BAD EARTH Band 9 Die große Science-Fiction-Saga DIE GRENZE ZUM NICHTS von W. K. Giesa
2041: Die irdischen Astronauten ...
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BAD EARTH Band 9 Die große Science-Fiction-Saga DIE GRENZE ZUM NICHTS von W. K. Giesa
2041: Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis, werden an einen unbekannten Ort der Galaxis verschlagen. Und in eine unbekannte Zukunft, eine Zeit, in der die Menschen Erinjij genannt werden und sich zur verhassten Geißel der Galaxis entwickelt haben. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten. Als sie von irdischen Raumschiffen gejagt werden, können sie mit knapper Not in den geheimnisumwitterten Aqua-Kubus flüchten. Dort befreit der Außerirdische Darnok den Menschen Cloud schließlich aus der Gewalt derer, die den Kubus beherrschen - die Vaaren. Auf der weiteren Flucht vor ihnen werden sie von Rurkka unterstützt, der sich selbst Meister der Materie oder Protoschöpfer nennt. Sie stoßen immer tiefer in den Heiligen Bezirk vor, eine verbotene Zone. Rurkka stirbt unter nicht völlig geklärten Umständen, zuvor befreit er die Menschen noch von den winzigen Maschinen, die ihnen das Atmen unter Wasser ermöglichten. Bei John Cloud kommt es im Zuge der Beseitigung zu Komplikationen, er behält einen Rest von Protomaterie in sich. Die Flüchtlinge erreichen das Herz von Tovah’Zara: ein kugelförmiges, scheinbar absolut leeres Gebilde, dessen Oberfläche aus einem karmesinroten Energiegeflecht
besteht. Dann greifen Protoschwärme an, und die Gejagten sehen keinen anderen Ausweg mehr als sich mit Darnoks kleinem Raumschiff in die Vakuumsphäre zurückzuziehen. Zugleich beginnt der Aqua -Kubus - jenes wassergefüllte Gebilde mit einer Kantenlänge von einer Lichtstunde plötzlich Fahrt aufzunehmen. Wird Lovrena, die Königin der Vaaren, ihre Drohung wahrmachen, mit ihrem bizarren Reich bewohnte Welten ansteuern und unschuldige Geschöpfe für den Tabu-Bruch Darnoks und der Menschen büßen lassen?
Prolog Was ist das?, fragte sich Lovrena, die Vaaren-Königin. Vor ihr erschien ein seltsames Gebilde, das sie nie zuvor gesehen hatte. Es durchdrang die geschlossene Tür, bewegte sich in den Raum hinein, in welchem die Königin sich befand. Und doch fühlte sie sich nicht bedroht. Das Etwas sah aus wie eine Lichtkugel, deren Durchmesser etwa der Körperlänge des Menschen Cloud entsprach, mit dem sie noch vor kurzer Zeit zu tun hatte. Nein, es war sogar noch ein wenig größer. Und es schien zu leben. »Was ist das?«, wiederholte sie ihre gedankliche Frage. Vorsichtig sandte sie Nesselfäden aus, die sich von ihrem silbrig schimmernden Körper auf das Etwas zubewegten. Sie versuchte es zu berühren, aber es gelang ihr nicht. Die Lichtkugel wechselte nur ihre Farbe und ihre Position. Dabei kam es zu keiner Wasserbewegung. Es war, als durchdringe sie das überall befindliche Wasser ebenso, wie sie durch die geschlossene Tür in das Zimmer gelangt war. »Wer bist du?«, drängte Lovrena erneut. »Was treibt dich, in meinen Palast einzudringen? Warum haben die Wachen dich nicht aufgehalten?« Die Lichtkugel antwortete nicht, veränderte diesmal nur ihre Leuchtkraft. In sanften Bögen bewegte sie sich vor der Königin hin und her. »Was willst du?« Reagierte die Kugel jetzt erstmals auf Lovrenas Fragen? Obgleich es zu keiner Berührung kam, die für Vaaren eine der Voraussetzungen für direkte Kommunikation waren, wehten der Königin Bilder und Begriffe entgegen. Lovrena konnte sie umsetzen und verstehen, aber sie erfasste auch, dass sie auf eigentümliche Weise alt waren.
Nicht ihr Inhalt, sondern die ganze Art der Übermittlung! So uralt wie der Palast, in dem die Königin der Vaaren residierte...? Sie fröstelte plötzlich. Für kurze Zeit hatte sie das Gefühl, als würde etwas aus tiefster Vergangenheit nach ihr greifen und sie in einen Strudel reißen wollen, dem sie nie mehr würde entrinnen können. »Du bist...« ›Ein Besucher‹, schien die Lichtkugel ihr mitteilen zu wollen. ›Ich bin gekommen, um dir meine Aufwartung zu machen, amtierende Königin.‹ Das seltsame Etwas wusste also, welche Funktion sie innehatte. Natürlich, warum sonst wäre es auch hierher gekommen, in diesen Palast, ins Zentrum der Vaaren-Macht, wo alle Fäden innerhalb von Tovah’Zara zusammenliefen? »Ein Besucher«, wiederholte sie in ihren eigenen Sinnbildern, welche die Lichtkugel mühelos verstand, wie es Lovrena vorkam. So unterschiedlich die »alte« und die »neue« Verständigungsart auch waren, jeder verstand, was der andere meinte. Und irgendwie begannen die Unterschiede zu verschwimmen, zu verwischen. Eines passte sich dem anderen an. Was geschieht hier?, fragte sich die Herrscherin über Tovah’Zara. »Woher kommst du? Warum besuchst du mich? Wer hat dich geschickt?« Doch die Lichtkugel ging nicht auf Lovrenas Fragen ein. Sie glitt nur noch etwas weiträumiger durch das Gemach, schien hier und da die Wände zu streifen und darin einzudringen. Dabei war gerade dieser Raum herausragend groß. Deshalb hielt Lovrena sich zumeist hier auf, sie schätzte den Platz, der ihr hier zur Verfügung stand. Viele andere Räume im Palast waren kleiner, und im »Thronsaal« selbst fühlte sie sich - wie
bizarr - nicht immer wohl. ›Ich bitte dich, mir zu folgen‹, nahm sie die Aufforderung der Kugel wahr. »Warum sollte ich das denn tun? Du hast meine Fragen noch nicht beantwortet.« ›Du wirst Antwort auf Fragen erhalten, die du niemals gestellt hast‹, orakelte die Lichtkugel. ›Möchtest du mir nicht folgen und den Wissensdurst stillen, den ich in dir pochen fühle?‹ »Vielleicht will ich das tatsächlich nicht«, erwiderte sie. ›O doch, du willst es. Jedes denkende Wesen strebt nach Mehrung seines Wissens. Auch du, Bevollmächtigte der Hirten.‹ Die Erwähnung der sieben Eckpfeiler der VaarenMythologie durchfuhr Lovrena wie ein Stromstoß. »Dann fang doch einfach damit an, meinen Wissensdurst zu stillen, indem du meine Fragen beantwortest. Hier und jetzt.« ›Erst wenn es an der Zeit ist.‹ »Es ist an der Zeit.« ›O nein. Noch nicht. Folge mir.‹ »Ich könnte dich von den Wachen aus meinem Palast entfernen lassen«, drohte sie. »Offenbar unterschätzt du meine Möglichkeiten - und das könnte tragisch für dich enden, wer oder was auch immer du bist.« Lachte die Kugel? Eine Flut seltsam abgehackter Bildimpulse durchflutete die Königin und verzerrte auch die Sicht durch das Wasser. Im nächsten Moment glitt die Kugel durch die Wand davon, um Augenblicke später an der entgegengesetzten Seite des Raumes wieder aufzutauchen, ›Könntest du das wirklich? Wer will mich fangen, wer mich halten? Niemand kann etwas fassen, das unfassbar ist.‹ Ihr entging nicht der Doppelsinn der Behauptung. »Und was ist, wenn ich dir nicht folge, namenloser Besucher?«
›Du wirst mir folgen. Du wirst mich - und auch dich selbst nicht enttäuschen.‹ Damit bewegte sich die Kugel auf die Tür zu, glitt hindurch und kehrte diesmal nicht wieder zurück. * Der Besucher hat Recht, erkannte Lovrena. Sie war neugierig! Also folgte sie ihm. Sie schwamm zur Tür, öffnete sie und erreichte den Korridor, an dessen Ende sie die Lichtkugel ausmachte. Das namenlose Etwas verschwand soeben um eine Biegung, und Lovrena musste sich beeilen, um aufzuschließen. Sie hatte zu lange gezögert, dem Besucher zu folgen. Aber schon nach kurzer Zeit erreichte sie ihn. Der fremde Eindringling ließ sich jetzt Zeit, aber er zeigte sich nicht mehr besonders auskunftsfreudig, reagierte auf keine der Fragen, die ihm Lovrena stellte. Es schien ihm völlig zu reichen, dass sie ihm wunschgemäß folgte. Wohin würde er sie führen? Der Palast war riesig, es gab erdrückend viele Räume, von denen die wenigsten wirklich benutzt wurden, und es gab endlose Gänge und Rampen von einer Etage zur anderen. Je weiter sie vordrangen, desto weniger Vaaren begegneten ihnen. Die Königin hatte sogar den Eindruck, als mache die Lichtkugel absichtlich weite Umwege, um anderen Vaaren aus dem Weg zu gehen. In der Tat waren die wenigen Begegnungen mitunter erschreckend. Einige Vaaren flohen entsetzt vor der Lichtkugel, andere versuchten, sie anzugreifen, weil sie ihre Königin in Gefahr glaubten. Lovrena musste sie jedes Mal mit all ihrer Autorität davon abhalten. Sie war nicht sicher, was geschehen würde, käme es tatsächlich zu einer Auseinandersetzung. So, wie die Lichtkugel
auftrat und sich zu bewegen wusste, war sie möglicherweise selbst den Vaaren weit überlegen. Die konnten nur verlieren, und das lag nicht in Lovrenas Interesse. Sie wollte keine Gewalt und keinen Tod, keine Verletzungen innerhalb ihres Palastes. Sie wollte grundsätzlich nicht, dass Vaaren verletzt wurden, ganz gleich von wem. Und weiter ging es... Weiter... Allmählich verlor Lovrena die Orientierung. Es bestürzte sie, ausgerechnet hier im Herzen ihres Reiches so in Konfusion zu verfallen. Der Besucher hingegen ging überaus zielstrebig vor. Schon bald befanden sie sich in einem Palastbereich, der ihr unbekannt war. Nie zuvor war sie hier gewesen. Es hatte auch nie ein Anlass dazu bestanden. Der Palast war älter, als ein Vaare zurückdenken konnte, und er war riesig, war immer wieder erweitert worden. Auch Lovrena hatte schon für neue Bereiche gesorgt. Es war einfacher, als alte Räume zu modernisieren. Man gab sie einfach auf, ließ sie leer stehen. Und was lange Zeit nicht mehr genutzt wurde, geriet allmählich in Vergessenheit. Es wurde auch immer dunkler. Die Lichtkörper, die die bewohnten Räume erhellten, waren längst verloschen und niemals erneuert worden. Nur der Eindringling selbst strahlte jetzt noch Helligkeit aus, die Lovrena dabei half, ihren Weg zu erkennen. Immer wieder fragte sie sich, was das für ein Wesen war, mit dem sie es zu tun hatte. Es hatte nichts Vaarisches an sich und glich auch keiner anderen Lebensform in Tovah’Zara, von der die Königin jemals gehört hätte. Und es gab der Arten viele, intelligente wie unintelligente. Die düsteren Gänge wurden enger, teilweise gewundener. Hier und da zeigten die Wandungen Risse. Auch das Wasser roch in diesem verlassenen Bereich bei weitem nicht mehr so frisch wie in den bewohnten Regionen. Es war alt. Alles deutete auf fortschreitenden Verfall hin. Vielleicht, überlegte die Königin, verfaulte und starb der
Palast von innen nach außen, von unten nach oben - so wie er umgekehrt immer wieder nach außen hin erweitert und damit verjüngt wurde. Eines Tages, dachte sie, wird all das hier vielleicht in sich zusammenbrechen und damit der gesamten Konstruktion den Halt rauben. Wenn der Kern schwindet, zerbirst auch die Schale. War es das, was der Besucher ihr zeigen wollte? Wollte er sie mit dieser Exkursion darauf aufmerksam machen, dass es nötig war, sich auch um die aufgegebenen Bereiche des Palastes zu kümmern und sie wieder zu stabilisieren? Aber dann hätte er Teil des Palastes, seines uralten Kerns, sein müssen, und irgendwie konnte sich Lovrena das nicht vorstellen. Nein, es war wohl höchstens ein Nebeneffekt dessen, was der Besucher bezweckte. Es gab ihr allerdings auch zu denken, dass er aufgetaucht war, kurz nachdem der Angriff der Erinjij auf Tovah’Zara abgewehrt worden war. Und dieser Angriff war erfolgt, nachdem der Mensch Cloud... Sie verdrängte den Gedanken. Das hier konnte nichts mit Cloud und den anderen Entführern eines der Jadeschiffe zu tun haben. Es ging hier um anderes, um viel mehr, als sie es sich vorstellen konnte. Das begriff sie, als sie das Ziel des Besuchers erreichten. Er öffnete eine Tür. Wie er es bewerkstelligte, entzog sich ihrer Wahrnehmung. Schließlich besaß die Lichtkugel keine Extremitäten, auch keine Nesselfäden, mit denen man Schalter oder Griffe betätigen konnte. Brauchte sie auch nicht, denn es war ihr ja möglich, alle feste Materie einfach zu durchdringen. Aber da Lovrena dazu nicht fähig war, war das unbekannte Wesen so zuvorkommend, für sie ein Tor zu öffnen. Er glitt voran und geradewegs in etwas hinein, das... ... die Königin entsetzte!
* Eine riesige Halle öffnete sich vor ihr. Sie war dermaßen gigantisch, dass mehrere Jadeschiffe gleichzeitig problemlos darin Platz gefunden hätten. Doch diese Halle wurde ganz sicher nicht als Schiffshangar benutzt. Sie diente einem völlig anderen Zweck. Lovrena selbst befand sich ebenso wie die Lichtkugel auf einer umlaufenden Galerie, von denen es gleich fünf gab, die in regelmäßigen Abständen stockwerkartig angeordnet waren. In der Mitte der Halle existierte eine pulsierende Kugel, die ähnlich wie der Lotse ständigen Farbwechseln unterlag, aber diese Wechsel erfolgten nicht synchron. Unten, am Boden der Halle, gab es eine Reihe von Schaltpulten und Ruhemöglichkeiten, die vaarentauglich waren - wie alles im Palast oder den Jadeschiffen. Kontrollbildschirme glommen, hier und da leuchteten Diagramme auf. An den Wänden glommen und blinkten Farbfelder. Sie signalisierten mit ihrem arhythmischen Blinken Informationen, die Lovrena nicht verarbeiten konnte, da sie den zu Grunde liegenden Kode nicht kannte. Sie verstand nur, dass es sich um ein leistungsstarkes Rechenzentrum zu handeln schien. »Wer hat das erbaut? Meine Vorfahren?« Die Frage war nicht an den Besucher gerichtet, und die Königin erwartete auch nicht wirklich eine Antwort darauf. Sie war wie erschlagen von dem Anblick. Und sie war entsetzt darüber, dass sie nie etwas von dieser Halle und ihren Kapazitäten gewusst hatte. Warum war dieses Wissen verloren gegangen? Oder hatte man es ihr, der Königin, bewusst vorenthalten? Aber aus welchem Grund? Was steckte dahinter? Der Lotse gab ihr auf diese Frage keine Antwort. »Du hast mich hierher gelockt mit dem Versprechen, mein
Wissen zu erweitern«, bedrängte sie ihn. ›Anderes Wissen‹, kam es von der Lichtkugel zurück, und übergangslos glitt sie von der Galerie in die Tiefe. Die Königin schwamm ihr nach, aber sie merkte sich genau, an welcher Stelle der mittleren Galerie sie diese Halle erreicht hatte. Für den Fall der Fälle... Immerhin musste sie damit rechnen, dass sie überrumpelt werden sollte. Der Besucher zeigte sich dermaßen rätselhaft, dass sie nicht vorsichtig genug sein konnte. Wenn es jemandem gelang, sie auszuschalten, auf welche Weise auch immer, war ihr Volk ohne Führung! »Von was für einer Art Wissen redest du?«, wollte sie wissen. ›Du wirst es erfahren.‹ Am liebsten hätte sie die Lichtgestalt gepackt und durchgeschüttelt. Dieses orakelhafte Verhalten missfiel ihr zutiefst. Warum konnte der Lotse nicht ein einziges Mal eine konkrete Aussage treffen? Sie begann, die verschwommenen Antworthäppchen zu hassen. Das Schlimmste war, dass sie keine Möglichkeit besaß, den Besuche r zu einer klaren Antwort zu zwingen. Wie sollte sie etwas zwingen, das im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar war? Inzwischen hatten sie beide den Boden der Halle erreicht. Aus dieser Perspektive wirkte sie noch viel gewaltiger. Lovrena entdeckte immer mehr Details, doch je mehr sie sah, desto mehr wurde sie davon verwirrt. Das hier ging... über ihren Verstand. Sie näherte sich einem der Schaltpulte. Die einzelnen Elemente waren beschriftet, mit Piktogrammen und auch ausführlicheren Hinweisen, aber in einer Art, wie sie sicher seit mehr als fünfzig Generationen nicht mehr verwendet wurden. Das passte zur altertümlichen Art, in der sich der Lotse ihr mitteilte. War er so alt wie diese Schriftzeichen und Symbole? Eine Lichtkugel... woraus bestand sie wirklich? War sie nur
eine Energieform? Ein vager, düsterer Verdacht keimte in ihr auf, als sie nach oben blickte und die große pulsierende Kugel in der Hallenmitte über sich schweben sah. Eine ins Aberwitzige vergrößerte Ausgabe ihres Lotsen? ›Wenn du wissen willst, handele‹, verlangte dieser. »Was soll ich tun?« ›Du weißt es doch.‹ Am liebsten hätte sie ihn für sein Reden gestraft. Was wusste sie denn schon von dem, was hier existierte? Gar nichts! »In welcher Beziehung stehst du zu dieser Anlage?«, fragte sie zornig. »Bist du ein Teil von ihr?« Der Besucher antwortete ihr einmal mehr nicht. »Ich lasse mich von dir nicht länger so behandeln«, sagte sie. »Ich werde diesen Ort wieder verlassen.« ›Dann wirst du nie erfahren, welches Wissen hier auf dich wartet‹, erwiderte das strahlende Etwas. Es hatte Recht, und sie musste diesen Köder schlucken. Natürlich konnte sie gehen. Sie fühlte, dass niemand sie daran hindern würde. Aber damit verzichtete sie auch auf die Informationen, deretwegen sie dem Lotsen gefolgt war! Ihre Neugier siegte, sie musste wissen, was es mit dieser unbekannten Anlage auf sich hatte. Und in ihr keimte die dumpfe Ahnung, dass sie diesen Ort zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie ihn jetzt im Zorn verließ, allein vielleicht nicht mehr wiederfinden würde. »Stimmt das?«, ließ sie den Besucher an dieser Überlegung teilhaben. ›Das kannst nur du selbst in Erfahrung bringen‹, wich er einmal mehr aus. ›Du wirst es wissen, hinterher!‹ Aber darauf wollte sie sich nicht einlassen. Jetzt nicht mehr, nachdem sie bis hierher vorgedrungen war. Nicht nur ihre Neugier, auch ihre Wut auf die Lichtkugel und deren Geheimniskrämerei ließen dies nicht zu.
Sie war jetzt hier, und sie wollte es jetzt wissen! »Was soll ich tun?«, fragte sie ein zweites Mal. ›Du weißt es doch‹, wiederholte der Besucher. Sie verfluchte ihn dafür. Aber er blieb unbeeindruckt. Langsam ließ die Königin sich in einem der Ruhesitze nieder... KLACK! ... und die Fesseln schnappten zu! * »Verrat!«, schrie sie auf und versuchte aufzuspringen, aber die Klammern hielten sie fest. Trotz ihrer körperlichen Variabilität war sie nicht in der Lage, sich daraus hervorzuwinden. Also doch eine Falle, in die sie gelockt worden war, verleitet durch ihre Neugierde! Was kam jetzt? Sie konnte nur abwarten. Die Anzeigen auf dem Schaltpult vor ihr veränderten sich. Steuerschalter kippten wie von selbst in neue Positionen. An den Wänden der Halle flackerten die Lichtfelder hektischer und veränderten ihren Rhythmus. Was geschah? Plötzlich kippte der Ruhesitz, in dem sie sich befand, in eine andere Position! Er sackte nach hinten weg, sodass Lovrena beinahe lag. Jetzt sah sie die große Kugel über sich. Die Kugel flackerte im gleichen Rhythmus wie die Farbfelder an den Wänden. Das Rechnerzentrum war von einem Moment zum anderen hochaktiv geworden! Den Lotsen, diese Lichterscheinung, konnte Lovrena nicht mehr ausmachen, aber die andere, größere Kugel schlug sie völlig in ihren Bann. Von ihr ging etwas aus, das die Königin
völlig einnahm. Sie merkte, wie ihr Denkvermögen nachließ, wie sie schläfrig wurde. Sie bäumte sich dagegen auf, versuchte sich zu wehren. ›Tu das nicht‹, drangen warnende Bilder zu ihr durch. Der Lotse! Er war immer noch da und überwachte das Geschehen, auch wenn Lovrena ihn in ihrer jetzigen Lage nicht mehr sehen konnte. Oder war er doch verschwunden, und die Warnung kam aus der Riesenkugel? ›Wehre dich nicht dagegen! Du machst es dir nur unnötig schwer.‹ Aber solange sie nicht wusste, was mit ihr geschah, musste sie sich doch dagegen wehren! Sie kämpfte. Auf verlorenem Posten. Ihr Widerstand schrumpfte. Das andere, das auf sie eindrang, war zu stark. Es übernahm mehr und mehr die Kontrolle. Lovrenas Sinne schwanden. Und stattdessen kam etwas ganz anderes... * Wissen strömte auf sie ein. Informationen. Ihr Unterbewusstsein sog alles auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Sie wurde geradezu überflutet. Der Besucher hatte nicht zu viel versprochen. Sie erhielt Antworten auf Fragen, die sie niemals gestellt hatte. Sie erfuhr Dinge, die sie niemals hatte wissen wollen. Das Wissen manifestierte sich in ihr. Wissen, das von der Gegenwart bis tief in die Vergangenheit reichte. Bis hin zu den Anfängen Tovah’Zaras. Bis zu dem Moment, an dem dieses fantastische Gebilde geschaffen und besiedelt worden war... Und irgendwann hörte der Strom an Informationen auf.
Der Sitz kippte wieder in die Normallage zurück. Die Fesseln lösten sich. Königin Lovrena erwachte. Als Wissende. Sie erwachte wie aus einem tiefen Traum und fühlte sich wie erschlagen. Nur langsam fand sie in die Wirklichkeit zurück. Tausende von Gedanken und Erinnerungsbildern wirbelten durch ihr Bewusstsein; Dinge, die sie erst einmal verarbeiten musste. Wissen! Sie hatte Wissen empfangen. Und sie musste damit fertig werden. Zugleich ahnte sie aber auch, dass dieses Wissen ihr künftiges Handeln bestimmen würde. Und sie dachte daran, dass es vielleicht besser für sie gewesen wäre, hätte sie ihrer Neugier nicht nachgegeben. Doch sie hatte getan, was sie hatte tun müssen. Sie hätte sich sonst für den Rest ihres Lebens Vorwürfe gemacht, weil sie niemals erfahren hätte, was wirklich auf sie wartete. Jetzt wusste sie es. Und vielleicht wären die lebenslangen Selbstvorwürfe die bessere Lösung gewesen... Griff nicht die Vergangenheit nach der Gegenwart? Sie schüttelte sich verwirrt und erhob sich aus dem Sitz. Ein paar schnelle Bewegungen brachten sie mehrere Vaarenlängen davon weg. Sie sah sich um. Wo war ihr geheimnisvoller Lotse? Sie konnte ihn nirgendwo mehr entdecken. Er war spurlos verschwunden. Ein Blick nach oben - die riesige Kugel war farblos geworden, war kaum noch vom umgebenden Wasser zu unterscheiden. Lovrena konnte durch das Gebilde hindurchschauen. Der Hintergrund wirkte zwar verschwommen, als sei das Wasser heiß und brodelnd, aber... Die Anzeigen des Scha ltpults waren erloschen, und die Farbfelder an den Wänden leuchteten nun beständig, wechselten nicht mehr. Alles war vorbei. Erledigt. Die gigantische Anlage hatte ihre Aufgabe erfüllt. Sie hatte der Königin Wissen vermittelt und sich dann selbst wieder
heruntergefahren in Warteposition. Warten worauf? Auf den nächsten Kandidaten? Auf die nächste Königin der Vaaren? Um ihr ebenfalls diese Flut an Wissen aufzubürden? Nein, es musste etwas anderes sein. Wenn sich ein Vorgang wie dieser in den letzten Generationen auch nur einmal abgespielt hätte - Lovrena hätte davon erfahren. Sie war, dessen war sie überzeugt, seit Ewigkeiten die Erste, die von dieser radikalen Wissensübermittlung betroffen war. Mit ein paar raschen Schwimmbewegungen begab Sie sich weiter nach oben. Noch einmal sah sie sich um. Und sie bemühte sich auch, sich den Weg hierher einzuprägen, um dieser Anlage später noch einmal einen Besuch abstatten zu können. Sie musste herausfinden, was es mit diesem Rechnerzentrum auf sich hatte, mit diesem gigantischen Wissenshort. Irgendwann, aber nicht jetzt. Etwas drängte sie, diesen Bereich wieder zu verlassen. Etwas zu tun. Es gab drängende Probleme. Sie musste auch damit rechnen, dass die Erinjij irgendwann abermals angriffen, und dann vielleicht mit Mitteln, die selbst Tovah’Zara gefährlich werden konnten. Und da war noch die andere Sache. John Cloud. Der Mensch, der mit seinen Gefährten und Rurkkas verräterischer Unterstützung eines der Jadeschiffe in seine Gewalt gebracht hatte. Um die Entführer musste sie sich jetzt vordringlich kümmern. Sie waren eine Gefahr für ganz Tovah’Zara. Sie schwamm hinauf zu der Stelle der mittleren Galerie, an der jener Gang mundete, durch den sie diese riesige Halle unter Führung der Lichtkugel erreicht hatte. Sie war froh, dass sie sich die Stelle genau gemerkt hatte. Es wäre fatal gewesen, kostbare Zeit damit verschwenden zu müssen, nach dem richtigen Ausgang zu suchen. Sie verließ die Halle. Und mit
traumwandlerischer Sicherheit fand sie den Weg zurück durch die Tiefen des vom Zerfall bedrohten alten Palastes. Aber etwas gegen diesen traurigen Zerfall zu tun, war nun mehr als zweitrangig geworden. * Der Lotse hatte seinen Dienst getan. Er hatte die Königin der Vaaren dem Wissen nahe gebracht. Nur das war seine Aufgabe gewesen. Danach wurde er aufgegeben. Das war Inhalt des Programms. Dieses Programm war in ferner Vergangenheit angelegt worden. Es war uralt - so alt wie Tovah’Zara selbst. Über die ganze lange Zeitspanne hatte dieses Programm in den Datenbänken des Rechnerzentrums »geschlafen«. Erst jetzt war es aktiviert worden. Durch den Angriff der Erinjij auf das Reich der Vaaren. Der Angriff hatte uralte Schaltungen und Subprogramme aufgerufen und dann zur Aktivierung dieses Programms geführt. Das Rechenzentrum sandte die Lichtkugel aus, um zu tun, was getan werden musste. Und nun würde die Königin tun, was getan werden musste. Sie war Erfüllungsgehilfin eines Willens, der so alt war wie die, die man die Sieben Hirten nannte. Und alles geschah so, wie es für einen Fall wie diesen einen Angriff von außen - vorgesehen war... * Lovrena ließ sich informieren, welche Bewegungen das entführte Jadeschiff innerhalb Tovah’Zaras vornahm. Es bestürzte sie, dass die DAALGOR ihren Kurs noch nicht geändert hatte. Das Schiff war allen Verboten, allen Tabus zum Trotz in den
Heiligen Bezirk eingedrungen! Lovrena fragte sich, ob das alles noch Zufall sein konnte. Das Auftauchen Clouds, der Angriff der Erinjij, der unerwartete Wissenstransfer... irgendwie passte das alles zusammen. Und sie fühlte, dass es in einer Katastrophe münden musste. Sofern sie nicht ihr neu erworbenes Wissen einsetzte. Aber würde das reichen? Unberechenbar blieb das Verhalten der anderen Beteiligten dennoch auch weiterhin. Sie hatte den Menschen - Erinjij! Cloud kennen gelernt. Sie wusste, dass sie ihn und sein Handeln nur teilweise kalkulieren konnte. Die Spezies, der er angehörte, war für jede böse Überraschung gut. Das Jadeschiff musste gestoppt werden. Um jeden Preis! Die Erinjij durften nicht entdecken, was sich im Heiligen Bezirk verbarg... Also nahm sie Verbindung mit den Frevlern auf...
1. Nach wie vor stand die Funkverbindung zwischen dem Rochenschiff und der Vaaren-Königin. In der DAALGOR sahen sich John Cloud und seine menschlichen Begleiter kopfschüttelnd an. Was hatte Lovrenas Drohung zu bedeuten? »Verlasst sofort den Heiligen Bezirk! Ergebt euch - sonst wird geschehen, was ihr nie wieder gutmachen könnt!« Was wollte Lovrena ihnen damit über das Ultimatum hinaus zu verstehen geben? Cloud wandte sich wieder dem Funk und damit Lovrena zu einer grazilen, beinahe filigranen Gestalt, die trotz ihrer Exotik eine vollendete Schönheit war. Wieder einmal stellte sie sich selbst auf diesem Weg der Fernkommunikation - ihren
Betrachtern menschenähnlich dar. Aber Cloud wusste längst, dass dieses Bild täuschte. »Lässt sich das vielleicht auch etwas konkreter formulieren?«, fragte er. Rurkka, der abtrünnige ehemalige Protogestalter der Luuren, übersetzte. Eigentlich hatte Cloud nicht wirklich damit gerechnet, dass Lovrena darauf reagierte, aber die Königin konkretisierte ihre Drohung tatsächlich. In ihrer eigenartigen, semitelepathischen Bildsprache, die für die Funkübertragung in Lautsprache umgewandelt wurde, schien sie sich direkt an Cloud zu wenden. Rurkka übersetzte auch jetzt. »Du hast gesehen, was wir mit deinen angeblichen Verfolgern gemacht haben«, äußerte sich die Vaaren-Königin. Cloud begriff: Sie meinte die Raumschiffflotte, die den Aqua-Kubus angegriffen hatte und blutig zurückgeschlagen worden war. »Ich habe dir gezeigt, wie wehrhaft wir sind. Solltet ihr euch nicht binnen eines crekk stellen und den Heiligen Bezirk verlassen, nimmt der Kubus Kurs auf bewohnte Welten und wird sie gnadenlos zerstören. Dies ist keine leere Drohung, dies ist die reine Wahrheit! Ihr werdet teuer für euren Frevel bezahlen. Die Zurückhaltung der Vaaren, die sich über Äonen nicht um das Geschehen in der Galaxis gekümmert haben, endet mit Ablauf meines Ultimatums - danach gibt es einen unversöhnlichen Richter, der eure Taten ve rfolgen wird. Ihr ahnt ja nicht, woran ihr gerührt habt. Niemand darf die Ruhe der Hirten stören!« Tief atmete Cloud durch. Dabei sog er Wasser ein, ohne es wirklich zu merken; die Protomaschinen, die ihm eingepflanzt worden waren, sorgten dafür, dass er auch in dem wassergefüllten Raumschiff leben und »atmen« konnte. Bei Scobee, Jarvis und Resnick war es nicht anders. Er entsann sich der erschreckenden Bilder angreifender Rochenschiffe, die die Raumer der Erdflotte dezimiert hatten.
Draußen vor dem Aqua-Kubus, diesem eigenartigen, unglaublich erscheinenden süßwassergefüllten Würfel von einer Lichtstunde Kantenlänge, dessen Begrenzungen aus purer Energie bestanden. Die Ecken dieses Kubus wurden von Feldschirmgeneratoren markiert. Sie waren wie die Kantenschützer eines Glaswürfels positioniert. Die Energiewände sorgten dafür, dass das Wasser nicht entweichen konnte. Wasser, von einem diffus grünen Lichtschein durchdrungen und auch sonst zweifelsfrei unter dem Einfluss unbekannter Kräfte stehend, denn der bloße Wasserdruck hätte in diesem gigantischen Gebilde eigentlich jedes Objekt zerquetschen müssen. Stattdessen befanden sich Planeten, Monde und sonstige Gebilde innerhalb von Tovah’Zara, wie die Bewohner diesen absurden Ort nannten. Viele dieser Körper waren mit riesigen bizarr- fremdartigen und von High- Tech geprägten Korallenstrukturen umkrustet, in denen es von Leben nur so wimmelte. Draußen im freien Weltraum war eine irdische Raumflotte aufgetaucht und hatte den Aqua-Kubus angegriffen. Doch die Waffen der Erdschiffe hatten das Energiefeld nicht durchdringen können, das Tovah’Zara umgab und zusammenhielt. Die Waffen der Rochenschiffe, welche Königin Lovrena den Erinjij entgegenschickte, hatten diesen Schirm hingegen von ihrer Seite aus mühelos durchdrungen, ohne ihn dabei in seiner Wirkung zu beeinträchtigen. Dabei hatten sie die Angreifer gewaltig dezimiert und in die Flucht geschlagen. Ja, Lovrena hatte den angreifenden Menschen gezeigt, wie wehrhaft die Vaaren sein konnten, die ihren Lebensraum verteidigten! Ihre Drohung, den gesamten Aqua-Kubus als Waffe gegen alles und jeden einzusetzen, flößte ihm Entsetzen ein, aber gleichzeitig stellte sich ihm die Frage, ob die Rochenschiffe selbst den Kubus gar nicht verlassen konnten und dieser deshalb aus seinem bisherigen stellaren Kurs herausbewegt
werden musste, um andere Ziele angreifen zu können. Narr!, schalt er sich selbst. Dieses Detail ist völlig irrelevant gegenüber der Drohung insgesamt! Ebenso irrelevant war die Frage, ob der Kubus überhaupt gezielt gesteuert werden konnte - und welche ungeheure Energiemenge dafür benötigt wurde. Wenn die Königin eine solche Drohung aussprach, glaubte er, verfügte sie gewiss auch über die Möglichkeit, sie wahr werden zu lassen. ... solltet ihr euch nicht binnen eines crekk stellen und den Heiligen Bezirk verlassen... Cloud wandte sich dem Ersten Verwerter der Luuren zu, dem ehemaligen Herrn über die Protowiesen, auf denen alle Technik innerhalb Tovah’Zaras fußte. »Wie lange dauert ein crekk?«, fragte er. »Nicht lange. Etwa zwei deiner Stunden«, erwiderte der abtrünnige Protoschöpfer. * Zwei Stunden! Zweimal sechzig Minuten! Eine verdammt kurze Frist. Und die Uhr lief. Die Minuten verstrichen bereits in kalter Grausamkeit. Die Zeit kümmerte sich nicht um Lebewesen und deren Gedanken, Wünsche, Hoffnungen oder Träume. Sie verging einfach. Scobee, die einzige Frau an Bord - sah man von den Vaaren ab, deren Geschlecht sich für einen Menschen nur spezifizieren ließ, wenn die Vaaren diesem zuarbeiteten, indem sie entsprechende Form annahmen - wandte sich an Rurkka. »Was erwartet uns alle, wenn wir uns ergeben?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht«, gestand das Wesen, das einem irdischen Salamander ähnelte, nur sehr viel größer war. »Sicher wird man uns nicht töten. Denn das könnte man einfacher haben, indem man unser Schiff torpediert. Aber es gibt im Kubus... Strafen.
Strafen, gegen die der Tod noch das kleinste Übel ist.« »Was bedeutet das?«, hakte Cloud nach, als Rurkka in Schweigen verfallen wollte. Der Wasseratmer wand sich. Erst nach einer zweiten Aufforderung, diesmal von GT-Jarvis, bequemte er sich dazu, etwas von seinem Wissen preiszugeben. Er berichtete von den Gettos, in denen seinem Bekunden nach fremde Intelligenzen wie in einem gigantischen Zoo gehalten wurden, nachdem man sie an die Lebensbedingungen im Kubus angepasst hatte. Dort würden sie zur Schau gestellt wie Tiere - und auch entsprechend behandelt. »Was sind das für Wesen?«, fragte Scobee neugierig. »Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie gesehen, nur davon gehört«, gestand Rurkka. Cloud war etwas erleichtert. Sie hatten, auch ohne diesbezügliche Details zu kennen, schon genug eigene Probleme. Zum Beispiel, wie ernst die Vaaren-Königin ihre Drohung meinte. Wie beweglich der Aqua-Kubus tatsächlich war. Wenn er alles richtig begriffen hatte, bewegte sich der Kubus geradezu auf Schleichfahrt durch den Weltraum. Cloud schätzte die Geschwindigkeit auf etwa 10.000 Kilometer pro Sekunde. Um bei diesem Tempo andere bewohnte Lebensräume zu erreichen, um sie anzugreifen, würde es Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende dauern. Bis dahin existierten die dortigen Zivilisationen vielleicht schon längst nicht mehr, hatten sich entweder selbst zerstört - oder waren von den Kriegsraumern der Erde vernichtet worden... Die irdischen Schiffe... Immer noch machte der Gedanke daran ihm zu schaffen. Es fiel ihm schwer, zu begreifen, dass es offensichtlich Menschen der Erde waren, die hier draußen im Weltraum mörderische Schlachten ausfochten, andere Welten überfielen, vernichteten oder unter ihre Herrschaft zwangen. Menschen, die bei den
anderen galaktischen Völkern verhasst waren. Doch damit konnte er sich noch eher abfinden als mit diesem wassergefüllten Gebilde im All. Aber die Königin hatte ausdrücklich gesagt, dass sich der Aqua-Kubus in Marsch setzen würde - nicht etwa nur die Rochenschiffe der Vaaren. Der Kubus! Welche gigantischen Energiemengen mussten aufgewandt werden, um ihn zu beschleunigen oder seinen Kurs auch nur minimal zu ändern? Wenn er erst einmal mit einer bestimmten Geschwindigk eit flog, war das einfach. Aber die träge Masse zu beschleunigen, diese gigantische Masse mit einem entsprechenden Impuls zu versehen... Es ging über Clouds Verstand hinaus. Ein Würfel von einer Lichtstunde Kantenlänge! Gefüllt mit Wasser, mit Planeten und Monden - also ein massives Gebilde! Ein Gebilde, in dem Raumkörper »schwammen« - und deren Masseträgheit ebenfalls überwunden werden musste! Cloud war in diesem Moment nicht sicher, ob der Impuls, der den wassergefüllten Kubus bewegte, auch die darin »schwimmenden« Objekte mitbewegen würde, oder ob jedes von ihnen einen eigenen Impuls erhalten musste. Eigentlich wollte er es auch gar nicht wissen. Der Gedanke an sich war schon erschreckend genug, man musste ihn nicht noch mit Details vertiefen. Auch wenn er als Astronaut diese physikalischen Details kennen musste, so verdrängte er sie angesichts der damit einhergehenden Drohung lieber. Andererseits: Selbst wenn dieses gigantische Etwas bis auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden konnte wann würde es sein erstes Ziel erreichen? Wie weit war das nächste Sonnensystem mit bewohnten Planeten entfernt? Ein Lichtjahr? Zehn? Dreißig? Abgesehen davon war da noch die temporale Verzerrung im hochrelativistischen Geschwindigkeitsbereich... im Aqua-Kubus würde also die Zeit um so schneller vergehen, desto schneller er wurde - während
sie draußen im normalen Weltraum ganz normal weiterlief. Wenn hier zehn Jahre vergingen, verstrichen im Kubus vielleicht deren zehntausend. So sprach Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie. Aber zumindest dieses Problem schienen die raumfahrenden Zivilisationen der Galaxis überwunden zu haben. Andernfalls hätte der interstellare Flugverkehr auch sonst wenig Sinn ergeben. Cloud brauchte nur an die Probleme zu denken, die irdische Wissenschaftler schon im vergangenen Jahrhundert aufgeworfen hatten. »Wie ernst die Königin ihre Drohung meint?«, wiederholte Rurkka die Frage bedächtig. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Ich bin Luure. Mein Wissen um die Vaaren, die uns knechten, und ihre technischen Möglichkeiten ist begrenzt. Ich bin nicht darüber informiert, welche Mittel sie besitzen, Tovah’Zara zu steuern und zu beschleunigen. Falls sie es überhaupt vermögen.« »Das hilft uns ja unheimlich weiter«, seufzte Cloud. Er winkte den GenTecs und Darnok zu, der der Unterhaltung über eine abgeschirmte Holo-Funkverbindung aus seinem Karnut heraus folgte. Der Keelon war nach wie vor Luftatmer und konnte sich nicht ohne Schutzanzug in der DAALGOR bewegen. Vermutlich wollte er es momentan auch gar nicht und verblieb deshalb in seinem eigenen Raumfahrzeug, das sich in einem Hangar des Rochenschiffs befand. Sie achteten darauf, dass Kommandant Golgerd und die anderen Vaaren nichts von ihrer kurzen Beratung mitbekamen. Keiner von ihnen war daran interessiert, dass die Vaaren einmal mehr - wie schon des Öfteren seit Erreichen des Heiligen Bezirks - in Panik ausbrachen. »Was meint ihr?«, fragte Cloud. Er sah Scobee, Jarvis, Resnick und über die Holo-Verbindung den Keelon an. »Wollt ihr euch lieber dem Ultimatum beugen?« Resnick tippte sich an die Stirn. »Ich schätze, wir denken
alle dasselbe. Ich glaube nicht, dass der Kubus wirklich lenkbar ist.« »Aber die Königin dürfte wissen, dass ihre ganze Autorität verpufft, wenn sie nicht unter Beweis stellen kann, dass ihre Drohung einen realen Hintergrund hat«, gab Cloud zu bedenken. Er hatte sie immerhin aus nächster Nähe und sehr intensiv kennen gelernt. Er hielt es für durchaus möglich, dass sie ihre Drohung in die Tat umsetzen konnte, auch wenn momentan noch jede Wahrscheinlichkeit dagegen sprach. »Gut, vielleicht kann sie das Tempo ein wenig erhöhen, vielleicht kann sie sogar eine Kursänderung bewirken«, sagte Resnick. »Aber so wie ich es sehe, wird dieses Ding frühestens in hundert oder tausend Jahren zur Bedrohung für irgendein Volk.« Er tat, als spucke er auf seine Handfläche und schleudere die Spucke dann über die Schulter hinter sich. »Und ob dann hier exakt diese Königin noch das Sagen hat, wage ich mal ganz dreist zu bezweifeln. Bis dahin haben andere längst vergessen, worum es dieser Lovrena einmal ging.« »Du bist also dafür, dass...« »Wir sind alle dafür«, unterbrach ihn Scobee, »dass wir das Ultimatum verstreichen lassen und statt dessen tiefer in den Zentrumsbereich eindringen, statt den Heiligen Bezirk brav wieder zu verlassen und uns in die nicht sehr wohl gesonnenen Hände der Vaaren zu begeben.« »Darnok?«, fragte Cloud. Der Keelon signalisierte Zustimmung. Damit war die Entscheidung gefallen. Sie gaben nicht auf. Sie führten weiter, was sie einmal angefangen hatten. »Antworten wir der Königin?« »Nein«, sagte Scobee. »Was sie sieht, wird Antwort genug sein.« Das war der Moment, in dem Resnick zusammenbrach.
2. Drei Lichttage vom Aqua-Kubus entfernt stand die HAMM antriebslos im Raum. Die Triebwerke befanden sich im Standby-Modus. Schutzschirm und Waffensysteme waren voll aktiviert und konnten jederzeit eingesetzt werden. Kommandant Imre Vereb hatte sich im Kommandosessel zurückgelehnt und die Beine ausgestreckt. Seine Arme lagen auf den Seitenlehnen, die Hände in der Nähe der Schaltflächen. Die entspannte Haltung des Kommandanten täuschte. Er war wachsam - trotz der Entfernung zum Kubus, der sich ihm in der großen holografischen Darstellung zeigte, die sich vor dem Kommandopult über die ganze Frontseite der Kommandozentrale aufspannte. Vereb hatte gesehen, mit welcher Vehemenz die Rochenschiffe aus dem Kubus zugeschlagen hatten, sogar ohne diesen zu verlassen. Sie hatten einfach durch die Energiewand gefeuert, die umgekehrt für die Strahlwaffen und Torpedos der Erdflotte undurchdringlich war. Vereb beabsichtigte nicht, sein Schiff in Gefahr zu bringen. Die bisherigen Verluste reichten ihm völlig aus. Er hatte gewarnt, aber der Master hatte Verebs Bedenken ignoriert. So hatten sie bei dem gescheiterten Angriff Schiff um Schiff verloren, bis der Master endlich den Rückzug befahl. Ein Rückzug, der eher einer heillosen Flucht glich denn einem geordneten Manöver. Anschließend hatte der Master angeordnet, dass Vereb mit seiner HAMM auf Beobachtungsposition blieb. Vereb und seine Mannschaft hatten bisher über 20 Gefechte überstanden, ohne selbst auch nur einen einzigen Treffer einzufangen. Bis vor kurzem hatte Vereb einen Verband von 15 Raumern kommandiert, von denen es jetzt, nach dieser Schlacht, noch 3 gab, die aber nicht mehr unter seinem Befehl standen. Der Master hatte das Oberkommando übernommen.
Zuvor war Vereb angewiesen worden, die Reste seines Verbands mit denen der übrigen Flotte zusammenzuschließen. Er sah es nicht als Degradierung, dass er mit seinem Schiff als Beobachtungsposten zurückgelassen worden war, während die anderen davongekommenen Schiffe diesen Sektor auf Weisung des Masters verlassen hatten. Es zeugte eher von dem Vertrauen, das man in ihn setzte. Die Erde wollte wissen, was in dem abstrusen Kubus geschah. Warum? Man hatte es ihm nicht erklärt. Der Befehl, den Aqua-Kubus anzugreifen, war von Master-Ebene aus erfolgt. Vereb fragte sich, was das Flottenkommando dazu bewog, einen derartig extremen Aufwand zu betreiben, nur um ein paar Flüchtlinge in einem winzigen Schiff in die Gewalt zu bekommen. Ein Aufwand, der Dutzende von eigenen Schiffen gekostet hatte! Wieso waren diese Flüchtigen so wichtig, dass kein Opfer zu groß erschien, sie in die Gewalt zu bekommen? Dass er hier die Beobachtungsposition einnahm, ließ ihn ahnen, dass der fehlgeschlagene Angriff nicht die letzte Aktion sein würde. Wahrscheinlich arbeitete der Master bereits einen neuen Angriffsplan aus. Mir kann das auch egal sein, dachte Vereb. Solange der Plan nicht dazu führt, dass auch mein Schiff zerstört wird und meine Mannschaft stirbt. In die Holografie wurden immer wieder Daten eingeblendet, Koordinatenlinien entstanden und wurden wieder gelöscht, leuchtende Symbole in unterschiedlichen Farben signalisierten wichtige Punkte und Ereignisse. Zahlengruppen und Erläuterungen ergänzten die Wiedergabe. Die Ortungssysteme der HAMM scannten den Kubus unablässig. Die Ergebnisse wurden protokolliert und gespeichert. Im Gegensatz zu den Waffen der Erdflotte bot die Energiewand, die den Kubus zusammenhielt und schützte, den Ortungsimpulsen keinen Widerstand. Die Ergebnisse kamen
klar und deutlich herein, als gäbe es die Energiewand nicht und als sei das Innere des Kubus normaler Weltraum. Aber das war es nicht... Kommandant Vereb fragte sich, was geschehen wäre, wenn die Kampfstrahlen der Erdflotte die Energiewand durchschlagen und zerstört hätten. Da drinnen befand sich Wasser! Wasser, das nicht durch die Weltraumkälte zu einem gigantischen Block gefroren war, aber hätte es nicht sofort an den Einschussstellen gefrieren müssen, sobald es mit dem freien Raum in Berührung kam? Nein, die Strahlenergie hätte es teilweise verdampft, aber dennoch wären dann hinausströmende Reste anschließend zu Eisblöcken geworden, zu Meteoritens chauern... Und dann? Vereb schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Alles war nur Spekulation. Es hätte so, aber auch anders verlaufen können. Es gab hier keine Erfahrungswerte. Mit einem solchen Gebilde hatten die Menschen es niemals zuvor zu tun gehabt. Aber einmal war immer das erste Mal... Und über kurz oder lang wäre der Aqua-Kubus sicher auch ohne die Jagd auf die Flüchtigen entdeckt worden. Das hätte ebenfalls zur Konfrontation geführt. Die Erde war mächtig; wer sich nicht unterwarf, war Feind und wurde ausgeschaltet. Imre Vereb betrachtete nachdenklich die Holografie. Sie zeigte auch das Raumschiff, in dem sich die Flüchtigen befanden, als Symbol. Es bewegte sich weiter in Richtung Kubus-Zentrum. Vereb fühlte Unbehagen, ohne zu wissen, woher es kam. Aber irgendetwas lief nicht so, wie es eigentlich hätte laufen sollen. Die Entwicklung gefiel ihm nicht. Aber was sollte er dagegen tun? Er war nur ein kleines Rad im Getriebe. So ließ er weiter beobachten und Daten sammeln.
* Resnick taumelte, stöhnte auf und suchte irgendwo Halt. Aber er fand nichts und sank in sich zusammen. Sein Gesicht war verzerrt. Sofort waren Scobee und Jarvis bei ihm. »Was ist los mit dir?«, stieß Jarvis hervor. Resnick stöhnte nur erneut. Er schloss die Augen. Scobee und Jarvis versuchten, ihn wieder in eine aufrechte Position zu bringen. Aber er sank erneut in sich zusammen. Wachsam und ratlos verfolgte Cloud das Geschehen. Was war mit dem GenTec? Ein Schwächeanfall? Das war einfach unglaub lich. Die Klone waren genetisch »verbessert«, um körperliche Beanspruchungen besser verkraften zu können als normale Menschen. Und bisher hatten die drei ihre Überlegenheit auch immer wieder unter Beweis gestellt und Dinge vollbracht, die Cloud völlig unmö glich gewesen wären. Aber das hier? Dieser Zusammenbruch? Da stimmte doch etwas nicht! »Ein Angriff?«, fragte Rurkka nervös. »Sollte das schon die Reaktion der Königin sein...?« Cloud winkte ab. »Unsinn.« »So sehe ich es nicht«, widersprach der Luure. »Du bist fremd hier. Du weißt nicht, wozu sie fähig ist. Du kennst ihre Macht nicht.« »Lovrena kocht auch nur mit Wasser«, entfuhr es Cloud. Scobee und Jarvis schmunzelten verhalten. Selbst Resnick zwang sich ein Lächeln ab. Und Rurkka war völlig verwirrt. Mit Wasser kochen - in einer Welt, in der jeder Kubikmillimeter freien Raumes mit Wasser gefüllt war, in der Planeten im Wasser trieben... Allein die Vorstellung war schon grotesk. »Eine alte irdische Redensart«, brummte Cloud. »Lasst mich sehen«, verlangte Rurkka. »Vielleicht kann ich
eurem Gefährten helfen.« »Ich brauche keine Hilfe«, presste Resnick verbissen hervor. Diesmal schaffte er es von selbst, sich aufzurichten, aber man sah ihm die Anstrengung an. »Es geht schon wieder. Lasst mich in Ruhe.« »Du solltest seiner Untersuchung trotzdem zustimmen«, bat Cloud. »Sag jetzt bloß nicht, das sei ein dienstlicher Befehl, Ex«, knurrte der GenTec verdrossen. »Dann lach ich mich tot.« Resnick erholte sich zusehends. Cloud war nicht sicher, ob er darüber erleichtert sein sollte. Jarvis wirkte etwas verunsichert, und in Scobees Augen glaubte Cloud die gleiche Verunsicherung zu lesen. Er sollte sich wirklich von Rurkka untersuchen lassen, dachte Cloud. Rurkka als »Meister der Materie« besaß die besten Voraussetzungen, im Körper des GenTecs eventuelle Schwachpunkte zu erkennen - und sie möglicherweise sogar zu beheben? Aber er konnte Resnick nicht dazu zwingen. Das konnten vielleicht Scobee und Jarvis, Klone wie er. Aber sie taten es nicht. * Die DAALGOR mit Darnoks Karnut an Bord drang tiefer in den Zentrumsbereich ein, in jenen Bezirk, der von den Vaaren als heilig verehrt wurde. »Funkkontakt«, meldete einer der Kubusherren plötzlich. »Anruf akzeptieren«, sagte Cloud, noch ehe der eigentliche Kommandant des Rochenschiffs, Golgerd, reagieren konnte. Rurkka beeinflusste den vaarischen Funker entsprechend, dass er dem Menschen Cloud unverzüglich gehorchte. Wenn wir Rurkka nicht an Bord hätten, hätten wir wohl kaum Kontrolle über auch nur einen Vaaren, dachte Cloud.
Die seltsamen, formvariablen Geschöpfe lenkten das Rochenschiff mittels ihrer Psi-Kräfte - das Jadeschiff, wie sie es selbst, seiner Farbe wegen, nannten. Das Aussehen dieser aus Protomaterie geschaffenen Schiffe erinnerte Cloud an die als Mantas bekannten irdischen Meeresbewohner. Das Holo-Bild wurde aufgebaut. Erst auf den zweiten Blick erkannte Cloud die Königin. Diesmal zeigte sie sich in ihrem wirklichen Aussehen, das eine namenlose Angst in ihm schürte. »Wo ist Rurkka?«, fragte sie. Sie wirkte wie eine Ballung dünnster, sich schlängelnder Fäden. Cloud war inzwischen sicher, dass die Vaaren und auch der Luure die Worte der Königin ganz anders aufnahmen als er und die GenTecs - oder auch als Darnok. »Ich bin hier.« Der Gestalter bewegte sich in den Aufnahmebereich der optischen Sensoren. So konnte Lovrena ihn ebenso sehen, wie die Wesen an Bord der DAALGOR die Königin sahen. »Ah, Rurkka... Meister der Materie, Schöpfer, Altersweiser, Erster Verwerter...« So, wie es übersetzt wurde, klang starker Zynismus durch. Die Königin wollte den Luuren durch die Aufzählung seiner Titel nicht ehren, sondern verhöhnen. »Ich sehe dich, Verräter.« »Ich bin kein Verräter!«, wehrte der Luure ab. »Du hast ein Jadeschiff gestohlen und unterstützt den Frevel, tiefer in den Heiligen Bezirk einzudringen. Warum hast du sie nicht wenigstens davon abgehalten?« Rurkka fiel regelrecht in sich zusammen. Er suchte nach einer Antwort, fand aber keine. Cloud wollte einspringen und den Luuren verteidigen, wollte alle Schuld auf sich ziehen. Aber es war bereits zu spät. Die Königin sprach. »Ich verkünde das Urteil, das ich über dich gefällt habe, Verräter Rurkka. Es lautet auf sofortigen Tod. Du wirst unverzüglich sterben.« »Nein!«, keuchte der Luure entsetzt auf.
»Königin!«, protestierte Cloud. »Das ist nicht gerecht. Rurkka ist...« »... ein Verräter. Und ihr seid Frevler. Die Zeit der Gespräche ist vorbei. Jetzt folgen Taten«, drohte Lovrena. »Ihr habt gegen uralte Gesetze verstoßen...« »Die wir nicht kannten!«, schrie Scobee ihr entgegen. »Die ihr ignoriert habt, obwohl ich euch aufforderte, umzukehren«, fuhr die Königin fort. »Rurkka wird sterben. Und auch euch wird das Schicksal nicht verschonen. Ihr habt es herausgefordert, nun tragt die Konsequenzen.« Die Funkverbindung erlosch. »Wieder herstellen«, befahl Cloud. Aber Rurkka gab die Anweisung nicht weiter. Er schwankte davon. Cloud folgte ihm. »Warte«, bat er. »Was ist los mit dir? Was kann sie dir schon anhaben, so lange wir uns erfolgreich ihrer Reichweite entziehen? Sie hat dich zum Tod verurteilt, schlimm genug, ja, aber um das Urteil auszuführen, muss sie dich erst einmal in ihre Gewalt bringen.« »Das bin ich«, stöhnte der Luure. »Überall... Du weißt doch nichts...« * Cloud sah, wie das salamanderähnliche Wesen auf alle viere niedersank und bodennah dahinglitt. Verdammt, dachte er. Erst macht Resnick fast schlapp, jetzt nimmt sich Rurkka seine Krise - das kann doch wohl nicht wahr sein! Mit ein paar schnellen Bewegungen war er bei dem Luuren. Schnell war natürlich relativ zu sehen; immerhin hatte er den Wasserwiderstand zu bewältigen. Er bekam Rurkka zu fassen und zog ihn wieder hoch. »Was redest du da?«, fuhr er den Gestalter an. »Wie kann sie dich in ihrer Gewalt haben? Du bist hier, in der DAALGOR,
und sie befindet sich in ihrem Palast fern von hier!« »Du weißt nicht, was du da sagst.« In Rurkkas Reptilaugen glaubte Cloud die Angst flackern zu sehen. Todesangst. Der Protoschöpfer schien tatsächlich davon überzeugt zu sein, dass er in Kürze sterben würde. »Wenn ich nichts weiß, warum machst du mich dann nicht schlau?«, drängte Cloud. »Was geht hier vor? Erzähle es mir! Wieso kann sie selbst über große Entfernung Gewalt über dich haben? Das ist doch nicht möglich!« »Erzähle du mir nicht, was möglich ist und was nicht, Fremder«, stieß Rurkka bitter hervor. Sein Reptilmaul klaffte ein wenig auf, und eine dreifach gespaltene Zunge bewegte sich nervös hin und her. »Dann erzähle du dem Fremden, was möglich ist!«, wiederholte Cloud. Einen Moment lang schien es, als wolle Rurkka wieder in sich zusammensinken. Dann raffte er sich aber doch noch einmal auf und benötigte die Stütze nicht mehr, die Cloud ihm bot. Der ehemalige Commander des Marsraumschiffs RUBIKON entspannte sich kaum merklich, als die Last von seinen Muskeln genommen wurde. Da der Druck des Wassers im Kubus überall identisch war, gab es auch keinen Aufrieb. »Habe ich es dir nicht schon längst erzählt?«, fragte Rurkka. »Erinnere dich! Wir Luuren wurden einst unserer besonderen Fertigkeit und speziellen Para-Begabung wegen, mit der wir Protomaterie erschaffen können, von unserer Heimatwelt entführt! Überall im Kubus, wo unsere Fähigkeiten benötigt werden, setzen die Vaaren uns seither ein. Und in jedem von uns gibt es etwas, das du vielleicht als innere Uhr bezeichnen würdest. Es ist wie - ja, wie bei einer Zeitbombe. Die Uhr bemisst die verstreichende Zeit, und wenn der Moment der Zündung gekommen ist, stirbt der Luure! Diese Lebensspanne ist exakt festgelegt. Sie beträgt...« Er nannte eine Zahl, die in irdische Maßstäbe umgerechnet etwa 37 Jahre betrug. Älter
wurde kein Luure. »Mit einer einzigen Ausnahme«, fuhr Rurkka fort, als Cloud ihn weiterhin stumm fragend ansah. »Diese Ausnahme ist der Erste Verwerter, und der bin seit wenigen Generationen ich. Um eine gewisse Kontinuität in Forschung und Produktion zu erreichen, wird die Lebensspanne des Ersten Verwerters um das Fünffache angehoben. Ist auch diese Spanne ausgeschöpft, wird das Amt an den Nachfolger übergeben...« »An Sorkka«, warf Cloud ein. »Offenbar befindest du dich bereits in deinem fünften Lebensabschnitt und warst dabei, einen Erben für dich zu bestimmen...« »Du erinnerst dich also. Ja, und der Vorgänger, also in diesem Fall ich, stirbt nach Ablauf seiner Gnadenspanne. Mein Vorgänger starb eines sehr friedlichen Todes. Er legte sich nieder und verließ dieses Leben. Er litt nicht. Er nahm es hin, wie es kam, denn er hatte länger gelebt als jeder normale Luure. Bei mir wird es ebenso sein, aber...« Er schluckte Wasser. Dann schrie er auf: »... aber ich habe noch nicht lange genug gelebt! Es gibt noch so viel zu tun! Ich will noch nicht sterben!« * Sterben. Wer wollte das schon. Kein Mensch, den Cloud kannte. Sie alle wollten leben, weiterleben, so lange wie möglich, selbst unter widrigsten Umständen. Darcy und Seymour, die mit ihm und den GenTecs zur Crew der RUBIKON gehört hatten - sie hätten so gern noch weitergelebt. Aber sie waren tot. Wer wollte denn schon sterben? Rurkka nicht. Er schüttelte Clouds Hände ab.
»Lass mich in Ruhe«, sagte er leise und voller Enttäuschung. »Es ist nun so weit. Niemand kann es mehr ändern. Die Königin hat ihr Urteil gesprochen. Ich sterbe.« »Obwohl du deinen Nachfolger noch nicht vollständig in sein Amt eingeführt hast?« »Das ist irrelevant. Die Königin hat ihr Urteil gesprochen. Ich sterbe«, wiederholte Rurkka monoton. Er wandte sich ab. »Lass mich in Ruhe!«, warnte er noch einmal, als Cloud ihm weiter folgen wollte. »Du kannst es nicht verhindern, auf keinen Fall. Sie hat die Macht!« Er wankte und taumelte. Cloud folgte ihm dennoch. Er konnte nicht glauben, was ihm hier geboten wurde. Immer noch wusste er nicht, wie die Königin den Luuren, der sich ihr doch entzogen hatte, töten sollte. Er hielt es immer noch für absolut unmöglich. Bis Rurkka vor seinen Augen zusammenbrach. * Er ist noch nicht tot, stellte Cloud fest. Im nächsten Moment ärgerte er sich über das noch in seinen Gedanken. Ging sein Unterbewusstsein etwa schon davon aus, was sein Verstand zu akzeptieren sich weigerte? Dass Rurkka tatsächlich starb - jetzt? Auf Lovrenas Befehl hin? War es ein ähnlicher Vorgang wie bei einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung? War der Glaube an die Macht der Königin so stark, dass Rurkka letztlich schon aus reiner Furcht vor ihr starb? »Den Palast anrufen!«, befahl er herumwirbelnd. »Ich muss unbedingt mit Lovrena sprechen!« Aber keiner der Vaaren befolgte seine Anweisung. Sie hörten nur auf das, was der Luure ihnen sagte. Und der war momentan nicht dazu in der Lage zu befehlen. Verdammt, dachte Cloud. Wenn Rurkka tatsächlich stirbt,
sind wir die Gelackmeierten! Dann können wir nur noch versuchen, mit Darnoks Karnut zu entkommen. Aber dessen Möglichkeiten waren extrem eingeschränkt. Nur mit dem Karnut allein würden sie das Rätsel des Heiligen Bezirks nicht lösen - und vermutlich auch dem Aqua-Kubus nicht wieder entkommen können. Er registrierte nebenbei, dass die Vaaren um so unruhiger wurden, je weiter die DAALGOR sich dem Zentrum des Heiligen Bezirks näherte. Natürlich. Jahrtausendelang überlieferte Tabus, Drohungen... Welcher fromme Katholik würde scho n ein Sakrileg begehen wollen? Oder welcher strenggläubige Moslem...? Cloud winkte Jarvis zu. »Wir sollten ihn in eine Kabine bringen. Oder in die medizinische Abteilung, falls es so etwas an Bord dieses Dings hier überhaupt gibt.« »Fragen wir doch die Vaaren«, schlug Scobee vor und setzte ihre Idee sogleich in die Tat um. Der angesprochene Kubusbewohner musterte Rurkka wie ein seltenes Forschungsobjekt. Dann teilte er der Frau den Weg zur Medo-Station mit. Da nun Scobee den Weg kannte, übernahm sie es an Stelle von Jarvis, den Luuren gemeinsam mit Cloud dorthin zu transportieren. Es war ein sehr kleiner Raum und die Ausrüstung nicht gerade umwerfend. Unter medizinischer Versorgung schienen die Vaaren etwas anderes zu verstehen als die Menschen. Cloud und seine Begleiterin packten Rurkka auf eine Liege, wobei sich das Problem zeigte: In welcher Lage ruhte der Luure am besten? Die Gliedmaßen gestreckt oder ausgebreitet? Rückenlage schied sicher aus, andererseits waren die Luuren Aufrechtgeher und ihre Extremitäten, im Vergleich zu irdischen Reptilien, entsprechend modifiziert. Schließlich entschied Cloud kategorisch: »Über kurz oder lang wird sein Körper selbst die richtige Position finden. Lassen wir ihn in Bauchlage.«
Immerhin mussten sie seinen Kopf ein wenig drehen, damit er später nicht unter Genickstarre und damit verbundenen Schmerzen litt; als Aufrechtgeher war auch der Kopf entsprechend »gekippt«, ließ sich aber auch für den Fall des Auf-allen- vieren-Laufens »flach« stellen. Dennoch wollte Cloud in diesem Punkt kein Risiko eingehen. »Und was machen wir jetzt mit ihm?«, fragte Scobee. »Gute Frage«, brummte Cloud. »Nächste Frage, bitte.« »He, ich meine das ernst!«, protestierte sie. »Wir können ihn jetzt doch nicht einfach hier liegen lassen! Wir müssen etwas tun, um ihm zu helfen.« »Und was bitte? Ich bin kein Exo-Mediziner«, erwiderte Cloud schulterzuckend. »Wir wissen nichts über seinen Metabolismus. Wir können ihm nicht einmal ein kreislaufstabilisierendes Mittel injizieren, weil wir nicht wissen, wie sein Kreislauf aussieht und welches Mittel er benötigt.« »Er ist ein Reptil, also ein Kaltblüter. So viel zu seinem Kreislauf«, bemerkte Scobee. »Er sieht aus wie ein Reptil«, erwiderte Cloud. »Aber vielleicht ist sein Organismus ganz anders aufgebaut. Warum sollte er nicht Warmblüter sein? Oder innen wie ein Insekt aufgebaut sein? Oder wie ein Fisch? Scob, wir haben doch nicht die geringste Ahnung! Und wir können ihn nicht einmal röntgen, weil wir diese Technik hier nicht begreifen.« »Schaffen wir ihn zu Darnok ins Karnut. Der hat sicher die entsprechenden Möglichkeiten.« »Und wird sich ganz herzlich dafür bedanken...« Cloud berührte den Hals des seltsamen Wesens. »Willst du seinen Puls fühlen?«, fragte Scobee spöttisch. Cloud funkelte die einzige Frau unter den GenTecs böse an. »Ich schätze, wir können nichts für ihn tun«, sagte er. »Lassen wir ihn zunächst hier und schauen hin und wieder, wie es ihm geht.« »Sollte nicht einer von uns hier bleiben und auf ihn achten?«
»Wenn du unbedingt willst... ich kann dich nicht daran hindern.« Cloud wandte sich ab und schritt zur Tür, die automatisch vor ihm aufglitt, als ein Sensor den sich vor ihm aufbauenden Wasserschub maß und daraus errechnete, dass sich jemand näherte. Er war schon halb draußen auf dem Gang, als ihn der Schall von Scobees Ruf durch das Wasser hindurch erreichte. »Er bewegt sich!« * Rurkka wollte leben! Er war doch längst noch nicht am Ende seines Weges! Andere Luuren starben mit 37 Jahren - wie Cloud es für sich umgerechnet hatte. Rurkka konnte 185 dieser Jahre alt werden. Er hatte den Menschen geprüft, selbst dieser würde gerade einmal halb so alt werden können, trotz der für ihn besseren genetischen Voraussetzungen. Aber Rurkka hatte trotz seines inzwischen hohen Alters, in welchem er daran gehen musste, einen Nachfolger zu finden und diesen in seine Arbeit einzuführen, noch so viel zu tun... Dinge, die nur er selbst tun konnte und wollte, niemand sonst. Es waren Dinge, die er tun musste, um seinen Seelenfrieden finden zu können. Er hatte seine Lebenszeit nicht verschwendet. Er hatte immer an den Geheimnissen der Schöpfung gearbeitet, sie erforscht und zu verbessern versucht. Und doch war er längst nicht fertig, hatte nicht erreicht, was er erreichen wollte. Er konnte doch jetzt nicht einfach gehen! Erst recht nicht, weil er wegen eines vermeintlichen Vergehens zum Tode verurteilt worden war! Er war erschüttert. Was hätte er Tovah’Zara noch alles bieten können! Er hatte es doch gewollt, es war seine Aufgabe! Es war sein Leben! Deshalb hatte er irgendwann begonnen, nach einer weiteren
Lebensverlängerung zu suchen. Damals, als er feststellen musste, dass seine Ziele zu groß waren, um während seiner festgelegten Lebensspanne erreicht zu werden. Manchmal fragte er sich, ob seine Vorgänger sich mit ähnlich zwiespältigen Gedanken konfrontiert gesehen hatten. Waren auch sie gegangen, ehe sie all ihre Ziele erreichen konnten? Oder waren ihre Ziele nicht so groß gewesen wie die von Rurkka? Sein Vorgänger hatte darüber nie zu ihm gesprochen, und andere hatte er nicht danach zu fragen vermocht. Er war einsam mit seinen Gedanken, Ideen und Wünschen. Und dann kamen die Fremden! Sie waren in Tovah’Zara eingedrungen, das sie selbst »Aqua-Kubus« nannten. Und sie entführten mit seiner, Rurkkas Hilfe, dieses Jadeschiff. Er war mit an Bord! War das seine große Chance? Er hatte es geglaubt! Er hatte gehofft, eine größere Entfernung vom Machtzentrum der Vaaren könne ihn retten. Er hatte gehofft, Lovrenas langer Arm reiche nicht weit genug, um ihm über eine solche Distanz hinweg gefährlich zu werden. Er hatte nicht nur mit den Traditionen, sondern auch mit den Gesetzen gebrochen... Nicht erst seit er mit den Fremden gemeinsam in den Heiligen Bezirk vorstieß. Sein eigentlicher Frevel begann lange vorher. Vielleicht hatte er sich auch zu sehr in Sicherheit gewiegt. Nie war etwas geschehen. Er war immer davon ausgegangen, dass die Vaaren nicht bemerken würden, was er tat, obgleich er wusste, dass es ihnen auffallen musste, sobald sein Leben das vorbestimmte Ende erreichte - und er dann - möglicherweise nicht starb. Absolute Sicherheit hatte er nie darüber erlangt, was seine
Manipulationen an sich selbst bewirken würden. Vielleicht war alles doch ganz anders, als er es sich erhoffte. Er hatte sich nur gewünscht, dass es funktionierte, dass er dem Tod mit eigenen Mitteln entgehen konnte. Aber nun schien es, als sei diese Hoffnung vergeblich. Der WILLE der Vaaren-Königin hatte ihn erreicht. Selbst hier noch, im Heiligen Bezirk. Er würde sterben. Und er konnte nichts mehr dagegen tun. Er konnte nur noch... ... aufwachen. * Cloud wandte sich um und kehrte in den Medo-Raum zurück. Rurkkas Körper erging sich in wilden Zuckungen. Etwas ratlos stand Scobee daneben. Sie war offenbar nicht sicher, was sie tun sollte - den Patienten völlig in Ruhe lassen oder ihn festzuhalten, damit er sich nicht unter Umständen noch selbst verletzte. Cloud fühlte sich an einen Epileptiker erinnert, der einen akuten Anfall erlitt. Und er sah die Krallen, die Rurkka aus den Fingerkuppen ausgefahren hatte. »Lass ihn«, rief er. Das Verletzungsrisiko war zu groß. Rurkkas Krallen schlitzten die Polsterung der Liege an mehreren Stellen auf. Seine Kiefer schnappten wie die eines zupackenden Krokodils. Aber dann kehrte allmählich Ruhe ein. Die Nickhäute, die sich über seine Augen gelegt hatten, glitten zurück. Der Erste Verwerter sah sich um. Es kam immer noch zu leichten Zuckungen, aber es sah danach aus, als würde er seinen Körper mehr und mehr unter Kontrolle bekommen. Er versuchte, sich aufzurichten. Scobee half ihm dabei. Sie war reaktionsschnell genug, um im Ernstfall weiteren
Rundumschlägen ausweichen zu können. Der Luure erhob sich endgültig von der Liege. Sitzen konnte er darauf nicht, der Schwanz seines Reptilkörpers stand dem im Weg. Er konnte ihn nicht weit genug abwinkeln, und er mochte ihn auch nicht zwischen seine hinteren Extremitäten nehmen aus welchem Grund auch immer. Vielleicht gab es da kulturelle Regeln... Rurkka schwankte. Er musste sich abstützen. Als Scobee ihm weiter helfen wollte, lehnte er das ab. »Ich komme schon zurecht«, behauptete er. Cloud war sich da nicht sicher. Der Luure sah plötzlich alt aus. Natürlich, er war alt. Aber noch vor kurzem hatte er einen wesentlich frischeren Eindruck gemacht. Bei Geschöpfen seiner Art ließen sich kaum konkrete Schlüsse ziehen, aber Cloud begann jetzt zu glauben, dass der Altersweise tatsächlich starb. Doch wie schaffte Lovrena es, ihn aus der Ferne zu töten? Denn ein normaler körperlicher Verfall war dies keineswegs. So schnell konnten sich keine dementsprechenden Symptome zeigen. Es musste sich um eine Fremdeinwirkung handeln. Hinzu kam, dass Rurkka bislang nicht die geringste Andeutung gemacht hatte, dass sein »natürlicher« Tod so kurz bevorstand. Im Gegenteil, er war ja mit der Ausbildung seines Nachfolgers noch nicht fertig! Aber das war von nun an wohl ohnehin völlig nebensächlich. So, wie es aussah, würde der Nachfolger sein Amt ohne das gesammelte Wissen, das Rurkka zeitlebens erworben hatte, antreten müssen. »Wie können wir dir helfen?«, fragte Cloud. »Ihr könnt mir nicht helfen«, erwiderte der Luure. »Niemand kann das. Nicht einmal ich.« Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Obgleich ich einmal glaubte, es zu können.« »Was bedeutet das?« »Es ist nicht mehr von Bedeutung«, sagte der Luure und beantwortete weitere diesbezügliche Fragen nicht mehr.
Zähneknirschend musste Cloud es akzeptieren. Wie sollte er den Protoschöpfer auch zwingen, seine Wissenslücken zu schließen? Dabei hätte er nichts lieber getan, als ihm zu helfen. Doch wenn Rurkka sich nicht helfen lassen wollte... »Aber du könntest uns vielleicht helfen«, sagte Scobee plötzlich. »Wie?«, fragte Rurkka. »Wir werden sicher nicht für den Rest unseres Lebens in Tovah’Zara verbleiben«, sagte sie. »Vielleicht doch«, unterbrach der Luure. »Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass euer Leben auch schon bald endet. Die Königin wird sich nicht damit begnügen, mich getötet zu haben. Sie sieht auch in euch Frevler, die bestraft werden müssen. Entweder tötet sie euch, oder sie wird euch für den Rest eures Daseins martern lassen...« »Dazu werden wir es nicht kommen lassen«, sagte Cloud bestimmt. Er ahnte, worauf Scobee hinaus wollte. »Es wird euch nichts anderes übrig bleiben. Ihr kennt die Macht der Vaaren nicht.« »Und die Vaaren kennen uns nicht«, sagte Cloud. »Wenn sie versuchen, uns zu töten oder ewig einzukerkern, werden sie uns kennen lernen. Wir geben nicht auf, niemals. Wir werden den Kubus irgendwann wieder verlassen. Und dann müssen wir wieder Luft atmen. Du verstehst? Kein Wasser, sondern ein Gasgemisch mit Sauerstoffanteil, wie wir es gewohnt sind - wie es unserer Spezies entspricht. In uns sind die Protomaschinen, die dafür sorgen, dass wir unseren Sauerstoff aus dem Wasser, das uns umgibt und das wir... hm... atmen, beziehen können. Aber wenn wir wieder in einer für uns geeigneten Umwelt existieren, ist das für uns tödlich!« »Ihr meint, ich soll euch von den Protomaschinen befreien«, schloss Rurkka. »Wir bitten darum.« »Wisst ihr, was ihr da verlangt? Ihr werdet nicht mehr ohne
Hilfsmittel im Kubus überleben können.« »Das wollen wir ja auch nicht«, erinnerte ihn Scobee sanft. »Wir werden ihn irgendwann verlassen.« »Du irrst«, sagte Rurkka brüchig. »Aber wenn ihr es wollt, werde ich es versuchen. Vielleicht bleibt mir dafür noch genügend Zeit.« »Danke«, sagte Cloud leise. * Rurkka ahnte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei... er wusste es nicht. Er hoffte, dass die Zeit ausreichte, den Wunsch der Menschen zu erfüllen. In ihnen war eine so unglaubliche Sicherheit, größer, als er sie in seiner besten Zeit in sich selbst gespürt hatte. Sie wurden das erreichen, was sie sich vorgenommen hatten - oder sie würden sehr schnell sterben. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Sie wollten wieder Luftatmer werden, um »draußen«, außerhalb von Tovah’Zara, weiterleben zu können, so wie die Luuren es früher einmal getan hatten. Wie mochte es dort draußen sein? Er hätte diese andere Welt gern kennen gelernt - mit ein Grund, weshalb er sich den Menschen angeschlossen hatte. Aber das war ein Ziel, das er nun niemals mehr erreichen konnte. Eine uralte Legende erzählte, das Volk der Luuren wäre einst dort draußen entstanden. Nur heimlich wurde diese Geschichte von einem zum anderen weitererzählt. Wenn es stimmte, wusste zumindest niemand, wo genau sich die Ursprungswelt befand. Aber wer wusste denn überhaupt schon etwas über die Welt außerhalb? Rurkka hatte dorthin reisen wollen, um sich umzuschauen. Aber dieser alte Traum löste sich nun in Nichts auf. Der Traum, unbekannte neue Welten zu schauen und vielleicht die Ursprungswelt der Luuren zu finden, die einst von
den Vaaren nach Tovah’Zara entführt worden waren... und vielleicht nach seiner Rückkehr mit seinen Berichten den anderen Luuren Mut zu geben. Ihnen zu sagen, dass die Knechtschaft der Vaaren nicht alles war, was es gab. Aber nun war es zu spät. Er starb, trotz aller Vorkehrungen, die er getroffen hatte. Er hatte gefrevelt, schlimmer als jetzt in der Gefolgschaft der Menschen von »draußen«, denn er hatte schon früher versucht, seine Lebensspanne heimlich zu verlängern! Immer wieder hatte er versucht, mittels seines besonderen Könnens Protopartikel zu erschaffen und in seinen Körper einzuschleusen, sodass dieser eine Quasi- Unsterblichkeit erlangen sollte. Jedes Mal danach hatte er sich stärker und verjüngt gefühlt, er hatte gehofft, und er war sicher gewesen, dass es zumindest in Maßen funktionieren würde - ihm eine längere Frist als jene fünf mal 37 Jahre schenken würde... Die Vaaren bemerkten davon nichts. Und es funktionierte auch - beinahe jedenfalls. Ohne diese Protopartikel wäre er längst nicht mehr am Leben. Er wäre gestorben in genau dem Moment, als ihn der WILLE der Königin traf. So aber lebte er noch. Noch... All seine Bemühungen konnten das Ende zwar hinaus zögern, aber nicht verhindern. Aus der erhofften Beinahe-Unsterblichkeit, der erwünschten Langlebigkeit, wurde nur ein Hinauszögern des Todes um eine nicht exakt definierbare Zeitspanne. Dennoch hätte er der Vaaren-Königin gern ins Gesicht gelacht. Sieh her, du wolltest mich töten. Aber ich lebe noch - ich lebe immer noch! Doch es war ihm nicht vergönnt. Es gab keine Funkverbindung zum Palast der Mörderin. Er konnte ihr nicht sagen, dass er ihren Todesimpuls überlebt hatte. Wenn auch nur für kurze Zeit.
Aber es wäre immerhin ein kleiner, ein ganz kleiner Triumph gewesen... Sein Körper hatte augenblicklich versagen wollen, hätte versagen müssen. So war es letztlich zu seinem Zusammenbruch gekommen. Aber seine Schutzmechanismen, die Protopartikel, die er in aller Heimlichkeit in seinem Körper »installiert« hatte, griffen und ließen den Schock abklingen. Es war schlimm gewesen, zu sterben und doch zu leben, aber der Schmerz war vorbei. Er wusste, dass er seinen Tod nur verzögern, aber nicht aufhalten konnte. Und die Menschen schienen ebenfalls endlich zu begreifen, dass seine Existenz bald ihr Ende finden würde. Daher ihre Bitte, die er noch erfüllen wollte, solange er lebte solange er konnte. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Er konnte es nicht sagen. Es gab keinen Vergleichswert. Nie zuvor hatte es etwas Ähnliches gegeben. Wen der WILLE traf, der starb innerhalb eines Herzschlags. Rurkkas innerer Schutz jedoch verlangsamte diesen Vorgang. Ich werde schnell arbeiten müssen, dachte er. Vielleicht so schnell wie noch nie zuvor in meinem Leben. Denn es sind vier Personen... * Cloud und Rurkka informierten Darnok. Er war der Einzige, der ihnen in diesem Punkt helfen konnte. Denn nur das Karnut besaß die Möglichkeit, sowohl wassergefüllte Sektionen zu bilden als auch wasserfreie, in denen es ein für Menschen ideales Sauerstoff-Stickstoffgemisch gab. Darnok willigte ein. Er schuf die entsprechenden Zonen. Es dauerte nicht einmal sonderlich lange, bis er sein Karnut entsprechend eingerichtet hatte. Rurkka begab sich als Erster an Bord.
Er konnte natürlich nur und ausschließlich im Wasserbereich leben. Und er konnte auch nur von dort aus arbeiten. Deshalb benötigte er spezielle Tanks, in denen er seine »Patienten« behandeln musste. Tanks, die dann sofort mit dem nötigen Luftgemisch anstelle des Wassers gefüllt werden mussten, sobald die Umwandlung, also das Entfernen der winzigen Protomaschinen, erfolgreich abgeschlossen war. Denn ansonsten würden die von diesen Teilchen befreiten Menschen logischerweise ertrinken... Nach erfolgreichem Entfernen würden sie in den Luftbereich wechseln müssen und ihre Tanks verlassen. Sie konnten das Karnut danach, solange sie sich im Rochenschiff und im AquaKubus befanden, nur noch mit entsprechenden Schutzvorrichtungen verlassen. Rurkka dachte schon längst nicht mehr über den Sinn dieser Aktion nach. Er konzentrierte sich nur noch auf das, was er zu tun hatte, und das war schwierig genug. Die Konsequenzen, die sich aus dem Resultat ergaben, hatten die Menschen selbst zu tragen. Er würde dann bereits nicht mehr sein. »Bei wem beginnen wir?«, fragte er. Cloud wollte etwas sagen, aber Scobee kam ihm zuvor. »Bei Jarvis«, sagte sie. »Warum ausgerechnet bei Jarvis und nicht bei Resnick?«, fragte Cloud leise, als sie sich in einiger Entfernung von Rurkka befanden. »Resnick hatte einen Zusammenbruch. Vielleicht sollte er deshalb zuerst behandelt werden.« »Das ist unlogisch«, erwiderte die Frau, die ihn auf dem Mars seines Kommandos enthoben hatte. »Wir nehmen den Stärksten zuerst. Was, wenn Resnick während der Prozedur einen erneuten Schwächeanfall erleidet? Vielleicht stirbt er dabei. Dann aber wird Rurkka sich weigern, bei uns anderen weiterzumachen. John, ich bin nicht daran interessiert, für den Rest meines Lebens Wasser atmen zu müssen! Und ob wir
außer Rurkka noch jemand anderen finden, der uns von diesem verdammten Mist befreit, dürfte mehr als fraglich sein. Also macht Jarvis den Anfang.« »Und wie stellst du dir die weitere Reihenfolge vor, Scob?« Sie lächelte kühl. »Wir sind optimiert, du bist ein normaler Mensch. Also nach Jarvis ich, dann Resnick, zum Schluss du.« »Ist dir klar, was das für mich bedeuten kann?«, stieß er hervor. »Wenn Rurkka vorher stirbt...« »Bleibst du ein Wasseratmer. Das ist mir bewusst. Wir werden dann eine andere Lösung suchen. Aber darüber sollten wir uns Gedanken machen, wenn es so weit ist. Denn wir haben so oder so keine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Oder siehst du das anders?« Oh ja, er sah es anders. Aber noch mehr als ein Leben als Wasseratmer fürchtete er einen offenen Konflikt mit den Klonen. Sie waren keine echten Menschen. Sie waren nicht normal geboren, sondern gezüchtet. Er nahm es hin - spätestens seit den Ereignissen auf dem Mars. Er hatte sich bemüht, sie wie seinesgleichen zu behandeln und zu betrachten - aber hätte er jetzt argumentiert, dass er als in vivo-geborener Mensch in der Reihenfolge der Behandlung den geklonten in vitro-gezeugten Menschen vorgezogen werden müsse, konnte das im ungünstigsten Fall zur Katastrophe führen. Wer hatte mehr Recht auf ein Leben nach seiner Wahl, Mensch oder Klon? Es würde zu weit führen, das vor Ort auszudiskutieren, zumal es ohnehin keine Entweder-Oder-Lösung gab. Alles, was lebte, hatte sein Recht darauf, wunschgemäß und »artgerecht« welch ein zynischer Begriff für diesen Konflikt! - zu leben. Erschwerend kam hinzu, dass Rurkka zusehends verfiel und dass die Zeit drängte. Jede Sekunde, die sie mit Diskussionen vergeudeten, würde dem Protoschöpfer schließlich bei der Erfüllung seiner letzten Aufgabe fehlen. Es gefiel Cloud ganz und gar nicht, der Letzte in der
Reihenfolge zu sein. Es hätte niemandem gefallen. Aber Scobees Argumentation war logisch. Diejenigen, die die besten Chancen hatten, kamen zuerst. Und selbst Resnick war, trotz seines Zusammenbruchs, immer noch überlebensfähiger als John Cloud. Er nickte. »Einverstanden«, presste er hervor. »Es gefällt dir nicht.« »Würde es dir gefallen?« »Nein. Ich informiere Jarvis.« Sie entfernte sich. Cloud blieb mit seinen Gedanken allein. * »Es ist mir etwas unangenehm, dich zu fragen«, sagte er. Der Luure sah mittlerweile noch hinfälliger aus als kurz zuvor, und Cloud war nicht gerade davon überzeugt, dass Rurkka es noch schaffen würde, sie alle von den Protomaschinen zu befreien. »Ich weiß, dass du nicht mehr lange leben wirst und sich deine Gedanken sicher um anderes drehen als um die gegenwärtige Situation, aber...« »Ich ahne, was du willst«, sagte Rurkka brüchig. »Es geht um die DAALGOR.« »Es geht um die Kontrolle«, sagte Cloud. »Es geht darum, die Vaaren unter Kontrolle zu halten, wenn du stirbst...« »Wenn ich tot bin«, präzisierte Rurkka. »Sprich es ruhig aus. Ich weiß, dass mein Leben endet. Du brauchst keine Rücksicht auf meine Gefühle zu nehmen. Sie bestehen aus tiefster Enttäuschung und größtem Zorn. Aber ich weiß, dass das nichts ändert. Ich muss akzeptieren, was geschieht, und jeglicher Versuch, es zu beschönigen, macht es nur noch schlimmer für mich. Du redest mit jemandem, der bereits tot ist.« »Nein«, sagte Cloud. »So sehe ich es nicht. Noch lebst du.« »Du willst die Kontrolle über die Vaaren. Du musst sie haben. Du wirst meinen Rezeptor benutzen.«
Er hielt Cloud einen kleinen, kastenförmigen Apparat entgegen. Scobee und Resnick hatten erlebt, wie dieses Gerät wirkte. Es übte Zwang auf die Vaaren aus. Es brachte sie dazu, Befehlen zu gehorchen. »Ich zeige dir, wie man ihn bedient, John Cloud«, sagte Rurkka. Noch blieb ihm Zeit dafür; Darnok war noch damit beschäftigt, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen Rurkka seine letzte Arbeit tun konnte. »Dir und nicht den anderen, weil du der Letzte sein wirst, der zum Luftatmer zurückgewandelt wird. Du wirst auf jeden Fall bis zuletzt ohne zusätzliche Hilfsmittel im Wasser leben können, also bist auch du derjenige, der bis zuletzt die Kontrolle aufrecht erhalten kann. Denn ich werde es ab jetzt schon nicht mehr können.« »Was wird danach sein, wenn ich wieder Luft atme?« »Ich weiß es nicht«, sagte Rurkka. »Und es berührt mich auch nicht mehr, weil ich dann nicht mehr bin. Achte auf das, was ich dir zeige.« Und er begann, Cloud im Gebrauch des Rezeptors zu unterweisen. * Es war alles so einfach, aber trotzdem verstand Cloud nur, wie das Gerät, das Rurkka seine »Waffe« nannte, bedient wurde, nicht aber, wie es funktionierte. Irgendwie schien es auf die Schwingungen einzuwirken, die von den Körpern der Vaaren ausgingen. Was auch immer das sein mochte... Cloud versuchte, sich die Bedienung so gut wie möglich einzuprägen. Rurkka rasselte die Informationen im Eiltempo herunter. Natürlich - ihm blieb nicht mehr viel Zeit, und jede Minute, die er jetzt mit Erklärungen zubrachte, fehlte ihm möglicherweise danach bei der Behandlung seiner Patienten.
Schließlich begab sich Jarvis als Erster in die »Behandlung«. Etwas unsicher verabschiedete er sich von seinen Gefährten. Ihnen allen war klar, dass sie sich von jetzt an erst wieder gegenüberstehen würden, wenn sie alle von den Protomaschinen befreit waren. »Ihr habt das schon unter Kontrolle.« Der GenTec grinste etwas verunglückt. Cloud klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Bis später«, sagte er. Rurkka und Jarvis verschwanden in dem Experimentalraum, den Darnok bereitgestellt hatte. Cloud sah dem seltsamen Paar nachdenklich hinterher. Er hoffte inständig, dass Rurkka noch lange genug leben würde...
3. Währenddessen »studierte« Darnok von seinem Karnut aus die an Bord der DAALGOR befindlichen Vaaren. Sie reagierten nach wie vor spürbar auf einen Einfluss, der offenbar von den Tafeln ausging, die draußen trieben und von denen eine geborgen worden war und sich jetzt im Rochenschiff befand. Woraus bestanden sie, aus welchem Material? Nach allgemeiner Überzeugung handelte es sich nicht um stabilisierte Protomaterie - aber nicht einmal der Keelon hatte mit Hilfe seines Karnut-Instrumentariums bislang herausfinden können, worum sonst. Stahl? Stein? Kunststoff? Eine unbekannte Legierung, zweifellos, aber eine Legierung, die sich aus welchen Komponenten zusammensetzte? Es war
nicht einmal klar zu ermitteln, ob organischer oder anorganischer Natur... Darnok war überzeugt, dass ein »normaler« Werkstoff kaum solche Panikreaktionen hätte auslösen können, wie sie die Vaaren zeigten. Diese stoben als silbrige Schemen im Jadeschiff hin und her, waren kaum zu beruhigen und fühlten sich um so unwohler, je tiefer ihr Fahrzeug in die verbotene Zone vorstieß. Wie es aussah, reagierten die Vaaren tatsächlich auf die Tafeln. Es gab nichts anderes, das eine logischere Begründung dargestellt hätte. Darnok beobachtete weiter. Was sich ansonsten an Bord oder draußen abspielte, interessierte ihn wenig. Auc h, was Rurkka nun in seiner Arbeitskammer tat, berührte ihn nur am Rande. Er hatte damit nichts zu tun, es war nicht seine Aufgabe. Darnok hätte ihm auch gar nicht helfen können, da das, was Rurkka tat, sich auf einer völlig anderen Befähigungsebene abspie lte. Der Letzte der Keelon, die von den Erinjij ausgerottet worden waren, konzentrierte sich nur auf seine »Forschungsobjekte«. Und schließlich lokalisierte er einen Vaaren, der von allen am heftigsten auf den Fremdeinfluss reagierte. Ihn pickte er sich heraus. Über die Funkverbindung aus dem Karnut heraus machte er die beiden GenTecs auf ihn aufmerksam und bat sie, ihm behilflich zu sein, diesen ganz speziellen Vaaren »einzufangen«. Das Rochenschiff war groß, und den Vaaren hielt es in seiner Unrast nicht an einem Ort. Resnick, der sich eigenem Bekunden zufolge wieder absolut fit fühlte, und Scobee schwärmten aus, um ihn zu stoppen. Sie wollten ihn an einen Ort des Schiffes bringen, wo Darnok sich mit ihm befassen konnte. John Cloud beteiligte sich nicht an dieser Jagd. Er fühlte sich
selbst leicht gehetzt - von seinen eigenen Gedanken, von der Frage, ob die Entscheidung, weiter vorzudringen, richtig war oder nicht. Und er fühlte sich ein wenig müde. Immer wieder betrachtete er den Rezeptor, dieses kleine Gerät, und hoffte, dass es wirklich so funktionierte, wie Rurkka es ihm beschrieben hatte. Was, wenn es zu einer Fehlbedienung kam? Noch konnte er Rurkka fragen und es sich erneut erklären lassen. Aber wenn der Gestalter gestorben war... Und noch ein weiteres Problem tat sich ihm auf: Wenn es Rurkka gelang, auch Cloud von den Protomaschinen zu befreien, konnte er nur noch aus dem Karnut heraus auf die Vaaren einwirken. Cloud hielt es für nicht sehr wahrscheinlich, dass dies gelingen würde. Die andere Möglichkeit war, Darnok zu bitten, ihm noch einmal so etwas wie einen Schutzanzug zur Verfügung zu stellen. Das aber hielt er für zumindest nicht sicher gegeben. Darnok war in vielerlei Hinsicht unberechenbar - immer noch, auch wenn es seit dem Eindringen in den AquaKubus den Anschein machte, als wäre er davon abgerückt, seine »Gäste« weiterhin undifferenziert als »die Mörder seines Volkes« zu betrachten. Das waren sie definitiv nicht! Nicht wir, dachte Cloud. Wenn, dann sind es andere Menschen, die dir das antaten. Menschen, die auch ich nicht mehr verstehe... * Resnick war es, der den Vaaren schließlich fand. Langsam bewegte er sich durch das Wasser, das das Rochenschiff bis in den hintersten Winkel ausfüllte, auf ihn zu. Irgendwie, dachte der kahlköpfige GenTec, ist das recht praktisch. Wasser im Schiff, Wasser außerhalb des Schiffes. Wenn sie aussteigen, brauchen sie keine Schutzanzüge. Sie wechseln ja nicht das Medium. Wir dagegen - wenn wir ein Raumschiff nicht gerade
in der atembaren Atmosphäre eines Planeten verlassen, sondern im Weltraum, brauchen Schutzanzüge... Diese Aqua-Kubus-Bewohner hatten es in dieser Hinsicht wesentlich besser und einfacher. Resnick verdrängte den Gedanken daran, dass er und die anderen durch die Protomaschinen, die sich jetzt in ihren Körpern befanden, ebenfalls zu Aqua-Bewohnern gemacht worden waren. Der, den Darnok ausgewählt hatte, versuchte verwirrt auszuweichen. Resnick setzte nach und suchte die unmittelbare Berührung mit den Nesselfäden des Vaaren. So war es diesem möglich, Resnicks Gedanken in noch besserer, bildhafterer Form wahrzunehmen. Der GenTec versuchte, ihm begreiflich zu machen, dass er nichts Böses von ihm wollte, dass er ihn nur bat, ihn zu begleiten. Er bemühte sich, beruhigend auf Galanor einzuwirken, wie der Vaare sich nannte. Teilweise gelang ihm dies. Scobee tauchte nun ebenfalls auf, aber Resnick winkte sie zurück. Er wollte Galanor durch die heraneilende Verstärkung nicht in noch größere Panik versetzen und damit wieder zunichte machen, was er gerade erst mü hsam erreicht hatte. Immerhin waren die GenTecs für die Vaaren in erster Linie unbekannte Fremdwesen, die darüber hinaus auch noch das Jadeschiff gekapert hatten. Das schuf nicht gerade Sympathien. Zudem schien es ein kosmisches Naturgesetz zu sein, dass man das Fremde erst einmal fürchtete, weil man es nicht verstand. Diese Furcht in Verbindung mit der, die den Vaaren ohnehin beherrschte, konnte sich katastrophal auswirken. »Begleite mich!«, forderte Resnick. »Wir sind hier, um dir zu helfen, deine Angst zu verlieren.« Aber Galanor schien das nicht glauben zu wollen. Resnick musste den Körperkontakt aufrechterhalten und den Vaaren mit sanftem Nachdruck mit sich durch das Schiff bewegen. Mehrmals versuchte Galanor sich loszureißen, was ihm
angesichts der überlegenen Körperkraft des GenTecs allerdings nicht gelang. Scobee hielt sich im Hintergrund, um notfalls eingreifen zu können. Immerhin wollte Darnok diesen Vaaren und keinen anderen. Resnick brachte ihn in einen Raum in der Nähe des Hangars, in welchem das Karnut wie ein Beiboot des Rochenschiffs parkte. Dort wartete Darnok bereits. Der Keelon hatte sich doch überwunden, das Karnut zu verlassen, und sich mit einem schützenden Stoff umhüllt, der es ihm erlaubte, weiterhin Luft zu atmen und das Wasser ignorie ren zu können. * Der Vaare wand sich in Panik, und es dauerte geraume Zeit, bis Darnok es schaffte, ihn einigermaßen zu beruhigen. Resnick half ihm dabei. Der Mensch fungierte als Dolmetscher und wirkte auf Galanor ein, so gut es ihm eben möglich war. Darnok beobachtete die Reaktionen des Vaaren, der nicht wirklich ruhiger wurde. Aber er tobte auch nicht mehr ganz so panisch herum, sondern fand sich immerhin bereit, auch einmal Auskünfte zu erteilen oder überhaupt mit jemandem zu reden. Ständig änderte er sein Aussehen. Darnok ließ sich von der äußeren Erscheinung nicht irritieren. In seinem Leben als Forscher hatte er schon genug fremde Lebensformen kennen gelernt. Er selbst war für die Vaaren und Luuren auch mehr als fremd. Schließlich musste er sich abschirmen, wenn er sich in deren Lebensbereich bewegte, der für ihn tödlich war. Im Gegensatz zu Cloud und dessen Begleitern war er den Verhältnissen im Aqua-Kubus nicht angepasst worden. Er hätte das auch auf keinen Fall gewollt. Er wollte irgendwann - bald ! - wieder unter normalen Bedingungen leben
können! Rurkka hatte zwar behauptet, die Protomaschinen in den Menschenkörpern entfernen zu können - immerhin war er ein Schöpfer -, und er hatte auch bereits mit der schwierigen Arbeit begonnen, aber Darnok traute der Sache nicht so recht. Auch Golgerd, dem Kommandanten der DAALGOR, misstraute er. Deshalb bat er Cloud, ein wachsames Auge auf den Vaaren zu halten, während er selbst sich nun vor allem auf Galanor, den Überängstlichen, konzentrierte. Gemeinsam mit Resnick kümmerte er sich sehr intensiv um das Wesen, das den Kubus mit seinen Artgenossen beherrschte. Auch erbaut hatte? Dafür gab es noch keinen letztgültigen Beweis, auch wenn vieles dafür sprach. Draußen in der Galaxis wussten die Völker so gut wie nichts über Tovah’Zara. Es war ein legendenreicher, von allen gemiedener Ort - die Erinjij ausgenommen, denen nichts heilig war. Etwas Gigantischeres, Faszinierenderes und Eindrucksvolleres war auch Darnok auf all seinen Reisen noch niemals begegnet. Aber auch mir war dieser Ort nicht heilig, dachte er selbstkritisch. Nicht heilig genug. Sonst befänden wir uns jetzt nicht in diesem Dilemma. Die Menschen, die er zu sich an Bord genommen und auf Kalser vor ihresgleichen gerettet hatte, würden auf ihre nächste gezielte Lektion warten müssen - und sie vielleicht nie mehr erhalten. Je länger sie sich im Kubus aufhielten, und je tiefer sie in sein Zentrum vordrangen, desto mehr schwanden nach Darnoks Einschätzung ihre Chancen - zugleich wusste er aber auch, dass die Kapitulation oder der Versuch, den Kubus mit dem entführten Jadeschiff zu verlassen, zumindest bis in sein unmittelbares Grenzgebiet zum freien Weltraum zu gelangen, unter den jetzigen Gegebenheiten scheitern musste. Die Vaaren hatten sich in etwas kaum noch Kontrollierbares verwandelt.
Es galt die Ursache herauszufinden - und sie zu neutralisieren. Resnick half zu übersetzen, was beide einander zu sagen hatten, wann immer es zu Verständigungsproblemen kam. Darnok sog die Informationen auf wie ein Schwamm. Dann kehrte er in sein Karnut zurück. »Du kannst ihn gehen lassen«, bedeutete er Resnick. »Was ich an Informationen benötige, habe ich jetzt.« »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen«, sagte Resnick. Etwas, das sich Darnoks Verstehen vollständig entzog. Aber der Keelon fragte nicht nach. Er wollte sein gewonnenes Wissen jetzt nicht mit anderen Informationen vermischen, die später zu unbewussten Verfälschungen führen mochten. Es war auch so schon kompliziert genug und bedurfte hoher Konzentration. Ins Karnut zurückgekehrt, begann Darnok damit, ein spezielles Rechnerprogramm zu entwickeln. Es sollte so perfekt wie möglich die Inhalte der Tafeln übersetzen. Er hoffte, dass er sich damit nicht zu viel vorgenommen hatte. Es war eine äußerst komplizierte Arbeit, die ihre Zeit brauchte. Währenddessen stieß die DAALGOR immer tiefer in den so genannten »Heiligen Bezirk« vor. Und niemand wusste, was damit wirklich in Gang gesetzt wurde... * »Es ist nicht gut«, teilte Kommandant Golgerd immer wieder in unregelmäßigen Abständen mit. »Es ist nicht gut, was wir hier tun. Diese Zone ist tabu. Wir sollten wirklich umkehren.« »Wir bleiben auf Kurs«, beharrte Cloud. Die Vaaren, die das Rochenschiff mit Psi-Befehlen lenkten, wurden beständig unruhiger. Cloud fragte sich, wie lange es
wohl noch gut gehen würde. Aber noch hatte er den Rezeptor nicht einsetzen müssen... »Wenn wir umkehren, wird Lovrena uns bestrafen«, fuhr der dunkelblonde, athletisch gebaute Mann fort. »Hierher aber folgt selbst sie uns nicht. Hier sind wir sicher.« »Sicher?« Golgerd wollte daran nicht glauben. »Wie könnten wir hier sicher sein?« »Weißt du etwa, was genau uns hier erwartet?«, fragte Cloud. »Nein«, antwortete der Kommandant. »Ich war nie in diesem Sektor. Kein Vaare war dies. Woher sollte ich es also wissen?« Er wich einer weiteren Berührung durch Cloud geschickt aus und entzog sich damit einer Fortsetzung der semitelepathischen Verständigung. Cloud wandte sich den Instrumenten zu und studierte die Anzeigen. Etwas Verrückteres, Widersprüchlicheres als diesen AquaKubus hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen, hatte es sich nicht einmal vorstellen können. Ein gigantisches, wassergefülltes Gebilde mit darin befindlichen Planeten, alles nur zusammengehalten von Wänden aus unbekannter Energie... Allein der Wasserdruck im Innern dieses gigantischen Kubus hätte alles zerquetschen müssen. Zumindest alles Lebendige. Es war physikalisch nahezu unmöglich, dass es im Kubus organisches Leben gab - und Bedingungen, die jedem Naturgesetz Hohn sprachen. Danach befragt, hatte Rurkka ihm jedoch eine Erklärung geliefert, die halbwegs glaubwürdig klang. Seinen Worten zufolge gab es künstliche Regulatoren, die den Wasserdruck im gesamten Kubus auf einem Niveau hielten, das nicht viel höher war als auf der Erde in etwa zehn Metern Wassertiefe. Zumindest hatte Cloud die Angaben so für sich interpretiert. Die in den Kubus eingebundenen Objekte, ob planetengroß oder lediglich asteroidenklein, waren ebenfalls manipuliert, wie
Rurkka behauptet hatte. Und er als ein Schöpfer, als ein Meister der Materie, sollte es wohl wissen... Auf welche Weise diese Manipulationen geschaffen wurden, hatte ihm der Gestalter nicht verraten können... wahrscheinlicher aber nicht verraten wollen. Auch nicht, woher die ungeheuren Energiemengen kamen, die benötigt wurden, nur um den Kubus zu erhalten. Alles war ein gigantisches, bizarres Rätsel. Cloud wollte es lösen. * Darnok arbeitete fieberhaft an seinem Computerprogramm. Zwischendurch musste er immer wieder kleiner Details wegen unterbrechen - Informationen anders deuten oder mit eigenen Überlegungen ergänzen. Aber je länger er arbeitete, desto klarer zeichneten sich die Strukturen ab - und schließlich hatte er ein Übersetzungsprogramm zur Verfügung, das die Tafelinhalte zu übersetzen im Stande war. Er war mit sich zufrieden. Er hatte etwas geleistet, was womöglich niemand vor ihm bewältigt hatte - keiner von außerhalb des Kubus jedenfalls. Und doch blieb er zurückhaltend. Denn das, was er nun übersetzen und lesen konnte... ... es gefiel ihm nicht. Immer wieder prüfte er das Ergebnis. Aber so oft er dies auch tat, das Ergebnis blieb stets gleich. Auch, nachdem er sein Programm noch mehrmals getestet und modifiziert hatte. Immer wieder sah er Informationen vor sich, die ihm die »heiligen« Tafeln präsentierten. Ihm, dem Fremden, der nicht hierher gehörte. Skeptisch versuchte er das Wissen zu beurteilen, das in diesen Tafeln verborgen steckte. Vielleicht war es nicht ratsam, es allgemein bekannt zu
machen...? Darnok, der letzte der Keelon, rang mit sich. * Rurkka fühlte die zunehmende Erschöpfung. Die Zeit zerrann ihm zwischen den Fingern. Er war froh, als er mit Jarvis fertig war. Der Mensch war jetzt wieder auf Luftatmung umgestellt. Das hieß, dass er ganz schnell aus der gefluteten Sektion des Karnut heraus musste. Er befand sich in einem Behältnis, das wassergefüllt war, solange Jarvis die Prototeile in sich trug. Doch die waren jetzt entfernt, umgewandelt, zu Fettzellen umgeschmolzen, die von seinem Körper rasch abgebaut werden würden. Und jetzt begann er unter Atemnot zu leiden. Die letzten Sauerstoffvorräte in seinem Blut waren aufgebraucht. Er schnappte nach Luft. Oder zumindest versuchte er es. Es gelang ihm jedoch nicht vorsichtshalber hatte Rurkka ihm die Nasenlöcher verstopft und den Mund verklebt. Jarvis wand sich in seiner Qual und drohte zu ersticken. Rurkka brachte den Behälter so rasch wie möglich in den benachbarten Raum, während der Mensch zu toben begann um dann plötzlich sehr ruhig zu werden. Ist er tot? Erstickt?, fragte sich der Gestalter bestürzt. Aber dann erinnerte er sich. Es war schon einmal geschehen. Jarvis hatte sich selbst in eine Art künstlichen Winterschlaf versetzt. Das reduzierte seine Lebensfunktionen auf ein nur noch mit speziell darauf geeichten Instrumenten feststellbares Minimum. So brauchte er nicht mehr zu atmen. Der Nachbarraum wurde gelenzt. Pressluft wurde eingeblasen, um die Arbeit der Lenzpumpen zu erleichtern. Rurkka konnte es nur von außerhalb steuern; er durfte es nicht
riskieren, seinen wassergefüllten Lebensraum zu verlassen. In dem Behälter befand sich immer noch Wasser. Aber das spielte jetzt nur noch eine untergeordnete Rolle. Solange sich Jarvis in seiner Stasis befand, hielt er es gewiss eine Zeitlang unter Wasser aus. Aber das wollte und konnte Rurkka keinesfalls abwarten. Zeitverschwendung... Zeit, über die er nicht mehr verfügte. Wer war der nächste auf der Liste? Scobee. Er rief sie zu sich. Ein Bildschirm zeigte Scobee Jarvis, der in einem Behältnis ruhte. »Hat es nicht funktioniert?«, fragte sie. Rurkka erzählte ihr, was sich abgespielt hatte. Seine Stimme klang brüchig. Es war ihm anzusehen, dass ihm nicht mehr sehr viel Zeit blieb. Scobee fragte sich, ob diese Zeit überhaupt noch reichte, Resnick und Cloud zu »retten«. Der Tod hielt den Luuren bereits in seinen Klauen, und durch seine Anstrengungen erschöpfte sich die Kraft des Protoschöpfers zusätzlich. »Ich brauche eine Verbindung zu Darnok«, sagte Scobee deutlich beunruhigt. »Darnok muss Jarvis aus dem Tank nehmen, damit er wieder atmen kann und aus seiner Stasis erwacht.« »Ich verstehe nicht. Wenn ihr alle auf Luftatmung umgestellt seid, könnt ihr euch doch gegenseitig...« »Wenn wir zum Schluss alle vier umgestellt sind«, sagte sie, »wird niemand wach sein, um uns herauszuholen. Dazu kommt, dass... dass John Cloud nicht ist wie wir. Er besitzt diese Stasisfähigkeit nicht. Er wird ersticken.« »Darnok wird ihn und euch aus den Tanks holen«, sagte Rurkka. »Ich glaube nicht, dass er von selbst auf diese Idee kommt«, gab Scobee zu bedenken. »Deshalb muss er schon jetzt
informiert werden. Er muss Jarvis herausholen. Jarvis kann dann mich, und ich Resnick, und Resnick Cloud herausholen... Rurkka, vor allem bei John Cloud muss diese letzte Phase besonders schnell vonstatten gehen, weil er nur ein normaler Mensch und kein genetisch optimierter ist. Er ist das schwächste Glied in unserer Kette.« »Ich informiere Darnok sofort«, versprach Rurkka. »Nun lege dich in diesen Behälter.« Er wies auf einen weiteren Tank. »Ich werde dafür sorgen, dass deine Atmungsorgane rechtzeitig sicher verschlossen werden. Vielleicht wäre es sogar gut, wenn du dich bereits jetzt selbst in diese Stasis versetzen würdest.« Vielleicht wäre es sogar noch besser, dachte Scobee und kletterte in ihren Ta nk, wenn wir alle gleich auf der Erde aus einem langen Albtraum erwachen würden - oder zumindest auf dem Mars...
4. Nach wie vor befand sich die HAMM in Beobachtungsposition und veränderte ihren Standort nicht. Die Ortungen tasteten in das Innere des Kubus, soweit es möglich war. Sie scannten die fremdartigen, an irdische Mantas erinnernden Fahrzeuge, die sich auch nach wie vor in Bereitschaft befanden, jeden weiteren Angriff aus dem All erneut abzuwehren. Kommandant Verebs Interesse galt allerdings weniger diesen Schiffen, als einem einzigen Objekt. Es bewegte sich in einem Bereich, der von allen anderen gemieden wurde. »Was ist mit diesem Objekt?«, drängte Vereb. »Wir werden es vermutlich verlieren, Kommandant.« Die Stimme des Offiziers zeugte von seine m Unbehagen, dem Kommandanten einen solchen Bescheid geben zu müssen. »Es
dringt in einen Bereich vor, den wir mit unserer Ortungstechnik nicht erfassen können.« »Danke«, sagte Imre Vereb knapp. Er tadelte den Ortungsoffizier nicht. Es lag auf der Hand, dass ein solch abstruses Gebilde wie dieser Kubus mit der Kantenlänge von einer Lichtstunde Geheimnisse barg, die irdische Technik nicht einfach aufzulösen vermochte. Es wunderte ihn bereits, dass die Taster die Energiewand überhaupt durchdringen und das Innere des Kubus über weite Strecken analysieren konnten. Nur die Struktur der Energiewand selbst blieb ein Rätsel. Sie ließ sich nicht berechnen, und solange das nicht möglich war, war es auch nicht möglich, die Waffen so zu kalibrieren, dass sie diese Struktur auflösten. Nun, es sah ohnehin nicht so aus, als würde der Master in absehbarer Zeit einen erneuten Angriffsbefehl erteilen. Der Blutzoll, den sie für die erste Attacke gezahlt hatten, war dem Oberkommando wohl hoch genug. Zumal Niederlagen dieser Art selten geworden waren in den letzten Jahrzehnten... Von der Ortung kam wieder eine Meldung. »Das einzelne Rochenschiff nähert sich dem Rand einer Sphäre, die für unsere Taster absolut undurchdringlich - und nicht zuzuordnen ist. Wenn es dort eindringt, verlieren wir es wirklich.« Vereb nickte und bestätigte. Es gab nichts, was er als Beobachter dagegen unternehmen konnte. Er konnte die Daten nur weiterleiten. Und gespannt sein, was als Nächstes geschah. * Darnok löste sich nur widerwillig aus seinen Überlegungen. Warum soll ich die Arbeit machen, die andere auch erledigen können?, fragte er sich. Doch zumindest bei dem ersten
umgestellten Menschwesen konnte er sich der Logik des Handelns nicht ganz entziehen; es war so gut wie unmöglich, dass ein Wasseratmer im Luft-Raum agieren konnte. Denn gerade ihrer Umgebung wegen gab es bei den Bewohnern des Aqua-Kubus keine entsprechenden »Schutzanzüge«, und es war von dem sterbenden Rurkka sicher entschieden zu viel verlangt, noch etwas Derartiges zu erschaffen. Also tat Darnok, worum er so dringend gebeten worden war. Warum tue ich das eigentlich?, fragte er sich dabei. Angehörige ihrer Art haben mein Volk ausgerottet. Und ich helfe diesen hier beim Überleben? Bin ich noch bei Verstand? Ja! Und er war definitiv kein Mörder - wollte sich nicht auf die gleiche Stufe hinabbegeben wie jene, die die Keelon ausgerottet hatten. Also holte er Jarvis aus seinem Behältnis. Er riss ihm den Kleber vom Mund und öffnete die verstopften Nasenlöcher. Mehr konnte er nicht tun. Jarvis war wie tot, aber wäre er es wirklich, hätte Rurkka Darnok sicher nicht gebeten, sich um den Erinjij zu kümmern, ihm zu helfen. Tote waren für die Meister der Materie nur noch Material, so viel hatte Darnok inzwischen begriffen. Und Rurkka stellte in dieser Hinsicht als Erster Verwerter bestimmt keine Ausnahme dar. »Wach auf!«, sagte Darnok zu dem GenTec, »und beeile dich damit.« Dann verließ er den Raum, ohne sich weiter um Jarvis zu kümmern, und machte sich wieder an seine unterbrochene Arbeit. * Cloud hatte das Gefühl, dass das Rochenschiff langsamer wurde. Aufmerksam betrachtete er die Anzeigen der Instrumente. Einige sagten ihm inzwischen etwas. Er wandte sich wieder an Golgerd.
»Wir verlangsamen. Warum?« Golgerd schwieg. Er wirkte noch unruhiger als zuvor. »Warum?«, wiederholte Cloud. Jetzt wandte der Vaare sich ihm zu. Einer der Nesselfäden berührte den Menschen. Cloud empfing ein eigenartiges Bild, das er im ersten Moment nicht zu deuten wusste. Dann erkannte er, dass es wohl so etwas wie eine allgemeine Gefahrenwarnung sein sollte. »Gefahr? Was für eine Gefahr?« Golgerd äußerte sich nicht. »Nimm die ursprüngliche Reisegeschwindigkeit wieder auf«, verlangte Cloud. Aber der Vaare reagierte nicht. Cloud wollte den Rezeptor zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch nicht einsetzen. Aber ohne dessen Einsatz konnte er den Vaaren weder dazu zwingen, ihm eine zufriedenstellende Antwort zu geben, noch dazu, die Flug- nein, die Schwimmbzw. Fahrtgeschwindigkeit wieder zu erhöhen. Ich denke immer noch zu sehr in Weltraumbegriffen, dabei ist das hier eher ein U-Boot als ein Raumschiff, korrigierte er sich selbst. Also konzentrierte er sich wieder auf die Instrumente. Da war etwas... voraus, genau auf dem Kurs, der die DAALGOR tiefer in den Heiligen Bezirk brachte. Etwas Eigenartiges. »Was, zum Teufel, ist das?«, stieß Cloud hervor. Es war etwas, das nicht in den Aqua-Kubus zu gehören schien... * Bei Scobee arbeitete Rurkka etwas schneller. Er konnte auf den Erfahrungen aufbauen, die er mit Jarvis gesammelt hatte. Dennoch spürte er, wie die Zeit unaufhaltsam verrann und seine Lebenskraft immer mehr zur Neige ging.
Erst, als er fertig war und erschöpft von dem Behältnis zurücktaumelte, erinnerte er sich wieder an Jarvis und Darnok. Hatte Darnok getan, worum er gebeten worden war? Der Erste Verwerter sah zur Bildwiedergabe hinüber, die ihm den Luft-Raum nebenan zeigte. Erleichtert registrierte er, dass das Behältnis nur noch Wasser, aber keinen GenTec mehr enthielt. Jarvis kauerte auf einer Art Tisch; er war wach und wartete auf das, was kam. Rurkka beförderte Scobees Tank durch die enge Wasserschleuse in den Nebenraum. Sofort sprang Jarvis auf und eilte ihr entgegen. Zwar lag sie da wie tot, doch er machte sich keine Sorgen. »Alles in Ordnung?«, fragte er, als sie aus ihrem »Winterschlaf« erwachte. »Ich lebe«, sagte sie. »Zumindest hoffe ich das. Es hat bei uns beiden funktioniert, ja?« »Ja. Wir atmen wieder normale Luft. Das heißt, wir können zunächst nicht in die DAALGOR zurück. Resnick und Cloud...« »Resnick ist der Nächste. Er sollte längst hier sein. Cloud ist jetzt auf sich allein gestellt.« »Resnick ist gerade eingetroffen«, vernahmen sie Rurkkas Stimme aus der Funkübertragung. »Es geht weiter.« »Schaffst du es?«, fragte Scobee. Rurkka antwortete nicht. * Stört ihre Ruhe nicht! Darnok traute sich selbst nicht mehr. Deshalb überprüfte er immer wieder die Informationen, die das Programm ihm geliefert hatte. Fast wünschte er sich, einen Fehler in der Übersetzung zu entdecken. Aber es gab keinen. Deshalb war er froh, dass die anderen nichts davon lesen, nichts davon
verstehen konnten. So konnte er das gewonnene Wissen noch eine Weile zurückhalten, selbst wenn Cloud und die GenTecs ihn zu bedrängen versuchten und sich bemühten, das Programm selbst zu benutzen. Sie würden es nicht können. Sie verstanden die keelonische Programmiersprache nicht. Woher auch? Stört ihre Ruhe nicht! Die Botschaft der Tafeln klang nur im ersten Moment unverständlich. Bei genauerem Nachdenken... Auch der Begriff Sieben Hirten war darin enthalten... Cloud hatte von den mythischen Gestalten berichtet, über die er in Königin Lovrenas Gewahrsam erfahren hatte. Keine Details. Namen. Nichts Greifbares... aber in Verbindung mit den Botschaften hier... Darnoks Überlegungen stockten. Scobee, deren Umstellung offenbar ebenso wie bei Jarvis funktioniert hatte und die sich deshalb momentan nur noch innerhalb des Karnut bewegen konnte, nahm Verbindung mit ihm auf. »Wie weit sind deine Forschungen gediehen?« »Sie sind abgeschlossen«, sagte er und hoffte, dass die Frau die Unsicherheit in seiner Stimme nicht bemerkte. »Du warst also erfolgreich?«, fragte Scobee. »Teilweise«, wich Darnok aus. »Nur teilweise. Ich konnte nicht alles herausfinden, was ich herausfinden wollte. Ich verstehe nur Bruchstücke dessen, was die Tafeln an Informationen verbergen. Aber ich sehe auch, dass Galanor mir nicht weiterhelfen kann - und vermutlich auch keiner der anderen Vaaren. Galanor reagierte am stärksten. Die anderen... nein, sie nützen mir nichts bei der Wissensfindung.« »Was genau hast du herausfinden können?«, wollte Scobee wissen. »Nicht viel. Ich sagte schon, es sind Bruchstücke. Ich muss erst versuchen, diese Fragmente logisch zusammenzubringen und daraus einen Sinn zu lesen. Es wird noch dauern, bis ich
mehr dazu sagen kann.« Er schaltete die Verbindung ab. Er hatte sie belogen. Denn er war sich nicht sicher, ob sie die Wahrheit ertragen konnten. Er war nicht einmal sicher, ob er sie ertrug. * Cloud wandte sich an Golgerd, den vaarischen Kommandanten. »Was bedeuten diese Daten?«, fragte er und wies auf die Instrumente. Golgerd schwieg. Aber seine Unruhe hatte sich erkennbar gesteigert. »Warum willst du es mir nicht sagen?«, drängte Cloud. Golgerd erwiderte immer noch nichts. Nach wie vor wollte Cloud den Rezeptor nicht einsetzen. Er hoffte, dass es auch ohne dieses Gerät, diese Waffe, gehen würde - irgendwie. Etwas in ihm schalt ihn einen Narren und schrie ihm zu, den Rezeptor einzusetzen. Aber er war ein Mensch, der selbst die Freiheit liebte und es hasste, auf irgendeine Weise manipuliert zu werden. Der Bordfunk sprach an. Cloud wurde aus dem Karnut gerufen. »Scob«, stellte er erleichtert fest. »Wie sieht es aus?« »Jarvis und ich sind in Ordnung. Resnick ist derzeit in Behandlung -« Cloud nickte. »Ich weiß«, sagte Cloud. »Ich bekam mit, wie Rurkka ihn zu sich rief.« »In Kürze bist auch du an der Reihe«, sagte Scobee. »Ja.« Er war sich nicht sicher. Er wusste nicht, in welcher körperlichen Verfassung der Sterbende war, und ob er es wirklich noch schaffen konnte, auch Cloud wieder auf Luftatmung umzustellen. Er konnte nur hoffen, aber das war zu
wenig. »Ich habe mit Darnok gesprochen«, sagte Scobee. »Worüber?« »Darnok ist es gelungen, einen Teil der Informationen zu enträtseln, welche die Tafeln in sich bergen«, sagte sie. Cloud sah ihr Abbild in der Bildübertragung verblüfft an. »Und - was teilen die Tafeln ihm und uns mit?« »Das hat er nicht verraten wollen«, gestand Scobee. »Er deutete nur an, dass er die bisher gewonnenen Informationen noch ordnen muss.« Cloud nickte. »Dann soll er das mal tun.« »Ist das eine Anweisung, die an Darnok weiterzugeben ist?«, spöttelte sie. Cloud seufzte. »Natürlich nicht. Nur ein laut ausgesprochener Gedanke. Aber mal eine ganz andere Sache: Kannst du mir verraten, worauf wir derzeit zufliegen? Golgerd spielt Auster. Auch er verrät nichts. Aber wir fliegen auf etwas zu, das mir unheimlich ist, und ich hoffe, dass Darnok mit den Instrumenten des Karnuts wenigstens so viel davon erfasst, dass es uns weiterhilft.« »Ich frage ihn danach«, sagte Scobee, »und hoffe, dass er mir antwortet. Gedulde dich ein paar Minuten. Kannst du die Vaaren veranlassen, dass sie ihre Daten ins Karnut überspielen, falls Darnok sie nicht so erfassen kann wie die Instrumente des Rochenschiffs?« »Wir können das«, teilte Golgerd im gleichen Moment mit und ließ Cloud zusammenfahren, der mit einer Einmischung des Kommandanten überhaupt nicht mehr gerechnet hatte. »Dann macht das - schnell«, bat Cloud. »Datentransfer läuft«, sagte Golgerd, und dann: »Datentransfer abgeschlossen.« Danach versank er wieder in tiefes, unruhiges Schweigen. Cloud wandte sich wieder an Scobee. »Was sagt Darnok dazu?«
»Verdammt, lass mir wenigstens genug Zeit, ihn danach zu fragen!«, fuhr sie ihn an. »Übe dich in Geduld!« »Ich übe ja schon...« Aber sie hörte seiner Beteuerung schon nicht mehr zu; er hatte auch nicht ernsthaft damit gerechnet. Erst nach fast einer halben Stunde meldete sich dann Darnok selbst. »Wie nett«, kommentierte Cloud sarkastisch. »Ich bekomme also endlich einmal Antwort auf eine Frage?« »Wolltest du keine?«, fragte der Keelon ruhig. Und dann, ohne Clouds ärgerliche Erwiderung abzuwarten, fügte er hinzu: »Das, was die Instrumente anzeigen, ist...« »Ja, was denn nun?«, drängte Cloud. »... es ist gänzlich unmöglich. Das gibt es nicht.« * »Es ist die Grenze«, teilte Golgerd überraschend mit - und hüllte sich danach wieder in Schweigen. »Was für eine Grenze? Eine Grenze zwischen - was? Dem Aqua-Kubus und dem... was denn? Was befindet sich jenseits dieser Grenze?«, drängte Cloud. Auf eine Antwort von Golgerd zu warten, war illusorisch. Der Vaare, der immer nervöser wurde, dachte nicht daran, mehr als orakelhafte Sprüche von sich zu geben. »Du solltest Rurkka fragen«, empfahl Darnok. Cloud war nicht sicher, ob der Keelon es ironisch meinte; immerhin musste er doch wissen, dass Rurkka starb und vor seinem Tod mit ganz anderen Dingen beschäftigt war. Aber im Tonfall von Darnoks Stimme konnte Cloud keine Ironie, keinen Sarkasmus ausmachen. Aber jetzt endlich entschloss er sich, Golgerd doch zu einer Reaktion zu zwingen. Er setzte den Rezeptor ein, so wie Rurkka es ihm gezeigt
hatte. Er gab seine Anweisungen. Golgerd reagierte tatsächlich wunschgemäß, und es war ihm nicht anzusehen, ob er es verabscheute oder gern tat. Unter dem Einfluss des Rezeptors wurde er aktiv. Er bildete Nesselfäden aus, die sich über den Schaltflächen des Kommandostands hin und her bewegten. Ein holografisches Bild entstand, das ein wenig anders aussah als die bisherige Bildwiedergabe der Umgebung, wie sie sich Cloud bislang dargestellt hatte. Taktische Darstellung, durchfuhr es den ehemaligen Airforce-Piloten. Etwas in dieser Perfektion hätten wir seinerzeit in unseren Jetts gebraucht... Alles wirkte plötzlich irgendwie gestrafft und eher symbolisiert als normal dargestellt. Das, worauf sie immer langsamer werdend zuflogen, war tatsächlich so etwas wie eine Grenze! Eine Grenze im Wasser, die sich als Energiegeflecht zeigte, das aber lückenhaft war. »Was mag dahinter sein?«, flüsterte Cloud. Doch die Taster drangen nicht weit genug vor. Entweder konnten sie das, was sich hinter dem Geflecht befand, tatsächlich nicht erfassen, oder ihre Reichweite war nicht groß genug. »Objekt ist kugelförmig«, sagte Golgerd. »Eine absolut perfekte Kugelform.« Und es war rot. »Zurück auf optische Darstellung«, verlangte Cloud. »Auf was, bitte?« »Auf die vorherige Anzeigeform, ehe du umgeschaltet hast«, stöhnte er. Golgerd schaltete. Die Wiedergabe änderte sich erneut. Das rote Leuchten blieb, aber jetzt, da Cloud die andere Darstellung kannte, konnte er sich alles besser vorstellen. Da war eine Kugel, die karmesinrot leuchtete und aus einem
lückenhaften, engmaschigen Geflecht bestand. Und die, falls sein Bauchgefühl Recht behielt, etwas schützte... Oder den Aqua-Kubus vor dem schützte, was sich in ihr befand? »Was hältst du davon?«, fragte er den Keelon über die Bordverbindung. Cloud ging davon aus, dass dieser sich die Daten einfach holte. Und damit lag er absolut richtig. Darnok wirkte ein wenig erschreckt. Es schien, als wäre er aus einer sehr privaten Beschäftigung herausgerissen worden. In der Bildwiedergabe der Funkverbindung sah Cloud, wie Darnok rasch einen Monitor verdunkelte. Was hat er?, fragte er sich. Stimmt da etwas nicht? »Kannst du mir verraten, womit wir es bei dem, auf das wir zu fliegen, zu tun haben?«, wollte er wissen. »Die Ortungen des Jadeschiffs...« »Ich frage dich, Darnok«, unterbrach ihn Cloud erneut. »Was die Ortungen des Rochens erbringen, sehe ich selbst. Mich interessiert, was die Ortungen des Karnuts erfassen. Oder sind die blind? Kannst du die Daten vergleichen? Danach sage mir, was du davon hältst!« »Warte«, erwiderte Darnok fast schroff. Er kümmerte sich um seine Instrumente, verschwand zeitweise aus dem Bildfeld. Dann tauchte er wieder auf. »Es handelt sich um eine von einem sehr fragmentarisch errichteten Energiefeld umschlossene Kugel«, sagte er dann. »Aber es gibt in diesem Feld große Durchlässe.« »Darauf bin ich auch schon gekommen«, sagte Cloud. »Hast du nicht mehr anzubieten?« »Sie sind sehr groß«, sagte Darnok. »Sie umfassen immerhin teilweise mehr als hundert Kilometer.« Natürlich verwendete er andere Maßeinheiten. Aber der Übersetzerchip, den er schon vor einiger Zeit sowohl Cloud als auch den GenTecs eingepflanzt hatte, rechnete die Werte auch jetzt umgehend in irdische Maße um.
Lücken mit einer Größe von hundert Kilometern! Mit Kleinigkeiten schien man sich im Aqua-Kubus noch nie aufgehalten zu haben! Und trotz dieser gigantischen Lücken war das Energiegeflecht stabil und hielt die Barriere zwischen hüben und drüben aufrecht und undurchdringlich? »Der Durchmesser dieser Kugel beträgt knapp eine Lichtsekunde«, teilte Darnok weiter mit. Das war auch etwas, das die taktische Wiedergabe der Rochenschiff-Ortung Cloud nicht verraten hatte. Eine Lichtsekunde - knapp 300.000 Kilometer! Cloud atmete tief ein - was allerdings keine Luft, sondern Wasser in seine Lungen pumpte. Die Protomaschinen in ihm sorgten nach wie vor dafür, dass er es vertrug. Sie elektrolysierten den Sauerstoff heraus und machten ihn seinem Körper verfügbar; den Wasserstoff atmete er als kleine Luftbläschen normal aus. »Da ist noch etwas«, sagte Darnok. »Was?« »Das Innere der Kugel scheint völlig wasserfrei zu sein. Wenn du freundlicherweise dafür sorgen könntest, dass die Vaaren meinen Instrumenten Zugriff auf ihre Ortungen und ihre Rechnersysteme erlauben, könnte ich mehr herausfinden.« Erwartungsgemäß lehnte Golgerd ab. Cloud zögerte, dann setzte er den Rezeptor doch wieder ein. Ihm lief die Zeit davon. Natürlich, denn wenn Rurkka vorzeitig starb, würde sich Cloud sein Restleben als Wasseratmer wie die Vaaren, Luuren, Heukonen und anderen Bewohner des AquaKubus fortsetzen müssen. Aber jeden Moment konnte ihn auch die Aufforderung erreichen, das Karnut zu betreten, um seine Atmung wieder auf normal umstellen zu lassen. Dann war er für die Dauer dieser Operation handlungsunfähig. Und danach... »Verdammt«, murmelte er. So oder so wurden seine
Möglichkeiten immer weiter eingegrenzt. Mit spürbarem Widerwillen gehorchte der Kommandant der DAALGOR und erteilte die entsprechenden Befehle, die nur zögernd befolgt wurden. Aber immerhin - sie wurden ausgeführt. Darnok erhielt den erwünschten Zugriff. Wenig später meldete er sich wieder. »Meine Beobachtung ist verifiziert«, erklärte er. »Das Innere der Kugel ist tatsächlich wasserfrei.« »Unglaublich!«, entfuhr es Cloud. »Mich wundert, dass bei den vielen riesigen Lücken das Wasser des Aqua-Kubus nicht hindurchstößt.« Auch Darnok hielt das für recht erstaunlich. Für dieses Rätsel hatte er keine Lösung bereit. Die Vaaren hingegen konnten oder wollten sich dazu nicht äußern. Cloud wunderte sich nicht darüber. Für sie war der Heilige Bezirk tabu. Sie hatten ja nicht einmal ahnen können, worauf sie hier stießen. Um so weniger konnten sie wissen, wie die technischen Details aussahen - wie das rote Energiefeld der Kugel wirkte. Sie wussten überhaupt nichts darüber, waren nicht minder überrascht als Darnok und die Menschen. »Kein Wasser also«, grübelte Cloud. »Was befindet sich stattdessen in dieser Kugel? Eine Atmosphäre?« »Absolutes Vakuum«, sagte Darnok. Cloud erschauerte bei der Vorstellung, welche Energiemengen nötig waren, um diese Kugel gegen den Wasserdruck zu schützen. Woher kam diese ungeheure Energie? Wo befanden sich die Kraftwerke und Konverter, die Speicher? Wo die Masse, die erforderlich war, um zu dieser Energie umgeformt zu werden? Genügten die Stationen an den Eckpunkten? Er fragte Darnok danach. »Das kann ich nicht erfassen und deshalb auch nicht errechnen«, sagte der Keelon. »Aber ich kann dir noch etwas anderes zeigen.« »Was?«, fragte Cloud. »Schau.«
Und der Holoschirm des Jadeschiffs, vom Karnut aus manipuliert, zeigte das, was sich im Innern der Kugel befand! Es wurde herangezoomt, gerade so, als jage eine Kamerasonde durch eine der Lücken des Energie felds ins Innere der Kugel. Und da war... Finsternis. Schwärze. Abgrundtiefes Schwarz. Cloud spürte die Gänsehaut, die sich auf seinem Körper bildete. Der Weltraum, der von der Erde aus bei Nacht schwarz erschien, übersät von den hellen Lichtpunkten der Sterne und Galaxien, war alles andere als wirklich schwarz. Er war farbenprächtig durch die von Sternen angestrahlten Gas- und Staubwolken, zeigte fantastische, wunderschöne Bilder, die Cloud schon als Kind fasziniert hatten, als er zum ersten Mal Aufnahmen von Teleskopsatelliten wie Hubble und seinen Nachfolgern sah. Das hier aber war nur schwarz. Entsetzlich schwarz. Furcht erregend. Erinnerungen weckend. Böse Erinnerungen. Die Schwarze Flut... Diese unglaubliche, lähmende Finsternis, von der das irdische Sonnensystem heimgesucht wurde und die alle Technik vorübergehend lahm legte. Unmittelbar vor der Invasion der Äskulapschiffe. Cloud erschauerte. Er musste gegen die bösen Erinnerungen ankämpfen. Bis zu jenem Moment war die Welt noch in Ordnung gewesen. Er war der Commander des Marsraumschiffs RUBIKON mit der Mission, nach der ersten Mars-Expedition zu suchen, die spurlos verschollen war, und die von seinem Vater geleitet worden war. Und dann war plötzlich alles ganz anders geworden. Ganz anders. Und hier und jetzt, im Aqua-Kubus, glaubte John Cloud dieser Finsternis zum zweiten Mal zu begegnen, dieser Abwesenheit von Licht, die schlimmer war als nur Dunkelheit. Die Schwarze Flut...
So hatten sie die Erscheinung genannt. Hatte sie etwa hier ihren Ursprung? NEIN!, schrie etwas in Cloud, tief in seiner Seele. Es durfte nicht, es konnte nicht sein. Er wollte das Rätsel lösen. Aber doch nicht jetzt, nicht in diesem Moment! »Warum?«, flüsterte er. »Finde mehr darüber heraus, Darnok«, bat er mit brüchiger Stimme. »Findet mehr darüber heraus«, befahl er auch den Vaaren, unterstützt durch den Rezeptor. Diese Finsternis... die Schwarze Flut... warum hier und jetzt? * War es ein Zufall? Daran konnte und wollte Cloud nicht glauben. Es musste eine Verbindung geben, dessen wurde er immer überzeugter. Er hoffte, dass die Vaaren und Darnok mehr über dieses Phänomen herausfanden. Er hoffte auch, dass Darnok vielleicht bei der Entschlüsselung der Tafeltexte etwas darüber fand oder sogar schon gefunden hatte. Aber Darnok verneinte. Und die Vaaren konnten auch keine brauchbaren Resultate liefern. Die technischen Möglichkeiten des Rochenschiffs reichten dazu nicht aus. Cloud war sicher, dass Golgerd und seine Besatzungsmitglieder ihn nicht belogen. Der Rezeptor zwang sie dazu, in Clouds Sinn zu handeln. Er hasste sich selbst dafür, diese Waffe einzusetzen und andere Lebewesen zu manipulieren, ihre eigene Entscheidungsfähigkeit total außer Kraft zu setzen. Aber blieb ihm eine andere Möglichkeit? Nein, sie konnten ihm nichts verschweigen oder ihm
Unwahrheiten andienen. Das war unter dem Rezeptor-Einfluss unmöglich. Es war die Technik, die sich in diesem Fall als unzulänglich erwies, obwohl sie im Vergleich zu dem, was Cloud von der Erde, von der RUBIKON her kannte, unglaublich überlegen war. Aber auch diese Überlegenheit reichte eben nicht aus. Cloud fühlte sich in der Nähe der riesigen Kugel in die Enge getrieben. Was, wenn jetzt Verfolger-Schiffe der Vaaren auftauchten...? Immer wieder sah er den Holoschirm an. Diese karmesinrote Kugel mit der Schwärze darin... wasserfrei... Vakuum... Und wieder der Gedanke an die Vaaren und ihre Königin. Lovrena konnte einfach nicht zulassen, dass jemand das uralte Tabu brach und sich zusätzlich auch noch über ihren ausdrücklichen Befehl zur Umkehr hinwegsetzte. Sie würde handeln müssen. Sie musste die DAALGOR aufhalten lassen, egal wie. Und das Logischste war, andere Rochenschiffe der DAALGOR nachzusenden, um sie zu vernichten. Denn allein mit der Ferntötung Rurkkas konnte sie sich nicht zufrieden geben. Rurkka war nur ein Werkzeug, nicht die treibende Kraft dieses Frevels. Der Oberfrevler war John Cloud, waren die Menschen und Darnok. Diese Gruppe musste sie treffen, und das gelang ihr nur, wenn sie das komplette Rochenschiff zerstören ließ. Ein anderer Gedanke: Dazu mussten die Verfolger ebenfalls in den Heiligen Bezirk eindringen. Ein weiterer Tabubruch. Würden die Vaaren das wagen? Wenn der Befehl dazu von ihrer Königin kam, vielleicht... Cloud musste damit rechnen, dass jederzeit ein Vernichtungsangriff auftauchender Verfolger einsetzte. Und - vielleicht standen Lovrena ja auch noch ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung...? *
Rurkka benötigte eine Ruhepause. Er trat von dem Behältnis zurück, in dem Resnick lag. Noch eine letzte Umwandlung, dann konnte auch dieser Mensch wieder Luft atmen. Rurkka spürte, wie es dem Ende entgegen ging. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Dennoch musste er jetzt pausieren. Seine Anstrengungen gingen nicht spurlos an ihm vorüber, sie stahlen ihm mehr und mehr Kraft und verkürzten dadurch seine verbleibende Lebensspanne. »Ich hätte es nicht tun sollen«, überlegte er. »Ich hätte die restliche Zeit meines Lebens für mich selbst verwenden sollen, nicht für andere.« Aber was hätte er mit dieser Zeit anfangen können? Seine Träume waren schon vor ihm gestorben, in jenem Moment, als ihn das Todesurteil der Königin erreichte. Er würde die Sterne niemals erreichen, er würde niemals vollbringen können, was er wollte. So aber konnte er wenigstens noch einmal etwas Nützliches tun, konnte anderen helfen. Das war sinnvoll. Er fühlte eine immer stärker werdende Unruhe in sich. Anfangs ging er davon aus, dass es mit der Todesnähe zu tun hatte. Aber mehr und mehr kam er von diesem Gedanken ab. Es war die gleiche Unruhe, von der auch die Vaaren an Bord der DAALGOR erfasst waren. Sie erreichte auch ihn, wenngleich nicht so stark wie die Vaaren. Und er konnte sie bezwingen. Noch. Es spielte für ihn ohnehin keine große Rolle mehr. Er würde bald tot sein. Was ging es ihn dann noch an, ob er in Ruhe oder in Unruhe starb, ob die Vaaren immer aufgeregter und panischer wurden? Es betraf ihn nicht mehr. Damit mussten andere fertig werden. Er raffte sich wieder auf. Er musste seine Arbeit zu Ende
bringen. Er wandte sich wieder Resnick zu. Ein letztes Mal. Dann, als Resnick um Atem zu ringen begann, schob er auch dessen Behältnis durch die Schleuse in den Nebenraum. Er hatte es geschafft. Jetzt musste er sich nur noch um John Cloud kümmern. Er kämpfte gegen einen weiteren Schwächeanfall an. Dann bat er Cloud zu sich.
5. Cloud zögerte, in den vierten Tank zu steigen. »Jemand muss die Kontrolle über die Vaaren behalten«, sagte er. »Ich sollte deinen Rezeptor Scobee oder einem anderen überlassen. Du musst demjenigen die Funktion erklären, so wie du sie mir erklärt hast.« »Dafür bleibt keine Zeit«, fuhr Rurkka ihn an. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte. Ich werde immer schwächer. Je mehr Zeit wir vergeuden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich deine Behandlung beenden kann!« »Aber die Vaaren sind ohne jede Kontrolle, solange ich mich in diesem Tank befinde!« »Sie sind es auch, wenn deine Gefährten den Rezeptor vom Karnut aus einsetzen wollen. Ich glaube nicht dass er dann funktionieren wird. Steig ein. Lass uns beginnen, oder willst du lieber darauf verzichten und Wasseratmer bleiben? Du weißt, dass es dich auf ewig an ein Leben in Tovah’Zara binden würde. Denn es wird niemanden außer mir geben, der dir hilft.« Cloud gab sich einen Ruck. Er kletterte in das Behältnis. Er musste das Risiko eingehen, dass sie die unmittelbare Kontrolle über die Vaaren verloren. Und vielleicht ließ Darnok sich ja doch noch überreden, Schutzanzüge zur Verfügung zu stellen. Immerhin hatte er
selbst ja so etwas getragen, als er sich vorübergehend außerhalb des Karnut aufhielt! »Deine Gefährten Scobee und Jarvis haben an diesem Tank Veränderungen vorgenommen«, sagte Rurkka rau. »Für den Fall, dass ich nicht mehr lange genug lebe. Das Behältnis kann dann komplett verschlossen und das darin befindliche Wasser abgepumpt und durch euer Luftgemisch ersetzt werden.« Damit also hatten die GenTecs sich in der Zwischenzeit beschäftigt... »Was hilft es mir, wenn ich trotzdem Wasseratmer bleibe?«, gab er zu bedenken. »Ich versuche, den Vorgang bei dir zu beschleunigen. Du wirst höchstwahrscheinlich Luft atmen können.« »Zu beschleunigen«, seufzte Cloud. Warum hatte Rurkka diese Beschleunigung nicht auch schon bei den anderen durchgeführt? »Weil es mich zu viel meiner verbleibenden Lebenskraft gekostet hätte«, sagte der Luure, als ahnte er seine Gedanken. Ich bin also ein Versuchskaninchen, dachte Cloud. Er experimentiert. Ein letztes Mal in seinem Leben - und ausgerechnet mit mir! Es gefiel ihm immer weniger. Eine dumpfe Beklommenheit breitete sich in ihm aus. Die unterschwellige Furcht, dass es bei ihm nicht funktionieren würde. Ohnehin unterschied sich seine körperliche Konstitution von der der drei GenTecs. Er verkraftete weit weniger Belastung, die bei dieser Umstellung mit Sicherheit auftreten würde. Er war nahe daran, einen Rückzieher zu machen. Aber dann wieder sagte er sich, dass er wohl für alle Zeiten Gefangener des Kubus bleiben würde, wenn er sich jetzt weigerte, die Prozedur über sich ergehen zu lassen. Und er durfte auch nicht mehr lange überlegen. »Fang an!«, verlangte er.
* Auch Golgerd, der Kommandant des Jadeschiffs, wurde immer stärker von der allgemeinen Unruhe erfasst. Hier und da kam es zu Panikreaktionen, die von ihm nicht mehr unterbunden wurden. Das Einzige, was er noch zustande brachte, war, offensichtliche Fehlschaltungen zu korrigieren. So lange, bis er in sich zusammensank und sich nicht mehr bewegte. Keine Hektik, kein Hin- und Herwirbeln in der Zentrale oder im Schiff mehr... er brach einfach zusammen. Neben ihm zwei weitere Vaaren. Scobee, die den Vorgang über eine Bildverbindung zur Rochenzentrale verfolgte, zuckte zusammen. »Was passiert da?« »Keine Ahnung!«, stieß Resnick hervor. »Sieht so aus, als würden sie sterben!« Seine Finger glitten über Schalter, richteten Sprechverbindungen ein. »Was geschieht bei euch?«, rief er. Seine Stimme, elektronisch verstärkt, dröhnte durch die wassergefüllten Räume und Gänge der DAALGOR. Unüberhörbar laut. Jarvis schaltete Bildverbindungen in andere Räume. Überall das gleiche Bild: in sich zusammensinkende Vaaren. Eben noch hetzten sie nervös hin und her, jetzt waren sie still. Ganz still. Totenstill. »Was geschieht?«, hallte Resnicks Stimme erneut durch das Rochenschiff. Von irgendwoher kam Antwort. »Frevel... niemals hätten wir in den verbotenen Bezirk vorstoßen dürfen... es gibt nur einen Weg der Sühne, um der endlosen Strafe zu entgehen...« »Nein!«, stieß Scobee entsetzt hervor.
»Wir gehen unseren letzten Weg... wir verlassen dieses Dasein... wir haben gefrevelt, wir können und dürfen nicht mehr weiterleben...« »Wer sagt das?«, schrie Resnick. »Eure Königin? Hat sie euch auch mit einem Todesbefehl belegt wie den Luuren Rurkka?« »Wir können mit dieser Schuld nicht mehr leben... wir gehen nun... es ist der einzige Weg, der uns bleibt...« »Ihr müsst euch gegen den Befehl wehren!«, drängte Scobee. »Kein Befehl... nur Schuld, unendliche Schuld...« Und danach kam nichts mehr. Kein einziger Vaare antwortete mehr. Kein einziger Vaare lebte noch. »Sie...«, murmelte Resnick brüchig, »sie haben... sie haben sich alle... selbst getötet...« Er schrie in wilder Verzweiflung und Wut auf. »WARUM?!« * Auch Darnok, von den GenTecs aus seiner unerfindlichen Beschäftigung aufgeschreckt, war fassungslos. Der Keelon hatte den kollektiven Suizid der Vaaren gar nicht mitbekommen. Aber jetzt wirkte er entsetzt. »Schlimmer hätte es nicht kommen können«, sagte er. »Ohne die Vaaren ist das Rochenschiff wertlos. Es kann nur mit Psi-Kraft bewegt werden, die von den Vaaren ausgeht. Keine Vaaren mehr, keine Bewegung, keine Steuerung. Die DAALGOR nützt uns nichts mehr. Sie ist jetzt nur noch...« »... Schrott«, sagte Jarvis. »Totes Gewebe«, erwiderte Darnok. »Was jetzt?«, wollte Resnick wissen. »Wie kommen wir unserem Ziel näher? Wenn die DAALGOR nicht mehr
steuerbar ist, müssen wir das Karnut ausschleusen und...« »... und ganz schnell von hier verschwinden«, sagte Jarvis. »Raus aus diesem verdammten Kubus, ehe noch Schlimmeres passiert. Zur Hölle mit dem Heiligen Bezirk, zur Hölle mit dieser Vakuumkugel. Wir müssen hier raus. So bald wie möglich. Sonst erwischt es uns irgendwie auch noch.« »Alle sind tot«, flüsterte Scobee erschüttert. »Der Nächste wird Rurkka sein. Wer danach? Einer von uns? Wir alle?« »Eine Flucht mit dem Karnut aus dem Aqua-Kubus ist aussichtslos«, sagte Darnok. »Die Jadeschiffe bewegen sich auf andere Weise als mein Schiff. Der Wasserwiderstand lässt für das Karnut nur ein Kriechen zu. Wir würden Jahre benötigen, um den Rand zu erreichen. Ich könnte es nur ausgleichen, indem ich mein ganzes Magoo aufbiete - und selbst das würde nicht reichen.« »Es ist nur eine halbe Lichtstunde!«, protestierte Resnick. »Was immer dein Magoo auch sein mag - gibt es so wenig her?« Darnok ging nicht auf die flapsige Bemerkung ein. »Das Karnut erreicht unter den hiesigen Umständen - in dieser Wasserumgebung - eine Geschwindigkeit von höchstens...« Er nannte eine Größe, die etwa hundert Kilometern pro Stunde entsprach. Die Übersetzerchips halfen bei der gegenseitigen Umrechnung der Werte. »Wir brauchten weit über zehn Jahre«, fügte er hinzu. »Und so lange halten die Vorräte vermutlich nicht vor. Mit oder ohne dein ominöses Magoo«, seufzte Jarvis. Und brach zusammen. * Es war die Minute, in der auch Rurkka starb. Er arbeitete unter immer stärker werdendem Zeitdruck an John Cloud. Seine Kräfte schwanden rapide; hin und wieder
wusste er nicht einmal mehr genau, was er tat. Immer häufiger musste er Konzentrationspausen einlegen. Er ahnte, dass er es nicht mehr schaffen konnte. Es war zu viel. Für Cloud reichte seine Schöpferkraft nicht mehr aus. Seine Lebensfrist. Und doch... er ging diesmal einen anderen Weg, einen experimentellen - und dann sah er, wie der Tod nach ihm griff. Und instinktiv löste er die Schaltung aus, die das Behältnis verschloss und das Wasser gegen Atemluft tauschte. Luft, in der er selbst niemals hätte überleben können. Aber er schaffte es nicht mehr, das Behältnis durch die Schleuse in den Nebenraum zu schieben. Er hoffte, dass er wenigstens das Signal noch hatte auslösen können. Aber er hatte nicht alle Spuren der Protoveränderung beseitigen können... Manches blieb noch in Clouds Körper zurück... Rurkka konnte es nicht mehr ändern. Er war tot. * »Wie bei mir!«, stieß Resnick hervor, der Jarvis gerade noch aufgefangen hatte, bevor dieser zu Boden stürzte. »Nur haben wir jetzt keinen Medo-Raum wie auf der DAALGOR...« »Ich kümmere mich darum«, bot der Keelon an. Im gleichen Moment kam das Signal. »Rurkka!«, stieß Scobee hervor. »Er ist mit Cloud fertig aber warum kommt der Tank nicht durch die Schleu...« Sie sprach nicht weiter, weil sie im gleichen Moment begriff, was passiert sein musste. Rurkka lebte nicht mehr, war gestorben! Und hatte es nicht mehr geschafft, den Tank zur Schleuse zu bringen. »Ich mache das!«, rief sie Resnick zu. »Kümmere du dich um Jarvis!«
Sie spurtete zur Schleusenkammer, drang ein. Da war die Schleuse. Tief atmete sie ein - dann warf sie sich durch das trennende Kraftfeld, das so polarisiert war, dass es feste Körper passieren ließ, flüssige hingegen nicht. Von einem Moment zum anderen befand sie sich wieder in der Wasserzone. Nicht atmen! Sie sah Rurkka. Das eidechsenähnliche Wesen lag halb über dem geschlossenen Behälter. Scobee brauchte nur ein paar Sekunden, um festzustellen, dass der Gestalter tatsächlich tot war. Sie packte zu, zog ihn vom Tank herunter und ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Mehr konnte sie nicht mehr für ihn tun. Aber für Cloud; sie schob den Tank durch die Schleuse, setzte sofort hinterher - und pumpte wieder frische Luft in ihre Lungen. Sie fuhr herum und schloss die Sicherheitsverrie gelung. Die Energiebarriere wurde jetzt nicht mehr gebraucht. Das Wasser konnte abgepumpt werden. Das schadete dem Toten nicht mehr. Scobee öffnete den Tank. Er war noch zur Hälfte geflutet. Sie umfasste Cloud und zerrte ihn heraus. Er war wach, riss sich selbst die Versiegelungen von Mund und Nase - und atmete tief durch. »Geschafft«, keuchte er. »Er hat es geschafft. Er...« »Er ist tot«, sagte Scobee. »Bist du sicher, dass er es geschafft hat? Vielleicht müssen wir dir doch ein paar Kiemen implantieren.« »Es lebe dein Zynismus!«, knurrte Cloud. »Aber du siehst, ich atme.« »Aber die Zeit, die er zur Verfügung hatte, war wirklich sehr kurz...« »Er hat das Verfahren sicher beschleunigt. Ich fühle mich... na ja, gut wäre etwas übertrieben.« »Darnok sollte dich scannen«, sagte Scobee. »Vorsichtshalber, um Risiken zu mindern. Ich traue der Sache
nicht.« Womit sie durchaus richtig lag... * Der Scan ergab, dass tatsächlich Reste von Protomaschinen in Clouds Körper zurückgeblieben waren. Wenige nur, aber immerhin... Was diese jetzt noch verrichten konnten, wusste niemand - falls sie überhaupt noch fähig waren, eine Funktion zu übernehmen. Bei Scobee, Resnick und Jarvis hatte die Luftatmung eingesetzt, nachdem die Umwandlung vollständig abgeschlossen war. Aber bei Cloud war Rurkka einen anderen Weg gegangen. Deshalb konnte er bereits jetzt atmen, trotz der in ihm verbliebenen Reste von Fremdmaterie. Was aus diesen wurde, ob sie noch schädliche Einflüsse ausüben konnten - niemand vermochte es zu sagen. Unsicherheit blieb. Cloud registrierte von Anfang die Bedrücktheit der anderen. Er ließ sich informieren, was geschehen war. Jarvis war inzwischen wieder auf den Beinen. Sein vorübergehender Zusammenbruch glich dem von Resnick. Jarvis behauptete, wieder fit zu sein, aber der Vorfall - beide Vorfälle! - gaben allen zu denken. Möglicherweise wirkte sich der Aufenthalt innerhalb des Kubus auf Dauer generell negativ auf die menschliche Physis aus. Am schlimmsten aber war der Massenselbstmord der vaarischen Besatzung. Er erschien Cloud völlig sinnlos, und er machte sich Vorwürfe, außer Gefecht gewesen zu sein, Rurkkas Rezeptor nicht hatte einsetzen können. »Vielleicht hätte ich es damit verhindern können«, murmelte er. »Dann wärst du jetzt aber nach wie vor ein Wasseratmer«, wollte Scobee ihm klar machen. Er wusste es doch. Trotzdem... »Ein Leben gegen so viele...« Mit dem Tod der Vaaren hatten sie praktisch alles verloren.
»Darnok, wie konnte es dazu kommen?«, fragte er. »Dieser Massenselbstmord ist doch völlig sinnlos! Was wollten die Vaaren damit erreichen?« »Ihre Schuld für den Frevel sühnen«, warf Resnick ein. »Sie scheinen nicht damit fertig geworden zu sein, hier eingedrungen zu sein.« »Ich denke, es hat auch mit dem mentalen Druck zu tun, den die Tafeln auf die Vaaren ausübten«, sagte Darnok. »Galanor, mit dem ich sprechen konnte, verwies mehrfach darauf, dass sie alle - wir natürlich auch - sich unrechtmäßig in ihrem heiligen Bezirk aufhielten. Und ich bin sicher, dass der Druck von den Tafeln ausgeht.« »Und warum wirkt er nicht auch auf dich und auf uns?«, fragte Cloud. »Das kann ich nicht beantworten«, sagte der Keelon. Oder du willst es nicht, dachte Scobee. So wie Cloud traute sie dem Keelon immer noch nicht völlig über den Weg. Er hielt sich in vielerlei Hinsicht zu bedeckt. Aber tue ich das nicht auch? »Wir haben da noch ein Problem«, krächzte Jarvis plötzlich. Er schaltete die Bildschirme durch, zeigte den anderen Raum für Raum des Rochenschiffs, wie schon vorher, als die Vaaren starben. Jetzt starb die DAALGOR! Deut lich war zu erkennen, dass das Rochenschiff begonnen hatte abzusterben. »Es muss mit dem Tod der Vaaren zusammenhängen«, vermutete Resnick. »Es erhält keine Psi-Impulse mehr von ihnen, es kann sie vielleicht auf eine uns unverständliche Weise nicht mehr als lebend registrieren - und begeht nun ebenfalls Selbstmord.« »Oder es unterliegt ebenfalls dem mentalen Einfluss dieser Tafeln«, warf Scobee ein. Cloud schüttelte den Kopf. »Daran glaube ich nicht. Es hätte sich nicht so steuern lassen, wenn es selbst in eine Art von
Panik geraten könnte.« »Es ist zwar organisch, aber dennoch ein künstliches Gebilde«, unterstrich auch Darnok. »Es kann nicht selbst in Panik geraten. Es stirbt ab, weil nichts mehr da ist, das seiner Existenz einen Sinn gibt.« »Viele Köpfe, viele Meinungen«, sagte Cloud. »Fest steht eins: Die Protomaterie, aus der es besteht, löst sich auf.« Er fragte sich, ob Rurkka, im Vollbesitz seiner Kräfte diesen Vorgang hätte stoppen können. »Wir schleusen aus«, sagte Darnok. »Aber wie kommen wir dann von hier weg?«, fragte Resnick. »Du hast uns vorhin doch vorgerechnet, wie lange es...« »Wir schleusen aus«, wiederholte Darnok. »Ehe wir von diesem Zerfallsprozess selbst erreicht werden. Dies ist mein Schiff, und niemand anderes als ich bestimmt, was darauf geschieht.« * Darnok schleuste das Karnut wie angekündigt aus. Mit der im Aqua-Kubus möglichen Höchstgeschwindigkeit strebte er von dem zerfallenden Rochenschiff fort. Die Ortungsbilder zeigten, dass dieser Prozess immer schneller vonstatten ging, je länger er andauerte. Anfangs waren es nur Staubschleier gewesen, die durch das Wasser zogen, ohne sich damit zu vermischen, und die sich allmählich auflösten. Dann aber begannen Lichter aufzuglühen. Sie fraßen sich durch das Rochenschiff, breiteten sich aus, wurden heller, schienen zu sprühen wie ein Feuerwerk, so unglaublich das auch im Wasser sein mochte. Cloud hatte den Eindruck, Magnesium brennen zu sehen, aber es war nicht silberweiß, sondern farbig. Die DAALGOR brach auseinander, die einzelnen Fragmente lösten sich immer mehr auf, bis nach weniger als zwanzig Minuten
nichts mehr existierte. Kein Feuer, kein Schleier von Protomaterie-Teilchen, keine Reste von Toten... Nichts. Gar nichts. Es war, als hätte die DAALGOR niemals existiert. Cloud starrte den Holo-Schirm an, der das unglaubliche Geschehen in der unmittelbaren Nähe der karmesinroten Kugel zeigte. Er versank in dem Anblick. Er stand vor einem Abgrund. Graue Felsen, aufwirbelnder Staub bei jeder Bewegung. Ein gigantischer Krater breitete sich vor ihm aus. Vor Jahrhunderttausenden oder Jahrmillionen musste hier ein Meteorit eingeschlagen sein. Einer von unzähligen, die das Aussehen des Erdmondes geprägt hatten. Im Helmfunk wurde das monotone Rauschen von einem Knacken unterbrochen. »Igor?« »Was ist?«, fragte er. »Es ist vorbei«, sagte die andere Stimme. Sie klang kalt, tödlich. Mit einem harten Akzent. Er wandte sich um und sah einen Mann, der sich ihm näherte. Hinter ihm ragte die Kuppel der Mondstation auf. Der andere Mann trug ebenfalls einen Raumanzug. Die verspiegelte Helmscheibe verhinderte, dass das Sonnenlicht ihn blendete, aber sie verhinderte auch, dass das Gesicht dahinter erkennbar wurde. Aber er brauchte das Gesicht nicht zu sehen. Er kannte die Stimme, »Wassilij...« »Es ist vorbei«, wiederholte der andere. »Igor, der Schlüssel...« Wassilij hob die Waffe und feuerte sie ab. * Jemand klatschte ihm die Hand ins Gesicht. »Aufwachen,
Ex!« »Ex?«, murmelte er verwirrt. »Was ist ex?« »Du! Ex-Commander John Cloud! Komm wieder auf die Beine, Mann! Was ist los mit dir?« Ex-Commander John Cloud? Ich bin General Igor Borewitsch Saranow, Psi-Gruppe des Föderalen Abwehrdienstes, abkommandiert nach Luna... Nein! Er riss die Augen auf. Er war John Cloud, und vor ihm stand nicht Wassilij, der verfluchte Schweinepriester und Hurensohn, sondern GTResnick! »Diese verdammten Wissens-Implantate«, keuchte er. »Mann...« Man hatte ihm verschiedene Wissensinhalte anderer Personen implantiert, ehe man ihn zum Mars schickte. Es war nicht das erste Mal, dass sie sic h so radikal bemerkbar machten und seine eigene Persönlichkeit verdrängten. Er hasste es. Und jetzt erst recht - so schlimm, dass er das Bewusstsein verlor, war es selten gewesen. »Wie lange war ich weg?«, fragte er. »Fünf Minuten etwa. Wir haben versucht, dich wieder wachzubekommen. Dachte schon, es wäre wie bei mir oder bei Jarvis.« »Nein. Es sind die Implantate.« Cloud ignorierte die ausgestreckte helfende Hand und erhob sich aus eigener Kraft. Er sah Darnok an, dieses seltsam geformte Geschöpf. »Ich könnte diese Implantate entfernen«, bot der Keelon unvermittelt an. Dann mach hin, Mann!, dachte Cloud. »Wirklich? Bist du sicher? Du kennst dich doch mit menschlichem Metabolismus höchst bescheiden aus, oder irre ich da?« »Ich kann es«, versicherte Darnok ungerührt. »Sie sind dir lästig, sie stören dich, und sie schalten dich in ungünstigen
Momenten aus. Es klingt nicht danach, als würdest du sie brauchen.« Woher weiß er das? »Wenn du es willst, entferne ich sie, und sie werden dich nie wieder stören.« »Ich bitte dich darum«, sagte er. Vielleicht war es ein Risiko - auf der Erde hatte man sich etwas dabei gedacht, ihm Fremdwissen einzupflanzen, ihn auf diversen Gebieten zu einer Koryphäe und damit zum Allrounder zu machen. Aber um das Zusatzwissen wirklich nutzen zu können, hätte er es kontrollieren müssen - und in der Praxis trat immer häufiger der umgekehrte Fall ein: Es kontrollierte ihn! Wie gerade geschehen. Kontrollierte und handicapte ihn - machte ihn angreifbarer und verwundbarer als jeden anderen an Bord! »Folge mir«, verlangte Darnok. Nichts, was Cloud in diesem Moment lieber getan hätte. Er ging das Risiko ein. Es war nur noch eines von vielen. * Darnok führte Cloud in sein Labor, narkotisierte ihn und begann damit, die Implantate abzutöten. Doch noch während er damit beschäftigt war, erfolgte der Angriff der Vaaren! Königin Lovrena begnügte sich ganz offenkundig nicht mit dem Tod des abtrünnigen Luuren. Sie wollte auch die anderen so genannten Frevler strafen. Schwärme von Protomaschinen näherten sich dem Karnut. Scobee und Resnick hatten inzwischen schon genug von der Technik des Karnuts gelernt, um seine Ortungssysteme einzusetzen und die eingehenden Daten auszuwerten. Diese Protomaschinen, welche die Vaaren einsetzten, ähnelten jenen,
die schon zu Anfang ihres Aufenthalts im Aqua-Kubus ihre Raumanzüge zersetzt hatten. Die Protomaschinen näherten sich schnell. »Wir müssen sie abschießen, ehe sie uns erreichen«, verlangte Resnick. »Aber wie?«, fragte Scobee. »Nicht verzagen, Darnok fragen«, spöttelte Resnick. Der zeigte sich nicht begeistert davon, in seiner Arbeit an Cloud gestört zu werden, und noch weniger von der Aufforderung, Waffengewalt einzusetzen. »Unmöglich«, erklärte er kategorisch. »Ich bin Forscher, kein Zerstörer.« Aber immerhin sah er sich die Ortungsergebnisse an. Die zerstörerischen Protomaschinen näherten sich mit hoher Geschwindigkeit. Sie waren weit schneller, als das kleine Raumschiff des Keelon in diesem Medium jemals sein würde. Darnok musste eine Entscheidung treffen. Ihm war klar, dass diese Maschinen in der Lage waren, das Karnut zu zerstören. Es blieb praktisch nur eine einzige Chance. Die Flucht nach vorn - mit dem Karnut durch das karmesinrote Energiegeflecht in die Vakuumkugel zu steuern! Aber was erwartete sie dort? Nichts konnte schlimmer sein als der Tod... Darnok schaltete. Das Karnut nahm Fahrt auf, um die Grenze zum Nichts zu durchstoßen. * Obwohl es im Innern des kleinen Schiffes hell blieb, senkte sich über das Bewusstsein wenigstens eines der Insassen für unerträgliche Momente eine alles negierende Finsternis. Scobee rang um Atem. Sie sah die verzerrten Gesichter der anderen - und selbst an Darnok waren untrügliche Anzeichen
von Entsetzen zu erkennen. Ja, Entsetzen traf es. Entsetzen war das richtige Wort. Namenlose Furcht, die sich in ihre Seelen schlich, dort einnistete und sie frösteln machte. Namenlos...? Schon einmal hatte Scobee kurz davor gestanden, ihr Geheimnis hinauszubrüllen - den Betrug, den sie den anderen vorenthielt. Während der Minuten, als die Schwarze Flut durch das Sonnensystem gerollt war, hatte sie, einzementiert von fast greifbarer Schwärze, das Gefühl gehabt, es nicht länger für sich behalten zu können - ihr Gewissen erleichtern zu müssen. Aber damals hatte sie dem Drang widerstanden. Und jetzt? Diesmal war es noch stärker, obwohl die Finsternis draußen blieb, jenseits der Karnut-Hülle. Anders als beim Phänomen der Schwarzen Flut durchdrang die Schwärze nicht die Wände des kleinen Raumschiffs und blockierte auch nicht jede Energie und doch kam es Scobee vor, als wäre das, was auf der Erde Abermillionen Todesopfer gefordert hatte und das, was hier, im Innern der gigantischen Kugel auf sie wartete, miteinander artverwandt. Sie fühlte sich davon noch mehr bedrängt, spürte, wie ihr das Atmen fast so schwer fiel, als wäre sie wieder in Wasser getaucht - ins Wasser des Kubus. Dass sie überhaupt einmal - wenn auch nur vorübergehend unter Wasser atmen würde, war der pure Aberwitz, und hätte ihr vor Tagen jemand geweissagt, was alles nach der Ankunft auf dem Mars auf sie zukommen würde, sie hätte ihn für rettungslos verrückt erklärt. Selbst sie, der es gelungen war, so viele Sicherheitsmechanismen zu umgehen, so viele Menschen zu überlisten und zu... Sie stoppte den Gedanken so vehement, als bestünde die Gefahr, dass die anderen ihn hören konnten. Sie war noch nicht bereit, nein, das war sie nicht. Alles in ihr wollte sich die Seele
erleichtern, aber die Situation schien ihr dafür auch jetzt denkbar ungeeignet. Cloud war ohne Bewusstsein, während der Keelon anfing, ihn für die Operation genau zu untersuchen. John war gefährdeter als jeder von ihnen - erst recht hier in dieser orientierungslosen Schwärze... Was mögen die Protomaschinen, die noch in ihm stecken, ihm antun können?, dachte Scobee, während sie das Innere von Darnoks Raumschiff auf ungewohnte Weise wahrnahm seltsam hellsichtig, seltsam differenziert, seltsam neben sich stehend. Und dann musste sie plötzlich wieder an Rurkka denken, dem sie so vieles zu verdanken hatten und dem sie so wenig zurückzahlen konnten. Eigentlich gar nichts. Er hatte sich so sehr gewünscht, einmal einen Blick nach draußen werfen zu können - hinter die Massen von Wasser, die innerhalb des Kubus alles schier erdrückten. Deren Weite nur Illusion war. Der Kubus - Tovah’Zara - war nichts anderes als ein riesiges Gefängnis. Und die Vaaren waren schreckliche Tyrannen, die sich nicht darum scherten, was andere Rassen dachten und fühlten und an ureigenen Bedürfnissen hatten. Die Vaaren handelten dem Anschein nach stets nur zu ihrem ureigenen Nutzen. Und ohne Rücksicht auf Verluste. Wie es Mächtige oft, allzu oft zu tun pflegten. Sie musste auch diesen Gedanken fast gewaltsam beiseite räumen. Aber Rurkkas Züge ließen sich nicht so leicht aus dem Gedächtnis bannen. Ohne die Luuren, so viel hatte Scobee in der Kürze der Zeit begriffen, wäre die Ordnung innerhalb Tovah’Zaras binnen kürzester Zeit in sich zusammengebrochen. Die Luuren waren die kreativen Bewahrer des technischen Standards, der hier anzutreffen war. Die Gabe der Luuren ließ sich bestenfalls erklären, wenn
man sich auf das Gebiet der Parapsychologie und Paraphysik begab. Und auch die Vaaren besaßen eine Gabe, mit deren Hilfe sie ihre Jadeschiffe durch die Weiten des Kubus reisen lassen konnten, als gäbe es den allgegenwärtigen Wasserwiderstand überhaupt nicht. Die Vaaren stellten das eigentliche Problem dar. Allen voran ihre skrupellose Königin. Vor ihnen flohen sie mit Darnok, mit dem sie auf so absonderliche Weise eine verschworene Gemeinschaft zu bilden begonnen hatten. Und nach dem Heiligen Bezirk mussten sie sich nun mit diesem Phänomen auseinander setzen: mit totaler Finsternis, totalem Vakuum, das innerhalb eines kugelförmigen Energiegeflechts herrschte, das eine knappe Lichtsekunde durchmaß. Alles innerhalb von Tova h’Zara schien gigantisch zu sein. Und fremd - absolut fremd. Wahrscheinlich ahnte selbst Darnok nicht, wie dieser Komplex dereinst entstanden war. Die Vaaren beherrschten ihn - aber hatten sie ihn tatsächlich auch erschaffen - oder ihn sich nur... angeeignet? Wie lange existierte Tovah’Zara wohl schon? Was für eine Funktion erfüllte der Kubus? War er das letzte Exil von Wesen, die ihre angestammte Heimat verloren hatten? Und wenn ja, unter welchen Umständen verloren...? Es gab noch etliche Fragen mehr, auf die Scobee verzichtete, sie auch nur zu formulieren. Stattdessen versuchte sie sich das Wenige vor Augen zu führen, was sie inzwischen über diesen sonderbaren Anachronismus im All wusste. Für Darnok stellte der Würfel, an dessen Eckpunkten sich ebenfalls würfelförmige »Stationen« befanden - welche offenbar die Energie lieferten, um die Form zu wahren und das Wasser vor der Weltraumkälte zu schützen - offenbar ein legendenverklärtes Objekt dar. Scobee glaubte nicht, dass Darnok ihn angesteuert hätte,
wäre die Not nicht so immens groß gewesen. Aber die Verfolger - irdische Schiffe! - hatten sich ihnen unerbittlich an die Fersen geheftet gehabt, sodass der Keelon offenbar keinen anderen Ausweg mehr sah, als Tovah’Zara zu »betreten«. Es war ihm gelungen, wie auc h immer, vielleicht unter Einsatz seines ominösen Magoo, die Energiewand zu durchdringen. Aber dieser Akt hatte ihn offenbar ebenso Kraft gekostet wie die Aktionen davor - das Eindringen in den Äskulap-Raumer etwa, oder die Reise nach Kalser, zur Welt der Nargen... Wenn Scobee eines nicht glaubte, dann dass Tovah’Zara eine weitere von Darnoks »Lektionen« darstellte, mit denen er den Menschen ihre Schuld aufzeigen wollte. Schuld am Untergang seines Volkes, das - seinen eigenen dürren Erklärungen zufolge - von Menschen vernichtet worden war... Aber falls dies überhaupt stimmte, dann waren es Menschen dieser Zeit, dieser Zukunft gewesen, die den Völkermord begangen hatten, und das hätte einem hoch intelligenten Geschöpf wie Darnok zwischenzeitlich bewusst werden müssen. Stattdessen übte er sich weiterhin in Distanz. Obwohl... Scobee blickte dorthin, wo das molluskenförmige Wesen mit Cloud beschäftigt war. ... der sich neuerdings offen um Menschen bemühte. Markierte dies einen entscheidenden Fortschritt in ihrem Miteinander? »Es ist eine Falle!«, rief in diesem Augenblick Jarvis - und riss damit Scobee endgültig ins Hier und Jetzt zurück. »Wir Narren haben uns freiwillig in eine Falle begeben!« Auch Darnok schien in seinen Bewegungen zu gefrieren. »Keine Falle«, wisperte es aus den Wänden des Karnuts, das der Keelon zum Sprachtransfer nutzte. »Das Ende. Es ist das Ende. Das absolute... Nichts, das uns verschlingt! Ich - spüre, wie es nach mir greift...«
Epilog Nach wie vor stand das irdische Schlachtschiff HAMM in ruhender Position vor dem gigantischen Würfelgebilde. Nach wie vor tasteten die Ortungen, um jegliche Veränderung sofort festzustellen. »Kommandant!« Die Ortungsabteilung. Imre Vereb nahm den Anruf entgegen. Was ihm der Offizier zu melden hatte, erschütterte ihn zutiefst. »An den Eckpunkten des Kubus werden unglaubliche Energiemengen freigesetzt, Sir! Er... Ich weiß, es klingt verrückt, aber - er beschleunigt!« Vereb glaubte, sich verhört zu haben. »Was tut er?« »Sir! Er nimmt mit hohen Werten Fahrt auf...« Imre Vereb litt plötzlich unter einem kalten Taubheitsgefühl im Kopf. Er hatte keine Ahnung, was genau da geschah, aber er spürte, dass es eine Wende markierte. Eine Wende, die sich auch gegen ihn als Individuum richten konnte - oder gegen die Menschhe it als Ganzes. Der ersten Katastrophe - der Zerschlagung ihrer Angriffsflotte - schien eine zweite, noch weit größere zu folgen. Wer wollte dieses ungeheuerliche Ding denn, einmal in Fahrt gekommen, stoppen? ENDE
BAD EARTH Was liegt hinter dem kugelförmigen Energiegeflecht genau im Zentrum des Aqua-Kubus? Nach Rurkkas Tod und dem Verlust des Jadeschiffs dringt das Karnut auf der Flucht vor den Protoschwärmen in die Vakuumkugel ein. Dort, im vermeintlichen Nichts, macht die Besatzung eine Entdeckung, mit der sie nie gerechnet hat. Nicht einmal Darnok, dem es offenbar gelang, wichtige Teile jener Botschaft zu entschlüsseln, die von den psionisch aufgeladenen Tafeln im Heiligen Bezirk der Vaaren ausgesandt wird - seit Äonen.
Jenseits der Grenze lautet de r Titel des nächsten Bandes unserer Saga, mit dem euch Manfred Weinland verrät, welches Erbe im Herzen von Tovah’Zara auf seine Entdeckung wartet. In 14 Tagen bei eurem Zeitschriftenhändler.