Gottfried Wagner Zum Frühstück auf die Chathams
s&c 04/2008
Im Land unserer Antipoden, am anderen Ende der Welt, fernab vom Weltgetriebe, gibt es zwei wunderliche Inseln, auf denen Riesenvergissmeinnichte blühen und Riesenfarne in den Himmel wachsen. Was nach Swift’scher LilliputMärchenland-Fantasie klingt, ist aber Realität. Chatham Island und Steward Island heißen die zwei vergessenen Inseln Neuseelands, die den Autor Gottfried Wagner in ihren Bann zogen und ihn zu einer weihnachtlichen Odyssee durch den Pazifik aufbrechen ließen. Reisetrilogie: An die Grenzen der Welt – Grytviken; Reise nach Grytviken auf Südgeorgien im südlichsten Atlantik, hart an der Antarktis – La orana, Monsiuer Gauguin; Reise nach Tahiti und auf die Osterinsel. ISBN: 3-900050-37-6 Verlag: edition innsalz Erscheinungsjahr: 2005
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor
Foto: privat Gottfried Wagner, geboren 1957 in Freistadt, Oberösterreich. Lehrer, Cartoonist, Maler. Reisen u.a. in die Südsee, in die Antarktis, nach Neuseeland und nach Spitzbergen.
Gottfried Wagner Zum Frühstück auf die Chathams herausgegeben von: Wolfgang Maximoser © edition innsalz Verlags GmbH A- 5252 Aspach, Pfarrgrund 3 Telefon: ++43/664/3382412 Fax: ++43/7755/7258-4 Homepage: www.edition-innsalz.at E-mail:
[email protected] Layout und Gestaltung: W Ströher ISBN 3-900050-37-6 1. Auflage 2005 Grafiken und Fotos: Gottfried Wagner Mit freundlicher Unterstützung von
Gottfried Wagner
Zum Frühstück auf die Chathams Ein Reisetagebuch
Unzählige Male ging ich als Lehrer an einer Weltkarte am Gang des Schulgebäudes vorüber. Und immer wieder erregte jene Insel aufs Neue meine Aufmerksamkeit, die da in weltferner Abgeschiedenheit weit östlich von Neuseeland förmlich aus der Landkarte zu kippen drohte: Chatham. Eine Insel, genauer gesagt Inselgruppe, von der man nie etwas in den Nachrichten hört oder in der Zeitung liest, deren Name aber in ebenso großen Buchstaben wie die Millionenstädte Rio, Bombay oder Kairo bedeutungsperspektivisch aufgebläht auf jener verlassenen Ecke der Weltkarte steht, wo das endlose Blau des Pazifik sie zu verschlucken scheint. Inseln gibt es im Pazifik bekanntlich ja wie Sand am Meer, aber südlich des vierzigsten Breitengrades, also in jener Gegend, in der man noch bis ins 18. Jahrhundert einen großen südlichen Kontinent vermutete, der den Erdball in Balance hält, sind sie rar. Diese eigenartige Insel, nicht mehr tropisch und noch nicht subantarktisch, weckte den ewig schlummernden Islomaniac, den Inselbesessenen, in mir. Nur zu gerne wüsste ich mehr über diese Insel, ihre Beschaffenheit und ihre Bewohner. Kein Problem im Zeitalter des Internet. Dass selbst der Polyglott-Neuseeland-Führer die Chathams nur am Rand erwähnt, macht sie für einen wahren Islomaniac nur noch interessanter und unwiderstehlicher. Mit jedem Mal, da ich in Ausübung meiner beruf-
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lichen Pflicht Pausenaufsicht haltend den Gang auf und ab ging, wuchs meine Entschlossenheit, diese entlegene Insel am anderen, angeblich schönsten Ende der Welt zu besuchen. Selbst das schrille Läuten der Schulglocke vermochte mich da nur vorübergehend aus meinen Tagträumen zu reißen. Chatham ist eine Insel mit nur etwa 500 Einwohnern, ein paar seltenen endemischen Vogelarten und einer Besonderheit aus dem Reich der Flora: Chatham ist die Insel der Riesenvergissmeinnichte, ein Plural, der sich anhört wie ein verleugneter Verwandtschaftsgrad. In meiner Vorstellung wuchsen sich die Riesenvergissmeinnichte zu baumhohen Schirmpflanzen aus, unter denen die Menschen wie Schlümpfe ein seliges Dasein fernab vom Weltgetriebe führten. Alles Unbekannte beflügelt die Phantasie und weckt den Entdeckerdrang. Damit sich aber die Reise zu unseren Antipoden auch lohnte, musste noch ein zweites Ziel her, und das war schnell gefunden: Stewart Island, von den eingeborenen Maoris auch Rakiura, Land der glühenden Himmel, genannt, ganz im Süden Neuseelands und wie die Chathams abseits der Trampelpfade des Massentourismus. Ein Naturparadies, zu 85 % bedeckt mit einem Urwald, der ahnen lässt, wie Neuseeland vor der Ankunft der Europäer ausgesehen haben mochte. Doch um die lange An- und Abreise um den halben Erdball abzukürzen, brauchte ich noch zwei Stopover-Ziele. Ich entschied mich
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für Kealakekua Bay auf Hawaii, jenen magischen Ort, an dem der berühmte Weltumsegler James Cook sein unrühmliches Ende fand, und für die Cook-Insel Aitutaki, deren Lagune zu den schönsten der Südsee zählen soll. Mit dem sprichwörtlichen Finger auf der Landkarte und der Unbekümmertheit eines jugendlichen fernwehgeplagten Tagträumers war also schnell eine Reiseroute fixiert, deren Realisierung im engen Zeitkorsett von Weihnachtsferien meinen Reiseberater an die Grenzen des Erfüllbaren stoßen ließ.
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20. 12. 2003 Ich habe Flughäfen schon immer für gigantomanische Irrläufer unseres technokratischen Zeitalters gehalten und London Heathrow bestätigt dieses Vorurteil auf eindrucksvolle Weise. Alles wirkt riesig, hektisch, chaotisch und in ständigem Umbau begriffen. Dagegen erscheint selbst der alttestamentarische Turmbau zu Babel wie eine gemütliche, übersichtliche Einfamilienhaus-Baustelle. Nach einer Busfahrt und endlos scheinenden Fußwegen erreiche ich doch noch den richtigen Flugsteig. Er ist bedrohlich gerammelt voll mit Leuten. Bis zum Abflug quält mich die Angst, ich könnte bei einem überbuchten Flug mitsamt meinem eng gesponnenen Zeitplan auf der Strecke bleiben. Die Freude, schließlich doch noch meinen Platz im Flugzeug ergattert zu haben, wird getrübt durch die Aussicht auf die Strapazen eines 12-StundenFluges. Die Flugstrecke über Island, Grönland und Kanada kenne ich ja schon. Entgegen meinen bisherigen Erfahrungen mit der Raumtemperatur in Flugzeugen ist es sehr heiß hier an Bord und ich bin froh, wenigstens mit Halbschuhen das winterliche Europa verlassen zu haben. Aber auch die muss ich jetzt ausziehen. Ich kann zwar mehrmals kurz einschlafen, dennoch scheint die Zeit einfach nicht zu vergehen. Das ewige Sitzen ist fast nicht auszuhalten und Herumspazieren am Gang ist leider auch nur sehr
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bedingt möglich. Nach dem Essen sind dann auch noch die Toiletten hoffnungslos überfrequentiert und zu all meinem Missmut gesellen sich jetzt ernste und grundsätzliche Reisezweifel. Aber das gehört wohl dazu. Dabei kommt mein Schreckgespenst, der Moloch Flughafen Los Angeles, erst. Im Landeanflug sieht Los Angeles mit seinen Millionen von Lichtern wie ein riesiger Weihnachtsbazar aus, was ja jahreszeitlich gesehen passt. Wider Erwarten finde ich mich dieses Mal gut zurecht. Meine Flughafenbeamten sind höflich und das Gepäck finde ich auch sofort. Das kann doch nicht schon alles gewesen sein. Mit einem Shuttlebus fahre ich zu meinem Hotel, ersuche, um sechs Uhr geweckt zu werden, gehe duschen und lege mich schlafen. Todmüde.
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21. 12. 2003 Das Weckenlassen war überflüssig. Ich konnte wegen meiner Erschöpfung zwar schon um halb neun einschlafen, dafür bin ich seit drei Uhr wach. Wie schon auf anderen Reisen beunruhigen mich die vielen Anschlussflüge. Viel zu früh, schon kurz nach sechs, mache ich mich mit dem hoteleigenen Shuttlebus auf den Weg zum Flughafen und das ist gut so, denn: Der Busfahrer setzt mich am falschen Terminal ab. Mit flatternden Nerven und leerem Magen mobilisiere ich alles, was ich an lebenserhaltenden Energien aufbringen kann, um zu retten, was noch zu retten ist. Irgendwie gelingt es mir dann doch, den richtigen Terminal für den Weiterflug nach Honolulu herauszufinden und einen hilfsbereiten Busfahrer aufzutreiben, der mich dort hinbringt. Die langen Menschenschlangen vor den Schaltern verheißen nichts Gutes. Jetzt heißt es, geduldig sein. Los Angeles ist eben kein Provinzstädtchen. Als ich dann das Prozedere des Eincheckens hinter mir habe, fällt alle Anspannung von mir ab und ich belohne meine Geduld mit einem deftigen, magenfüllenden McDonald’s-Frühstück. Landestypisch. Das Wetter hier in L.A. ist kühl und nebelig und lässt viele Amerikaner in den Weihnachtsferien nach Hawaii flüchten, ähnlich wie die Europäer auf die Kanaren. Die Maschine ist also voll besetzt, hat lei-
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der Verspätung und ich wieder einen neuen Grund zur Sorge: Hoffentlich versäume ich nicht meinen Anschlussflug von Honolulu, das auf der Insel Oahu liegt, nach Kona auf der Insel Hawaii, auch Big Island genannt. Hawaii ist sowohl die Bezeichnung für die gesamte Inselgruppe und den Bundesstaat als auch für die größte Insel des Archipels. Honolulu liegt eben nicht auf Hawaii, sondern auf Oahu. Etwas verwirrend. Nach dem Langstreckenflug von London nach Los Angeles glaubte ich, nur noch gemütliche Kurzstrecken vor mir zu haben. Eine Täuschung. Der 6Stunden-Flug nach Honolulu scheint mir wieder endlos. Auf dem Flughafen von Honolulu geht es ganz schön rund. Ich muss mit einem so genannten Wiki-Wiki-Bus zum Inter-Island-Terminal fahren, um nach Big Island weiterfliegen zu können. Der heruntergekommene, klapprige Bus hält leider nicht, was sein kindlich-fröhlicher, lautmalerischer Name verspricht und bietet statt Südseeromantik nur Rüttelgymnastik. Lautsprecherdurchsagen sind so gut wie unverständlich, was nicht nur am Lautsprecher sondern auch am Sprecher liegt. Honolulu Airport ist bis ins letzte architektonische Detail ganz im Stil der 50er-Jahre gestylt. Von der Modernität und der Aufbruchsstimmung jener Zeit ist aber nicht viel übrig geblieben. Nichts sieht älter aus als die Mode von gestern. Zum Glück ist er klimatisiert, fast schon ein wenig zu kühl. Draußen ist es schwül und
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heiß, doch mein Organismus ist noch ganz auf europäischen Winter programmiert und ich habe noch keinen Bock auf Sommerhitze. Nach der Ankunft in Kona, Big Island, rufe ich ein Taxi, das mich zum B&B Kealakekua Bay bringen soll. Taxi ist die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Dem Taxifahrer ist der Ort unbekannt, offensichtlich ist Kealakekua Bay nicht gerade ein häufig angefahrenes Ziel. Auf der gut halbstündigen Fahrt die ersten Eindrücke von Hawaii: Vulkanberge, Lavafelder, Südseepflanzen wie in Tahiti und Kabelsalat wie auf Bora Bora, zwei Inseln, die ich schon kenne. Die Taxifahrt kostet den stolzen Preis von fünfzig Dollar. Meine Absteige sieht zunächst enttäuschend unscheinbar aus, doch vom Garten hinter dem Haus aus gesehen verwandelt sich dann das hässliche Entlein in einen wunderschönen Schwan. Die Gegend ist ruhig und friedlich. So viel Abgeschiedenheit habe ich nicht erwartet. Nicht einmal ein Geschäft gibt es in der Nähe. Bei einem BilderbuchSonnenuntergang sehe ich von der Veranda meines Zimmers aus direkt auf das Cook-Denkmal jenseits der Bucht. Es ist ein weißer Obelisk, der würdevoll und majestätisch im Sonnenlicht glänzt. Wie gebannt lasse ich die magische Ausstrahlung dieses tragischen Ortes auf mich wirken. Eigentlich hätte ich den geschäftstüchtigen Amerikanern ja ein Cook-Disneyland zugetraut, dass hier aber überhaupt nichts los ist, verblüfft mich schon sehr. Mein
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Quartiergeber Mark, ein gebürtiger Serbe, dessen Eltern nach Amerika ausgewandert sind, versucht eine Erklärung: Die Hawaiianer wollen mit Cook nichts zu tun haben, weil sie an seinem Tod schuld sind, und die Amerikaner wollen nichts mit ihm zu tun haben, weil er ein Engländer ist. Alles klar. Das Denkmal wurde ja auch von den Engländern vor zirka hundert Jahren errichtet. Der frühe Einbruch der Nacht in den Tropen kommt mir sehr gelegen, denn schon um acht Uhr falle ich erschöpft aber glücklich in die Federn.
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22.12. 2003 Von melodischem Vogelgezwitscher sanft geweckt erblicke ich durch mein Fenster einen üppigen tropischen Garten, der meinem schlaftrunkenen Blick wie der Garten Eden erscheint. So paradiesisch, als erblickten meine Augen den ersten Morgen, bin ich seit meiner Kindheit nicht mehr aufgewacht. Doch die raue Wirklichkeit sollte mich schnell wieder einholen. Im Gespräch mit Mark erfahre ich, dass es gar nicht so einfach sei, zum Cook-Denkmal zu gelangen. Es gäbe nur zwei Möglichkeiten: entweder mit dem Kajak zwei Stunden lang quer über die Bucht zu paddeln oder den Steilhang an der Küste hinunterzuklettern. Zunächst bin ich einmal sprachlos, dass dieser geschichtsträchtige Ort offenbar nur für Extremsportler erreichbar sein soll. Die Variante mit dem Kajak schließe ich wegen der Gefährdung meiner Fotoausrüstung von vornherein aus. Mark schlägt vor, einen Guide zu engagieren, der mit mir hinüberpaddelt. Kostenpunkt: 100 Dollar. Viel Geld. Aber ich muss dorthin. Die ganze umständliche Anreise soll ja nicht für die Katz gewesen sein. Nach langem Hin und Her finden wir doch noch eine gute und billige Lösung: Mark bietet mir an, mich die steile Küstenstraße hinaufzufahren und an der Einstiegsstelle zum Monument Trail abzusetzen. Er gibt mir ein Lunchpaket, Mückenspray, einen
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Strohhut und ausreichend Wasser und überlässt mich meinem Schicksal. Einen Rucksack und gutes Schuhwerk habe ich ja zum Glück mitgenommen. Der steile Weg nach unten führt durch wilde lavabedeckte Urlandschaften und romantische Dschungel-Hohlwege, immer das kühlende Blau des Meeres vor Augen. Ich bin begeistert, wenngleich die spitzen Lavasteine meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen und bei jedem Schritt die Angst vor Verletzung mitgeht. Mir ist, als würde ich den heißen Atem des nahe gelegenen Mauna Loa, Hawaiis heiligen Vulkanberges, spüren. Nach gut einer Stunde ist der Abstieg geschafft und meine Nervosität steigt, so kurz vor dem Ziel. Mit angemessener Ehrfurcht stehe ich schließlich vor dem Monument. Der weiße Obelisk wird von zwei Palmen flankiert, den einzigen weit und breit. Überhaupt entspricht Kealakekua Bay so gar nicht dem Klischee eines Südseestrandes. Keine Palmen, sondern dürres Gestrüpp, kein Sandstrand, sondern erstarrte Lava. Für eine Massenszene mit Hunderten von Menschen, wie in alten Abbildungen von Cooks Tod dramatisierend dargestellt, wäre heute schlicht und einfach kein Platz. Aber auch Küsten ändern sich im Lauf der Jahrhunderte. Doch halt! Wo ist die Gedenkplatte im Wasser, die die Stelle seines Todes markiert? Ich suche die Umgebung um das Denkmal ab, kann sie aber nicht finden. Eine Hawaiianerin zeigt sie mir schließlich. Ich mache ein paar Fotos und setze mich in den
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Schatten. In der Bucht tummeln sich einige Schnorchler, die von einem Ausflugsboot hierher gebracht worden sind. Am Denkmal sind sie nicht interessiert. Nachdem ich jetzt alles im Kasten habe, bin ich glücklich und fühle mich bestätigt, diesen Umweg in Kauf genommen zu haben. Ich mache mich auf den Rückweg und der hat es in sich. Es wird zunehmend schwüler, und die Steilheit des Weges macht mir schon nach kurzer Zeit schwer zu schaffen. Obwohl ich mich grundsätzlich konditionell fit fühle, schnaufe ich wie ein übergewichtiger Kettenraucher und habe sogar Angst vor einem Kreislaufkollaps. Also viel trinken! Wo es Schatten gibt, lege ich immer wieder eine Rast ein. Schließlich begegne ich doch noch einem zweiten wackeren CookMonument-Pilger. Er fragt mich, ob ich die Stelle gesehen hätte, an der seinerzeit Cooks Leichenteile geröstet worden sind. Für einen Augenblick bin ich unsicher, ob ich das als amerikanischen Humor, geschichtliches Interesse oder einfach nur als Geschmacklosigkeit werten soll. Nach knapp zwei Stunden bin ich wieder oben an der Einstiegsstelle und durchgeschwitzt wie ein Marathonläufer. Jetzt muss ich noch den ganzen langen Weg, den mich Mark mit dem Auto mitgenommen hat, zurückgehen. Sicher zwei Stunden, aber bergab. Ich nütze die Gelegenheit zum Fotografieren. An
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Motiven mangelt es nicht: Abwechslungsreiche Küstenlandschaften, exotische Blüten, üppige Vegetation, dazwischen der unvermeidliche amerikanische Weihnachtskitsch. Ich gebe zu, ich bin ganz froh, dass nicht die ganze Südsee ein amerikanischer Bundesstaat ist. Ich will den Amerikanern aber auch nicht unrecht tun, sie waren auf alle Fälle immer freundlich und hilfsbereit. Jetzt nur noch unter die Dusche und hoffen, dass das Taxi mich pünktlich zum Flughafen Kona bringt, und weiter geht dann die weihnachtliche Hetzjagd durch den Pazifik.
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24.12. 2003 Nach einem 9-stündigen Flug über den Pazifik landen wir in Auckland, Neuseeland, dem gelobten Land am anderen Ende der Welt. Der 23.12. hat sich auf wundersame Weise beim Überschreiten der Datumsgrenze in nichts aufgelöst, der verloren gegangene Tag wird mir aber bei der Rückreise nach Europa ordnungsgemäß rückerstattet. Regenwetter verwässert mir vorläufig den Blick auf die viel gepriesene Schönheit dieses Landes, doch selbst der Flughafen ist im Gegensatz zu Honolulu schön, modern und übersichtlich. Wieder muss ich mit einem Shuttlebus zu einem anderen Terminal. Reisen kann sehr kompliziert sein. Wenn die beiden Inlandsflüge nach Christchurch und Invercargill vorbei sind, ist hoffentlich auch für mich Weihnachten. Die „Kiwis” sind freundlich und entspannt. Ich bin es nicht. Selbst die Flugansagen sind wieder verständlich, und ich habe gleich von Beginn weg große Sympathien für dieses Land. Der Flug nach Christchurch ist wunderschön. Das Wetter ist in der Zwischenzeit wieder sonnig und der vogelperspektivische Blick auf die Natur Neuseelands einfach großartig. Wie schön kann Fliegen sein! Ganze zwanzig Minuten bleiben mir in Christchurch, um ins Flugzeug nach Invercargill umzusteigen. Doch meine panische Eile ist unnötig. Am
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Flughafen geht alles sehr gemächlich und provinziell zu, keine Spur von Hektik. Die kleine Maschine startet mit großer Verspätung und fliegt relativ tief, was mir wieder einzigartige Ausblicke auf die großartigen Landschaften der Südinsel ermöglicht. Invercargill, die südlichste Stadt Neuseelands, wirkt verträumt-kleinstädtisch, nur seine breiten Straßen scheinen ihm eine Nummer zu groß zu sein. Oversized. Auch im Sommer wird es hier nie richtig heiß. Vom befürchteten Weihnachtsrummel ist weit und breit nichts zu sehen. Weihnachten im Sommer will nicht so richtig stimmungsvoll sein. Ich stelle meine Sachen im Hotel ab und habe noch einen Programmpunkt zu erledigen: Ich möchte die Tuatara, eine auch Brückenechse genannte kuriose Spezies, die als das älteste lebende Tier der Erde gilt, sehen. Das Southland Museum in Invercargill ist einer der wenigen Orte, wo man diese saurierähnliche, urzeitliche Echse in Gefangenschaft sehen kann. Natürlich wäre es mir lieber, sie in freier Natur, womöglich mit einem soeben erbeuteten Rieseninsekt im Maul, zu fotografieren, diesen Wunsch wird mir aber nicht einmal der als Schaufensterdekoration allgegenwärtige Santa Claus erfüllen können. Plötzlich fällt mir ein, dass am 24.12. Sperrtag sein könnte. Ich habe da ein Schild im Kopf „Täglich geöffnet – außer am 24. und 31.12.”, wie ich es von österreichischen Museen kenne. Das habe ich bei der Reise-
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planung natürlich nicht berücksichtigt. Mit dem Schlimmsten rechnend und gleichzeitig auf ein Weihnachtswunder hoffend mache ich mich auf den Weg zum Southland Museum. Ich durchquere einen Park, dessen urtümliche Baumarten schon ein Vorgeschmack auf den Urwald von Stewart Island sein könnten. Das Southland Museum ist ein pyramidenförmiger Bau und, ich kann es kaum fassen, geöffnet. Zielstrebig suche ich den Raum mit den Tuataras. Und da, vom Betrachter nur durch eine fotofreundliche Glaswand getrennt, sitzen sie auch schon. Echsen haben, aus der Sicht des Fotografen, den Vorzug, mit der Disziplin eines Profimodels minutenlang regungslos sitzen zu bleiben. Während ich einen ganzen Film verknipse, filtert mein Ohr aus dem Sprachengewirr um mich herum einen Dialog mit eindeutig oberösterreichischer Dialektfärbung heraus. Da am Weihnachtsabend das Bedürfnis nach heimatlicher Wärme besonders groß ist, spreche ich sie an: Es sind zwei Linzer, die auf ihrer Neuseelandrundreise hier Halt machen und sich ebenfalls für die einzigartigen Tuataras interessieren. Klein ist die Welt! Vom Erfolgserlebnis Tuatara in weihnachtliche Hochstimmung versetzt kehre ich ins Hotel zurück, wo leider eine Hiobsbotschaft auf mich wartet: Mein österreichischer Reiseberater teilt mir per Fax mit, dass sich der Chatham-Flug um einen ganzen Tag verschiebt. Ich würde also abends auf den Chathams
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ankommen und schon um neun Uhr morgens am nächsten Tag wieder abfliegen. Also sinnlos. Ich fliege doch nicht um teures Geld nur zum Frühstück auf die Chathams! Eine schöne Bescherung! Darunter stellt man sich zu Weihnachten normalerweise etwas anderes vor. Nachdem ich die gesamte Gefühlspalette von streitbarer Empörung über ohnmächtige Wut bis zu resignierendem Frust durchlitten habe, faxe ich meinem Reiseberater lapidar zurück, er möge irgendein Ersatzprogramm organisieren. You can’t always get what you want. Dabei hatte ich wegen der letzten schönen und reibungslosen Flüge gerade erst mein Vertrauen in das Flugwesen zurückgewonnen, schon ist es wieder dahin.
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25.12.2003 Ich habe den Rest des Weihnachtsabends erschöpft und frustriert verschlafen und fühle mich jetzt wieder pudelwohl, von zwei kleinen Blasen an den Füßen einmal abgesehen, einer Folge der Strapazen des Cook-Monument-Trails, die ich siegesfroh eher als Tapferkeitsmedaille sehe denn als Handicap. Vor meiner Hotelzimmertür liegt ein Sackerl mit Süßigkeiten. Mit leuchtenden Kinderaugen hebe ich es auf und betrachte es gleich als improvisiertes Ersatzfrühstück. Wenigen, zumindest neuseeländischen Kindern könnte man mit so geringem Aufwand an diesem Morgen eine solche Freude bereiten wie mir jetzt. Da einige Piloten ebenfalls im Hotel übernachtet haben, fahre ich gleich mit ihrem Transferbus mit zum Flughafen. Der Flughafen Invercargill, der mir schon bei der Ankunft durch seine entschleunigte Betriebsamkeit angenehm aufgefallen ist, ist auch heute ein Sinnbild des Weihnachtsfriedens. Keine zehn Personen da, die Angestellten miteingerechnet. Wir sind nur fünf Passagiere im Flugzeug nach Stewart Island, das aussieht wie ein Buschflieger aus einem Abenteuerfilm, dabei ist jetzt Sommer und somit Hauptsaison. Am Weihnachtstag nach Stewart Island zu fliegen gehört also zu den wahrlich exklusiven Dingen des Lebens.
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Die Maschine macht einen Höllenlärm, doch sie fliegt sehr tief und ermöglicht einen fantastischen Ausblick auf die Foveaux Strait, jene Meeresstraße, die Stewart Island von der Südinsel Neuseelands trennt. In der Ferne ist auch schon der undurchdringliche, nichttropische Regenwald von Stewart Island zu sehen. Es ist ein wahrer Glücksfall, dass alle landwirtschaftlichen Bemühungen der europäischen Einwanderer auf dieser Insel gescheitert sind und uns diese Insel in ihrer Ursprünglichkeit erhalten geblieben ist. Keine Schafe, keine Äcker, keine Industrie, nur eine einzige menschliche Ansiedlung: Oban, auch Halfmoon Bay genannt, mit nicht einmal 400 Einwohnern. Die Menschen leben von Fischerei und Fremdenverkehr. Die Stewart Islander bezeichnen ihre Insel in trotziger Verkennung der wahren Ausmaße gerne als „dritte Hauptinsel Neuseelands”, doch eine vergleichende Größenbewertung hat dieses 1700 qkm kleine, menschenleere Paradies mit seinen vielen Naturwundern ohnehin nicht nötig. Die Landepiste ist ein besserer Rübenacker, ein Flughafengebäude existiert nicht und die optische Einfassung der ganzen Anlage besorgt der undurchdringliche Busch, der bedrohlich nahe an die Rollbahn heranreicht, ganz so, als warte er nur auf die nächste Gelegenheit, dieses freche Stückchen Zivilisation wieder unter seine Oberhoheit zu zwingen. Doug, der Besitzer der Stewart Island Lodge, begrüßt mich, stellt mein Gepäck auf die Ladefläche seines Geländefahrzeuges und ab geht’s über eine
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staubige Straße Richtung Unterkunft. Nach einem ausführlichen Einführungsgespräch über mögliche Aktivitäten hier auf Stewart Island, entscheide ich mich für eine Wanderung durch den „Fern Gully”, einem der vielen Wanderwege auf der Insel. Dabei ist das Reizwort „fern”, also Farn, für meine Entscheidung ausschlaggebend, denn von all den Naturwundern Stewart Islands waren es eben auch die riesigen Baumfarne, die mich hier herlockten. Wie schon so oft in meinem Leben lässt mich zunächst mein Orientierungssinn völlig im Stich. Es dauert eine ganze Weile, bis ich den richtigen Einstieg finde, zu meiner totalen Verunsicherung, denn wenn ich mich im geschlossenen Ortsgebiet schon verlaufe, was dann im Urwald? Was ich dann erlebe, übertrifft selbst meine kühnsten Erwartungen bei weitem: Farne und Baumfarne so weit das Auge reicht, Urwald vom Feinsten, aber ohne Schwitzen, ohne Schlangen, ohne giftige Spinnen, ohne Krokodile, ohne lästige Moskitos. Ein klimatisch perfekter, jedoch menschenleerer Märchenwald, erfüllt von vielstimmigem Vogelgesang und beruhigendem Wasserplätschern. Die Redewendung vom Sprachlos-Sein passt in diesem Fall auch nicht, denn angesichts solcher Schönheit lasse ich meinen entzückten Lustschreien freien Lauf, was niemanden stört, da ich ohnehin als Einziger unterwegs bin. Kein Maler könnte auch nur annähernd fantasieren, was die Natur hier real hingezaubert hat. Ab und zu läuft mir ein Weka, ein flugunfähiger,
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hühnerartiger Vogel, über den Weg und selbst die Begegnung mit einem ausgestorbenen Riesen-Moa würde mich nicht mehr überraschen. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit scheinen hier aufgehoben zu sein. Wie es sich für einen richtigen Regenwald gehört, gibt es immer wieder heftige Regengüsse, doch es dauert nicht lange, bis die Sonne mit stimmungsvollem Zwielicht den Wald durchflutet und die Wassertropfen wie Edelsteine glänzen lässt. Ich komme kaum vom Fleck vor lauter Fotografieren. Der Urwald von Stewart Island wird für immer zu meinen stärksten Reiseerlebnissen zählen. Interessanterweise hatte Neuseeland im Gegensatz zu Australien, von zwei Fledermausarten abgesehen, ursprünglich keine Landsäugetiere und auch keine Schlangen. Es war ein Land der Vögel, von denen die spektakulärsten, die Moas, leider ausgestorben sind. Wie ein lebendes Fossil wirkt das Wappentier der Neuseeländer, der Kiwi, von denen es noch einige Zehntausend geben soll, viele davon auf Stewart Island. Seine birnenförmig-plumpe, beinahe comichafte Gestalt macht ihn zur liebenswürdigen, im neuseeländischen Alltagsleben allgegenwärtigen Kultfigur. In freier Natur lässt sich der scheue, nachtaktive und flugunfähige Vogel nur selten blicken. So ganz sicher, was für eine Art von Kreatur der Kiwi werden sollte, war sich die Evolution offenbar nicht. Er kann nicht fliegen, sein Federkleid sieht aus
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wie ein Pelz, Flügel sind überhaupt nicht vorhanden und er besetzt im neuseeländischen Regenwald jene Nischen, die in anderen Urwäldern Säugetieren vorbehalten sind. Eine Kuriosität macht ihn aber eindeutig zum Super-Vogel: Der Kiwi legt, im Verhältnis zu seiner Körpergröße, die größten Eier der Vogelwelt. Über fünf Stunden bin ich auf Wanderwegen um Halfmoon Bay unterwegs und als ich die geschützte Märchenwelt des Urwalds wieder verlasse, fühle ich mich wie Adam aus dem Paradies vertrieben. Tatsächlich herrscht außerhalb des Regenwaldes ein anderes Klima. Es schwankt zwischen den Extremen stechend heiß und windig kalt hin und her. Doug hat mich vor der Sonnenbrandgefahr eindringlich gewarnt und mir eine Kappe gegen Sonnenstich verordnet. Überhaupt ist das Wetter sehr veränderlich. Regen, Wind und Sonne wechseln sich im Stundentakt ab. Meine beiden Blasen, die ich mir auf Hawaii für James Cook geholt habe, sind noch größer geworden. Aber die Wanderschuhe sind wegen des Schlammes an manchen Stellen der Wanderwege unverzichtbar. Im Moment sieht das Wetter gar nicht gut aus. Umso erleichterter bin ich, dass ich meine Baumfarne fotografisch im Kasten habe. Am Abend lädt Doug die Gäste seiner Lodge zum Weihnachtsdinner. In meiner Urwald-Euphorie habe ich ganz darauf vergessen, dass ja noch immer Weihnachten ist.
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Weihnachten im Sommer ist für white-christmasverwöhnte Österreicher schon sehr befremdlich. Befremdlich ist auch der treffende Ausdruck, um die Tafelrunde, in der ich heute höflichkeitshalber den Abend werde verbringen müssen, zu charakterisieren. Es dauert schon eine ganze Weile, bis die Konversation zwischen uns in Gang kommt. Wir, das sind: ein amerikanisches Ehepaar, Ornithologen, ein Brite, Ornithologe, ein holländisches Paar, HobbyOrnithologen und ich, Nicht-Ornithologe. Nicht, dass ich mich für die Vogelwelt gar nicht interessieren würde, nur haben Ornithologen oft die seltsame Eigenart, gerade an den kleinsten, unschein- und unsichtbarsten Arten Gefallen zu finden, während ich eher die bunten, bizarren, schrillen, großen, flugunfähigen und ausgestorbenen bevorzuge. Das Hauptgesprächsthema des Abends ist also vorgegeben. Um aus der ornithologischen Sackgasse herauszufinden, bringe ich mein Chatham-Problem als Thema ein. Wir sind uns alle einig, dass ein Flug auf die Chathams unter diesen Umständen nicht in Frage kommt. Die Amerikaner verblüffen mich durch ihre in meinen Ohren unamerikanisch klingende, weil überraschend verständliche Sprache, bestreiten aber, dass der Durchschnittsamerikaner anders spräche als sie. Wir wechseln zum Thema Politik. Gebildete Amerikaner, besonders jene mit Studienabschlüssen in von der Wirtschaft wenig gehätschelten Fächern, haben die Neigung, sich schon vorauseilend für ih-
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ren konservativen und bildungsfeindlichen Präsidenten zu entschuldigen. In der Ablehnung des IrakKrieges sind wir uns schneller einig als in der Bewunderung für spezielle Vogelarten. Im Großen und Ganzen doch ein sehr unterhaltsamer Abend. Die nächste Gesprächspause nütze ich, um meinem gestiegenen Schlafbedürfnis nach diesem anstrengenden, aber schönen Tag gerecht zu werden. Ich wünsche noch frohe Weihnachten und eine gute Nacht.
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26. 12. 2003 Am Morgen schüttet es wie aus Kübeln. Jetzt wird mir bewusst, welches Glück ich mit dem gestrigen Wetter hatte, denn der Regen war ja schon vorhergesagt. Im Moment sitze ich in der Lodge fest. Apropos Lodge: Doug hat mir keinen Schlüssel für mein Zimmer gegeben, es ist Tag und Nacht unversperrt. Anfänglich nahm ich diese Gepflogenheit mit mulmigem Gefühl zur Kenntnis, in der Zwischenzeit werte ich es als Zeichen einer intakten Gemeinschaft, in der Misstrauen dem Nächsten gegenüber noch unbekannt ist. Um zirka zehn Uhr hört der Regen plötzlich auf, und ich mache mich auf den Weg in den Ort. Im Vorbeigehen fällt mir ein Souvenirladen auf, vielleicht auch nur, weil sein Name „The Fernery” bei mir wegen des gestrigen MärchenwaldErlebnisses positive Assoziationen auslöst. Da ich keine Eile habe, gehe ich hinein. Zu meiner Überraschung gibt es hier nicht den üblichen Souvenirkitsch sondern durchaus ansprechendes Kunsthandwerk. Für meine Lieben zu Hause nehme ich ein paar so genannte „Touchstones” mit, das sind kachelartige Flachreliefs mit Spiralmotiven, eine blaue Glasspirale und einen Kiwi-Stempel für meine Schüler. Die Spirale, ein stilisierter Farn, ist ein uraltes Maori-Symbol für Wachstum und Entfaltung. Der österreichische Maler Hundertwasser, der in Neuseeland seinen Zweitwohnsitz hatte, hat sich an diesem
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Motiv in vielen seiner Bilder ja weidlich bedient. Dann kaufe ich noch Proviant ein und mache mich auf den Weg nach Ackers Point, einem Kap auf einer schmalen Halbinsel mit einem Leuchtturm. Ich bin total begeistert von so viel Urwüchsigkeit im wahrsten Wortsinn und komme fotografisch wieder voll auf meine Kosten. Am Leuchtturm treffe ich ein altes schottisches Ehepaar. Ich genieße die Unterhaltung mit ihnen wegen ihres perfekten, geschliffenen, vornehmen und doch leicht verständlichen Queens English, also dem denkbar größten Gegenteil von amerikanischem Englisch. Die betagte Lady erzählt mir vom Brauch der ansässigen Maoris, zu bestimmten Jahreszeiten die hier zahlreich vorkommenden, „Muttonbirds” genannten Seevögel zu „ernten” und sie dann in Seetang gewickelt im eigenen Fett als Nahrungsreserve zu konservieren. Ein von der neuseeländischen Regierung an die Urbevölkerung als Ausdruck der Wertschätzung ihrer Kultur verliehenes Privileg. Die Maoris waren ja keine Schafzüchter oder Tourismus-Experten, aber sie waren Meister in der Anpassung an eine nicht gerade freigiebige Natur, denn auf Stewart Island fallen keine Kokosnüsse von den Bäumen. Nach einer Weile weist mich die Lady noch auf eine vorgelagerte kleine Insel in der Ferne hin. Es ist Herekopare-Island, also jene Insel, von der ich wusste, dass dort die einzigartigen, Wetas genannten Rieseninsekten in freier Natur vorkommen. Ich kann es nicht fassen, dass mir da zum Greifen nahe, quasi
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nur einen Steinwurf entfernt, eine zoologische Besonderheit vor die Nase oder besser gesagt vor die Augen gesetzt wird. So nah und doch so unerreichbar. An der felsigen Steilküste nehmen Robben ein Sonnenbad und erinnern daran, dass Stewart Island die letzte größere Insel vor der Antarktis ist. Die sonderbaren, endemischen Gelbaugen-Pinguine, die das Gefühl der Antarktisnähe noch verstärken hätten können, lassen sich leider nicht blicken. Am Rückweg bekomme ich die Launen des unbeständigen Stewart-Island-Wetters voll zu spüren. Zunächst ist es stechend heiß, dazwischen immer wieder kurze, aber starke Regenschauer und dann ein Wind, dessen Heftigkeit mich in Schräglage festnagelt und am Gehen hindert. Unglaublich. Ich war also bei meiner Abreise aus Europa gut beraten, mich mit langer Unterhose, Haube, Handschuhen und Regenjacke für den neuseeländischen Sommer zu wappnen. Jetzt verstehe ich auch schön langsam, warum diese Insel kaum besiedelt ist. Farne und Vögel sind die eine Seite der Medaille, die Wirklichkeit ist wohl etwas rauer. Als ich um etwa vier Uhr zur Lodge zurückkomme, beginnt es schon wieder zu regnen. Mein Gesicht spannt und meine Lippen brennen vom Wind, doch mir bleibt der Trost, den Tag trotz Aprilwetters im Dezember optimal genützt zu haben. Für heute Nacht wäre „Kiwi Spotting”, also ein geführter Kiwi-Beobachtungs-Ausflug, vorgesehen.
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Obwohl ich lange vor Reisebeginn das Kiwi Spotting per E-Mail vorgebucht habe, um es nur ja nicht zu versäumen, will ich jetzt gar nicht mehr. Gründe: Erstens, ist es kalt und windig und kann jederzeit regnen, zweitens, kämen wir erst um zwei Uhr morgens zurück, und drittens, ist Fotografieren mit Blitz verboten. Ein schlechtes Foto von einem Kiwi, und das nicht garantiert, teuer bezahlt und unter widrigen Witterungsumständen ertrotzt, beim morgigen UlvaIsland-Programm dann unausgeschlafen – NEIN! Das ausschlaggebende Gegenargument ist für mich die Einschränkung beim Fotografieren. In leichter Abwandlung der philosophischen Lehre des Materialismus ist ja für mich nur wahr, was ich fotografiert habe. Schließlich löst sich mein Problem von selbst: Doug teilt uns mit, dass das Kiwi Spotting soeben telefonisch abgesagt wurde.
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27.12. 2003 Kaum habe ich mich mit dem Kiwi-SpottingVerzicht abgefunden, bereitet mir die ChathamSache einen schlechten Schlaf. Ich bin wieder unsicher, ob ich nicht die Absage rückgängig machen und doch hinfliegen sollte, um nicht ewig einer verpassten Chance nachzutrauern. Beim Frühstück raten mir die Holländer schwer davon ab und so ringe ich mich zu einer endgültigen Chatham-Ade!-Haltung durch. Das Wetter ist um sieben viel versprechend, um acht schüttet es wieder, dann hellt es wieder auf, usw. usw. Dann sagt auch noch der Guide, der uns auf Ulva Island führen hätte sollen, ab. Also machen wir, die Holländer und ich, uns auf, um auf eigene Faust mit dem Wassertaxi nach Ulva Island zu gelangen. Unsere Rucksäcke werden untersucht, nicht auf Drogen oder Schmuggelware, sondern auf Ratten. Ulva Island ist eine kleine Insel im Paterson Inlet, einem fjordartigen Meeresarm, der Stewart Island an seiner breitesten Stelle förmlich zu spalten scheint. Ist schon Stewart Island an sich ein Naturparadies ersten Ranges, so ist Ulva Island die ultimative Steigerung davon. Mit großem Idealismus hat man auf dieser heute von Menschen unbewohnten Insel ein geschütztes Rückzugsgebiet für einheimische Pflanzen und Tiere geschaffen und so ein kleines Stück urs-
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prüngliches Neuseeland erhalten. Dazu war es zunächst einmal notwendig, die Insel rattenfrei zu bekommen. Eine Sisyphusarbeit. Nur so kann den vielen, zum Teil flugunfähigen Vogelarten das Überleben ermöglicht werden. Einige davon und zwar jene, die mich besonders entzückt haben, möchte ich hier aufzählen: Da ist einmal der Kaka, ein großer, dem bekannteren Kea nicht unähnlicher Papagei, der Kakariki, ein Sittich mit rot-grünem oder gelbgrünem Gefieder, der Tui, ein sangesfreudiger Vogel mit vornehmer Halskrause, die Kukupa, eine farbenprächtigschillernde endemische Taubenart von geradezu kolossaler Größe, der schon erwähnte Laufvogel Weka, der mir verborgen gebliebene Tokoeka oder Stewart Island Kiwi und der Korimako oder Bellbird, der sich seine Sympathien bei mir durch seinen penetranten, dreiklangartigen Weckruf zu frühester Morgenstunde beinahe verscherzt hätte. Wofür ich sie aber alle liebe, sind ihre unwissenschaftlichen, fantasieanregenden Maori-Namen. All diese wunderbaren Geschöpfe sorgen mit ihrem Gesang für die nötige gute Stimmung in einem Zauberwald, dessen Bäume und Pflanzen noch aus dem Urkontinent Gondwana stammen und als Kulisse für jeden Jurassic Park taugen würden. Stundenlang bin ich auf den gut markierten Wanderwegen unterwegs. Sprachlos. Immer wieder führen Wanderwege an einsame Strände von unbeschreiblicher Schönheit und Ruhe. Immer wieder beginnt es leider auch zu regnen, aber ein Regenwald ohne Regen
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wäre ja wie ein Sonnenbad ohne Sonne. Zu Hause wird mir angesichts der vielen gelungen Fotos niemand glauben, dass ich eigentlich drei Tage Hundewetter auf Stewart Island hatte. Selbst der schönste Märchenwald ist nach fünf Stunden entzaubert und ich kehre mit unvergesslichen Eindrücken nach Halfmoon Bay zurück. Auf dem Weg zur Lodge komme ich an einer Fish-and-Chips-Bude vorbei. Von einer Duftwolke aphrodisischer Intensität betört, erliege ich willenlos ihrer Verführung und trotte wie ein Moschusochse zur Kuh ferngesteuert auf sie zu. Ich bekomme eine Riesenportion, die aussieht, als sei sie nicht für mich allein sondern für eine ganze Reisegruppe bestimmt. Ich liebe Fish-and-Chips wegen ihrer unregelmäßigen Formen, die mich an den Küstenverlauf von Inseln erinnern und verfluche sie jedes Mal wieder, wenn sie mir fettgetränkt stundenlang schwer im Magen liegen. Außerdem amüsiert mich die britische Eigenart, ihre zivilisatorischen Errungenschaften bis in die letzten Winkel unseres Planeten als unentbehrliche, daseinsbedingende Notwendigkeiten zu exportieren. Es gibt Fish-and-Chips am Ende der Welt, ein englisches Postamt auf Südgeorgien und wahrscheinlich Fünf-Uhr-Tee bei den Pinguinen. Den Abend verbringe ich ziellos bummelnd am Hafen, da beschert mir die untergehende Sonne noch ein besonderes Abschiedserlebnis: Das Farbenspiel eines wunderschönen Abendrots lässt den Himmel glühen, genau wie es „Rakiura”, der Maori-Name
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für Stewart Island, poetisierend beschreibt: Land der glühenden Himmel. Wegen des ansonsten ganz und gar nicht zu dichterischem Überschwang anregenden Wetters hier auf Stewart Island habe ich den Maoris ja schon unterstellt, sie hätten mit dem viel verheißenden Namen Rakiura, Land der glühenden Himmel, zu Zeiten ihrer großen Migrationen Etikettenschwindel betrieben, um Einwanderer aus der sonnigen Südsee in diese unwirtliche Weltgegend zu locken. Aus demselben Grund wählte ja auch der Isländer Leif Eriksson die Bezeichnung „Grönland”, also Grünland, für die von seinem Vater entdeckte, schneebedeckte Insel. Die ehrlichere Bezeichnung „Eis-und-SchneeInsel” oder „Neun-Monate-Dauerfrost-Insel” hätte wahrscheinlich auch den hartgesottensten Auswanderungswilligen für immer abgeschreckt. Leider bricht jetzt meine schlüssige Theorie wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Ich gönne aber den vom Wetter ohnehin nicht verwöhnten Bewohnern von Rakiura und mir dieses prächtige Naturschauspiel, das ich auf zahlreichen Fotos festhalte. So kitschig darf nur Natur sein.
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28.12. 2003 Ich vertreibe mir die Zeit bis zum Abflug noch mit Fotografieren. Gleich unmittelbar vor meiner Lodge sind die Vögel mit der Verteidigung ihrer Stammsitzplatz-Äste beschäftigt. So nahe vor die Linse bekommt man Tiere sonst nur im Zoo. Besonders ein Tui, ein großer Vogel mit dunkelblau schillerndem Gefieder und neckischer Halskrause, und eine Neuseeland-Taube, auch Kukupa genannt, die wegen ihrer fast schon behäbigen Größe aussieht, als hätte sie ein Laufvogel werden sollen, halten selbstbewusst ihre Stellungen und lassen sich ohne Scheu von mir fotografieren. Doug bringt mich schließlich zum Flugplatz. Der Überflug nach Invercargill zeigt mir ein letztes Mal noch die herbe Schönheit dieser einzigartigen Insel in der Totale. Dann geht es weiter nach Wellington via Christchurch, wo wir einen kurzen Zwischenstopp einlegen. Die neuseeländischen Flughäfen begeistern mich wieder. Sie sind angenehm klein und übersichtlich. Small is beautiful. Der Transfer zum Hotel in Wellington klappt, das Wetter ist schön und der Himmel tiefblau, doch ich falle in ein Stimmungsloch. Im Moment kann mich auch Wellington bei Traumwetter nicht reizen. Ich habe Heimweh. Ich durchleide meinen seelischen Durchhänger einsam im Hotelzimmer und mache
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mich dann schließlich doch auf den Weg. Und siehe da: Schon nach kurzer Zeit ist aller Trübsinn wie weggeblasen, mein Gefühlshaushalt wieder im Lot und das fantastische Fotowetter motiviert mich zu neuen Taten. Zunächst aber verlangt der Körper nach einer Stärkung. Ich gerate wieder an einen Fish-and-Chips-Imbissstand, dem Würstelstand des Commonwealth, und ich bekomme wieder eine Portion, von der ich zweimal satt werden kann. Für das Abendessen ist also schon gesorgt. Die ersten Eindrücke von Neuseelands Hauptstadt Wellington sind für mich, der ich sonst kein Freund von Großstädten bin, überraschend positiv. Mit seinen zahlreichen postmodernen Prestigebauten präsentiert sich Wellington als glamouröse Hauptstadt von Welt und versteht es so geschickt von seiner eigentlichen Größe abzulenken. Die Zahl von 200.000 Einwohnern würde in anderen Ländern nur für eine unbedeutende, mittelgroße Provinzstadt reichen. Aber Größe ist eben nicht alles. Wellington verkörpert für mich das Idealbild einer Stadt. Es vereinigt die extravagante Eleganz einer Hauptstadt mit der Beschaulichkeit eines Provinzstädtchens. Hier gibt es alles, was das Leben schöner macht. Nur Hektik, Schmutz, Armut und alle Anzeichen sozialer Spannungen, also die ungeliebten Schattenseiten urbaner Zivilisation, scheinen hier gänzlich zu fehlen. Außerdem habe ich mich noch in keiner Stadt so sicher gefühlt wie hier.
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Am Abend suche ich in verzweifelter Torschlusspanik, wie Rodins Denker über die NeuseelandLandkarte gebeugt, nach einem ChathamErsatzprogramm. Fest steht: Erstens, gebe ich das Hotelzimmer in Wellington auf keinen Fall auf, und zweitens, habe ich zwei Tage Zeit zur Verfügung. Mit seiner zentralen Lage an der Südspitze der Nordinsel läge Wellington für mögliche Ausflüge ins Umland ja optimal. Ich könnte Kapiti Island, ein Naturschutzgebiet, besuchen oder mit der Fähre die Cook Strait zwischen Nord- und Südinsel überqueren. Doch so richtig erwärmen kann ich mich für keines dieser Ziele. Außerdem scheue ich den organisatorischen Aufwand und den engen Zeitrahmen. In der schwärzesten Minute meiner Unschlüssigkeit kommt dann die befreiende Erleuchtung: Ich werde doch auf die Chathams fliegen, und sei es nur zum Frühstück. Wer weiß, ob mir ein nicht in Anspruch genommener Flug überhaupt finanziell rückerstattet werden würde. Plötzlich ist für mich die weitere Vorgangsweise sonnenklar: Ich bleibe nur noch einen Tag hier in Wellington und rufe morgen meinen Reiseberater an, um ihn von meinem neuerlichen Sinneswandel bezüglich Chathams in Kenntnis zu setzen. Die Entscheidung ist getroffen. Jetzt kann ich ruhig schlafen.
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29.12. 2003 Noch vor dem Frühstück erledige ich meine Telefonate. Zuerst lasse ich meinen Rückflug nach Europa mit der Air New Zealand rückbestätigen, was sich aber als nicht wirklich notwendige Fleißaufgabe herausstellt. Dann rufe ich meinen neuseeländischen Travel Agent Jo Fitness an, deren witziger Nachname sich anhört, als hätte sie sich von der Wellnessin die Reise-Branche nur verirrt, und deren Vorname gar nicht weiblich klingt. Jo Fitness ist aber eine Frau. Ihre leicht verständliche Sprache und ihre besonnene und kompetente Art, mit meinem Problem umzugehen, stellen mein Vertrauen in die Welt im Allgemeinen und in die Reisebranche im Besonderen wieder vollständig her. Jo, du bist im richtigen Job! Hurra, ich fliege also doch noch auf die Chathams! Obwohl ich es selbst noch vor kurzem für sinnlos hielt, freue ich mich jetzt kindlich über die neue Perspektive. Zum Frühstück auf die Chathams fliegen zu dürfen empfinde ich jetzt nicht mehr als Schnapsidee, sondern wie einen Sechser im Lotto. Den restlichen Vormittag will ich nützen, um den Wellington Zoo zu besuchen. Eine letzte Möglichkeit, im sogenannten „Nocturnal House” doch noch einen Kiwi zu sehen. Der Zoo liegt ganz am Stadtrand und ich fahre mit dem Bus dorthin. Selbst die Vororte Wellingtons, durch die wir fahren, haben
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Charme und Charakter und spiegeln den Wohlstand dieser Stadt wider. In ihrer fast schon lieblichen und heiteren Kulissenhaftigkeit wirken sie wie potemkinsche Dörfer, nur sind sie eben echt. Wo in anderen Städten die Slums beginnen, ist hier noch immer das idyllische Bild Wirklichkeit gewordener Auswanderer-Träume zu sehen. Im Wellington Zoo gehe ich zielgerichtet ins Nocturnal House, einem Spezialgehege für nachtaktive Tiere. Es ist finster. Nicht stockfinster, sondern wie in einer Sternennacht, nur dass die Sterne in diesem Fall am Boden und nicht am Himmel sind. Ein auf den Kopf gestelltes Planetarium sozusagen. Ein Führer tritt an mich heran und flüstert mir irgendwelche Informationen ins Ohr. Im Zusammenspiel mit dem schummrigen Licht hat dieses bedeutungsschwere Flüstern jenen dramatisierenden Effekt, den wir von David Attenboroughs Tierfilmen kennen. Ich hoffe noch immer darauf, dass meine vom Sonnenlicht geblendeten Augen sich endlich auf die neuen Gegebenheiten einstellen würden. Vergeblich. Außer Lichtpunkten sehe ich nichts. Ich höre nur das Plätschern von Wasser und das Flüstern des Führers. Irgendetwas bewegt sich am Boden. Ob das nun eine Ratte, ein Opossum, ein Kakapo oder eben ein Kiwi ist, wer weiß das schon. Mit dem belastenden Gefühl einer unerledigten Aufgabe verlasse ich leicht frustriert das Nocturnal House. Der Wellington Zoo beherbergt außer den vielen
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neuseeländischen Vögeln auch Tiere des artenreichen Nachbarn Australien und des nicht weniger artenreichen Indonesien. Zu Mittag habe ich genug von der Fauna und fahre zurück ins Stadtzentrum. Eine Seilbahn bringt mich auf den Aussichtsberg und ganz Wellington liegt mir als grandioser Panoramablick zu Füßen. Der Rückweg ins Zentrum führt durch Wellingtons Botanischen Garten. Noch einmal sehe ich die einzigartige exotische Pracht und Vielfalt der neuseeländischen Pflanzenwelt, geballt auf kleinem Raum. Besonders auffallend ist der jetzt zur Weihnachtszeit blühende Pohutukawa Tree, der mit seinen knallroten Blüten für das kokette Tüpfelchen auf dem i im Stadtbild sorgt. Mitten im blühenden Leben des Botanischen Gartens liegt ein kleiner Friedhof und strahlt jene sanfte Ruhe aus, die man Verstorbenen wünscht. Das Wetter ist sehr angenehm, sonnig und doch nicht zu heiß. Ich schlendere planlos durch die Straßen Wellingtons und finde mich schließlich im Hafen wieder. Meine innere Uhr, die mich sonst immer nervös tickend vorwärts peitscht, scheint stehen geblieben zu sein und ich genieße die malerische Szenerie des Hafenviertels. Rein zufällig stolpere ich dabei über das viel gerühmte neue Museum Wellingtons „Te Papa”. Nicht nur seine spektakuläre Architektur, sondern auch sein Konzept ist zukunftsweisend. „Te Papa” bedeutet „Unser Haus”. Es ist der Versuch, sowohl die Geschichte der Maoris als auch
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jene der europäischen Einwanderer unter einen Hut und ein Dach zu bringen, und zwar ohne arroganten eurozentrischen Scheuklappenblick. Ich verbringe Stunden in diesem faszinierenden Haus und studiere die Geschichte und Kultur der Maoris, im Besonderen jene der Moriori, der Ureinwohner der Chathams. Berauscht vom Fluidum des Te-Papa-Museums und ermattet von einem kräftezehrenden Tag voller großartiger Eindrücke kehre ich in mein Hotelzimmer zurück. Vor meiner Hotelzimmertür liegen einige Tageszeitungen. Ihre Schlagzeilen scheinen sich so kurz vor Jahreswechsel an Optimismus überbieten zu wollen. „No worries” oder „Happiness is … living in New Zealand” ist da in fetten Lettern zu lesen und der Optimismus der Neuseeländer ist durchaus berechtigt. Neuseeland ist nicht nur ein äußerst schönes, sondern auch ein äußerst reiches und sozial stabiles Land. Die Neuseeländer scheinen nach der Devise zu leben: Lieber reich und schön als arm und hässlich. Das war nicht immer so. Noch in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts mussten die Neuseeländer mit großen wirtschaftlichen Problemen kämpfen und ihre Sozialsysteme reformieren. Vielleicht sind sie uns Europäern einfach einen Schritt voraus. Morgen fliege ich also auf die Chathams. Meine Vorfreude wächst. Meine Sorge wegen des engen Zeitplanes auch. Ich werde um fünf Uhr nachmittags ankommen und schon um neun Uhr nächsten Tages
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wieder abfliegen. Der Weg zu Ruhe und Einsamkeit ist mit unerwartet viel Hektik gepflastert.
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30. 12. 2003 Es regnet schon wieder. Irgendeinen Makel muss dieses scheinbar perfekte Land ja haben. Das Flugzeug der Air Chathams hat Platz für 24 Personen und ist genau halb voll. Die Flugplanänderung ist verbunden mit einem Zwischenstopp in Christchurch. Meine Vermutung, es würden dort weitere Passagiere aufgenommen, ist falsch. Nach dem Zwischenstopp sind wir nur mehr fünf Passagiere. Wie schon Stewart Island sind auch die Chathams eine wahrlich exklusive Destination. Der Flug dauert fast drei Stunden. Es ist nebelig und starke Turbulenzen strapazieren meine Magennerven. Der Flugplatz von Chatham wird in der Bescheidenheit seiner Ausmaße nur noch von Stewart Island übertroffen. Die übrigen vier Passagiere sind Einheimische. Ich bin der einzige Tourist. Eine ältere Dame, die sich als Joan vorstellt und in ihrem tantenhaften Outfit aussieht, als hätte ich sie beim Skatspiel mit der Queen gestört und vom 5-UhrTee weggeholt, bringt mich zu ihrem Geländefahrzeug und stellt meinen Koffer auf die Ladefläche. Ich beeile mich, ihr die Dringlichkeit meiner Mission zu erklären und zähle ihr meine Besichtigungswünsche auf: Riesenvergissmeinnichte, Basaltsteine, Moriori-
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Baumritzungen und Nikau-Palmen. Mit einem gütigen Lächeln quittiert sie meine sichtliche Aufgeregtheit. Jo Fitness hat sie bereits instruiert. Also verlieren wir keine unnötigen Worte und Zeit mehr und machen uns samt Gepäck auf den Weg. Es bleiben uns maximal vier Stunden bis zur Dämmerung. Der Zeitplan lautet: heute Abend Nordteil der Insel, morgen Früh Südteil der Insel. Ein klares Zeitmanagement. Landschaftlich wirkt die Insel wie ein Verschnitt aus Irland und Osterinsel. An Irland erinnern das Grün, die Schafe und die Basaltküsten, an die Osterinsel erinnern die vulkanischen Landschaftsformen und die Staubstraßen, die das Auf und Ab der Landschaft geduldig mitmachen. Im Gegensatz zu Stewart Island sind die Chathams nicht von einem dichten Regenwald überwuchert, sondern landwirtschaftlich genutzt. Mit jedem Kilometer, den wir auf der schlaglochperforierten Straße zurücklegen, wächst meine Begeisterung für diese wilde und landschaftlich abwechslungsreiche Insel. Joan ist sehr kooperativ und bemüht, meine Sonderwünsche zu erfüllen. Wie ein Gangsterpaar auf Verfolgungsjagd sind wir unterwegs, einer lenkt und einer schießt, wenn auch nur mit der Kamera. Verfolgt brauchen wir uns aber wirklich nicht zu fühlen, denn wir sind stundenlang die Einzigen auf der Straße. Wegen der vielen Schlaglöcher fährt Joan mehr neben als auf der Straße. Ich bin begeistert von den bizarren, windzerzausten und sturmgebeugten Bäumen und ich habe immer
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mehr das Gefühl, in den surrealen Landschaftsfantasien meiner eigenen Ölbilder spazieren zu fahren. Wegen des enormen Zeitdrucks machen sich bei mir die ersten Stresssymptome bemerkbar: Trotz relativ kühlen Wetters bin ich schweißgebadet. Die Basaltsteine und die geheimnisvollen Baumritzungen der Moriori habe ich bereits im Kasten, als wir zu einem Nikau-Palmen-Hain kommen. Die NikauPalme ist die einzige endemische Palmenart Neuseelands und der Chathams, die genau am 44. Breitengrad liegen, also schon sehr weit außerhalb der Tropen. Die Krone der Nikau-Palme sieht aus wie ein Federball oder wie ein Rasierpinsel mit den typischen, widerborstig nach oben zeigenden Palmwedeln. Die aus der tropischen Südsee kommenden Einwanderer nannten sie „nikau”, eine Zusammensetzung der Begriffe „ni” = Palme und „kau” = ohne. Palme-ohne deshalb, weil sie im Gegensatz zu ihren Verwandten in der Südsee keine Nüsse trägt. Überhaupt ist es erstaunlich, dass die sonnenverwöhnten Polynesier diese entlegene Insel erreichten und den widrigen Witterungsbedingungen erfolgreich trotzten. Es ist geradezu absurd, dass auf dieser sturmgepeitschten, unwirtlichen Insel Palmen wachsen und Südseeinsulaner leben. Jetzt fehlen nur noch die Riesenvergissmeinnichte. Wir müssen uns beeilen, denn es beginnt bereits zu dämmern. Ich habe Joan als nette Kaffeeklatsch-Tante ironisiert, aber bei genauerer Betrachtung blitzen noch
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immer das Feuer und die edle Wildheit einer Maori in ihren Augen. Joan ist nämlich ein Halbblut. Das letzte Stück Weges zu den Riesenvergissmeinnichten, die mich trotz Erschöpfung noch einmal in Aufregung versetzen, müssen wir zu Fuß zurücklegen. Der Weg ist selbst für einen Geländewagen zu ruppig. Wir beschleunigen unseren Schritt, um doch noch den Wettlauf gegen die Dämmerung zu gewinnen. Dann bleibt Joan stehen. Die Spannung steigt. Ich sehe mich um, kann aber nirgends die Riesenvergissmeinnichte, die ich mir wie mannshohe Bäumchen vorstelle, sehen. Joan zeigt auf den Boden. Obwohl ich innerlich schon bereit bin, Abstriche bei der Größe der Vergissmeinnichte zu machen, kann ich noch immer nichts sehen, was nach Vergissmeinnicht oder gar Riesenvergissmeinnicht aussieht. Ich schiebe diesen Umstand zunächst auf die schlechte Sicht wegen der Dunkelheit. Doch die Wahrheit ist viel erbärmlicher: Die Riesenvergissmeinnichte sind ein paar lächerliche, halbvertrocknete, unscheinbare Blätter, die da kraftlos wie ein k.o.-geschlagener Boxer am Boden liegen. Riesen-Enttäuschung statt Riesenvergissmeinnichte. Joan versucht durch die Erklärung, dass sie zu dieser Jahreszeit leider nicht blühen, den nüchternen und einsichtigen Botaniker in mir anzusprechen. Vergeblich. Ich bin also wegen ein paar nichtssagender, halbverwelkter Blätter um den halben Erdball gehetzt. Joan spürt, dass jedes weitere Wort im
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Moment unpassend ist. Es ist schon dunkel, als Joan und ich schweigsam zum Hotel Chatham fahren. Ein banaler Name, aber „Hotel zum Riesenvergissmeinnicht” wäre mir im Augenblick auch nicht recht. Das Hotel ist ein sehr einfacher barackenartiger Neubau. Joan bietet mir an, trotz der fortgeschrittenen Zeit noch für mich zu kochen, und es gelingt mir nicht, sie davon abzuhalten. In der Zwischenzeit sehe ich mich im Hotel ein wenig um. An den Wänden des Ganges hängen Fotografien von Alltagsszenen aus dem Leben der Chatham Islander. Plötzlich bleibe ich wie elektrisiert vor einem der Fotos stehen. Es zeigt eine Geburtstagsparty von einheimischen Jugendlichen und ich glaube, mich in einem der Jugendlichen selbst zu erkennen. Ich rufe Joan aus der Küche. Sie bestätigt mir eine gewisse Ähnlichkeit. Joan serviert das Essen. In kürzester Zeit hat sie ein opulentes Mahl aus verschiedensten Fleisch- und Fischspeisen auf den Tisch gezaubert. Da ich die Gepflogenheiten des Hauses nicht kenne, frage ich, ob sie denn noch weitere Hotelgäste zum Abendessen erwarte. Es gibt keine weiteren Gäste im Hotel. Das Essen scheint für zehn Personen angerichtet zu sein. Aber es ist nur für mich. Aha, Riesenportion statt Riesenvergissmeinnichte. Ich bitte Joan, mir Gesellschaft zu leisten, damit nicht nur das Auge mitisst. Dinner for Two. Was für ein verrückter Tag!
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31.12. 2003 Um sechs Uhr bin ich startbereit für eine weitere Insel-Erkundungs-Tour. Zu meinem Bedauern ist heute nicht Joan mein Chauffeur, sondern Jack, der Hotelbesitzer himself. Wir nehmen uns den Südteil der Insel vor. Das Wetter sieht nicht gut aus. Zuerst fahren wir die „Te Whanga Lagoon” entlang. Chatham hat eine riesige Lagune, die ein Viertel der Insel bedeckt. Der Begriff „Lagune” verleitet zu romantischen Assoziationen, doch mit Palmen und Badestrand hat diese Lagune nichts zu tun. Es ist eine Brackwasser-Lagune und wegen ihrer Größe ist sie für mich vom Meer kaum unterscheidbar. Jetzt beginnt es auch noch zu regnen. Ich spreche Jack auf die Moriori, die Ureinwohner der Chathams, an und er erzählt mir von ihrer Geschichte. Die Moriori waren Polynesier wie die Maori. Beide Volksstämme kamen aus der tropischen Südsee, die Moriori auf die Chathams, die Maori nach Neuseeland. Über Jahrhunderte liefen ihre Entwicklungen getrennt. Durch blutige Stammeskriege dezimiert, beschlossen die Moriori eines Tages, das Töten von Menschen zu tabuisieren. Sie entwickelten eine pazifistische Kultur. Holzstöcke durften nicht dicker als ein Daumen und nicht länger als ein Arm sein, um nicht als tödliche Waffen missbraucht werden zu können. Sie lebten in friedlichem Einklang mit der rauen Natur und gingen schonend mit ihren Nah-
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rungsquellen, Pelzrobben und Seevögel, um. Ihre Welt wurde empfindlich gestört, als im 19. Jahrhundert Walfänger und Robbenjäger auftauchten. Erst nach den Europäern kamen Mitte des 19. Jahrhunderts Maori von der Nordinsel Neuseelands. Diese kriegerischen Maori legten den Pazifismus der ansässigen Moriori als Feigheit aus. Trotz der existenziellen Bedrohung durch die Invasoren hielten die Moriori an ihrer pazifistischen Tradition fest: ihr Todesurteil. Sie wurden versklavt und regelrecht wie Rinder gehalten, als Nahrungsreserve für die kannibalischen Maori. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Moriori so weit dezimiert, dass ihr Untergang besiegelt war. Der letzte reinblütige Moriori, Tommy Solomon, starb im Jahre 1933. In den Adern vieler Chatham Islander fließt auch heute noch Moriori-Blut. Eine bewegende Geschichte. Unglaublich. Ich kriege Gänsehaut. In der Zwischenzeit hat sich das Wetter noch einmal verschlechtert. Es regnet. Nichts zu machen. Jack zeigt mir noch die Gedenkstätte für Tommy Solomon, dann müssen wir zum Flughafen. Auf dem Rückweg nehmen wir einen Fischer, der zu medizinischer Betreuung nach Neuseeland fliegen muss, mit. Er stinkt nach Alkohol und das Wort „fucking” scheint in seinem ohnehin sehr begrenzten Wortschatz ein Schlüsselbegriff zu sein. Air Chathams ist die Nabelschnur, die die Chathams mit dem Mutterland Neuseeland verbindet, erst in zweiter Linie eine Serviceleistung für die wenigen Touristen, die sich
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hierher verirren. Um 11 Uhr 30 verlasse ich die Chathams bei unmöglichem Sauwetter. Bei Air Chathams ist das Bodenpersonal und die Stewardess ein und dieselbe Person. Gerade noch hat sie am Flughafen auf einer uralten Personenwaage meinen Koffer abgewogen, jetzt teilt sie Getränke und Gebäck aus, wenig später beginnt sie, ich will meinen Augen nicht trauen, mit dem Fensterputzen im Flugzeug. Mindestens so erstaunt bin ich über die Eisblumen, die sich auf meinem Fenster bilden und die ohnehin schon trübe Sicht völlig verstellen. Aber Eisblumen in der Südsee sind zumindest eine witzige Paradoxie. Am Flughafen Auckland, dem größten Neuseelands, komme ich noch einmal ins Schwitzen. Ich muss den Terminal wechseln, Ausreisegebühr zahlen, Schlange stehen und habe wenig Zeit. Wie ich angekommen bin, so verlasse ich Neuseeland wieder: bei Regenwetter. Das Wetter ist wohl der einzige Wermutstropfen dieses glücklichen Landes und auch dagegen gibt es ein Mittel: Die nächste Südseeinsel ist nur zwei Flugstunden entfernt. Rarotonga, wohin ich jetzt ausfliegen werde, vier Flugstunden. Um neun Uhr abends des Vortages, also am 30.12., komme ich nach Überschreiten der Datumsgrenze auf dem Flughafen von Rarotonga, Cook Islands, an. Angesichts der vielen Absurditäten dieser Reise verwundert mich die Tatsache, dass selbst die Zeit in
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die verkehrte Richtung zu gehen scheint, nicht mehr. Ukuleleklänge, drückende Schwüle und ein Blumenkranz der örtlichen Reiseagentur heißen mich willkommen. Ich werde ins Hotel gebracht und von der Südseeschnulze „Der weiße Mond von Rarotonga”, die mir assoziativ zu Rarotonga einfiel und nun als Ohrwurm meinen Gehörgang nicht mehr verlassen will, sanft in den Schlaf gesungen.
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31. 12. 2003 Der Morgen beginnt mit tropischen Regenfällen. Also keine Sonneninsel heute. Um 9 Uhr 20 fliege ich nach Aitutaki, wo ich hoffentlich drei Tage ausspannen kann. Aitutaki gehört wie die Hauptinsel Rarotonga zu den Cook Islands. Sie wird gerühmt für ihre geradezu märchenhafte Schönheit und gewiefte WerbeLeute locken Touristen mit dem Slogan „Visit heaven while you’re still on earth”. Ich will sehen, ob das stimmt. Auf dem Flug nach Aitutaki lerne ich die kleinstmögliche Flugzeugtoilette kennen, in der wegen der extremen Enge schon das Hinsetzen auf die Klomuschel zur Falle zu werden droht. Offensichtlich ist sie nur für magersüchtige Touristen gedacht, denn Dickleibigkeit ist bei den Polynesiern weit verbreitet. Kurz vor der Landung reißen wie bestellt die Wolken auf und geben die Sicht frei auf diese sagenhafte Insel mit ihrer ultimativen Lagune. Wir landen sanft auf der nur 20 qkm großen Trauminsel. Small is beautiful gilt auch für das Flughafengebäude, das größenmäßig einem Kiosk in einem Freibad gleicht. Meine Unterkunft ist direkt an der türkisblauen Lagune, doch leider nicht eine der romantischen Robinson-Hütten, sondern das sogenannte „Guesthouse”. Dieser Begriff klingt freundlich, verschleiert
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aber nur den schrecklichen Substandard der Unterkunft. Hier ist vorerst Schluss mit „beautiful”. Ich will auf Reisen keinen Luxus, aber das hier ist mir dann doch zu viel, besser gesagt, zu wenig. Einige pikante Details: Waschgelegenheit, Toilette und Dusche am Gang, Dusche ohne Vorhang. Kein Warmwasser. Die Tür zu meinem Zimmer sieht mit ihren vielen hässlichen Beschlägen aus wie die Zellentür eines Gemeindekotters und muss mit einem Vorhängeschloss verriegelt werden. Der Fußbodenbelag besteht aus verschiedenfarbigen PlastikTischdecken. Von der Zimmerdecke hängt die nackte Glühbirne. An den Wänden kriechen Geckos herum, was zwar akrobatisch aussieht, aber unappetitlich ist. Das Bett ist eine Matratze auf einem provisorisch zusammengezimmerten Gestell. Als kleines Zugeständnis an westliches Luxusdenken hängt ein Spiegel an der Wand, der aber wegen der vielen blinden Flecken das eigene Spiegelbild bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. In jedem europäischen Land würde dieser Laden sofort dicht gemacht. Um mich wieder positiv zu motivieren, versuche ich, all das als Indizien für touristische Unverdorbenheit und Unschuld zu werten. Und die wollte ich ja. Außerdem, wer sitzt bei Traumwetter auf einer Trauminsel schon auf seinem Zimmer? Abfallkorb und Handtuch gibt es natürlich auch nicht. Der Strand und die Lagune entschädigen mich
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großzügig für den soeben erlittenen Kulturschock. Menschenleer und einfach paradiesisch. What a wonderful world! Plötzlich, Panik! Beim Schwimmen spüre ich ein Beißen am Oberschenkel. Die vermeintliche HaiAttacke ist aber doch nur ein Korallenstock, an den ich gestreift bin. Am Abend fahren ich und zwei weitere Gäste mit dem Taxi zu einer Tamure-Show im nahe gelegenen Ort. Der Silvesterabend will gefeiert werden. Tamure heißt der typische Südsee-Tanz, der auf Hawaii auch Hula Hula genannt wird. Ich bin überrascht, dass die Touristen nur eine verschwindende Minderheit bei diesem Spektakel sind, die meisten Besucher sind Einheimische, darunter viele Kinder. Von Massentourismus kann hier auf Aitutaki keine Rede sein. Die Show ist mitreißend. Die Cook Islander sind ja berühmt für den schnellsten, wildesten und erotischsten Tamure der ganzen Südsee. Ich schieße einen ganzen Film leer. Noch vor Mitternacht bringt uns das Taxi zurück. Ich verbringe den Jahreswechsel allein am mondhellen Strand und spüre das „Schweigen der schönen tropischen Nächte”, wie das der berühmte Südsee-Maler Paul Gauguin mit dem Pathos des Künstlers einmal formuliert hat.
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1. 1. 2004 Trotz Silvesterlärms und Geckos an den Wänden habe ich gut geschlafen. Das neue Jahr beginnt mit Sonnenschein und strahlend blauem Himmel. Das richtige Wetter für eine „Lagoon Cruise”. Ein Taxi bringt mich zum Boot. Auf dem Boot sind wieder überraschend viele Einheimische. Die Fahrt durch die Traumlagune von Aitutaki übertrifft selbst meine unbescheidensten Erwartungen. Ich bin sprachlos ob soviel Schönheit. Licht und Wetter ändern sich ständig und lassen die Lagune in immer neuen Farben schillern wie eine Perlenmuschel. In der Ferne sieht man Motus, kleine Inselchen, die das Puff säumen. Wir steuern eines der vielen Motus, One-Foot-Island, an. Eine perfekte Robinson-Insel, als sei sie von Disney-WorldSpezialisten für Touristen künstlich aufgeschüttet worden. Weißer Sand, Seevögel, Kokosnüsse am Strand. Auch ein heftiger tropischer Regenguss kann meiner Begeisterung für diese Insel, die nicht von dieser Welt zu sein scheint, keinen Abbruch tun. Wir picknicken an Bord, trinken Kokosmilch und baden mit den bunten Fischen in der Lagune. Für eine Sekunde habe ich dem Paradies ins Auge geblickt. Nach sechs Stunden Bootsfahrt kehren wir wieder zurück. Im seichten Wasser der Lagune sitzen entspannt braungebrannte Polynesierinnen und winken
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uns zu. Nur die Hitze macht mir schwer zu schaffen. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hat es mich erwischt: Sonnenbrand am Hals und an den Füßen. Heftige Regengüsse während der Nacht lassen mich ein Ende der Schönwetterperiode befürchten, doch am Morgen ist alles wieder vorbei. Strahlender Sonnenschein und tiefblauer Himmel. Another beautiful day in paradise! Ich packe meinen Rucksack für meinen letzten Programmpunkt hier auf Aitutaki: Ich werde den Maungapu, Aitutakis 124m hohen Hausberg, besteigen. Ein 124m hoher Berg fällt normalerweise noch unter die Kategorie „Hügel”, besonders wenn man wie ich aus dem Gebirgsland Österreich kommt. Doch hier in der Südsee, wo manche Atolle nur drei bis fünf Meter über den Meeresspiegel ragen, ist ein 124m hoher Berg schon der Vorgeschmack auf den Mount Everest. Sonnenbrandgeschützt durch ein zur Halskrause umfunktioniertes T-Shirt und durch Socken (!) gehe ich schon früh am Morgen los, um der ärgsten Hitze zu entkommen. Der Aufstieg ist wegen der drückenden Schwüle strapaziös und schweißtreibend, aber er lohnt sich. Vom Gipfel des Maungapu aus habe ich einen phänomenalen Rundblick über die ganze Insel. Noch einmal versetzt mich das Naturwunder Aitutaki in kindliches Staunen. Den Anblick von so viel Schönheit gewähren die Götter Sterblichen selten. Das Taxi zum Flughafen, für sechs Uhr bestellt, ist natürlich unpünktlich und bringt meine Nerven
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gehörig zum Flattern. Mit „Coconut Time” begründet der Taxifahrer verniedlichend seine Unpünktlichkeit, ohne jegliches Schuldgefühl. Coconut Time ist das Lebensgefühl der Insulaner, unbeschwertes In-den-Tag-hinein-Leben jenseits der Diktatur der Uhrzeit. Meine Nervosität war übertrieben, sie wären ohnehin nicht ohne mich abgeflogen. Aitutaki ist eine kleine Welt. Jeder kennt jeden und weiß über jeden Touristen Bescheid. Ich verlasse Aitutaki in der Dämmerung Richtung Rarotonga, wo ich ins Flugzeug nach Tahiti umsteigen muss. Kurz nach Mitternacht landen wir in Papeete, Tahiti. Ich bin übermüdet und gereizt und streite mich beim Checkin mit dem Hotelangestellten, wie lange ich laut Voucher bleiben darf. Mein Rückflug nach Europa ist erst kurz nach Mitternacht und ich will nicht schon mittags das Hotel verlassen müssen. Wir einigen uns auf 17 Uhr. Nach wenigen Stunden Schlaf gehe ich zur nächsten Haltestelle des „Truck”, sprich Trück, genannten, öffentlichen Verkehrsmittels. Eine letzte historische Stätte möchte ich noch besuchen: Pointe Venus an der Matavai Bay, wo Captain Cook seinerzeit den Venusdurchgang beobachtete. Ich kann mich zwar in den Schatten flüchten, dennoch wird mir die Wartezeit auf den Bus einfach zu lang. Die Haltestelle befindet sich in einem Randbezirk Papeetes und Südseeromantik ist das Letzte, was hier zu finden wäre.
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Schließlich hält ein Bus, leider der falsche. Allzu schnell will ich aber nicht aufgeben. Wieder hält ein Bus, wieder ist es der falsche. Von Hitze und Frust in die Knie gezwungen, verlasse ich die lausige Gegend und gehe zurück zum Hotel. Ich will nicht mehr. Das Hotel hat eine riesige Gartenanlage, die schon fast einem Botanischen Garten gleicht. Sogar einen künstlichen Wasserfall gibt es. Ich finde mich damit ab, die letzten Stunden meines SüdseeAufenthaltes in einem künstlichen Paradies zu verbringen. Am hoteleigenen, schwarzsandigen Strand vertreibe ich mir die Zeit mit süßem Nichtstun. Es beginnt zu dämmern. Obwohl ich sie die ganze Zeit vor Augen hatte, wird mir erst jetzt bewusst, dass dort in der Ferne die Silhouette der Insel Moorea mit dem markanten „Haifischzahn” zu sehen ist. Noch einmal reißt mich der Anblick dieser zauberhaften Insel aus meiner Lethargie und noch einmal steigere ich mich in einen Fotorausch. Der Sonnenuntergang sorgt für eine sensationelle Lichtregie. Schöner als jetzt ist Moorea nicht zu haben. Nach langen Stunden des Wartens auf den Rückflug sitze ich schließlich im Flugzeug und habe lange Stunden des Fliegens vor mir. Meine verrückte, wenn auch freiwillige Odyssee durch den Pazifik geht ihrem Ende zu.
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Zum Schluss noch die nüchternen Zahlen dieser Reise in aufsteigender Reihenfolge: Reiseagenturen: 5 Währungen: 5 Inseln: 8 Städte: 9 Hotels: 9 Tage: 17 Einzelflüge: 23 Reine Flugstunden: 70 Dias: 1188 Kilometer: ca. 50000 Etwas gehetzt komme ich nach Hause. Eine Sache muss ich noch lernen: Coconut Time.
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