Wohlwollens gegen alle Geschöpfe, sondern konkrete Tat an den nächststehenden Menschen. Darum bleibt ihre einfachste und grundlegende Äußerung die Wohltätigkeit. Sie gehört zu den feststehenden Pflichten der Brüder, wird aber, wie in der Synagoge, nicht nur in Form der Privatwohltätigkeit, sondern in der Form organisierter Armen-pflege durch die Gemeinde geübt. Über die Liebesübung in der ersten Gemeinde Jerusalems -enthält die Apostelgeschichte einen Bericht, der besonders untersucht werden muß 2,42-47; 4,32. Das Wesen der Liebe besteht auch für den Verfasser der Apostelgeschichte in der Gemeinschaft, xOlvwvla, diese wird 4,32 mit den Worten beschrieben: .,Die Menge der Gläubigen hatte ein Herz und eine Seele." Die Lütgert, Die Liebe im N. T.
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17 8 innere Einheit des Willens ist das Wes e n der Liebe. In ihr besteht die Gemeinschaft. Als erste Ä u ß e run g der Liebe wird das tägliche Beisammensein genannt. Man versammelt sich zu gemeinsamem Gebet und zu gemeinsamen Mahlzeiten. Die Gemeinde lebt wie eine Familie. Es ist nicht .gerade gesagt, daß die ganze Gemeinde immer zusammen ißt. Aber die Gemeinschaft geht über den Kreis der Familie hinaus und umfaßt so viele wie möglich. Die gemeinsamen Mahlzeiten haben nicht nur den Zweck, für die Armen zu sorgen, sondern sie sind der einfachste Ausdruck der Liebe. Die Gemeinde will möglichst oft beisammen sein, und die gemeinsame Mahlzeit ist die natürlichste Gelegenheit dazu. Dies sind die Agapen, die Liebesmahle, die wir weiter I. Kor. 11, 17-34; 2. Petr. 2, 13; Judä 12 erwähnt finden. 1) Sie sind der einfachste Ausdruck der innerlichen Gemeinschaft, wie er nur in Anfangszuständen möglich war. Damit verband sich dieGe m ein d e wohl tä ti gk e i t. Es ist nicht zutreffend, sie Gütergemeinschaft zu nennen, denn es ist nicht die Meinung des Verfassers' daß die Gemeinde das Privateigentum verurteilt und das Kollektiveigentum als die christliche Form des Besitzes angesehen habe. Es handelt sich nicht um eine theoretisch begründete und noch viel weniger um eine gesetzlich durchgeführte Einrichtung,. die durch einen, wenn auch nur moralischen Zwang eingeführt wäre. Das wird 5,4 ausdrücklich hervorgehoben. Es wird absichtlich betont, daß von einer, wenn auch nur moralischen Verpflichtung zum Verkauf der Güter keine Rede ist: persönliches. Eigentum ist das Recht jedes Gemeindemitgliedes. Die Schuld des Ananias und seiner Frau besteht nicht darin, daß sie etwas für sich zurückbehalten haben, sondern in ihrer Lüge. Die Schilderung zeigt, wie in der ersten Gemeinde das Gebot Jesu erfüllt wird~ daß sich niemand als den Besitzer, sondern jeder nur als Verwalter seines Besitzes zum Besten anderer ansehen soll. Denn 1) Cf. Weizsäcker, Apostolisches Zeitalter 1. Auf!. S. 43: "Wir können übrigens. hier ganz von der Frage absehen, ob bei jenem Brotbrechen der Urgemeindc die Feier des Gedächtnismahles Jesu ausdrücklich mitzuverstehen ist. Die Erzählung der Aposteigeschichte legt jedenfalls den Nachdruck auf etwas Anderes, nämlicb~ daß eben eine gemeinschaftliche Mahlzeit ... gehalten wird. .. Der Nachdruck Hegt auf der Gemeinschaft der Mahlzeit unter den Brüdern, weil damit der brüderliche Geist . . . sich verbindet."
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nichts anderes als dieser Grundsatz Jesu ist mit den Worten gemeint, daß niemand von dem Seinigen gesagt habe, daß es sein Eigentum sei. Durch die erste Liebe ist die Gemeinde von ihrem Besitz tatsächlich innerlich frei, und darum sagt sie sich auch äußerlich davon im Interesse der Armen los. Damit ist jedoch keine Wertschätzung der Armut als solcher verbunden. Die Praxis der Gemeinde steht nicht unter dem Gesichtspunkt der Askese, sondern unter dem der Wohltätigkeit. Das Hängen am Besitz ist in der ersten Gemeinde überwunden. Die Worte Jesu über die Wohltätigkeit und über die Gefahren des Reichtums wirken mit unmittelbarer Kraft. Die Anfangszustände, die hiermit geschildert sind, konnten keinen dauernden Bestand haben. Sie waren aus dem unreflektierten Trieb der Liebe entsprungen, und erst die fortschreitende Erfahrung konnte zeigen, in welcher Form die Wohltätigkeit durchführbar war. Daß sich die Wohltätigkeit über die einzelne Gemeinde hinaus erstreckt, zeigt die Kollekte für die Gemeinde Jerusalems. Sie ist ein tatsächlicher Ausdruck dafür, daß die Gemeinschaft über die OrtsIn gemeinde hinausgeht und alle Gemeinden zusammenfaßt. diesem Sinne wird sie nach Gal. 2, 10 beschlossen. Die innere Gemeinschaft unter den Aposteln, die bei der äußeren Scheidung ihrer Arbeitsgebiete besteht, kommt darin zum Ausdruck, daß Paulus für die Gemeinden Jerusalems sorgen will. Nur in dieser einen Beziehung, das ist der Sinn des Beschlusses, soll die äußere Scheidung nicht gelten. Durch die Sammlung der Kollekte und dadurch, daß sie durch Abgesandte nach Jerusalern gebracht wird, wird das Gemeinschaftsbewußtsein der Gemeinde zur Tat. Die Einheit bleibt nicht nur Idee, sondern ist Wirklichkeit. Der Ausdruck Gern ein s c h a f t, den die Apostelgeschichte 2, 42 gebraucht, kehrt häufig wieder, um das Wesen der Gemeinde auszudrücken, Gal. 2, 9; Phil. I, 5; I. Joh. I, 3.7. An diesen Stellen ist die innerliche Gemeinschaft gemeint, die in der Gemeinde darum besteht, weil jeder einzelne Gemeinschaft mit Gott oder mit Christus hat, I. Kor. 1,9; 10, 16; 2. Kor. 13, 13; Phil. 2, I; I. Joh. I, 3. Die einzelnen Gemeindemitglieder sind nicht nur mit Gott verbunden, sondern indem sie diesen innerlichen religiösen Besitz einander mitteilen, sind sie auch unter einander verbunden. Dieses Geben und Empfangen des religiösen Besitzes, das unter allen Gliedern der GeIZ·
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meinde stattfindet, bildet das Wesen der Gemeinde. 1) Nur gelegentlich wird auch die Wohltätigkeit mit demselben Ausdruck bezeichnet, Röm. 15, 26; 2. Kor. 9, 13; Hebr. 13, 16. Die Befahigung und Verpflichtung, einander an der eigenen Gemeinschaft mit Gott Anteil zu geben, wird durch das Bild des Priesters ausgedruckt, das sich nicht nur im Hebräerbrief, dem I. Petrusbrief und der Apostelgeschichte, sondern auch bei Paulus findet, wenn er seinen Beruf ein priesterliches Dienen nennt. Alle Gemeindeglieder sind Priester. Damit soll nicht nur gesagt sein, daß sie alle freien Zutritt zu Gott haben, sondern auch, daß sie die Pflicht haben, zu Gott zu bringen. Erst damit ist die Aufgabe des Priesters beschrieben: er sorgt für die fortdauernde Gemeinschaft des Volkes mit Gott. Beides : das Recht ,zu Gott zu treten und die Macht; zu ihm zu führen, liegt für den Hebräerbrief auch im Priestertum Christi. Die Pflicht, die die Gemeinde durch ihre Liebe zu Christus nach außen hin, der Welt gegenüber, übernimmt, ist die Mission. Paulus drückt das Motiv der Mission mit den Worten aus: "Hellenen und Barbaren bin ich ein Schuldner," Röm. I, 14. Genau so, wie jeder dem anderen die Liebe schuldig ist, Röm. 13, 8 vgl. Eph. 5, 28, so ist er auch der Welt das Evangelium schuldig. Er hat es dazu empfangen, um es weiter zu geben. Damit ist das Gebot Jesu aufgenommen, daß die Jünger Licht sind, um die Welt zu erleuchten, Salz, um die Erde zu salzen, daß der Knecht das empfangene Pfund vermehren und der Verwalter das Hausgesinde mit den Vorräten des Herrn versorgen soll. Die Mission gilt als eine unerläßliche Pflicht, die aus dem Besitz des Evangeliums von selber folgt. Sie ist der Dienst Christi, der aus der Liebe zu ihm folgt. Da er als der Christus der König der Welt ist, so besteht der ihm geleistete Liebesdienst darin, die Welt zu seinem Eigentum zu machen; Das apostolische Bewußtsein entspricht dem Worte Jesu an den Jüngerkreis, durch welches er sie zu Menschenfischern macht. Für Paulus liegt unmittelbar im Glauben selbst der Wille zur Predigt. Er "redet" aus keinem anderen Grunde, als darum, weil er gläubig geworden ist 2. Kor. 1) Die Erklärung von Weizsäcker, Apostolisches Zeitalter 2. Auft. S. 37 zu Gal. 2, 9: - "so kann das nichts anderes heißen, als daß sie sich wechselseitig als Genossen desselben Glaubens anerkennen" genügt nicht.
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4, 13· Zur Verkündigung des Evangeliums fühlt sich Paulus in der Weise verpflichtet, daß ihm diese Aufgabe als eine Notwendig. keit aufliegt, der er sich nicht entziehen kann, wenn er nicht gerichtet werden will. Die Mission ist der Verwalterdienst, mit dem er betraut ist, I. Kor. 9, 17. Darum pflanzt sich die Gemeinde durch Mission fort. Ihre Ausbreitung ist nicht die unwillkürlich von ihr ausgehende Wirkung: sie wirkt nicht etwa schweigend, unbewußt, ungewollt, sondern Mission ist im höchsten Sinne des Wortes Wille und Tat. Sie ist das Ziel der Gemeinde. Und zwar das Ziel der Ge m ein d e; die Gemeinde verbreitet sich nicht durch heimliche Propaganda, sondern durch öffentliche Predigt. Diese gilt den Aposteln als Pflicht, die ihnen durch Jesus auferlegt ist, und die Furcht vor der damit verbundenen Gefahr als Sünde. Und zwar richtet sich die Predigt an das ganze Volk. Die Zweifel, die Weizsäcker an der Darstellung der ersten Mission in der Apostelgeschichte geäußert hat,l) sind gerade dann hinfällig, wenn man nach seinem Vorbilde die Worte Jesu als Maßstab dessen nimmt, was im apostolischen Zeitalter geschehen ist. Denn nach Matth. 10 gilt gerade die öffentliche Verkündigung als Pflicht und die Furcht vor der mit ihr verbundenen Gefahr als Sünde. Dabei wird der große Unterschied zwischen dem Jüngerkreis, wie ihn die Evangelien schildern, und dem Apostelkreis, den die Apostel~ geschichte zeigt, durch den Hinweis auf den Geist erklärt. Die Mission gilt aber nicht als Privatunternehmen eines einzelnen j so sieht auch Paulus seine eigene Arbeit nicht an, sie ist Pflicht, Wille und Tat der Gemeinde. Auch Paulus unternimmt sie deshalb nicht auf eigene Faust, sondern wird von der Gemeinde geschickt und kehrt auch beständig zur Berichterstattung zu ihr zurück. Auch dieser Punkt der Geschichtsdarstellung in der Apostelgeschichte kann nicht bezweifelt werden, ohne daß damit die Geschichte des apostolischen Zeitalters dunkel wird. 2) Da die Gemeinde, wie sich die Apostelge1) A. a. O. S. 25: "In aller Stille geschieht das; sie sagen es ins Ohr, im Dunkeln mit dem Glauben, daß es von selbst an das Licht kommen und sich Bahn schaffen wird. .. Einst aber hatten sie damit begonnen, es in den Kammern der Häuser in der Heimlichkeit zu verkünden." 2) Weizsäcker a. a. O. S. 211: Der Darstellung der Apostelgeschichte "liegt
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schichte ausdrückt, "ein Herz und eine Seele ist" und da sie .auch für Paulus ein Leib ist, der einen Geist und ein Haupt hat, so 'ist sie, und zwar auch für Paulus, das eigentliche Subjekt der Mission, eben weil Christus durch sie der Handelnde ist. Auch für Paulus ist nicht nur der Apostel Christi Leib und das Organ seines Wirkens, sondern die Gemeinde,. und was sollte das heißen, wenn er sie nicht als das eigentliche Subjekt der Mission behandelt und anerkannt hätte? Darum kann man die Propaganda in der Synagoge nicht mit der Mission in der Kirche vergleichen. Es finden sich ja freilich in der Synagoge nicht nur einzelne Worte, die das "Bringen zur Thora" zur Pflicht machen, sondern, was viel mehr ist, es findet sich eine ausgedehnte Propaganda. Aber die ist eben nicht Mission. Die Mission ist nicht P f1 ich t und nicht Pflicht der Ge m ein d e. Die Synagoge pflanzte sich durch private heimliche Propaganda von Person zu Person fort. Ihre "Mission" war eine Art von unwillkürlicher, unbeabsichtigter Wirkung, die von der Gemeinde ausging. Die Ausbreitung der Kirche war von Anfang an Tat und zwar Tat der ganzen Gemeinde, ihr eigentliches und bewußtes Ziel. Darum ist auch nicht die Synagoge trotz ihrer ausgedehnten Verbreitung, sondern die christliche Gemeinde Weltkirche geworden. Daß ihr Pflicht, Wille und - was die Hauptsache ist - Kraft zur Mission von Jesus gegeben ist, das liegt in der Tatsache der Mission geschichtlich offenkundig vor. In der Mission äußert sich nicht nur die Bereitwilligkeit, Christus zu dienen, sondern auch die Li e b e zu den Me n s c h e n. Johannes drückt das Missionsmotiv so aus: was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Der Wunsch nach Gemeinschaft mit der Welt wird in der Mission zur Tat. Denn Gemeinschaft ist nur in der Gemeinde. Gemeinschaft mit der Welt gibt es nicht, da sie keine Gemeinschaft mit Gott hat. Im Verhältnis zur Welt kann die Liebe also nur die Form der Wohltätigkeit annehmen. die Annahme zu Grunde, daß Paulus fortwährend seinen Sitz in Antiochien behalten und heziehungsweise wenigstens mittelbar immer wieder von Jerusalem ausgegangen sei. Abgcsehen von dem Ungeschichtlichen der letzteren Meinung etc." In der ganzen Darstellung von Weizsäcker erscheint die Mission durchaus als ein Privatunternehmen des Paulus.
Das Geben kann nicht weiter reichen als der Wille zum Nehmen reicht. Wohltätigkeit aber wird ganz allgemein geübt. Die Feindesliebe kann nicht die Form der Gemeinschaft annehmen j so äußert sie sich als Wohltätigkeit, Röm. 12, 20. Die Wohltätigkeit soll, wenn auch zumeist an den Genossen des Glaubens, so doch an jedermann geübt werden, Gal. 6, 10. Niemals wird die Liebe in derselben Weise auf die, die draußen sind, ausgedehnt wie auf die Gemeinde. Es besteht immer ein Unterschied, der in verschiedene Formeln gefaßt wird. 2. Petr. I, 7 z. B. heißt es: reichet dar in der Frömmigkeit die Bruderliebe, in der Bruderliebe die Liebe. EtJal{J8la ist, wie in den Pastoralbriefen, der zusammenfassende Ausdruck für die gesamte Frömmigkeit. Die Liebe erscheint hier als das Schlußglied der Kette, die mit dem Glauben beginnt. Die einzelnen Glieder der Kette werden so mit einander verbunden, daß das folgende "im" vorhergehenden liegt. In der Frömmigkeit liegt die Bruderliebe. Die Frömmigkeit schließt sie in sich, jedoch nicht so, daß die Bruderliebe mit der Frömmigkeit von selbst da wäre, vielmehr muß gefordert werden, daß aus dem einen das andere auch wirklich hervorgeht, daß das eine das andere auch wirklich in sich schließt. Durch den Willen geht aus dem. einen das andere hervor. Darum ist hier ein Imperativ an seiner Stelle. Wie nun in der Frömmigkeit die Bruderliebe liegt, so liegt in der Bruderliebe die Liebe überhaupt. Das Auffallende an diesem Schluß ist, daß nicht Liebe im allgemeinen aus der Frömmigkeit gefolgert wird und aus dieser dann als spezielle Anwendung die Bruderliebe, sondern daß die Ordnung umgekehrt wird. Das liegt daran, daß der Verfasser nicht das eine aus dem anderen durch einen logischen Schluß ableitet, sondern daß er den reellen psychologischen Zusammenhang beobachtet. In Wirklichkeit entsteht aus der Frömmigkeit zuerst die Bruderliebe, die Liebe zu dem nächsten Kreis, mit dem die Gemeinde durch ihre Frömmig~ keit verbunden ist. Von hier aus dehnt sich die Liebe aus auch über den Kreis der Gemeinde hinaus. Aber freilich erst diese Liebe nennt der Verfasser mit dem feststehenden Ausdruck für die Liebe, &y&n'YJ. Erst diese Liebe ist ganze Liebe, das letzte und höchste Ziel der Gemeinde. Das Urteil ist anders als z. B. bei Johannes, der auf die innere Vollkommenheit der Liebe sieht.
Während für ihn erst die Bruderliebe, da sie Gemeinschaft ist, wirklich Liebe ist, ist rur den Verfasser des 2. Petr., der auf den Umkreis, den die Liebe umspannt, und auf die Schwierigkeiten, die sie überwindet, sieht, erst die über den Kreis der Gemeinde hinausgehende Liebe wirklich Liebe. Einfach nebeneinandergestellt werden beide Formen der Liebe, I. Thess. 3, 12: die Liebe zu einander und zu allen. Daß die Liebe alle Leute umfassen soll, steht also als Wille Gottes fest. Die Beschränkung der Wohltätigkeit auf die Brüder, die der Synagoge nahelag, ist in der Gemeinde aufgehoben. Allein der "Welt" gegenüber besteht für die Gemeinde freilich nicht nur die Aufgabe der Liebe; die Schwierigkeit besteht hier darin, daß neben dieser Aufgabe die Pflicht sich zu verschließen, die Verweigerung der Gemeinschaft besteht. Die Gemeinde schließt sich in sich zusammen und von der Welt ab. Sie verschließt sich dem Einfluß der Welt, sie hat die W e I t nie h t li e b, die Welt ist für sie tot. Aber es besteht nicht nur keine Gemeinschaft zwischen Gemeinde und Welt, es besteht ein Gegensatz zwischen beiden. Die Gemeinde ist sich bewußt, bei der Welt nicht beliebt zu sein, sondern den Haß der Welt ebenso zu erfahren, wie ihn Jesus erfahren hat. Die Popularität der ersten Gemeinde, von der die act. erzählen, geht bald vorüber, ähnlich wie die Popularität Jesu vorübergeht. Sobald die Wirksamkeit der Gemeinde den Kreis der äußeren Hilfleistung überschreitet, ändert sich die Stimmung des Volkes. Dem Haß der Welt gegenüber erkennt die Gemeinde Geduld als ihre Pflicht. Jeder Widerstand gegen die Welt durch tätliche Abwehr wird als Sünde beurteilt. Das Gebot Jesu, dem Bösen keinen Widerstand entgegenzusetzen, wird in der Gemeinde aufrecht erhalten. Auch in der Apokalypse lautet die Losung: Geduld! Aber nicht der Z 0 r n an sich gilt als Sünde. Schon die Darstellung des Zornes Jesu in den Evangelien machte das unmöglich. Es gibt für die Gemeinde nicht etwa einen erlaubten, sondern einen gebotenen Zorn, sowie es eine verbotene Liebe gibt. Die Formeln, durch die der sündhafte Zorn vom reinen Zorn abgegrenzt werden, sind verschieden. Niemals aber gilt das Zuviel als das Sündhafte. Im allgemeinen finden wir auch keine Theorien über den Zorn, sondern wir finden den Zorn selbst in der Brief-
literatur das Wort führen. Und zwar einen Zorn, der das Bewußtsein des Rechtes und der Reinheit in sich trägt Als absolut verboten gilt nur die Rache, aber deshalb weil das Gericht Gottes Sache ist. Beim Zorn ist die Frage nur, wann er im Rechte ist. Wo er im Rechte ist, da gilt ein ganzer Zorn und nicht eine ge· lähmte Empfindung. Aber der Zorn der Gemeinde richtet sich weder ausschließlich noch auch nur vorwiegend nach außen. Die schärfsten Worte wenden sich gegen die Verirrungen innerhalb der Gemeinde. Der Fluch des Paulus über seine Gegner und das Urteil des Johannes über die Abgefallenen ist schärfer als die Worte, die sich nach außen hin wenden. Der Zorn wird aber nicht damit motiviert, daß die Gegner persönliche Feinde der Apostel sind, sondern damit, daß sie Feinde des Evangeliums sind. Über persönliche Feinde, die jedoch das Evangelium verkündigen, urteilt Paulus versöhnlich, Phil. I, 17 f. Es gibt deshalb auch Streit innerhalb der Gemeinde, der mit Ernst durchgeführt wird. Die Gemeinde zerfällt jedoch darüber nicht in verschiedene von einander getrennte Konfessionen, vielmehr wird die Einheit der Gemeinde und die Gemeinschaft ausdrücklich gewahrt. Der Galaterbrief, der ein Zeugnis dieser Kämpfe ist, ist zugleich ein Dokument der Energie, mit der von beiden Seiten das Zerbrechen der Gemeinde in zwei getrennte Gruppen verhindert wird, und man hat angesichts der ausdrücklichen Versicherungen des Paulus kein Recht, ihn dadurch zum Lügner zu stempeln, daß man einen heimlich, d. h. unwahrhaftig festgehaltenen Gegensatz in den Apostelkreis und darum in die erste Gemeinde hineinphantasiert. Äußerlich scheiden sich die Arbeitsgebiete, man vermeidet die Vermischung. Die Voraussetzung der innerlichen Gemeinschaft ist die äußere Trennung. Das Ergebnis der beiden Kämpfe, in denen die Gemeinde stand, des Kampfes gegen die Gnosis und des Kampfes gegen den Nomismus, ist nicht eine Spaltung der Gemeinde oder gar des Apostelkreises, sondern die Scheidung von einer Gruppe, der man nicht etwa die Gemeinschaft mit Gott zugesteht, dabei aber die eigene Gemeinschaft verweigert, sondern der man die Gemeinschaft versagt, weil sie sich von Christus geschieden hat. Dadurch unterscheiden sich die Kämpfe des apostolischen Zeitalters von denen der Reformationszeit.
6. Kapitel.
Paulus. Weil in der Liebesübung des Paulus ein einheitlicher klarer Wille liegt, der sich seines Grundes und Zieles bewußt ist, so hat Paulus auch den Liebesgedanken mit ähnlicher Schärfe und Tiefe durchdacht wie den Glaubensgedanken, und die Klarheit seines Gedankens wirkt wieder zurück auf die Sicherheit und Stetigkeit seines Willens. Die Erweckung der Liebe ist auch für Paulus Ziel und Erfolg Jesu. Sie stammt für ihn wie für die ganze Gemeinde aus Jesu Liebe. Jesu Liebe aber hat ihre Macht dadurch, daß sie Gottes Liebe ist. Die Liebe Christi und die Liebe Gottes fallen zusammen Röm. 8, 35. 39: Die Liebe Gottes ist in Christus Jesus. Wegen dieses ihres göttlichen Charakters ist sie wunderbar, sie übersteigt alle Erkenntnis Eph. 3, 19. Sie ist deshalb die Offenbarung der Liebe Gottes, und zwar denkt Paulus dabei sofort an die Liebe, die im Sterben Christi liegt. Seine Liebe zu uns beweist Gott dadurch, daß Christus für uns starb. Der Tod Christi ist die sichtbare Darstellung der Liebe Gottes, Röm 5, 8 (avvian;atv), wie Paulus sich sonst ausdrückt: die Offenbarung der Liebe Gottes. Gottes Liebe wird im Tode Christi aus dem in Gott verborgenen Willen zur offenbaren, sichtbaren Tat. Paulus sieht also ganz ebenso wie Johannes nur auf den höchsten Erweis der Liebe Gottes und nennt nur diesen höchsten Erweis, weil erst in ihm der ganze Liebeswille Gottes liegt. Er spricht ebensowenig wie Johannes von der Vorsehung als dem Beweise der Liebe Gottes, wie dies etwa bei deo Synoptikern geschieht.
187 Die Vollkommenheit der Liebe Gottes sieht er nicht nur in der Größe der Gabe Gottes, sondern darin, daß Gottes Liebe Feindesliebe ist. In dieser seiner Liebe hat Gott seinen Zorn über· wunden. Die Liebe Gottes ist Preisgabe seines Zornes: durch Christi Tod werden wir vom Zorne Gottes errettet. Sie ist Versöhnung. Paulus stellt darum die Liebe Christi unter den Gesichtspunkt des Friedestifters, der ihm von der synagogalen Auffassung des Liebesgebotes her häufig war. Christus wird durch die in seinem Tode liegende Liebe zum El~r;von:ou;r;. Diese Auffassung der Liebe Christi liegt der Darstellung seines Todes als Versöhnung zu Grunde: indem er versöhnt, erweist er sich als Friedestifter. Durch die Liebe Gottes, deren Organ Christus in seinem Sterben ist, gibt Gott seinen Zorn auf, und ihr Ziel ist, daß die Welt ihre Feindschaft aufgibt Röm 5, 10. Versöhnung ist darum Beseitigung des Streites, sie ist Friede, Überwindung des Hasses und Erweckung der Liebe. Indem durch Christi Sterben Gottes Liebe zur Tat wird und damit die menschliche Liebe geweckt ist, ist Friede und Versöhnung da. Denn denkt Paulus bei der Versöhnung an Überwindung des Hasses, so denkt er an Erweckung der Liebe und in diesem Zusammenhange nicht an Erweckung des Glaubens: Das Gegenteil des Hasses ist die Liebe und nicht der Glaube. Der Streit, der darin besteht, daß Gott der Welt zürnt und die Welt ihn haßt, ist durch die in Christi Tod zur Tat werdende Liebe Gottes überwunden: darum ist Christus ein Elo/r;vorcOtOr;, und damit hat er eine Hauptforderung des Liebesgebotes erfüllt. Christi Tod ist aber nicht nur Offenbarung der Liebe Gottes, sondern ebensowohl Offenbarung, Erweis seiner Gerechtigkeit Röm. 3, 21-25. Beides fällt für Paulus zusammen. Durch ein und dieselbe Tat hat Gott seine Liebe und seine Gerechtigkeit geoffenbart. Damit hat Paulus wie die ganze Gemeinde den Dualismus zwischen dem Maß der Gnade und dem Maß des Rechtes, wie er in der Synagoge vorlag, überwunden. In Christi Tod fällt beides in einander. In ihm ist eine Liebe offenbar, die Gerechtigkeit ist, und eine Gerechtigkeit, die Liebe ist. In derjenigen Liebe, die sich in Christi Tod darstellt, ist das "Maß des Rechtes" nicht preisgegeben, sondern aufrecht erhalten. Denn die
188 in Christi Tod offenbare Liebe ist Bestätigung des Gesetzes und nicht ein Preisgeben desselben, Verurteilung der Sünde und nicht ein Geschehenlassen derselben - aJlox1. So ist das "Maß des Rechtes" und das "Maß der Güte" geeinigt, Christi Tod ist Auferstehung des Rechtes. Gericht und Verzeihung, Recht und Güte sind in einer einzigen Tat vereinigt. 1) Wie sich für Paulus Wille und Werk Jesu in seinem Tode zusammenfaßt, so sieht er auch seine Liebe vor allem in seinem Tode und leitet die Erweckung der Liebe vom Sterben Jesu ab. Er ist darum für alle gestorben, damit die, die leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist, 2. Kor. 5, 15. Das Wort nennt die Erweckung der Liebe als Ziel des Sterbens Jesu. Die Art des Lebens, die durch die Entstehung der Liebe überwunden ist, nennt Paulus "leben für sich selbst". Sich selber zu leben, das ist für ihn der natürliche Wille des Menschen. Das Ziel des menschlichen Willens liegt im Menschen selbst. Über sich selbst hinaus reicht er mit seinem Wollen nicht. Er sieht auf sein eigenes Anliegen und trachtet nach seinen eigenen Interessen, Phil. 2, 4. 2 I. Dieses Gebanntsein des menschlichen \Villens an sich selbst gilt dem Apostel als eine Tatsache, die des Beweises nicht bedarf. Er spricht sie überhaupt nur in der Form aus, daß er die Durchbrechung der Selbstsucht als Ergebnis des Todes Christi nennt. Für sich selbst zu leben - das gilt ihm als selbstverständlich, die Überwindung der Selbstsucht als etwas Wunderbares, und zwar als das Ergebnis eines positiven geschichtlichen Faktums, durch welches dem Menschen überhaupt erst ein über ihm liegendes Ziel in erreichbarer Form gegeben ist. An die Stelle des Lebens für sich selbst tritt das Leben für den, der für sie gestorben und auferstanden ist, 2. Kor. 5, 15; Röm. 14, 7; Phil. 2, 30. Dieses Ergebnis hat der Tod Christi darum, weil Christus selbst nicht für sich selbst lebte. In diesen Ausdruck faßt Paulus die Liebe Jesu zusammen. Daß er für alle lebte, zeigt sich darin, daß er für alle starb, 2. Kor. 5, 15. Jedoch löst Paulus die Betrachtung des Todes Jesu nicht von der seines Lebens los. Er sieht in der Liebesübung seines ganzen Lebens den Willen zum Sterben. Das spricht er Phil. 2, 3 ff. aus, indem 1) Es ist das Verdienst von Cremer, die Einheit von Gericht und Gnade, das Ineinander von Retten und Richten immer wieder hervorgehoben zu haben.
er Jesum als Vorbild der Liebe darstellt. Liebe ist dann da, wenn man nicht auf seine eigenen Interessen, sondern auf die des anderen sieht. Liebe und Verzicht auf Ehre, Liebe und Demut gehören deshalb zusammen. Indem Paulus von dieser zur Liebe gehörigen Demut spricht, entwirft er ein Christusbild, in dem der sein Leben gestaltende Wille zum Sterben den Grundzug bildet. Die Einwilligung in den Kreuzestod wird in diesem Wort als Demut aufgefaßt. Darum stellt Paulus die Demut dar, die seinem Leben das Ende des Kreuzestodes gab. Wenn er dabei sein Auftreten in Knechtsgestalt seinem Auftreten in Gottesgestalt gegenüberstellt und die Vertauschung der einen Gestalt mit der anderen ein Sichleermachen nennt, so denkt er nicht an den Übergang aus dem Himmel in die Welt, sondern an ein Verhalten Jesu in seinem Leben, in dem seine Demut offenbar wurde und durch das er vorbildlich werden kann. Das gilt aber nicht von einer Verwandlung, die niemand nachmachen kann. Paulus faßt vielmehr in diesen Ausdruck den gesamten Verzicht Jesu auf ein Suchen seiner Ehre zusammen, der auch nach den Evangelien die Bedingung seiner Liebe ist. Die Ehre, die Herrlichkeit kommt ihm wegen seiner Gottheit zu. Sie zu haben, das heißt in der Gestalt Gottes auftreten, denn Herrlichkeit ist die Gestalt Gottes. Der gesamte Verzicht Jesu auf Herrlichkeit, den Johannes in die Worte zusammenfaßt: ich suche nicht meine Herrlichkeit, oder der etwa in der Versuchungsgeschichte in dem Verzicht auf den Gebrauch seiner Wundermacht zur eigenen Ehre und Hilfe gesehen wird, wird von Paulus in die Formel gefaßt, daß er Knechtsgestalt annahm. Die Wahl des Ausdrucks Knecht drückt einen noch bestimmteren Gedanken aus. Es ist derselbe Gedanke, der in der Geschichte von der Fußwaschung bei Johannes oder in dem Worte Matth. 20, 28 und Luk. 22, 27 ausgesprochen wird. Es liegt darin die Liebe Jesu, die sich zum Dienst der Seinigen erniedrigt. Liebe ist darum Demut, weil sie Dienst ist. Den Verzicht Jesu, durch den er Knechtsgestalt annimmt, faßt Paulus in den Ausdruck: er machte sich leer. Der Ausdruck ist in deutlichem Gegensatz zu dem in der Christologie üblichen Begriff Pleroma gebildet. Die Parallele, 2. Kor. 8, 9: er wurde arm, obgleich er reich war, sieht in diesem Verzicht Jesu ebenfalls eine Äußerung seiner Liebe und damit ein Vorbild für die Liebesübung in der
19° Gemeinde. Zu der Herrlichkeit, auf die er verzichtet, gehört auch die Fülle, der Reichtum, der ihm eigen ist. Er tritt arm auf wie ein Knecht. Damit ist die zum Geben und Lieben gehörige Entbehrung beschrieben. Auch bei Jesus liegt sie hinter seinem Geben. Was er gibt, darauf muß er verzichten. Reich wird die Gemeinde durch seine Armut. Er verzichtet auf das, was er geben will, nämlich auf sein Anrecht an Gott, auf seine Herrlichkeit. Der Verzicht Jesu wird Geh 0 r sam genannt. Er übt ihn Gott gegenüber. Nicht an die Menschen, sondern an Gott gibt er seinen Willen preis. Demut übt er Gott gegenüber. Mit der Neigung, sich über andere zu stellen, mit dem Hochmut ist das Haupthindernis der Liebe verschwunden. Er lebt nicht für sich selbst. Dem Leben für sich selbst stellt jedoch Paulus nicht das Leben für die Menschen, sondern das Leben für Gott gegenüber. Jesus lebt für Gott, Röm. 6, 10: was er lebt, lebt er Gott. Sein Leben, darum sein Lieben und Geben, wendet sich zuerst an Gott. Ein Geben an Gott nennt Paulus Opfer. Den Verzicht Jesu, der sein ganzes Leben und Sein umfaßt, nennt er deshalb, Eph. 5, 2: er gibt sich selbst als Gabe und Opfer an Gott. In dieser Hingabe seines Lebens und Seins an Gott, welche Paulus nicht nur im Tode Jesu sieht, sondern in seinem ganzen Leben, in dem sein Leben durchziehenden und niederhaltenden Verzicht auf Ehre, Macht und Reichtum sieht Paulus die Li e b e Je s u zuG 0 tt. Darin liegt aber zugleich seine Liebe zu den Menschen. Denn wie er sich an Gott gibt, so gibt er sich für die Gemeinde, Eph. 5, 2. Er wurde arm, damit wir reich würden. Indem er nicht für sich selbst lebt, sondern für Gott, lebt er auch für die Menschen. Die Liebe Christi gilt nun auch für Paulus nicht nur als Beispiel der Liebe, sondern als die Macht, durch die er die Liebe erzeugt hat. Durch seine Liebe gewinnt er Liebe. Wie sehr sich für Paulus in die Liebe zum Herrn die Frömmigkeit der Gemeinde zusammenfaßt, zeigt etwa ein Wort wie I. Kor. 16, 22. Wenn er in eine kurze Formel zusammenfassen will, wovor die Gemeinde sich zu hüten hat, so sagt er: "Wenn jemand den Herrn nicht lieb hat, der sei verflucht." Wie die Liebe zum Herrn ins Himmelreich bringt, so schließt die Lieblosigkeit gegen ihn vom Himmelreich aus.
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Liebe zu gewinnen ist aber nicht nur der Erfolg, sondern auch die bewußte Absicht des Lebens und Sterbens Jesu. Er ist darum gestorben, damit die, die leben, nicht für sich selbst leben, sondern fü( den, der für sie gestorben und auferstanden ist, 2. Kor. 5, 15. Weil aber Jesus nicht für sich selbst lebte, sondern für Gott, so heißt für Jesus leben: für Gott leb e n. Für Gott zu leben, das ist für Paulus das Ziel seines Lebens, und zwar lebt er für Gott in Christus Jesus, Röm. 6, 11. Für den Herrn leben, das ist der Inhalt des durch Jesu Tod erweckten Willens. Damit ist die selbstsüchtige Beschränkung des menschlichen Willens überwunden. Überwunden ist der Egoismus deshalb, weil nach dem Willen und Urteil Gottes durch Christi Tod die Welt, das "Ich" gekreuzigt ist. Dieser Gedanke hat bei Paulus nicht einen mystischen Sinn, aber er drückt auch nicht die empirische Wirkung des Todes Christi aus, sondern sagt, was vor Gottes Augen und nach Gottes Urteil und Willen Christi Tod bedeutet. Er bedeutete für Gott die Verurteilung, d. h. den Tod der Welt. Nun besteht der Glaube des Paulus darin, daß er dieses Urteil Gottes anerkennt, in diesen Willen Gottes einwilligt und darum urteilt: ich bin mit Christus gestorben; mir ist die Welt durch ihn gekreuzigt und ich der Welt, Gal. 6, 14. Darum gilt: ich lebe nicht mehr, oder, was in mir lebt, das bin nicht mehr ich, Gal. 2, 20. Indem das "Ich" gestorben ist, ist der Egoismus gestorben. Wer mit Christus gekreuzigt ist oder wem die Welt gekreuzigt ist, der lebt nicht mehr für die Welt und auch nicht mehr für sich selbst. Das Ich ist nicht mehr sein höchster Zweck, sondern Christus. Die Erweckung der Liebe ist darum möglich geworden, weil der Egoismus getötet ist. Der Wille, der sich selber will und bejaht, ist erloschen. In die Bejahung des Kreuzes Christi ist die Verneinung des eigenen Ich und damit die Selbstverleugnung eingeschlossen. Christus hat den Egoismus nicht nur verboten, sondern er hat ihn verurteilt, und das heißt für Paulus gerichtet und getötet. Damit hat er die Liebe möglich gemacht. Sie entsteht durch ein Sterben der Liebe zur Welt hindurch, welches sich in den Worten ausspricht: "für mich ist die Welt tot", und durch ein Sterben der Selbstliebe hindurch. Dur c h C h r ist i K r e u z geh t alle fa I s c heL i e b e zuG run d e. Der, der in Christus ist, hat sein Ziel außer und über sich. Der Aus-
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druck bezeichnet bei Paulus keineswegs den Glauben, denn er gibt das Ziel an, das das Wollen und Wirken des Menschen durch Christi Tod erhalten hat: er hat in ihm das Ziel seines Lebens und Handelns gefunden, er ist ein Knecht Christi geworden, der ihm dient. Denn die Selbstsucht wird nicht dadurch durchbrochen, daß an Stelle des Lebens für sich selbst direkt und unmittelbar das Leben für die Brüder träte. Vielmehr steht auch für Paulus dem Leben fur sich selbst das Leben für Gott gegenüber. Paulus bleibt deshalb niemals bei der negativen Formel stehen: nicht sündigen 1 Er gibt dem Leben ein positives Ziel: für Gott leben I An die Stelle des Dienstes der Sünde tritt der Dienst Gottes. Für Paulus ist der Mensch niemals frei im absoluten Sinne. Nach irgend einer Seite hin ist er Knecht. Von der Knechtschaft der Sünde wird er nur dadurch frei, daß er Gottes Knecht wird. Dabei gibt Paulus den Christen dasselbe Ziel wie Christus. Wie sein Wirken, Leben und Sterben ein Opfer an Gott für die Brüder ist, so ist auch das Leben der Christen ein Opfer an Gott Röm. 12, I. Liebe zu Gott ist für Paulus die höchste Form der Frömmigkeit. Denn sich Gott zum Opfer geben, für Gott leben, das ist eben Liebe. Man darf das nicht etwa um deswillen verkennen, weil man sich gewöhnt hat, bei Paulus vorwiegend auf die Glaubenspredigt zu achten. Freilich bleibt für Paulus Glauben das grundlegende Stück der Frömmigkeit, und zwar nicht nur der Anfang, sondern die bleibende Grundlage. Was er lebt, das lebt er im Glauben des Sohnes Gottes Gal. 2, 20; allein auch die Frömmigkeit des Paulus geht nicht im Glauben auf. Neben ihm steht die Furcht, die Erkenntnis, die Hoffnung, vor allen Dingen aber die Liebe. Die Aussicht, daß alle Dinge zum Besten mitwirken, gilt denen, die Gott lieben, Röm. 8, 28; seine verborgene Herrlichkeit hat Gott denen bereitet, die ihn lieben, I. Kor. 2, 9. Man kann diesen Worten natürlich nicht durch die Bemerkung ausweichen, daß hier ein Zitat aus einer apokryphen Schrift vorliege. Selbst wenn das der Fall ist, hat sich Paulus den Gedanken des Zitates eben angeeignet. Auch für Paulus faßt sich die gesamte Frömmigkeit in die Liebe zu Gott zusammen. Das ergibt sich schon daraus, daß er das Liebesgebot übernommen hat. Denn es ist keineswegs richtig, daß er sich hüte, von der menschlichen Liebe zu Gott als von einer Tatsache zu reden, als wäre etwa die Liebe
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etwas in höherem Grade Mystisches als der Glaube. So gut Paulus Glauben an Gott als möglich und wirklich behauptet, sb gut spricht er von der Liebe zu Gott, nicht nur als von einer unlösbaren Aufgabe, sondern als von einer Tatsache. Der Zweifel an der Möglichkeit der Liebe ist um nichts besser, als der Zweifel an der Möglichkeit und dem Recht des Glaubens, und die Liebe ist nicht mystischer als der Glaube. Beide sind freilich etwas Geheimnisvolles, weil sie etwas Göttliches sind. Denn freilich ist Liebe zu Gott nur darum möglich und wirklich, weil sie durch die Liebe Gottes geweckt wird. I) Die ursprünglichste und einfachste Äußerung der Liebe zu Gott ist für Paulus der Wunsch, ihn zu erkennen. Es ist charakteristisch, daß für ihn nicht nur in dem Verhältnis von Glauben und Erkennen, sondern auch im Verhältnis von Li e be und Er k e n ne n ein Problem liegt. Liebe Gottes und Erkenntnis Gottes gehören für Paulus zusammen, I. Kor. 8,3. Zur Liebe gehört Erkenntnis und zur Erkenntnis Liebe. Wahrheit und Liebe gehören daher, für Paulus so gut wie für Johannes zusammen, Eph. 4, 25. Weil er liebt, so gehört er nicht zu den Irrlehrern, die Lüge verbreiten, sondern redet die Wahrheit: ist der Wille und die Tat Liebe, so ist der Gedanke und das Wort Wahrheit. Beide Funktionen sind mit einander in Ordnung oder in Unordnung. Sind sie in Ordnung, so sind sie Liebe und Wahrheit: wie ein gelingender Wille Liebe ist, so ist eine gelingende Erkenntnis Wahrheit. Der Wert der Erkenntnis Gottes besteht für Paulus nicht nur darin, daß sie den Glauben möglich macht, sondern sie hat ihren Wert in sich. Das Verlangen nach Kenntnis Gottes ist die erste und ursprünglichste Äußerung der Liebe zu Gott. Wer 1) Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung H. S. 100: "Außer der objektiven .Regel, daß, wenn einer Gott liebt, er dadurch beweist, daß er von Gott erkannt ist (I. Kor. 8, 3), berührt Paulus das Vorhandensein solcher, die Gott lieben, nur in der Anspielung auf eine uns nicht näher bekannte Schrift, auf welche wahrscheinlich auch der Gebrauch der Formel bei Jakobus sich bezieht (1. Kor. 2, 9. Jak. I, 12 j 2, 5). Deshalb vermute ich, daß dadurch auch Röm. 8, 28 die Wahl des Ausdrucks bedingt ist. Aus sich selbst also sind weder Paulus noch Jakobus dazu gekommen, die Gegenliebe gegen Gott als die Hauptfunktion der Glieder der christlichen Gemeinde zu bezeichnen." Das ist eine bei Ritschl aus dogma1ischen Gründen erklärliche Ignorierung des geschichtlich offenkundigen Tatbestandes. Lü t gert, Die Liebe im N. T.
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194 ihn kennt, der liebt ihn, und wer ihn liebt, der will ihn kennen. Daher ist Erkenntnis Gottes ein selbständ!ges und in sich wert· volles Stück der Frömmigkeit. Erkenntnis Gottes ohne Liebe ist deshalb für Paulus ein greller Selbstwiderspruch. Der Über. schätzung der Erkenntnis stellt er deshalb I. Kor. 8, 3 die Liebe zu Gott gegenüber: Mit der Erkenntnis an sich ist die Gefahr einer krankhaften Steigerung des Selbstbewußtseins verbunden. Mit keiner menschlichen Tätigkeit ist diese Gefahr so unmittelbar verbunden, wie mit dieser; und zwar stellt sie sich dann ein, wenn die Liebe nicht zugleich Motiv und Erfolg der Erkenntnis ist. Für diese Gefahr hat Paulus ein scharfes Auge gehabt. Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe baut auf. Darum stellt Paulus neben die Erkenntnis Gottes die Liebe zu Gott. Wer Gott liebt, der ist von ihm gekannt, I. Kor. 8, 3. Von Gott gekannt zu sein, das bedeutet aber viel mehr als ihn zu kennen, Gal. 4, 9. Denn erst der, den Gott kennt, der kennt Gott. Darum ist das die Frage, ob Liebe zu Gott da ist. Denn erst dann ist jenes Kennen Gottes da, aus dem erst alle reelle und wahrhaftige Gotteserkennt· nis folgt. Ebenso wird I. Kor. 13, 8 ff. die Liebe der Erkenntnis Gottes gegenübergestellt. Alle Erkenntnis ist Stückwerk und hat darum keine bleibende Bedeutung, sondern verliert ihren Wert, wenn das Vollkommene, das Schauen Gottes kommt, durch welches alle Erkenntnis überboten wird. Nur die Liebe hat ewige Be· deutung. Sie veraltet nicht. Sie wird durch das Vollkommene nicht beiseite geschoben, weil sie selber Vollkommenheit ist.]) Liebe zu Gott liegt auch im Gebrauch des Vaternamens. Wer Gott Vater zu nennen vermag, der traut ihm nicht nur, sondern er liebt ihn auch. ') Daß Paulus beim Vaternamen an Liebe denkt, ergibt sich, außer aus dem Bilde selbst, auch daraus, daß er im Gebrauch des Vaternamens die Überwindung der Furcht sieht. Er knüpft damit an die alte Frage vom Verhältnis von 1) Dem ganzen Gedankengange 1. Kor. 13, Sff. liegt wieder die Voraussetzung zu Grunde, daß Liebe ein TEÄe,ov ist. I) Daß in der Christologie das Verhältnis vom Vater und Sohn als Liebe gedacht ist, ist anerkannt. Darum ist es aber auch in der Übertragung des Sohnesgedankens vom Christus auf die Gemeinde ebenso. Ohnehin wäre es eine dog. matische Pedanterie, im Vaternamen Glauben, aber nicht Liebe ausgesprochen zu. finden.
195 Furcht und Liebe an. Die Kinder überwinden die Furcht, Röm. 8, 15. Dabei ist für Paulus aber Furcht ein wesentliches und notwendiges Stück der Frömmigkeit, Phil. 2, 12. Sie entspringt aus dem Blick auf Gottes schrankenlose Macht, die auch den menschlichen Willen erzeugt, Röm. 9. Und Paulus lenkt nicht etwa den Blick der Gemeinde von dieser furchtbaren Macht Gottes fort lediglich auf seine Liebe, vielmehr, wo keine Furcht ist, sondern dreiste Zuversicht, da wird durch die Darstellung der Furchtbarkeit Gottes Furcht geweckt Röm. 9, 19 ff.; 11, 20. Beide Interessen des Apostels sind neben einander verständlich und widersprechen sich keineswegs. Nicht eine Liebe, die noch gar keine Furcht kennt, sondern dreiste Zuversicht und Gleichstellung mit Gott ist, soll in der Gemeinde entstehen, sondern eine Liebe, die die überwundene Furcht unter sich hat, die sich durch beständige Überwindung der Furcht erhält. Die Liebe entsteht und erhält sich durch siegreiches Niederhalten der Furcht. Wenn die ursprünglichste Äußerung der Liebe zu Gott der Wunsch ihn zu kennen und die Schätzung der Erkenntnis Gottes ist, so ist doch Liebe Wille und Tat. Liebe ist auch Gott gegenüber nicht nur ein Nehmen, sondern ein Geben. Die Liebe zu Gott äußert sich nicht in sachlichen Gaben. Sie besteht in der Hingabe der Person an Gott. "Sich selbst Gott hingeben", Röm. 6, 13 ~ damit ist der Wille beschrieben, in dem der Grund, die Wurzel der Liebe zu Gott liegt. Der Wille zur Liebe ist der innerste Kern der Liebe, ihr eigentliches Wesen. Aber wie Paulus in den Worten über die Sünde zwischen Wollen und Wirken unterscheidet, so auch in den Worten über die Liebe Gottes. Er unterscheidet von der Hingabe der Person, des Willens an Gott das Hingeben der Glieder oder des Leibes, 6, 13; 12, I. Dabei ist keineswegs an die Unterdrückung sinnlicher Gier gedacht. Der Leib und die Glieder werden genannt als Organe der Tat. I ) 1) Gegen Holtzmann, Neutestamentliche Theologie II S. 40 ist zu bemerken, daß es Paulus beim Guten und beim Bösen auf die Tat ankommt und nicht nur auf den Willen, was sich am deutlichsten Röm. 7 zeigt. Darum nennt er die Glieder, durch die eben der Wille, der gute und der böse, erst zur Tat wird. Woran er denkt, wenn er bei der Sünde von Gliedern redet, zeigt am klarsten Röm. 3, 13-16. Hier nennt er die Zunge, die Lippen, die Füße, weil er an die Bosheit denkt, deren Organe sie sind.
Durch den Leib und die Glieder wird aus dem Wollen das Wirken. Darum werden sie neben der Person genannt und von ihr unterschieden. Wie die Sünde nicht nur innerlich bleibt und Wille ist, sondern durch die physische Organisation des Menschen zur Tat wird, so soll auch die Liebe nicht nur Wille sein und also nicht nur innerlich bleiben, sondern heraustreten und zur Tat werden. Die Glieder sollen Werkzeuge Gottes werden. Darum lautet die Formel der paulinischen Ethik: Tut alles zur Ehre Gottes, I. Kor. 10, 3 I. Diesen großartigen Maßstab legt er nicht nur an die großen Dinge, an das Leben und Sterben, sondern er führt ihn durch bis in die kleinsten Kleinigkeiten hinein: Essen und Trinken für Gott oder zur Ehre Gottes, Röm. 14, 6 ff. Auch durch den Leib soll Gott geehrt werden, I. Kor. 6, 20. Das ganze Christenleben dient der Ehre und dem Lobe Gottes, Phil. I, 1 I. Alles, was an der Gemeinde geschieht, hat seinen Zweck darin, daß wir etwas würden zum Lobe seiner Herrlichkeit, Eph. I, 12. Nicht darin besteht hier die Leistung des Paulus, daß er eine neue Formel erfunden hat; die Formel findet sich, wie gezeigt, schon in der Synagoge. "Niemand gebrauche sein Angesicht, seine Hände und Füße außer zur Ehre seines Schöpfers, denn es heißt (Spr. 16, 4): "Alles hat Jahwe zu Seinem Zwecke gemacht."" Tosefta Berachoth N, I. Liebe ist für Paulus wie für die Synagoge Heiligung des Namens Gottes. Daß die Heiligung des Namens Gottes in Israel nicht gelingt, sondern daß er um Israels willen vielmehr gelästert wird, ist der Vorwurf, den er der Synagoge macht. Aber die Formel setzt sich auch hier einfach fort. Auch Paulus selbst hat sein Werk oder vielmehr Christi Werk nicht in der Bildung der Formel gesehen. Die Formel drückt den Willen aus, aber für Paulus besteht der Vorzug der Gemeinde darin, daß ihr zum Wollen das Wirken möglich geworden ist. Weil durch das Sterben mit Christus der Egoismus erloschen ist, so ist der Ehrgeiz verschwunden und damit ist das Leben zur Ehre Gottes möglich geworden. Daß die Hingabe an Gott eine Hingabe für die Brüder ist, das ist für Paulus selbstverständlich. Dieser Schluß wird nicht erläutert. Wird der Mensch zum Organe Gottes, so wird er eben damit zum Organ der Liebe, weil Gottes Wille Liebe ist.
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Psychologisch begründet Paulus das nicht. Wert und Wirkung der Liebe wie des Glaubens hängt in keiner Weise am inneren psychologischen Vorgang selbst, sondern am Objekt der Liebe. Durch die Liebe öffnet sich der Mensch einem anderen Willen und gewährt ihm Einfluß auf sich. Daher kommt es darauf an, wem sich die Liebe des Menschen zuwendet. Da der Wille, dem er seine Liebe zuwendet, Liebe ist, so wird aus der Liebe zu Gott Liebe zu den Menschen. Deshalb wird alles, was an Gott gegeben wird, für die Brüder gegeben. Dadurch, daß sich Christus und die Seinigen Gott hingeben, bekommt Gott Werkzeuge. Durch menschliche Wirksamkeit wird der Wille Gottes zur Tat, die Liebe Gottes zum Werk. Weil Gott Liebe ist, so wird alle Liebe zu Gott für Paulus ohne weiteres zur Liebe zu den Brüdern. 1 ) Paulus drückt sich auch so aus: dadurch, daß der Mensch ein Diener Gottes wird, wird er ein Diener der Gerechtigkeit. Gott dienen, das heißt der Gerechtigkeit dienen: Liebe ist Gerechtigkeit. Daß der aus dem Glauben entstehende Wille Liebe ist, liegt für Paulus auch daran, daß, wie der Wille Gottes, so auch der Wille Jesu Liebe ist. Für wen Christus ge· storben ist, den muß der, der zu Christus gehört, lieben und darum schonen, Röm. 14, 15; I. Kor. 8, 11. Dabei ist der Zusammenhang zwischen der Liebe Gottes oder Christi und der der Christen nicht als ein selbstverständlicher gedacht. Die Liebe zu den Brüdern entsteht nicht von selbst aus der Liebe Gottes und Christi. Es handelt sich vielmehr um einen Willensakt, der frei ist und also auch unterbleiben kann. Die Liebe zu den Brüdern wird nicht als eine Art von unfreiem Trieb gedacht, sondern sie bleibt Wille, der gefaßt und also gefordert werden muß. Dies darum, weil ein entgegenstehender Wille, der als Realität im Menschen vorhanden ist, durch den neu in ihm auftauchenden Willen zur Liebe überwunden werden muß. Mit der Entstehung der wahren Liebe geht die falsche Liebe zu Grunde. Die Liebe zu Christus überwindet nicht nur die Lieblosigkeit, sondern auch die natürliche Liebe. 1) Dagegen hat Paulus die in der Synagoge üblich gewordene Ausdehnung des Liebesgebotes auf die Natur und die Tierwelt ausdrücklich abgelehnt. Gott kümmert sich nicht um die Ochsen, 1. Kor. 9, 9.
198 Dieses Entstehen der Liebe aus einem Sterben der Selbstliebe heraus kommt bei Paulus zu besonders kraftvoller Darstellung. Wie der Glaube hervorgeht aus einem umfassenden Verzicht, so auch die Liebe. Mit der Selbstliebe geht auch alle natürliche Liebe zu Grunde. Die christliche Liebe entsteht für Paulus nicht durch Reinigung und Entschränkung, sondern durch Vernichtung der natürlichen Liebe hindurch. Paulus faßt diesen Gedanken, 2. Kor. 5, 16, in die Formel: wir kennen niemanden nach dem Fleisch. Die Rücksicht auf das, was die Menschen nach dem Fleisch sind, das Ansehen der Person, ist die falsche Art der Liebe. Die rechte Liebe entsteht dadurch, daß die Menschen so angesehen werden, wie Gott sie ansieht. Wie Gottes Liebe darin besteht, daß er sie nicht mehr nach dem Fleische kennt, sondern sie in Christus ansieht und daher liebt, so achtet auch Paulus nicht mehr auf das, was die Menschen von Natur sind. Er macht Ernst mit dem Urteil, daß sie mit Christus gestorben sind. Damit geht die falsche Liebe unter. Falsch ist die Liebe für Paulus dann, wenn sie selbstisch ist. Ist das Motiv der Liebe die Sucht, den Menschen zu gefallen, dann ist sie selbstsüchtig. Den Menschen will der gefallen, der sich selbst gefällt, Röm. 15, 1 f. Die Selbstgefälligkeit, die Eitelkeit ist für Paulus ebenso die Wurzel der falschen Liebe und das Hemmnis der echten Liebe, wie in den Evangelien der Ehrgeiz. Jede Selbstgefälligkeit ist dadurch verurteilt, daß Christus sich selbst nicht gefiel; das zeigt sich darin, daß er sich lästern ließ. In dem Verzicht auf jede Beliebtheit bei denen, die Gott lästern, und dem Willen, von denen, die Gott hassen, auch gehaßt zu werden, zeigt sich, daß er frei ist von Selbstgefälligkeit, Röm. 15, 3. Das ist auch des Apostels Wille. Darum weist er alle Menschengefälligkeit von sich. Weil er keine Schmeicheleien hören mag, so sagt er auch keine und verzichtet damit auf den Versuch, den Menschen zu gefallen, I. Thess. 2, 5. Menschenknechtschaft und Liebedienerei darf auch der Sklave nicht üben, KoI. 3, 22; Eph. 6, 6. Sehr lehrreich ist die Verwahrung gegen die Zumutung der Menschengefälligkeit, GaI. I, 10. Aus dem Worte geht hervor, daß dem Apostel der Vorwurf der Menschengefälligkeit gemacht wurde. Es ist deutlich warum. Seine Liebe,
199 der Grundsatz, sich in die Menschen zu finden, allen alles zu sein, sah von außen der Liebedienerei sehr ähnlich. Mit einem Anschein von Recht konnte ihm darum dieser Vorwurf gemacht werden. Aber für Paulus sind der Wille, Gott zu gefallen, und der Wunsch, den Menschen zu gefallen, Menschenknechtschaft und Dienst Christi, Gegensätze, die sich ausschließen. Darum weist er diesen Vorwurf mit Empörung zurück. Der Beweis, daß er sich um die Gunst der Menschen nicht bemüht, ist der Fluch über die Gegner des Evangeliums. Mit dieser unbeugsamen Schärfe würde er nicht reden, wenn es ihm auf Menschenliebe ankäme. Sie ist das Gegenteil von aller Schmeichelei. Der Beweis für die Reinheit seiner Liebe d. h. dafür, daß sie mit Liebedienerei nichts zu tun hat, ist also für Paulus sein Z 0 r n. Sein Zorn richtet sich gegen die Gegner des Evangeliums, und gegen sie darum, weil sie unter Gottes Fluch stehen. Dagegen denen, die seine persönlichen Feinde sind, dabei aber Christum verkündigen, weiß Paulus auch dann, wenn sie ihm Unrecht tun, zu verzeihen, Phil. I, 16ff. Gegen die Gegner des Evangeliums dagegen führt Paulus einen wahrhaftigen Kampf mit unbeugsamer Energie. Der Ernst und die Wahrhaftigkeit dieses Kampfes spricht sich darin aus, daß er mit Zorn geführt wird. Eben weil dieser Zorn von persönlicher Rachsucht frei ist, so spricht ihn Paulus mit völlig gutem Gewissen aus. Der Kampf ist eine ständige Begleiterscheinung seiner Arbeit. Er führt ihn durch bis zum Sieg, d. h. bis anerkannt ist, daß das Evangelium seiner Gegner kein zweites Evangelium ist. Es kommt ihm auf eine vollständige Verurteilung des falschen Evangeliums an. Wo jedoch sein Gegner reuig ist, da übt er Verzeihung, denn damit ist sein Ziel erreicht, 2. Kor. 2, 7 ff. Er ist sich bewußt, nur aus Liebe zur Gemeinde gezürnt zu haben, v. 4- Denn sein Gegner hat nicht ihn persönlich, sondern die Gemeinde gekränkt. In der großen Sicherheit seinen Gegnern gegenüber spricht sich die vollkommene Gewißheit des Glaubens aus, die Paulus hat. Wer sich von den Gegnern nicht einschüchtern läßt, dem ist das ein Beweis seines Heiles, Phil. I, 28. Für Paulus ist es auch ein Beweis, daß seine Liebe nicht Menschenknechtschaft ist. Nach dem Vorbilde Christi tritt an die Stelle der Menschengefälligkeit der Wille, Gott zu gefallen, I. Thess. 4, I. Der Ausdruck kehrt bei Paulus häufig
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wieder. Gott zu gefallen, darauf kommt es ihm an, Röm. 8, 8; I. Thess. 2, 15. Gott gefallen und dem Weibe gefallen, steht auch I. Kor. 7, 32 f. einander gegenüber. Anderseits aber hütet sich Paulus sehr vor hoffartiger Geringschätzung des Urteils der Leute. Durch die Liebe wird eine falsche Menschenknechtschaft aufgehoben, aber nicht dazu, damit der Mensch in gleichgültiger Rücksichtslosigkeit sich selber, seiner Freiheit, dem Ausbau seiner eigenen Persönlichkeit lebe: jede hoffartige, selbstgefällige Menschenverachtung liegt dem Apostel genau so fern, wie selbstgefällige Menschenknechtschaft. Denn Menschenknechtschaft und Menschenverachtung gehören, weil sie beide aus Selbstgefalligkeit entspringen, innerlich zusammen und rufen sich wechselseitig hervor. Aber weil Paulus an Stelle der Selbstsucht der Dienst Christi getreten ist, so erzeugt die Liebe Christi in ihm nicht eine gleichgültige Lösung von den Menschen. Seine Freiheit von den Menschen wird niemals zur Menschenverachtung und zur Gleichgültigkeit gegen ihr Urteil. Die Gemeinde soll auf das achten, was vor allen Menschen gut ist, Röm. 12, 17 f. Jeder soll danach trachten, dem Nächsten zu gefallen, Röm. 15, 2. vVer Christus dient, der ist nicht nur Gott angenehm, sondern er besteht auch vor dem Urteil der Menschen, Röm. 14, 18. Damit ist der positive Wille zur Liebe ausgesprochen. Aber dieser neue Wille, den Menschen zu gefallen, unterscheidet sich von der Menschengefälligkeit, die Paulus verwirft, dadurch, daß sie nicht aus der Eitelkeit und Selbstgefalligkeit entsteht, sondern aus dem Willen, Gott zu gefallen. Er ist deshalb das Gegenteil aller Selbstgefälligkeit und schließt sie aus, Röm. 15, 2 f. In welchem Sinne diese Menschengefalligkeit gemeint ist, zeigt I. Kor. 9, 20. Paulus fühlt sich verpflichtet, sich allen Menschen anzupassen, um sie für Christus zu gewinnen. Er ist frei von Bedürfnissen und Wünschen und darum frei von sich selbst, zur vollkommenen Selbstverleugnung und darum zur Liebe fahig, Phil. 4, 12. Es ist dies die Haltung, die ihm offenbar den Vorwurf charakterloser Liebedienerei eingetragen hat. Er ist ein Knecht aller Menschen, I. Kor. 9, 19. Er erniedrigt sich selbst, um die anderen zu erhöhen, 2. Kor. 1 I, 7. Er scheut den Schein der Menschenknechtschaft nicht. Durch Menschengefälligkeit wird man zum Menschenknecht. Das Urteil
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über Menschen k n e c h t sc haft entspricht deshalb genau dem über Menschen g e fäll i g k e i t. Kein Knecht des Menschen, I. Kor. 7, 23, sondern ein Knecht Christi: das ist ein wesentliches Stück des Freiheitsbewußtseins des Paulus. Dadurch daß er Knecht Gottes ist, ist er frei von den Menschen. Er tut seinen eigenen Willen, weil er Gottes Willen tut. Er ist auch von ihrem Urteil unabhängig, I. Kor. 4, 3. Er ist in Urteil und Tat vollkommen selbständig und frei, der Pneumatiker, der von niemandem gerichtet wird. In dieser Haltung des Paulus setzt sich die souveräne Stellung Jesu fort. Die Liebedienerei der Synagoge ist überwunden. Er vermag es deshalb, seinen Gemeinden rücksichtslos entgegenzutreten. Die Kritik seiner Gegner macht ihn nicht unsicher und bringt ihn nicht ins Schwanken. Er ist in seinem Selbstbewußtsein in keiner Weise vom Urteil der Leute oder vom Erfolg abhängig. Sein Selbstbewußtsein hängt allein von Gott ab, I. Kor. 4, I ff. Aber in seiner Freiheit ist dann auch wieder seine Fähigkeit begründet, aller Menschen Knecht zu sein. Die Freiheit der Liebe ist darum fern von aller Willkür, denn Liebe ist Gebundenheit an die anderen. Freiheit und Knechtschaft liegen in der Liebe unlöslich ineinander. Gerade diese Beweglichkeit setzt inwendige Freiheit voraus. Paulus ist sich dessen auch wohl bewußt, daß für jeden, der sein Verhalten nur äußerlich, wie er sich ausdrückt: nach dem Fleische, richtet, dieser Vorwurf als berechtigt erscheint. Es liegt ihm in der Tat fern, in gesetzlicher Weise auf Prinzipien zu bestehen. Er ist klug genug, sich nach den gegebenen Verhältnissen zu richten und die Menschen zu ne,hmen, wie sie sind. Für ihn gehört Liebe und Weisheit zusammen. Das hat ihm auch den Vorwurf der Unlauterkeit und Unwahrh~ftigkeit eingetragen, 2. Kor. 2, 17. Es fehlt ihm besonders im persönlichen Verkehr die Energie, 2. Kor. 10, 10. Allein die Grenze zwischen Liebe und Liebedienerei hebt sich dadurch klar und scharf hervor, daß Paulus niemals seinen Gegnern nachgibt. Ihnen gegenüber beharrt er auf seiner Freiheit. Nur um zu gewinnen, gibt er nach, nie aus Furcht, nur aus Liebe. Er vermeidet nie den Kampf, aber ängstlich die Verführung. Es ist darum nicht richtig, daß der Apostel, der im Galaterbrief spricht, und der, den die Apostelgeschichte zeigt, in unverträglichem Widerspruch mit einander ständen. Wer sich die
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Freiheit des Apostels vom Gesetz als hoffärtige Selbstbehauptung seiner eigenen Persönlichkeit denkt und seine Unabhängigkeit von den Leuten als gleichgültige Menschenverachtung, für den sind beide Bilder freilich unvereinbar. Es liegt in dieser Meinung aber nicht nur ein Mißverständnis der Liebesübung, sondern auch des Freiheitsgedankens des Apostels. Man verwechselt unwillkürlich, ähnlich wie die Gemeinde Jerusalems und die Gegner des Apostels, Freiheit vom Gesetz und Emanzipation, Loslösung vom Gesetz. Paulus ist kein Antinomist, für den es eine Verleugnung wäre, das Gesetz zu halten. Er steht freilich nicht unter dem Gesetz, aber auch nicht ihm gegenüber, sondern über ihm. Darum hat er auch die Freiheit, das Gesetz gelegentlich zu halten, ja die Beschneidung ausführen zu lassen. 1) Aber seine Anbequemung an die Schwachen unterscheidet sich von der des Petrus in Antiochia durch nichts Geringeres als durch die Hauptsache, nämlich durch das Motiv. Äußerlich sieht beider Benehmen ganz gleich aus; aber Petrus handelt aus Furcht und darum in einer Zwangslage und Paulus aus Liebe und darum in Freiheit; und zwar erklärt sich die Furcht des Petrus daraus, daß er seine Freiheit mit bösem Gewissen geübt hat, während Paulus in vollkommener Freiheit das Gesetz hält oder ignoriert. Er hat beim Halten des Gesetzes ein ganz ebenso gutes Gewissen, wie beim Gebrauch seiner Freiheit, d. h. er weiß sich ganz frei von Furcht und Heuchelei oder Unwahrhaftigkeit. Das Stück Unwahrhaftigkeit, das in jeder kirchlichen Anbequemung an Gedanken liegt, die man selbst nicht glaubt, ist dem Apostel ganz fremd. Denn das esoterische Wissen oder Zweifeln, durch welches der Aufklärer sich mit heimlichem Hochmut über die Masse der Gemeinde stellt, widerspricht der schlichten Geradheit des Apostels durchaus. Er fürchtet den Kampf gegen das Gesetz nicht; allein er hat keine Freude daran, seine aufgeklärte Erhabenheit über die Masse der Gemeinde zu genießen, sich selbst zu bewundern und von anderen bewundern zu lassen. Durch Unabhängigkeit von menschlichem Urteil ist Paulus auch frei von allem Ehr gei z. Die Verurteilung alles Ehrgeizes durch Jesu Wort setzt sich bei Paulus fort. Unter den unreinen 1) Cf. Zahn Einleitung I.
I.
Autl. S. 128 f.
203 Motiven der Wirksamkeit, die er I. Thess. 2, 6ff. von sich weist, steht neben Schmeichelei und Habsucht auch Ehrgeiz. Die Zerstörung des Ehrgeizes, des "Rühmens", des aufgeblähten Selbstbewußtseins ist eins der ernstesten Anliegen des Paulus. Daß das Rühmen, das durch das Gesetz nicht ausgeschlossen wird, durch den Glauben ausgeschlossen wird, ist das erste Ergebnis des Evangeliums, auf das er hinweist. Schon damit allein ist Wert und Macht des Evangeliums und seine Überlegenheit über das Gesetz bewiesen. Die Vernichtung eines geschwollenen Selbstbewußtseins ist für Paulus etwas so absolut Notwendiges, daß die Legitimation des Evangeliums darin liegt, daß es diesen Erfolg hat, Röm. 3,27. Ebenso hat nach Eph. 2,9 die Errettung aus Gnade, statt aus Werken, ihren Grund und Zweck darin, daß sich nicht jemand rühme. Das Selbstbewußtsein entsteht aus der Tat, aus dem gelingenden Werk. Mit der Verurteilung des Werkes zerrinnt es auch. Der Mensch wird von der Stufe eines Wirkenden auf die eines Empfängers herabgedrückt, I. Kor. 4. 7. Damit wird das Selbstbewußtsein nicht nur herabgestimmt, sondern vernichtet. Denn es kommt dem Apostel nicht nur darauf an, daß das Selbstgefühl gemindert, sondern darauf, daß es zerstört wird. Darin, daß die Gemeinde sich aus den niedrigsten Schichten der Gesellschaft sammelt, sieht er den Zweck, daß sich die Menschheit nicht rühme wider Gott, I. Kor. I, 29. Es gibt auch ein Selbstbewußtsein, das sich dadurch nährt, daß man sich an irgend eine andere überragende Persönlichkeit anschließt und in der Bewunderung dieses anderen seine eigene Eitelkeit befriedigt. Auch dieser Personenkultus ist dem Apostel widerwärtig. Niemand soll sich an Menschen rühmen, I. Kor. 3, 21. Das alles ist nicht wirklich Liebe, sondern nur der Schein der Liebe, in Wirklichkeit aber Eitelkeit. Wenn die Verführer in Galatien die Gemeinden umwerben, so erkennt Paulus darin die Absicht, sie abzusperren und zu isolieren, um sich ihre Verehrung zu sichern. Sie umwerben euch, damit ihr sie umwerbt: das ist für Paulus das Motiv der Sektenbildung, Ga!. 4, 17. Man würde das Interesse des Apostels vollständig mißverstehen, wenn man meinte, daß er nur Anhänglichkeit etwa an seine, des Apostels, Gegner bekämpfe. Nicht die Verehrung für solche, die Paulus als Irrlehrer beurteilt, bekämpft er, sondern die Anhänglichkeit an Menschen. Darum
2°4 verwirft er auch eine falsche Anhänglichkeit an seine eigene Person. Aus demselben Grunde fühlt er sich berechtigt, die Verehrung für die Apostel der Gemeinde Jerusalems auf das rechte Maß herabzusetzen. Man versteht ihn gar nicht, wenn man darin irgend welche Geringschätzung oder gar Gereiztheit gegen diese findet. Paulus kümmert sich um die, die im Ansehen stehen etwas zu sein, nicht. Gott sieht die Person nicht an und darum auch der Apostel nicht. So spricht er nicht von ihnen als Gegnern, sondern von ihnen als Menschen. Er fühlt sich darum nicht nur berechtigt, den Petrus zurechtzuweisen, sondern er erzählt das auch. Wie wenig versteht man die Größe der apostolischen Männer, wenn man darin die Absicht sieht, den Petrus herabzusetzen, oder gar als selbstverständlich voraussetzt, daß von da ab ein verschwiegener, d. h. unwahrhaftiger Gegensatz zwischen beiden bestanden habe. Paulus setzt von Petrus voraus, daß er in jede Zerstörung eines falschen Ansehens und einer falschen Verehrung, die die Person über die Wahrheit des Evangeliums setzt, von Herzen einwillige. Erst eine Gemeinschaft, bei der dieses Maß von Freiheit gewahrt wird, ist für Paulus eine Liebe, die nicht Menschenknechtschaft ist. 1) Es gibt deshalb für Paulus (übrigens genau so wie für Jesus selbst) eine fals ch e Ver e h ru n g Ch ri s ti. Sie liegt dann vor, wenn man ihn in besonderem ausschließlichen Maße für sich in Anspruch nimmt, während ihm doch nicht etwa eine Partei, sondern die ganze Gemeinde gehört. Wenn deshalb die Bezeichnung "Christi sein" nicht das Verhältnis der ganzen Gemeinde zu Christus, sondern ein persönliches Verhältnis einzelner ausdrücken soll, so verwirft er es, 2. Kor. 10, 7. Eine solche Anhänglichkeit an Christus, die ihn wie einen menschlichen Parteiführer mißbraucht, vergißt auch, daß Christus Gottes ist. Man soll ihm so gehören, daß man dadurch Gott gehört, I. Kor. 3,23, und ihm nicht anhängen wie irgend einem Menschen. Darum kennt der Apostel auch Christum nicht mehr nach dem Fleisch, 2. Kor. 5, 16. Das krankhaft gesteigerte Selbstbewußtsein ist nach dem Urteil des Paulus nicht etwa ein Fehler einzelner Menschen, sondern es hängt 1) Solange man diesen Gedanken und Willen des Paulus nicht versteht, bleibt nicht nur sein Urteil über die Parteien von Korinth und damit diese Partei· bildung selbst, sondern überhaupt sein ganzer Kampf gegen seine Gegner uno verstanden.
2°5 eng mit der Absicht, aus Werken gerecht zu werden, zusammen. Es ist die notwendige Begleiterscheinung eines Wirkens, das aus der eigenen Kraft des Menschen entspringt, und ist darum in größerem oder geringerem, aber immer in irgend einem Grade da, wo nicht Glaube ist. Glaube und Selbstbewußtsein schließen sich für Paulus ganz ebenso aus wie für Jesus. Aber das gesteigerte Selbstbewußtsein ist für Paulus auch das schwerste Hemmnis der Liebe. Aus der Selbstüberschätzung und Selbstgefalligkeit entsteht auch der Wille, sich über andere zu erheben, Röm. 12,3; 15, I. Hochmut und Geringschätzung anderer gehören zusammen. Das Selbstgefühl nährt und erhält sich durch den Vergleich mit den anderen, Gal. 6, 3 ff. Darum ist Liebe vor allen Dingen Demut. Der Verzicht auf jede Erhebung über die anderen und der Wille, klein zu sein, gehört zur Liebe. Dieser Zug wird in der Beschreibung der Liebe I. Kor. 13, 4 f. besonders hervorgehoben: die Liebe prahlt nicht und bläht sich nicht, sie ist Überwindung des Hochmutes. In dieser Beziehung wird Phil. 2, 3 ff. Jesus als Vorbild gezeichnet. Sie zeigt sich darin, daß er seine Überlegenheit nicht geltend macht, sondern sich der Menschheit als ihresgleichen einordnet. Seine Demut hat dabei ihren Grund in seiner Stellung zu Gott. Ihm ordnet er sich unter in dem Gehorsam, der dem Menschen und dem Knecht gebührt. Indem er sich Gott unterordnet, stellt er sich nicht über, sondern neben die Menschen. Mit dieser seiner Demut vor Gott ist der Wille zur Liebe da. Das Haupthemmnis der Liebe, der Ehrgeiz, ist fortgefallen. So soll auch in der Gemeinde der Versuch, die anderen sich unterzuordnen, aufgegeben werden. Das geschieht durch gemeinsame Unterordnung unter den Herrn. Dadurch stellen die Glieder der Gemeinde sich einander gleich. Darum ist die Formel "dasselbe erstreben" bei Paulus die regelmäßige Formel für die Liebe und bildet in diesem Sinne den Gegensatz zu der Formel "nach hohen Dingen trachten", Röm. 12,16; Phil. 2,2; 4,2; cf. 3, 15. Aus dem Bewußtsein des gelingenden Werkes entspringt für Paulus das Rühmen. Wenn durch die Liebe ein falsches Rühmen zu Grunde geht, ein verkehrtes Selbstbewußtsein erlischt, so erzeugt sie damit nicht eine knechtische, ehrlose Gesinnung. Wenn Paulus sich selbst verleugnet, so wirft er sich doch nicht weg; wenn er
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demütig ist, so ist er nicht niederträchtig. Wie das falsche Selbstbewußtsein mit dem eigenen Werke zu Grunde geht, so entsteht mit dem Werk des Glaubens zugleich ein neu es Sei b s tbe w u ß t sei n. Mit dem Werk hat Paulus Ruhm. An diesem wahrhaftigen Selbstbewußtsein hat Paulus ebensowohl ein positives ausgesprochenes Interesse, wie am Zugrundegehen des kranken Selbstgefühls. Wie oft hat man in dem Ne ben einander dieser beiden Tendenzen einen Widerspruch gesehen. Das Selbstbewußtsein, das nur dem gelingenden Liebeswerk entspringt, ist von Eitelkeit und Ehrgeiz wesentlich verschieden, nicht etwa nur dem Grade nach. Paulus fordert keine Mäßigung des natürlichen Selbstgefühls, sondern dessen völliges Erlöschen. So unterscheidet sich das neu gewonnene Selbstgefühl von dem, das Paulus verurteilt, nicht etwa dadurch, daß es gedämpft ist. Freilich fordert Paulus das maßvolle Rühmen, 2. Kor. IO, 13; Röm. 12, 3. Das Maß wird durch das Maß des Glaubens angegeben. Aber wenn das neu gewonnene Gefühl der Wahrheit entspricht, so entsteht es doch nicht durch Schwächung des natürlichen Selbstbewußtseins. Der Unterschied ist vielmehr der, daß das Selbstbewußtsein des Apostels seinen Grund in Gott hat. Mit der Liebe verbindet sich zugleich Demut und ein Selbstgefühl, das darum von jeder hochmütigen Herabsetzung anderer frei ist, weil es mit dem Bewußtsein, zu empfangen und Gottes Organ zu sein, verbunden ist. Paulus leitet seine Erfolge nicht aus seiner Genialität, sondern lediglich aus Gottes Gnade und daher aus seinem Glauben ab, I. Kor. 15, 10. Die Gnade Gottes aber entspricht seiner Schwachheit, 2. Kor. 12, 9. In sich ist er nichts und hat darum kein Recht zum Selbstbewußtsein, in Christus ist er sich bewußt, Großes geleistet zu haben, mehr als alle anderen. Sein Selbstgefühl hängt nicht vom Urteil der Menschen, sondern vom Urteil Gottes ab, I. Kor. 4, 4. Das Werk bildet seinen Ruhm nicht nur vor den Menschen, sondern auch im Weltgericht, 2. Kor. I, 14; Phil. 2, 16. Paulus ist in diesem Punkte seiner Frömmigkeit ganz einig mit Johannes; Ruhm am Tage Jesu Christi, wie Paulus sagt, und Freudigkeit im Gericht, wie Johannes sagt, das ist dieselbe Sache. Darum hat der Apostel auch ein gutes Gewissen, 2. Kor. I, 12. Das hängt aufs engste mit seiner Liebesübung zusammen. Weil Liebe für ihn etwas Ganzes, Gelingendes ist,
2°7 ein '&iAUOV, so begleitet ihn keineswegs ein beständiges Bewußtsein des Mißlingens, ein böses Gewissen, das sein gesamtes Tun verurteilte, als gebe es in seinem Leben überhaupt keine ganze Güte und kein gelingendes Werk. Ebenso verkehrt aber ist es, das gute Gewissen und das gehobene Selbstgefühl des Apostels nach der perfektionistischen Seite hin auszubeuten. Paulus kennt eben mitten in aller Sünde eine wirkliche und ganze Güte, nämlich die Liebe. Ihre Reinheit mitten im Fleisch ist etwas Wunderbares, aber trotzdem Tatsache, weil sie etwas Göttliches ist. Darauf bezieht sich sein gutes Gewissen, und darum kennt er auch ein wirklich gelingendes Lebenswerk und ein sich darauf stützendes wahrhaftiges Selbstgefühl, 2. Kor. 11, 10; 2, Kor. 7, 14. Sein Rühmen ist insofern berechtigt, als Wahrheit Christi in ihm ist. Weil das Werk, dessen er sich rühmt, Gottes Werk in ihm und durch ihn ist, so ist sein Selbstbewußtsein in Gott begründet und sein Rühmen ein Rühmen an Gott, I. Kor. 1,31 j 2. Kor. 10,7 f. Paulus kann deshalb seine eigene Liebe als vorbildlich bezeichnen: werdet meine Nachahmer, I. Kor. 4, I6j II, Ij Phil. 3, I7j I. Thess. 1,6; denn in bezug auf seine Liebe ist er vorbildlich und zwar darum, weil er Christi Nachahmer ist, I. Kor. 10, 33 bis 1 I, I. Gal. 6, 4 wird das normale Selbstbewußtsein gegen das krankhafte so abgegrenzt: das falsche Selbstbewußtsein entsteht dadurch, daß man sein Werk an dem des andern mißt. Falsch ist dies darum, weil damit die Neigung, den andern herabzusetzen, verbunden ist: man gewinnt seinen Ruhm am andern. Normal wird das Selbstbewußtsein dadurch, daß jeder sein eigenes Werk prüft (nämlich ob es in sich selbst ein dAUOV ist). Mit dem berechtigten Selbstbewußtsein kehrt auch der Stolz auf Menschen, den der Apostel sonst als Eitelkeit verurteilt, in gereinigter Form und als eine berechtigte Empfindung wieder. Wie die Gemeinde der Ruhm des Apostels, so ist der Apostel der Ruhm der Gemeinde, Phil. I, 26 j I. Kor. 15, 31 j 2. Kor. I, 14; 5, 12. Es gibt eine Bewunderung und Verehrung, die der Apostel als etwas Berechtigtes hinnimmt. Sie unterscheidet sich von dem Ehrgeiz und der Eitelkeit, die er bekämpft, dadurch, daß sie zur Verehrung und Anbetung Gottes wird, der durch den Apostel wirkt, während jeder Personenkultus, der nicht zur Anbetung Gottes führt, eben dadurch als falsch erwiesen ist. Den ziehen
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aber die auf sich, die selbst ehrgeizig und eitel sind, während die Bewunderung für den Apostel deshalb zur Anbetung Gottes führt, weil sie seiner Liebe zu Gott gilt. Paulus setzt darum dem Hochmut der Gegner, die er im 2. Korintherbrief bekämpft, mit wohlüberlegter Absicht und gutem Gewissen nicht etwa ein niedergedrücktes Selbstgefühl gegenüber, sondern ein gehobenes. Für ihn ist der Unterschied der, daß der eine sich selber dient und sich selbst gefällt und darum nach Beifall hascht und um Liebe dient, während er Gott dient und Gott gefällt und darum von der Anerkennung und Liebe der Leute frei ist und doch Verehrung und Liebe erhält, die er, ohne sich zu erheben und ohne sich zu erniedrigen, hinnimmt. Diese bei den Seiten des Selbstbewußtseins des Apostels stehen neben einander. Sie wechseln nicht, es gibt keine jähen Schwankungen vom einen zum anderen, sondern beide halten sich das Gleichgewicht. Neben der tiefen Beugung, die in der Unfähigkeit zu lieben und zu wirken ihren Grund hat, steht unmittelbar die hohe Erhebung, die in dem durch Christi Kraft gelingenden Werk ihr Recht hat. Er ist der geringste Apostel, nicht wert, ein Apostel zu heißen, und hat doch mehr gearbeitet als sie alle, I. Kor. 15, 9 f. Beide Formen des Selbstbewußtseins halten sich gegenseitig das Gleichgewicht. Sie liegen in einander und erzeugen sich gegenseitig. 1) Dadurch bekommt sein Selbstbewußtsein eine wunderbare, aber doch vollkommen einheitliche Form. Weil Liebe zu den Menschen und Liebe zum Herrn für Paulus Gegensätze sind, die einander ausschließen, so gehört zu seiner Liebe auch der Verzicht auf die Ehe. Paulus ist Asket, und er ist der einzige unter den Wortführern der ersten Gemeinde, der Asket ist. Seine A s k e s e hat ihren Zweck nicht in sich selbst. Sie ist nicht negativ, Unterdrückung der Natur, sondern sie ist die Kehrseite seiner Liebe. Das Leiden und Entbehren hat Wert nur als Bedingung des Handeins. Dem Herrn gefallen und dem Weibe gefallen, das sind für ihn zwei Ziele, die in Gegensatz zu einander treten können. Wer beides mit einander vereinigen will, der kommt in die Gefahr "geteilt" zu 1) Diese kausale Verbindung der Erhebung und Beugung, durch die das inn~re
Gleichgewicht der Persönlichkeit hergestellt wird, fanden wir schon im Selbstbewußtsein Jesu.
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sein. Paulus verzichtet darum auf die Ehe, weil er mit seinem ganzen Willen und Wirken limit Leib und Geist" dem Herrn gehören, d. h. "heilig" sein und ihm dienen will. Dieser Verzicht auf die Ehe ist kein "Gebot" des Herrn, sondern sein eigener freier Wille, d. h. er ist Liebe. Paulus ist in der Gemeinde derjenige,
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will, wozu er unmittelbar verpflichtet ist; tut er seine Pflicht nicht, so wird er gerichtet, aber es liegt ihm nicht nur daran. nicht gerichtet zu werden, auch sein "Heilsinteresse" ist nicht nur egoistisch. Er hat einen Tatendrang, der ihn treibt, mehr zu tun als das, wozu er unmittelbar verpflichtet ist. Er will etwas Freiwilliges tun, und darum verzichtet er darauf, vom Evangelium zu leben, und unterhält sich durch seine eigene Arbeit. Durch dieses Überschreiten seiner unmittelbaren Pflicht hat er Ruhm und Lohn_ Das Interesse, das sich in diesen Worten ausspricht, ist vielfach mißverstanden und mißdeutet worden, und das Wort hat sich darum auch reichlich Umdeutungen gefallen lassen müssen in der apologetischen Absicht, es mit dem traditionellen Pflicht- und Lohnbegriff in Einklang zu bringen. 1) Aber wenn man die Worte' ohne dogmatische Voreingenommenheit liest, ist es klar, daß sie nicht anders verstanden werden können. Dieser Tatendrang, der über die Grenze der Pflicht und über die Linie, die durch das eigene Heilsinteresse geboten ist, hinausgeht, dieser Wunsch,. etwas Freiwilliges zu tun, ist eben Liebe. So gut Paulus mehr erbittet als das, wozu der andere unmittelbar verpflichtet ist, so· gut er von der Liebe freiwillige Gaben erwartet, die hinausgehen über das, wozu durch ein Gebot gezwungen werden kann (Philernon 14), so gut leistet er selbst auch mehr. Er urteilt darin ganz wie seine jüdische Umgebung: für die Liebe ist durch das Gesetz kein Maß festgestellt; und eben diese Liebe ist sein Ruhm .. Liebe ist Freiheit vom Gesetz, Freiwilligkeit gehört zu ihrem Wesen. Erzwungene Liebe ist ein Widerspruch in sich, 2. Kor.. 9, 7· Sie wird daher nicht geboten, sondern erbeten, obwohl sie Pflicht ist, Philem. 8 f. Darin zeigt sich am deutlichsten, inwiefern sie Freiheit vom Gesetz ist. Auch Gott fordert sie nicht, sondern weckt sie durch seine eigene Liebe. Wer liebt, gibt sich das Gesetz selbst, die Liebe ist produktiv, erfinderisch, durch sie ist die Kasuistik überwunden; in welchem Maße, das zeigt z. B. Röm. 14. Fragen, bei denen kasuistische Entscheidungen so nahe lagen, werden lediglich nach dem Grundsatz entschieden, daß getan werden muß, was den anderen fördert, und vermieden, was ihn schädigt. Liebe ist indessen nicht nur Freiheit, sondern das 1) Vgl. z. B. auch Ritschl, Rec!Jtfertigung und Versöhnung II 367 ff.
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Verhältnis der Liebe zum Gesetz ist bei Paulus ein doppeltes. Mit der ganzen Gemeinde urteilt er, daß Liebe Er füll u n g des Gesetzes ist, Röm. 13,8-10; Ga!. 5, 14. Das Gesetz verbietet die Sünde, es hat negative Form. Die Sünde wird aber dadurch vermieden, daß das Gute getan wird. Liebe ist ein positiver auf das Gute gerichteter Wille, mit ihr ist daher die Lösung vom Bösen und die Erfüllung des Gesetzes gegeben. In dem Willen zum Guten liegt die Überwindung des Willens zur Sünde. Darum kann Paulus sagen, daß er das Gesetz nicht zerstöre, sondern aufrichte. Seine Predigt ist nicht Emanzipation vom Gesetz, sondern Bestätigung des Gesetzes, Röm. 3, 3 I. Dies Wort hat deshalb nichts irgendwie Rätselhaftes, so daß es sich gar nicht oder nur künstlich mit dem Paulinismus vereinigen ließe. Das· Evangelium des Paulus gilt nicht etwa darum, weil das Gesetz nicht gilt, sondern umgekehrt darum gilt es, weil das Gesetz gilt. Es ist nicht Verneinung, sondern Bestätigung des Gesetzes. Weil Röm. 2 gilt, darum gilt Röm. 3 und nicht etwa, weil Röm. 2 nicht gilt. I) Wie Jesus die Reichspredigt durch Bestätigung des Gesetzes unterbaut, genau so auch Paulus. Weil das Evangelium Bestätigung des Gesetzes ist, so ist auch der Glaube und der aus ihm entstehende Wille nicht etwa Antinomismus, sondern Bejahung des Gesetzes. Dieser Gedanke versteht sich ohne jede Künstelei daraus, daß die Liebe Erfüllung des Gesetzes ist. Durch die Liebe wird das Gesetz Christi erfüllt, Ga!. 6, 2; denn das Liebesgebot ist auch für Paulus Christi Gebot. Die Liebe ist auch insofern Erfüllung des Gesetzes, als sie den Charakter des Gehorsams hat und behält. Sie ist für Paulus nicht eine quietistische Empfindung, ein wohltuendes Gefühl, auch nicht ein Trieb, der von selbst aus dem Gläubigen hervorbricht; sie ist vielmehr Wille im eigentlichen Sinne des Wortes, der sich nur durch Überwindung eines Widerwillens bildet und erhält. Sie wird daher gefordert und geboten. Die Ethik des Paulus ist nicht einfach Beschreibung eines guten Willens, der im Gläubigen vorausgesetzt wird, sondern sie ist imperativisch, Gebot. Sie ist Pflicht, und 1) Über R i t sc his Mißdeutung des Sinnes von Röm. z im Zusammenhange des Römerbriefes vgl. Schlatter) Der Glaube 2. Aufl. S. 200. Den oben angedeuteten Gedankengang habe ich ausgeführt in dem Vortrag über "Die Lehre von der Rechtfertigung" Berlin 1903.
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zwar eine Schuldigkeit, die sich nicht ein für allemal abmachen läßt, sondern eine Aufgabe, die sich beständig erneuert. Der Nächste bleibt immer berechtigt, sie zu fordern, und der Christ bleibt immer verpflichtet, sie zu leisten. Durch die Liebe ist jeder dem anderen sich selbst schuldig, Philem. 19. Paulus fühlt sich berechtigt, sie zu fordern, obwohl er sie erbittet. Auch in dieser Art der Forderung zeigt sich, wie in der Liebe Freiheit und Gesetz in einander liegt. Das Liebesgebot verpflichtet zu rastloser Tätigkeit, und erst die immer wieder sich erneuernde Bereitwilligkeit zum Dienen ist Liebe. Sie ist eine Schuld, die nicht abgezahlt wird, Röm. 13, 8. Daher ist die Liebe ftir Paulus kein tändelnder Genuß, sondern Mühe und Plage, I. Thess. 2, 9: X01tog 'l~g ?tr&7r1)g, I. Thess. I, 3. Sie hat den ganzen Ernst und die Not der Arbeit. Wenn die Liebe bei Paulus eine nie zu erledigende Ver· pflichtung ist, so sieht er sie darum doch nicht als ein beständiges Mißlingen an, als wenn wirkliche und ganze Liebe etwas Unerreichbares wäre, so daß der Mensch immer hinter seiner Pflicht zurückbliebe. Die Liebe muß freilich immer neu gefaßt werden und entstehen. Sie ist kein fester Habitus, sondern etwas durchaus Aktuelles. Allein sie k a n n auch immer neu entstehen und entsteht immer neu. Liebe ist ein gelingender und ganzer Wille. Die Liebespflicht stellt sich immer neu dar, aber darum nicht in unerfüllbarer Form. Sie hat nicht teil an dem Charakter des Stückwerks, das dem Wissen und Weissagen innewohnt, sondern ist ein 'liAEtOV, etwas Ganzes, Vollkommenheit, I. Kor. 13. Denn Vollkommenheit besteht für Paulus nicht etwa in Sündlosigkeit, sondern darin, daß neben und über aller Sünde, durch sie nicht gehemmt und gestört, ein ganz guter Wille, der wirklich zur Tat wird, im Menschen lebt, und das ist die Liebe. Aus dieser Beurteilung der Liebe erklärt es sich, wie Paulus bei seiner Rechtfertigungspredigt auf das Gericht nach den Werken wartet, ohne daß eines dieser heiden Stücke seiner Frömmigkeit das andere ins Schwanken brächte. J) Man kann beides nicht so mit einander vereinigen, daß man beides abschleift. Glauben und Erwarten stehen in ihrer vollen Schärfe und Klarheit neben ein1) Vgl. die reichhaltige Sammlung der Literatur über dieses Problem bei Holtzmann, neutestamentliche Theologie II S. 199 ff.
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ander. Das Problem wird noch dadurch verschärft, daß Paulus nicht etwa urteilt, wie es seit Augustin üblich geworden ist. Nach seinem Urteil ist Rechtfertigung aus dem Werke nicht etwa darum unmöglich, weil er im Leben des Menschen nichts sieht als Sünde, sondern darum, weil in ihm neben dem guten Werk, das Paulus auch den Heiden keineswegs bestreitet, die Sünde steht. So ist seine Gerechtigkeit nichts Ganzes, und darum ist sie nicht Gerechtigkeit. Formell entgegengesetzt ist das Urteil, auf das Paulus im Endgericht wartet. Denn wenn hier nach Werken gerichtet wird, so setzt das keineswegs einen perfektionistischen Gedanken voraus, sondern die Meinung des Paulus ist diese: ins Himmelreich aufgenommen wird der Mensch nicht, weil er nichts Böses hat, sondern weil er auch gute Werke hat. Während das eine Mal das Urteil lautet, weil auch Böses da ist, so ist der Mensch nicht gerecht, so lautet es das andere Mal, weil auch Gutes da ist, so ist er gerecht. Wenn man annimmt, daß für Paulus zwischen beiden Urteilen keine Einheit bestanden habe, so traut man ihm nicht nur eine große Gedankenlosigkeit zu, sondern auch eine große Unsicherheit in den entscheidenden Anliegen seines Lebens. Aus einem Schwanken der Erkenntnis in diesem Punkte würde auch ein Schwanken des Glaubens und Handelns entstehen. 1) Die beiden Urteile lassen sich aber auch nicht so vereinigen, wie es in den Reformationskirchen Tradition geworden ist, als wäre das, was den Umschwung des Urteils begründet, der Glaube; denn das Endgericht ist eben bei Paulus ein Gericht nach den Werken und nicht nach dem Glauben. Das Problem löst sich vielmehr so, daß das Gericht nach den Werken ein Gericht nach der Liebe ist. Liebe ist aber eben nicht Halbheit oder Stückwerk, sondern etwas Ganzes und Gutes. Liebe ist Gerechtigkeit. Weil der Glaubende nicht aus sich selbst lebt, so lebt er auch nicht mehr für sich selbst. Mit seinem Ursprung haben auch seine Tat und sein Wille ihr 1) Cf. z. B. PlIeiderer, Der Paulinismus. 2. Aull. S. 281 ff., 282: "Eine wirkliche Lösung dieser Schwierigkeiten der paulinischen Eschatologie liegt nicht in harmonisierender Ausgleichung der verschiedenen Stellen, wobei doch immer den einen oder anderen ein Zwang angetan wird, sondern sie liegt in der Einsicht in die verschiedenen Motive und Quellen der heterogenen Gedankenreihen , welche durch die ganze Theologie des Paulus sich hindurchziehen. "
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Ziel in Gott, während bisher sein Ursprung und darum auch sein ,Ziel im Menschen, im Fleisch lag. Mit dem Glauben ist daher die Selbstsucht durchbrachen. Allein für Paulus ist der Glaube nicht das direkte Motiv der Tat, Glaube behält für ihn den Charakter der Rezeptivität. Aber indem aus dem Glauben die Liebe entsteht, hat der Glaube ein Organ gewonnen, durch welches er wirkt. Denn Liebe ist nicht nur Rezeptivität, sondern Aktivität, Ga!. 5, 6. Glaube und Liebe gehören Z).lsammen. Aber dieser Zusammenhang hat für Paulus nicht naturhafte Notwendigkeit. Daher ist ein Glaube ohne Liebe nicht nur denkbar, sondern er wird zur Tatsache, I. Kor. 13, 2. Man darf dies Wort vom Glauben ohne Liebe nicht dadurch beiseite schieben, daß man sich eine besondere Art des Glaubens, den wundertätigen Glauben, ausdenkt. Eine solche Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten des Glaubens macht Paulus nicht. Er erinnert vielmehr an das Wort Jesu über den Glauben und deutet damit an, daß er den von Jesus gewollten und geweckten Glauben meint. Nur dies paßt in den Gedankengang von I. Kor. 13; denn Paulus will eben sagen, daß die Liebe den Wert des Menschen bestimmt. Er kann sie also nicht einer speziellen Art des Glaubens gegenüberstellen, weil sich dann immer einwenden ließe, daß freilich nicht dieser, aber der rechtfertigende Glaube dem Menschen seinen Wert gebe. Sein Gedanke fordert vielmehr, daß er der Liebe den Glauben, von dem er immer spricht, gegenüberstellt. Selbst dieser nicht, sondern die Liebe gibt dem Menschen seinen Wert. Nicht der Glaube, sondern die Liebe gibt dem Menschen seinen Wert: dieses Urteil entspricht genau dem anderen, das Paulus unzweifelhaft festgehalten hat, daß der Mensch nicht nach dem Glauben, sondern nach den Werken gerichtet wird. Die Liebe ist für Paulus das Höchste, was es gibt. Sie ist etwas Göttliches, während Glaube etwas Menschliches ist. Denn Paulus spricht von der Liebe Gottes und der Liebe Christi, aber weder vom Vertrauen Gottes zu den Menschen, noch vom Glauben Jesu. Vielmehr erkennt Gott den Menschen, und Jesus kennt Gott. Wie feststehend dagegen für ihn der Gedanke ist, daß Liebe etwas Göttliches ist, zeigt ein Wort wie I. Kor. 3, 3. Der Streit in der Gemeinde ist der Beweis, daß sie noch fleischlich und menschlich, daß sie, wie
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Paulus sich direkt ausdrückt, Menschen sind. Eben weil Liebe etwas Göttliches ist, so kann Paulus sagen, daß sie teil hat an Gottes Allmacht. 1) Diese Allmacht sieht Paulus jedoch nicht im Handeln, sondern im Leiden: sie hält alles aus und duldet alles. Die Überordnung der Liebe über den Glauben läßt sich selbstverständlich nicht daraus erklären, daß Glaube sich auf Gott bezieht und Liebe auf die Menschen, als hätte der Glaube für Paulus nur den Wert, die Liebe zu erwecken. Denn auch die Liebe ist für Paulus in erster Linie etwas Religiöses, Liebe zu Gott. Auch daraus läßt sich das Urteil nicht erklären, daß für ihn Glaube etwas Innerliches bleibt und die Liebe nach außen tritt. Denn auch die Liebe ist für ihn Wille, den er vom Werk unterscheidet. Vielmehr ist für ihn die Liebe das Ganze und der Glaube ein Teil. Er kennt einen Glauben ohne Liebe, aber keine Liebe ohne Glauben, "die Liebe glaubt alles". Glaube ist darum etwas Menschliches, weil er sein negatives Motiv in den Mängeln und Gefahren des menschlichen Lebens hat. Er ist etwas Irdisches und verschwindet mit dem Schauen, 2. Kor. 5, 7, während er freilich im Lauf der Welt bleibende Bedeutung hat, I. Kor. 13, 13. Liebe dagegen ist das höchste Verhältnis zu Gott. Sie schließt darum nicht nur den vollkommenen Glauben in sich, sondern auch die vollkommene Hoffnung und Geduld: sie hofft alles, sie erträgt alles. Die Liebe ist das letzte und höchste Ziel Gottes: heilig und unsträflich vor ihm zu sein in der Liebe, dazu ist die Gemeinde vor Erschaffung der Welt erwählt, Eph. I, 4. Die vollkommene Liebe ist für Paulus Tat und Dienst. Sie äußert sich im Wer k. Aber Paulus unterscheidet von der Tat den Willen. Wie er einen Glauben ohne Liebe kennt, so kennt er auch Werke ohne Liebe. Liebe ist ihrem Wesen nach Wille, Wohlwollen, und nur durch diesen Willen wird das Werk zur Liebe. Eine 'Wohltat ohne Wohlwollen ist keine Liebe: I. Kor. 13, 3. Paulus stellt neben die Wohltätigkeit, die den ganzen Besitz hingibt, das Hingeben des Leibes, "das Sterben für die Brüder" offenbar deshalb, weil dies in der Gemeinde im Anschluß an Jesu 1) Zu dem 1UJ.vTa v. 21 f. findet sich bei Meyer-Heinrici die Bemerkung: "populär-hyperbolisch". Das ist so wenig richtig, als die Allmacht des Glaubens populäre Übertreibung ist.
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Sterben als höchste Tat der vollkommenen Liebe galt. Aber auch diese höchste Wohltat kann ohne Wohlwollen sein. Das Geben des Leibes, das Sterben, ist noch nicht das "Geben der Seele", der Person. Erst wenn dieses da ist, ist Liebe da. Wenn Paulus vom Brennen des Leibes spricht, so wird er dabei an das Martyrium denken. Denn in dem ganzen Kapitel denkt er nicht etwa nur an die Nächstenliebe, sondern er schließt, was für ihn selbstverständlich ist, die Liebe zu Gott mit ein; ja, er denkt zunächst an sie; denn Liebe zu Gott und zu den Menschen sind ja für ihn nicht zwei getrennte Willensakte, sondern er kennt nur ein e Liebe, die Gott und die Menschen umfaßt. Wenn er als eine Tat der Liebe, der doch die Liebe fehlen kann, das Martyrium nennt, so urteilt er damit ganz wie seine jüdischen Zeitgenossen: das Martyrium ist Erweis der Liebe, die Gott über alles liebt. Daraus erklärt sich auch der Schluß: es nützt mir nichts; denn in der Synagoge gilt das Martyrium an sich als verdienstlich. Wer das Martyrium erlitten hat, kommt ins ewige Leben, selbst wenn er seine Sünden nicht bekannt hat. 1) Dieser Überzeugung widerspricht Paulus: ein Martyrium ohne Liebe nützt nichts. Daher ist das Wohlwollen die höchste Wohltat. Paulus beschreibt es I. Kor. 13, 4-7. Wohltat ist etwas Sachliches, Wohlwollen etwas Persönliches. Durch die Tat gibt der Mensch Dinge, durch den Willen gibt er sich selbst. Wie aber Liebe nicht ein auf Sachen, sondern ein auf die Person gerichteter Wille ist, so ist sie auch erst dann da, wenn der Mensch in und mit der sachlichen Gabe sich selber gibt. Die erste und einfachste Äußerung der Liebe ist das Mitleiden. Den schärfsten Gegensatz zur Liebe bilden darum Neid und Schadenfreude. Das Mitleid, diese einfachste und größte Äußerung der Liebe, spielt in der Liebesübung des Apostels eine große Rolle. Die Liebe empfindet Leid und Glück des anderen als ihr eigenes Erlebnis und teilt das eigene innere Erlebnis dem anderen mit. Ihr seid in unserem Herzen, mitzuleben und mitzusterben, 2. Kor. 7, 3. Auch diese Liebe, nicht erst das Werk ist für Paulus Gebot, sie kann und muß gefordert werden. Denn sie ist nicht ein passiver Trieb, sondern Wille, aber darum nicht etwas Gemachtes und Erkünsteltes; sie I) Midr. r. zu Cohel. 4,
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bei Schlatter, Tage Trajans u. Hadrians S.
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kann geboten werden, weil der Antrieb zu ihr etwas Gegebenes ist. Weil sie nicht nur Gabe, sondern Pflicht ist, so ist es möglich, daß alle Gnadengaben, vollkommene charismatische Begabung, die bis zur Prophetie und Glossolalie geht, da ist und doch keine Liebe. Der Bruch, der dann vorliegt, liegt nicht im göttlichen Geben: dieses ist vielmehr vollkommen, denn mit dem Geist ist auch Antrieb und Kraft zur Liebe gegeben. Aber der Bruch liegt im menschlichen Begehren, Wollen und Nehmen, in dem, was Paulus fJUfJKEtV, l;r;J..ovv nennt. Charismatische Begabung hat für Paulus niemand ohne oder gar wider seinen Willen, sondern jeder empfangt, was er nimmt oder verlangt. Wer nur nach Glossolalie oder nach Gnosis verlangt, wie die korinthische Gemeinde, bei dem kommt es vor, daß er höchste charismatische Begabung ohne Liebe hat. Aber mit dem Geiste selbst ist gerade der Antrieb und die Befahigung zur Liebe verbunden. Wenn der Mensch mit seinem Willen auf die in ihm hervorgerufene Empfindung, auf den in ihm geweckten Trieb eingeht und so den Trieb zum Willen macht, dann ist Liebe da. Der Imperativ zur Liebe lautet darum bei Paulus, I. Kor. 14, I: nach Liebe soll man jagen, oufJXE'fE 'l~V ayanr;v. Sie tritt als eine Gabe ins Innere des Menschen hinein, die verlangt und ergriffen sein will, ähnlich wie die Charismata. Denn Liebe ist ein Charisma, ja sie ist das Charisma, I. Kor. 13, das höchste Werk des Geistes, darum das Merkmal des Geistes. Weil sie der aus dem Glauben kommende Wille ist, so ist sie der aus dem Geiste kommende Wille. Geist ist Wille zur Liebe. Die Liebe Gottes ist durch den heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen, d. h. durch den Geist kommt Gottes Liebe selbst in unsere Herzen, Röm. 5, 5. Die Alternative, ob hier von der Liebe Gottes oder von der Liebe zu Gott die Rede ist, besteht nicht. Die Meinung des Apostels ist die, daß Gott seine Liebe, wie er sie durch seinen Sohn gibt, so durch seinen Geist in unsere Herzen ausgießt. Genau wie Johannes stellt er die beiden Liebeserweise neben einander: die Gabe des Sohnes und die Gabe des Geistes und zwar beide unter dem Gesichtspunkt der Liebe. Durch den Geist aber wird Gottes Wille zu unserm eigenen Willen und Gottes Liebe zu unserer Liebe. Die durch den Geist im
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Menschen erzeugte Liebe ist eben, weil sie aus dem Geiste stammt, Gottes eigene Liebe. Der Mensch liebt Gott mit Gottes eigener Kraft. Das Wort ist eine genaue Parallele zu dem johanneischen Wort: darin besteht die Liebe, daß Gott uns geliebt hat. Sein Geist, d. h. sein Liebeswille, erzeugt im Menschen ebenfalls die Liebe. Liebe und Geist gehören darum für Paulus zusammen. Die Liebe, mit der er ermahnt, ist die Liebe des Geistes, Röm. 15, 30. Kommt der Apostel nicht mit Strenge, so kommt er in Liebe und mit dem Geiste der Sanftmut, I. Kor. 4, 21. Darum steht der Geist auch im Gegensatze zum Gesetz, 2. Kor. 3, 6. Durch das Gesetz fordert Gott, durch den Geist gibt er. Geist ist darum Liebe. Und zwar ist Geist die höchste Form der Liebe Gottes. Er gibt mit dem Geist nichts Sachliches, die Gabe des Geistes ist für Paulus etwas im höchsten Sinne Persönliches, er gibt durch den Geist sich selbst. Im Gesetz gebietet Gott und der Mensch gehorcht, im Geiste gibt Gott und der Mensch nimmt, und das erst ist Liebe. Eben darum, weil Liebe Geist ist, ist sie göttlich. Den Leuten, die sich durch ihre Streitsucht als fleischlich erweisen, stehen die Pneumatiker gegenüber. Ist Streit der Beweis des Fleisches, so ist Liebe der Beweis des Geistes. Nennt Paulus die Gemeinde wegen ihres streitsüchtigen und also fleischlichen Charakters Menschen, so setzt das voraus, daß die Pneumatiker nicht nur Menschen sind, sondern eben mit der Liebe und dem Geist etwas Göttliches in sich tragen, I. Kor. 3, 3 ff. Geist ist aber nicht nur Wille zur Liebe, sondern Kraft zur Liebe. Der Geist befähigt zum Geben. Er ist ein solcher innerer Besitz, der unmittelbar ist. Geist ist Macht zum Wirken. Weil Liebe Geist ist, so stellt Paulus sie sich als reelle Macht vor. So kann er 2. Kor. 8, 7 von der von uns ausgehenden, in "euch eingehenden Liebe" sprechen. 1) Das Wort ist eine genaue Parallele zu Röm. 5, 5. Wie die Liebe Gottes durch den Geist in die Herzen der Menschen ausgegossen wird, so geht auch die Liebe des Apostels als eine reelle Kraft von ihm aus und in die anderen ein. Die Liebe bleibt daher nicht bloße machtlose Empfindung, sondern sie wird wirksam. 'Wie Christus die Gemeinde in sein 1) Der Gedanke bleibt, auch wenn zu lesen ist:
E~
vluo,' EV ij,ll'V.
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Erlebnis hineinzieht, so daß sie mit ihm stirbt und mit ihm aufersteht, so vermag auch der Apostel, was er durchmachen muß, der Gemeinde mitzuteilen. Sie wird in sein Erlebnis hineingezogen. Ihr seid in unsern Herzen, mit zu sterben und mit zu leben, ~. Kor. 7, 3. Diese reale Wirkung hat die Liebe darum, weil sie aus dem Geiste stammt. Darum hat alles, was Paulus erlebt, stellvertretende Bedeutung; er leidet für die Gemeinde. Leiden und Trost muß er durchleben, damit er selber trösten lernt, 2. Kor. I, 6. Liebe ist stellvertretendes Leiden. Darum wird für Paulus jedes Erlebnis zur Kraft, die ihn befähigt, zu wirken. Die Trübsal ist für ihn nicht nur Glaubensnötigung und deshalb Glaubensmotiv, sondern Ausrüstung zur Liebe. Sie gibt die Kraft zu wirklich helfender Liebe. Nun versteht er es, zu trösten, 2. Kor. I, 4Darum erlebt er alles, was er erlebt, für die Gemeinde, v. 6. Sein Leiden ist, wie das Leiden Christi, stellvertretend. Was er erfährt, bleibt der Gemeinde erspart. Der Tod wirkt in uns, das Leben in Euch, 2. Kor. 4, 12. Das heißt, aus seinem Tode entspringt Trost und darum Leben für sie. Denn das Sterben muß er täglich durchmachen, I. Kor. 15, 31; 2. Kor. 4, 10; 11,23. Der starke Ausdruck soll sagen, daß er sein Leben seinem Willen nach wirklich fahren lassen muß, er muß täglich darauf ver· zichten und, wenn auch nicht physisch sterben, so doch den Willen zum Sterben immer neu fassen. Das Leben des Paulus kommt aber darum der Gemeinde zugute, weil er für Gott lebt. Er handelt, leidet, lebt und stirbt für Gott und Jesus Christus und damit für die Gemeinde. Darum nennt Paulus seinen Dienst .einen priesterlichen Dienst, ein Äcn:~EVELl', RÖm. I, 9; 15, 16. Sein Sterben ist ein Geopfertwerden, Phil. 2, 17 cf. 2. Tim. 4, 6. Mit seinem Leiden und Sterben kommen alle Erlebnisse des Apostels der Gemeinde zugute. Wie die Armut Christi die Gemeinde reich macht, so wird auch jeder Mangel, jede Schwäche des Apostels zu einer Kraft für die Gemeinde, I. Kor. 4, 10. Wie die Gemeinde an den Erlebnissen des Paulus, so nimmt auch Paulus an den Erlebnissen der Gemeinde Anteil. Er empfindet ihr Leid, Glück und Gefahr als sein eigenes Erlebnis: Wer ist schwach, und ich wäre nicht schwach; wer ist geärgert, und ich glühte nicht, 2. Kor. 11,29. Wegen dieser Gemeinschaft des Lebens, die zum stell-
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vertretenden Leiden führt, ist für Paulus die Liebe nicht nur Freude, sondern auch Schmerz. Lieben und Leiden sind untrennbar verbunden. Der Schmerz ist für die Liebe wesentlich. Weil sie mit dem Tragen der Last des andern verbunden ist j der eine trägt die Last des andern, Gal. 6, 2. In diesem zur Tat werdenden Mitleid sieht Paulus die ganze Erfüllung des Liebesgebotes. Mit der Arbeit der Bekehrung ist ein Schmerz verbunden, den Paulus mit Geburtswehen vergleicht, Gal. 4, 19. Die Sünde des einen betrübt die ganze Gemeinde, 2. Kor. 2, 5 ff. Dieses von der Liebe unabtrennbare Leid nennt Paulus das Kreuz Christi, weil es dem stellvertretenden Leiden Christi ähnlich ist, und wie dieses aus der Sünde der Menschen aus dem Haß der Welt entspringt. In dieser Erkenntnis zeigt sich, Wle nüchtern und wie fern von aller Schwärmerei Paulus bleibt. Während Paulus es einerseits betont, daß das Wesen der Liebe im Wohlwollen liegt, so daß die weitgehendste W ohltätigkeit ohne Wohlwollen nicht wirklich Liebe ist, so ist doch auch \""1ohlwollen ohne Wohltat keine Liebe, 2. Kor. 8, 8. Im Geben zeigt sich die Echtheit der Liebe. Auch für ihn äußert sich die Liebe im Geben, und als die einfachste Form der Liebesübung nennt er die Wo hit ä t i g k e i t, das Hingeben der Habe an die Armen. 2. Kor. 8 spricht sich Paulus ausführlich über die Art des Gebens aus. Wirkliche Liebe ist das Geben dann, wenn die Gemeinde mit dem Geld sich selber gibt. Dann liegt in der sachlichen Gabe und in der Tat der Wille, 2. Kor. 8, 5. Paulus läßt seine Person aufwenden für die Seelen der Gemeinde, 2. Kor. 12, 15. Philemon ist dem Apostel sich selbst schuldig, Philem. v. 19. Dadurch unterscheidet sich das sachliche Geben von der Liebe, darum richtet sich auch das Verlangen der Liebe nicht nur auf die Gaben der anderen, sondern Liebe ist es erst dann, wenn es sich auf die Person richtet. "Ich suche nicht das Eure, sondern euch", 2. Kor. 12, 14. Darin setzt sich die Predigt Jesu fort, daß erst das Geben der Seele, der Person Liebe ist. Das zweite Kennzeichen dafür, daß im Geben wahrhaftige Liebe liegt, besteht darin, daß das Geben zuerst ein Geben an Gott ist und dann an Menschen, 2. Kor. 8, 5. Die Liebe zu den Menschen ist nur dann wahrhaftige Liebe, wenn sie Äußerung der Liebe zu Gott ist. Darin kehrt der Gedanke des Johannes wieder, daß die
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Liebe zu Gott Kennzeichen der Liebe zu den Brüdern ist. Dadurch scheidet sich die Liebe von aller Menschenknechtschaft. Denn gerade weil die Liebe nichts Geringeres ist als Selbsthingabe, wird der, der sie übt, nur dadurch vor der Gefahr beschützt, sich selbst wegzuwerfen, daß er sich zuerst an Gott hingibt. Volle Hingabe der Person ist nur Gott gegenüber moralisch möglich. Als praktisches Ziel des Gebens nennt Paulus 8, 13 die Gleichheit. Der Gedanke ist hochgespannt und bleibt doch nüchtern. Paulus hält sich von jeder Übertreibung fern und hält sich streng in der Grenze des Möglichen. Denn für ihn ist das Liebesgebot nicht nur ein Ideal, das er unbekümmert um seine Durchführbarkeit möglichst glänzend ausmalte, auch nicht nur ein Bußspiegel, dazu bestimmt, die Unmöglichkeit des guten Werkes zu zeigen j sondern weil es ihm mit dem Liebesgebot wirklich auf Liebe ankommt, so liegt ihm alles daran, daß das Liebesgebot auch wirklich erfüllt wird, daß wirkliche Werke getan werden. Darum liegt ihm daran, mögliche Forderungen aufzustellen. Dabei wird das Geben unter den Lohngedanken gestellt, 2. Kor. 9, 6. Eine Liebe ohne Lohn gibt es für ihn darum nicht, weil Gott jede Liebe mit seiner Liebe beantwortet. Aber das Verlangen nach Lohn ist nicht das Motiv der Liebe. Der Lohn ist der Erfolg der Liebe, aber das Motiv des Werkes ist eben Liebe und nicht die Absicht ein Verdienst zu erwerben. Auch Paulus fordert wie Jakobus die Einfalt im Geben, die unreflektierte Naivetät, die keinen Nebenzweck und Hintergedanken hat. Wie zart die Liebesübung des Apostels ist, das spricht sich darin aus, daß für ihn zur vollkommenen Liebe auch die B er e i tw i lli gk ei t zum Ne h m engehört. Auch Paulus steht nicht nur mit dem Bewußtsein geben und helfen zu können über der Gemeinde, sondern eben weil seine Liebe Demut ist, auch mit dem ausgesprochenen Bedürfnis zu nehmen unter ihr, und weil er ohne Hochmut zu geben vermag, so kann er nehmen, ohne sich dadurch erniedrigt zu fühlen, mit dem Bewußtsein, ein Recht dazu zu haben. So sehr gehört für ihn der Wille zum Nehmen zur Liebe, daß er, wenn er von den Korinthern nichts nimmt, den Vorwurf fürchtet, er liebe sie nicht, 2. Kor. 11, I I. Seine besondere Liebe zu den Philippern drückt er dadurch aus, daß er von ihnen nimmt, Phil. 4, 15. Und zwar ist er nicht nur bedürftig und
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bereit, äußere Gaben hinzunehmen, sondern wie er geistliche Gaben gibt, so wünscht und glaubt er auch solche von der Gemeinde zu empfangen, Röm. I, 12. Wie wenig versteht man doch die Liebesübung des Apostels, wenn man zu dieser Stelle die Bemerkung macht, daß das eine feine Schmeichelei sein solle. l ) Für den Apostel, der den Vorwurf der Schmeichelei immer als eine Karikatur der Liebe abgewiesen hat, für den Liebe und Wahrheit zusammengehören, ist das Bedürfnis und die Bereitwilligkeit, auch geistliche Gaben von der Gemeinde zu empfangen, wahrhaftig und ernst. Jede pfäffische Selbstgenügsamkeit liegt ihm fern. Neben der Demut, die sich in der absoluten Willigkeit zum Nehmen zeigt, steht bei Paulus ein kräftiges Selbstbewußtsein. Er verweigert das Nehmen, I. Kor. 9, II ff.; 2. Kor. 1 I, 9 ff.; r. Thess. 2, 9; 2. Thess. 3, 8; und zwar ist dies seine gewöhnliche Praxis. Er will frei und unabhängig von den Menschen sein. In der Arbeit ohne Lohn besteht sein Ruhm. Diese Freiheit hat aber nichts von Menschenverachtung. Sie hat ihren Grund in der Liebe des Apostels zu Christus. Die Wahrhaftigkeit und Realität seiner Liebe zeigt sich darin, daß er im Dienste des Herrn mehr tun will als das, wozu er verpflichtet ist. Das Ziel der Liebesübung ist auch für Paulus die Gemeinde. Damit ist ein Ziel gegeben, das über die Wohltätigkeit hinausliegt. Paulus nennt es den Aufbau der Gemeinde. Die Liebe baut auf, r. Kor. 8, I. Dieses Ziel regelt alles Wirken in der Gemeinde. Alles geschieht, damit die Gemeinde aufgebaut wird, I. Kor. 14, 26; 2. Kor. 12, 19. Auch der Apostel hat seine Macht zum Aufbau der Gemeinde erhalten, 2. Kor. 10,8; 13, 10. Die Erbauung der Gemeinde ist der Maßstab auch beim Gebrauch der Freiheit, Röm. 14, 19; 15, 2 j r. Kor. 10, 23. Sie ist auch der Maßstab, nach dem alles in der Gemeindeversammlung beurteilt wird, r. Kor. 14, 26. Paulus wendet das Wort nicht nur auf das Verhältnis zur Gemeinde, sondern auch auf das Verhältnis der einzelnen zu einander an, I. Thess. 5, II. Das Ziel wird einem jeden in der Förderung der Person des ') Pia vafrities et saneta adulatio: Erasmus. Schmeichelei ist flir Paulus unh eilig. Aber auch von "seiner verbindlichen Ausdrucksweise" sollte man nicht reden oder von der Absicht I "sich vor dem möglichen Scheine der Anmaßlichkeil" zu schützen. Für den Apostel ist das Wort Wahrheit.
223 anderen gesteckt. Nicht im Ausbau der eigenen Persönlichkeit bekommt der einzelne sein Ziel, sondern jeder hat es in der Person des anderen. Die Formel, in die Paulus die Liebespflicht faßt, lautet nicht etwa so: nicht nur ich, sondern der andere,. d. h. er schließt den anderen nicht in seine Selbstbehauptung ein, sondern sie lautet gelegentlich auch so: nicht ich - sondern der andere, d. h. die Liebe zum anderen schließt die Selbstverleugnung in sich. Niemand trachte nach seinem eigenen Interesse, sondern nach dem des anderen, I. Kor. 10,24. 33 j Phil. 2,4. Die Formel schließt sich genau an die bei Johannes vorliegende Beschreibung der Selbstverleugnung Jesu an: nicht ich, sondern Gott. Möglich ist für Paulus dieser Verzicht auf jede Sorge für sich selbst, auf jede Selbstbehauptung und Selbstbejahung darum, weil er sich durch Gott bejaht und geliebt weiß. Ihre höchste Äußerung und ihr letztes Ziel findet die Liebe nicht in den natürlichen, sondern in den geistigen, persönlichen Bedürfnissen des anderen. Darum sind geistige Gaben die höchsten Gaben. Paulus sieht daher seine Werke und sein Werk nicht in einzelnen Taten, in sachlichen Leistungen, in Einrichtungen, die er gestiftet hat, sondern in den Personen, die er gebildet, in den Gemeinden, die er gegründet hat. "Ihr seid unser Werk", I. Kor. 9, I. Weil auch dieses geistige Geben ein gegenseitiges ist, so daß selbst Paulus sich nicht nur befähigt fühlt zu geben, sondern auch bedürftig zu nehmen, so kommt durch diese Gemeinschaft des Gebens und des Nehmens die Gemeinschaft zustande, die Gemeinde. Paulus unterscheidet deshalb die brüderliche Liebe von der Liebe zu allen Menschen: Röm. 12, 9 ff. Dieser U nterschied entspricht dem Unterschied zwischen Gottes Liebe zur Welt und zur Gemeinde. Schon dadurch wird dem Liebesgebot eine Beschränkung gegeben, daß das Böse nicht mit unter die Liebe gefaßt wird. Die Liebe verweigert dem Bösen die Gemeinschaft und schließt sich an das Gute an, Röm. 12, 9. Die Bereitwilligkeit zum Geben hat ferner eine Grenze an der Bereitwilligkeit des anderen, zu nehmen. Dem Feinde gegenüber ist deshalb äußere Wohltätigkeit noch möglich: Röm. 12, 20, aber nicht die Liebe, die Gemeinschaft stiftet. Diese ist nur möglichinnerhalb der Gemeinde.
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Daraus erklärt sich das Gern ein d e b i I d des Apostels, Kor. 12, 12ff. Die Gemeinde ist ein einheitlicher Organismus. Jedes ihrer Glieder ist zum Dienste in der Gemeinde berufen. In der Gemeinde hat darum jeder seine Aufgabe, seinen Beruf. Damit bekommt sein Leben einen Inhalt, der hinausgeht nicht nur über den Genuß des Lebens, sondern auch über den Erwerb der Lebensbedingungen. Es gibt für Paulus keine passiven Glieder der Gemeinde, die nur zum Empfangen und nicht auch zum Wirken da sind. Dabei haben aber nicht alle Gemeindeglieder denselben Beruf. Von aller demokratischen Gleichmacherei ist der Apostel weit entfernt. Das Verlangen nach Gleichheit ist das Gegenteil der Liebe; es stammt aus dem Hochmut, der sich nicht unterordnen mag. Soll die Gemeinde einheitlich bleiben, so wird damit von jedem der Verzicht auf den ehrgeizigen Versuch, sich die Aufgaben des anderen anzumaßen, gefordert, v. 15 ff. Und zwar fordert die Einheit der Gemeinde nicht nur von den tieferstehenden Gliedern Demut, sondern von allen: niemand soll alles sein und können wollen. Jeder hat nur eine bestimmte Aufgabe, auf die er sich zu beschränken und mit der er dem Ganzen zu dienen hat. Der eine muß eine große Aufgabe haben, ohne sich zu überheben, der andere eine bescheidene, ohne sich gedrückt zu fühlen. Die Überwindung des Hochmutes ist darum die Bedingung aller Liebe. Wo aber Liebe ist, da wird der Vorzug des anderen bereitwillig anerkannt und die Bereitwilligkeit sich unterzuordnen stellt sich ein. Dabei bleibt Paulus aber fern von aller Menschenknechtschaft. Liebe und Einheit kommt nicht dadurch in die Gemeinde, daß sich der eine dem anderen unterordnet, sondern daß sich alle Christus unterordnen. Trotzdem die Glieder der Gemeinde einander nicht gleichstehen, sind sie doch alle gleich notwendige Glieder des Ganzen. Jeder darf sich sagen, daß er der Gemeinde einen unentbehrlichen Dienst leistet. Die Befriedigung für jeden einzelnen liegt in diesem Bewußtsein, der Gemeinde und damit den einzelnen einen Dienst zu leisten, der unentbehrlich ist. Die Ausrüstung ·zu
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Handelns und Wirkens Christi. Die Gelenke, durch die die Gemeinde zusammengehalten wird, sind die mit Gnadengaben ausgestatteten Personen, die der Gemeinde dienen. Durch diesen ihren Liebesdienst halten sie die Gemeinde zusammen. Dabei wirken nicht nur besonders bevorzugte und begabte Gemeindeglieder mit, sondern jeder wirkt mit nach dem Maße der ihm verliehenen Kraft. Das Ziel der Arbeit der Gemeinde ist nicht nur ihre Selbsterhaltung, sondern ihr Wachstum. Darin, daß die Gemeinde innerlich und äußerlich fortschreitet, hat jedes ihrer Glieder seinen Beruf. Dies nennt der Apostel die Erbauung des Leibes Christi. Wird er durch den wechselseitigen Dienst aller Gemeindeglieder erbaut, so wird er in Liebe erbaut. Die Liebe hält die Gemeinde zusammen und fördert ihr Wachstum, ihre innerliche Ausreifung und äußerliche Ausdehnung. Denselben Gedanken drückt KoI. 2, 19 aus, cf. auch Eph. 2, 21. Die Gemeinde wird zusammengehalten in der Liebe, heißt es auch KoI. 2, 2. Diesen Sinn hat auch das Wort KoI. 3, 14: die Liebe ist das Band der Vollkommenheit. Schon der Ausdruck, der hier gebraucht wird ((]V'/lOWf.lO~), der an anderen Stellen das Band be'zeichnet, das die Gemeinde zusammenhält, KoI. 2, 19, cf. Eph. 4, 3, zeigt, daß es sich um das Band handelt, das die Gemeinde zu.sammenhält. Dieses Band ist da, wo Vollkommenheit ist, d. h. ·etwas Ganzes und Geschlossenes, Fertiges und Reifes, cf. für den Ausdruck Hebr. 6, I. Der Gedanke ist keineswegs singulär, so daß er nicht sicher deutbar wäre. Die Liebe ist für Paulus, wie für Jesus ein 'IÜ~tO'/I, Matth. 5, 48; 19, 21; I. Kor. 13, 10 ff. Wo sie ist, da ist 'I~I..ElI57:1]~. Sie ist nicht mehr nur der Anfang des Christenstandes, sondern, weil sein Ziel, so seine Vollendung. Paulus kennt daher in der Gemeinde solche, die vollkommen 'sind, 1:Ü~tOt, PhiI. 3, 15; I. Kor. 2, 6. Nicht alle haben dieses Ziel erreicht. Der Unterschied ist parallel dem Unterschiede, den ,er I. Kor. 3, 3 ff: macht zwischen denen, die noch fleischlich sind, da unter ihnen noch Streit ist, und denen, die geistlich sind, da sie Liebe üben. Doch sagt der Ausdruck: Band der Vollkommenheit schwerlich nur, daß die Liebe Vollkommenheit ist, sondern daß durch die Liebe die Gemeinde vollkommen ist, d. h. ein in sich geschlossenes Ganze. Dieser Gedanke versteht sich aus dem paulinischen Gemeindegedanken leicht: nicht schon der einzelne, Lütgert, Die Liebe im N. T.
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sondern erst die Gemeinde ist für Paulus ein Ganzes, dem nichts fehlt; der einzelne für sich ist nur ein - dienendes Glied des Ganzen, die Gemeinde aber, da sie die Glieder zu einem Leibe zusammenschließt, ist ein 7:{)"l'.tOv. Paulus kann daher auch als das Ziel, zu dem die Gemeinde gelangen soll, den vollkommenen. fertigen, reifen Mann bezeichnen, Eph. 4, 13. Auch dieses Wort legt der Gemeinde als einem Ganzen das Prädikat der Vollkommenheit bei. Ganz ist sie aber dann, wenn die Einheit des Glaubens da ist. Auch in dem Wort Eph. 3, 17 werden Liebe und Gemeinde mit einander verbunden. Die Gemeinde hat ihre Wurzel und ihr Fundament in der Liebe. Der Gedanke ist nicht auffallender als der, daß die Liebe das sie zusammenhaltende Band ist oder daß die Liebe das ist, was sie erhält und erbaut. Immer ist für Paulus das, was die Gemeinde konstituiert, nicht nur der Glaube, sondern die Liebe. Auf der Liebe beruht ihr Bestand, d. h. in ihr hat sie Wurzel und Fundament. Eine Gemeinde ist für Paulus erst da, wo ein wechselseitiges Geben und Nehmen ist, und zwar ein Geben und Nehmen der Gaben, die Christus delle einzelnen gibt. Nicht nur die Wohltätigkeit, sondern die Ge~ meinschaft des inneren Besitzes bildet, erhält, erbaut und vollendet die Gemeinde. In diesem Gemeindebild ist das Gebot Jesu erfüllt, daß sein Wort nicht behalten, sondern mitgeteilt werden solle. Auch als Stifter der Gemeinde wird Christus, Eph. 2, 14 ff. unter dem Gesichtspunkt des 1'.1~~vonot6g geschildert. Indem er die Gemeinde gestiftet hat, hat er die Feindschaft, die Juden und Heiden von einander trennte, beseitigt und zwischen beiden Einheit und Friede gestiftet. Diese Beschreibung des Wortes Christi hält sich durchaus an das aus der Synagoge bekannte Ideal des Friedestifters, wie es sich etwa in dem Kapitel 1 zitierten WorteJochanans ausspricht: "Friede stiften zwischen Volk und Volk."· In dieser höchsten Form hat Jesus den Frieden gestiftet, indem er das Gesetz und mit ihm die Feindschaft zwischen Juden und Heiden beseitigt und damit die durch die Liebe geeinte Gemeinde geschaffen hat. Auch in dieser Beziehung ist er Versöhner. Denn wie die Versöhnung mit Gott als Beseitigung der Feindschaft für Paulus nicht nur Erweckung des Glaubens an Gott zum Ziel hat, sondern Erweckung der Liebe zu Gott, so ist er Versöhner-
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und Friedestifter auch in der Welt durch Beseitigung der Hemmungen, die die Liebe hindern und stören. Durch die Erfüllung des Liebesgebotes in der Gemeinde legt Paulus in jedes Menschenleben hinein einen Zweck und zwar nicht einen sachlichen Zweck, sondern einen Zweck, der in Personen liegt. Dadurch bekommt für ihn jedes Menschenleben Inhalt und Wert. Das hängt nicht von der Größe, sondern von der Notwendigkeit und Geschlossenheit der Leistung ab. Das Bedürfnis zum Wirken wird befriedigt, indem ihm ein Ziel gegeben wird, und dabei wird doch die Gefahr, die mit dem Tatendrang verbunden ist, nämlich der Ehrgeiz, überwunden, weil die Tat aus der Liebe stammt, die bereitwillig ist, den Vorzug des anderen anzuerkennen. Es gibt darum für Paulus in der Gemeinde nicht führende Geister und eine tatlose und träge Masse, sondern sie ist eine in allen ihren Gliedern tätige Gemeinschaft. Sie ist das Organ Christi, und nicht nur einzelne sind das. Durch die Bildung der Gemeinde entsteht aus der Masse der Menschen ein gegliederter Organismus, der zum Handeln fähig ist, von dem Wille und Tat ausgehen und in welchem jedermann zum Täter, zum Mitarbeiter Gottes berufen ist. Dies ist die höchste Gabe der Liebe Gottes. In diesem Gemeindeideal findet die Darstellung des Liebesgebotes ihren Abschluß. Die Pas tor alb r i e f e. Wie man auch über den Verfasser der Pastoralbriefe urteilen mag, in jedem Falle fordern sie eine besondere Darstellung. Der Gegensatz, in den die Briefe treten, gibt ihrem Gedankengang die Richtung. Sie zeigen uns den beginnenden Kampf gegen die Gnosis. Diese gefährdet nicht nur den Wahrheits besitz der Gemeinde und damit ihren Glauben, sondern sie stört vor allem die Ausübung der Liebe in der Gemeinde, und zwar aus zwei Gründen. Erstens erschöpft sich das Interesse, das im Glauben liegt, in der Gnosis. Sie ist das einzige religiöse Interesse, welches den ganzen Menschen absorbiert. Darüber kommen die praktischen Ziele der Gemeinde zu kurz. Neben der Sicherung des Wahrheitsbesitzes und der gesunden Lehre ist deshalb die Feststellung des praktischen Zieles der Gemeinde der Zweck der Briefe.
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Zweitens wird die Ausübung der Liebe insofern durch die Gnosis gehemmt, als sich mit ihr die Askese verbindet. Der sittliche Antrieb, der im Glauben liegt, wird in der Askese verbraucht, anstatt zum positiven Werk zu führen. Im Gegensatz dazu stellt der Verfasser das praktische Ziel Christi fest. Daß die christliche Verkündigung Gebot ist, wird hervorgehoben. Sie ist na(!ayyeUa. Das Ziel dieses Gebots ist "Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltern Glauben", I. Tim. I, 5. Von vornherein wird also die Liebe als Gottes Ziel bezeichnet. Daß dies auch in den älteren paulinischen Briefen geschieht, kann nicht bezweifelt werden. Ist der Glaube das Grundmoment der Frömmigkeit, so ist die Liebe das ZieL Also in diesem Punkte setzen sich die Pastoralbriefe nicht in Widerspruch mit den älteren paulinischen Briefen. Nur muß dort der Grund und hier das Ziel des Christenlebens gegen den Widerspruch festgestellt werden. Für die Pastoralbriefe kommen deshalb alle übrigen Stücke der Frömmigkeit als Bedingungen der Liebe in Betracht. Zur Liebe gehörtein reines Herz, ein gutes Gewissen und ungeheuchelter Glaube. Das negative Ziel des Christenlebens, die Beseitigung der Sünde, das reine Herz, wird also auch genannt, jedoch als Bedingung des positiven Zieles der Liebe. Der Gedanke, daß die Sünde beseitigt werden muß, damit die Liebe entstehen kann, ist uns schon in verschiedenen Formen entgegengetreten. Das gute Gewissen, welches als zweite Bedingung der Liebe genannt wird, tritt in den Pastoralbriefen besonders hervor, I, 19; 3, 9; 2. Tim. I, 3. Wenn es hier als Bedingung der Liebe genannt wird, so wird man daran denken müssen, daß das gute Gewissen Wirkung und Kennzeichen des Glaubens ist, deshalb ist es mit dem Glauben zusammen Bedingung der Liebe. Aber es wird auch genannt sein als Merkmal der reinen Liebe, darum weil sich in der Gnosis neben der Askese als ihr Gegenstück schon im apostolischen Zeitalter als Karikatur der christlichen Liebe unsaubere Liebe findet. Gerade aus dem Bewußtsein einer solchen Gefahr und aus dem sich damit verbindenden bösen Gewissen erklärt sich die Askese. Darum gehört ein gutes Gewissen und ein reines Herz für die Pastoralbriefe wie zum harmlosen Genuß der natürlichen Güte so auch zur Liebe.
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Mit dem nüchternen Realismus der Briefe hängt es zusammen, daß bei der Liebe sofort auf das Werk gesehen wird. Liebe ist Tat, reelle Hilfe. Sie äußert sich darum in guten Werken. Dieser Ausdruck kehrt deshalb als feststehende Formel regelmäßig wieder, I. Tim. 2, 10; 5, 10 u. 25; 6, 18; 2. Tim. 2, 21; 3, 17; Tit. I, 16; 2, 7 u. 14; 3, 8-14. Statt zielloser, wertloser Spekulationen soll die Gemeinde als Frucht des Glaubens gute Werke haben. Nur wer den älteren Paulinismus vollständig mißversteht, kann dieses Dringen auf gute Werke als unpaulinisch ansehen. Auch nach Paulus richtet Christus nach den Werken; damit sind sie in der deutlichsten Form als Ziel des Christenlebens bezeichnet. Nach der Antithese von Glauben und Werk, die der Begründung des Glaubens dient, haben auch die älteren paulinischen Briefe die Synthese von Glauben und Werk. In den Pastoralbriefen, wo es sich nicht mehr um Begründung und Verteidigung des Glaubens handelt, sondern um die Sicherung des Werkes, tritt zwar auch noch die Antithese von Glauben und Werk auf, 2. Tim. I, 9; Tit. 3, 5, aber vorwiegend die Synthese von Glauben und Werk. Ebenso wie der Gegensatz von Glauben und Werk liegt auch der Gegensatz von Liebe und Werk hinter der Situation der Pastoralbriefe zurück. Daß aus der Liebe Werke entspringen sollen, das muß ausgesprochen und gefordert werden. Es braucht freilich auch nur ge f 0 r der t zu werden. Einer besonderen Beg r ü n dun g bedarf es nicht. Daß aber die Werke Liebeswerke sein sollen, dies gilt als selbstverständlich. Unter den guten Werken tritt, wie im ganzen Judentum und in der Gemeinde. das Wohltun besonders hervor, I. Tim. 6, 18 ff. Und wenn der Verfasser die Wohltaten einen Schatz nennt, mit dem man das ewige Leben erwirbt, so steht er damit so gewiß in der christlichen Gemeinde, als er auf den Worten Jesu fußt. Wird die Liebe einerseits als das Ziel des Christenlebens über den Glauben gestellt, so tritt sie anderseits neben den Glauben und stellt mit ihm zusammen das Ziel Gottes dar, Glaube und Liebe in Christus Jesus, I. Tim. I, 14; 2. Tim. I, 13. Also die Formel Glauben und Werke bieten die Briefe nicht, wohl aber. ebenso wie die älteren paulinischen Briefe, Glauben und Liebe. Dazu tritt Tit. 2, 2 die Geduld V1tO!lOlI~, wie in den älteren Briefen die Hoffnung. Sie treten als Ziele Gottes einfach neben einander,
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ohne daß über ihr Verhältnis zu einander reflektiert würde. Wie Glauben und Liebe neben einander stehen, so werden sie auch beide längeren Tugendlisten eingeordnet, I. Tim. 2, 15 j 4, 12 j 6, 11, otxuwavv1j,
e{;ai{lew,
1lÜnlf;,
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VnO!IO"~,
nqUiJ1fu:tlu.
2. Tim. 2, 22: OlxuwaUV1j, nlaur;, &yan:1), elq~V1J, wozu die älteren paulinischen Briefe als Parallele Gal. 5, 22 bieten. Neben den jüdischen Begriff des Werkes tritt also nach griechischem Muster die Tugendreihe, als Gegenstück zu den Lasterverzeichnissen. Die Liebeswerke, die in den Pastoralbriefen gefordert werden, bestehen nun nicht in solchen Werken, die über das Maß der einfachen natürlichen Pflicht hinausgehen, vielmehr wird das Werk mit realistischer Nüchternheit in der Erfüllung der einfachsten Pflichten gesehen, besonders in der Regelung und Ordnung des häuslichen Lebens und in der Erfüllung der Pflichten, die das Familienleben stellt. Ganz ähnlich wie I. Kor. 13 tritt dem übermütigen Erkenntnistrieb das Liebesgebot , angewendet auf die einfachsten Verhältnisse, entgegen. Denen, die einen höheren Standpunkt der Erkenntnis und Sittlichkeit zu haben glauben, dem sie mit Versäumung ihrer nächsten Pflichten nachtrachten, tritt das Wort entgegen, daß, wer für die Seinigen nicht sorgt, unter den Standpunkt des Heiden herabgesunken ist, I. Tim. 5, 8. Das Wort sieht deutlich auf Matth. 5, 47: für die Ihrigen sorgen auch die Heiden. Diese erste und einfachste Pflicht müssen deshalb die Gemeindeglieder vor allen Dingen erfüllen. Die Familie ist derjenige Kreis, in dem das Liebesgebot zuerst erfüllt werden muß. Dazu wird ausdrücklich nicht nur die Versorgung, sondern vor allen Dingen die Erziehung der Kinder gerechnet, I. Tim. 3, 4 j 2, 15, und zwar die christliche Erziehung. Auch die Pflicht der Witwe besteht zuerst in der rechten Verwaltung ihres Hauses, I. Tim. 5, 4. 10. Die guten Werke, die ihr bezeugt sein müssen, wenn sie eine Ehrenstellung einnehmen soll, sind die nächstliegenden Pflichten, die die Familie stellt: Aufziehung von Kindern, Gastfreundschaft, "den Heiligen die Füße zu waschen". Erst wo diese primitivsten Pflichten erfüllt werden, ist Recht und Fähigkeit zu einer über die Familie hinausgehenden Wirksamkeit in der Gemeinde da. Aber damit ist sie auch da. Der Verfasser sieht die Gemeinde vor der Gefahr über den weitergehenden und höherliegenden Aufgaben, die das Gemeindeleben steckt, die ein-
23 1 fachsten und nächstliegenden zu überspringen, und darum sieht er sich genötigt, sie daran zu erinnern, daß die nächstliegenden und einfachsten Pflichten zugleich auch die wichtigsten sind. Das wird am Schluß des apostolischen Zeitalters im Kampf gegen die Verirrungen in der christlichen Gemeinde ebenso deutlich ausgesprochen, wie vom Täufer am Anfang der neutestamentlichen Zeit in seinem Kampf gegen die Sünden der Synagoge. Besonders auffallend hat man immer das Urteil über die Pflicht der Frauen gefunden, I. Tim. 2, 15. Die Erfüllung der Mutterpflichten ist das, was sie ins Himmelreich bringt. Das steht im Gegensatz zur Emanzipation und zu der Absicht an der christlichen Verkündigung teilzunehmen. Innerhalb des Gedankenkreises der Briefe ist das Wort in keiner Weise auffallend. Die guten Werke der Frau, durch die sie ins Himmelreich kommt, sind ihre Kinder, deren Erzeugung und Erziehung, ihre physische und geistige Bildung ist ihre Pflicht und ihr großes Werk. Gerade darin, daß an diese einfache Erfüllung des Liebesgebots das Himmelreich geknüpft wird, besteht die Größe dieses Wortes. Aus den beiden Sätzen, daß Werke ins Himmelreich bringen und daß christlich erzogene Kinder die von den Frauen geforderten Werke sind, ist das Wort vollkommen verständlich. Es ordnet sich der ganzen Tendenz der Briefe auf ein besonnenes, mäßiges, gerechtes, frommes Leben, Tit. 2, 12, ein, der Warnung vor einem Hinausbrechen aus den gegebenen Verhältnissen und vor dem schwärmerischen und begeisterten, aber ziellosen und deshalb resultatlosen Streben ins Grenzenlose. Diese nüchterne Beurteilung der Liebe führt den Verfasser niemals zu ihrer Vermenschlichung. Wenn sie sich in ihren einfachen menschlichen Verhältnissen äußert, so bleibt sie darum etwas Göttliches, sie stammt aus dem Geiste und steht als solche nicht nur neben dem Maßhalten, sondern auch neben der Kraft und bildet, wie bei Paulus und Johannes, den Gegensatz zur Feigheit, 2. Tim. I, 7. Auch die menschliche Liebe hat bei all ihrer Einfachheit wegen ihres göttlichen Charakters stellvertretende Bedeutung: Tun und Leiden des Apostels kommt den Auserwählten zugute, so daß sie der Errettung und der Herrlichkeit teilhaftig werden, 2. Tim. 2, 10. Nüchternheit und Tiefe vereinigen sich in dem Liebesgedanken
der Briefe. Er zeichnet sich dadurch aus, daß er die AnwendunI; des Liebesgebots auf die einfachsten Verhältnisse darstellt. Paulus und Jesus. Die Frage, wie sich das Evangelium des Paulus zum Evangelium Jesu verhalte, ob es eine Fortsetzung (selbstverständlich keine Wiederholung) der Predigt Jesu sei oder einen Bruch mit ihr darstelle, läßt sich auch vom Liebesgedanken aus, den beide vertreten, beantworten. Nach Paulus ist, wie nach den Synoptikern, das letzte und höchste Ziel Jesu die Begründung der Liebe; denn die Antwort, die Jesus auf die Frage gibt: "was soll ich tun?" "tue die Gebote" bedeutet nach seiner eigenen Auslegung; übe Liebe. Und obgleich Paulus den Glauben als ein Evangelium verkündigt hat, so ist für ihn die Liebe größer auch als der Glaube. Sie ist der Zweck des Menschen und bestimmt damit seinen Wert. Nach der Liebe wird der Mensch gerichtet, darum hält Paulus an dem Bekenntnis fest, daß im Weltgericht einem jeden nach seinen Werken vergolten werden wird. Wenn aber Paulus sagt, daß nach den Werken gerichtet wird, so bedeutet das eben, daß nach der Liebe gerichtet wird. Das Gericht nach den Werken ist sowohl nach den Synoptikern als nach Paulus ein Gericht nach der Liebe. In dieser Beziehung setzt Paulus einfach die Predigt Jesu fort. Sind beide in der Frage einig, wonach gerichtet wird, so sind sie in der Hauptfrage einig. Nur wer den Apostel gröblich mißversteht, kann die Einheit in dieser fundamentalen Frage übersehen. Wer Liebe übt, der kommt ins Himmelreich, und wer die Liebe verweigert, wird verworfen. Das sagt Paulus an entscheidender Stelle mit derselben Deutlichkeit wie Jesus. Wer in diesem Punkte von einem Widerspruch redet, der hat entweder Jesus oder Paulus oder beide nicht verstanden. Auch die Frage, wozu das Liebesgebot verpflichtet, was Liebe ist, beantworten beide gleich. Wie für Jesus neben und über der Wohltätigkeit als höchstes Werk der Liebe das Weitergeben dessen steht, was er gegeben hat, das Salzen der Erde, das Erleuchten der Welt, das Wuchern mit seinem Pfunde, so ist für Paulus die Erbauung des anderen, die Erbauung der Gemeinde das höchste Ziel,
233 das mit dem Liebesgebot gegeben ist. Dies ist der Dienst Christi, den der Knecht Christi zu leisten hat. Die Synoptiker stellen ihn von dieser Seite, d. h. als einen Jesus geleisteten Dienst, dar, bei Paulus kommt auch die andere Seite der Sache, der Dienst, der damit der Gemeinde geleistet wird, zur Darstellung. Wenn dieses Stück der Predigt Jesu in der Regel nicht mit genügender Deutlichkeit erkannt wird, wenn es erscheint, als habe für ihn die Liebe kein anderen Inhalt als Wohltätigkeit und Verzeihung, so ist das die Schuld der Synoptiker nicht. Sie heben dieses Ziel der Liebesübung deutlich hervor. Einig sind sich beide auch über die Frage, wie Liebe entsteht. Eigentümlich ist bei Paulus die Energie, mit der er den Durchgang der menschlichen Liebe durch einen Tod, den Untergang der natürlichen Liebe darstellt. Aber auch damit setzt er lediglich die Predigt Jesu fort. Wenn bei Jesus neben dem Liebesgebot die Verurteilung der falschen Liebe, ja das Gebot des Hasses gegen alle Menschen steht, so ist damit ausgesprochen, daß auch für ihn vor der Erweckung der wahren Liebe der Untergang der falschen Liebe liegt. Das eine ist die Kehrseite des anderen. Für Jesus sowie für Paulus entsteht Liebe nicht etwa dadurch, daß die aus der Selbstliebe entspringende Liebe nur ihrer Schranken entkleidet und über die Feinde des Menschen und des Volkes ausgedehnt wird, sondern nur so, daß zuerst die natürliche Liebe zu Grunde geht. Der Feind der Liebe ist für beide nicht nur der Haß, sondern die natürliche Liebe: "das Lieben seiner Seele", "das Leben für sich selbst". Dies muß zunächst überwunden werden. Die natürliche Liebe wird für beide dadurch überwunden, daß die Selbstliebe erlischt. Für Paulus geschieht das durch Christi Tod. Auch der Jesus der Synoptiker bildet sich nicht ein, die Selbstliebe verbieten zu können, er tötet sie, und das tut er nicht durch sein Wort, sondern durch seine Tat, d. h. durch seinen Tod. Die Vernichtung der Selbstliebe ist nicht nur sein Gebot, sondern sein Werk. Selbstverleugnung entsteht dann, wenn einer ihm nachfolgen will, und sie entsteht darum aus der Anhänglichkeit an ihn, weil sein Leben zum Sterben geht. Daß er erst durch seinen Tod die Liebe erweckt hat, in der das Ich gestorben und damit der Egoismus überwunden ist, das ist nicht etwa eine Theorie des Paulus, sondern
234 eine geschichtliche Tatsache. Die Liebe zu ihm, die zum Martyrium fähig ist, ist erst durch seinen Tod entstanden; er hat sie geschaffen und nicht nur geboten. Der Schluß des Paulus, Gemeinschaft mit Jesus ist Gemeinschaft mit seinem Tode und
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folg seines Sterbens handelt, sondern daß dieser Erfolg auch sein Wille ist. Vor das Liebesgebot tritt bei Paulus die Glaubenspredigt ; aber sie tritt nicht an die Stelle des Liebesgebotes. Wir haben auch bei den Synoptikern die Glaubensforderung. Nur wird über das Verhältnis der Glaubensforderung und des Liebesgebots nicht reflektiert. Jesus gibt überhaupt keine ethische Theorie, kein Moralsystem ; alle seine Imperative treten einfach neben einander, koordiniert, jeder so absolut, wie der andere. Er fordert ganzen Gehorsam, ganzen Glauben und ganze Liebe. Diese verschiedenen Äußerungen des Willens Jesu treten für die Gemeinde einfach neben einander; sie sind gleichmäßig für sie gültig: Sie glaubt ihm, sie liebt ihn, sie gehorcht ihm, und damit erfüllt sie seinen Willen. In der Koordination dieser Forderungen lag nun die Gefahr, daß sie gegen einander traten und sich beschränkten und störten. Diese Gefahr wurde im Judenchristentum zur Wirklichkeit; die Zusammenstellung von Glaube und Werk, wonach die beiden sich ergänzen und das eine in die Lücken des anderen tritt, wie sie in der Synagoge vorlag, setzt sich durch das Judenchristentum in der Gemeinde fort. Glaube und Werk ergänzen einander, sie sind nicht jeder für sich ein Ganzes, sondern der Glaube tritt in die Lücken der Liebe. Damit ist weder vollkommener Glaube, wie Jesus ihn fordert, noch ganze Liebe, wi~ er sie gebietet, mehr möglich. Diese Gefahr überwunden zu haben, ist das Verdienst des Paulus. Er hat gezeigt, daß, wenn ganzer Glaube entstehen -soll, wie Jesus ihn will, daß dann der Mensch nichts wollen darf, als nur glauben; handelt es sich um die Begründung des Glaubens, so lautet die Predigt: nur Glauben. Erst wenn diese Aufgabe gelöst ist, erst wenn der Glaube gegründet ist und in seiner Vollkommenheit da ist, erst dann kann die Liebe entstehen; dann soll sie aber auch entstehen, und sie entsteht auch für Paulus wirklich aus dem Glauben, und nur so entsteht die vollkommene Liebe. Für wen aber die Glaubenspredigt und das Liebesgebot Gegensätze sind, wer nicht versteht, daß Paulus gerade darum, weil er Liebe will, auch Glauben will und daß er darum, weil er Liebe hat, auch Glauben hat, wer hier den Zusammenhang nicht sieht, sondern nur Gegensätze, der beweist, daß er sich mit den landläufigen Mißverständnissen des Paulinismus auseinandergesetzt hat, aber nicht mit Paulus selbst.
Für Paulus ist die Hauptfrage : wie Liebe e nt s t e h t. Bei den Synoptikern kommt im Werk Jesu zur Darstellung, was Liebe ist. Die Frage, wie Liebe entsteht, wird nicht theoretisch be· sprochen und gelöst, sondern sie wird praktisch gelöst, indem Jesus durch seine Liebe Liebe weckt. Aber wenn dieser Teil seines Wirkens überwiegend stumme Tat ist, die nur gelegentlich, aber freilich auch genügend durch ein Wort beleuchtet wird, so darf man sie darum nicht übersehen und aus der Darstellung seines Willens ausschalten, denn sein Wille liegt in seiner Tat und in seinem Leiden ebensogut wie in seinem Wort. In den synoptischen Evangelien liegt die Geschichte vor, aus der die christliche Liebe entstanden ist, und bei Paulus die Theorie dieser Entstehung der Liebe, d. h. das Verständnis jener Geschichte_ Für wen nun die Frage, wie Liebe entsteht, gar kein Problem ist, der kann freilich die Bedeutung der Tat und des Leidens Christi für die Entstehung der Liebe vollkommen übersehen. Er hat damit auch kein Verständnis für die Frage, die Paulus sich vorgelegt hat, für die Frage, wie in selbstsüchtigen Menschen durch Christi Kreuz Liebe geweckt wird. Damit bleibt aber die Hauptfrage unbeantwortet und die Hauptaufgabe ungelöst; denn mit der Erkenntnis dessen, was notwendig ist, mit der Erkenntnis der Liebespflicht, ist Wille und Kraft dazu noch nicht da. Jedenfalls ist es kein Beweis von Nachdenken, wenn man als selbstverständlich annimmt, daß mit dem Wissen das Wollen da wäre, und hier gar kein Problem, gar keine Schwierigkeit mehr sieht und alle an diese Frage gewandte Arbeit ignoriert und nicht versteht. Damit bleibt dann nicht nur Paulus, sondern Grund, Ziel und Inhalt des Wirkens und Leidens Jesu, seiner eigentlichel~ Geschichte, unverstanden. Die Aufmerksamkeit und Arbeit des Paulus wendet sich auf die Frage: wie e n t s t e h t die Liebe?und darum tritt die Glaubenspredigt bei ihm, wenigstens in seiner ersten Periode, in den Mittelpunkt seines Denkens und seiner Arbeit. Der Glaube ist für ihn die Grundlage, die Wurzel, aber nicht das Ganze der Frömmigkeit und noch viel weniger sein einziges Interesse; trotzdem er den größten Teil seiner Arbeit auf die Grundlegung verwendet hat, behält er doch mit vollständiger Sicherheit das Ganze und das Ziel im Auge, und das ist für ihn, ebenso wie für Jesus, Liebe.
7. Kapitel.
Die katholischen Briefe und der Hebräerbrief.
Der erste Johannesbrief. Die Auffassung des Liebesgebots im ersten Johannesbrief entspricht zwar der des Evangeliums durchaus. Allein in der Darstellung finden sich eigentümliche Züge, um derentwillen es sich empfiehlt, den ersten Brief besonders zu untersuchen. Daß das Liebesgebot Jesu Gebot ist, wird auch im ersten Brief hervorgehoben, 3, 23; 4, 21. Aber es ist Jesu Gebot nur, weil es Gottes Wille ist, und weil es Gottes Wille ist und doch erst Jesu Gebot, so ist es zu gleicher Zeit ein altes und ein neues Gebot. Aber nicht seine Neuheit betont Johannes, sondern zuerst hebt er hervor, daß es nicht neu ist, sondern alt. Ihr hattet es von Anfang an, 2, 7 u. 3, 1 I. Das kann sich nicht auf den Anfang der Gemeinde beziehen, dagegen spricht zunächst der Ausdruck a~x~ cf. I, I; 2, 13. 14; 3,8. Beim Anfang denkt Johannes an den Anfang der Welt, darum nennt er als das große Beispiel des Hasses Kain, 3, 12. Das Liebesgebot stammt aus dem Paradiese, und Kain ist der erste, an dem das Wesen des Hasses sich offenbart hat. Ferner wird der Sinn, in dem das Liebesgebot alt genannt wird, durch den Gegensatz deutlich. Denn wenn Johannes es ein neues Gebot nennt, so kann das nicht den Sinn haben, daß er selbst es durch sein Schreiben als ein neues gibt. Neu ist es als Jesu Gebot. Der Ausdruck kann hier keinen anderen Sinn haben als im Evangelium, 13, 34. Ein altes Gebot ist das
Liebesgebot für Johannes wie für die ganze Gemeinde schon darum, weil es aus dem alten Testamente stammt. Eigentümlich ist ihm nur der Gedanke, daß es von Anfang ist. Aber es .ist kein Zufall, daß er ihn ausspricht. Liebe ist der Wille dessen, der von Anfang ist, und weil Gottes Wille Liebe ist, so ist das Liebesgebot von Anfang an. Was neu ist, ist dies, daß es wahr ist in ihm und in euch, 2, 8, d. h. in Christus und in der Gemeinde ist das Liebesgebot zur Wirklichkeit geworden, hier ist es Wahrheit. Das Neue, was Jesus gebracht hat, ist nicht eigentlich das Liebesgebot, sondern die Liebe, und zwar hat er nicht nur selbst Liebe geübt, sondern auch in der Gemeinde die Liebe erweckt. Auch in ihr ist das Liebesgebot zur Wirklichkeit geworden. Er hat die Liebe nicht nur geboten, sondern geübt, und nicht nur geübt, sondern geweckt. Die Differenz, die sich durchgehend zwischen dem ersten Brief und dem Evangelium beobachten läßt, zeigt sich auch in der Darstellung des Liebesgedankens. Der erste Brief unterscheidet sich nämlich dadurch vom Evangelium, daß er von Gott aussagt, was im Evangelium an Jesus angeknüpft wird. Im Evangelium nennt Jesus sich das Licht der Welt, im ersten Briefe wird Gott Licht genannt; so wird nach dem Evangelium die Liebe durch Jesu Liebe geweckt, im ersten Briefe geht auch in diesem Punkte der Gedanke zurück bis auf Gott. Dementsprechend nimmt im Briefe die Liebe zu Gott die Stelle ein, die im Evangelium die Liebe zu Jesus einnimmt. Natürlich ist es verkehrt, aus diesem Unterschied einen Gegensatz zu machen: auch nach dem Evangelium ist Jesus nur darum Licht, weil Gott Licht ist, und seine Liebe erweckt nur darum Liebe, weil er in Gottes Kraft liebt. Trotzdem ist der Unterschied bemerkenswert, er zeigt sich ja schon darin, daß das Liebesgebot nicht nur, wie im Evangelium, ein neu es, sondern zuerst, eben als Gottes Gebot, ein altes Gebot genannt wird. Die Liebe, die in der Gemeinde ist, ist also aus Gott entstanden, 4, 10. Das Wort geht von der Tatsache aus, daß Liebe da ist und zwar Liebe zu Gott; denn nur so versteht sich der folgende verneinende Satz, er sagt, wodurch diese Liebe da ist. Liebe zu Gott entsteht nicht dadurch, daß der Mensch Gott liebt und Gott diese Liebe erwidert, sie geht nicht vom Menschen
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aus. Der Mensch vermag von sich aus Gott nicht zu lieben~ Ein solcher Gedanke wäre für Johannes eine Verleugnung der Gottheit Gottes. Nicht der Mensch erzeugt in Gott die Liebe,. sondern Gott erweckt sie im Menschen, sie geht von oben nach unten. Liebe ist für Johannes nicht etwas Menschliches, sondern etwas Göttliches. Alle menschliche Liebe ist Gegenliebe. Derselbe Gedanke wird 4, 19 ausgedrückt: wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. Die Liebe Gottes ist auch nicht durch das, was der Mensch ist, motiviert, sondern sie entspringt in Gottes eigenem Willen, er liebt, weil er Liebe ist, 4, 8. 16, oder weil er Licht ist, 1, 5, denn beides ist für Johannes dasselbe, es bedeutet: er ist nichts als Liebe. Man darf gegen diese Auffassung des Bildes nicht einwenden, daß damit etwas Selbstverständliches gesagt sei. Daß Gott Liebe ist und nichts als Güte, ist für Johannes so wenig selbstverständlich, daß es vielmehr ein Glaubensurteil ist. Diesem Bekenntnis widerspricht die Finsternis. Da in der Welt Finsternis ist, so entspricht es dem natürlichen Gottesgedanken, auch in Gott Finsternis zu sehen. Man schließt aus dem Werk auf den Schöpfer. Dem setzt Johannes sein Bekenntnis entgegen, daß Gott nichts ist als Licht, Liebe. Das Eigentümliche des Gedankens besteht darin, daß Liebe nicht nur als Eigenschaft Gottes, als Tat Gottes, sondern als sein Wesen bezeichnet wird. Er hat und übt nicht nur Liebe, sondern er ist Liebe. Liebe ist nicht eines seiner Ziele, eine seiner Eigenschaften, sondern sein ganzer Wille ist nichts als Liebe. Der Beweis dafür liegt für Johannes nicht im Lauf der Welt, der dieses Bekenntnis eben zu widerlegen scheint. Die Liebe Gottes ist verborgen, wie Gott selbst. Offenbar geworden, in die Welt getreten, aus dem Willen zur Tat geworden ist sie durch die Sendung des einzigen Sohnes. Genau wie im Evangelium wird die Vollkommenheit der Liebe Gottes an der Vollkommenheit seiner Gabe gemessen. Johannes spricht jedoch von der Sendung des Sohnes nicht wie von einer stummen Tatsache, aus der er durch eigenen Gedanken Gottes Liebe erschlossen habe, sondern daß Gott Licht ist, das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben. Er nennt also auch nicht Jesu Werk, sondern sein Wort als den entscheidenden Beweis für die Liebe Gottes. Der Erweis
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der Liebe Gottes wird nicht in äußeren Dingen gesehen, nicht in sachlichen Gaben, überhaupt nicht in äußerer Erfahrung; vielmehr gilt als der höchste Erweis der Liebe Gottes der Name der Gotteskinder, 3, I. Daß Johannes nur vom Namen spricht und schon in ihm die Offenbarung vollkommener Liebe sieht, zeigt, daß es ihm nur auf die Liebe Gottes und nicht auf die aus ihr folgenden sachlichen Gaben ankommt. Diese Schätzung der Liebe Gottes ist selbst wieder Liebe. Die Gotteskindschaft besteht jedoch bei Johannes nicht nur im Namen, sondern im Besitz des Geistes Gottes. In der Gabe des Geistes besteht für Johannes der höchste Erweis der Liebe Gottes. In dieser Beziehung steht die Gabe des Geistes Gottes neben der des Sohnes Gottes. Er ist insofern die höchste Gabe Gottes, als Gott mit
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Weil Gott sich als Liebe offenbart, so haftet bei Johannes unmittelbar an der Kenntnis Gottes Trieb und Kraft zur Liebe. Wer liebt, beweist damit, daß er Gott kennt, und wer nicht liebt, beweist, daß er ihn nicht kennt, 4, 8. Ein kraftvolleres Liebesmotiv als die Erkenntnis Gottes und eine Erkenntnis Gottes, die nicht diese Wirkung unmittelbar in sich schlösse, gibt es nicht. An den Hinweis auf die Liebe Gottes schließt Johannes nicht das Gebot der Liebe zu Gott, sondern unmittelbar das Gebot der Bruderliebe. Gott lieben heißt ihm gehorchen, seine Gebote halten, 5, 3. Lieb_e ist, so gut Gott wie den Menschen gegenüber, nicht Stimmung und Empfindung, sondern Tat. .,Geliebte, wenn uns Gott so geliebt hat, so müssen auch wir uns unter einander lieben." Denselben Sinn hat das Wort 1,7: 11 Wenn wir im Lichte wandeln, so haben wir Gemeinschaft unter einander". Aus dem Wandel in der Güte Gottes folgt die Liebe. Ebenso stehen 2,9 der Wandel in der Finsternis, d. h. die Ge:schiedenheit von Gottes Liebe, und der Haß gegen den Bruder neben einander. Die Liebe Gottes erweckt für Johannes ohne weiteres die Liebe zu den Brüdern, freilich nicht mit Naturnotwendigkeit - denn dieser Zusammenhang kann versagen, aber damit erlischt dann auch die Gemeinschaft mit Gott. Nur wer den Bruder liebt, der bleibt auch im Licht 2, 10. Ähnlich wie im Evangelium die Liebe zu Jesus als Tatsache gilt, erkennt Johannes im ersten Brief an, daß die Bereitwilligkeit, Gott zu lieben, da ist. Allein die Gemeinde muß vor Selbsttäuschungen geschützt werden. Dieser Kampf gegen die Selbsttäuschungen durchzieht den ganzen Brief. Dem Apostel ist keineswegs die Liebe Gottes unsicher, er sucht deshalb nicht nach Kennzeichen, an denen die Gemeinde erkennen kann, ob sie von Gott geliebt ist; hierfür ist die Sendung des Sohnes der vollkommene Beweis. Aber in bezug auf die Wahrhaftigkeit der eigenen Liebe ist Selbsttäuschung möglich. Für Johannes erschwert die Verborgenheit -Gottes nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch die Liebe zu ihm, 4, 12. 20. Weil Gott verborgen ist, so kann die Behauptung der Liebe zu ihm eine Selbsttäuschung, eine Einbildung
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Geborenen sind die Gebote Gottes, d. h. die Liebe, nicht schwer, 5,4, denn durch die Geburt aus Gott wird ihm mit dem Geist Wille und Kraft zur Liebe gegeben. Er hat durch den Glauben die Welt besiegt und damit den aus ihr stammenden Antrieb zum Haß, 3, 13 ff., überwunden. Darum wird ihm das Lieben nicht schwer. Die Liebe ist zu seinem eigenen Willen geworden. An. der Liebe zu den B r ü der n, heißt es, erkenne man die Liebe zu Gott, denn nur von Liebe zu den Brüdern spricht Johannes auch im ersten Briefe, denn die Brüder sind dem Vater ähnlich,. und eine Liebe zu Gott, die nicht ein Spiel der Phantasie ist, zeigt sich darum darin, daß sie zu der Liebe zu den Kindern Gottes führt. In ihr wird die Art des verborgenen Gottes sichtbar, 4, I I ff. Darum wird den Brüdern gegenüber die Wahrhaftigkeit der Liebe zu Gott ebensowohl offenbar, wie nach dem Evangelium an der Liebe zu Jesus. Denselben Gedanken drückt 4, 12 aus. Die Liebe zum verborgenen Gotte kann sich nur in der Liebe zu den Brüdern äußern .. Aber Johannes will damit die Möglichkeit der Liebe zu Gott nicht etwa leugnen, er will sie auch nicht auf die Liebe zu den Brüdern reduzieren, als wenn sie etwa nur in dieser Form ins. Bewußtsein treten könne. Er scheidet freilich Liebe zu Gott und zu den Brüdern nicht von einander, aber er unterscheidet sie deutlich. Genau so wie die Liebe zu den Brüdern Kennzeichen der Liebe zu Gott ist, ist umgekehrt auch die Liebe zu Gott Merkmal der Liebe zu den Brüdern, 5, 2. Beide regulieren sich gegenseitig, ebensowohl wie die Liebe zu Gott, kann die Liebe zu den Brüdern eine Einbildung sein. Ob sie wirklich Liebe ist, wird daran klar, ob sie mit der Liebe zu Gott verbunden ist, d. h. mit dem Halten seiner Gebote. So wenig Johannes die Wahrhaftigkeit einer Gottesliebe anerkennt, über der die Brüder vergessen werden,. ebensowenig erkennt er die Wahrhaftigkeit einer Menschenliebe an, in der über den Menschen Gott vergessen wird. Nicht etwa nur das Recht, sondern die Wahrhaftigkeit einer solchen Liebe leugnet er. Sie ist Selbsttäuschung. Eine Menschenliebe, über der Gott ignoriert und sein Gebot vernachlässigt wird, fördert den anderen nicht, sondern schädigt ihn. Wird über den Menschen Gott zurückgesetzt, so ist auch keine wahre Liebe zu den Menschen da, werden Gottes wegen die Menschen vernachlässigt, so wirci auch Gott nicht wirklich geliebt.
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Liebe ist für Johannes Tat: nicht lieben mit Worten und mit der Zunge, sondern in der Tat und Wahrheit, 3, 18. Erst durch die Tat wird die Liebe zur Wahrheit. Darum ist Liebe das Halten der Gebote, 5, 2. Dabei bleibt Johannes seiner Eigentümlichkeit auch im Briefe getreu, nur die vollkommene Liebesübung anzuerkennen. Eben weil Liebe für ihn etwas Göttliches ist, so ist sie etwas V 011kommenes. Als solche ist sie erst in Christi Tod offenbar geworden, und diese neue, erst durch Christus zur Tat gewordene Liebe ist erst da, wo der Wille ist, die Seele hinzugeben. Liebe ist so gut der Wille zum Sterben, als Haß der Wille zum Töten ist, 3, 15 ff. Beide tragen einen absoluten Charakter in sich. Damit sind nicht nur Taten einer ausnahmsweisen Aufopferung gemeint, sondern diesen Inhalt hat jede wirkliche Liebe. Sie ist nicht nur ein beständiges Riskieren, sondern ein Hingeben des Lebens für die Brüder. Die Formel schließt sich durchaus an die Liebesübung Jesu an. Auch die Liebe der Gemeinde wird als Opfer beschrieben, denn nicht den Brüdern wird die Seele gegeben, sondern zu Gunsten der Brüder wird sie an Gott gegeben, so wie Jesus seine Seele an Gott hingibt. Wer liebt, stellt sein Leben in den Dienst Gottes, opfert es Gott und dient damit den Brüdern. Er genießt sein Leben nicht, sondern verbraucht es im Dienste Gottes zum Besten der Brüder. Indern Johannes diesen höchsten Ausdruck für die Liebesübung prägt, verzichtet er auf jede konkrete kasuistische Bestimmung der Liebespflicht. In das Hingeben des Lebens für die Brüder ist die Bereitwilligkeit zu jeder Gabe, die durch das Bedürfnis des Bruders gefordert wird, speziell zur Wohltätigkeit, eingeschlossen, 3, 17. Das Liebesgebot ist auf seinen höchsten und einfachsten Ausdruck gebracht. Wie er nur die höchste Äußerung der Liebe nennt, so nennt er auch nur ihr letztes Ziel: Gemeinschaft mit einander haben. Dieses Ziel wird dadurch erreicht, daß die einzelnen Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohne haben. Die vollkommene Liebe besteht darin, dem anderen an seiner Gemeinschaft mit Gott Anteil zu geben. Da Johannes immer nur an die vollkommene Liebe denkt, so nennt er nur diese höchste Gabe. An ihrer Gemeinschaft mit Gott gibt die Gemeinde durch die Verkündigung des Evangeliums Anteil, und aus keinem anderen Grunde verkündigt sie es, als 16*
um dadurch Gemeinschaft mit den anderen zu stiften, d. h. das Missionsmotiv ist der Wille zur Liebe. Hieraus wird klar, warum Johannes nur von Liebe zu den Brüdern sprechen kann. Denn diese vollkommene Liebe ist eben nur da, wo Brüder sind, und wo sie ihr Ziel erreicht, da hat sie den anderen zum Bruder gemacht. Jedes andere Wohlwollen und jede andere Wohltätigkeit nennt Johannes deshalb nicht Liebe, ebenso wie er nicht schon in den naturhaften Gaben, sondern erst in dem Geben des Sohnes die Liebe Gottes sieht. Das Gegenteil des Gewährens der Gemeinschaft mit Gott ist die Verführung. Johannes beschreibt daher die Schuld, die durch die Liebe vermieden wird, 2, 10 mit den Worten: "in dem, der liebt, ist kein Anstoß": führt er den anderen zur Gemeinschaft mit Gott, so folgt, daß er ihn jedenfalls in seiner Gemeinschaft mit Gott nicht stört. Da Liebe für Johannes Erfüllung der Gebote Gottes ist, so stellt er sie neben die Gerechtigkeit. Liebe und Gerechtigkeit sind für ihn keine Gegensätze, auch ist Liebe nicht mehr als Gerechtigkeit, beide sind Synonyma. Gerechtigkeit ist ebensowohl das Merkmal der Geburt aus Gott, wie Liebe, 2, 29. Gerechtigkeit und Liebe stehen 3, 10 neben einander als Kennzeichen der Gotteskindschaft. Damit wird zunächst ausgedrückt, daß die Liebe die Erfüllung des Gebotes ist, denn wer das Gebot Gottes erfüllt, der ist gerecht, 3, 7. Dann wird aber auch damit gesagt, daß durch die Liebe dem Bruder sein Recht gegeben wird. Durch die Liebe wird das Maß dessen, was der andere zu fordern hat, nicht überschritten, sondern er hat ein Recht auf Liebe. Als Inhalt des Willens und also des Gebotes Gottes steht die Liebe neben dem Glauben, 3, 23. Der Glaube an den Namen seines Sohnes und die Liebe zu den Brüdern bilden für Johannes den in sich einigen Inhalt des einzigen Gebotes Gottes. Sie stehen darum auch 5, I neben einander. Der in sich einheitliche Wille Gottes, der sich in beiden Forderungen offenbart, ist die Liebe Gottes. Denn aus ihr ergibt sich sowohl die Glaubensforderung als das Liebesgebot. Johannes nennt beide neben einander, ohne eins von beiden dem anderen unterzuordnen. Er kennt daher auch eine Entstehung des Glaubens aus der Liebe. Denn das ist in den Worten gesagt, daß die vollkommene Liebe
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Zuversicht am Tage des Gerichts gibt, 4, 17. Mit Zuversicht ins Gericht gehen, das heißt eben glauben. Es ist jedoch nicht die Meinung des Johannes, daß sich diese Zuversicht durch eine bewußte Reflexion auf die Liebe erhält, so daß der Glaube aus dem Blick auf die eigene Liebe entstände, anstatt durch den Blick auf Gottes Liebe. Vielmehr ist es der unwillkürliche objektive Erfolg der Liebe, daß der Blick auf das Gericht durch sie leicht gemacht wird: aus der Liebe entspringt als ihr indirekter Erfolg der Glaube. Eine ähnliche Gedankenverbindung liegt 1,7 vor. Aus dem Wandel im Lichte folgt: "wir haben Gemeinschaft unter einander, und das Blut seines Sohnes Jesus macht uns rein von aller Sünde". Liebe und Vergebung werden hier in einer Reihenfolge,. die der traditionellen entgegengesetzt ist, neben einander gestellt. Wo Gemeinschaft ist, da ist Vergebung. Zuversicht im Gericht entsteht aus der Liebe darum, weil sie, wenn sie vollkommen ist, die Furcht ausstößt. F u r c h tun d Li e be sind Gegensätze, die einander ausschließen. Doch stößt erst die vollkommene Liebe die Furcht aus.Die vollkommene Liebe entspringt der Erkenntnis, daß Gott nichts ist als Licht. Da keine Finsternis in ihm ist, so erweckt er auch keine Furcht. In dem Maße als sich ein Mensch fürchtet, ist seine Liebe noch nicht ganz geworden. Damit will Johannes keineswegs einen unerreichbaren Standpunkt bezeichnen, sondern den normalen. Erst vollkommene Liebe ist Liebe. Die alte Debatte über das Verhältnis von Furcht und Liebe ist durch diese Formel zu einer klaren Entscheidung gebracht. In dem Maße als das eine hervortritt, tritt das andere zurück. Gemeinsam mit der Synagoge ist dem Apostel der Gedanke, daß die Liebe über der Furcht steht. Aber für ihn entwickelt sich nicht, wie für die Palästinenser und Philo, die Furcht zur Liebe, so daß die Furcht der Anfang und die Liebe die Vollendung der Furcht ist, sondern für ihn sind Furcht und Liebe Gegensätze, die einander ausschließen. In die ganze Liebe ist die Furcht nicht aufgenommen, sondern sie ist durch sie ausgeschlossen. In diesem Abschluß der alten Debatte spricht sich das Verhältnis der christlichen Gemeinde zur Synagoge charakteristisch aus. So gut für Paulus der Messias das Gesetz nicht vertritt, sondern so gut er das Ende des Gesetzes ist, so gut ist für Johannes die Furcht nicht in die Liebe eingeschlossen, sondern
durch sie aufgehoben. In bei den Gedanken drückt sich genau dieselbe Differenz von der Synagoge aus. Dies Wort zeigt zugleich, daß auch für Johannes Liebe etwas Ganzes ist, ein 1:iÄEtoJl. Er kennt auch solche Liebe, welche nicht vollkommen ist, aber er bezeichnet nicht etwa ein unerreichbares Ziel, sondern den normalen Zustand mit dem Ausdruck "vollkommene Liebe". Die christliche Liebe ist vollkommen. Damit ist nicht bloß ihre Ausdehnung auf jeden Nächsten gemeint, sondern ihre innerliche qualitative Vollkommenheit. Da sie Bereitwilligkeit ist, die Seele, die ganze Person zu geben, so ist sie Vollkommenheit, und nur dann, wenn sie dies ist, ist sie Vollkommenheit. Vollendet sie sich nicht zur Totalität, zu einer den ganzen Willen umfassenden Geschlossenheit, so kündigt sich das durch das Auftreten der Furcht an. Die Furcht entspricht der Unwilligkeit oder Unfähigkeit zur Liebe. Diese gestaltet das Gottesbewußtsein so, daß es zur Furcht vor Gott wird. Darum kann Johannes schließen: wer fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe, d. h. seine Liebe ist nicht ganz. Ist dies der Sinn des Wortes, so können sich auch die Worte v. 17, mit denen diese Ausführung beginnt: "darin ist die Liebe vollendet bei uns", nur auf unsere Liebe beziehen. Vollendete, ganze Liebe ist ohne Furcht. Auch die beiden anderen Worte, in denen von der Vollendung der Liebe die Rede ist, müssen sich dann auf unsere Liebe beziehen. 2, 5 heißt es: "Wer sein Wort bewahrt, in dem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet." Erst durch den Gehorsam wird die Liebe zur ganzen Liebe, vgl. 5, 3 und im Evangelium 14, 21 und 23. Gehorsam setzt Liebe voraus. Nur wer liebt, der gehorcht. Liebe ist Bereitwilligkeit zum Gehorsam. Die ganze Liebe aber ist erst da, wo der Gehorsam Tat ist. Die bei den Sätze, daß schon die Bereitwilligkeit zum Gehorsam, schon der Wille Liebe ist und daß anderseits Liebe Tat ist und erst Tat Liebe, werden so mit einander vereinigt, daß durch den Gehorsam die Liebe ganz wird. Die Liebe, die zur Tat wird, ist die ganze Liebe. Hiernach wird auch 4, 12 zu verstehen sein: "Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist vollendet in uns." Durch die Liebe zu den Brüdern wird die Liebe zu Gott vollendet. Sie entsteht aus der Liebe zu Gott und wirkt wieder auf sie zurück, indem sie sie zu etwas Ganzem und Fertigem macht.
247 Inhaltlich ist also der Satz eine genaue Parallele zu 2, 5. Johannes kennt mithin eine Liebe, die Anfang und darum Stückwerk ist. Aber sie soll sich zur ganzen Liebe vollenden, denn schließlich ist auch und gerade für ihn erst ganze Liebe wirkliche Liebe. Neben das Gebot der Liebe zu den Brüdern tritt das Ver bot der Liebe zu der Welt, 2,15. Liebe zur Welt und Liebe zu Gott schließen einander aus. Bei der Welt denkt jedoch Johannes nicht etwa an die Natur, sondern an das Treiben dcr Menschen. Die Begierden, die in ihm zu Tage treten, stammen nicht aus dem Vater. Der Gegensatz zwischen Gott und Welt setzt sich in den Kindern Gottes fort. Wie die Liebe in der Gemeinschaft besteht, so bedeutet "nicht lieben" die Gemeinschaft versagen. Von dem, der die Sünde zum Tode begangen hat, sagt Johannes: ich sage nicht, daß man für ihn bitten soll, 5, 16. Den Irrlehrern soll man auch die äußere Gemeinschaft versagen, II, v. 10. Sie sind nicht etwa persönliche Feinde des Apostels, sondern Feinde Christi, und darum hat sich die Gemeinde auch äußerlich und deutlich von ihnen zu scheiden. Während Johannes nur die Liebe zur Welt verbietet, aber nicht etwa den Haß fordert, spricht er als Tatsache aus, daß die Welt die Gemeinde haßt, 3, 13; das ist nicht nur eine Tatsache, sondern eine Notwendigkeit. Wie Liebe und Leben zusammengehören, so Haß und Tod. Weil die Gemeinde selbst erst dadurch, daß sie ins Leben eingegangen ist, lieben gelernt hat, so ist ihr der Haß der Welt verständlich. Die Welt kann nicht lieben, 3, 14. Wie Johannes immer im Schema der Wechselwirkung denkt, so stehen auch Liebe, Leben und Licht, Haß, Tod und Finsternis unter einander in Wechselwirkung. Wer im Tode ist, der haßt, und wer nicht liebt, der bleibt im Tode. Weil er den Willen zum Töten in sich trägt, so hat er das ewige Leben verwirkt. Ebenso folgt aus dem Wandel im Licht die Gemeinschaft unter einander, d. h. die Liebe I, 7, und aus der Liebe wieder das Bleiben im Licht, 2, 10, während der Haß aus dem Wandel in der Finsternis folgt und die Verbannung in die Finsternis nach sich zieht, 2, I I. Haß und Liebe sind aber für Johannes nicht ursprüngliche Regungen des Willens, sondern sie sind sekundär. Er verfolgt deshalb ihre Entstehung. Der, der Böses tut, fürchtet den über-
flihrenden Charakter, den die Werke des Gerechten für ihn haben. So entsteht das böse Gewissen, und aus ihm entspringt der Haß. Jakobus. Bei dem Interesse, das Jakobus am Wirken hat, tritt in seinem Briefe das Liebesgebot in eigentümlicher Weise hervor. Den Gedanken, daß es die Zusammenfassung aller Gebote ist, hat er mit der ganzen Gemeinde aus der Predigt Jesu übernommen. Aber er drückt ihn in origineller Weise aus. Das Liebesgebot ist das k ö ni gl ich e Ge bot, d. h. das Gebot, dem sich alle anderen unterzuordnen haben, und dies ist es nicht erst durch Jesu Wort, sondern nach der Schrift, weshalb es auch in einem Schriftzitat gebracht wird, 2, 8. Für Jakobus ist dieses Urteil schon darum notwendig, weil für ihn Liebe, ebenso wie für Johannes, nicht erst Jesu Gebot, sondern Gottes Wille ist. Das Gesetz hat darum für ihn bleibende Gültigkeit und wird durch Jesu Gebot aufgenommen. Den Einfluß der christlichen Gemeinde verrät sein Wort nur dadurch, daß durch das Liebesgebot die zersplitternde Tendenz der Synagoge, das Interesse an der Kasuistik überwunden ist Kasuistik bietet der Brief garnicht Das Liebesgebot ist nicht ein Gebot neben anderen, sondern das eine Gebot, der eine Wille des einen Gottes. Das ist nicht nur eine gelegentliche Bemerkung, sondern hängt mit dem innersten Charakter der Frömmigkeit des Jakobus zusammen. Nichts ist für ihn so charakteristisch als das Streben nach Einheit und Geschlossenheit, nach dem Ganzen. Der eine Gott hat einen Willen, nämlich Liebe. Das Liebesgebot fordert auch bei Jakobus zuerst Li e be zu Go t t. Liebe ist für ihn der zusammenfassende A~sdruck für die gesamte Frömmigkeit. Das Reich hat Gott denen verheißen, die ihn lieben, 2, 5. Nicht mit dem Glauben, sondern mit der Liebe verbindet er den Eingang ins Himmelreich. Das ist keineswegs ein vereinzelt dastehendes Wort, welches sich etwa nur daraus erklärte, daß wir hier eine Anspielung auf ein Zitat haben j es drückt den eigenen Gedanken des Jakobus aus und seinen Grundgedanken. Nur darum, weil Liebe das ist, was Gott haben will, dringt ja Jakobus auf die Tat, darum ist sie für ihn mehr
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als Glaube, und darum genügt ihm der Glaube allein nicht, weil erst Liebe Tat ist und Gott Tat fordert. Denn in der berühmten Ausführung über Glaube und Werk, 2, I4ff., handelt es sich um das Liebesgebot. Es ist das Liebeswerk, das sich die Gemeinde ersparen will mit dem Hinweis auf ihren Glauben. Der Glaube soll an die Stelle des fehlenden Werkes treten. Dieser Unterdrückung der Liebe durch den Glauben will Jakobus vorbeugen. Für ihn schließt nicht der Glaube das Werk in sich, wohl aber setzt das Werk den Glauben voraus, d. h. die Liebe als das Ganze der Frömmigkeit schließt den Glauben als seine Wurzel in sich. Was für eine Bedeutung die Tat für die Liebe hat, zeigt der Vergleich des Glaubens ohne Werk mit dem Mitleid ohne Hilfe, 2, 15 f. Während die Notwendigkeit des Werkes neben dem Glauben erst bewiesen werden muß, gilt ihm, wie dieser Vergleich zeigt, bei der Liebe die Tat als etwas Selbstverständliches. Die Worte, die er dem anderen in den Mund legt, sollen ein wirkliches Mitleid ausdrücken. Liebe ist jedoch erst dann da, wenn aus der Empfindung des Mitleids die Tat hervorgeht, durch welche der Not wirklich abgeholfen wird. Weil es der Liebe auf den anderen ankommt, so kann sie nicht nur Wohlwollen bleiben, sondern muß zum Werk, zur wirklichen Hilfeleistung werden. Die Entstehung des Liebeswerkes ist der Entstehung der Sünde parallel. Wie die Sünde nicht schon in der Lust besteht, sondern durch das Eingehen des Willens auf sie entsteht, so ist auch nicht schon Mitleid Liebe, sondern erst die zur Tat gewordene Empfindung. Nur darum, weil die Liebe Werk ist, ist sie Erfüllung des Gesetzes. Als Erfüllung des Gesetzes ist sie Ger e eh ti g k e i t, weshalb denen, die Frieden stiften, die Frucht der Gerechtigkeit in Aussicht gestellt wird, 3, 18. Weil die Liebe Erfüllung des Ge· setzes und Äußerung der Liebe zu Gott ist, so ist auch jede Lieblosigkeit ein Verstoß gegen das Gesetz. Die Liebe zu Gott kann in keiner anderen Form zur Tat werden, als in der Liebe zu den Brüdern. Liebespflicht gründet Jakobus nicht wie Johannes auf das brüderliche Verhältnis innerhalb der Gemeinde, sondern sie gilt den Menschen schon darum, weil sie nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen sind, 3, 9. Der reine Gottesdienst besteht in dem Besuchen der Witwen und Waisen: indem man
25° ihnen Liebe erweist, dient man Gott. Äußert sich hierin die Liebe zu Gott, so ist klar, daß Jakobus mit seinem Worte: "Denen, die Gott lieben, gehört das Himmelreich", die Predigt Jesu nach den Synoptikern aufnimmt. Auch darin steht Jakobus der synoptischen Darstellung der Predigt Jesu nahe, daß er als Äußerung der Liebe Gottes nicht erst die Sendung des Sohnes oder des Geistes nennt, sondern die Vorsehung Gottes, die sich im Geben von lauter guter Gabe zeigt I, 17. Endlich schließt er sich dadurch an die Synoptiker an, daß er als die erste und einfachste Äußerung der Liebe die Wohltätigkeit nennt. Diese Auffassung der göttlichen und der menschlichen Liebe ist in sich zusammenhängend: bei beiden wird die einfachste Äußerung, das Geben natürlicher Gaben, genannt. Übereinstimmung mit den Synoptikern besteht auch insofern, als der Grundsatz der Predigt Jesu: wer Erbarmen übt, erfahrt Erbarmen, und wer das Erbarmen unterläßt , erfahrt ein unbarmherziges Gericht, einfach aufgenommen wird 2, 13. Das Wort deckt sich in jeder Beziehung mit dem Worte Jesu, sowohl darin, daß von der Liebe, die sich als Erbarmen äußert, die Rede ist, als darin, daß die göttliche Belohnung als Erbarmen bezeichnet wird, wodurch auf die Gnade hingewiesen wird, die in dieser Regel liegt; endlich darin, daß nicht erst das positive Unrecht, sondern schon das Unterlassen der Barmherzigkeit mit dem Gericht bedroht wird. Eigentümlich ist der Zusatz: es rühmt sich die Barmherzigkeit angesichts des Gerichts. Der Gedanke ergibt sich ja freilich aus der Regel, daß Barmherzigkeit Barmherzigkeit erfahrt. Darüber hinaus geht das Wort des Jakobus insofern, als dies nicht nur als objektive Regel angegeben wird, sondern auch die subjektive freudige Zuversicht, die Gewißheit der Errettung im Blick auf das Gericht ausdrücklich daraus abgeleitet wird. Der Gedanke hat eine Parallele an dem Worte des I. Johannesbriefes, daß die vollkommene Liebe die Furcht ausstößt. Auch Jakobus verfolgt also den Zusammenhang zwischen Glauben und Werk nach beiden Seiten hin. Aus dem Glauben entsteht das Werk, d. h. die Liebesübung , und umgekehrt aus der Liebesübung entsteht Glauben; denn Freudigkeit angesichts des Gerichtes ist Glauben. Jakobus nennt jedoch nicht nur die Wohltätigkeit als Äußerung der Liebe; charakteristisch ist vielmehr für ihn die Auf-
merksamkeit auf die Bedeu tung des Wortes. Auch sie stammt aus den Worten Jesu. Der Grundsatz, daß nach den Worten gerichtet und gerechtfertigt wird, wird durch den Gedanken aufgenommen, daß die Liebe, nach der gerichtet wird, sich im Worte äußert. Es findet sich bei Jakobus ein doppeltes Urteil über die Bedeutung des Wortes und des Werkes: einerseits stellt er ganz wie Johannes das Werk über das Wort, 2, 15 ff.; anderseits stellt er das Wort über das Werk, 3, IOff. Das Wort ist die höchste, wichtigste Lebensäußerung, an die sich die größten Wirkungen knüpfen, 3, I ff. Da Jakobus beim Worte an das Reden des Wortes Gottes denkt, so verknüpft sich für ihn mit dem Worte die größte Wohltat und die schwerste Schädigung, Segen und Fluch; denn das sind ihm reelle Wirkungen, weil er das Wort Gottes als eine reelle Macht ansieht, die zeugend und schaffend wirkt, I, 18. Darum ist das Reden wider den Bruder eine Sünde, 4, I I. Als höchsten Erweis der Liebe nennt Jakobus, 5, 19 f., die Bekehrung eines verirrten Bruders. Wer den Bruder rettet, rettet damit seine eigene Seele vom Tode und wird die Menge der Sünden bedecken. Denn unzweifelhaft spricht Jakobus hier nicht von der Sünde des Bruders, sondern von der eigenen Sünde dessen, der den Bruder rettet. Indem er den anderen rettet, rettet er sich selbst. Man hat den Gedanken auffallend und unwahrscheinlich gefunden; allein er fügt sich durchaus in den Gedankenkreis des Jakobus ein. Er folgt einfach aus der Regel, daß denen, die Liebe üben, das Himmelreich gehört, und ist nur eine Anwendung des Wortes, daß der, der Barmherzigkeit übt, Barmherzigkeit enahrt, nur daß hier nicht im allgemeinen von Barmherzigkeit, sondern speziell von Vergebung die Rede ist. Das Wort geht nicht hinaus über das Wort Jesu: Wer vergibt, dem wird vergeben. Liebe ist auch für Jakobus etwas Ganzes, Voll kom m e n es, ein rdAeLOv. Das Werk, das der Mensch haben soll, ist deswegen ein ganzes Werk, ein f~rov "iAeLOv. Der Unterschied von der Synagoge ist wieder bedeutsam: in der Synagoge erwartet man viele und große Werke, Jakobus will ein ganzes Werk, der Jude will "groß" sein oder "der erste" sein im Himmelreich, Jakobus fordert, daß die Glieder der Gemeinde "ganze" Leute seien. Vollkommen ist die Liebe darum, weil sie, wo sie ist, ganz ist, und wo sie
nicht ganz ist, garnicht ist. Wenn die Gemeinde die unterwürfige Dienstfertigkeit den Reichen gegenüber mit der Berufung auf das Liebesgebot rechtfertigt, 2, 8, so sind dagegen für Jakobus Liebe und Parteilichkeit Gegensätze, die einander ausschließen. Liebedienerei gegen die Reichen, verbunden mit Härte gegen die Armen, ist nicht etwa eine teilweise Erfüllung des Liebesgebotes, sondern eine Freundlichkeit nach der einen Seite hin, die zur Härte nach der anderen wird, ist Übertretung des Gesetzes. Das Gesetz ist eine Einheit und wird darum ganz oder garnicht gehalten. Eine nach der einen Seite hin geübte Rücksicht, die nach der anderen verletzt und zurücksetzt, ist nicht Liebe, sondern Parteilichkeit. Ebenso steht es mit dem Wort, 3, 9ft'. Auch im Worte des Menschen ist Liebe nur dann, wenn Einheit in ihm ist. Lob Gottes und Verfluchung des Menschen können nicht neben einander bestehen. Das Lob Gottes wird als die Äußerung der Liebe Gottes im Wort genannt. Steht dagegen beides neben einander, so ist die innere Finheit in unnatürlicher Weise zerrissen j das vollkommene Werk und der vollkommene Mann sind nicht da, und durch die Bosheit gegen die Menschen verliert das Lob Gottes seinen Wert. Ganze Liebe, die den ganzen Menschen umfaßt, entspricht für Jakobus der Einheit Gottes, ebenso wie er als der eine ganzes und ungebrochenes Vertrauen wecken und fordern kann. Darum schließen sich Liebe zur Welt und Liebe zu Gott aus. Aus der Liebe zur Welt folgt auch nicht nur die Gleichgültigkeit, sondern der Haß gegen Gott, 4, 4. Der eine Gott will den Geist des Menschen ganz für sich haben, er liebt eifersüchtig. Er nimmt damit dem Menschen die Welt, aber er gibt ihm mit seiner Gnade Größeres. Ebenso ist die Lieblosigkeit gegen den Bruder eine Verleugnung der Einheit Gottes. Lieblosigkeit wie Unglaube verstößt gegen das Grundbekenntnis Israels zur Einheit Gottes. Dieser Gedanke wird, 4, I I ff., in origineller Weise durchgeführt. Kritisieren und Richten des Bruders durch Wort oder Tat richtet sich gegen das Gesetz. Das kommt dem richtenden Menschen freilich nicht zum Bewußtsein, vielmehr glaubt er für das Gesetz einzutreten, indem er die Sünde des Bruders verurteilt. Allein sein Urteil richtet sich damit gegen das Gesetz. Indem er meint, richten zu müssen, redet und handelt er, als täte das Gesetz seine Schul-
253 digkeit nicht. Dies Urteil erklärt sich daraus, daß für Jakobus das Gesetz Gottes so gut, wie das Wort Gottes überhaupt, eine reelle und wirksame Macht ist. Wie das Wort Gottes zeugend und schaffend wirkt, so wirkt das Gesetz richtend. Wer nun meint, selbst richten zu müssen, der glaubt nicht an die richtende Kraft des Gesetzes. Richtende Macht hat aber das Gesetz darum, weil es das Wort des einen Gesetzgebers und Richters ist; er richtet durch das Gesetz, und wer richtet, maßt sich dadurch eine Funktion Gottes an und verleugnet damit die Einheit Gottes. Alles Richten ist also für Jakobus ein Eingriff in das Vorrecht Gottes, und der Verzicht auf das Gericht ist den Menschen als Menschen geboten. Das Richten ist lediglich eine göttliche Funktion. Auch darin zeigt sich die Einheit, die für Jakobus den Menschen beherrscht, daß ihm Liebe und Weisheit zusammen gehört, und zwar folgt für ihn die Liebe aus der Weisheit 3, 13 ff. Die Weisheit beweist sich darum durch die Liebe. Einheit muß herrschen zwischen Erkenntnis und Tat, zwischen Gedanke und Wille. Regiert die Wahrheit das Erkennen, so regiert die Liebe das Handeln. Die Weisheit hat das Merkmal der Sanftmut. Dagegen ist der Streit in der Gemeinde eine Verleugnung der Wahrheit. Streit ist Lüge, ein "Nein" zur Wahrheit. Haß und Lüge gehören zusammen, wie bei Johannes. Wird die Wahrheit nicht nur mit dem Gedanken, sondern mit Wille und Tat bejaht, so entsteht die Liebe. Das hat keinen psychologischen, sondern einen theologischen Grund. Die Wahrheit, die von Gott kommt, erweckt Liebe. Der von Wahrheit erfüllte Gedanke, d. h. die Weisheit ist darum in erster Linie heilig, d. h. göttlich, dann aber liebevoll, 3, 17. Besonders nennt er an dieser Stelle das Friedestiften als Merkmal der Weisheit. Doch leitet Jakobus den Streit nicht etwa aus der Torheit ab. Er verschließt sich der Tatsache nicht, daß er neben einer ausgebildeten Gedankenarbeit stehen, ja aus ihr entspringen kann. Die Weisheit kann gerade zur Streitsucht führen. Tut sie das, so ist sie nicht göttlich, vielmehr ist das das Merkmal des Ursprungs von unten. Liebe ist das Kennzeichen Gottes, leidenschaftlicher Haß das Merkmal dämonischer Mächte. Weisheit allein ist deshalb so wenig das Kennzeichen Gottes als Macht allein. Von der Leidenschaft unterscheidet Jakobus den Z 0 r n, I, 19ff.
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Hier spricht er von dem Zorn bei der Verkündigung des Wortes. Da der Verkündiger des Wortes Gottes mit dem Worte gegen die menschliche Sünde kämpft, so ist er in Gefahr, das Wort im Zorn zu mißbrauchen. Darum steht neben der Mahnung, langsam zum Reden zu sein, die andere, langsam zum Zorn zu sein. Das Motiv des Zornes, vor dem Jakobus warnt, ist ein edles. Er will Gerechtigkeit Gottes wirken, d. h. er will dem Unrecht wehren und dem Recht zum Recht verhelfen und zwar durch die Verkündigung des Wortes Gottes. Allein, was im Zorn geschieht, ist nicht Gerechtigkeit Gottes. Dabei vermeidet es aber Jakobus absichtlich, den Zorn absolut zu verurteilen: wie zum Reden, so soll auch der Mensch zum Zorn la n g sam sein. Wie die Rede, so soll auch der Zorn überlegt sein. Wie der Streit in der Gemeinde entsteht, wird 4, I ff. erklärt. Auch in diesem Punkte steht Jakobus dem Johannes nicht nach; Haß ist für ihn etwas Sekundäres, er entsteht aus den Begierden. Die ungestillte Begierde, das Nebeneinander von Begehren und Entbehren entzündet zuerst den inneren Streit. Aus dem unbefriedigten, durch die anderen gestörten und gehemmten Verlangen entspringt dann der Haß. Ganz wie Johannes sieht auch Jakobus im Willen die Tat, im Haß den Mord. Wie aus der Begehrlichkeit Streit unter den Menschen entsteht, so entsteht aus ihr der Haß gegen Gott, denn Begehrlichkeit ist Liebe zur Welt. Die Lust an der Welt läßt die Liebe zu Gott nicht aufkommen, so urteilt Jakobus genau wie Johannes. Also tritt die Liebe zu Gott dann hervor, wenn die Lust an der Welt erlischt, und umgekehrt verschwindet die Begierde nach der Welt, wenn die Liebe zu Gott eintritt. Beides steht in Wechselwirkung. An dieser Stelle betont Jakobus stark den Willen des Menschen, er zeigt, wie die Liebe zur \Velt verschwindet und die Liebe zu Gott eintritt. Direkt vermag der Mensch nicht sie zu erzeugen, darum beginnt Jakobus mit dem Gehorsam. Im Gehorsam gegen Gott entspringt der Widerstand gegen den Teufel und daraus der Sieg über ihn. Aus der Beugung unter Gott folgt die Macht über den Teufel. Die Gefahr liegt in der Doppelgestalt des Willens, in den "zwei Seelen"; darin liegt aber zugleich die Möglichkeit der Rettung; dadurch daß der eine Wille wirklich zur Tat wird, wird der andere erstickt. Die Möglichkeit, daß die Unterordnung
255 unter Gott gelingt, liegt daran, daß der Wille einen objektiven Erfolg hat. Ist der Widerstand über den Teufel da, so ist auch der Sieg da, und ist die Annäherung an Gott da, so naht sich auch Gott. Mit dem Teufel verschwindet auch der zu ihm strebende Wille, und die Nähe Gottes erweckt das Verlangen nach ihm. In der Liebe zur Welt liegt jedoch nicht nur ein verkehrter Wille, sondern auch eine krankhafte Empfindung. 4, 9 beschreibt, wie sie ausgetilgt wird. Die krankhafte Freude an der Welt wird dadurch erstickt, daß der entgegengesetzten Empfindung, die sich im "Mann mit zwei Seelen" ebenfalls findet, nachgegeben wird. Indem der Schmerz nicht nur gelitten, sondern gewollt wird, wird die krankhafte Freude an der Welt zerstört. Damit beschreibt Jakobus, wie aus dem Nebeneinander der Liebe zu Gott und zur Welt die Einheit und Geschlossenheit der ganzen Liebe zu Gott entsteht. Der Zustand, den er bekämpft, besteht nicht in dem reinen dämonischen Haß: aus ihrem Gegenteil kann die Liebe nie entstehen. Der natürliche Zustand des Menschen ist vielmehr das Nebeneinander widersprechender Tendenzen. Liebe zu Gott und Liebe zur Welt, Lob Gottes und Fluch über den Menschen, Willigkeit zum Glauben und Unwilligkeit zum Werk, Glaube und Zweifel stehen neben einander. Der Mensch hat zwei Seelen. Es fehlt das ganze Werk, und darum wird aus dem Menschen nichts Ganzes. Aber nur das Ganze hat für Jakobus Wert. Wie nur vollkommener Glaube Vertrauen ist, so ist nur ganze Liebe Liebe. Ganz wird jeder Wille aber erst dadurch, daß der entgegengesetzte Wille überwunden wird. Das ist zugleich das Merkmal des christlichen Charakters des Jakobusbriefes, das, was ihm mit der synoptischen Predigt Jesu gemeinsam ist. Das eigentümliche Merkmal des Gebotes Jesu, der ganze Wille, die absolute Forderung, kehrt bei Jakobus wieder. Die Herabdrückung des Gesetzes auf eine bloße Einschränkung des Bösen, auf die Forderung einer relativen Güte ist überwunden. Damit ist die Grenzlinie der Synagoge überschritten.
Der erste Petrusbrief. Eigenartig ausgebildet ist der Liebesgedanke auch im ersten Petrusbrief. Die Liebe Christi wird auch hier in seinem Tode gesehen. Lieben und Leiden gehören bei ihm zusammen. Seine Liebe ist Verzicht auf Rache, 2, 23. Da er um seines Wohltuns willen hat leiden müssen, so ist Leiden um des Wohltuns willen durch ihn zum Beruf der Christen geworden. Der Ausdruck wohltun im Sinne der Liebesübung kehrt darum im Briefe häufig wieder, 2, 14. 15. 20; 3, 6. 17; 4, 19. Hinter und über der Liebe Christi steht das Erbarmen Gottes, dem die Gemeinde ihre Wiedergeburt verdankt. Auch nach dem ersten Petrusbriefe ist jedoch Ziel und Erfolg Jesu nicht individuell, sondern sozia1. Er hat die einzelnen aus ihrer Vereinzelung und Zerstreuung zu einer einheitlichen Gemeinde gesammelt, 2, 25. Indem er sie um sich gesammelt und zu Gott gebracht hat, hat er sie zu einander gebracht. Sie sind nun Gottes Herde, 5, 2. Die Gemeinde hat er eben damit gesammelt, daß er die Liebe geweckt hat: indem sie einander lieben, ist die Scheidung aufgehoben, und die Gemeinde ist beisammen. Durch seine Liebe hat Jesus nicht nur den Glauben, sondern auch die Liebe der Gemeinde gewonnen. Sie wird I, 8 vor dem Glauben genannt. Dabei steht sie, ganz ähnlich wie bei Johannes, ebenso in Spannung zu Christi Verborgenheit, wie der Glaube. Obwohl ihn die Gemeinde nicht sah, so liebt sie ihn doch, wie sie an ihn glaubt, obwohl sie ihn nicht sieht. Die Liebe zu den Brüdern wird aus der Wiedergeburt abgeleitet, mit der Hoffnung zusammen ist sie das Merkmal der Wiedergeburt, I, 22 ff.; I, 3. Als die Wiedergeborenen sollen sie lieben, denn als solche können sie von Herzen, d. h. aus eigenem Willen lieben. Dabei entspringt die Liebe aber aus der Wiedergeburt nicht wie ein naturhafter Trieb, sondern sie wird dem Wiedergebornen geboten. Sie kommt zustande als Gehorsam gegen die Wahrheit. Wahrheit und Liebe gehören also auch im ersten Petrusbrief zusammen. Gehorsam ist die Liebe darum, weil ein ihr widerstrebender Wille überwunden werden muß: ihre Be-
257 dingung ist Reinigung von Sünden. Das negative Ziel des Christenlebens steht vor dem positiven und wird ihm untergeordnet. Dabei wird die Liebe, ebenso wie bei Johannes, auf die Brüder bezogen, 2, 17. Sie ist cptÄao/).cpla I, 22. Was allen Menschen zu gewähren ist, wird Achtung genannt. Dies ist eine neue Formel, um den Unterschied des Verhaltens der Gläubigen zu den Brüdern und zu aller Welt auszudrücken. Ebenso wie bei Jakobus wird der Spruch zitiert, nach dem die Liebe die Menge der Sünden bedeckt, d. h. im Anschluß an die Worte Jesu wird die menschliche Liebe mit der Gnade Gottes belohnt 4, 8. Das ewige Leben kann mit der Liebe darum verbunden werden, 3, 10, weil sie Gerechtigkeit ist 3, 12 u. 14. Die Liebe steht vor derselben Schwierigkeit wie der Glaube nämlich vor der Feindschaft der Welt, die sie erschwert. Leiden und Lieben sind deshalb die beiden Forderungen des Briefes. Aus der Fähigkeit zum Leiden ergibt sich die Willigkeit zur Feindesliebe. Aus der Lage der Gemeinde erklärt es sich, daß. der Verzicht auf Rache besonders betont wird, und da der Gemeinde kein anderes Mittel der Rache und der Liebe zur Verfügung steht, so spricht der Verfasser nur von der Äußerung beider durchs Wort. Haß und Liebe legt sich ins Wort hinein, 3, 9 bis 12. Übergeordneten Gewalten gegenüber zeigt sich die Liebe als willige Unterordnung 2, 13 ff. Zur Unterordnung gehört Demut, der Wille, klein zu sein. Die Forderung der Demut tritt darum stark hervor 5, 5 ff. Allen übergeordneten Gewalten gegenüber ist die Furcht am Platze. Sie ist für Petrus kein krankhaftes, sondern ein notwendiges Moment der Frömmigkeit, I, 17; 2, 18; 3,2. 14ff., während es freilich auch eine falsche Furcht gibt, die durch die Furcht Gottes überwunden wird 3, 14- Unterordnung ist eine solche Liebe, die sich mit Furcht verbindet. Das gilt für den Verfasser von der Liebe zu Gott und auch von der Liebe zu menschlichen Herren. Gott ist ein Vater, der ohne Ansehen der Person richtet. Als dem Vater gehört ihm Liebe, als dem Richter Furcht. Ebenso wird der Tod Christi nicht nur als Grund der Liebe zu ihm, sondern der Wert seines Blutes auch als Furchtmotiv verwertet, I, 17f. Wir erhalten also wieder eine eigenartige Antwort auf die schon Lütgert, Die Liebe im N. T.
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m der Synagoge aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von F u r c h tun d Li e b e. Der Hebräerbrief. Im Hebräerbrief wird die Liebe Christi als em Mit lei d dargestellt, welches er vermöge seines Leidens üben kann 2, 18; 4, 15. Der Gedanke wird in der Regel so aufgefaßt, als sei Christus durch sein Leiden fahig geworden, Mitleid zu empfinden. An beiden Stellen wird das Mitleid Christi aus seiner Versuchung erklärt, und es bezieht sich auf die zum Sündigen geneigte Schwäche der Menschen. Wenn nun der Gedanke der wäre, daß er durch seine eigene Versuchung Verständnis für Versuchte und Fähigkeit ihnen zu helfen erworben habe, so wäre dies die einzige Stelle im Neuen Testament, in welcher die Liebe als etwas spezifisch Menschliches angesehen würde, so daß auch Jesus sie erst durch seine menschliche Schwäche und Versuchbarkeit sich habe erwerben können. Der Gedanke ist in sich unwahrscheinlich, weil sonst überall im Neuen Testament der entgegengesetzte Gedanke ausgedrückt wird, daß Liebe etwas Göttliches ist, was nicht Gott vom Menschen, sondern der Mensch von Gott lernt. Auch bleibt bei dieser Deutung das Wort 4, 15: xw~~g al-'a~-dar,; lediglich ein einschränkender Zusatz, der im Gedankengang selbst kein Motiv hat. Die betonte Stellung, die diese Worte haben, wird dann verständlich, wenn man annimmt, daß der Verfasser nicht erklären will, wie Jesus sich die subjektive Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, sondern wie er sich das objektive Recht, Mitleid zu üben, erworben hat. Dies Recht ist für den Verfasser so wenig, wie für irgend einen der Apostel, selbstverständlich. Das Mitleid mit der Sünde schließt die moralische Gefahr der Duldung der Sünde in sich. Jesus hat sich daher das Recht zum Mitleid und die Fähigkeit, es mit wirklich hilfreicher Kraft zu üben, dadurch erworben, daß er selbst in den. Versuchungen, die sein Leiden mit sich brachte, schuldlos blieb. Wir haben also einen ähnlichen Gedanken vor uns, wie etwa den bei den Synoptikern, daß Jesus die Dämonen zu vertreiben vermag, weil er selbst den Teufel besiegt hat, daß er erlösen kann, weil er die Versuchung bestanden hat, oder wie den Gedanken bei Johannes, daß Jesus die Welt besiegt hat,
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daß nichts in ihm dem Fürsten der Welt gehört und daß darum auch die Seinigen den Bösen besiegt haben. Die Sünder darf er darum lieben, weil er selbst gerecht ist und so seine Liebe rein und gerecht bleibt. Auch über die B r u der I i e befindet sich ein originelles Wort im Hebräerbrief 6, 9 ff. Daß die Gemeinde zur Buße noch nicht unfähig geworden ist, davon ist der Verfasser überzeugt. Es ist sehr lehrreich zu beobachten, wie er das begründet. Er führt kein psychologisches Merkmal für die Fähigkeit der Gemeinde zur Buße an, sondern er beruft sich auf Gottes Gerechtigkeit. Gott ist nicht ungerecht, ihr Werk und die Liebe, die sie gegen seinen Namen bewiesen haben, zu vergessen, d. h. um ihrer Liebe willen sind sie noch nicht gefallen. Wenn er von der Liebe spricht, so denkt er dabei nicht an innere Vorgänge, deren Realität, Reinheit und Wert den Lesern etwa zweifelhaft sein könnte, sondern er spricht ganz einfach von den äußeren Werken, die geschehen sind. Wenn die Gnade Gottes, die sie um der Liebe willen hält, Gerechtigkeit genannt wird, so setzt das voraus, daß rur den Verfasser Liebe Gerechtigkeit ist, denn als der Gerechte tritt Gott für den ein, der gerecht ist. Diesen Wert hat die Liebe in Gottes Augen aber darum, weil sie Liebe zu seinem Namen ist. Die Liebe zu Gott äußert sich in dem Dienst an den Heiligen, d. h. an der Gemeinde. Weil sie Gott an den Seinigen dienen, so läßt sie Gott nicht fallen. Ausdrücklich spricht der Verfasser nicht nur von vergangenen Liebesübungen, sondern von gegenwärtigen: weil sie gedient haben und noch dienen. Nicht die vergangene Liebe, sondern die gegenwärtige, die Tatsache, daß, noch Liebe da ist, begründet Gottes Gnade. Nun aber ersetzt diese Liebe nicht etwa für den Verfasser die fehlende Buße, vielmehr besteht die Gerechtigkeit Gottes darin, daß er um der Liebe willen den Weg zur Buße nicht verschließt. Er erhält ihnen um deswillen die Fähigkeit Buße zu tun und damit die Möglichkeit zu glauben. Das Wort ist ein Kommentar zu dem Wort, daß die Liebe die Menge der Sünden bedeckt. Wie sonst aus dem Glauben die Fähigkeit zur Liebe abgeleitet wird, so hier die Fähigkeit und das Recht zur Buße. Die inneren V orgänge stehen in lebendiger Wechselwirkung unter einander und erzeugen sich darum gegenseitig.
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Daher erhalten wir 10, 24fT. unmittelbar vor der Warnung vor dem definitiven Fall neben der Ermahnung zum Glauben und zur Hoffnung die Aufforderung einander anzureizen zur Liebe und zu guten Werken. Glaube, Hoffnung und Liebe gehören innerlich zusammen j wo das eine ist, ist darum auch die Möglichkeit und Fähigkeit zu dem anderen. Deshalb wird der Glaube, wenn er direkt in Gefahr steht, vor dem Erlöschen dadurch geschützt, daß die Liebe gepflegt wird.
8. Kapi te 1.
Liebe und Zorn in der Apokalypse.
Wie die ganze erste Gemeinde, so sieht auch die Apokalypse die Würde der Gemeinde darin, daß Jesus sie geliebt hat und liebt, I, 5. Als Äußerung der Liebe Jesu wird sein Tod bezeichnet, durch welchen er sie von den Sünden erlöst hat. Die Erkenntnis, daß die Gemeinde Jesu Liebe besitzt, ist das, was zu ihr zieht, 3, 9. Darum wird das traditionelle Bild der Braut auf die Gemeinde angewandt. Der Vergleichungspunkt ist der, daß Jesus sie liebt, 19, 7; 21, 2 u. 9. Ihr gegenüber als ihre Karikatur steht die Hure, das Bild für den Kreis der Abgefallenen. Der Welt dagegen steht Jesus als der Richter gegenüber. Sein Verhältnis zur Welt wird als Kampf beschrieben, und zwar als siegreicher Kampf. Er kommt zu ihr als der Krieger mit dem Schwert. Sein Kampf gegen die Welt ist ein Kampf gegen den Satan. Als satanisch wird die Welt und das Reich der Welt nicht etwa an sich angesehen, sondern wegen ihres Gegensatzes zu Christus, und dieser liegt nicht nur in den Christenverfolgungen, auch nicht im lasterhaften Leben der Welt, sondern im Anspruch auf Anbetung. Dieser Anspruch ist das Merkmal des Satans. Er legt sich die göttliche Würde bei und benimmt sich als Herr der WeIt. Wo er nun als solcher angebetet wird, da ist das volle Gegenstück zur christlichen Gemeinde da, und darum gibt es für Jesus hier nur noch Kampf. Ebenso steht es mit der Judenschaft. Der Gegensatz gegen Christus, der zum Haß und Mord führt, ist ein satanischer Zug. Darum ist das Judentum die Synagoge des Satans, 2, 9; 3, 9. Alles, was in Gegensatz zu Jesus
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tritt, ist satanisch. Weil der Kampf, den Jesus gegen die Welt führt, wahrhaftig und ernst ist, so wird er mit Zorn geführt. Obgleich Jesus im zweiten Teil der Apokalypse, wo er als der Richter erscheint, als das geschlachtete Lamm geschildert wird, so wird doch vom Zorne des Lammes gesprochen, 6, 16, wie vom Grimm und Zorn Gottes, q, 10. In mächtigen Bildern und in starken Ausdrücken wird das Gericht und die ewige Verdammnis beschrieben, 14,10 u. 19; 18,6-8; 19,17-21. Gemeinde und Welt erscheinen in der Apokalypse als völlig geschieden. Trotzdem artet die Schilderung der Liebe und des Zornes Jesu nicht in parteisüchtigen Fanatismus aus. Das wäre dann der Fall, wenn Zorn und Liebe auf die Gemeinde und die Welt verteilt würden, so daß nur die Welt unter das Gericht Jesu gestellt würde. Aber das ist nicht der Fall. Daß Jesus auch der Welt gegenüber als der Richter der Träger der Gnade Gottes ist, wird dadurch dargestellt, daß er im zweiten Teile als das geschlachtete Lamm beschrieben wird, während er im ersten Teil der Gemeinde gegenüber als der Richter mit dem flammenden Auge und dem Schwert im Munde erscheint. Auch der Gemeinde wird mit dem Gerichte Gottes gedroht. In keiner Weise erscheint sie in der Apokalypse als bevorzugt, vielmehr wird sie nach einem weit strengeren Maßstab beurteilt als die Welt. Während über die Welt das Gericht wegen ihres Hasses gegen Christus ergeht, wird der Gemeinde mit dem Gericht gedroht, weil ihr die Werke fehlen. Denn der Liebe Christi, wie sie in der Apokalypse beschrieben ist, entspricht die Liebe, die von der Gemeinde erwartet wird. Was bei ihr gesucht wird, ist die erste Liebe, 2, 4, d. h. die Liebe zu Jesus, die seiner Liebe entspricht. Wo diese nicht ist, da erwartet die Gemeinde das Gericht. Dabei werden die Werke und die Mühe und die Geduld der Gemeinde anerkannt. Von ihnen aber wird die Liebe ebenso unterschieden, wie I. Kor. 13, 1 ff. Die Liebe besteht nicht in den Werken, sondern in dem Willen, aus dem diese Werke hervorgehen. Auch besteht ihr Wert nicht in den Werken, die sie hervorbringt. Vielmehr haben diese ebensowenig für den Apokalyptiker, wie für Paulus, irgend welchen Wert, wenn die Liebe nicht da ist. Nicht auf die äußere Leistung kommt es dem Apokalyptiker an, sondern
auf den Willen, dem sie entspringt. Aber auch in der Apokalypse steht daneben das andere Urteil, daß das, was der Richter sucht, das Werk ist. Einerseits bekommt erst durch die Liebe das Werk seinen Wert, andererseits bekommt aber auch erst die Liebe durch das Werk ihren Wert. Wenn die erste Liebe gesucht wird, so werden daher die ersten Werke gesucht. Schwerlich sind damit äußerlich andere Leistungen gemeint, sondern Werke, in denen die erste Liebe liegt. Nicht durch irgend etwas Äußerliches, sondern hierdurch unterscheiden sie sich von den Werken, die die Gemeinde wirklich hat. Weil beides, Liebe und Werk, Wille und Tat, gefordert wird, so stehen, 2, 19, Werke, Liebe und Glaube, Dienst und Geduld einfach koordiniert neben einander. Darum weil sich im Werk die Liebe äußert, wird in der Apokalypse, wie im ganzen Neuen Testament, sobald vom Gericht die Rede ist, regelmäßig das Werk gefordert, 2, 23. 26; 3, I. 8. 15; 14, 13; 20, 12ff.; 22, 12. Dabei gilt das Werk, deshalb weil es Liebeswerk ist, nicht etwa nur als Freude, sondern als Mühe und Arbeit, 2, 2; 14, 13, und weil es auf das Werk ankommt, auf die wirklich geleistete Hilfe, so kommt es auch auf die Zahl der Werke an, 2, 19. Der nüchterne Realismus des Apokalyptikers zeigt sich in der Freude daran, daß die letzten Werke mehr sind als die ersten; darin erscheint der Fortschritt der Gemeinde. Die Liebe zu Christus zeigt sich jedoch nicht nur in den Werken, sondern auch in der Bereitwilligkeit zu sterben. Wer Jesum liebt, der liebt seine eigene Seele nicht, 12, 11. Selbstverleugnung ist die Kehrseite der Liebe. Wie die Liebe zur eigenen Seele, geht auch die Liebe zur Welt in der Liebe zu Christus unter. Wie die Liebe zu Christus von der Gemeinde erwartet wird, so auch der Haß gegen die Werke der Nikolaiten, 2, 6. Wenn dieser Haß als der Rest, den die Gemeinde sich noch bewahrt hat und um deswillen sie noch nicht verworfen wird, neben die verlorene Liebe gestellt wird, so ist offenbar die Meinung die, daß er die notwendige Kehrseite der Liebe zu Jesus ist. Er gilt daher als Beweis, daß die Energie der Gemeinde und die Kraft ihrer Empfindung noch nicht vollständig erloschen ist. Mit der Liebe zu Christus ist der Haß gegen die Werke der Nikolaiten darum verbunden, weil auch
Christus sie haßt. Daß die Gemeinde es nicht vermag, die Bösen zu tragen, ist deshalb ein Vorzug, 2,2, während die Gleichgültigkeit gegen die Verführung der Nikolaiten ein Vorwurf ist, trotzdem sie neben einem im übrigen standhaften Glauben steht, 2, 15, oder neben Werken, Liebe, Glauben, Dienst und Geduld, 2, 19 ff. Der Haß gegen die Verführung gilt also keineswegs etwa als erlaubt, sondern als eine ernste Pflicht, und sein Ausbleiben und die Gleichgültigkeit gegen die satanische Verführung in der Gemeinde ist ein schwerer Vorwurf. Dabei spricht aber die Offenbarung absichtlich nicht von einem Haß gegen die Menschen, sondern von einem Haß gegen die Wer k e der Nikolaiten. Dabei ist zu beachten, daß sich dieser Haß nicht nach außen wendet, sondern gegen die Sünden innerhalb der Gemeinde. Sie werden mit derselben Energie bekämpft wie das satanische Reich. Parteilich ist der Zorn des Apokalyptikers nicht. Er wendet sich gegen die satanische Sünde innerhalb und außerhalb der Gemeinde, aber gegen sie mit voller Energie, mit ganzem Ernst und mit gutem Gewissen in der Gewißheit, da zu hassen, wo Christus haßt. Seine Worte sind nicht furchtbarer als die Drohungen Jesu über die Verführer der Kleinen. Hier gilt auch für Jesus ein Zorn, der keine Gnade mehr kennt und gegen den kein Bitten mehr hilft. Dabei hält sich auch die Apokalypse innerhalb des Gebotes Jesu nicht zu richten. Die Gemeinde wehrt sich nicht gegen die Verfolgung, sondern läßt sie geduldig über sich ergehen und wird dargestellt als waltend auf das Gericht Gottes. Sie ist willig zu leiden und zu sterben und hat gegen nichts anderes zu kämpfen als gegen die Sünde, und zwar gegen die Sünde in ihrer eigenen Mitte. Nicht sie, sondern nur der Christus trägt das Schwert. Darin steht der Apokalyptiker keineswegs allein, sondern auf dem Boden der ganzen christlichen Gemeinde. Man hat in der ersten Gemeinde niemals den Verzieht auf das Gericht damit begründet, daß Gott nicht richte, sondern umgekehrt damit, daß Gott richtet, I. Petr. 2, 23; Röm. 12, 19. Freilich erscheint in der Apokalypse die Welt nicht mehr als Gegenstand der Gnade, sondern nur noch als Objekt des Gerichts. Sie ist darum auch für die Gemeinde in keiner Weise mehr Gegenstand der Liebe; weil Gott ihr zürnt, so zürnt ihr der Prophet. Welt und Gemeinde sind vollständig von ein-
ander geschieden, es besteht nur noch ein Gegensatz zwischen ihnen. In dieser Beziehung hat der Apokalyptiker denselben Willen wie der Verfasser des vierten Evangeliums und des ersten Briefes. In der Auffassung und Erfüllung des Liebesgebotes, in der Abgrenzung von Liebe und Zorn besteht zwischen beiden kein Unterschied. Bei beiden ist Jesus der, der geliebt wird. Aus der Liebe zu ihm entspringt nach dem Ausdruck des Evangeliums der Gehorsam gegen Jesus, die Liebe zu den Brüdern, nach dem Wort des Apokalyptikers die Werke. Bei bei den ist die Liebe kein passiver Genuß, sondern Tätigkeit. Bei beiden gilt die Liebe den Brüdern; der Haß der Welt, der im Evangelium dem Jüngerkreise in Aussicht gestellt wird, wird in den Bildern der Apokalypse anschaulich dargestellt. Auch hier erscheint er wie im Evangelium als Wille zum Töten. Das Gebot des ersten Briefes, die Welt nicht zu lieben, erscheint in der Apokalypse erfüllt. Wie im Evangelium ohne Vermittelung und Übergänge Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Liebe und Haß als reine Gegensätze einander gegenüberstehen, so steht in der Apokalypse Gemeinde und Welt einander gegenüber. Diese Situation, daß auf der Seite der Welt nur noch Haß ist und zwar Haß um Christi willen, ist die V oraussetzung des Zornes der Apokalypse. Wie der Verfasser des ersten Briefes eine Sünde zum Tode kennt, bei der das Gebot zur Fürbitte aufhört, so gibt es auch in der Apokalypse kein Gebet mehr für die Welt, sondern nur noch ein Gebet um Erlösung von der Welt, ein Gebet um das Gericht: "Wie lange, 0 heiliger und wahrhaftiger Herr, richtest du nicht und rächst unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?" 6, 10. Ist damit das Gebot Jesu, ftir die Beleidiger und Verfolger zu beten übertreten?1) Allein der Zorn gilt in der Apokalypse nicht den persönlichen Feinden, sondern den Feinden Christi, nicht denen, die nicht wissen, was sie tun, sondern der satanischen Bosheit. Diese gibt sich nicht etwa schon in der Lasterhaftigkeit der Welt zu erkennen, sondern in ihrem Haß gegen die Gemeinde und vor allem in dem Anspruch auf göttliche Verehrung, die dem 1) Wemle, Die Anfange unserer Religion 2. Auf!. S. 272: "Wer Jesus selbst oder auch nur seine Worte kannte, durfte nie diese wilden Rachephantasien über sich herrschen lassen."
266 Apokalyptiker mit der ganzen Gemeinde, ebenso wie mit der Judenschaft, als das Merkmal satanischer Bosheit dasteht. Satanischer Bosheit gegenüber aber ist für ihn Zorn eine notwendige Empfindung, die dem Willen Gottes und Christi entspricht. Auch für Jesus gibt es eine Grenze der Liebe, an der der Zorn in sein Recht tritt, und auch die Apokalypse spricht nicht in stärkeren Ausdrücken von der ewigen Verdammnis als Jesus. Wenn man den Zorn in der Apokalypse als Beweis für ihren jüdischen Charakter anführt, so liegt darin nicht erst ein Mangel an Verständnis für die Apokalypse, sondern schon ein tiefgreifendes Mißverständnis der Evangelien. In beiden stehen Liebe und Zorn neben einander. Die völlige Vernichtung alles Zornes in den Evangelien will nicht eine kraftlose und affektlose Weichheit übrig lassen; vielmehr wird der Zorn gegen die Feinde darum nicht etwa nur gedämpft und gelähmt, sondern vernichtet, weil aus dem Zorn gegen die Feinde der Zorn gegen die Sünde werden soll. Dies Ziel ist in der Apokalypse erreicht. Der Zorn des Apokalyptikers über die Welt ist darum ebenso rein, wie der Zorn Jesu gegen seine Gegner. So zürnt auch in der Apokalyse die Gemeinde ihren Feinden, weil sie genau nach den Worten des Evangeliums die Gemeinde darum hassen, weil sie zuerst Jesum hassen. Diesen Zorn zeigen die Evangelien in kurzen Sprüchen, die nicht weniger zornig sind, als die ausgeführten Bilder der Apokalypse. Denn in dieser Form der Darstellung besteht der ganze Unterschied: in den Evangelien wird das verdammende Urteil Jesu in einen kurzen Spruch gefaßt, in der Apokalypse wird seine Vollstreckung in einer Vision dargestellt. Es ist ganz ebenso ungerecht, in den Gerichtsscenen des Apokalyptikers Schadenfreude 1) zu sehen, als in den Worten Jesu über die, "deren Wurm nicht stirbt und deren Feuer nicht 1) Die Voraussetzung dafür, daß man hier Schadenfreude sieht, ist die, daß man sich den ,Propheten unwillkürlich als einen Dichter denkt, den die Freude an dem, was er schreibt, die ästhetische Lust an den Gebilden seiner Phantasie zum Schreiben treibt. Der Apokalyptiker dagegen redet als Prophet, der die ihm gegebene Wahrheit aus Gehorsam sagen muß ganz ohne Rücksicht auf die Empfindung, die ihn dabei erfüllt. Der Maßstab für das, was er sagt, ist für ihn lediglich die Wahrheit, und er spricht sie mit großem Ernst aus. Man muß deshalb seine Worte an seinem eigenen prophetischen Bewußtsein messen.
erlischt." Der Prophet spricht den Zorn Gottes aus, und er spricht ihn darum mit vollkommener ungebrochener Energie aus, weil er dabei ein gutes Gewissen hat, und dies hat er darum, weil er zuerst in das Gericht Gottes über die Gemeinde und alles, was nicht Sünde ist, einstimmt und einwilligt. Seine Empfindung dem Gericht gegenüber hat darum nichts mit Freude zu tun. Er erkennt das Gericht einfach als eine Tatsache an, die ihm der "Geist" zeigt, und die ersten Kapitel beweisen reichlich, daß er die Empfindung, die Paulus dem Gericht der Verworfenen gegenüber als die normale beschreibt, mit den Worten, Röm. 11, 2of. "überhebe dich nicht, sondern fürchte dich, denn wenn Gott sie ... nicht schonte, wird er auch dich nicht schonen", daß er diese Empfindung, d. h. die Furcht dem Gericht gegenüber, für die allein reine hält. Für die treu gebliebene Gemeinde freilich ist für ihn, genau ebenso wie für den ersten Brief, "Freudigkeit angesichts des Gerichtes" die Stimmung, die ihm möglich ist. Neben dem Zorn erscheint als jüdischer Zug in der Apokalypse das Verlangen nach Lohn. Allein das richtet sich in der Apokalypse nicht auf sachliche Güter, sondern es behält den Charakter der Liebe dadurch, daß es ein Verlangen nach der Rückkehr Jesu ist. Das Gebet des Apokalyptikers lautet: "Komm Herr Jesu I", und sein Verlangen geht dahin, daß er mit ihnen wohnen wird, 21, 3. Hier ist das Trachten nach Lohn und die Liebe eins, so wie Zorn und Liebe innerlich eins sind.
9. Kapitel.
Schluß.
Das Werk Jesu ist nicht ein neues Gebot, eine neue Ethik oder das Prinzip einer neuen höheren Sittlichkeit. Seine Wirkung liegt nicht im Gebiete der Ideen, sondern in der reellen Geschichte. Sie liegt offenkundig zu Tage in der christlichen Gemeinde. Das Ergebnis der Liebesübung Jegu ist die Gemeinde. Wenn es richtig ist, daß er die Liebe geweckt hat, so ist es auch Tatsache, daß er die Gemeinde gegründet hat, denn Liebe in dem Sinne, in dem sie von Jesus gemeint und gewollt und in der ersten Gemeinde verstanden und verkündigt ist, kommt zur Vollendung nur in der Gemeinde. Dadurch daß sie geübt wird, entsteht die Gemeinde. Sie ist der Kreis derer, die in Gemeinschaft mit Gott stehen und einander als ihre höchste Gabe diese Gemeinschaft mitteilen. Die Gemeinde ist nicht nur seine Wirkung, der Erfolg seines Lebens, der sich ohne seine bewußte Absicht an sein Wirken geknüpft hätte, sie ist im eigentlichen Sinne sein Wille, sein Werk, seine Tat. Die Wirksamkeit Jesu hat darum zu ihrem Ergebnis nicht nur Ideen und Prinzipien, eine Erkenntnis oder ein Gesetz, sondern sie hat ein reelles Ergebnis. Sein Werk ist nicht nur das Liebesgebot, sondern die Liebe. Die Störungen und Schwierigkeiten, die das Verständnis und die Erfüllung des Liebesgebotes in der Synagoge hemmten, sind nicht durch neue Formeln überwunden. Die Formeln werden z. T. einfach übernommen und fortgesetzt. Aber es handelt sich in der Synagoge um reelle Schwierigkeiten, die nicht durch neue Formeln zu überwinden waren. Die Liebe
269 existiert in der- Synagoge als ein Ideal, das niemals ganz verwirklicht wird, und in der Form von Ansätzen, die sich niemals vollständig durchsetzen. Dieses Mißlingen der Liebe spiegelt sich in den einander kreuzenden und widersprechenden Formeln. Die Debatten, die sich an sie anknüpfen, werden nun nicht dadurch zum Ziele geführt, daß sie fortgesetzt werden. Die theoretischen Schwierigkeiten werden dadurch gelöst, daß die Liebe geweckt wird. Jesus ist nicht ein Denker, der ein Problem löst, sondern ein Täter, der eine Aufgabe löst. Wie der Erfüllung des Liebesgebotes nicht theoretische, sondern reelle Schwierigkeiten im Wege standen, so half auch nur eine reelle Kraft über sie hinweg und nicht eine neue Idee. In der Liebe Jesu war die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen vollkommen geeinigt. Der Gottesdienst hat die Sphäre seiner Betätigung in der Liebesübung an den Menschen. Jesus dient Gott an den Menschen. Aber an den Menschen dient er Gott. Dies dadurch, daß seine Liebe das Ziel hat, die Menschen für Gott zu gewinnen. Diesem Ziel ordnet sich auch die Wohltätigkeit unter. Liebesübung und Gottesdienst können darum nicht in Gegensatz zu einander treten. Ebenso hört in der Liebe Jesu die Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit auf. Sis ist zunächst im Gottesgedanken überwunden. Jesus und mit ihm die Gemeinde kennt nicht mehr ein doppeltes Maß, ein Maß der Gnade und des Rechtes. Gottes Liebe ist Gerechtigkeit, und seine Gerechtigkeit ist Liebe. Überwunden ist diese Spannung nicht durch einen neuen Gottesgedanken, durch eine vollkommenere Theorie, sondern überwunden ist sie in Jesu Liebe und zwar durch sein Kreuz. Christi Kreuz ist nach dem Urteil des Paulus die Tat einer Gnade, durch welche das Recht bestätigt wird, Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. Sie ist Anerkennung des Rechtes Gottes und des Gesetzes und dabei Gnade. Weil der Widerspruch zwischen Liebe und Gerechtigkeit im Gottesgedanken überwunden ist, so ist er auch in der Liebesübung überwunden. Nur Liebe ist Gerechtigkeit. Eine andere Art der Gesetzeserfüllung und also der Gerechtigkeit als die Liebe gibt es nicht. Auf die Gerechtigkeit fällt deshalb kein Schatten, als wäre sie eine minderwertige Form des Gehorsams, die durch die Liebe überwunden wäre. Die Ge-
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meinde gesteht nicht etwa der Synagoge die Gerechtigkeit zu und nimmt für sich als eine höhere Stufe' die Liebe in Anspruch, 1) sondern die Gerechtigkeit der Gemeinde ist darum besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, weil diese nicht wirklich Gerechtigkeit ist und erst Liebe wahrhaftige Gerechtigkeit. Die Doppelheit von Gebotserfüllungen und guten Werken, d. h. Liebeserweisungen, welche in die Lücken der Gerechtigkeit treten und insofern auch Gerechtigkeit sind, hört auf. Sie hört eben mit dem Dualismus von Liebe zu Gott und Nächstenliebe auf. Weil beides zusammenfallt, so ist Liebe Gerechtigkeit. Sie geht nicht über das Maß dessen hinaus, wozu das Gesetz verpflichtet. Sie ist nicht erst dann nötig, wenn der Dienst Gottes Lücken hat, die der Ergänzung bedürfen, sondern sie ist die Erfüllung des Gesetzes. Das Gesetz verpflichtet zur Liebe, und der Nächste ist darum berechtigt, sie zu erwarten. Verzeihung ist nicht etwas, was über das Maß des Gebotenen hinausginge, sondern sie ist Pflicht, und Unversöhnlichkeit ist Sünde. Damit ist der Verdienstgedanke überwunden und die Störung der Liebe, die sich aus ihm ergab, beseitigt. Die Liebe ist nicht mehr Ersatz für die Mängel des Gottesdienstes, nicht mehr Ergänzung des Gottesdienstes, weil sie ja selbst der Gottesdienst ist. An dieser Stelle wird es besonders klar, daß sich in derselben Formel ein ganz neuer Gedanke findet, eben weil ein neuer Wille da ist. Liebe und Vergebung werden in der Gemeinde ganz ebenso mit einander verbunden, wie in der Synagoge. Daß der, der Liebe übt, und nur dieser darum, weil er Liebe übt, göttliche Gnade erfahrt, dieser Satz ist ohne Zweifel der Gemeinde und der Synagoge gemeinsam. Auch für die Gemeinde entspringt deshalb nicht nur aus dem Glauben die Liebe, sondern umgekehrt auch aus der Liebe der Glaube. Und doch ist der Unterschied groß. In der Synagoge bildet die eigene Liebesübung das 1) Ähnlich stellt z. B. Harnack das Verhältnis dar. "Das Wesen des Christentums" S. 49: "Es war ein ungeheurer Fortschritt in der Geschichte der Religion, es war eine neue Religionsstiftung, als . . . die Idee der Gerechtigkeit und des gerechten Gottes lebendig wurde. .. Aber sie enthält doch nicht das Letzte. Der letzte mögliche Fortschritt war erst vollzogen - wiederum eine neue Religionsstiftung - als sich die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit unterwerfen mußte."
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Glaubensmotiv. Das Vertrauen auf die Gnade Gottes, das durch die Lücken der Gerechtigkeitsübung zerstört ist, gründet und erhält sich durch den Blick auf die eigene Liebesübung. Der Glaube entspringt aus einer Reflexion auf das eigene Werk. Darum verbindet er sich einerseits leicht mit einem hoch gehobenen Selbstgefühl, anderseits ist er starken Schwankungen ausgesetzt, weil er mit der Größe des eigenen Werkes steigt und sinkt. In der Gemeinde dagegen entsteht der Glaube aus dem Blick auf das Kreuz Christi. Er wird auf keine andere Weise erweckt und erhalten als durch den Blick auf die Liebe Gottes. Er entsteht nicht aus der bewußten Reflexion auf die eigene Liebe, nicht dadurch, daß diese ins Auge gefaßt und ihr Wert in Anschlag gebracht würde. Die Freudigkeit und Festigkeit des Glaubens ist vielmehr der indirekte Erfolg der Liebesübung. Sie ermöglicht den Blick auf die Gnade Gottes, und zwar gerade diejenige Liebesübung, die un:reflektiert und naiv, einfaltig ist. Damit ist der Verdienstgedanke überwunden. Mit dem Verdienstgedanken verschwindet zugleich die quantitative Schätzung der Liebe. Es kommt nicht mehr auf die Zahl und Größe der Werke, sondern auf die Liebe an, nicht auf das Maximum, sondern auf das Ganze, nicht darauf, daß Werke da sind, sondern darauf, daß ein Werk da ist. So denkt nicht nur Paulus, sondern das findet sich auch in einer Schrift, die der Synagoge so nahe steht wie der Jakobusbrief. Sie fordert ein vollkommenes Werk. Liebe gilt deswegen als etwas Ganzes, Geschlossenes, Vollkommenes. Sie ist ein -dAuOV. Dies ist sie, weil sie etwas Göttliches ist. Überwunden ist auch die Spannung zwischen Liebe und Furcht. Die in der Synagoge zur Tradition gewordene Formel bleibt insofern bestehen, als die Liebe als die höhere der beiden Främmigkeitsformen gilt, mit deren Vollendung die Furcht ver· schwindet. Allein die Furcht gilt nicht als Anfang, der sich zur Liebe vollendet. In dieser Auffassung liegen beide Frömmigkeits~ formen in derselben Linie, nur daß die Liebe als Abschluß der Frömmigkeit erscheint, deren Anfang die Furcht ist. In der Gemeinde erscheinen sie nicht als Anfang und Abschluß, sondern als Gegensätze, die sich ausschließen. Daher ist mit der voll~ kommenen Liebe die Furcht überwunden.
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Ebenso sind die moralischen Schwierigkeiten überwunden, die der Zorn in sich trägt. Das Suchen nach einer Grenze, wo die Liebe erlischt und der erlaubte Zorn beginnt, hört auf. Aber das Ziel ist auch nicht die Lähmung der Empfindung, sondern die Heiligung des Zornes. Auch mit ihrem Zorn will die Gemeinde nicht sich selbst dienen, sondern Gott. Diese Heiligung des Zornes ist ebenfalls nicht etwa Ergebnis einer neuen Theorie über den Zorn, sondern das Resultat des Todes Christi. Indem durch ihn die Selbstsucht überwunden, das "Ich" gekreuzigt ist, ist auch der Zorn überwunden. Der Unterschied von der Synagoge ist nicht nur ein relativer, denn an die Stelle der Verteilung von Liebe und Haß auf die Guten und die Bösen, auf Freund und Feind, tritt die ganze Liebe zu jedermann, die sich dem Bösen gegenüber als vollkommene Verzeihung, dem Feinde gegenüber als vollkommene Geduld zeigt. Daneben steht der ganze Widerwille gegen das Böse in allen Menschen, der dadurch rein ist, daß er sich auch gegen die eigene Person richtet und zur Selbstverurteilung wird. Damit hört die Parteisucht auf. Die Aufgabe, den Menschen die Gemeinschaft zu gewähren und sie dem Bösen zu versagen, den Menschen zu lieben und die Sünde zu hassen, ist nicht nur erkannt, sondern lösbar geworden. Sie ist möglich geworden dadurch, daß durch Christi Kreuz die Selbstverleugnung, das Nein zur eigenen Person, welches Urteil, Wille und Empfindung regiert, möglich geworden ist. Der Zorn ist nun nicht mehr Folge der Selbstbehauptung, sondern er ist Anerkennung und Einwilligung in Gottes Zorn. Er schließt darum eine Selbstverurteilung in sich und ist damit gereinigt. Geheiligt ist er durch das Zugrundegehen der sündhaften Liebe. Denn ebenso, wie sich der Kampf Jesu und der Apostel nicht nur gegen den Unglauben oder einen unwirksamen Glauben, sondern gegen einen sündhaften Glauben richtet, ebenso richtet er sich auch nicht nur gegen die Lieblosigkeit, sondern gegen eine sündhafte Liebe. Erst mit dieser geht auch der sündhafte Zorn zu Grunde. Mit der Heiligung der Liebe ist auch der Zorn geheiligt. Liebe und Zorn begrenzen nun einander nicht mehr, so daß eines das andere lähmt und dämpft, sondern jedes wird in seiner Sphäre vollkommen durchgeführt. Bei Jesus und in der Gemeinde liegt unter einer vollkommenen Liebe ein
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ganzer Zorn über das Böse. Die Reinigung und Vollendung der Liebe und die Heiligung des Zornes, beides hat seinen Grund darin, daß das Wollen und Lieben des Menschen durch einen vollkommenen Verzicht, durch einen Tod hindurchgegangen ist und beständig hindurchgeht, einen Verzicht, der die Wirkung des Todes Christi ist. Mit der Liebe und dem Werk ist auch das Selbstbewußtsein reguliert. Wie sich mit dem Erwählungsbewußtsein, dem Glauben ein überstiegenes Selbstgefuhl verbindet, so auch mit der Gerechtigkeit, dem Werk. Der Gerechte ist hochmütig, Liebe dagegen ist Demut. Auch bei Paulus stehen, wie in der Synagoge, Worte hoher Erhebung und tiefer Beugung unmittelbar neben einander. Allein sie drücken nicht Schwankungen und wechselnde Zustände aus, sondern die Willensstellungen, die sie ausdrücken, tragen einander. Auch die Mystik ist in der christlichen Gemeinde gereinigt. Durch den Geist kommt ein mystisches Element in die Frömmigkeit der Gemeinde hinein. Sie hat mit dem Geiste Gemeinschaft mit Gott. Sie ist im Geiste und der Geist in ihr. Ebenso ist das Motiv der Frömmigkeit Philos das Verlangen nach Einigung mit Gott. Doch ist der Unterschied groß. Philo trachtet nach einer evw(Jtf; mit Gott, Paulus und Johannes nach xotvwvla. Bei Philo ist die Vereinigung mit Gott Vermischung, Verschmelzung mit Gott, bei den Aposteln eine Gemeinschaft, die die Unterscheidung voraussetzt. Der Geist Gottes verschmilzt für sie niemals mit dem Geiste des Menschen. Er bleibt beständig oberhalb des Menschen, {JrlOV. Die Liebe zu Gott behält stets den Charakter der Unterordnung, des Gehorsams. Sie ist ein Verhältnis von Person zu Person. Dabei ist die Gemeinschaft mit Gott etwas Bleibendes. Das Sein in ihm wird zu einem Bleiben in ihm. Für Philo unterbricht sie den gewöhnlichen Lauf des Lebens, füllt nur einzelne gehobene Momente aus und verschwindet, ohne ein anderes Resultat zurückzulassen als das Verlangen nach einem ähnlichen Erlebnis. Darum kann die Vereinigung mit Gott keinen reellen Einfluß auf das Leben in der Welt ausüben. Sie ist die Erholung vom Leben in der Welt, aus welcher Philo wieder in die Wirklichkeit zurücktritt, ohne daß beides sich durchdringt. Die himmlische Liebe Philos ist Lütgert, Die Liebe im N. T.
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darum ein tatenloser Genuß Gottes, der nur Stimmung erzeugt, aber keine Ziele steckt und keinen Willen schafft. Dagegen ist in der Gemeinde die Liebe zu Gott Dienst Gottes. Der Geist erzeugt Wille, Tat und Liebe. Auch diese Überwindung der in der vorchristlichen Mystik liegenden Schranken ist nicht das Resultat einer neuen Theorie. Der Geist ist in der Gemeinde als eine Tatsache, als die Gabe Christi. Er ist Christi Geist, weshalb das Leben im Geiste dem Leben und der Liebe Christi gleich ist. Jesus gilt als derjenige Pneumatiker, an welchem der Wille und das Ziel des Geistes erkennbar ist. Darum ist das Leben im Geiste Leben in einer solchen Liebe, wie Jesus sie übte. Vergl. I. Kor. 13. Auch die Askese bekommt in der Gemeinde eine neue Bedeutung. Sie ist nicht Selbstzweck und hat auch nicht die Bedeutung einer Tugend, durch welche der Weise, von der Welt gelöst, in sich selber ruht. Auch Paulus ist Asket. Aber seine Askese ist nicht Lösung von der Welt, sondern Freiheit von ihr. Er vermag es sowohl Mangel zu leiden als Überfluß zu haben. Er hat, als hätte er nicht. Die Askese hat für ihn nicht das Ziel, bedürfnislos und selbstgenügsam zu machen. Sie hat ihren Wert lediglich als Bedingung der Tat, sie gibt ihnen die zum Wirken notwendige Beweglichkeit. Sie hat Wert nur als Kehrseite der Liebe, als das zum Geben gehörige Entbehren, als die zum Handeln gehörige Selbstverleugnung, als das mit der Mühe der Tat unlöslich verbundene Leid. Aber den Charakter einer stolzen und selbstgenügsamen Emanzipation von der Welt, die den Ruhm des Weisen ausmacht, hat sie nicht mehr. Einen andern Charakter hat auch das Gemeindeleben erhalten. Die energische Seelsorge, durch welche die Gemeinde für den einzelnen und der einzelne für die Gemeinde verpflichtet wird, überträgt sich aus der Synagoge in die Gemeinde. Auch die Zucht, welche den Sünder zur Rechenschaft zieht und die Sünde als Gemeindeangelegenheit behandelt, setzt sich in der christlichen Gemeinde fort. Allein in der Synagoge trägt sie einen gesetzlichen Charakter. Da der religiöse Besitz der Gemeinde im Gesetz besteht, so besteht die gegenseitige Sorge für einander lediglich im Zurechtweisen und Strafen. Was in der synagogalen Gemeinde geschehen kann, wird treffend bezeichnet durch den
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Ausdruck "Zur Thora bringen". In der Gemeinde dagegen steht über der wechselseitigen Zucht das, Geben und Nehmen der Gabe Christi. Damit wird klar, daß diehiervorliegende religiöse Differenz ihren tiefsten Grund in dem verschiedenen religiösen Besitz der beiden Gemeinden hat. Die ganze Größe des Unterschiedes, die beide innerlich von einander trennt, neben dem festen äußeren geschichtlichen Zusammenhang, der sich in der Herübernahme der Formeln zeigt, wird vollkommen deutlich, wenn man die beiden Worte neben einander stellt: "Lieblinge Gottes sind die Israeliten, denn es ist ihnen ein kostbares Gerät gegeben worden," nämlich das Gesetz, und daneben das Wort des Johannes: "So hat Gott die Liebe geliebet, daß er seinen Sohn gegeben hat." In der Größe und der Grenze der Liebe Gottes, die Israel erfahrt, indem Gott ihm das Gesetz gibt, und in der Größe der Liebe Gottes, die die Gemeinde bekennt, indem Gott der Welt seinen Sohn und der Gemeinde seinen Geist gegeben hat, hat die Differenz der Liebesübung in beiden Gemeinden ihren Grund. Die Liebe, die in der Gemeinde geübt wird, trägt das Kennzeichen der Liebe Christi an sich, durch welche sie geweckt ist. Es ist ein Doppeltes: der allmächtige Charakter der Liebe Christi setzt sich in denjenigen Zügen der christlichen Liebe fort, um derentwillen sie als ein Werk des Geistes Gottes angesehen wird. Sie ist nicht nur ohnmächtiges Mitleid, sondern reelle und wirksame Hilfe, die. in der Kraft des Geistes Gottes gebend und helfend, schaffend und erzeugend, bildend und erbauend in das Innere des andern einzugreifen vermag. Da sie aus dem Geiste Gottes stammt, so ist sie sich bewußt, Gemeinschaft mit Gott geben zu können. Damit trägt sie das Merkmal des allmächtigen Charakters der Liebe Jesu, durch die sie geweckt ist. Indem sie entsteht aus dem Untergang der natürlichen Liebe und des Egoismus, aus der Selbstverleugnung, aus dem Tod des "Ich", trägt sie das Merkmal des Kreuzes Christi, aus dem sie entstanden ist.
Monographien und Studienbücher
29301 Klaus Bockmühl Leiblichkeit und Gesellschaft Studien zur Religionskritik und Anthropologie im Frühwerk von L. Feuerbach und K. Marx 296 S., Paperback, 2. Auflage 29304 Adolf Schlatter Die philosophische Arbeit seit Cartesius Ihr ethischer und religiöser Ertrag 304 S. , Paperback, 5. Auflage 29306Walter Künneth Theologie der Auferstehung 312 S., Paperback, 6. Auflage
atto Michel Das Zeugnis des Neuen Testamentes von der Gemeinde 136 S., Paperback, 3. Auflage 29308
29309 Heinz-Werner Neudorfer Der Stephanuskreis in der Forschungsgeschichte seit F.C. Baur 400 S. , Paperback 29310 Klaus Wetzel Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1160-1760 600 S., Paperback 29312 Werner Stoy/Klaus Haag Bibelgriechisch leichtgemacht Lehrbuch des Neutestamentlichen Griechisch 352 S., Paperback, 2. Auflage 29315 Joachim Drechsel Das Gemeindeverständnis in der Deutschen Gemeinschaftsbewegung 284 S., Paperback
29317Wilfried Haubeck Loskauf durch Christus Herkunft, Gestalt und Bedeutung des paulinischen Loskaufmotivs 388 S. , Paperback 29319 Klaus Bockmühl Atheismus in der Christenheit Die Unwirklichkeit Gottes in Theologie und Kirche 168 S., Paperback, 3. Auflage 29320 Werner Neuer Der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik bei Adolf Schlatter 432 S., Paperback 29321 Gerhard Sautter Heilsgeschichte und Mission Zum Verständnis der Heilsgeschichte in der Missionstheologie 432 S., Paperback 29322 Helge Stadelmann (Hrsg.) Glaube und Geschichte Heilsgeschichte als Thema der Theologie 416 S., Paperback 29323 Hans Hauzenberger Einheit auf evangelischer Grundlage Von Werden und Wesen der Evangelischen Allianz 536 S., Paperback 29324 Hans-Herbert Stoldt Geschichte und Kritik der Markushypothese 272 S., Paperback 29326 Johannes H. Schmid Biblische Theologie in der Sicht heutiger Alttestamentler Hartmut Gese, ClausWestermann, Walther Zimmerli, Antonius Gunneweg 250 S., Paperback
Reprints
"Es gibt 'Theologische Klassiker' , die auch durch den Fortgang derTheologiegeschichte nicht überholt sind. Das gilt besonders dann, wenn sie eine Minderheitsmeinung zum Ausdruck bringen, die nicht den Beifall der Mehrheit ihrer Zeitgenossen oder der nachfolgenden Generation fand. Leider handelt es sich dabei meist um Bücher, die im Buchhandel nicht mehr erhältlich und selbst in guten Antiquariaten nicht zu haben sind. DieTVG will diesem Mangel abhelfen. " Rektor Dr. Gerhard Maier/Tübingen
29201 Carl Friedrich Keil Genesis und Exodus Nachdruck der 3. verbesserten Auflage von 1878 653 S., fester Einband 29202 Franz Delitzsch Jesaja Nachdruck der 3. Auflage von 1879 758 S., fester Einband 29203 Franz Delitzsch Die Psalmen Nachdruck der 5. Auflage von 1894 872 S., fester Einband 29204 Carl Friedrich Keil Die kleinen Propheten Nachdruck der 3. Auflage von 1888 718 S., fester Einband 29205 Franz Delitzsch Salomonisches Spruchbuch 556 S., fester Einband 29206 Carl Friedrich Keil Leviticus, Numeri, Deuteronomium Nachdruck der 2. Auflage von 1870 616 S., fester Einband
29221 Frederic Godet Das Evangelium des Lukas Nachdruck der 2. Auflage von 1890 632 S., fester Einband 29231 Hermann Cremer Die christliche Lehre von den Eigenschaften Gottes 136 S., Paperback 29232 Wilhelm Lütgert Schöpfung und Offenbarung EineTheologie des 1. Artikels 420 S., Paperback 29233 HansWalterWolff Jesaja 53 im Urchristentum 160 S., Paperback 29234 Gottlob Schrenk Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus vornehmlich bei J ohannes Coccejus Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der heils geschichtlichen Theologie 368 S., Paperback 29288 Julius Schniewind Reden und Aufsätze 208 S., Paperback