Das Wissen der Menschheit wächst unaufhör-
David Deutsch, 1953 in Haifa geboren, hat
lich. Immer stärker, so scheint ...
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Das Wissen der Menschheit wächst unaufhör-
David Deutsch, 1953 in Haifa geboren, hat
lich. Immer stärker, so scheint es, sind wir zur
Mathematik, Theoretische Physik und Natur-
Spezialisierung gedrängt, unwiderruflich vorbei
wissenschaften in Oxford studiert und mehrere
ist die gute alte Zeit, als ein einzelner Mensch
Jahre an der University of Texas at Austin
noch alles verstehen konnte. Ist der Anspruch der Physik zu erklären, wie das Universum
verbracht. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeiten hat
funktioniert, ein unerfüllbarer Traum? Verliert
er mit weltberühmten Wissenschaftlern wie
die Wissenschaft in der Flut einzelner Erkennt-
Roger Penrose oder John Archibald Wheeler
nisse den Überblick? Der prominente Physiker
zusammengearbeitet. Er gilt als eine der
David Deutsch meint nein und entwickelt in
führenden Persönlichkeiten bei der Erforschung
diesem faszinierenden Buch eine kühne Vision:
von Quantencomputern und ist gegenwärtig am Clarendon Laboratory der Universität von
Ein universelles Verständnis der Wirklichkeit in
Oxford in der Forschungsgruppe Quantum
einem umfassenden Sinn ist möglich, indem
Computation and Cryptography beschäftigt.
man versucht, die wichtigsten Strukturen zu verstehen, die das Gewebe der Wirklichkeit bilden. Zu diesem Zwecke stellt er uns die vier Theorien moderner Wissenschaft vor, mit deren Hilfe die Wirklichkeit am tiefgehendsten erklärt werden kann. Es sind dies die Quantenphysik, die Evolutionstheorie, die Erkenntnistheorie und die Theorie der Berechnung. David Deutsch zeigt dem Leser, wie mit Hilfe dieser Theorien und ihrer vielfältigen Verknüpfungen untereinander ein wissenschaftliches Weltbild abzuleiten ist, das Antworten auf viele der spannendsten Fragen moderner Naturwissenschaft verspricht. Aus der Quantenphysik entwickelt er die Existenz des Multiversums, er diskutiert die Möglichkeiten zukünftiger Quantencomputer, die natürlichen und logischen Grenzen von virtueller Realität und die Physik von Zeitreisen. Er entwirft einen Zeitbegriff, der auf der Quantentheorie fußt, er erschließt die Bedeutung der Evolution von Leben und Wissen im Universum und fragt nach dem Schicksal von intelligentem Leben am Ende einzelner Sonnensysteme oder des Universums. Wer sich mit David Deutsch auf die Expedition in die Grenzbereiche heutigen Denkens begibt, gerät in ein vielschichtiges Leseabenteuer, das einen ganz neuen Blick auf die Strukturen des Universums eröffnet.
David Deutsch
Die Physik der Welterkenntnis Auf dem Weg zum universellen Verstehen
Aus dem Englischen von Anita Ehlers
Birkhäuser Verlag Basel · Boston · Berlin
Deutsche Originalausgabe. Die englische Originalausgabe wird unter dem Titel «Fabric of Reality» 1997 bei Penguin Books Ltd., Bath Road, Harmondsworth, Middlesex, UK, erscheinen.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Deutsch, David: Die Physik der Welterkenntnis : auf dem Weg zum universellen Verstehen / David Deutsch. Aus dem Engl, von Anita Ehlers. – Basel; Boston ; Berlin : Birkhäuser, 1996 Einheitssacht.: The fabric of reality ‹dt.› ISBN 3-7643-5385-6
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 1996 der deutschsprachigen Ausgabe: Birkhäuser Verlag, Postfach 133, CH-4010 Basel, Schweiz Umschlaggestaltung: WSP Design, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. ‹*› Printed in Germany ISBN 3-7643-5385-6
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Inhalt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Theorie für Alles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schatten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemlösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virtuelle Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Universalität und die Grenzen der Berechnung . . . . . . . . . . . . . . Was ist Leben?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantencomputer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wesen der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit, der erste Quantenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vier Stränge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am Ende des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 35 59 95 113 137 155 183 209 243 277 309 327
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dieses Buch ist Karl Popper, Hugh Everett, Alan Turing und Richard Dawkins gewidmet. Es nimmt ihre Ideen sehr ernst.
Vorwort Die Menschheit verfügt aufgrund einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Entdeckungen heutzutage über ungewöhnlich tiefgehende Theorien über das Wesen der Wirklichkeit. Dies war für mich die wesentliche Motivation, in diesem Buch ein Bild davon zu entwerfen, wie eine Physik der Welterkenntnis beschaffen sein könnte. Denn wenn wir die Welt nicht nur oberflächlich verstehen wollen, müssen wir sie aufgrund dieser Theorien und unserer Vernunft verstehen, nicht aber aufgrund vorgefaßter Meinungen, herkömmlicher Ansichten oder weil sie dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Unsere besten Theorien sind nicht nur zutreffender als der gesunde Menschenverstand, sondern auch viel sinnvoller. Wir müssen sie nicht nur als Grundlage für ihre jeweiligen Geltungsbereiche ernst nehmen, sondern auch als Erklärungen für die Welt im ganzen. Und die Welt können wir am besten verstehen, wenn wir diese Theorien nicht einzeln betrachten, sondern als Gesamtheit, denn sie sind unentwirrbar miteinander verwoben. Die meiner Ansicht nach wichtigsten wissenschaftlichen Theorien und ihre Verbindungen untereinander werden in diesem Buch dargestellt. Der Gedanke mag vielleicht erstaunen, daß eine solche Idee neuartig oder auch nur umstritten sein könnte. Aber weil jede der erwähnten Theorien zu Folgerungen führt, die uns intuitiv nicht behagen, hat man versucht, sich der Konfrontation mit diesen Folgerungen durch Änderungen oder Umdeutung der Theorien zu entziehen. Einige dieser Versuche werde ich in diesem Buch schildern, um die jeweilige Theorie besser erklären zu können. Aber es geht nicht um die Verteidigung
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oder Interpretation einzelner wissenschaftlicher Theorien, sondern darum, wie die Wirklichkeit beschaffen sein könnte, falls alle diese Theorien wahr sind. Es ist also das Ziel dieses Buches, mit Hilfe der Verknüpfung unserer wichtigsten wissenschaftlichen Theorien die Wirklichkeit der Welt in einem umfassenden Sinn darzustellen. Die Entwicklung der wichtigsten Ideen dieses Buches verdanke ich sehr fruchtbaren Gesprächen mit Bryce De Witt, Artur Ekert, Michael Lockwood, Enrico Rodrigo, Dennis Sciama, Frank Tipler, John Wheeler und Kolya Wolf. Ferner möchte ich mich bei meinen Freunden und Kollegen Ruth Chang, David Johnson-Davies, Sarah Lawrence, meiner Mutter Tikvah Deutsch und meinem Lektor Ravi Mirchandani von Penguin Books für ihre Mithilfe bei der Erarbeitung und Korrektur des Buches bedanken. Dankbar bin ich auch Harvey Brown, Rossella Lupaccini, Oliver und Harriet Strimpel sowie Bob Taylor, die Teile des Manuskripts gelesen haben.
1 Die Theorie für Alles Als ich ein Kind war, erzählte mir jemand, vor sehr langer Zeit habe ein gelehrter Mensch alles wissen können, was man wissen konnte. Heute dagegen sei das Wissen sehr viel umfangreicher, und auch in einem langen Leben könne sich niemand mehr als nur einen winzigen Bruchteil aneignen. Das überraschte und enttäuschte mich. Ich weigerte mich geradezu, es zu glauben, wußte aber nicht, wie ich meinen Unglauben rechtfertigen sollte. Die Sache gefiel mir nicht, und ich beneidete die Gelehrten von früher. Mir lag nicht etwa daran, all die Fakten zu kennen, die in den Lexika und Nachschlagewerken der Welt stehen. Im Gegenteil, ich verabscheute das Auswendiglernen von Fakten. Für mich bedeutete der Besitz allen Wissens der Welt etwas anderes. Es hätte mich nicht enttäuscht, wenn man mir erzählt hätte, daß jeden Tag mehr veröffentlicht wird, als ein Mensch zu Lebzeiten lesen kann, oder daß man 600 000 Käferarten kennt. Ich wollte keineswegs über jeden einzelnen Spatzen Bescheid wissen, und ich meinte auch nicht, daß ein Gelehrter, der angeblich alles wußte, was man wissen konnte, derlei Sachen gewußt hätte. Ich hatte eine genauere Vorstellung davon, was Wissen genannt zu werden verdient: Mit «Wissen» meinte ich Verstehen. Der Gedanke, ein Mensch könne alles bisher Verstandene verstehen, klingt zwar immer noch recht phantastisch, ist aber weniger phantastisch als die Idee, ein einziger Mensch könne jede bekannte Tatsache im Kopf haben. Oder glauben Sie, daß sich beispielsweise irgend jemand alle bekannten Beobachtungsdaten über die Bewegungen der Planeten
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merken kann? Dennoch verstehen viele Astrophysiker diese Bewegungen so gut, wie sie heute verstanden werden können. Verständnis geht nämlich nicht mit der Kenntnis vieler Daten einher, sondern setzt die Verwendung der richtigen Begriffe, Erklärungen und Theorien voraus. Eine vergleichsweise einfache und verständliche Theorie, die auf einen bestimmten Bereich der Natur zutrifft, kann unendlich viele unverdauliche Tatsachen subsumieren. So ist die beste uns bekannte Theorie der Planetenbewegungen Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gravitations- und Bewegungstheorien Isaac Newtons ablöste. Sie sagt im Prinzip nicht nur alle Planetenbewegungen, sondern in den Genauigkeitsgrenzen unserer besten Messungen auch alle anderen Wirkungen der Schwerkraft voraus. Wenn eine Theorie etwas «im Prinzip» vorhersagt, folgen die Vorhersagen logisch aus der Theorie, selbst wenn in der Praxis die Berechnung der Vorhersagen so umfangreich sein kann, daß sie technisch gar nicht durchführbar ist – und manchmal ist sie in der Welt, wie wir sie vorfinden, sogar physikalisch unmöglich. Es ist etwas ganz anderes, ob etwas vorhergesagt oder auch mit größter Genauigkeit beschrieben werden kann oder ob es verstanden ist. Vorhersagen und Beschreibungen haben in der Physik oft die Form mathematischer Gleichungen. Bleiben wir beim Beispiel der Planetenbewegungen und nehmen wir an, wir wüßten die Formel auswendig, mit deren Hilfe jede Planetenstellung berechnet werden könnte, die in den astronomischen Archiven je verzeichnet wurde. Was hätten wir gegenüber dem Auswendiglernen dieser Listen gewonnen? Die Formel läßt sich leichter behalten – aber noch einfacher ist es, die entsprechenden Zahlen in den Archiven nachzuschlagen. Der eigentliche Vorteil der Formel besteht jedoch darin, daß sie sich in unendlich vielen Fällen verwenden läßt, nicht nur in den archivierten; sie kann beispielsweise auch die Ergebnisse zukünftiger Beobachtungen voraussagen. Vielleicht lassen sich die Positionen der Planeten mit ihrer Hilfe sogar genauer angeben, weil die Archive Beobachtungsfehler enthalten könnten. Aber obwohl die Formel unendlich viel mehr Tatsachen zusammenfaßt als die Fakten in den Archiven, vermittelt sie doch nicht mehr Verständnis für die Bewegung der Planeten. Tatsachen lassen sich nicht verstehen,
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indem man sie in einer Formel zusammenfaßt oder niederschreibt, sondern nur, indem man sie erklärt. Glücklicherweise enthalten die besten Theorien in der Naturwissenschaft nicht nur genaue Vorhersagen, sondern auch tiefgründige Erklärungen. So interpretiert beispielsweise die allgemeine Relativitätstheorie die Schwerkraft mit Hilfe einer neuen, vierdimensionalen Geometrie der Krümmung von Raum und Zeit. Sie erklärt genau und allgemeingültig, wie diese Geometrie die Materie beeinflußt und wie sie von ihr beeinflußt wird. Diese Erklärung ist der eigentliche Inhalt der Theorie. Die Vorhersage von Planetenbewegungen hat in diesem Modell lediglich den Stellenwert einer Folgerung, die sich aus den Erklärungen ableiten läßt. Die allgemeine Relativitätstheorie ist im übrigen nicht deswegen so wichtig, weil sie die Bewegungen der Planeten einen Hauch genauer vorhersagen kann als Newtons Theorie, sondern weil sie zuvor ungeahnte Aspekte der Wirklichkeit wie die erwähnte Krümmung von Raum und Zeit aufzeigt und erklärt. Genau dies ist ein Kennzeichen wissenschaftlicher Erklärungen. Theorien wie diese erklären die Dinge und Erscheinungen unserer Erfahrungswelt im Rahmen einer Wirklichkeit, die wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Aber die wertvollste Eigenschaft einer Theorie, die einen Teilbereich der Natur erklären will, ist nicht ihre Fähigkeit, unsere Erfahrungen zu erklären, sondern die Wirklichkeit selbst, wobei wir in diesem Zusammenhang einen umfassenden Wirklichkeitsbegriff zugrunde legen, der weit über unsere Erfahrungswelt hinausgeht. Diese Fähigkeit, Wirklichkeitsstrukturen aufzuzeigen, ist überhaupt und ganz allgemein das, was menschliches Denken wertvoll, sinnvoll und insbesondere nützlich macht. Einige Philosophen jedoch und selbst einige Naturwissenschaftler schätzen den Wert der Erklärung in der Naturwissenschaft gering. Für sie besteht der Hauptzweck einer wissenschaftlichen Theorie nicht in der Erklärung, sondern in der Vorhersage von Versuchsergebnissen. Ihrer Meinung nach ist jede widerspruchsfreie Erklärung, die eine Theorie für ihre Vorhersagen liefern kann, so gut oder schlecht wie jede andere, so lange nur alle Vorhersagen zutreffen. Diese Einstellung wird Instrumentalismus genannt, denn eine Theorie liefert danach die Instrumente, um Vorhersagen zu machen. Instrumentalisten halten es für einen Irr-
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tum, daß die Naturwissenschaft die unseren Beobachtungen zugrundeliegende Wirklichkeit verstehen könne. Ihrer Meinung nach besteht eine wissenschaftliche Theorie über die Vorhersage von Versuchsergebnissen hinaus nur aus Worthülsen. Insbesondere Erklärungen sind für sie eine Art Fiktion, die wir in unsere Theorien einbauen, um sie einprägsamer und unterhaltsamer zu machen. Von dem Nobelpreisträger Steven Weinberg ist die folgende typische Äußerung eines Instrumentalisten überliefert: Es kommt darauf an, daß man etwas über die Bilder auf den photographischen Platten der Astronomen oder die Frequenzen von Spektrallinien vorhersagen kann, und es ist einfach nicht wichtig, ob wir diese Vorhersagen den physikalischen Wirkungen zuschreiben, die Gravitationsfelder auf die Bewegung der Planeten und Photonen haben, oder ob wir die Krümmung von Raum und Zeit dafür verantwortlich machen.* Auch Nobelpreisträger können irren! Es kommt sehr wohl darauf an, auf was wir die Abbildungen auf den photographischen Platten der Astronomen zurückführen! Gerade das ist für theoretische Physiker wichtig, die ja vor allem deshalb Theorien formulieren und untersuchen, weil sie die Welt besser verstehen möchten. Selbst bei rein praktischen Anwendungen kommt es vor allem darauf an, wie gut eine Theorie etwas erklären kann; ihre Vorhersagekraft ist nur eine Zugabe. Stellen Sie sich vor, ein außerirdischer Wissenschaftler habe die Erde besucht und uns ein ultra-hochwissenschaftliches «Orakel» geschenkt, das für jedes beliebige Experiment das Ergebnis vorhersagen kann, aber keine Erklärungen liefert. Wären wissenschaftliche Theorien dann überflüssig und nur noch zu unserem Vergnügen da? Wie würde das Orakel praktisch eingesetzt werden? In gewissem Sinn würde es das Wissen enthalten, das beispielsweise zum Bau eines interstellaren Raumschiffs nötig ist. Aber
* Steven Weinberg: Gravitation and Cosmology (John Wiley 1972).
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würde uns das helfen, wenn wir wirklich eines bauen wollten? Oder wenn wir ein anderes Gerät zur Vorhersage derselben Art bauen wollten? Oder auch nur eine bessere Mausefalle? Das Orakel würde nur das Ergebnis von Experimenten vorhersagen. Wenn wir es überhaupt verwenden wollten, müßten wir wissen, nach welchen Experimenten wir es befragen sollen. Wenn wir ihm das Aussehen eines Raumschiffs und die Einzelheiten eines geplanten Probeflugs vorgeben würden, könnte es uns sagen, wie das Raumschiff sich bei einem solchen Flug verhalten würde. Aber, und das ist wichtig, es könnte uns nicht den Bauplan für das Raumschiff selbst liefern. Und wenn es vorhersagte, daß das von uns entworfene Raumschiff beim Start explodieren würde, könnte es uns nicht sagen, wie wir eine solche Explosion verhindern können. Das müßten wir selbst herausfinden. Und bevor wir es herausfinden könnten, müßten wir verstehen, welche Grundsätze für das Raumschiff gelten und was zu einer Explosion führen könnte. Vorhersagen sind einfach kein Ersatz für Erklärungen und Einsicht! Es sind allerdings auch Anwendungen denkbar, bei denen wir mit einem vorhersagenden Orakel fast genauso zufrieden wären wie mit einer erklärenden Theorie. Sie wissen, was gemeint ist: die sprichwörtlich unzuverlässigen Wetterprognosen. In der Praxis sind Wettervorhersagen notwendigerweise unvollständig und unvollkommen, und um das gutzumachen, enthalten sie Erklärungen darüber, wie die Wetterpropheten zu ihren Vorhersagen kamen. Diese Erklärungen ermöglichen es uns, die Zuverlässigkeit der Vorhersage abzuschätzen und weitere Erklärungen herzuleiten, die unseren eigenen Wohnort und unsere Bedürfnisse berücksichtigen. Fazit: Auch die Meteorologen brauchen erklärende Theorien über das Wetter, damit sie abschätzen können, welche Näherungen sie in ihre Computersimulationen aufnehmen dürfen und welche weiteren Messungen die Vorhersage genauer und aktueller machen würden. Unser imaginäres Orakel wäre also strenggenommen nur von beschränktem Nutzen. Eine extreme Form des Instrumentalismus ist der sogenannte Positivismus, der behauptet, daß all jene Aussagen sinnlos sind, die nicht Beobachtungen beschreiben oder vorhersagen. Diese Lehre ist zwar nach ihrem eigenen Kriterium selbst sinnlos, war aber doch in der ersten Hälfte
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des zwanzigsten Jahrhunderts die vorherrschende Wissenschaftstheorie! Noch heute sind positivistische Gedanken verbreitet. Sie sind oberflächlich gesehen deshalb plausibel, weil die Vorhersage ein wesentlicher Teil der für die Naturwissenschaft charakteristischen Methode ist. Zur wissenschaftlichen Methode gehört die Aufstellung einer neuen Theorie, die eine Klasse von Erscheinungen erklären kann, und deren Überprüfung in einem experimentum crucis, also einem Experiment, für das die alte Theorie ein anderes Beobachtungsergebnis vorhersagt als die neue. Die Theorie, deren Vorhersagen sich als falsch herausstellen, wird dann verworfen. Das Ergebnis eines solchen Experiments, das zwischen zwei Theorien entscheidet, hängt also nur von den Vorhersagen ab, die die Theorien liefern, und nicht von ihren Erklärungen. Und genau dies ist die Quelle des Irrtums! Zur Vermehrung des Wissens gehört mehr als nur die experimentelle Bestätigung. Die allermeisten Theorien werden verworfen, weil sie schlechte Erklärungen geben, nicht, weil sie sich nicht experimentell bestätigen lassen. Beispiel gefällig? Stellen Sie sich eine medizinische Theorie vor, wonach eine gewöhnliche Erkältung sich heilen ließe, indem man ein Kilo Gras verzehrt. Diese Theorie macht experimentell überprüfbare Vorhersagen: Wenn Menschen die Graskur ausprobierten und sie unwirksam wäre, würde sie als falsch bewiesen sein. Aber so weit ich weiß, wurde diese Theorie bis heute nicht überprüft und wahrscheinlich wird sie auch niemals überprüft werden, weil sie gar nichts erklärt. Wir nehmen einfach an, daß sie falsch ist. Wir könnten unendlich viele Theorien dieser Art aufstellen, und immer würden uns die Zeit und die Mittel oder die Lust fehlen, sie alle zu überprüfen. Wir überprüfen nur Theorien, die uns bessere Erklärungen verheißen als die gebräuchlichen. Man verwechselt also Mittel und Zweck, wenn man sagt, es sei der Zweck einer wissenschaftlichen Theorie, Vorhersagen zu machen. Man könnte genauso sagen, der Zweck eines Raumschiffs sei es, Treibstoff zu verbrennen. Die experimentelle Bestätigung ist nur eine der Hürden, die eine Theorie überwinden muß, die dem wirklichen Zweck der Wissenschaft genügen will – nämlich zu helfen, die Welt zu verstehen. Wie gesagt beruhen Erklärungen von Teilen der Welt unweigerlich auf Einsicht in Dinge und Zusammenhänge, die wir nicht unmittelbar beob-
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achten können, so etwa, wenn wir Aussagen über Atome, das Innere von Sternen oder die Rotation von Galaxien machen. Die Größen, auf die sich die Erklärung bezieht, sind um so weiter von der unmittelbaren Erfahrung entfernt, je tiefer die Erklärung geht. Aber diese Größen sind keine Fiktionen, sondern im Gegenteil das, woraus das Gewebe der Wirklichkeit wirklich besteht. Erklärungen führen jedenfalls im Prinzip oft zu Vorhersagen. Wenn etwas im Prinzip vorhersagbar ist, muß eine hinreichend vollständige Erklärung davon im Prinzip vollständige Vorhersagen machen. Aber es lassen sich auch viele Dinge erklären und verstehen, die im Grunde nicht vorhersagbar sind. So kann man beispielsweise nicht vorhersagen, auf welche Zahl die Kugel in einer nicht gewichteten Roulettescheibe fallen wird. Aber wenn man versteht, was beim Bau und Betrieb einer solchen Scheibe beachtet werden muß, damit sie nicht gewichtet ist, kann man erklären, warum die Reihenfolge der Zahlen nicht vorhersagbar ist. Und wieder ist es zweierlei, ob man weiß, daß die Scheibe nicht gewichtet ist, oder ob man den Grund dafür versteht. Uns geht es um das Verstehen und nicht nur um die Kenntnis oder Beschreibung oder Vorhersage. Doch Theorien, die uns zum Verstehen befähigen, können einen hohen Grad von Allgemeingültigkeit aufweisen. Die meisten Menschen würden denn wohl auch sagen, daß sich nicht nur das Tatsachenwissen mit überwältigender Geschwindigkeit vermehrt, sondern auch die Anzahl und Komplexität der erklärenden Theorien, die uns helfen, die Welt zu verstehen. Heute sei es deshalb nicht nur unmöglich, alles Tatsachenwissen sich anzueignen, sondern auch, alles zu verstehen, und es werde um so weniger möglich, je mehr unser Wissen und die Zahl der strukturierenden Theorien zunehme. Tatsächlich beobachten wir eine starke Zergliederung der Physik durch neue Erklärungen. Das Fach hat sich unter anderem in die Bereiche Astrophysik, Thermodynamik, Teilchenphysik und Quantenfeldtheorie aufgeteilt. Jeder dieser Bereiche hat einen theoretischen Rahmen, der mindestens so umfassend ist wie die ganze Physik vor hundert Jahren, und viele dieser Teilbereiche spalten sich schon wieder in weitere Unterbereiche auf. Je mehr wir entdecken, so scheint es, um so mehr werden wir unwiderruflich zur Spezialisierung gedrängt und um so ferner scheint
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die gute alte Zeit, als ein einziger Mensch noch alles verstehen konnte, was sich verstehen ließ. In Anbetracht dieser riesigen und immer umfangreicher werdenden Speisekarte der von Menschen entwickelten Theorien zur Welterklärung sind Zweifel daran verzeihlich, ob ein einzelner zu seinen Lebzeiten es schaffen könnte, alle Speisen auch nur zu kosten, geschweige denn, alle Rezepte zu kennen. Aber die Erklärung ist eine seltsame Speise. Nicht immer läßt sich eine größere Portion schwieriger verdauen. Manchmal wird in der Naturwissenschaft eine Theorie von einer neuen Theorie abgelöst, die mehr erklärt und genauer ist, zugleich aber einfacher zu verstehen. In diesem Fall wird die alte Theorie überflüssig. Wir verstehen dann mehr als früher, obwohl wir weniger lernen müssen. So war es, als das komplexe heliozentrische Weltbild der die Sonne umkreisenden Erde das ptolemäische System ablöste, das die Erde im Zentrum der Welt gesehen hatte. Eine neue Theorie kann auch zwei alte Theorien miteinander verbinden und uns ein besseres Verständnis ermöglichen als beide für sich; so war es, als Michael Faraday und James Clerk Maxwell die Theorien der Elektrizität und des Magnetismus zu der Theorie des Elektromagnetismus vereinheitlichten. Auch wenn bessere Erklärungen gewöhnlich weniger direkt zu besseren Methoden und Begriffen führen, erlauben sie es uns doch, andere Bereiche zu verstehen. Deshalb kann unser Wissen als Ganzes zwar anwachsen, aber doch gleichzeitig einfacher zu verstehen sein. Wenn wir hier immer wieder zwischen Verständnis und «bloßem» Wissen unterscheiden, wollen wir jedoch keineswegs die Bedeutung aufgezeichneter Information schmälern, die nichts erklären kann. Solche Information ist selbstverständlich für alles mögliche bedeutungsvoll, von der Reproduktion eines Mikroorganismus (der sie in seinen DNA-Molekülen enthält) bis zum abstraktesten Denken. Was also unterscheidet Verstehen von bloßem Wissen? Was unterscheidet eine Erklärung von der bloßen Feststellung einer Tatsache? In der Praxis fällt die Unterscheidung gewöhnlich leicht. Wir wissen es, wenn wir etwas nicht verstanden haben, obwohl wir es genau beschreiben und vorhersagen können (beispielsweise den Verlauf einer Krankheit, deren Ursache wir nicht kennen). Wir spüren auch, wenn eine Erklärung uns zu besserem Ver-
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ständnis verhilft. Trotzdem fällt es schwer, «Erklärung» oder «Verständnis» genau zu definieren. Grob gesagt betreffen sie das «Warum» und nicht das «Was». Verstehen setzt voraus zu begreifen, wie Dinge wirklich sind, nicht, wie sie zu sein scheinen. Es geht um das Eigentliche der Dinge, um Naturgesetze und nicht nur um Faustregeln. Es geht um Stimmigkeit, Eleganz und Einfachheit im Gegensatz zu Willkür und Komplexität. Verstehen ist eine ganz einzigartige höhere Funktion des menschlichen Gehirns. Viele andere physikalische Systeme – etwa Gehirne von Tieren, Computer und andere Maschinen – können Tatsachen aufnehmen und mit ihnen umgehen. Aber zur Zeit kennen wir außer dem menschlichen Geist nichts, was fähig ist, eine Erklärung zu verstehen – oder eine Erklärung auch nur zu wünschen. Jede neue Erklärung und jedes Begreifen einer vorhandenen Erklärung setzt kreatives Denkvermögen voraus, das wir nur beim Menschen kennen. Wenn wir behaupten, wir verstünden den Einfluß der Krümmung von Raum und Zeit auf die Bewegungen von Planeten, sogar in Sonnensystemen, von denen wir noch nie gehört haben, sagen wir damit nicht, daß wir ohne weiteres Nachdenken alle Einzelheiten in den Schleifen und Schwankungen einer jeden Planetenbahn erklären können. Vielmehr verstehen wir die Theorie, die all diese Erklärungen enthält und deshalb jede von ihnen herleiten könnte, wenn uns bestimmte Daten über einen bestimmten Planeten bekannt wären. Wir könnten dann im Rückblick sagen: «Ja, wir finden in der Bewegung dieses Planeten über die reinen Daten hinaus nichts, was sich nicht durch die allgemeine Relativitätstheorie erklären läßt». Und das bedeutet: Wir verstehen die Wirklichkeit in unserem umfassenden Sinn nur, wenn wir die Theorien verstehen, die sie erklären. Und da sie mehr erklären, als uns unmittelbar bewußt ist, können wir mehr verstehen, als uns unmittelbar bewußt ist. Andererseits müssen wir nicht notwendigerweise alles verstehen, was eine Theorie erklären kann. Bei einer sehr grundlegenden Theorie kann schon die Erkenntnis, daß sie ein bestimmtes Phänomen erklärt, eine wesentliche Entdeckung sein, die einer eigenen Erklärung bedarf. So waren beispielsweise Quasare – extrem heiße Strahlungsquellen in den Zentren von Galaxien – viele Jahre lang eines der großen Geheimnisse
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der Astrophysik. Früher dachte man, ihre Erklärung würde eine neue Physik erfordern. Jetzt jedoch glauben wir, daß sie sich durch die allgemeine Relativitätstheorie und andere Theorien erklären lassen, die es schon gab, bevor die Quasare entdeckt wurden. Aber diese Schlußfolgerung war erst nach Jahren der Beobachtung und der theoretischen Forschung möglich. Jetzt, da wir Quasare einigermaßen zu verstehen meinen, glauben wir nicht, daß wir dieses Verständnis schon früher hätten haben können. Die Erklärung der Quasare hat uns zu wirklich neuen Erkenntnissen verholfen, obwohl sie auf der Grundlage bestehender Theorien erfolgte. Es läßt sich also nur schwer definieren, was eine wirkliche Erklärung ist, und es läßt sich genauso schwer definieren, wann aus der Erklärung eines Naturphänomens eine selbständige und unabhängige Theorie geworden ist, und wann sie nur als Teil oder Vorläufer einer elementareren Theorie zu sehen ist. Es ist schwer zu definieren, aber nicht so schwer zu erkennen. Wir erkennen Erklärungen in der Naturwissenschaft eben, auch neue, wenn wir sie sehen. Wieder hat der Unterschied etwas mit Kreativität zu tun. Wenn man die allgemeine Erklärung der Gravitation schon verstanden hat, ist es eine mechanische, wenn auch möglicherweise sehr komplexe Aufgabe, die Bewegung eines Planeten zu erklären. Aber wenn eine schon bestehende Theorie Quasare erklären soll, ist schöpferisches Denken nötig. Der Vorrat an uns bekannten Theorien, die die physikalische Welt erklären, nimmt also genauso lawinenartig zu wie unser Tatsachenwissen, aber deswegen ist die Gesamtstruktur nicht unbedingt schwerer zu verstehen als früher. Denn während wir immer mehr spezielle Theorien entwickeln und immer mehr Einzelheiten verstehen, werden ältere Theorien «abgeschafft», wenn das in ihnen enthaltene Verständnis durch neue, tiefergehende Theorien erfaßt wird. Diese Theorien aber werden sogar immer weniger, dafür offenbaren sie ein immer tieferes Verständnis der Natur und auf allgemeinerer Ebene. «Allgemeiner» bedeutet, daß jede von ihnen über einen größeren Bereich mehr aussagt als zuvor mehrere getrennte Theorien. «Tiefer» meint, daß jede von ihnen mehr erklärt – mehr Verständnis ermöglicht – als alle ihre Vorgänger zusammen. Wenn jemand vor einigen Jahrhunderten ein großes Bauwerk, etwa eine Brücke oder einen Dom, errichten wollte, beauftragte er einen Bau-
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meister, der wußte, wie ein Bauwerk mit möglichst wenig Kosten und Mühen stark und widerstandsfähig gebaut werden kann. Er konnte sein Wissen nicht oder nur geringfügig, wie wir heute, in der Sprache der Mathematik und Physik ausdrücken, sondern er verließ sich vor allem auf seine Intuition, seine Erfahrung und die Faustregeln, die er von seinem Lehrmeister gelernt oder selbst erarbeitet hatte. Diese Intuition, Erfahrung und Faustregeln enthielten das Wissen und das Verständnis von Disziplinen, die wir heute Ingenieurwesen und Architektur nennen. Man beauftragte den Baumeister damals mit dem Bau, weil er über dieses Wissen verfügte, auch wenn es im Vergleich mit dem heutigen erbärmlich ungenau war und einen sehr engen Anwendungsbereich hatte. Wenn wir Gebäude betrachten, die seit Jahrhunderten stehen, vergessen wir oft, daß wir nur die sehen, die überlebt haben. Die allermeisten Bauwerke des Mittelalters und früherer Zeiten sind schon vor langer Zeit, oft bald nach ihrem Bau, zusammengefallen. Das galt besonders für neuartige Gebäude. Man hielt es für sicher, daß jede Neuerung eine Katastrophe bedeuten könnte, und deshalb wichen die Baumeister selten von den Plänen und Verfahren ab, die sich in einer langen Tradition bewährt hatten. Heute dagegen kommt es sehr selten vor, daß ein Bauwerk, auch eines, das ganz anders ist als alle zuvor erbauten, mißlingt, weil der Bauplan fehlerhaft ist. Alles, was ein alter Meister gebaut haben könnte, können seine modernen Kollegen besser und mit viel weniger menschlicher Anstrengung bauen. Sie können Bauwerke wie Wolkenkratzer und Raumstationen errichten, von denen er sich nicht hätte träumen lassen. Sie können Baustoffe wie Glasfasern oder Stahlbeton verwenden, von denen er nie gehört hatte und die er kaum hätte benutzen können, selbst wenn man sie ihm gegeben hätte, denn er wußte einfach zuwenig über sie. Wir sind nicht deshalb auf einem höheren Wissensstand, weil wir nach Art des Baumeisters viel Intuition, Erfahrung und Faustregeln angesammelt haben. Unser Wissen und unser Verständnis von Architektur ist heute nicht nur viel umfangreicher, sondern auch strukturell ganz anders als seines. Es ist umfassender, allgemeiner und tiefer. Wenn unser Baumeister etwa über die Dicke einer tragenden Mauer entscheiden mußte, hatte er ein ziemlich genaues Gespür dafür, oder er kannte eine
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Faustregel, was aber beides durchaus auch zu hoffnungslos falschen Antworten führen konnte. Heute leitet man diese Dinge aus einer Theorie her, die allgemein genug ist, um für Mauern aus beliebigem Material und in allen möglichen Situationen zu gelten, also auch auf dem Mond, unter Wasser oder irgendwo sonst. Die Theorie ist deshalb so allgemeingültig, weil sie auf einem sehr tiefen Verständnis für Stoffe und Strukturen beruht. Um die richtige Dicke einer Mauer zu finden, die aus Material und unter Bedingungen gebaut werden soll, mit denen man nicht vertraut ist, wendet man dieselbe Theorie an wie bei jeder anderen Mauer, nimmt aber für die Rechnung andere Anfangsbedingungen an, setzt also für die beteiligten Parameter andere numerische Werte ein. Das ist der Grund, weshalb ein moderner Architekt keine längere oder strengere Ausbildung benötigt, auch wenn er unvergleichlich viel mehr versteht als ein alter Baumeister. Eine Theorie aus dem Lehrplan eines modernen Studenten mag schwerer zu verstehen sein als alle Faustregeln des alten Baumeisters, aber es gibt viel weniger moderne Theorien als alte Faustregeln. Und weil die Theorien Erklärungen liefern können, haben sie andere Eigenschaften wie Schönheit, innere Logik und Beziehungen zu anderen Bereichen, die es leichter machen, sie zu erlernen. Von einigen der alten Faustregeln wissen wir, daß sie fehlerhaft sind, von anderen, daß sie zutreffen oder die Wahrheit gut annähern, und wir kennen auch den Grund dafür. Einige wenige werden auch heute noch angewandt. Aber unser Verständnis für das, was Bauwerke Bestand haben läßt, beruht auf keiner von ihnen. Trotz alledem ist ganz unbestreitbar, daß in vielen Bereichen, in denen das Wissen zunimmt, auch in der Architektur, die Spezialisierung immer stärker wird. Das ist keine Einbahnstraße, denn auch Spezialisierungen können überflüssig werden: Räder werden nicht mehr von Wagnern entworfen oder hergestellt und Pflüge nicht von Pflugmachern, und Briefe werden nicht mehr von Schreibern geschrieben. Ganz offensichtlich ist nicht nur der beschriebene Hang zur Vertiefung und Vereinheitlichung zu beobachten, sondern gleichzeitig findet eine kontinuierliche Verallgemeinerung statt. Neue Ideen lösen oft nicht nur bestehende Theorien ab, vereinfachen oder vereinheitlichen sie, sondern sie ermöglichen es uns auch, Bereiche zu verstehen, die zuvor nicht verstanden
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wurden – von deren Existenz man womöglich nicht einmal etwas ahnte. Sie können uns neue Möglichkeiten, neue Probleme, neue Spezialisierungen und sogar neue Bereiche erschließen. Die Medizin ist wohl der am häufigsten zitierte Fall zunehmender Spezialisierung: Für immer mehr Krankheiten werden neue Heilmittel und bessere Behandlungsmethoden entdeckt. Aber selbst in der Medizin ist auch die entgegengesetzte, vereinheitlichende Tendenz zu beobachten, und sie wird immer stärker, seit die medizinische und biochemische Forschung tiefere Erklärungen für die Vorgänge gefunden hat, die sich im kranken (und auch im gesunden) Körper abspielen. Wenn für Erkrankungen in Körperteilen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben, gemeinsame molekulare Grundlagen nachgewiesen werden, können allgemeinere Begriffe speziellere ersetzen. Sowie eine Krankheit einmal in einen allgemeinen Rahmen eingepaßt werden kann, kommt dem Spezialisten keine wichtige Rolle mehr zu. So hängt also die Frage, ob es im Lauf der Zeit schwerer oder leichter wird, alles zu verstehen, was verstanden werden kann, vom Gleichgewicht zwischen diesen beiden entgegengesetzten Wirkungen ab, die der Wissenszuwachs hat: der zunehmenden Breite unserer Theorien und ihrer zunehmenden Tiefe. Breite macht es schwerer. Tiefe macht es leichter. Wenn wir eine Chance haben wollen, die Abläufe der Natur zu verstehen, die Welt im umfassenden Sinn zu erklären, muß die Tiefe siegen! Eine These dieses Buchs besagt, daß sie langsam, aber sicher auch tatsächlich siegen wird. Die Aussage, die ich als Kind nicht glauben wollte, ist danach also tatsächlich falsch. Wir entfernen uns nicht von einem Zustand, in dem ein Mensch alles verstehen konnte, was zu verstehen ist, sondern wir nähern uns ihm. Aber aufgepaßt: An dieser Stelle müssen wir ganz genau formulieren. Es ist nicht etwa so, daß wir bald alles verstehen werden. Das ist wieder etwas ganz anderes! Ich glaube nicht, daß wir jetzt nahe daran sind, alles, was es gibt, zu verstehen oder daß wir je so weit kommen werden. Vielmehr ist gemeint, dass wir alles, was von Menschen verstanden wird, verstehend nachvollziehen. Das ist ein beträchtlicher Unterschied. Ob wir es schaffen, hängt mehr von der Struktur unseres Wissens ab als von seinem Inhalt. Wenn Wissen unbegrenzt weiterwächst, und wenn
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wir trotzdem auf einen Zustand hinsteuern wollen, in dem ein Mensch alles verstehen könnte, was verstanden wird, muß die Tiefe unserer Theorien rasch genug mitwachsen. Das kann nur dann geschehen, wenn das Gewebe der Wirklichkeit selbst sehr einheitlich ist, und wenn die Einheitlichkeit unserer erklärenden Theorien in dem Maß besser verstanden werden kann, in dem unser Wissen zunimmt. Dann werden unsere Theorien so allgemein, tief und miteinander verwoben sein, daß sie schließlich eine einzige Theorie eines einheitlichen Gewebes der Wirklichkeit darstellen. Diese Theorie wird immer noch nicht jeden Aspekt der Wirklichkeit erklären können, denn dieses Ziel ist, wie gesagt, unerreichbar. Aber sie wird alle bekannten Erklärungen umfassen und für das ganze Gewebe der Wirklichkeit gelten, soweit es verstanden wird. Während alle früheren Theorien auf bestimmte Bereiche bezogen waren, wird dies eine Theorie aller Bereiche sein, eine Theorie für Alles. Sie wird natürlich nicht die letzte solche Theorie sein, sondern nur die erste. Warum? Wir verdanken Newton beispielsweise die erste universale Gravitationstheorie und die Vereinheitlichung der Mechanik des Himmels mit der der Erde. Aber Newtons Theorie wurde von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie abgelöst, die auch die Geometrie, die zuvor für einen Zweig der Mathematik gehalten wurde, in die Physik einbezog und die weit tiefere Erklärungen lieferte und zudem genauer war. Die erste wirklich universale Theorie, die Theorie für Alles, wird ebenso weder vollkommen wahr noch unendlich tief sein. Auch sie wird schließlich einmal abgelöst werden. Aber sie wird nicht durch eine Vereinheitlichung mit anderen Theorien abgelöst werden, denn sie ist dann ja schon eine Theorie für Alles. Alle späteren großen Entdeckungen werden vielmehr unser Verständnis von der Welt als Ganzes verändern, also unser Weltbild beeinflussen. Eine Theorie für Alles ist die letzte große Vereinheitlichung und gleichzeitig der erste radikale Weg zu einem neuen Weltbild. Ich glaube, daß eine Veränderung der Sichtweise in dieser Richtung schon begonnen hat. Aber noch einmal müssen wir unsere Begriffe ganz genau klären. Wir meinen nicht nur die «Theorie für Alles», die einige Teilchenphysiker bald zu entdecken hoffen. Die Hauptkomponente ihrer «Theorie für Alles» ist eine große Vereinheitlichung oder GUT (ein Kürzel für Great
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Abb.l Eine ungenügende Auffassung der «Theorie für Alles».
Unified Theory), eine Theorie, die die in der Physik bekannten Grundkräfte des Elektromagnetismus und der Kernkräfte, nicht aber die Schwerkraft, vereint. Sie soll alle Arten subatomarer Teilchen beschreiben, die in der Natur vorkommen, ihre Massen, Spins, elektrische Ladungen und andere Eigenschaften sowie ihre Wechselwirkungen. Wenn der Anfangszustand eines isolierten physikalischen Systems hinreichend genau bekannt ist, läßt sich das zukünftige Verhalten des Systems im Prinzip vorhersagen. Falls das genaue Verhalten eines Systems aus Gründen, die im System liegen, nicht vorhersagbar ist, kann eine GUT alle möglichen Verhaltensweisen beschreiben und ihre Wahrscheinlichkeiten vorhersagen. In der Praxis können die Anfangszustände der uns interessierenden Systeme oft nicht sehr genau festgestellt werden, und jedenfalls wäre die komplizierte Berechnung der Vorhersagen nur in den einfachsten Fällen möglich. Trotzdem würde eine GUT zusammen mit einer Festlegung der Anfangsbedingungen für das Weltall zur Zeit des «Urknalls», der heftigen Explosion, als die wir das frühe Weltall beschreiben, im Prinzip die Information enthalten, aus der sich alle Vorhersagen herleiten lassen, die über unsere physikalische Wirklichkeit überhaupt gemacht werden können. Aber Vorhersage ist ja nicht dasselbe wie Erklärung. Die erhoffte GUT, die den Anfangszustand einbezieht, kann bestenfalls eine winzige Facette
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einer Theorie für Alles sein. Sie kann vielleicht alles vorhersagen, aber es ist nicht zu erwarten, daß sie mehr erklärt als die relativ wenigen Phänomene, die durch subatomare Wechselwirkungen bestimmt sind. Warum nennt man dieses zwar faszinierende, aber doch enge Wissen eine «Theorie für Alles»? Dahinter steckt die von vielen Kritikern der Naturwissenschaft mißbilligte und von vielen Naturwissenschaftlern (leider) gebilligte falsche Sichtweise, wonach die Naturwissenschaft im wesentlichen reduktionistisch sei. Die Wissenschaft kommt danach zu Erklärungen, indem sie die Dinge in Komponenten zerlegt. So erklärt man beispielsweise den Widerstand, den eine Wand Versuchen entgegensetzt, durch sie hindurchzugehen oder sie zu zerschlagen, indem man die Wand als eine ungeheuer große Menge von miteinander wechselwirkenden Molekülen sieht. Die Eigenschaften dieser Moleküle werden selbst wieder durch die Atome, aus denen sie bestehen, und deren Wechselwirkungen erklärt, und so weiter, bis hin zu den kleinsten Teilchen und den Grundkräften, dem Geltungsbereich der GUT. Nach Meinung der Reduktionisten sind alle wissenschaftlichen Erklärungen so beschaffen. Die reduktionistische Auffassung führt auf natürliche Weise zu einer hierarchischen Klassifizierung von Fachbereichen und Theorien, indem sie sie danach beurteilt, wie nahe sie den «elementarsten» uns bekannten vorhersagenden Theorien sind. In dieser Hierarchie bilden Logik und Mathematik den sicheren Fels, auf dem das Gebäude der Naturwissenschaft ruht. Den Grundstein bildet die GUT gemeinsam mit einer Theorie über den Anfangszustand der Welt. Die übrige Physik entspricht den ersten Stockwerken, Astrophysik und Chemie entsprechen einer höheren Stufe, die Geologie einer noch höheren und so weiter. Das Gebäude hat viele Türme mit immer gehobeneren Bereichen. In den allerhöchsten, dann schon schwindelerregenden Höhen sind Disziplinen wie die Darwinsche Evolutionstheorie, die Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Computerwissenschaft angesiedelt. Sie scheinen aus dieser Sicht in fast unvorstellbar hohem Grade hergeleitet zu sein. Die GUT oder existierende Näherungen sagen Bewegungsgesetze für einzelne subatomare Teilchen vorher. Aus diesen relativ einfachen Gesetzen können heutige Computer die Bewegung jeder isolierten Gruppe
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einiger weniger wechselwirkender Teilchen mit bekanntem Anfangszustand einigermaßen genau berechnen. Aber selbst der kleinste sichtbare Fleck Materie enthält Abermilliarden Atome, von denen jedes aus vielen subatomaren Teilchen besteht und sich unablässig mit der Außenwelt in Wechselwirkung befindet. Es ist deshalb völlig ausgeschlossen, das Verhalten Teilchen für Teilchen vorherzusagen. Wenn die genauen Bewegungsgesetze durch Näherungsverfahren ergänzt werden, können wir einige Aspekte des Grobverhaltens sehr großer Objekte vorhersagen – beispielsweise die Temperatur, bei der eine bestimmte chemische Verbindung schmilzt oder siedet. Auf diese Weise wurde ein großer Teil der Grundlagenchemie auf die Physik zurückgeführt. Aber das reduktionistische Programm läßt sich auf höheren Stufen seines Wissenschaftsgebäudes nur im Prinzip anwenden. Niemand erwartet, die vielen Grundsätze der Biologie, Psychologie oder Politik aus physikalischen Grundgedanken herleiten zu können. Diese Themen können überhaupt nur deshalb erforscht werden, weil das unglaublich komplexe Verhalten sehr vieler Teilchen unter bestimmten Umständen einfach und verständlich wird. Wir sprechen dann von Emergenz: Was auf einer niedrigeren Schicht kompliziert und komplex ist, zeichnet sich auf einer höheren Schicht durch Einfachheit aus. Phänomene, die sich auf einer höheren Stufe befinden und deren Erklärung nicht aus untergeordneten Theorien abgeleitet werden kann, heißen emergent. So kann eine Mauer deshalb stark sein, weil ihre Erbauer fürchteten, ihre Feinde könnten versuchen, sich einen Weg hindurch zu erzwingen. Dies ist eine Erklärung der Mauerstärke, die sich nicht aus der oben gegebenen Erklärung herleiten läßt, obwohl sie ihr auch nicht widerspricht. «Erbauer», «Feinde», «Angst» und «versuchen» sind emergente Phänomene. Die «höheren» Wissenschaften sollen es uns ermöglichen, emergente Phänomene zu verstehen, von denen die wichtigsten, wie wir sehen werden, Leben, Denken und Berechnung sind. Der Naturwissenschaft geht es nach Meinung der Reduktionisten darum, die Dinge in Komponenten zu zerlegen, nach Meinung der Instrumentalisten aber darum, sie vorherzusagen. Wegen der Komplexität der Beziehungen können wir mit Hilfe der Grundlagenphysik keine Vorhersagen auf höherer Stufe machen, deshalb stellen wir Ver-
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mutungen darüber an, wie diese Vorhersagen lauten würden, wenn wir sie machen könnten. Die Struktur wissenschaftlicher Erklärungen aber ist kein Spiegel der reduktionistischen Hierarchie, denn es gibt auf jeder Stufe der Hierarchie Erklärungen, die autonom sind und sich nur auf Begriffe auf dieser Schicht beziehen (z.B. «Der Bär hat den Honig gegessen, weil er Hunger hatte»). Andere Erklärungen enthalten Herleitungen, die reduktionistischen Begründungen gerade entgegengesetzt sind. Sie erklären Dinge also nicht aufgrund einer Zerlegung in kleinere, einfachere Teile, sondern sie sehen sie als Komponenten größerer, komplexerer Dinge, für die es dennoch erklärende Theorien gibt. Man betrachte beispielsweise ein bestimmtes Kupferatom auf der Nasenspitze der Statue von Sir Winston Churchill auf dem Parlamentsplatz in London. Warum befindet sich dieses Kupferatom dort? Es ist da, weil Churchill im nahegelegenen House of Commons als Premierminister wirkte und weil er durch seine Führungsqualität für den Sieg der Alliierten im zweiten Weltkrieg wichtig war. Und natürlich ist es auch deshalb dort, weil es üblich ist, berühmte Menschen zu ehren, indem man ihnen Statuen widmet und aufstellt, und weil solche Statuen gewöhnlich aus Bronze sind und weil dieses Material Kupfer enthält und so weiter. Wir erklären also eine auf einer niedrigen Stufe gemachte physikalische Beobachtung mit Hilfe von Begriffen über emergente Phänomene wie Führungsqualität, Krieg und Tradition. Es gibt keinen Grund, warum es überhaupt eine Erklärung für das Vorhandensein dieses Kupferatoms geben sollte, die elementarer ist als die eben gegebene. Vermutlich würde eine GUT auf einer elementareren Stufe im Prinzip eine Vorhersage für die Wahrscheinlichkeit der Existenz einer solchen Statue machen, wenn der Zustand von (sagen wir) dem Sonnensystem zu einem früheren Zeitpunkt bekannt wäre. Sie könnte im Prinzip auch angeben, wie die Statue wohl dahingekommen ist. Aber solche Beschreibungen und Vorhersagen (die natürlich in höchstem Maße unwahrscheinlich sind) würden nichts erklären. Sie würden lediglich den Weg all der Kupferatome von der Kupfermine durch den Schmelzofen und das Atelier des Künstlers verfolgen. Sie könnten auch feststellen, wie diese Bahnen durch Kräfte beeinflußt wurden, die von den Atomen in ihrer Umgebung ausgehen, etwa jenen, aus denen die
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Körper der Bergwerker und des Künstlers bestehen, und daraus die Existenz und die Form der Statue vorhersagen. Tatsächlich würde eine solche Vorhersage alle Atome auf dem ganzen Planeten einbeziehen müssen, die an der komplexen Bewegung Anteil hatten, die wir den Zweiten Weltkrieg nennen. Aber selbst wenn man die übermenschliche Fähigkeit hätte, solchen Vorhersagen zu folgen, könnte man immer noch nicht sagen: «Ach ja, jetzt verstehe ich, warum es da ist.» Man würde lediglich wissen, daß seine Ankunft dort auf diese Weise in Anbetracht der Anfangsbedingungen und der physikalischen Gesetze unvermeidlich (oder wahrscheinlich oder was auch immer) war. In der reduktionistischen Hierarchie sind die Gesetze für die Wechselwirkungen zwischen subatomaren Teilchen außerordentlich wichtig, weil sie die Grundlage allen Wissens sind. In der eigentlichen Naturwissenschaft und für unser Wissen insgesamt spielen solche Gesetze jedoch eine viel bescheidenere Rolle. Welche? Keiner der zur Zeit erwogenen GUT-Kandidaten enthält wesentlich neue Erklärungen, und sicherlich erwartet man von einer GUT auch keine wirklich neuartigen Erklärungen. Die meisten neuen Gedanken liefert wohl noch die Stringtheorie (oder die derzeit vieldiskutierte Variante der Superstringtheorie). Nach diesen Theorien sind nicht punktförmige Teilchen, sondern ausgedehnte Fäden, «strings», die Bausteine der Materie. Die GUT entnimmt die Mittel, mit denen sie etwas erklärt, den bestehenden Theorien für den Elektromagnetismus, die Kernkräfte und die Schwerkraft. Deshalb können wir die Beiträge, die die Grundlagenphysik zu unserem Verständnis von Welt insgesamt macht, in dieser Grundstruktur suchen, die uns schon aus bestehenden Theorien bekannt ist. Es ist wichtig, sich darüber im klaren zu sein, daß der Reduktionismus die Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis noch auf andere Weise mißversteht. Er nimmt nicht nur an, daß ein System in immer kleinere und einfachere Systeme zerlegt werden kann, sondern auch, daß sich Erklärungen späterer Ereignisse immer auf frühere berufen, eine Erklärung also allein auf der Angabe von Ursachen beruht. Erklärungen werden für um so einleuchtender gehalten, je früher die zur Erklärung angeführten Ereignisse eintraten; die beste aller Erklärungen beträfe dann den Anfangszustand des Weltalls.
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Eine GUT allein bietet deshalb keine vollständige Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit, weil sie nur Bewegungsgesetze liefert, und Bewegungsgesetze allein liefern nur bedingt Vorhersagen. Sie sagen also niemals kategorisch, was passiert, sondern nur, was zu einer bestimmten Zeit passieren wird, wenn vorgegeben ist, was zu einer anderen Zeit passiert ist. Wenn eine GUT beispielsweise den Anfangszustand des Universums vollständig beschreiben könnte, müßte sie auch eine vollständige Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit herleiten können. Heutige kosmologische Theorien legen den Anfangszustand des Universums nicht einmal im Prinzip vollständig fest, aber sie sagen, daß das Weltall anfangs sehr klein, sehr heiß und sehr gleichförmig war. Wir wissen auch, daß es nicht vollkommen gleichförmig gewesen sein kann, weil das unverträglich ist mit der heute beobachteten Verteilung der Galaxien im Raum. Die anfänglichen Dichteschwankungen wären durch die von der Schwerkraft bedingte Klumpenbildung deutlich verstärkt worden, denn relativ dichte Bereiche hätten immer mehr Materie angezogen und wären immer dichter geworden. Diese anfangs relativ geringen Dichteschwankungen müssen für jede reduktionistische Beschreibung der Wirklichkeit äußerst wichtig sein, weil fast alles, was um uns herum geschieht, von der Verteilung der Sterne und Galaxien am Himmel bis zur Aufstellung von Bronzestatuen auf dem Planeten Erde, aus Sicht der Grundlagenphysik eine Auswirkung dieser Schwankungen ist. Wenn unsere reduktionistische Beschreibung mehr enthalten soll als die aliergröbsten Züge der Kosmologie, brauchen wir eine Theorie, die diese überaus wichtigen anfänglichen Abweichungen von der Gleichförmigkeit beschreibt. Bewegungsgesetze eines physikalischen Systems machen nur bedingte Vorhersagen und sind deshalb mit vielen möglichen Abläufen vereinbar. Die Bewegungsgesetze, die beispielsweise für die Bahn einer Kugel gelten, die von einer Kanone abgeschossen wird, lassen viele mögliche Bahnen zu, und zwar eine für jede mögliche Richtung, in die die Kanone beim Abschuß zeigen kann (siehe Abbildung 2). Mathematisch lassen sich die Bewegungsgesetze durch die sogenannten Bewegungsgleichungen erfassen. Jede ihrer vielen Lösungen beschreibt eine mögliche Bahn. Um festzulegen, welche Lösung die tatsächliche Bahn
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Abb. 2 Einige mögliche Bahnen, auf denen eine Kugel fliegen kann, die am Punkt G von einer Kanone abgeschossen wird. Alle diese Bahnen gehorchen den Bewegungsgesetzen, aber wenn eine Kugel abgeschossen wird, fliegt sie jeweils nur auf einer Bahn.
beschreibt, brauchen wir weitere Daten über das tatsächliche Geschehen, müssen also den wirklichen Ablauf kennen. Eine Möglichkeit besteht darin, den Anfangszustand festzulegen, in diesem Fall also die Richtung, in die die Kanone zeigt. Aber wir könnten genausogut den Endzustand festlegen, also den Ort und die Bewegungsrichtung der Kugel bei der Landung angeben. Wir könnten auch vorgeben, an welcher Stelle die Bahn ihren höchsten Punkt erreicht. Es kommt nicht darauf an, welche zusätzlichen Daten wir vorgeben, solange sie einer einzigen Lösung der Bewegungsgleichungen entsprechen. Alle diese ergänzenden Daten und die Bewegungsgesetze zusammen führen zu einer Theorie, die alles beschreibt, was mit der Kugel zwischen Abschuß und Aufprall passiert. Setzen wir unser Universum nach dem Urknall mit der abgeschossenen Kanonenkugel gleich. Auch die Bewegungsgleichungen der GUT lassen viele Lösungen zu, von denen jede einem anderen Geschehen entspricht. Um die Beschreibung zu vervollständigen, müßten wir angeben, was tatsächlich passiert ist, indem wir genügend weitere Daten in die Rechnung einbringen, die es erlauben, aus den vielen Lösungen der Bewegungsgleichungen die richtige auszuwählen. Eine Möglichkeit wäre, den Anfangszustand der Welt festzulegen. Wir könnten aber auch den Endzustand oder den Zustand zu irgendeinem anderen Zeitpunkt
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festlegen. Oder wir könnten einige Bedingungen für den Anfangszustand, einige für den Endzustand und einige für die Zustände zu anderen Zeiten geben. Wenn hinreichend viele solcher zusätzlichen Daten mit den Bewegungsgesetzen kombiniert würden, verfügten wir im Prinzip über eine vollständige Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit, so wie wir den Flug der Kanonenkugel zwischen Abschuß und Landung bestimmen können. So weit, so gut. Aber für das Universum sind die meisten solchen Berechnungen praktisch nicht durchführbar. Der Großteil unseres Wissens über zusätzliche Daten entstammt nicht elementaren Theorien, sondern Disziplinen aus höheren Stockwerken des Gebäudes der Wissenschaft. Solche Theorien über emergente Phänomene lassen sich also nach Definition nicht in Form von Aussagen über den Anfangszustand fassen. So hat beispielsweise der Anfangszustand des Weltalls für die meisten Lösungen der Bewegungsgleichungen nicht die Eigenschaften, die für die Entwicklung von Leben nötig sind. Unser Wissen, daß sich Leben entwickelt hat, gibt daher wesentliche zusätzliche Information. Wir erfahren vielleicht nie, was diese Tatsache über die Struktur des Urknalls besagt, aber wir können daraus unmittelbar Schlüsse ziehen. So wurde beispielsweise die früheste richtige Schätzung des Erdalters auf der Grundlage der biologischen Evolutionstheorie gemacht, die der Physik der damaligen Zeit widersprach. Nur eine reduktionistische Einstellung könnte uns glauben machen, daß diese Form der Begründung irgendwie weniger gültig sei oder daß es im allgemeinen «grundlegender» sei, Theorien über den Anfangszustand aufzustellen als über emergente Eigenschaften der Wirklichkeit. Selbst im Bereich der Grundlagenphysik beruht die Meinung, Theorien des Anfangszustands seien die elementarsten uns bekannten Theorien, auf einem schwerwiegenden Mißverständnis. Sie schließt nämlich logisch die Möglichkeit aus, den Anfangszustand zu erklären, – warum also der Anfangszustand selbst so war, wie er war –, obwohl wir tatsächlich viele Aspekte des Anfangszustands erklären können. Noch allgemeiner kann keine Theorie der Zeit den Anfang durch etwas «Früheres» erklären; aber die allgemeine Relativitätstheorie und noch mehr die Quantentheorie geben uns Erklärungen des Zeitbegriffs. Darauf kommen wir später zurück.
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Viele unserer Beschreibungen, Vorhersagen und Erklärungen der Wirklichkeit haben also keinerlei Ähnlichkeit mit dem Bild, das sich der Reduktionismus von der Welt macht, der sich mit «Anfangszustand plus Bewegungsgesetzen» zufrieden gibt, und wir haben keinerlei Grund, Disziplinen und Wissensgebiete, die sich im hierarchischen Modell des Reduktionismus auf «abgeleiteter», höherer Ebene befinden, irgendwie als Bürger zweiter Klasse zu behandeln. Weder unsere teilchenphysikalischen Theorien noch die Quantentheorie, weder die Relativitätstheorie noch die Physik insgesamt haben irgendwelche Vorzüge vor Disziplinen und Theorien emergenter Eigenschaften. Keine dieser Disziplinen kann alle anderen ersetzen. Aus jeder von ihnen folgt logisch etwas über die anderen, aber nicht alle Folgerungen lassen sich ausdrücklich feststellen, denn sie sind emergente Eigenschaften aus den anderen Gebieten. Eigentlich sind die Ausdrücke «elementar» und «höher» schlecht gewählt. Die Gesetze der Biologie etwa sind höhere, emergente Folgen der Gesetze der Physik. Dann aber sind einige Gesetze der Physik «emergente» Folgen der Gesetze der Biologie. Es könnte sogar sein, daß die Gesetze, die für biologische und andere emergente Phänomene gelten, gemeinsam die Grundlagenphysik bestimmen. Wenn jedoch zwei Wissenschaften logisch verknüpft sind, ist damit noch nicht gesagt, welche von den beiden wir als die sehen, die die andere ganz oder teilweise bestimmt. Das Gewebe der Wirklichkeit besteht nicht nur aus reduktionistischen Teilen wie Raum, Zeit und subatomaren Teilchen, sondern auch aus Leben, Denken und Berechnungen. Eine Theorie ist nicht um so grundlegender und weniger hergeleitet, je verwandter sie den Grundlagen der Physik ist, sondern je mehr sie uns zu tiefgreifenden Erklärungen über das Wesen der Natur verhilft. Es gibt in der Physik zwei Theorien, die wesentlich tiefer schürfen als alle anderen. Die erste ist die schon erwähnte allgemeine Relativitätstheorie. Die zweite, die Quantentheorie, ist noch tiefgreifender. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, liefert sie eine revolutionäre neue Art der Erklärung der physikalischen Wirklichkeit. Diese beiden Theorien zusammen liefern den erklärenden und formalen Rahmen, in dem alle anderen physikalischen Theorien konstruiert werden. Nach ihren Grundsätzen müssen sich alle anderen Theorien richten. Die Quanten-
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theorie ist aus Gründen, die mehr außerhalb als innerhalb der Physik liegen, die tiefere Theorie. Ihre Reichweite ist sehr groß und geht weit über die Physik und sogar über das gewöhnliche Verständnis von Wissenschaft hinaus. Die Quantentheorie gehört zu den grundlegenden Erklärungsmodellen, zu den wichtigen Strängen, aus denen das Gewebe der Wirklichkeit besteht. Die anderen drei wichtigen Stränge, die uns Wirklichkeit in einem umfassenden Sinn verstehen lassen, sind aus Sicht der Quantenphysik auf höherer, abgeleiteter Ebene der Hierarchie angesiedelt. Es sind die Theorie der Evolution (vor allem der Evolution von Lebewesen), die Epistemologie (die Erkenntnistheorie) und die Theorie der Berechnung (die sich mit dem befaßt, was Computer im Prinzip berechnen und nicht berechnen können). Wie wir sehen werden, bestehen zwischen den Grundprinzipien dieser vier voneinander scheinbar unabhängigen Bereiche so tiefe und vielfältige Verbindungen, daß man keinen Bereich verstehen kann, wenn man nicht auch die anderen drei versteht. Alle vier zusammen bilden ein stimmiges Erklärungsmuster. Es ist so weitreichend und umfaßt so viel von unserem Verständnis der Welt, daß es mit Recht den Anspruch erheben kann, die erste wirkliche Theorie für Alles zu sein, denn sie erklärt das Gewebe der Wirklichkeit. Wie wir sehen werden, kann diese Theorie für Alles sehr viel mehr und sehr viel tiefgreifender erklären als die GUT, der die Teilchenphysiker nachjagen. Warum? Weil wir mit Gewebe der Wirklichkeit einen umfassenderen Begriff von Realität meinten als den, der durch Raum, Zeit, Kräfte und Elementarteilchen gekennzeichnet ist. Zu ihm gehören wie bereits erwähnt auch die Begriffe Leben und Evolution, Denken und Erkenntnis sowie die Berechenbarkeit durch Computer. Aus diesem Grund werden wir uns in den folgenden Kapiteln mit den grundlegenden Strängen, die zu dieser «höheren» Welterkenntnis notwendig sind, befassen. Beginnen werden wir mit der Quantentheorie. Wir sind damit an einem wichtigen Augenblick in der Geschichte des Denkens angekommen, einem Augenblick, in dem unser Verstehen wirklich universell zu werden beginnt. Bis jetzt hat sich alles Verstehen mit Aspekten der Wirklichkeit befaßt. In Zukunft wird es um die Wirklichkeit in einem umfassenden Sinn gehen. Dann sind alle Erklärungen vor
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dem Hintergrund der Allgemeingültigkeit zu sehen, und jeder neue Gedanke wird ganz selbstverständlich nicht nur ein einzelnes Thema, sondern alle Bereiche erhellen. Diese letzte große Vereinheitlichung wird uns mehr Verständnis vermitteln als jede frühere. Denn dann werden nicht nur die Physik und die Naturwissenschaften vereinheitlicht und erklärt werden, sondern auch die fernen Reiche der Philosophie, Logik und Mathematik, Ethik, Politik und Ästhetik – womöglich alles, was wir verstehen, und wahrscheinlich vieles von dem, was wir noch nicht verstehen. Was würden wir also dem Kind sagen, dem der Gedanke nicht gefällt, daß die Welt um so weniger verstehbar wird, je mehr die Kenntnisse zunehmen? Wir sollten es ermutigen und ihm sagen, es komme darauf an, ob das Gewebe der Wirklichkeit überhaupt vereinheitlicht und verständlich gemacht werden kann. Wir haben guten Grund, das zu glauben. Davon war ich schon als Kind überzeugt. Jetzt kann ich es erklären.
2 Schatten Unter den Gesetzen, nach denen unser Weltall regiert wird, gibt es keines, das nicht auch bei der Naturgeschichte der Kerze in Betracht kommt. Kein besseres und bequemeres Tor bietet sich für den Eingang zum Studium der Physik. Faraday Michael Faraday erklärte seinen Zuhörern die Welt am Beispiel einer brennenden Kerze. Wir wollen statt dessen eine Taschenlampe betrachten. Das ist recht passend, denn die Technik der Taschenlampe beruht zu einem großen Teil auf Faradays Entdeckungen. So ausgerüstet, wollen wir nun einige der Experimente, die der Quantenphysik zugrunde liegen, beschreiben. Versuche mit Licht und Schatten stellen seit Jahren in vielen Variationen und Verbesserungen sozusagen den Lebensinhalt der Quantenoptik dar, die Ergebnisse aber sind, obwohl unumstritten, zum Teil selbst heute noch fast unglaublich. Die grundlegenden Experimente sind erstaunlich einfach. Sie erfordern keine besonders raffinierte instrumenteile Ausrüstung und setzen kein großes mathematisches oder physikalisches Wissen voraus – im wesentlichen geht es um nichts anderes als um Schattenbilder, aus denen sich bei aufmerksamer Betrachtung außerordentliche Schlüsse ziehen lassen. Eine gewöhnliche Taschenlampe schon kann sehr seltsame Muster von Licht und Schatten erzeugen, deren Erklärung nicht nur neue Naturgesetze erfordert, sondern eine neue Schicht der Beschreibung und Erklärung, die jenseits dessen liegt, was man früher einmal zur Naturwissenschaft
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zählte. Zunächst einmal offenbart sie jedoch die Existenz paralleler Welten. Wie das? Welche Schattenmuster könnten je solche Folgen haben? Man denke sich in einem sonst dunklen Zimmer eine eingeschaltete Taschenlampe. Das Licht geht kegelförmig vom Glühfaden der Lampe aus. Um das Experiment nicht durch die Reflektion von Licht zu komplizieren, sollten die Zimmerwände alles Licht verschlucken, also schwarz sein. Da wir diese Experimente nur in Gedanken durchführen, können wir uns auch ein Zimmer mit astronomischen Ausmaßen vorstellen. Das Licht hat dann keine Zeit, die Wände zu erreichen und zurückzukehren, bevor das Experiment abgeschlossen ist. Abbildung 3 veranschaulicht diese Situation, ist aber etwas irreführend, denn wenn wir die Taschenlampe aus der Sicht der Abbildung betrachten, können wir ja weder die Lampe noch, natürlich, ihr Licht sehen. Die Unsichtbarkeit des Lichts ist eine seiner einfachsten Eigenschaften. Wir sehen Licht nur, wenn es uns in die Augen fällt. Wenn Licht an uns vorbeigeht, ist es für uns unsichtbar. Wir könnten reflektierende Körper sehen, wenn sie im Weg des Lichtstrahls liegen, auch wenn es Staubkörner oder Wassertropfen sind. Im Strahl aber ist nichts, und wir beobachten ihn von außen, deshalb erreicht uns sein Licht nicht. In diesem Fall zeigt eine zutreffende Darstellung also ein völlig schwarzes Bild. Wenn es eine zweite Lichtquelle gäbe, könnten wir vielleicht die Taschenlampe sehen, aber immer noch nicht ihr Licht. Lichtstrahlen, auch die stärksten, die wir (z.B. mit Lasern) erzeugen können, durchdringen einander, als ob sie gar nicht da sind. Unser Bild zeigt, daß das Licht in der Nähe der Taschenlampe am hellsten ist und schwächer wird, wenn der Strahl eine immer größere Fläche beleuchtet. Für einen Beobachter, der auf dem Strahl sitzt, sich also von der Taschenlampe entfernt, würde die Taschenlampe immer kleiner, und wenn sie nur noch ein einzelner Punkt wäre, würde auch das Licht sehr viel schwächer sein. Oder etwa nicht? Kann Licht sich wirklich unaufhörlich verdünnen, ohne jede Grenze? Die Antwort ist nein. Das menschliche Auge könnte das Licht in einer Entfernung von etwa zehntausend Kilometern von der Taschenlampe nicht mehr entdecken, und ein Beobachter würde nichts sehen. Ein menschlicher Be-
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Abb. 3 Das Licht einer Taschenlampe.
obachter würde also nichts sehen. Wie wäre es bei einem Tier mit empfindlicherem Sehvermögen? Froschaugen sind um ein Mehrfaches empfindlicher als Menschenaugen – für sie würde dieses Experiment ganz anders ausgehen. Wäre der Beobachter ein Frosch und entfernte er sich immer weiter von der Taschenlampe, käme niemals der Augenblick, in dem er überhaupt nichts mehr sieht. Der Frosch würde die Taschenlampe schließlich flackern sehen und zwar in unregelmäßigen Intervallen, die immer länger würden, je weiter sich der Frosch entfernte. Die Helligkeit des Flackerns würde jedoch immer gleich bleiben. In einer Entfernung von hundert Millionen Kilometern von der Taschenlampe
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Abb. 4 Frösche können einzelne Photonen sehen.
würde das Licht im Mittel nur einmal am Tag flackern, aber dieses Flackern wäre so hell wie jedes, das der Frosch aus anderer Entfernung beobachten könnte. Frösche können uns nicht erzählen, was sie sehen, deshalb benutzen wir in wirklichen Experimenten Photovervielfacher (Lichtdetektoren, die noch empfindlicher sind als Froschaugen), und wir betrachten das Licht nicht aus hundert Millionen Kilometern Entfernung, sondern schicken es durch dunkle Filter. Aber das Prinzip ist dasselbe: Wir beobachten weder scheinbare Dunkelheit noch gleichförmiges Dämmerlicht, sondern ein Flackern, wobei das einzelne Flackern immer gleich hell bleibt, unabhängig davon, wie dick der Filter ist, den wir verwenden. Dieses Flackern zeigt an, daß es eine Grenze dafür gibt, wie dünn Licht sich gleichmäßig verteilen kann. In der Sprache der Goldschmiede könnte man sagen, Licht sei nicht unendlich hämmerbar. Wie Blattgold läßt sich auch sehr wenig Licht gleichmäßig über einen sehr großen Bereich verteilen, aber wenn man es dann schließlich noch feiner ver-
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teilen will, «klumpt» es. Weil Goldatome sich nicht teilen lassen, wenn sie Gold bleiben sollen, ließe sich eine Schicht Gold von einem Atom Dicke auch dann nicht weiter auswalzen, wenn man die Atome irgendwie am Zusammenklumpen hindern könnte. Um eine noch dünnere Goldschicht herzustellen, müßte man die Atome also weiter voneinander trennen und zwischen ihnen leeren Raum lassen. Wenn sie hinreichend weit getrennt sind, bilden sie natürlich keine zusammenhängende Schicht mehr. Wenn beispielsweise jedes Goldatom im Mittel mehrere Zentimeter von seinem nächsten Nachbarn entfernt ist, könnte man seine Hand durch die «Schicht» hindurchstecken, ohne je Gold zu berühren. Analog zu den Goldatomen gibt es eine kleinste Einheit Licht, das Photon. Jedes Flackern, das der Frosch wahrnimmt, wird durch ein Photon verursacht, das auf die Netzhaut seines Auges fällt. Wenn ein Lichtstrahl schwächer wird, werden also nicht die Photonen selbst schwächer, sondern sie entfernen sich weiter voneinander; zwischen ihnen bleibt leerer Raum (Abbildung 4). Wegen dieser Unstetigkeit ist es irreführend, wenn man von «Strahl» spricht. Wenn der Frosch also phasenweise nichts sieht, liegt die Ursache nicht darin, daß das in sein Auge fallende Licht zu schwach ist, um die Netzhaut anzuregen, sondern schlicht in der Tatsache, daß in den Intervallen kein Licht ins Auge fällt. Wenn etwas anscheinend nur in Klumpen auftritt, sprechen Physiker von Quantelung. Ein einzelner Klumpen, etwa ein Photon, heißt Quant. Die Quantentheorie, die ihren Namen dieser Eigenschaft verdankt, schreibt sie allen meßbaren physikalischen Größen zu, nicht nur Licht oder Gold, also Stoffen, die gequantelt sind, weil sie aus Teilchen bestehen. Selbst für Größen wie die Entfernung – beispielsweise die Entfernung zwischen zwei Atomen – hat sich die Vorstellung eines stetigen Wertebereichs als Idealisierung erwiesen. Es gibt in der Physik keine stetig veränderlichen meßbaren Größen. Wie wir sehen werden, gibt es in der Quantenphysik vieles Neuartige, und oberflächlich gesehen ist die Quantelung eine der zahmsten Erscheinungen. In gewissem Sinn jedoch stellt sie den Schlüssel zu allen anderen dar. Denn wie verändert eine Größe ihren Wert vom einen zum anderen, wenn alles quantisiert ist? Wie gelangt ein Objekt von einem Ort an einen anderen, wenn es nicht an jedem dazwischenliegenden Ort sein kann?
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Abb. 5 Schatten und Halbschatten.
Wir werden in Kapitel 8 darauf zurückkommen, lassen im Augenblick aber die Frage beiseite und kehren zu unserer Taschenlampe zurück, dorthin, wo der Strahl stetig zu sein scheint, weil er in jeder Sekunde 14 etwa 10 (hundert Billionen) Photonen in das Auge des Betrachters wirft. Ist die Grenze zwischen Licht und Schatten vollkommen scharf? Oder gibt es da einen grauen Bereich? Abbildung 5 läßt uns einen Grund erahnen, warum es gewöhnlich einen ziemlich breiten grauen Bereich gibt. Wir sehen einen dunklen Bereich, den Schatten, den das Licht des Glühfadens nicht erreicht. Es gibt einen hellen Bereich, der von allen Teilen des Glühfadens Licht erhält. Weil nun der Glühfaden kein geometrischer Punkt ist, sondern eine gewisse Ausdehnung hat, existiert zwischen den hellen und dunklen Bereichen auch ein Halbschatten, also ein Bereich, der Licht von einem Teil des Fadens erhält, aber von anderen Teilen nicht
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beleuchtet wird. Vom Halbschatten aus sieht man nur einen Teil des Glühfadens, das Licht ist dort weniger hell. Taschenlampen werfen jedoch nicht nur deshalb einen Halbschatten, weil der Glühfaden eine endliche Ausdehnung hat, sondern weil viele Einflüsse auf das Licht wirken, die beispielsweise vom Spiegel hinter der Lampe, von der Glasscheibe vor ihr bis zu den Schweißnähten oder Unregelmäßigkeiten in der Fertigung reichen. Das Schattenmuster einer Taschenlampe ist also ziemlich kompliziert, weil die Taschenlampe selbst kompliziert ist. Aber bei unseren Experimenten geht es nicht um diese zufälligen Eigenschaften von Taschenlampen, sondern um eine viel grundlegendere Frage, die Licht ganz allgemein betrifft: Gibt es eine grundsätzliche Grenze dafür, wie scharf ein Schatten sein kann (wie schmal also ein Halbschatten sein kann)? Würde der Halbschatten etwa beliebig klein, wenn die Taschenlampe aus einem vollkommen schwarzen (nicht reflektierenden) Material bestünde und der Glühfaden kleiner wäre? In Abbildung 5 sieht es so aus. Hätte der Glühfaden keine Ausdehnung, gäbe es keinen Halbschatten. Der Zeichner hat übrigens angenommen, daß Licht sich nur auf Geraden ausbreitet. Das entnehmen wir unserer alltäglichen Erfahrung, denn wir können nicht um die Ecke sehen. Sorgfältige Experimente zeigen aber, daß Licht nicht immer auf Geraden läuft. Unter gewissen Umständen krümmt es sich. Dies läßt sich nicht gut mit einer Taschenlampe nachweisen, weil es schwierig ist, sehr kleine Glühfäden und sehr dunkle Flächen herzustellen. Diese praktischen Probleme verschleiern die Grenzen, die die Grundlagenphysik der Schärfe von Schatten auferlegt. Glücklicherweise läßt sich die Antwort auch anders finden. Dazu lassen wir das Licht einer Taschenlampe wie in Abbildung 6 nacheinander durch zwei kleine Löcher in sonst undurchlässigen Schirmen hindurchgehen und das durchgehende Licht auf einen dritten Schirm fallen. Unsere Frage lautet jetzt: Kann man den Schatten – den völlig dunklen Bereich – beliebig weit an die Gerade heranbringen, die durch die Mitte der beiden Löcher geht, wenn dieser Versuch mit immer kleineren Löchern und mit immer größerem Abstand zwischen dem ersten und dem zweiten Schirm durchgeführt wird? Läßt sich der beleuchtete Bereich zwischen
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Abb. 6 Ein enger Strahl entsteht, wenn Licht nacheinander durch zwei Löcher geht.
dem zweiten und dem dritten Schirm auf einen beliebig engen Kegel einengen? In der Sprache der Goldschmiede fragen wir jetzt nach der Ausziehbarkeit, also danach, wie fein der Faden sein kann, bevor er reißt. Gold, der geschmeidigste Festkörper, den wir kennen, läßt sich zu Fäden von einem Zehntausendstel Millimeter Dicke ausziehen. Erstaunlicherweise ist Licht nicht so ausziehbar wie Gold! Lange bevor die Löcher einen Durchmesser von einem Zehntausendstel Millimeter erreichen, ja sogar schon bei etwa einem Millimeter Durchmesser, beginnt das Licht merklich zu rebellieren. Statt geradlinig durch die Löcher zu gehen, wehrt es sich gegen die Einengung; hinter jedem Loch breitet es sich aus, und dabei «zerfranst» es sich. Licht weicht um so mehr von seinem geradlinigen Weg ab, je kleiner das Loch ist. Es bildet dann komplexe Licht- und Schattenmuster; es gibt also nicht mehr nur einen hellen Bereich, einen dunklen Bereich und dazwischen einen Halbschatten, sondern vielmehr konzentrische Ringe unterschiedlicher Dicke und Helligkeit. Es entstehen auch Farben, weil weißes Licht aus einer Mischung von verschiedenfarbigen Photonen besteht, und jede Farbe verbreitet und zerfranst sich auf ihre eigene Art. Abbildung 7 zeigt ein Muster, das sich bei weißem Licht auf
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Abb. 7 Das von weißem Licht geworfene Licht- und Schattenmuster eines kleinen kreisrunden Lochs.
dem dritten Schirm typischerweise bildet, nachdem es durch die Löcher in den beiden ersten Schirmen hindurchgegangen ist. Man bedenke, daß hier lediglich Schatten geworfen werden. Abbildung 7 zeigt den Schatten, den der zweite Schirm wirft. Wenn Licht nur auf Geraden liefe, würde man nur einen winzigen weißen Fleck (viel kleiner als der helle Fleck in der Mitte von Abbildung 7) und einen ihn umgebenden schmalen Halbschatten sehen, und darum herum nur Schatten, also völlige Dunkelheit. Vielleicht verblüfft es, daß Lichtstrahlen abgelenkt werden, wenn sie durch kleine Löcher hindurchgehen, aber das ist kein grundsätzliches Problem. Für die jetzigen Zwecke ist wesentlich, daß Licht gebeugt werden kann. Schatten sind also nicht notwendig Silhouetten der Dinge, die sie werfen. Mehr noch, das Schattenbild verschwimmt nicht nur wie im Halbschatten, ein Hindernis mit einem Lochmuster kann darüber hinaus einen Schatten mit einem völlig anderen Muster werfen. Abbildung 8 zeigt näherungsweise «lebensgroß» einen Teil des Schattenmusters, das in drei Metern Entfernung von einem Paar gerader, paral-
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Abb. 8 Schatten, die von einer Schranke mit zwei geraden, parallelen Schlitzen geworfen werden.
leler Schlitze in einer sonst undurchsichtigen Schranke geworfen wird. Die Schlitze haben einen Abstand von etwa einem Fünftel Millimeter und werden von einem stark gebündelten Laserstrahl auf der anderen Seite der Schranke beleuchtet. Warum nehmen wir Licht von einem Laser und nicht von einer Taschenlampe? Die genaue Form eines Schattens hängt auch von der Farbe des Lichts ab, das den Schatten wirft. Weil das weiße Licht einer Taschenlampe eine Mischung aller sichtbaren Farben ist, wirft es Schatten mit buntem Rand. In Versuchen, in denen es um die genaue Form von Schatten geht, benutzen wir deshalb besser einfarbiges Licht. Wir könnten einen Farbfilter (also eine farbige Glasscheibe) vor die Taschenlampe setzen, so daß nur Licht dieser Farbe hindurchgeht. Das würde helfen, aber solche Filter sind nicht besonders gut. Laser hingegen lassen sich sehr genau so einstellen, daß sie fast vollkommen reines Licht der von uns gewählten Farbe aussenden. Liefe das Licht auf Geraden, zeigten sich einfach zwei helle, scharfkantige Streifen in einem Fünftel Millimeter Abstand (in diesem Maßstab ließen sie sich nicht unterscheiden), und der Rest des Schirms läge im Schatten. Doch in Wirklichkeit wird das Licht gebeugt, und wir sehen viele helle und dunkle Bänder und keine scharfen Konturen. Wenn die Schlitze seitlich verschoben werden, verschiebt sich das Muster um denselben Betrag, solange die Schlitze im Laserstrahl bleiben. In dieser Hinsicht verhält sich das Muster wie ein gewöhnlicher Schatten. Welches Schattenmuster entsteht nun, wenn wir den beiden Schlitzen ein zweites, identisches Paar von Schlitzen überlagern, so daß wir insgesamt vier Schlitze im Abstand von je einem Zehntel Millimeter haben? Wir erwarten etwa dasselbe Muster wie in Abbildung 8. Schließlich wirft das erste Paar von Schlitzen allein die Schatten, und das zweite Paar würde, je für sich genommen, dasselbe Muster erzeugen, nur um
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Abb. 9a Teil des Schattens einer Schranke mit vier geraden, parallelen Schlitzen. Abb. 9b Teil des Schattens einer Schranke mit zwei geraden, parallelen Schlitzen.
einen Zehntel Millimeter zur Seite verschoben – also fast an derselben Stelle. Wir wissen auch, daß Lichtstrahlen einander gewöhnlich ungehindert durchdringen. Die beiden Schlitzpaare zusammen sollten also im wesentlichen dasselbe Muster erzeugen, das jedoch doppelt so hell und etwas verschwommener sein sollte. In Wirklichkeit jedoch geschieht etwas ganz anderes. Abbildung 9a zeigt den wirklichen Schatten einer Schranke mit vier geraden, parallelen Schlitzen. Zum Vergleich sehen wir noch einmal das Bild mit zwei Schlitzen. Offensichtlich ist der Schatten aus vier Schlitzen keine Kombination von zwei etwas gegeneinander verschobenen Schatten aus zwei Schlitzen, sondern er weist ein neues und komplizierteres Muster auf. In diesen Mustern gibt es Orte wie den mit «X» markierten Punkt, die einmal dunkel sind und ein andermal hell. Solche Orte sind also hell, wenn Licht durch zwei Schlitze läuft, und dunkel, wenn das Licht zwei weitere Schlitze passieren kann. Das Öffnen dieser Schlitze hat mit dem Licht, das zuvor bei X ankam, interferiert. Die Hinzufügung von zwei weiteren Lichtquellen verdunkelt also den Punkt X. Er wird wieder hell, wenn wir die Schlitze wegnehmen. Wie das? Man könnte sich vorstellen, daß zwei Photonen auf X zulaufen und wie Billardkugeln voneinander abprallen. Jedes Photon allein hätte X getroffen, weil die beiden Photonen aber miteinander inter-
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ferieren, sind sie am Schluß beide woanders. Wir werden gleich sehen, daß diese Erklärung nicht richtig sein kann. Trotzdem ist der Grundgedanke unausweichlich, daß etwas durch das zweite Schlitzpaar kommen muß, das das Licht vom ersten Paar daran hindert, X zu erreichen. Aber was? Wir können das mit einigen weiteren Experimenten herausfinden. Erstens tritt das Muster aus den vier Schlitzen von Abbildung 9a nur dann auf, wenn alle vier Schlitze im Laserstrahl liegen. Wenn nur zwei beleuchtet werden, stellt sich das bekannte Muster ein, wenn drei beleuchtet werden, ergibt sich wieder ein anderes Muster. Das, was die Interferenz verursacht, steckt also im Lichtstrahl. Das zwei Schlitzen entsprechende Muster stellt sich auch dann wieder ein, wenn zwei der Schlitze mit etwas Undurchsichtigem gefüllt werden, nicht aber, wenn sie mit Durchsichtigem gefüllt werden. Das, was interferiert, wird folglich durch alles behindert, was Licht behindert, selbst durch etwas so Flüchtiges wie Nebel. Aber es kann alles durchdringen, was Licht durchläßt, selbst etwas so Hartes wie Diamanten. Wenn ein kompliziertes Spiegel- und Linsensystem in das Gerät eingebaut wird, beobachtet man an diesem Punkt den Teil eines Vier-Schlitz-Musters, falls das Licht aus allen vier Schlitzen auf diesen Punkt auf dem Schirm gelangen kann. Wenn das Licht von nur zwei Schlitzen einen bestimmten Punkt erreichen kann, beobachtet man dort ein Muster mit zwei Schlitzen und so weiter. Etwas, das die Interferenz verursacht, verhält sich also wie Licht. Es ist überall im Lichtstrahl, aber nirgendwo außerhalb zu finden. Es wird von allem reflektiert, durchgelassen oder blockiert, was Licht reflektiert, durchläßt oder blockiert. Vielleicht fragen Sie sich, warum wir diesen Punkt so betonen müssen. Das Etwas ist offensichtlich Licht. Was also mit den Photonen aus den Schlitzen interferiert, müssen Photonen aus den anderen Schlitzen sein. Doch warten Sie ab. Nach dem nächsten Experiment könnte man geneigt sein, das Offensichtliche zu bezweifeln, denn es durchbricht das Gesetz der Serie. Was sollten wir erwarten, wenn diese Experimente mit nur einem Photon durchgeführt werden? Nehmen wir beispielsweise an, die Taschenlampe sei in der Entfernung, in der an jedem Tag nur ein Photon auf den Schirm fällt. Was sieht unser Frosch dann vom Schirm aus? Sollte
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nicht die Interferenz geringer sein, wenn es nur sehr wenige Photonen gibt? Sollte sie nicht überhaupt aufhören, wenn zu jeder vorgegebenen Zeit nur ein Photon durch den Apparat geht? Es könnte immer noch Halbschatten geben, weil ein Photon seinen Lauf ändern könnte, wenn es einen Schlitz passiert (etwa indem es am Rand entlang streift). Aber wir könnten bestimmt keinen Punkt X auf dem Schirm finden, an dem Photonen ankommen, wenn beide Schlitze geöffnet sind, der aber dunkel ist, wenn zwei weitere Schlitze geöffnet werden. Und doch beobachten wir genau das. Selbst wenn die Photonen sehr selten sind, bleibt das Schattenmuster unverändert. Auch wenn das Experiment mit einem Photon durchgeführt wird, kommt bei X niemals ein Photon an, wenn alle vier Schlitze geöffnet sind. Aber sowie zwei Schlitze geschlossen werden, flackert es wieder. Könnte es sein, daß das Photon sich in Stücke teilt, die nach dem Durchgang durch die Schlitze ihren Lauf ändern und sich wieder vereinigen? Nein, wir können auch diese Möglichkeit ausschließen. Wenn wir ein Photon durch den Apparat schicken, aber vier Detektoren benutzen, an jedem Schlitz einen, registriert höchstens einer von ihnen einen Durchgang. In einem solchen Experiment sprechen, soweit wir es beobachten, zwei Zähler niemals gleichzeitig an. Deshalb können wir sagen, daß das, was die Zähler entdecken, sich nicht aufgespalten hat. Was aber lenkt die Photonen ab, wenn sie sich nicht aufteilen und nicht durch andere Photonen abgelenkt werden? Was kann, wenn doch nur ein Photon zu einer gegebenen Zeit durch den Apparat geht, durch die anderen Schlitze kommen und mit ihnen interferieren? Fassen wir zusammen. Wir haben gefunden: Wenn ein einzelnes Photon durch diesen Apparat geht... ... geht es durch nur einen Schlitz. Dann interferiert etwas mit ihm und lenkt es je nachdem, welche anderen Schlitze geöffnet sind, unterschiedlich ab. ... sind die interferierenden Größen durch einige der anderen Schlitze gegangen. ... verhalten sich die interferierenden Größen genauso wie Photonen, nur daß sie unsichtbar sind.
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Ich nenne diese Größen von jetzt an «Photonen». Das sind sie nämlich, obwohl es im Augenblick so aussieht, als ob es zwei Arten von Photonen gäbe, die ich vorübergehend faßbar und schattenhaft nenne. Faßbare Photonen sind die, die wir sehen oder mit unseren Instrumenten nachweisen können. Schattenhafte Photonen sind nicht faßbar. Sie sind also unsichtbar. Wir können sie nur indirekt durch ihre Interferenz mit faßbaren Photonen entdecken. Später werden wir sehen, daß es zwischen faßbaren und unsichtbaren Photonen keinen wesentlichen Unterschied gibt, denn jedes Photon ist in einer Welt faßbar und in allen anderen parallelen Welten unfaßbar – aber wir wollen nicht vorgreifen. Was wir bis jetzt hergeleitet haben, besagt nur, daß zu jedem faßbaren Photon ein Gefolge von schattenhaften Photonen gehört und daß dann, wenn ein faßbares Photon durch einen unserer vier Schlitze hindurchgeht, einige schattenhafte Photonen durch die anderen drei Spalte gehen. Da andere Interferenzmuster entstehen, wenn die Schlitze an anderen Stellen des Schirms, aber im Strahl, liegen, müssen überall auf dem beleuchteten Teil des Schirms schattenhafte Photonen ankommen, wenn ein faßbares Photon ankommt. Deshalb gibt es sehr viel mehr schattenhafte Photonen als faßbare. Wie viele mehr? Die Experimente können keine Obergrenze setzen, wohl aber eine grobe Untergrenze. In einem Labor mißt die größte Fläche, die wir mit einem Laser gut beleuchten können, etwa einen Quadratmeter, und das kleinste Loch, mit dem man noch gut arbeiten kann, hat etwa ein Tausendstel Millimeter Durchmesser. Es gibt also in dem Schirm etwa 1012 (eine Billion) mögliche Orte für Löcher. Deshalb muß jedes faßbare Photon von mindestens einer Billion schattenhafter Photonen begleitet sein. Wir haben also die Existenz einer schäumenden, sagenhaft komplizierten, verborgenen Welt schattenhafter Photonen hergeleitet. Sie haben Lichtgeschwindigkeit, prallen an Spiegeln ab, werden von Linsen gebrochen und von undurchlässigen Filtern einer anderen als der ihnen entsprechenden Farbe aufgehalten. Auch die empfindlichsten Detektoren sprechen nicht auf sie an. Ein schattenhaftes Photon läßt sich nur an seiner Wirkung auf das faßbare Photon erkennen, zu dessen Gefolge es gehört. Das ist das Phänomen der Interferenz. Schattenhafte Photonen würden ohne dieses Phänomen und das seltsame
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Schattenmuster, durch das wir es beobachten können, völlig unbemerkt bleiben. Interferenz ist keine spezielle Eigenschaft nur von Photonen. Wie die Quantentheorie vorhersagt und das Experiment bestätigt, gibt es sie bei allen Teilchenarten. Jedes faßbare Neutron muß also von Unmengen von schattenhaften Neutronen begleitet sein, jedes Elektron von Unmengen von schattenhaften Elektronen und so weiter. Jedes dieser Schattenteilchen kann nur indirekt durch Interferenz mit der Bewegung seines faßbaren Gegenstücks beobachtet werden. Die physikalische Wirklichkeit ist also etwas viel Größeres, als man denken würde, und das meiste davon ist unsichtbar. Die physikalischen Objekte und Ereignisse, die wir und unsere Instrumente unmittelbar beobachten, sind sozusagen die Spitze des Eisbergs. Nun haben faßbare Teilchen eine Eigenschaft, die uns das Recht gibt, sie insgesamt als Universum zu bezeichnen. Es wird einfach durch ihre Eigenschaft definiert, faßbar zu sein, also miteinander wechselwirken zu können und deshalb auch durch Instrumente und Sinnesorgane, die aus anderen faßbaren Teilchen bestehen, direkt beobachtbar zu sein. Aufgrund des Interferenzphänomens sind sie nicht vollständig vom Rest der ganzen Wirklichkeit (also von den schattenhaften Teilchen) getrennt. Sonst hätten wir nie herausgefunden, daß es in der Wirklichkeit mehr gibt als faßbare Teilchen. Aber in guter Näherung ähneln sie dem Universum, das wir im Alltagsleben um uns herum beobachten, und dem Universum, von dem die klassische Physik, also die Physik vor der Quantenphysik, gesprochen hat. Doch nun wird es spannend. Denn aus ähnlichen Gründen könnten wir erwägen, die Gesamtheit der Schattenteilchen ein paralleles Universum zu nennen, denn auch sie werden nur durch Interferenzphänomene durch faßbare Teilchen beeinflußt. Aber wir können noch weitergehen, denn es stellt sich heraus, daß schattenhafte Teilchen unter sich genauso eingeteilt sind, wie die faßbaren Teilchen unter sich. Sie bilden also nicht ein einziges, homogenes paralleles Universum, das ungeheuer viel größer ist als das faßbare, sondern eher eine riesige Anzahl von parallelen Universen, von denen jedes ähnlich gebaut ist wie das faßbare, und die alle denselben Naturgesetzen gehorchen, sich aber darin
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unterscheiden, daß die Teilchen in jedem Universum in anderen Positionen sind. Noch eine Bemerkung zur Terminologie. Das Wort «Universum» wird gewöhnlich definiert als «das Ganze der physikalischen Wirklichkeit». In diesem Sinn kann es höchstens ein Universum geben. Wir sollten diese Definition beibehalten und sagen, daß die Größe, die wir gewöhnlich «das Universum» nennen – nämlich alle unmittelbar wahrnehmbare Materie und Energie, die uns umgibt, und der umgebende Raum – nicht das ganze Universum ist, sondern nur ein kleiner Teil. Dann müßten wir für den kleinen faßbaren Teil einen neuen Namen erfinden. Aber die meisten Physiker ziehen es vor, mit dem Wort «Universum» dieselbe Größe zu bezeichnen, die es immer bezeichnet hat, obwohl sich diese Größe jetzt als ein nur kleiner Teil der physikalischen Wirklichkeit erweist. Deshalb wurde zur Bezeichnung der gesamten physikalischen Wirklichkeit das neue Wort «Multiversum» geprägt. Interferenzexperimente mit einem Teilchen, wie ich sie beschrieben habe, zeigen uns, daß das Multiversum existiert und für jedes Teilchen im faßbaren Universum viele Entsprechungen enthält. Um etwas über die genauere Struktur des Multiversums herleiten zu können, also etwa, um zu zeigen, daß es grob in parallele Universen eingeteilt ist, müssen wir Interferenzphänomene betrachten, an denen mehrere (faßbare) Teilchen und ihre schattenhaften Entsprechungen beteiligt sind. Das läßt sich am einfachsten erreichen, wenn man sich in einem Gedankenexperiment fragt, was auf mikroskopischer Ebene passieren muß, wenn schattenhafte Photonen auf einen undurchlässigen Schirm fallen. Sie werden natürlich aufgehalten. Wir wissen das, weil die Interferenz aufhört, wenn eine undurchsichtige Schranke in den Weg der Schattenphotonen gerät. Aber warum? Was hält sie auf? Wir können die naheliegende Antwort ausschließen, daß sie, wie es mit faßbaren Photonen passieren würde, von den faßbaren Atomen in der Schranke absorbiert werden. Zum ersten wissen wir, daß schattenhafte Photonen nicht mit faßbaren Atomen wechselwirken. Außerdem können wir das bestätigen, indem wir die Atome in der Schranke messen (oder genauer, indem wir die Schranke durch einen Detektor ersetzen), so daß keines von ihnen Energie absorbiert und ihren
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Zustand auch nicht irgendwie beeinflußt, wenn nichtfaßbare Photonen auf sie fallen. Anders gesagt werden schattenhafte und faßbare Photonen in gleicher Weise beeinflußt, wenn sie an eine Schranke kommen, aber die Schranke wird von den Photonen nicht in gleicher Weise beeinflußt. So weit wir sehen können, haben die schattenhaften Photonen gar keine Wirkung auf sie. Das gehört ja gerade zu ihrer Definition, denn wenn ein Stoff in beobachtbarer Weise durch sie beeinflußt würde, wäre er ein Detektor für schattenhafte Photonen, und das ganze Phänomen von Schatten und Interferenz wäre anders, als ich es beschrieben habe. Es gibt also an derselben Stelle, an der die faßbare Schranke ist, eine Art von Schattengrenze. Es braucht nicht viel Phantasie, um daraus zu schließen, daß diese Schattenschranke aus den schattenhaften Atomen besteht, von deren Vorhandensein wir schon wissen. Sie sind die Gegenstücke zu den faßbaren Atomen in der Schranke. Von ihnen gibt es für jedes faßbare Atom sehr viele. Die Gesamtdichte schattenhafter Atome reichte selbst im leichtesten Dunst aus, einen Panzer aufzuhalten, von einem Photon gar nicht zu reden, falls sie einen Einfluß ausüben könnten. Da teilweise durchsichtige Schranken schattenhafte Photonen genausogut durchlassen wie faßbare, folgt, daß nicht alle schattenhaften Atome im Weg eines bestimmten schattenhaften Photons den Durchgang blockieren. Jedes schattenhafte Photon trifft auf eine ganz ähnliche Schranke wie sein faßbares Gegenstück, eine Schranke also, die aus nur einem kleinen Teil aller schattenhaften Atome besteht, die zugegen sind. Entsprechend kann auch jedes schattenhafte Atom in der Schranke nur mit einem kleinen Teil der anderen schattenhaften Atome in ihrer Nähe wechselwirken, und die, mit denen es wechselwirkt, bilden eine Schranke, die der faßbaren Schranke entspricht, und so weiter. Alle Materie und alle physikalischen Prozesse haben diese Struktur. Sie lassen sich als viele parallele Universen sehen. Diese Universen sind «parallel» in dem Sinn, daß die Teilchen in jedem Universum miteinander genauso wechselwirken wie im faßbaren Universum, aber jedes Universum beeinflußt das andere nur wenig – nämlich nur durch Interferenzphänomene.
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Damit sind wir zum Schluß unserer Überlegung gekommen, die mit seltsam geformten Schatten beginnt und mit parallelen Universen aufhört. In jedem Schritt bemerken wir, daß das Verhalten von Dingen, die wir beobachten, sich nur erklären läßt, wenn nicht-beobachtete Dinge zugegen sind, und wenn diese nicht-beobachteten Dinge bestimmte Eigenschaften haben. Interferenzphänomene mit einzelnen Teilchen, das ist der Kern der Überlegung, schließen eindeutig die Möglichkeit aus, daß das uns umgebende Universum alles ist, was es gibt. Die Existenz solcher Interferenzphänomene ist unumstritten. Aber die Existenz des Multiversums wird nur von einer Minderheit der Physiker zugegeben. Warum? Die Antwort wirft, wie mit Bedauern gesagt werden muß, kein gutes Licht auf die Mehrheit dieser Zunft. Allerdings müssen wir darauf hinweisen, daß die Überlegungen dieses Kapitels nur dann zwingend sind, wenn man Erklärungen sucht. Wer bereit ist, sich mit Vorhersagen zufriedenzugeben und nicht unbedingt verstehen will, wie die vorhergesagten Ergebnisse der Experimente zustandekommen, kann die Existenz von allem, was nicht «faßbar» ist, einfach leugnen. Einige, darunter die Instrumentalisten und Positivisten, sehen in dieser Denkweise ein philosophisches Prinzip. Andere wollen einfach nicht darüber nachdenken. Es ist schließlich ein großer Schluß, und einer, der beim ersten Kennenlernen sehr verstören kann. Ich hoffe aber, alle Leser, die zum Mitdenken bereit sind, davon zu überzeugen, daß wir die Wirklichkeit erst dann gut verstehen können, wenn wir das Multiversum verstehen. Dies sage ich nicht in grimmiger Entschlossenheit, die Wahrheit zu suchen, auch wenn sie noch so unverdaulich ist, im Gegenteil: Die sich so ergebende Weltsicht ist in vieler Hinsicht ganzheitlicher und sinnvoller als jede frühere und sicherlich besser als der zynische Pragmatismus, der Naturwissenschaftlern heute nur allzuoft als Ersatz für eine Weltanschauung dienen muß. «Warum», so würden pragmatische Physiker fragen, «können wir nicht einfach sagen, daß Photonen sich verhalten, als ob sie mit unsichtbaren Größen wechselwirkten? Warum können wir das nicht so stehen lassen? Warum müssen wir weitergehen und Stellung dazu nehmen, ob es diese unsichtbaren Größen wirklich gibt?» Eine ausgefallenere Variante desselben Gedankens lautet so:
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«Ein faßbares Photon ist wirklich; ein schattenhaftes Photon ist nur eine Möglichkeit, wie sich das wirkliche Photon hätte verhalten können, sich aber nicht verhalten hat.» In der Quantentheorie geht es also um die Wechselwirkung des Wirklichen mit dem Möglichen. Das klingt absonderlich, aber leider verfallen viele, die gern so reden – darunter auch einige hervorragende Wissenschaftler, die es besser wissen sollten –, an diesem Punkt unweigerlich in ein Kauderwelsch. Bewahren wir also einen kühlen Kopf. Entscheidend ist, daß ein wirkliches, faßbares Photon sich anders verhält, je nachdem ob es einen Weg gibt oder nicht, den ein schattenhaftes Photon nehmen kann, so daß das schattenhafte Photon das faßbare Photon schließlich auffangen und mit ihm interferieren kann. Etwas nimmt diesen Weg, und wenn man dieses Etwas nicht «wirklich» nennen will, betreibt man Wortklauberei. «Das Mögliche» kann nicht mit dem Wirklichen wechselwirken. Nichtexistente Größen können wirkliche nicht von ihrem Weg abbringen. Nur das, was wirklich passiert, kann bewirken, daß andere Dinge wirklich passieren. Wenn die komplexen Bewegungen der schattenhaften Photonen in einem Interferenzexperiment lediglich Möglichkeiten wären, die sich nicht auch tatsächlich abspielen könnten, würden sich auch die beobachteten Interferenzphänomene nicht tatsächlich abspielen. Der Grund dafür, daß Interferenzeffekte gewöhnlich so schwach und schwer nachzuweisen sind, folgt aus den Gesetzen der Quantenmechanik, die für sie gelten. Zwei ihrer Eigenschaften sind besonders wichtig. Erstens interferiert jedes subatomare Teilchen in anderen Welten nur mit seinen eigenen Entsprechungen und mit nichts anderem. Deshalb läßt sich Interferenz nur unter Bedingungen beobachten, in denen die Bahnen eines Teilchens und seines Schattenteilchens sich trennen und dann wieder zusammenkommen. Es kommt auch auf die zeitliche Abstimmung an: Wenn das Photon auf der einen Bahn viel langsamer läuft, wird die Interferenz reduziert oder verhindert. Zweitens erfordert das Aufspüren von Interferenz zwischen zwei Universen eine besondere Art der Wechselwirkung, die sich zwischen den sich aufspaltenden Universen abspielt. An dieser Wechselwirkung sind alle Teilchen beteiligt, die in den beiden Universen nicht am selben Ort sind und nicht dieselben Eigenschaften haben. In der Praxis bedeutet dies,
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daß nur die Interferenz zwischen zwei sehr ähnlichen Universen stark genug ist, um aufgespürt werden zu können: Die Universen unterscheiden sich vielleicht nur im Ort eines Photons. Wenn ein Photon auf andere Teilchen wirkt, insbesondere also dann, wenn es beobachtet wird, lassen sich diese Teilchen oder der Beobachter auch in anderen Universen unterscheiden. Dann läßt sich spätere Interferenz, an der dieses Photon beteiligt ist, praktisch nicht nachweisen, weil die erforderliche Wechselwirkung zwischen allen beteiligten Teilchen zu kompliziert herbeizuführen ist. Gewöhnlich sagt man, die Beobachtung störe die Interferenz. Dies ist in dreifacher Hinsicht irreführend. Erstens legt es eine Art psychokinetische Wirkung des bewußten «Beobachters» auf grundlegende physikalische Phänomene nahe. Zweitens wird die Interferenz nicht «gestört». Sie ist nur (viel!) schwerer zu beobachten, weil dazu das genaue Verhalten von vielen Teilchen beobachtet werden muß; und drittens leistet dies nicht lediglich die «Beobachtung», sondern jede äußere Wirkung des Photons, die von der vom Photon gewählten Bahn abhängt. Für Leser, die andere Darstellungen der Quantenphysik kennen, wollen wir die Verbindungen zwischen unseren Überlegungen in diesem Kapitel und der gewöhnlichen Deutung herstellen. Die Auseinandersetzung wurde zunächst von theoretischen Physikern geführt, und wohl deshalb ist der Ausgangspunkt die Quantentheorie selbst. Man formuliert die Theorie so sorgfältig wie möglich und versucht dann zu verstehen, was sie uns über die Wirklichkeit mitteilt. Das ist der einzig mögliche Ansatz, wenn man alle Einzelheiten der Quantenphänomene verstehen will. Aber es ist ein unnötig komplizierter Ansatz, wenn es um die Frage geht, wie viele Universen es gibt. Deshalb haben wir ihn in diesem Kapitel nicht befolgt. Wir haben nicht einmal die üblichen Behauptungen der Quantentheorie aufgeführt, sondern lediglich einige physikalische Phänomene beschrieben und die unausweichlichen Schlüsse gezogen. In bezug auf zwei Dinge herrscht allerdings in der Quantentheorie allgemeine Übereinstimmung. Erstens kann sie beispiellos gut Ergebnisse von Experimenten vorhersagen, selbst wenn ihre Gleichungen blind, ohne viel Nachdenken über ihre Bedeutung, verwendet werden. Zweitens teilt uns die Quantentheorie Neues
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und Merkwürdiges über die Wirklichkeit mit. Die Uneinigkeit betrifft nur den Inhalt der Mitteilung. Etwa dreißig Jahre, nachdem die Theorie zur Grundlage der subatomaren Physik geworden war, erkannte der Physiker Hugh Everett 1957 als erster, daß die Quantentheorie ein Multiversum beschreibt. Seitdem dauert die Auseinandersetzung darüber an, ob die Theorie auch eine andere Deutung (oder Umdeutung oder Neuformulierung oder Abänderung usw.) zuläßt, in der sie ein einzelnes Universum beschreibt, aber weiterhin die Ergebnisse von Experimenten richtig voraussagt. Zwingt uns, anders gesagt, die Annahme der Vorhersagen der Quantentheorie, auch die Existenz paralleler Universen zu akzeptieren? Meiner Meinung nach führt diese Frage und deswegen der Ton, in dem die Auseinandersetzung gewöhnlich geführt wird, in die falsche Richtung. Zugegeben, für theoretische Physiker ist es richtig und angemessen, wenn sie viel Mühe darauf verwenden, die formale Struktur der Quantentheorie zu verstehen. Dabei dürfen wir keinesfalls unser wesentlichstes Ziel aus den Augen verlieren, nämlich die Wirklichkeit zu verstehen. Selbst wenn die Vorhersagen der Quantentheorie irgendwie ohne Bezug auf mehr als ein Universum gemacht werden könnten, würden einzelne Photonen doch in der beschriebenen Weise Schatten werfen. Auch ohne Kenntnis der Quantentheorie kann man sehen, daß diese Schatten nicht auf dem Weg eines Photons von der Taschenlampe zum Auge entstehen können. Sie sind mit keiner Erklärung vereinbar, die sich lediglich auf die für uns sichtbaren Photonen bezieht, oder nur auf die sichtbare Schranke oder nur auf das sichtbare Universum. Wenn die bestehenden physikalischen Theorien nicht von parallelen Universen ausgehen, muß das faßbare Universum noch lange nicht das einzige zu sein. Wir brauchen vielmehr eine bessere Theorie, eine, die parallele Universen einbezieht und sie erklärt. Sind wir also gezwungen, die Existenz von parallelen Universen zu bejahen, wenn wir die Vorhersagen der Quantentheorie akzeptieren? Nicht unbedingt. Wir können eine Theorie immer im Sinn der Instrumentalisten uminterpretieren, und dann brauchen wir überhaupt keine Aussage über die Wirklichkeit zu akzeptieren. Aber das ist nicht entscheidend. Wir benötigen keine tiefschürfenden Theorien, um zu wissen, daß
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es parallele Universen gibt, denn das erfahren wir aus unseren Experimenten mit einem Teilchen. Aber wir benötigen tiefe Theorien, um diese Phänomene zu erklären. Wir benötigen sie, um in Erfahrung zu bringen, wie die anderen Universen beschaffen sind, welchen Gesetzen sie gehorchen und wie sie einander beeinflussen. Und genau dies leistet die Quantentheorie. Die Quantentheorie paralleler Universen ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Sie ist keine mühsame mögliche Deutung, die sich aus geheimnisvollen theoretischen Überlegungen ergibt. Sie ist die Erklärung einer bemerkenswerten und der Erwartung zuwiderlaufenden Wirklichkeit. Bis jetzt haben wir eine Terminologie benutzt, die nahelegt, daß eines der vielen parallelen Universen sich von den anderen durch seine «Faßbarkeit» unterscheidet. Es ist an der Zeit, diese letzte Verbindung mit der klassischen Auffassung der Wirklichkeit als einem einzigen Universum zu durchbrechen. Gehen wir zurück zu unserem Frosch. Wir sahen, daß die Geschichte vom Frosch, der tagelang auf die ferne Taschenlampe starrt und auf das Flackern wartet, das im Mittel einmal am Tag kommt, noch nicht zu Ende ist. Es muß in den schattenhaften Universen, die es neben dem faßbaren gibt, auch schattenhafte Frösche geben, die ebenfalls auf Photonen warten. Nehmen wir an, der Frosch habe gelernt, dann zu springen, wenn er ein Flackern bemerkt. Zu Beginn des Experiments hat der faßbare Frosch viele schattenhafte, ihm völlig gleiche Entsprechungen. Aber kurz danach verhalten sich nicht mehr alle gleich. Denn ein Ereignis, das in einem Universum selten ist, ist im Multiversum ganz gewöhnlich. In jedem Augenblick fällt dort irgendwo in einem Universum des Multiversums eines der Photonen auf die Netzhaut des dortigen Froschs. Und dieser Frosch springt. Warum springt er? Weil in seinem Universum für ihn dieselben Naturgesetze gelten, die für faßbare Frösche gelten, und weil seine schattenhafte Netzhaut von einem schattenhaften Photon getroffen wurde, das zu diesem Universum gehört. Eines der lichtempfindlichen schattenhaften Moleküle auf dieser schattenhaften Netzhaut hat reagiert und komplizierte chemische Veränderungen ausgelöst, auf die dann der Seh-
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nerv des schattenhaften Froschs reagiert. Er hat eine Botschaft an das Gehirn des schattenhaften Froschs geschickt, der daraufhin die Empfindung hatte, ein Flackern zu sehen. Oder sollte ich sagen, daß er «die schattenhafte Empfindung hatte, ein Flackern zu sehen»? Sicherlich nicht. Wenn «schattenhafte» Beobachter, ob Frösche oder Menschen, wirklich sind, müssen auch ihre Empfindungen wirklich sein. Wenn sie das beobachten, was wir ein «schattenhaftes» Objekt nennen könnten, beobachten sie, daß es faßbar ist, und sie urteilen nach denselben Kriterien und Definitionen, die uns das beobachtete Universum faßbar nennen lassen. Faßbarkeit ist relativ zum Beobachter. Objektiv gesehen gibt es weder zwei Arten von Photonen noch zwei Arten von Fröschen oder zwei Arten von Universen, faßbare und schattenhafte. So wie die Entstehung von Schatten oder eines der verwandten Phänomene beschrieben wurde, die zwischen «faßbaren» und «schattenhaften» Objekten unterscheiden, gibt es keinen anderen Unterschied als die Aussage, daß eine der Kopien «faßbar» ist. Bei der Einführung faßbarer und schattenhafter Photonen haben wir anscheinend einen Unterschied gemacht mit der Aussage, daß wir die ersteren sehen können, aber nicht die letzteren. Aber wer sind «wir»? Während ich dies schreibe, schreiben auch Unmengen schattenhafter David Deutschs an einem Buch. Auch sie unterscheiden zwischen faßbaren und schattenhaften Photonen; aber zu den Photonen, die sie «schattenhaft» nennen, gehören die, die ich «faßbar» nenne, und die Photonen, die sie «faßbar» nennen, gehören zu jenen, die ich «schattenhaft» nenne. Nicht nur hat keine der Kopien eines Objekts in der eben umrisse – nen Erklärung der Schatten eine Sonderrolle, sondern auch in der vollen mathematischen Erklärung, die die Quantentheorie liefert, ist keine ausgezeichnet. Ich mag subjektiv das Gefühl haben, unter all den Kopien allein «faßbar» zu sein, denn ich kann mich selbst, aber nicht die anderen, unmittelbar wahrnehmen, muß mich aber damit abfinden, daß alle anderen in bezug auf sich selbst genau dasselbe empfinden. Doch lassen wir es dabei, bevor uns allen schwindlig wird. In diesem Augenblick schreiben viele David Deutschs genau diese Worte. Einige drücken sich besser aus. Andere trinken gerade eine Tasse Tee.
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Was haben wir gelernt? Nun, die Quantenphysik lehrt uns, unseren Wirklichkeitsbegriff zu erweitern. Das Ganze der physikalischen Realität, so legt sie nahe, muß als Multiversum gesehen werden, das eine Vielzahl paralleler Universen enthält. Im nächsten Kapitel wollen wir uns dem Wirklichkeitsbegriff von einer ganz anderen Seite her nähern und die uns zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten untersuchen.
3 Problemlösungen Der Gedankengang, dem wir gerade folgten, ist typisch für vernünftiges wissenschaftliches Schließen. Es lohnt sich, über das Wesen solcher Schlüsse nachzudenken, denn sie sind selbst ein Naturphänomen mit mindestens so vielen Überraschungen und Verästelungen wie die Physik der Schatten. Ich weiß nicht, was seltsamer ist, das Verhalten der Schatten oder die Tatsache, daß das Nachdenken über Licht- und Schattenmuster uns zu einer so radikalen Veränderung unserer Sicht der Wirklichkeit zwingen kann. Wer der Wirklichkeit lieber eine prosaischere Struktur zuschreiben möchte, mag es irgendwie befremdlich – sogar ungerecht – finden, wenn die Tatsache, daß ein kleiner Lichtfleck auf einem Schirm nicht hier, sondern dort ist, solche ungeheuren Auswirkungen hat. Aber sie wirkt sich nun einmal aus, und dies ist in der Geschichte der Naturwissenschaften keineswegs einmalig. In dieser Hinsicht erinnert die Entdeckung anderer Universen an die Entdeckung anderer Planeten durch frühe Astronomen. Vor dem Zeitalter der Raumfahrt stammte all unsere Kenntnis über Planeten von Lichtflecken, die an einem Ort und nicht an einem anderen beobachtet wurden. Man denke nur daran, wie man dazu kam, Planeten als «Wandelsterne» zu definieren, also von den «Fixsternen« zu unterscheiden. Wenn man den Nachthimmel einige Stunden lang beobachtet, sieht man, daß die Sterne anscheinend um einen bestimmten Himmelspunkt herum kreisen. Sie drehen sich starr, ohne ihre Lage zueinander zu ändern, und man stellte sich deshalb früher vor, der Nachthimmel umgebe die unbewegliche Erde mit einer riesigen «Himmels-
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kugel»; man sah die Sterne entweder als Löcher in der Kugel oder als in die Kugel eingebettete glühende Kristalle. Unter den Tausenden von himmlischen Lichtpunkten, die dem bloßen Auge als Sterne erscheinen, bemerkte man jedoch einige, die sich über längere Zeiten hinweg nicht so verhalten, als ob sie am Himmel befestigt wären. Man nannte sie Planeten, was sich vom dem griechischen Wort für «Wanderer» ableitet. Ihre anscheinend sehr komplizierte Bahn gab seit alten Zeiten einen Hinweis darauf, daß die Erklärung mit der Himmelskugel ungenügend war. In der Geschichte der Astronomie haben Erklärungen für die Bewegungen der Planeten auch später eine wichtige Rolle gespielt. Nach der heliozentrischen Theorie liefen die Planeten, auch die Erde, auf Kreisen um die Sonne. Johannes Kepler entdeckte, daß die Bahnen Ellipsen sind und keine Kreise. Newton erklärte diese Bewegung mit seinem Gravitationsgesetz, und mit Hilfe seiner Theorie konnten später kleine Abweichungen von den elliptischen Bahnen vorhergesagt werden, die auf die Anziehung zurückzuführen sind, die die Planeten aufeinander ausüben. Die Beobachtung solcher Abweichungen führte 1846 zur Entdeckung des Planeten Neptun, also zu einer von vielen Entdeckungen, die Newtons Theorie glänzend bestätigten. Wenige Jahrzehnte später deutete Einsteins allgemeine Relativitätstheorie die Schwerkraft jedoch als Krümmung der Raumzeit, also grundlegend anders, und sagte damit wieder etwas andere Bewegungen vorher. Aus der Relativitätstheorie folgte auch, daß Sternenlicht in Sonnennähe doppelt so stark abgelenkt wird wie nach Newtons Gravitationstheorie. Gewöhnlich hält man die Beobachtung dieser Ablenkung durch Arthur Eddington 1919 für den Augenblick, von dem an die Newtonsche Weltsicht nicht länger haltbar war. Als sich die Astronomie weiterentwickelte, unterschieden sich die Vorhersagen der einander ablösenden Theorien über das Erscheinungsbild des Nachthimmels immer weniger, und es waren immer bessere Teleskope und Meßinstrumente erforderlich, um die nötigen Beobachtungen machen zu können. Die diesen Vorhersagen zugrundeliegenden Erklärungen jedoch wurden einander nicht ähnlicher. Sie führten vielmehr, wie gerade skizziert, zu einer Reihe revolutionärer Veränderungen. Die Beobachtungen immer kleinerer physikalischer Effekte haben
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also immer größere Veränderungen unseres Weltbildes erzwungen, und es könnte so scheinen, als ob immer dürftigere Hinweise zu immer umfassenderen Veränderungen unserer Weltsicht führen. Was rechtfertigt diese Folgerungen? Können wir sicher sein, daß Raum und Zeit gekrümmt sind, nur weil ein Stern auf Eddingtons photographischer Platte um Bruchteile eines Millimeters verschoben war? Oder daß es parallele Universen gibt, nur weil ein Lichtdetektor an einer bestimmten Stelle nicht auf schwaches Licht anspricht? In der Tat sind Erkenntnisse aus einzelnen experimentellen Hinweisen recht fragwürdig. Wir nehmen ja Ereignisse der Außenwelt nicht unmittelbar wahr, sondern wir sehen Dinge nur dann, wenn Bilder von ihnen auf unserer Netzhaut erscheinen. Selbst diese Bilder nehmen wir nur wahr, wenn sie in unseren Nerven Ketten elektrischer Impulse ausgelöst haben und diese Impulse von unserem Gehirn verarbeitet und gedeutet wurden. Die physikalischen Wirkungen, die wir direkt wahrnehmen und die uns dazu bringen, eine Theorie oder Weltsicht einer anderen vorzuziehen, werden also nicht in Millimetern, sondern in Tausendsteln Millimeter (dem Abstand von Nervenfasern im Sehnerv) und in Hundertsteln Volt gemessen, der Veränderung des elektrischen Potentials in einer Nervenfaser, die uns ein Ding und nicht ein anderes wahrnehmen läßt. Wir schreiben jedoch nicht allen Sinneseindrücken gleiche Bedeutung zu. In wissenschaftlichen Experimenten bemühen wir uns sehr darum, unsere Wahrnehmungen besonders auf jene Aspekte der äußeren Wirklichkeit zu richten, von denen wir uns Hilfe bei der Entscheidung zwischen den von uns betrachteten rivalisierenden Theorien erhoffen. Noch bevor wir eine Beobachtung machen, erwägen wir sorgfältig, wohin wir wann schauen und auf was wir dabei achten sollten. Oft benutzen wir komplizierte, eigens dafür konstruierte Instrumente wie Teleskope und Photovervielfacher. Diese Instrumente sind oft sehr raffiniert, und die äußeren Ursachen, denen wir ihre Messungen zuschreiben, können sehr bedeutungsvoll sein; immer jedoch nehmen wir diese Beobachtungsdaten ausschließlich durch unsere eigenen Sinnesorgane wahr. Wir können nicht von der Tatsache absehen, daß wir Menschen kleine Geschöpfe sind, die ihre Information über nur wenige,
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ungenaue und unvollständige Kanäle von außen erhalten. Wir deuten diese Information als Hinweis auf ein großes und komplexes äußeres Universum (oder ein Multiversum). Aber wenn wir darüber nachdenken, betrachten wir lediglich elektrische Stromstöße, die durch unser eigenes Gehirn rieseln. Was rechtfertigt die Folgerungen, die wir aus diesen Mustern ziehen? Dies ist sicher keine Frage des logischen Schließens. Es gibt keine Möglichkeit, aufgrund dieser oder irgendwelcher anderer Beobachtungen zu beweisen, daß es überhaupt ein äußeres Universum oder Multiversum gibt. Noch weniger können wir beweisen, daß die elektrischen Ströme, die unser Gehirn empfängt, in einer bestimmten Beziehung zu jener äußeren Wirklichkeit stehen. Alle unsere Wahrnehmungen könnten Täuschung oder Traum sein. Täuschungen und Träume sind schließlich nichts Außergewöhnliches. Der Solipsismus, die Theorie, wonach es nur ein einziges Bewußtsein gibt und alles andere, was äußere Wirklichkeit zu sein scheint, nur ein Traum ist, der sich in ihm abspielt, läßt sich nicht logisch widerlegen. Die Wirklichkeit könnte aus einem einzigen Menschen bestehen, vielleicht aus Ihnen, der die Erfahrungen eines Lebens träumt. Sie könnte auch aus Ihnen und mir allein bestehen. Oder nur aus der Erde und ihren Bewohnern. Und wenn wir etwas träumten, was auf andere Menschen oder andere Planeten oder andere Universen schließen ließe, würde das nichts darüber aussagen, wie viele von diesen Dingen es wirklich gibt. Da der Solipsismus und unendlich viele ähnliche Theorien logisch vereinbar sind mit unserer Wahrnehmung möglicher Beobachtungsergebnisse, können wir aus Beobachtungen logisch keinen Aufschluß über die Wirklichkeit herleiten. Wie kann ich dann behaupten, das beobachtete Verhalten der Schatten schließe aus, daß es nur ein Universum gebe, oder Eddingtons Ergebnisse machten die Weltsicht Newtons rational unhaltbar? Wie kann das sein? Was kann «ausschließen» anderes bedeuten als «widerlegen»? Warum sollten wir uns gezwungen fühlen, unsere Weltsicht oder überhaupt unsere Meinung zu ändern, wenn etwas in diesem Sinn «ausgeschlossen» wird? Diese Kritik scheint die gesamte Wissenschaft in Zweifel zu ziehen. Was ist wissenschaftliches Schließen, wenn nicht eine Reihe von logi-
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Abb. 10 Das induktive System.
schen Folgerungen aufgrund dieser Beobachtungsergebnisse? Warum sollten wir diese Folgerungen akzeptieren? Dies ist das sogenannte «Induktionsproblem». Der Name leitet sich aus der Auffassung ab, die für den größten Teil der Wissenschaftsgeschichte die vorherrschende Arbeitsweise der Naturwissenschaft darstellte. Danach gibt es eine Form der Begründung, die nicht ganz den Rang eines mathematischen Beweises hat, aber doch wertvoll ist, nämlich die Induktion. Ihr wurde einerseits die vermeintlich vollkommene Rechtfertigung durch die Deduktion gegenübergestellt und andererseits vermeintlich schwächere philosophische oder intuitive Formen des vernünftigen Schließens, die nicht durch Beobachtungsergebnisse gestützt sind. Für die induktive Theorie des Wissens spielen die Beobachtungen eine doppelte Rolle: Sie helfen erstens, wissenschaftliche Theorien zu entdecken, und zweitens, sie zu begründen. Theorien werden durch «Extrapolation» oder «Verallgemeinerung» der Beobachtungsergebnisse entdeckt. Sehr viele Beobachtungen, die der Theorie entsprechen, sollen die Theorie rechtfertigen, sie also glaubwürdiger machen. Dieses System wird in Abbildung 10 veranschaulicht. Die induktivistische Analyse meiner Überlegungen zu den Schatten würde deshalb etwa so lauten: «Wir machen eine Reihe von Beobachtungen an Schatten und beobachten Interferenzphänomene (Stufe 1). Die Ergebnisse entsprechen dem, was zu erwarten wäre, wenn es parallele Universen gäbe, die einander auf bestimmte Weise beeinflussen. Aber das fällt zunächst niemandem auf. Schließlich (Stufe 2) formuliert jemand die Verallgemeinerung, daß unter den gegebenen Umständen immer Interferenz beobachtet wird, was zu der Theorie führt, daß dafür parallele Universen verantwortlich sind. Mit jeder weiteren Beobachtung der Interferenz (Stufe 3) wird die Theorie etwas überzeugender.
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Nach hinreichend vielen solchen Beobachtungen schließen wir, die Theorie sei wahr (Stufe 4). Obwohl wir niemals absolut sicher sein können, sind wir für alle praktischen Zwecke überzeugt.» Es fällt schwer, einen Ansatzpunkt für die Kritik an der induktivistischen Auffassung zu finden, weil sie auf so viele Weisen so völlig falsch ist. Aus meiner Sicht ist ihr größter Mangel die Tatsache, daß eine verallgemeinerte Vorhersage gleichbedeutend ist mit einer neuen Theorie. Doch wie alle naturwissenschaftlichen Theorien ist auch die Theorie von der Existenz paralleler Universen nicht lediglich eine Verallgemeinerung von Beobachtungen. Haben wir zuerst ein Universum beobachtet, dann ein zweites und drittes, und dann hergeleitet, daß es Abermilliarden von ihnen gibt? War die Verallgemeinerung, daß Planeten «Wandelsterne» sind, gleichbedeutend mit der Theorie, daß Planeten, unter ihnen die Erde, Welten sind, die die Sonne umlaufen? Es ist auch unrichtig, daß wir uns durch wiederholte Beobachtungen von wissenschaftlichen Theorien überzeugen lassen. Theorien sind Erklärungen, nicht nur Vorhersagen. Wenn eine vorgeschlagene Erklärung gewisser Beobachtungen nicht gefällt, nützt es nichts, die Beobachtung oft zu wiederholen. Außerdem lassen sich auch reine Vorhersagen niemals allein durch Beobachtungsergebnisse rechtfertigen. Bertrand Russell erzählte die Geschichte von dem Huhn, das beobachtete, wie der Bauer tagtäglich kam, um es zu füttern. Wir wollen in unserem Zusammenhang dieses Huhn als metaphorisches Huhn betrachten, das für den Menschen steht, der versucht, die Ordnung des Universums zu verstehen. Das Huhn also sagte vorher, der Bauer werde ihm weiterhin jeden Tag Futter bringen. Induktivistisch gedacht «extrapolierte» das Huhn die Beobachtung zu einer Theorie, die mit jeder Fütterung weiter gerechtfertigt wurde. Eines Tages aber kam der Bauer und drehte dem Huhn den Hals um. Die Enttäuschung, die Russells Huhn erlebte, haben auch Billionen anderer Hühner erlebt. Dies rechtfertigt induktiv den Schluß, daß die Induktion keine Schlußfolgerungen rechtfertigen kann! Diese Art der Kritik macht es dem Induktivismus jedoch viel zu leicht. Sie zeigt, daß wiederholte Beobachtungen Theorien nicht rechtfertigen können, läßt aber gleichzeitig nicht nur eine grundlegendere Fehlauffassung außer acht, sondern akzeptiert sogar, daß es möglich ist, Beob-
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achtungen induktiv zu extrapolieren, um Theorien zu gewinnen. Beobachtungen lassen sich erst extrapolieren, wenn sie bereits im Rahmen einer Erklärung gesehen werden. Damit beispielsweise Russells Huhn seine falschen Vorhersagen «induzieren» konnte, mußte es zunächst eine falsche Erklärung für das Verhalten des Bauern haben. Vielleicht vermutete es, der Bauer meine es gut mit Hühnern. Wenn es eine andere Erklärung vermutet hätte – beispielsweise, daß der Bauer die Hühner mästen wollte, um sie dann zu schlachten –, hätte es das Verhalten anders «extrapoliert». Nehmen wir an, der Bauer bringt den Hühnern eines Tages mehr Futter als sonst. Was aus diesen neuen Beobachtungsdaten geschlossen wird, um das zukünftige Verhalten des Bauern vorherzusagen, hängt allein von der Erklärung ab. Die Theorie vom wohlwollenden Bauern sieht darin einen Beleg, daß der Bauer dem Huhn etwas besonders Gutes tun will. Nach der Mast-Theorie jedoch ist dieses Verhalten unheilvoll und ein Hinweis darauf, daß das Schlachten unmittelbar bevorsteht. Die Tatsache, daß dieselben Beobachtungstatsachen sich je nach der bevorzugten Erklärung zu zwei diametral entgegengesetzten Vorhersagen «extrapolieren» lassen und keine von beiden rechtfertigen können, ist keine zufällige Beschränkung, die auf die bäuerliche Umgebung zurückzuführen ist. Sie gilt unter allen Umständen und für alle Beobachtungen. Beobachtungen können niemals eine der ihnen im System der Induktivisten zugeschriebenen Rollen spielen, weder in bezug auf reine Vorhersagen noch auf erklärende Theorien. Zugegebenermaßen gründet der Induktivismus auf einer Theorie über die Zunahme des Wissens, die dem gesunden Menschenverstand entspricht und die wir aus der Erfahrung lernen. Aber wenn wir das wahre Wesen des Erkennens und also des Wissens und seinen Platz im Gewebe der Wirklichkeit verstehen wollen, müssen wir uns der Tatsache stellen, daß der Induktivismus von Grund auf falsch ist. Was aber ist das Wesen wissenschaftlichen Schließens und Entdeckens? Wir brauchen eine Theorie des Wissens, der es um Erklärungen geht, also eine Theorie dafür, wie Erklärungen entstehen und wie sie sich rechtfertigen lassen, eine Theorie dafür, wie, warum und wann wir unseren Wahrnehmungen erlauben sollten, unsere Sicht der Welt
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zu verändern. Wenn wir eine solche Theorie haben, brauchen wir keine Theorie der Vorhersagen. Denn wenn wir ein beobachtbares Phänomen erklärt haben, ist auch klar, wie wir Vorhersagen machen können. Glücklicherweise läßt sich die vorherrschende Wissenschaftstheorie, die wir in ihrer modernen Form vor allem dem Philosophen Karl Popper verdanken, in diesem Sinn als erklärende Theorie sehen. Für sie ist die Naturwissenschaft ein problemlösender Prozeß. Eine Problemlösung beginnt immer mit den besten uns bekannten Theorien. Wir stehen dann vor einem Problem, wenn uns einige dieser Theorien unangemessen erscheinen und wir neue Theorien aufstellen wollen. Eine wissenschaftliche Entdeckung muß also nicht unbedingt wie im induktivistischen System (Abbildung 10) mit Beobachtungsergebnissen beginnen, aber sie beginnt immer mit einem Problem. Die Ursachen für ein wissenschaftliches Problem sind vielfältig: Vielleicht sind die bekannten Erklärungen zu oberflächlich oder zu umständlich, unnötig eng oder unrealistisch anspruchsvoll, vielleicht lassen sie sich mit anderen Gedanken verknüpfen, oder eine auf einem Gebiet befriedigende Erklärung ist mit einer auf einem anderen Gebiet ebenso befriedigenden Erklärung unvereinbar. Es könnte auch überraschende Beobachtungen gegeben haben, die nicht von bestehenden Theorien vorhergesagt wurden. Allerdings führt eine unerwartete Beobachtung niemals zu einer wissenschaftlichen Entdeckung, wenn die schon existierenden Theorien nicht bereits den Keim des Problems enthalten. Wolken beispielsweise wandern mehr als Planeten. Ihre unvorhersagbare Bewegung war vermutlich schon vor der Entdeckung von Planeten bekannt. Schon immer hatten Wettervorhersagen für Bauern, Seefahrer und Soldaten großen Wert, also gab es schon immer einen Anreiz, Theorien über die Bewegung von Wolken aufzustellen. Beobachtungsergebnisse waren in der Meteorologie viel leichter zu erhalten als in der Astronomie, aber niemand schenkte ihnen viel Aufmerksamkeit, und niemand leitete daraus Theorien über Kaltfronten und Antizyklone ab. Die Geschichte der Naturwissenschaft ist keineswegs voller Auseinandersetzungen, Lehrmeinungen, Ketzereien, Spekulationen und ausgearbeiteter Theorien über das Wesen der Wolken und ihrer Bewegung. Warum nicht? Weil man die unvorhersagbare Bewegung der Wolken aufgrund der bewähr-
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Abb. 11 Der Verlaufsprozeß einer Problemlösung.
ten Erklärung des Wetters vollkommen einsichtig fand. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß Wolken sich mit dem Wind bewegen. Wenn sie in unterschiedliche Richtungen treiben, ist leicht zu sehen, daß der Wind in unterschiedlichen Höhen unterschiedlich und relativ unvorhersagbar ist, und deshalb läßt sich leicht schließen, daß es daran nichts mehr zu erklären gibt. Auch in der Geschichte der Astronomie hat es immer wieder Zeiten gegeben, in denen sehr viele Beobachtungstatsachen unerklärt blieben. Aber falls Menschen Theorien über das, was hinter den Beobachtungen steckt, aufstellen, weil das Beobachtungsmaterial so groß ist, hätten sie immer eher Theorien über Wolken aufstellen müssen als über Planeten. Aus den verschiedensten Gründen wählten sie jedoch die Planeten. Alle liefen darauf hinaus, daß jemand meinte, die existierenden Erklärungen könnten und sollten verbessert werden. Man löst ein Problem, indem man neue und bessere Theorien oder Vermutungen findet, deren Erklärungen nicht die Mängel, wohl aber die Vorteile bestehender Erklärungen aufweisen. Diese Vermutungen werden kritisiert, überprüft und verglichen, um zu sehen, welche von ihnen nach den dem Problem inhärenten Kriterien die besten Erklärungen liefert. Wenn wir in diesem Prozeß eine unserer ursprünglichen Theorien zugunsten einer neu aufgestellten aufgeben, halten wir unsere Problemlösung versuchsweise für einen Fortschritt. Versuchsweise, weil spätere Problemlösungen höchstwahrscheinlich zu Abänderungen oder Ersetzungen dieser neuen Theorien und gelegentlich sogar zur Ehrenrettung einiger der anscheinend unbefriedigenden Theorien führen. Die Lösung ist also niemals das Ende der Geschichte, sondern der Ausgangspunkt für den nächsten Versuch einer Problemlösung. In der Naturwissenschaft geht es nie darum, eine Theorie zu fin-
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Abb. 12 Der Ablauf der wissenschaftlichen Entdeckung.
den, die mit Sicherheit oder mit einiger Wahrscheinlichkeit immer wahr sein wird, sondern darum, die beste Theorie zu finden, die zum jetzigen Zeitpunkt verfügbar ist. Eine wissenschaftliche Überlegung soll uns davon überzeugen, daß die gegebene Erklärung die beste ist, die jetzt zur Verfügung steht. Und natürlich kann eine gute Erklärung Vorhersagen über die Zukunft machen. Dieses Vorgehen gilt für alles Problemlösen, unabhängig vom Thema oder der Art der Kritik. Zum wissenschaftlichen Problemlösen gehört immer die experimentelle Überprüfung. Wo zwei oder mehr rivalisierende Theorien widersprechende Vorhersagen über das Ergebnis eines Experiments machen, wird das Experiment durchgeführt, damit die Theorien, die das Ergebnis falsch vorhersagen, verworfen werden können. Wissenschaftliche Vermutungen sind gerade so beschaffen, daß sie Erklärungen suchen, deren Vorhersagen sich im Experiment überprüfen lassen. Unabhängig davon, ob Beobachtungen für das ursprüngliche Problem wesentlich sind oder nicht (Stufe 1) und davon, ob die betreffenden Theorien in Stufe 2 speziell auf ihre experimentelle Überprüfung hin entwickelt wurden, spielen die experimentellen Überprüfungen in dieser entscheidenden Phase der wissenschaftlichen Entdeckung (Stufe 3) eine wichtige Rolle. Sie zeigen nämlich, daß einige der Theorien unbefriedigend sind, weil ihre Erklärungen zu falschen Vorhersagen führen. Hier muß auf eine für Philosophie und Methodologie der Naturwissenschaften wichtige Asymmetrie hingewiesen werden, die zwischen experimenteller Widerlegung und experimenteller Bestätigung besteht. Eine widerlegte Vorhersage macht die zugrundeliegende Erklärung automatisch zunichte. Aber eine richtige Vorhersage besagt nichts über die Erklärung. Protzige Erklärungen, die richtige Vorhersagen machen, gibt es überreichlich, was UFO-Begeisterte, Anhänger von Verschwörungs-
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theorien und Pseudowissenschaftler aller Arten bedenken sollten, aber niemals tun. Wenn eine Theorie über beobachtbare Ereignisse jedoch nicht durch Beobachtungen (oder Experimente) widerlegt werden kann, kann sie auch nicht von sich aus erklären, warum diese Ereignisse so ablaufen, wie sie beobachtet werden. Nehmen wir eine Theorie an, wonach Engel für die Bewegungen der Planeten verantwortlich wären. Diese «Engeltheorie» ist nicht überprüfbar, weil sich die Planetenbewegung immer Engeln zuschreiben läßt (wenn man so will) und folglich die beobachteten Bewegungen auch nicht erklären kann. Deshalb gibt es in der Wissenschaft eine methodologische Regel: Wenn eine Theorie experimentell überprüfbar ist und sie sich bei dieser Überprüfung bewährt, wird jede weniger überprüfbare Theorie verworfen. In dieser Regel wird oft ein entscheidender Unterschied zwischen Naturwissenschaft und anderen Formen des Wissenserwerbs gesehen. Aber wenn wir die Ansicht vertreten, daß es in der Wissenschaft um Erklärungen geht, sehen wir, daß sie eigentlich ein Spezialfall einer Regel ist, die ganz selbstverständlich für alles menschliche Problemlösen gilt: Uns sind ganz natürlich jene Theorien am liebsten, die die genaueren Erklärungen geben. Die Stufen einer wissenschaftlichen Entdeckung, wie sie Abbildung 12 zeigt, werden nur selten schon beim ersten Versuch nacheinander durchlaufen. Es gibt gewöhnlich Rückschritte, bevor jede der Stufen bewältigt oder vielmehr gelöst ist, denn jede Stufe kann ein Problem darstellen, dessen Lösung selbst alle fünf Stufen einer untergeordneten Problemlösung durchlaufen muß. In der Tat ist scheinbare Unlösbarkeit nur einer von vielen Gründen, warum wir die Probleme, die wir lösen möchten, oft abändern. Vielleicht sind Varianten eines Problems in bezug auf andere Probleme besonders interessant oder wichtig. In vielen Fällen erhält die simple Frage, wo das Problem eigentlich liegt und welche Eigenschaften eine «gute» Erklärung haben sollte, soviel Aufmerksamkeit wie das Problem selbst. Erst wenn alle Teilprobleme gelöst sind, läßt sich ein einigermaßen logischer Beweis in einer Form führen, die Abbildung 12 ähnelt. Man beschreibt zunächst die neueste und beste Fassung des Problems und zeigt, an welcher Kritik die abgelehnten Theorien scheitern, um dann
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die siegreiche Theorie vorzustellen und zu begründen, warum sie die Kritik überlebt hat. Solange ein Problem noch ungelöst ist, haben wir es mit einer großen, uneinheitlichen Menge von Gedanken und Theorien und mit vielen miteinander wetteifernden Varianten zu tun. Theorien sind in dauerndem Wandel, weil sie verändert oder durch neue Theorien ersetzt werden. Auch für Theorien gelten die Kriterien der Variation und der Selektion, und die Kriterien dafür sind selbst wieder der Variation und der Selektion unterworfen. Der Vorgang ähnelt der biologischen Evolution. Ein Problem gleicht einer ökologischen Nische, und eine Theorie entspricht einem Gen oder einer Art, die zeigen muß, wie gut sie in dieser Nische überleben kann. Immer wieder entstehen, genetischen Mutationen entsprechend, Variationen von Theorien; weniger erfolgreiche Varianten sterben aus, wenn erfolgreiche sich ausbreiten. Die neue Weltsicht, die implizit in einer problemlösenden Theorie stecken kann, und die Eigenschaften einer neuen Tier- oder Pflanzenart, die eine Nische besetzt, ergeben sich aus dem Problem oder der Nische, sind also emergent. Das Problem der Lösungsfindung ist von Natur aus höchst komplex. Es gibt keine einfache Möglichkeit, das wahre Wesen der Planeten zu entdecken, wenn man (sagen wir) nur die Theorie der Himmelskugel kritisiert und einige zusätzliche Beobachtungen macht, wie es auch keinen einfachen Weg gibt, die DNA eines Koalabären zu bestimmen, solange man nur die Eigenschaften von Eukalyptusbäumen kennt. Die einzigen Möglichkeiten sind die Evolution oder Versuch und Irrtum – insbesondere die Spezialform von Versuch und Irrtum, die wissenschaftliches Entdecken heißt. Aus diesem Grund bezeichnet Popper seine Theorie, wonach Wissen nur in der in Abbildung 12 beschriebenen Weise durch Vermutung und Widerlegung anwachsen kann, als evolutionäre Epistemologie. Die Evolution des Wissens und die biologische Evolution scheinen also nach sehr ähnlichem Muster abzulaufen. Wir werden sehen, daß zwischen Evolution und Erkenntnis noch andere Verknüpfungen bestehen. Freilich müssen wir die Ähnlichkeit in zwei Punkten einschränken, denn es gibt auch wichtige Unterschiede. So sind die Varianten (Mutationen) im biologischen Fall zufällig, blind und absichtslos, während die Entstehung neuer Vermutungen bei menschlichen Problemlösungen ein komple-
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xer Vorgang ist. Vielleicht ist ein noch wichtigerer Unterschied, daß es in der Biologie kein Äquivalent zu einer Begründung gibt. Alle Vermutungen müssen experimentell überprüft werden, und das ist einer der Gründe, warum die biologische Evolution um Größenordnungen langsamer und weniger effektiv ist. Aber dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verbindung zwischen den beiden Arten von Fortschritt viel mehr als eine reine Analogie ist. Denn sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der biologischen Evolution ist der Erfolg durch die Erzeugung und Bewahrung objektiven Wissens bedingt, also dem, was in der Biologie Anpassung genannt wird. Die Fähigkeit einer Theorie oder eines Gens, in einer Nische zu überleben, ist kein zufälliger Nebeneffekt der Bauweise, sondern hängt davon ab, ob richtige und nützliche Informationen über die Nische enthalten sind. Diese Wesensverwandtschaft von biologischer Evolution und der Vermehrung unseres Wissens durch die Evolution wissenschaftlicher Theorien ist für unseren Versuch, das Gebäude der Wirklichkeit zu analysieren, überaus wichtig. Die Evolution von Wissen und Leben repräsentieren zwei tragende Säulen in diesem Gebäude. Aber wie steht es mit unserem Wissen? Auch die besten Erklärungen sind letztlich Produkte des menschlichen Geistes, der sein Denkvermögen einem fehlbaren Gehirn und seine Informationen über die Welt seinen mangelhaften Sinnen verdankt. Was berechtigt den menschlichen Geist, aus subjektiven Erfahrungen Schlüsse über eine objektive, externe Wirklichkeit zu ziehen? Damit wollen wir uns im folgenden Kapitel befassen. Zuvor aber wollen wir noch einmal auf den kritisierten Induktivismus eingehen und anschließend versuchen, mit Hilfe eines fiktiven Dialogs auf unterhaltsame Art die Mangelhaftigkeit dieser Erkenntnismethode darzustellen. Dieses Buch untersucht, was die nach unserer Meinung vier wichtigsten Theorien zur Erkenntnis der Welt aussagen und welche Art Wirklichkeit sie beschreiben. Deshalb gehen wir nicht genauer auf alternative Theorien ein. Allerdings müssen wir uns mit Erkenntnissen des sogenannten gesunden Menschenverstands auseinandersetzen, die schon aus Vernunftgründen widerlegt werden müssen. Deshalb haben wir in Kapitel 2 den scheinbar selbstverständlichen Gedanken, daß es
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nur ein Universum gibt, radikal widerlegt. In Kapitel 10 werden wir ebenso radikal dem scheinbar einleuchtenden Gedanken widersprechen, daß die Zeit «fließt» oder unser Bewußtsein sich durch die Zeit «bewegt». Induktive Verallgemeinerungen von Beobachtungen sind unmöglich, und die Induktion ist keine gültige Rechtfertigung. Wir haben gesehen, daß der Induktivismus auf einer falschen Idee beruht, die meint, die Naturwissenschaft mache Vorhersagen auf der Grundlage von Beobachtungen, statt als Reaktion auf Probleme Erklärungen zu suchen. Ferner haben wir gesehen, daß die Naturwissenschaft Fortschritte macht, indem sie neue Erklärungen sucht und dann das Experiment zwischen den besten entscheiden läßt. All dies ist von Naturwissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern weithin akzeptiert. Aber die meisten Philosophen akzeptieren nicht, daß dieser Prozeß gerechtfertigt ist. Warum also ist eine bessere Erklärung notwendigerweise ein Anzeichen für eine der Wahrheit nähere Theorie! Warum überhaupt muß eine schlechte Erklärung notwendigerweise falsch sein? Es gibt in der Tat keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Erklärungspotential. Eine schlechte Erklärung kann ja durchaus wahr sein. Selbst die beste und wahrste zur Verfügung stehende Theorie macht in bestimmten Fällen eine falsche Vorhersage, und genau das könnten die Fälle sein, in denen wir uns auf sie verlassen. Diese Möglichkeit läßt sich durch keine vernünftige Überlegung logisch ausschließen oder als unwahrscheinlich nachweisen. Warum können wir uns aber dann darauf verlassen, daß uns unsere besten wissenschaftlichen Theorien auch bei praktischen Entscheidungen hilfreich sein können? Wie kann, allgemeiner und unabhängig davon, nach welchen Kriterien wir wissenschaftliche Theorien beurteilen, die Tatsache, daß eine Theorie diesen Kriterien heute genügt, irgend etwas darüber aussagen, was passiert, wenn wir uns in Zukunft auf diese Theorie verlassen? Dies ist die moderne Form des «Induktionsproblems». Die Induktivisten nehmen an, daß wissenschaftlicher Fortschritt auf Vermutungen und Widerlegungen beruht und daß Theorien akzeptiert sind, wenn alle ihre Rivalen widerlegt sind, und nicht, wenn sie oft bestätigt wurden. Sie akzeptieren, daß das auf diese Weise erhaltene Wissen zuverlässig ist. Das Problem ist jedoch, daß sie nicht sehen,
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warum das so ist. Traditionelle Induktivisten haben versucht, ein «Induktionsprinzip» zu formulieren, wonach eine Theorie durch Bestätigung wahrscheinlicher wird. Sie haben auch versucht, eine induktive wissenschaftliche Methode zu entwickeln, die Regeln dafür angibt, welche Folgerungen man aus «Daten» ziehen darf. Sie alle haben aus den erörterten Gründen versagt. Aber selbst wenn sie Erfolg gehabt und ein Schema aufgestellt hätten, mit dem man erfolgreich Wissen schaffen kann, hätte das nicht das Induktionsproblem gelöst, wie es jetzt verstanden wird. Denn in dem Fall wäre «Induktion» einfach eine andere Möglichkeit, Theorien zu wählen, und das Problem, warum diese Theorien als zuverlässige Grundlage des Handelns gewählt werden sollten, bliebe ungelöst. Philosophen, die sich über dieses «Induktionsproblem» Sorgen machen, sind also keine Induktivisten im alten Sinn. Sie versuchen nicht, Theorien induktiv zu erhalten oder zu rechtfertigen. Sie erwarten nicht, daß der Himmel herunterfällt. Aber sie wissen nicht, wie sie diese Erwartung rechtfertigen sollen. Heutige Philosophen sehnen sich nach dieser fehlenden Rechtfertigung. Sie glauben nicht mehr, daß die Induktion sie liefern könnte, aber ihr Denksystem weist eine Lücke auf, die die Form der Induktion hat, etwa so wie fromme Menschen, die ihren Glauben verloren haben, unter einer «gottförmigen» Lücke leiden. Meiner Meinung nach ist es kein großer Unterschied, ob man eine X-förmige Lücke in seinem System hat oder ob man an X glaubt. Um deshalb mit dieser tiefgehenderen Auffassung des Induktionsproblems in Einklang zu sein, möchte ich den Ausdruck «Induktivist» neu definieren. Ein Induktivist ist jemand, der die Ungültigkeit der induktiven Rechtfertigung für ein ungelöstes Problem der Grundlagen der Naturwissenschaft hält. Einige Induktivisten haben nichts dagegen, wenn sie so genannt werden. Andere wehren sich dagegen, und deshalb nenne ich sie KryptoInduktivisten. Die meisten Philosophen sind heutzutage Krypto-Induktivisten. Schlimmer noch, sie und auch viele Wissenschaftler unterschätzen die Rolle der Erklärung im wissenschaftlichen Prozeß. Der Philosoph John Worrall hat ihre Sicht des Problems in einem Dialog zwischen Popper und anderen Philosophen dargestellt, in dem er erörtert, warum weder Popper
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noch Watkins das Induktionsproblem lösen können.* Der Schauplatz ist die Spitze des Eiffelturms. Einer der Teilnehmer eines philosophischen Gesprächs beschließt, nach unten zu springen und nicht wie üblich mit dem Fahrstuhl zu fahren. Die anderen versuchen, ihn davon zu überzeugen, daß der Sprung seinen sicheren Tod bedeuten würde. Sie führen die bestmöglichen Argumente an. Aber der tollkühne Debattierer meint, er könne ungefährdet nach unten gelangen, und weist darauf hin, daß aufgrund früherer Erfahrungen logisch nichts anderes zu erwarten sei. Wir wollen diesen Dialog nachbilden, um unsere Sicht des Problems zu verdeutlichen, der Schauplatz auf dem Pariser Eiffelturm bleibt der gleiche. Ein Gespräch über die Rechtfertigung: David und der Krypto-Induktivist David: Seit ich gelesen habe, was Popper über die Induktion sagt, glaube ich, daß er zu recht behauptet, das Induktionsproblem gelöst zu haben. Aber nur wenige Philosophen stimmen zu. Warum? Ein Krypto-Induktivist: Weil Popper das Induktionsproblem niemals so sah, wie wir es verstehen. Er kritisierte vielmehr den Induktivismus. Der Induktivismus behauptete, es gebe eine gültige «induktive» Form des vernünftigen Schließens; damit lassen sich die allgemeinen Theorien über die Zukunft herleiten und ihre Verwendung rechtfertigen, wenn in der Vergangenheit Beobachtungen gemacht wurden, die sie belegen. Er behauptete, es gebe ein natürliches Prinzip, eben das Induktionsprinzip, das besagt: «Zukünftige Beobachtungen ähneln höchstwahrscheinlich Beobachtungen, die in der Vergangenheit unter ähnlichen Umständen gemacht wurden». Man hat versucht, das Prinzip so zu formulieren, daß mit seiner Hilfe aus einzelnen Beobachtungen allgemeine Theorien hergeleitet oder gerechtfertigt werden können. Aber all diese Versuche schlugen fehl. Poppers Kritik war zwar bei Wissenschaftlern einflußreich, aber wenig originell. Die Anfechtbarkeit des * Why Both Popper and Watkins Fall to Solve the Problem oflnduction, in: Freedom and Rationality: Essays in Honour of John Watkins (Kluwer Academic Publishers, 1989).
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Induktivismus ist fast seit seiner Erfindung bekannt. Das Problem ist nicht, wie das Induktionsprinzip gerechtfertigt oder widerlegt werden sollte, sondern vielmehr, wie man, wenn man es für ungültig hält, überhaupt aufgrund früherer Beobachtungen einen Schluß über die Zukunft rechtfertigen kann. Und bevor Sie sagen, das muß man ja nicht ... David: Das muß man ja nicht. Krypto-Induktivist: Man muß es doch. Das ist das Irritierende an euch Popperianern. Ihr leugnet das Offensichtliche. Offensichtlich springen Sie nicht gerade jetzt von diesem Geländer, weil Sie es für gerechtfertigt halten, sich auf unsere Gravitationstheorie zu verlassen, und für ungerechtfertigt, sich auf andere Theorien zu verlassen. David: Ja, ich würde es für gerechtfertigt halten, sich auf diese Theorie zu verlassen. Nach der Popperschen Methodologie soll man sich in solchen Fällen auf die am besten bestätigte Theorie verlassen, also auf die Theorie, die den strengsten Überprüfungen unterworfen wurde und sie überlebt hat. Krypto-Induktivist: Sie sagen, «man soll» sich in diesen Fällen auf die am besten bestätigte Theorie verlassen, aber warum eigentlich? Wahrscheinlich deshalb, weil der Prozeß der Bestätigung nach Popper die Theorie in dem Sinn gerechtfertigt hat, daß ihre Vorhersagen mit größerer Wahrscheinlichkeit zutreffen als die Vorhersagen anderer Theorien. David: Wenn auch wohl nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit als alle anderen Theorien, weil wir eines Tages zweifellos noch bessere Gravitationstheorien haben werden ... Krypto-Induktivist: Denken Sie doch einmal nach. Wir wollen einander nicht mit Spitzfindigkeiten hereinlegen, die nichts mit dem Hauptproblem zu tun haben. Natürlich könnte es eines Tages eine bessere Gravitationstheorie geben, aber Sie müssen jetzt die Entscheidung fällen, ob Sie springen. Und Sie haben unter Berücksichtigung der Ihnen jetzt zugänglichen Tatsachen eine Theorie gewählt, nach der Sie handeln wollen. Sie haben sie nach Popperschen Kriterien gewählt, weil Sie glauben, daß diese Kriterien mit größter Wahrscheinlichkeit Theorien herausfiltern, die wahre Vorhersagen machen. David: Ja.
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Krypto-Induktivist: Rechtfertigen die Ihnen zur Zeit zur Verfügung stehenden Fakten also Ihrer Überzeugung nach die Vorhersage, daß Sie getötet würden, wenn Sie von dem Geländer springen? David: Nein, das nicht. Krypto-Induktivist: Verdammt noch mal, Sie widersprechen sich selbst. Eben haben Sie noch gesagt, diese Vorhersage sei gerechtfertigt. David: Sie ist gerechtfertigt. Aber sie war nicht durch die Fakten gerechtfertigt, wenn Sie mit «Fakten» all die Experimente meinen, deren Ergebnisse die Theorie in der Vergangenheit richtig vorhergesagt hat. Wie wir alle wissen, sind diese Fakten mit unendlich vielen Theorien vereinbar, auch mit Theorien, die jedes logisch mögliche Ergebnis meines Sprungs vom Geländer vorhersagen. Krypto-Induktivist: In Anbetracht dessen besteht das ganze Problem darin, was die Vorhersage eigentlich rechtfertigt. Das ist das Induktionsproblem. David: Ja, das ist das Problem, das Popper gelöst hat. Krypto-Induktivist: Das ist mir neu. Aber gut, was ist die Lösung? Darauf bin ich neugierig. Was rechtfertigt die Vorhersage, wenn nicht die Fakten? David: Begründungen. Krypto-Induktivist: Begründungen? David: Nur Begründungen können irgend etwas rechtfertigen. Natürlich nur vorläufig. Alle Theorien sind Fehlern ausgesetzt. Aber trotzdem kann eine Begründung manchmal eine Theorie rechtfertigen. Dazu gibt es sie. Krypto-Induktivist: Ich glaube, das ist wieder eine Ihrer Spitzfindigkeiten. Sie können doch nicht meinen, daß eine Theorie wie ein mathematischer Satz durch reine Begründung gerechtfertigt werden kann. Sicherlich spielen auch Fakten eine Rolle. David: Natürlich. In einer empirischen Theorie geben nach Poppers Methodologie Experimente den Ausschlag für die Entscheidung zwischen ihr und ihren Rivalen. Die Rivalen wurden widerlegt. Sie überlebte. Krypto-Induktivist: Und infolge dieses Widerlegens und Überlebens, was sich in der Vergangenheit abspielte, ist der praktische Nutzen der Theorie für die Vorhersage der Zukunft jetzt gerechtfertigt.
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David: Ich denke ja, obwohl «infolge» irreführend zu sein scheint, wenn wir nicht über eine logische Herleitung sprechen. Krypto-Induktivist Damit sind wir wieder beim entscheidenden Punkt. Was für eine Folge war es? Ich versuche, Sie hier festzunageln. Sie sagen, daß sowohl Begründungen als auch Versuchsergebnisse eine Theorie rechtfertigen. Wenn die Experimente anders verlaufen wären, würde eine Begründung eine andere Theorie gerechtfertigt haben. Geben Sie also zu, daß in diesem Sinn – ja, durch die Begründung, aber ich will diesen Vorbehalt nicht immer wiederholen – die Ergebnisse früherer Experimente die Vorhersage rechtfertigten? David: Ja.
Krypto-Induktivist: Was an diesen tatsächlichen früheren Ergebnissen (im Unterschied zu anderen möglichen früheren Ergebnissen, die sehr wohl die entgegengesetzte Vorhersage hätten rechtfertigen können) hat die Vorhersage gerechtfertigt? David: Es war der Umstand, daß die tatsächlichen Ergebnisse alle rivalisierenden Theorien widerlegten, die jetzt vorherrschende Theorie aber bestätigten. Krypto-Induktivist: Also gut. Nun hören Sie mal zu: Sie haben gerade etwas gesagt, das nachweislich unwahr ist, und daß es unwahr ist, haben Sie unmittelbar zuvor geäußert. Sie sagten, die Ergebnisse der Versuche hätten «alle rivalisierenden Theorien widerlegt». Aber Sie wissen sehr wohl, daß noch so viele Versuchsergebnisse nicht alle Rivalen einer allgemeinen Theorie widerlegen können. Sie haben selbst gesagt, daß sehr viele frühere Ergebnisse (ich zitiere) «mit unendlich vielen Theorien in Übereinstimmung sind, auch mit Theorien, die jedes logisch mögliche Ergebnis meines Sprungs vom Geländer vorhersagen». Es folgt zwangsläufig, daß die von Ihnen bevorzugte Vorhersage durch die experimentellen Ergebnisse nicht gerechtfertigt war, weil es unendlich viele andere Rivalen Ihrer Theorie gibt, die bis jetzt noch nicht widerlegt sind und die entgegengesetzte Vorhersagen machen. David: Ich bin froh, daß ich so aufmerksam zugehört habe, denn ich sehe jetzt, daß zumindest ein Teil unserer Meinungsverschiedenheit auf einem Mißverständnis in bezug auf die Terminologie beruht. Wenn Popper von «rivalisierenden Theorien» spricht, meint er nicht die Menge aller
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logisch möglichen Rivalen, sondern nur die tatsächlichen Rivalen, jene, die im Lauf einer rationalen Auseinandersetzung vorgebracht wurden. Krypto-Induktivist: Ach so. Nun, ich akzeptiere Ihre Terminologie. Aber unterstellen Sie Popper nicht eine seltsame Aussage, wonach die Zuverlässigkeit einer Theorie vom Zufall abhängt, welche anderen Theorien – falsche Theorien – in der Vergangenheit zufällig aufgestellt wurden, und nicht nur vom Inhalt der fraglichen Theorie und von den Versuchsergebnissen? David: Nicht wirklich. Selbst Sie als Induktivist sprechen von... Krypto-Induktivist: Ich bin kein Induktivist! David: Doch! Krypto-Induktivist: Hm. Noch einmal, ich schließe mich Ihrer Terminologie an, wenn Sie wollen. Aber Sie können mich genausogut ein Stachelschwein nennen, denn es ist wirklich pervers, wenn man jemanden einen «Induktivisten» nennt, der nichts anderes sagt, als daß die Ungültigkeit induktiven Schließens uns mit einem ungelösten philosophischen Problem konfrontiert. David: Das denke ich nicht. Ich meine, gerade diese These definiert einen Induktivisten und hat ihn immer definiert. Aber ich sehe, daß Popper zumindest eine Sache erreicht hat: «Induktivist» ist ein Schimpfwort geworden! Ich wollte jedenfalls gerade erklären, warum es nicht so seltsam ist, wenn die Zuverlässigkeit einer Theorie davon abhängt, welche falschen Theorien Menschen früher aufgestellt haben. Selbst Induktivisten sprechen davon, daß eine Theorie in Anbetracht gewisser «Fakten» zuverlässig ist oder nicht. Popperianer nennen möglicherweise die Theorie am zuverlässigsten, die verfügbar ist, wenn man von einer bestimmten Problemlage ausgeht. Und die wichtigsten Kennzeichen einer Problemlage sind, welche Theorien und Erklärungen miteinander wetteifern, welche Begründungen gegeben werden und welche Theorien widerlegt wurden. Mit «Bestätigung» ist nicht nur die Bestätigung der siegreichen Theorie gemeint, sondern auch die experimentelle Widerlegung rivalisierender Theorien. Bestätigungen an sich haben keine Bedeutung. Krypto-Induktivist: Sehr interessant. Jetzt verstehe ich, wie wichtig die widerlegten Rivalen einer Theorie für die Rechtfertigung ihrer Vorher-
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sagen sind. Beim Induktivismus spielt die Beobachtung die Hauptrolle. Man stellte sich vor, die Theorie könne aus einer Menge früherer Beobachtungen induziert werden; die Beobachtungen sind dann das Tatsachenmaterial, das die Theorie irgendwie rechtfertigt. Im Popperschen Bild haben nicht Beobachtungen Vorrang, sondern Probleme, Kontroversen, Theorien und Kritik. Experimente werden lediglich geplant und durchgeführt, um Kontroversen zu schlichten. Deshalb stellen nur solche Versuchsergebnisse, die eine Theorie tatsächlich widerlegen, eine Bekräftigung dar – und nicht irgendeine Theorie wird widerlegt, sondern sie muß sich in einer vernünftigen Auseinandersetzung als glaubwürdig erwiesen haben. Und deshalb liefern nur Experimente Hinweise auf die Zuverlässigkeit der siegreichen Theorie. David: Richtig. Und selbst dann ist die «Zuverlässigkeit», die eine Bestätigung gewährleistet, nicht absolut, sondern nur in bezug auf rivalisierende Theorien. Wir erwarten also, daß es uns hilft, unter den Kandidaten die besten Theorien auszuwählen, wenn wir uns auf bestätigte Theorien verlassen. Das ist eine hinreichende Grundlage des Handelns. Wir brauchen nicht zu wissen (und wir können das auch gar nicht), wie gut die beste vorgeschlagene Vorgehensweise sein wird. Krypto-Induktivist: Sehr richtig. Ich freue mich, etwas über die wissenschaftliche Methode gelernt zu haben. Aber jetzt, und hoffentlich halten Sie mich nicht für unhöflich, muß ich Ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf die Frage richten, die mich schon so lange beschäftigt. Nehmen wir an, eine Theorie habe diesen ganzen Prozeß durchgemacht. Was an dieser Bestätigung rechtfertigt es, daß wir uns in Zukunft auf sie verlassen? David: Alle ihre Rivalen wurden widerlegt, deshalb lassen sie sich nicht länger vernünftig vertreten. Die bestätigte Theorie ist als einzige vernünftig haltbare Theorie übriggeblieben. Krypto-Induktivist: Aber das verschiebt den Blickpunkt nur von der zukünftigen Bedeutung früherer Bestätigung auf die zukünftige Bedeutung früherer Widerlegung. Das Problem bleibt dasselbe. Warum ist eine experimentell widerlegte Theorie «nicht vernünftig haltbar»? Ist sie schon dann nicht wahr, wenn sich aus ihr auch nur eine falsche Folgerung ziehen läßt? David: Ja.
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Krypto-Induktivist: Aber diese Kritik ist in bezug auf die zukünftige Anwendbarkeit der Theorie sicherlich logisch unwichtig. Zugegeben, eine widerlegte Theorie kann nicht allgemein gelten. Aber sie könnte immer noch viele richtige Konsequenzen haben, und insbesondere könnte sie in Zukunft allgemeingültig sein. David: Diese Bezeichnungen «wahr in der Vergangenheit» und «wahr in der Zukunft» sind irreführend. Jede Vorhersage, die eine Theorie macht, ist entweder wahr oder falsch. Das kann nicht anders sein. Sie meinen ja eigentlich, daß die Theorie, obwohl sie strenggenommen falsch ist, weil sie einige falsche Vorhersagen macht, trotzdem über die Zukunft nur richtige Aussagen macht. Anders gesagt könnte eine andere Theorie wahr sein, die über die Zukunft dieselben Vorhersagen macht, über die Vergangenheit aber andere. Krypto-Induktivist: Wenn Sie so wollen. Statt also zu fragen, warum eine widerlegte Theorie nicht vernünftig haltbar ist, hätte ich eigentlich fragen sollen: Warum wird durch die Widerlegung einer Theorie auch jede Variante der Theorie unhaltbar, die mit ihr in bezug auf die Zukunft übereinstimmt – selbst eine Variante, die noch nicht widerlegt worden ist? David: Es ist nicht so, daß solche Theorien durch die Widerlegung unhaltbar werden. Sie sind gelegentlich schon unhaltbar, weil sie schlechte Erklärungen sind. Dann kann die Wissenschaft Fortschritte machen. Denn damit sich eine kontroverse Theorie durchsetzen kann, müssen alle ihre Rivalen unhaltbar sein, und das schließt alle Varianten der Rivalen ein, die sich jemals jemand ausgedacht hat. Man bedenke, daß nur Varianten, die sich jemand ausgedacht hat, unhaltbar sein müssen. Im Fall der Schwerkraft beispielsweise hat niemals jemand eine haltbare Theorie aufgestellt, die in bezug auf alle überprüften Vorhersagen mit der vorherrschenden übereinstimmt, sich aber in den Vorhersagen über zukünftige Experimente unterscheidet. Ich bin sicher, daß es solche Theorien gibt – beispielsweise wird die Nachfolgerin der vorherrschenden Theorie vermutlich diese Eigenschaft haben. Aber wie kann man aufgrund einer Theorie handeln, an die noch nie jemand gedacht hat? Krypto-Induktivist: Was meinen Sie mit: «an die noch nie jemand gedacht hat»? Ich könnte mir leicht sofort eine Theorie ausdenken.
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David: Das bezweifle ich sehr. Krypto-Induktivist: Also gut, das ist meine Theorie: «Wann immer Sie auf eine Weise von hoch oben hinunterspringen, die nach der vorherrschenden Theorie zum Tode führen sollte, werden Sie gleiten. Davon abgesehen gilt ganz allgemein die vorherrschende Theorie.» Ich behaupte, daß jede frühere Überprüfung Ihrer Theorie zugleich auch meine überprüft hat, weil alle ihre Vorhersagen in bezug auf frühere Experimente übereinstimmen. Deshalb sind die widerlegten Rivalen Ihrer Theorie auch die widerlegten Rivalen meiner Theorie. Und deshalb ist meine neue Theorie genausogut bestätigt wie Ihre vorherrschende Theorie. Wie kann meine Theorie dann «unhaltbar» sein? Welche Fehler könnte sie haben, die Ihre Theorie nicht hat? David: Praktisch alle, die im Popperschen Buch stehen! Ihre Theorie wird aus der vorherrschenden abgeleitet und nur durch den unerklärten Zusatz über mein Gleiten ergänzt. Dieser Zusatz ist eigentlich eine neue Theorie, aber Sie haben keine Gründe angeführt, die gegen die vorherrschende Theorie für meine Schwere oder zugunsten der neuen sprechen. Sie haben Ihre neue Theorie keiner Kritik (jedenfalls keiner anderen als der, die ich jetzt gebe) und keiner experimentellen Überprüfung unterworfen. Ihre Theorie löst kein anstehendes Problem und gibt das auch nicht vor, und Sie haben auch kein neues interessantes Problem vorgelegt, das sie löst. Schlimmer noch, Ihr Zusatz erklärt nichts, sondern macht die Erklärung der Schwerkraft zunichte, die Grundlage der vorherrschenden Theorie ist. Nach allen Kriterien der Vernunft kann der von Ihnen vorgeschlagene Zusatz pauschal zurückgewiesen werden. Krypto-Induktivist: Könnte ich über Ihre Theorie nicht genau dasselbe sagen? Ihre Theorie unterscheidet sich von meiner nur durch denselben kleinen Zusatz in der umgekehrten Richtung. Sie meinen, ich hätte meinen Zusatz erklären sollen. Aber warum sind unsere Positionen nicht symmetrisch? David: Weil Ihre Theorie im Gegensatz zu meiner Ihre Vorhersagen nicht erklärt. Krypto-Induktivist: Aber wenn meine Theorie zuerst aufgestellt worden wäre, hätte Ihre Theorie einen unerklärten Zusatz enthalten und wäre «pauschal zurückgewiesen» worden.
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David: Das ist falsch. Jeder vernünftige Mensch, der Ihre Theorie mit der vorherrschenden vergleicht, würde sie selbst dann, wenn Ihre zuerst aufgestellt worden wäre, sofort zugunsten der vorherrschenden zurückweisen. Denn die Tatsache, daß Ihre Theorie einen unerklärten Zusatz zu einer anderen Theorie enthält, wird schon in der Formulierung deutlich. Krypto-Induktivist: Meine Theorie hat Ihrer Meinung nach also die Form: «Diese oder jene Theorie gilt allgemein, außer unter diesen und jenen Umständen», aber sie erklärt nicht, warum die Ausnahme gilt? David: Genau. Krypto-Induktivist: Aha! Ich glaube, hier kann ich Sie widerlegen. Stellen wir uns einmal vor, unsere Sprache hätte kein Verb für «fallen», wohl aber das Verb «x-fallen», das gewöhnlich «fallen» bedeutet, außer wenn es auf Sie angewendet wird; in dem Fall bedeutet es «gleiten». Ähnlich bedeutet «x-gleiten» gewöhnlich gleiten; nur wenn es auf Sie angewendet wird, bedeutet es «fallen». In dieser abgeänderten Sprache könnte ich meine Theorie als die uneingeschränkte Aussage formulieren: «Alle Körper x-fallen, wenn sie nicht gehalten werden.» Die vorherrschende Theorie jedoch (die normalerweise lautet: «alle Körper fallen, wenn sie nicht gehalten werden») müßte in der neuen Sprache eine Ausnahme enthalten: «Mit Ausnahme von David, der x-gleitet, x-fallen alle Körper, die nicht gehalten werden.» Welche von diesen beiden Theorien eine Ausnahme enthält, hängt also von der Sprache ab, in der sie formuliert werden, oder nicht? David: Der Form nach ja, aber das ist eine Trivialität. Ihre Theorie enthält wesentlich eine unerklärte Behauptung, die die vorherrschende Theorie ergänzt. Die vorherrschende Theorie ist wesentlich Ihre Theorie ohne einen unerklärten Zusatz. Wie Sie es auch drehen und wenden, das ist eine objektive Tatsache, unabhängig von der Sprache. Krypto-Induktivist: Das sehe ich nicht ein. Sie haben selbst die Formulierung meiner Theorie angeführt, als Sie auf die «unnötige Ergänzung» hinwiesen. Sie haben gesagt, schon die Formulierung «zeigte» deutlich, daß sie – in unserer gewöhnlichen Sprache – ein unerklärter Zusatz ist. Aber wenn die Theorie in meine Sprache übersetzt wird, gibt es keinen Zusatz, sondern im Gegenteil braucht die Fassung der vorherrschenden Theorie einen Zusatz.
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David: Das stimmt, aber nicht alle Sprachen sind gleich. Sprachen sind Theorien. Sie verkörpern in ihrem Vokabular und in ihrer Grammatik Annahmen über die Welt. Immer wenn wir eine Theorie formulieren, ist nur ein kleiner Teil ihres Inhalts explizit. Der Rest steckt in der Sprache. Wie alle Theorien werden Sprachen wegen ihrer Fähigkeit, gewisse Probleme zu lösen, geprägt und ausgewählt. In diesem Fall besteht das Problem darin, andere Theorien in einer Form auszudrücken, in der sie sich gut anwenden, vergleichen und kritisieren lassen. Sprachen lösen diese Probleme vor allem, in dem sie implizit unumstrittene und selbstverständlich erscheinende Theorien enthalten, während Sachverhalte, die festgestellt oder behauptet werden müssen, genau und sauber formuliert werden. Krypto-Induktivist: Das akzeptiere ich. David: Deshalb ist es kein Zufall, wenn eine Sprache ihre begrifflichen Grundlagen lieber mit einer Art von Begriffen und nicht einer anderen zu erfassen versucht. Das spiegelt den aktuellen Stand der Problemlage des Sprechers wieder. Deshalb ist die Form, die Ihre Theorie in der gewöhnlichen Sprache hat, ein gutes Anzeichen dafür, welchen Status sie in bezug auf die aktuelle Problemlage hat – ob sie Probleme löst oder verschärft. Aber ich setze gar nichts an der Form Ihrer Theorie aus, sondern an ihrem Inhalt. Ich bedaure, daß Ihre Theorie nichts löst und die Problemlage nur verschlimmert. Dieser Mangel wird deutlich, wenn Sie die Theorie in der normalen Sprache formulieren; nur in Ihrer Sondersprache ist er implizit. Krypto-Induktivist: Vielleicht haben Sie recht. Aber könnten Sie das verdeutlichen? In welcher Weise verschlimmert meine Theorie die Problemlage, und warum würde das selbst einem muttersprachlichen Sprecher meiner hypothetischen Sprache klar sein? David: Ihre Theorie behauptet die Existenz einer physikalischen Anomalie, die es nach der vorherrschenden Theorie nicht gibt. Die Anomalie ist, daß die Schwerkraft mir nichts anhaben kann. Sicherlich kann man eine Sprache erfinden, die diese Anomalie implizit ausdrückt, so daß die Aussagen Ihrer Gravitationstheorie sich nicht ausdrücklich darauf zu beziehen brauchen. Aber sie beziehen sich dennoch immer darauf. «Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften.» Nehmen wir an,
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Sie – und alle anderen – sprächen Ihre Sprache als Muttersprache und alle hielten Ihre Gravitationstheorie für richtig und für so selbstverständlich und natürlich, daß wir das, was Sie und ich erleben würden, wenn wir vom Geländer springen, mit demselben Wort «x-fallen» beschreiben würden. Nichts davon würde auch nur im geringsten etwas an dem offensichtlichen Unterschied ändern, der zwischen meiner Reaktion auf die Schwerkraft und der aller anderen Menschen besteht. Vielleicht beneiden Sie mich beim Hinunterfallen und denken: «Wenn ich doch nur auch so wie David auf die Schwerkraft reagieren könnte.» Krypto-Induktivist: Das stimmt. Ich würde die tatsächliche Reaktion nicht nur deshalb für ein und dieselbe halten, weil Ihre und meine Reaktion auf die Schwerkraft mit demselben Wort benannt werden. Weil ich diese Kunstsprache ja fließend spreche, weiß ich im Gegenteil, daß «x-fallen» für Sie und für mich etwas anderes bedeutet. Ich würde nicht denken: «Wenn dieses David passiert wäre, würde er genau so x-fallen wie ich.» Ich würde denken: «Wenn ich nur wie David x-fallen könnte, statt auf die normale Weise.» Und weiter: «Wenn dies David passiert wäre, würde er überleben, während ich sterben muß.» David: Außerdem würden Sie, obwohl Sie wissen, daß es wahr ist, nicht verstehen, warum es wahr ist. Wissen ist nicht dasselbe wie Verstehen. Sie wären neugierig, wie sich diese «wohlbekannte» Anomalie erklären läßt. Jeder andere auch. Aus der ganzen Welt würden Physiker kommen, um meine anormalen Schwereeigenschaften zu untersuchen. Wäre Ihre Sprache wirklich die vorherrschende und würde Ihre Theorie wirklich von jedem für zuverlässig gehalten, hätte die wissenschaftliche Welt vermutlich schon meine Geburt ungeduldig erwartet! Aber natürlich ist die Voraussetzung für dies alles absurd, nämlich daß Ihre Theorie für zuverlässig gehalten wird und in der jeweiligen Sprache steckt. Theorie oder keine Theorie, Sprache oder keine Sprache, in Wirklichkeit würde kein vernünftiger Mensch die Möglichkeit einer so eklatanten physikalischen Anomalie erwägen, ohne daß eine sehr gute Erklärung dafür spräche. Deshalb würde Ihre Sprache genau so pauschal verworfen werden wie Ihre Theorie. Krypto-Induktivist: Könnte hier nicht eine Lösung für das Induktionsproblem lauern? Denken wir einmal nach. Wie verändert diese Einsicht
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in die Sprache die Dinge? Meine Überlegung beruhte auf einer scheinbaren Symmetrie zwischen Ihrer Position und meiner. Wir haben beide Theorien vertreten, die mit bestehenden experimentellen Ergebnissen verträglich sind und deren Rivalen (bis auf die jeweils andere) widerlegt wurden. Sie sagten, ich sei irrational, weil meine Theorie eine unerklärte Annahme enthält, worauf ich entgegnete, daß Ihre Theorie in einer anderen Sprache eine unerklärte Annahme enthält, und deshalb sei die Symmetrie bewahrt. Aber jetzt haben Sie darauf hingewiesen, daß Sprachen Theorien sind, und daß aus der Verknüpfung meiner vorgeschlagenen Sprache mit meiner Theorie die Existenz einer objektiven, physikalischen Anomalie folgt, die es in der Verknüpfung der gewöhnlichen Sprache mit der vorherrschenden Theorie nicht gibt. Hier kommt die Symmetrie unserer Positionen ins Spiel, und die von mir vertretene Begründung versagt hoffnungslos. David: Allerdings. Krypto-Induktivist: Ich möchte dies gern noch etwas deutlicher machen. Würden Sie meinen, es sei ein Prinzip der Vernunft, daß eine Theorie, die die Existenz einer objektiven physikalischen Anomalie behauptet, dann, wenn alles andere gleich ist, mit geringerer Wahrscheinlichkeit wahre Vorhersagen macht als eine, die das nicht leistet? David: Nicht ganz. Theorien, die Anomalien postulieren, ohne sie zu erklären, machen mit geringerer Wahrscheinlichkeit wahre Vorhersagen als ihre Rivalen. Allgemeiner ist es ein Prinzip der Vernunft, Theorien zu postulieren, um Probleme zu lösen. Deshalb muß jedes Postulat, das kein Problem löst, verworfen werden. Das ist so, weil eine gute Erklärung, die durch ein solches Postulat eingeschränkt wird, zu einer schlechten Erklärung wird. Krypto-Induktivist: Jetzt, da ich besser verstehe, daß es wirklich einen objektiven Unterschied zwischen Theorien gibt, die unerklärte Vorhersagen machen und solchen, die das nicht tun, muß ich zugeben, daß dies eine Lösung des Induktionsproblems verheißt. Sie haben anscheinend eine Möglichkeit entdeckt, Ihr zukünftiges Vertrauen in die Gravitationstheorie zu rechtfertigen, wenn nur die frühere Problemlage (einschließlich früherer Beobachtungsergebnisse) und der Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Erklärung gegeben ist. Sie
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brauchen keine Annahme zu machen wie: «Die Zukunft wird mit einiger Wahrscheinlichkeit Ähnlichkeit mit der Vergangenheit haben.» David: Das habe nicht ich entdeckt. Krypto-Induktivist: Popper wohl auch nicht. Erstens meinte Popper nicht, daß wissenschaftliche Theorien überhaupt gerechtfertigt werden könnten. Sie unterscheiden sorgfältig zwischen Theorien, die durch Beobachtung (wie die Induktivisten denken) oder durch Begründung gerechtfertigt werden. Aber Popper macht keinen solchen Unterschied. Und in bezug auf das Induktionsproblem sagte er, wir sollten, obwohl zukünftige Vorhersagen einer Theorie nicht gerechtfertigt werden können, doch so handeln, als ob es so wäre. David: Das hat er nicht so gemeint. Krypto-Induktivist: Wie bitte? David: Oder er hat sich geirrt. Warum regen Sie sich auf? Es ist durchaus möglich, daß jemand eine neue Theorie entdeckt, aber trotzdem an Überzeugungen festhält, die ihr widersprechen. Je tiefer die Theorie ist, um so wahrscheinlicher ist das. Krypto-Induktivist: Sie meinen also, Poppers Theorie besser zu verstehen als er selbst? David: Das weiß ich nicht, und das kümmert mich auch nicht. Wissen Sie, Philosophen bringen den historischen Quellen von Gedanken geradezu pervers viel Verehrung entgegen. In der Naturwissenschaft nehmen wir nicht an, daß der Entdecker einer Theorie besonders tiefe Einsichten in die Theorie haben müßte. Im Gegenteil, wir gehen selten zu den Quellen zurück. Sie versagen unweigerlich, wenn die Problemsituationen, die zu ihnen führten, durch die Entdeckungen selbst transformiert werden. Beispielsweise verstehen die meisten Relativitätstheoretiker die Theorien Einsteins heute besser, als Einstein sie je verstand. Die Begründer der Quantentheorie haben in bezug auf das Verständnis ihrer eigenen Theorie viel durcheinandergebracht. Solche unsicheren Anfänge sind zu erwarten. Und wenn wir auf den Schultern von Riesen stehen, ist es vielleicht gar nicht schwer, weiter zu sehen als sie. Krypto-Induktivist: Gut, ich stimme zu. Aber Moment mal! Ich war wohl voreilig, als ich sagte, daß Sie keinerlei Induktionsprinzip aufstellten.
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Sehen Sie: Sie haben gezeigt, daß eine Theorie über die Zukunft (die vorherrschende Gravitationstheorie) zuverlässiger ist als eine andere (die von mir aufgestellte), obwohl sie beide mit allen bekannten Beobachtungen vereinbar sind. Da die vorherrschende Theorie sowohl für die Zukunft als auch für die Vergangenheit gilt, ist damit die Aussage gerechtfertigt, daß die Zukunft in bezug auf die Gravitation der Vergangenheit ähnelt. Dasselbe würde immer gelten, wenn Sie eine Theorie damit rechtfertigen, daß sie bestätigt wurde. Um nun von «bestätigt» auf «zuverlässig» zu schließen, haben Sie die Erklärungskraft der Theorie betrachtet. Sie haben also gezeigt, daß das Prinzip der Suche nach besseren Erklärungen zusammen mit einigen Beobachtungen – ja, und Begründungen – bedingen, daß die Zukunft in mancher Hinsicht der Vergangenheit gleicht. Und das ist ein Induktionsprinzip! Wenn Ihr «Erklärungsprinzip» ein Induktionsprinzip bedingt, dann ist es logischerweise ein Induktionsprinzip. Der Induktivismus ist also schließlich doch wahr, und muß explizit oder implizit gefordert werden, bevor wir die Zukunft vorhersagen können. David: Oh je. Dieser Induktivismus ist wirklich eine schreckliche Krankheit. Kaum war er einige Sekunden lang untergetaucht, da bricht er schon wieder heftiger aus als je zuvor. Krypto-Induktivist: Rechtfertigt der Poppersche Rationalismus auch Begründungen ad hominem? Ich bitte nur um Aufklärung. David: Ich bitte um Entschuldigung. Lassen Sie mich geradewegs zu dem Wesentlichen dessen kommen, was Sie gesagt haben. Ja, ich habe eine Behauptung über die Zukunft gerechtfertigt. Sie sagen, dies bedinge, daß «die Zukunft der Vergangenheit ähnelt». Ja, irgendwie schon, insofern jede Theorie über die Zukunft behaupten würde, daß sie in gewisser Weise der Vergangenheit ähnelt. Aber diese Folgerung, daß die Zukunft der Vergangenheit ähnelt, ist nicht das gesuchte Induktionsprinzip. Denn aus ihr könnten wir eine Theorie oder Vorhersage über die Zukunft weder herleiten noch rechtfertigen. Wir könnten beispielsweise mit ihrer Hilfe unsere Gravitationstheorie nicht von der vorherrschenden unterscheiden, denn sie sagen beide auf ihre jeweils eigene Weise, daß die Zukunft der Vergangenheit ähnelt. Krypto-Induktivist: Könnten wir nicht aus dem «Erklärungsprinzip» eine Form des Induktionsprinzips herleiten, das sich zur Auswahl von
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Theorien verwenden ließe? Etwa so: Wenn eine unerklärte Anomalie in der Vergangenheit nicht vorkam, ist sie in Zukunft unwahrscheinlich? David: Nein. Unsere Rechtfertigung hängt nicht davon ob, ob in der Vergangenheit eine bestimmte Anomalie vorkam. Sie hat damit zu tun, ob sich die Existenz dieser Anomalie erklären läßt. Krypto-Induktivist: Also gut, ich formuliere es sorgfältiger: Wenn es in der Gegenwart keine erklärende Theorie gibt, die vorhersagt, daß es eine bestimmte Anomalie in Zukunft geben wird, dann wird es diese Anomalie mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Zukunft nicht geben. David: Das könnte wahr sein. Ich jedenfalls glaube, daß es so ist. Es entspricht jedoch nicht der Form: «Die Zukunft wird mit einiger Wahrscheinlichkeit Ähnlichkeit mit der Vergangenheit haben». Bei Ihren Versuchen, sie dem so ähnlich wie möglich zu machen, haben Sie sich auf die Fälle «in der Gegenwart», «in der Zukunft» und auf den Fall einer «Anomalie» spezialisiert. Aber es ist ohne diese Vorgaben genauso wahr. Es ist einfach eine allgemeine Aussage über die Wirksamkeit von Begründungen. Kurz gesagt, wenn es nichts gibt, was für eine Annahme spricht, ist sie nicht zuverlässig. Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Anomalie oder keine Anomalie. Punktum. Krypto-Induktivist: Ja, das leuchtet mir ein. David: Nichts in den Begriffen «vernünftige Überlegung» oder «Erklärung» stellt eine besondere Verbindung zwischen Zukunft und Vergangenheit her. Nichts wird darüber postuliert, daß etwas irgend etwas anderem «ähnelt». Nichts von dieser Art würde helfen, wenn es postuliert würde. In dem vagen Sinn, in dem der Begriff der «Erklärung» bedingt, daß «die Zukunft der Vergangenheit ähnelt», sagt er doch nichts Genaueres über die Zukunft aus, und deshalb ist es kein Induktionsprinzip. Es gibt kein Induktionsprinzip. Es gibt keinen Induktionsvorgang. Niemand braucht ihn oder irgend etwas Ähnliches. Und es gibt kein Induktionsproblem mehr. Ist das jetzt klar? Krypto-Induktivist: Ja. Bitte warten Sie einen Augenblick. Schließlich muß ich mich an die neue Sicht erst gewöhnen. David: Dabei könnte ich Ihnen Hilfe anbieten. Haben Sie mein Buch Die Physik der Welterkenntnis gelesen?
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Krypto-Induktivist: Hm ... ja ... David: Sie sollten es lesen! Krypto-Induktivist: Das werde ich tun. Aber ich hatte Sie in einer ganz bestimmten Schwierigkeit um Rat bitten wollen. Könnten wir die jetzt nicht lösen? David: Fangen Sie an. Krypto-Induktivist: Die Schwierigkeit ist die folgende: Wenn ich die Unterhaltung, die wir gerade führen, nachvollziehe, bin ich vollkommen davon überzeugt, daß Ihre Vorhersage über das, was passieren würde, wenn wir von diesem Turm sprängen, nicht von einer induktiven Hypothese wie etwa «Die Zukunft ähnelt der Vergangenheit» hergeleitet ist. Aber wenn ich die Logik der Situation insgesamt betrachte, verstehe ich, so scheint mir, immer noch nicht, wie das sein kann. Denken wir doch nur daran, womit das Ganze anfing. Zunächst habe ich angenommen, wir hätten nichts als frühere Beobachtungen und deduktive Logik zur Verfügung. Dann habe ich zugegeben, daß auch die heutige Problemlage wichtig ist, weil wir nur zu zeigen brauchen, daß unsere Theorie zuverlässiger ist als existierende Rivalen. Und dann mußte ich die ungeheuer vielen Theorien berücksichtigen, die sich allein aufgrund von Begründungen ausschließen lassen, und auch die Prinzipien der Vernunft in unser Ausgangsmaterial aufnehmen. Was ich nicht verstehe, ist, was in diesem ganzen Rohmaterial Vorhersagen über die Zukunft rechtfertigt. Es scheint eine logische Lücke zu geben. Machen wir da irgendwo eine versteckte Annahme? David: Nein, da ist keine logische Lücke. Was Sie unser «Rohmaterial» nennen, enthält tatsächlich Behauptungen über die Zukunft. Die besten existierenden Theorien, die sich nicht leicht abtun lassen, weil sie die Lösungen von Problemen sind, enthalten Vorhersagen. Und diese Vorhersagen lassen sich nicht von ihrem anderen Inhalt trennen, wie Sie es zu tun versuchten, weil das die Erklärungskraft der Theorien zerstören würde. Jede neue Theorie, die wir aufstellen, muß deshalb entweder mit diesen bestehenden Theorien in Übereinstimmung sein, was Auswirkungen darauf hat, was die neue Theorie über die Zukunft sagen kann, oder sie muß einigen existierenden Theorien widersprechen, die dadurch gestellten Probleme aber behandeln und andere
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Erklärungen liefern, die wieder das eingrenzen, was sie über die Zukunft sagen kann. Krypto-Induktivist: Wir haben also kein Vernunftprinzip, das sagt, die Zukunft werde der Vergangenheit ähnlich sein, aber wir haben Theorien, die das sagen. Wir besitzen also Theorien, die eine eingeschränkte Form des Induktionsprinzips bedingen? David: Nein. Unsere Theorien stellen einfach etwas über die Zukunft fest. Ganz vage bedingt jede Theorie über die Zukunft, daß die Zukunft der Vergangenheit in mancher Hinsicht ähnelt. Aber wir können nur herausfinden, in welcher Hinsicht die Zukunft der Vergangenheit aufgrund der Theorie ähnelt, nachdem wir die Theorie haben. Unsere jetzigen Theorien sagen, wie ich betone, vorher, daß die Zukunft der Vergangenheit in jedem praktischen Sinn des Wortes «ähnlich» nicht ähnlich sein wird. Der kosmologische «Endknall» beispielsweise, der Zusammenfall des Weltalls in einen einzigen Punkt, ist ein Ereignis, das viele Kosmologen vorhersagen, der aber der jetzigen Epoche aus jeder physikalischen Hinsicht so unähnlich ist wie nur möglich. Die Gesetze, nach denen wir sein Auftreten vorhersagen, gelten für ihn nicht. Krypto-Induktivist: Das überzeugt mich. Lassen Sie mich noch eine letzte Überlegung vorbringen. Wir haben gesehen, daß Vorhersagen sich durch Berufung auf die Grundlagen der Vernunft rechtfertigen lassen. Aber was rechtfertigt diese? Sie sind schließlich keine Wahrheiten der reinen Logik. Es gibt also zwei Möglichkeiten: Entweder sie sind nicht gerechtfertigt, und in dem Fall sind auch die Schlüsse ungerechtfertigt, die aus ihnen gezogen werden. Oder sie sind aus noch unbekannten Gründen gerechtfertigt. In jedem Fall fehlt eine Rechtfertigung. Ich sehe darin kein verkleidetes Induktionsproblem mehr. Aber haben wir nicht ein anderes fundamentales Problem aufgedeckt, nachdem wir das Induktionsproblem als widersinnig erwiesen haben, das noch tiefer liegt und ebenfalls fehlende Rechtfertigung betrifft? David: Was rechtfertigt das Vernunftprinzip? Begründungen, wie gewöhnlich. Was rechtfertigt beispielsweise, daß wir uns auf die Deduktion verlassen, obwohl jeder Versuch, sie zu rechtfertigen, logisch entweder zu einem Zirkelschluß oder zu einer unendlichen Schlußkette
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führen muß. Es ist gerechtfertigt, weil keine Erklärung besser wird, wenn ein Deduktionsgesetz ersetzt wird. Krypto-Induktivist: Das scheint keine sehr sichere Grundlage für reine Logik zu sein. David: Sie ist nicht vollkommen sicher. Das sollten wir auch nicht erwarten. Logisches Schließen ist genauso ein physikalischer Vorgang wie wissenschaftliches Schließen und inhärent fehlbar. Die Gesetze der Logik sind nicht selbstverständlich. Die mathematischen «Intuitionisten» beispielsweise halten nichts von den herkömmlichen Gesetzen der Deduktion. Man kann nicht beweisen, daß sie im Unrecht sind, aber ich werde es begründen, und Sie werden, da bin ich sicher, zustimmen, daß meine Begründung diesen Schluß rechtfertigt. Krypto-Induktivist: Sie sehen dort also kein «Deduktionsproblem»? David: Nein. Ich glaube nicht, daß wir mit der Rechtfertigung der Schlüsse in der Naturwissenschaft, Philosophie oder Mathematik ein Problem haben. Jedenfalls ist es eine interessante Tatsache, daß das physikalische Weltall Vorgänge zuläßt, die Wissen über es selbst und auch über andere Dinge schaffen. Wir können diese Tatsache mit gutem Grund so zu erklären versuchen, wie wir andere physikalische Tatsachen erklären, nämlich durch erklärende Theorien. Nach dem Turing-Prinzip kann man einen Wirklichkeitssimulator bauen, dessen Repertoire jede physikalisch mögliche Umwelt enthält. Wenn das Turing-Prinzip ein Naturgesetz ist, sollten wir überhaupt nicht überrascht sein, wenn wir genaue Theorien über die Wirklichkeit aufstellen können, denn das ist nur virtuelle Realität in Aktion. Genau wie die Tatsache, daß Dampfmaschinen möglich sind, nur unmittelbarer Ausdruck der Prinzipien der Thermodynamik ist, ist die Tatsache, daß das menschliche Gehirn Wissen schaffen kann, unmittelbarer Ausdruck des Turing-Prinzips. Krypto-Induktivist: Aber wie wissen wir, daß das Turing-Prinzip wahr ist? David: Das wissen wir natürlich nicht ... Sie haben wohl Angst, daß wir, wenn wir das Turing-Prinzip nicht rechtfertigen können, wieder einmal nicht rechtfertigen können, daß auf wissenschaftliche Vorhersagen Verlaß ist? Krypto-Induktivist: Hm ... ja.
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David: Aber das ist eine ganz andere Frage! Wir sprechen jetzt über etwas, das anscheinend eine Tatsache ist, daß nämlich die physikalische Realität zuverlässige Vorhersagen über sich selbst machen kann. Wir versuchen diese Tatsache zu erklären, sie in denselben Rahmen einzuordnen wie andere uns bekannte Tatsachen. Ich habe behauptet, daß daran ein bestimmtes Naturgesetz beteiligt ist. Wenn ich aber damit Unrecht hätte, ja sogar, wenn wir völlig unfähig wären, diese bemerkenswerte Eigenschaft der Wirklichkeit zu erklären, würde das nicht ein Jota an der Rechtfertigung einer wissenschaftlichen Theorie ändern. Denn es würde die Erklärungen in einer solchen Theorie nicht schmälern. Krypto-Induktivist: Jetzt habe ich keine Argumente mehr. Intellektuell bin ich überzeugt. Aber ich muß bekennen, daß ich noch immer etwas fühle, was ich nur als emotionalen Zweifel beschreiben kann. David: Vielleicht hilft es, wenn ich eine letzte Bemerkung mache, und zwar nicht zu einer der oben angestellten Überlegungen, sondern zu einer Fehlauffassung, der anscheinend viele von Ihnen verfallen sind. Sie wissen, daß es eine Fehlauffassung ist, aber Sie haben ihre Auswirkungen vielleicht noch nicht in ihr Weltbild aufgenommen. Möglicherweise ist das die Quelle ihrer «emotionalen Zweifel». Krypto-Induktivist: Schießen Sie los. David: Die Fehlauffassung betrifft das Wesen von Begründung und Erklärung. Sie scheinen anzunehmen, daß Begründungen und Erklärungen, wie etwa jene, die das Handeln nach einer bestimmten Theorie rechtfertigen, die Form mathematischer Beweise haben, und von Voraussetzungen zu Schlüssen übergehen. Sie suchen nach dem «Rohmaterial» (den Axiomen), aus denen die Schlüsse (die Theoreme) hergeleitet werden. Nun gibt es wirklich eine logische Struktur dieser Art, die für alle erfolgreichen Begründungen und Erklärungen zutrifft. Aber der Vorgang der Begründung beginnt nicht mit «Axiomen» und hört nicht mit der «Schlußfolgerung» auf. Vielmehr beginnt er in der Mitte mit einer Fassung, die voller Widersprüchlichkeiten, Lücken, Mehrdeutigkeiten und Nichtigkeiten steckt. Alle diese Mängel werden kritisiert. Man macht Versuche, mangelhafte Theorien zu ersetzen. Die Theorien, die kritisiert und ersetzt werden, enthalten gewöhnlich einige der Axiome. Deshalb ist es ein Fehler anzunehmen, daß eine Begründung
Problemlösungen
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mit Theorien beginnt oder durch Theorien gerechtfertigt wird, die schließlich als «Axiome» dienen. Die Begründung ist – versuchsweise – abgeschlossen, wenn die zugehörige Erklärung befriedigend erscheint. Die «Axiome» sind keine endgültigen Überzeugungen, die nicht in Frage gestellt werden dürfen. Sie sind versuchsweise aufgestellte erklärende Theorien. Krypto-Induktivist: Ach so. Eine Begründung ist nicht dasselbe wie eine Herleitung oder die nicht existente Induktion. Sie beruht nicht auf etwas anderem und wird nicht durch etwas anderes gerechtfertigt. Und das muß sie auch nicht, weil ihr Ziel nur ist, Probleme zu lösen – zu zeigen, daß ein bestimmtes Problem durch eine bestimmte Erklärung gelöst wird. David: Willkommen im Verein. Ex-Induktivist: All diese Jahre fühlte ich mich mit meinem großen Problem so sicher. Ich habe mich sowohl den alten Induktivisten als auch dem Parvenü Popper weit überlegen gefühlt. Und dabei war ich all die Zeit, ohne es zu wissen, selbst ein verhinderter Induktivist. Induktivismus ist wirklich eine Krankheit. Sie macht blind. David: Machen Sie sich nichts daraus. Sie sind jetzt geheilt. Wenn nur Ihre Kollegen ebenso bereit wären, sich durch Begründungen heilen zu lassen! Ex-Induktivist: Aber wie konnte ich nur so blind sein? Ich schäme mich so. Ich sehe keinen anderen Ausweg, als mich von diesem Geländer zu stürzen. David: Das wird nicht nötig sein. Wir Popperianer lassen lieber unsere Theorie sterben als uns selbst. Werfen Sie einfach Ihren Induktivismus über das Geländer. Ex-Induktivist: Ja, das werde ich tun!
4 Kriterien der Wirklichkeit Der große Physiker Galileo Galilei, wohl auch der erste Physiker im modernen Wortsinn, entdeckte nicht nur viele Naturgesetze, sondern auch die naturwissenschaftliche Methode. Er belebte den alten Gedanken neu, allgemeingültige Theorien über die Natur in mathematische Form zu fassen und führte ihn weiter, indem er die Methode der systematischen experimentellen Überprüfung entwickelte, die so kennzeichnend ist für das, was wir heute Naturwissenschaft nennen. Diese «Tests» bezeichnete er sehr passend als cimenti, «Torturen». Er benutzte als erster ein Fernrohr zur Beobachtung der Himmelskörper, und er sammelte und untersuchte Hinweise auf die heliozentrische Theorie. Am bekanntesten ist er wohl, weil er als Verfechter dieser Theorie in einen bitteren Konflikt mit der Kirche geriet. Die Inquisition klagte ihn 1633 der Ketzerei an und zwang ihn unter Androhung der Folter, kniend einen langen, schmählichen Widerruf zu verlesen, in dem stand, daß er der heliozentrischen Theorie «abschwöre, sie verfluche und verabscheue». Nach der Legende soll er beim Aufstehen gemurmelt haben: «Und sie bewegt sich doch!» Trotz seines Widerrufs wurde er verurteilt und mit lebenslänglichem Hausarrest bestraft. Die vergleichsweise milde Strafe erreichte ihren Zweck, denn die Naturwissenschaft Mitteleuropas erhielt damit einen Schlag, der sie lange lähmte. Der Konflikt betraf nicht wirklich die Beschaffenheit des Sonnensystems, sondern vor allem Galileis glänzende Verteidigung neuer und gefährlicher Gedanken über die Struktur der Wirklichkeit. Es ging nicht um die Existenz der Wirklichkeit, denn Galilei und die Kirche vertraten
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beide eine Art von Realismus, wonach es außerhalb von uns eine physikalische Welt gibt, die wir mit unseren gegebenenfalls durch Instrumente verbesserten Sinnen wahrnehmen können. Galilei vertrat jedoch eine andere Auffassung von der Beziehung zwischen der objektiven physikalischen Wirklichkeit und dem menschlichen Denken. Seiner Meinung nach gelten für das Universum allgemeingültige, mathematisch formulierte Gesetze, die sich durch seine Methode der mathematischen Formulierung und der systematischen experimentellen Überprüfung zuverlässig in Erfahrung bringen lassen. Seiner Überzeugung nach ist «das Buch der Natur in mathematischen Zeichen geschrieben»; das war ein deutlicher Gegensatz zu dem anderen Buch, auf das man sich herkömmlicherweise verließ. Wenn diese Methode tatsächlich zuverlässig war, mußten, wie Galilei wußte, die mit ihrer Hilfe gezogenen Schlüsse zuverlässiger sein als jene, die auf anderen Verfahren beruhten. Deshalb gab Galilei dem wissenschaftlichen Schließen den Vorrang vor der religiösen Lehre und Offenbarung. Insbesondere dieser Gedanke, nicht die heliozentrische Theorie als solche, erschien der Kirche gefährlich. Und sie hatte recht, denn wenn man von einer Idee sagen kann, sie habe die wissenschaftliche Revolution und die Aufklärung in die Wege geleitet, dann von dieser. Es war verboten, das Erscheinungsbild des Nachthimmels mit Hilfe der heliozentrischen Theorie zu erklären, aber es war jedermann erlaubt, die heliozentrische Theorie auf Beobachtungen anzuwenden, über sie zu schreiben, sie «mathematisch» zu nennen. Deshalb hatte Galileis Buch Dialog der beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das die heliozentrischen mit den geozentrischen Theorien vergleicht, von der kirchlichen Zensur die Druckerlaubnis erhalten. Der Papst hatte Galilei sogar erlaubt, ein solches Buch zu schreiben. Aber die Toleranz der Kirche hörte bei den Erklärungen der neuen Beobachtungen auf, Erklärungen nämlich, die ihr Weltbild in Frage stellten. Zwar wollte auch die Kirche die Planetenbewegung aufgrund von Erklärungen verstehen, aber aufgrund ganz anderer. Als die Inquisition die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse bestritt, ging es ihr gerade um das Erklärungsvermögen dieses Wissens. Ihre Weltsicht war falsch, aber nicht unlogisch. Zugegebenermaßen hielt sie die Offenbarung und die traditionellen Autoritäten für zuver-
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lässige Wissensquellen. Aber die Kirche hatte auch einen davon unabhängigen Grund dafür, die Zuverlässigkeit von Wissen zu bezweifeln, das auf Galileis Methoden beruhte. Sie konnte einfach darauf verweisen, daß auch noch so viele Beobachtungen oder Überlegungen niemals eine Erklärung eines physikalischen Phänomens als wahr und eine andere als falsch beweisen können. Wie sie sagte, konnte Gott dieselben beobachteten Effekte auf unendlich viele Weisen bewirken. Es sei deshalb reine Eitelkeit und Arroganz, wenn jemand behauptete, aufgrund eigener fehlbarer Beobachtungen und Überlegungen herausfinden zu können, welchen Weg Gott gewählt habe. In gewisser Weise plädierte die Kirche damit lediglich für Bescheidenheit, für die Anerkennung der menschlichen Fehlbarkeit. Wenn Galilei behauptete, die heliozentrische Theorie sei irgendwie bewiesen, war ihre Kritik stichhaltig. Wenn Galilei dachte, seine Verfahren könnten einer Theorie eine Autorität verleihen, die der vergleichbar war, die die Kirche für ihre Lehren in Anspruch nahm, hatten die Inquisitoren das Recht, ihn wegen seiner Arroganz (oder, wie sie sagten, Blasphemie) zu kritisieren. Wie also können wir Galilei gegen die Inquisition verteidigen? Wie hätte sich Galilei gegen die Anklage verteidigen sollen, daß er zuviel behaupte, wenn er wissenschaftlichen Theorien verläßliches Wissen über die Wirklichkeit zuschrieb? Es genügt nicht, die Naturwissenschaft zu verteidigen, indem man sie wie Popper als problemlösend und erklärungsorientiert sieht. Denn auch die Kirche war vor allem an Erklärungen interessiert und nicht an Vorhersagen, und sie war durchaus bereit, Galilei mit jeder Theorie seiner Wahl Probleme lösen zu lassen. Sie wollte nur nicht zugeben, daß Galileis Lösungen (die sie lediglich als «mathematische Hypothesen» bezeichnete) für die Wirklichkeit relevant war. Die Problemlösung ist schließlich ein Prozeß, der sich ausschließlich im Kopf von Menschen abspielt. Galilei mag die Welt als ein Buch gesehen haben, in dem die Naturgesetze in der Sprache der Mathematik geschrieben sind, aber das ist nur ein Gleichnis. Es gibt dort draußen auf den Umlaufbahnen der Planeten keine Erklärungen. Tatsächlich liegen all unsere Probleme und Lösungen in uns selbst und wurden von uns selbst geschaffen. Wenn wir in der Naturwissenschaft Probleme lösen,
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kommen wir zu Theorien, deren Erklärungen uns die besten zu sein scheinen. Ohne also zu leugnen, daß es für uns richtig ist, Probleme zu lösen, könnten uns heutige Inquisitoren ganz legitim fragen, was wissenschaftliches Problemlösen mit der Wirklichkeit zu tun hat. Wir mögen unsere «besten Erklärungen» psychologisch befriedigend finden, und vielleicht auch hilfreich, wenn wir Vorhersagen machen wollen. Wir finden sie sicherlich immer wesentlich, wenn es um technologische Kreativität geht. All das rechtfertigt, daß wir sie weiterhin suchen und auf diese Weise nutzen. Aber warum sollten wir gezwungen sein, sie als Tatsache hinzunehmen? Die Inquisition zwang Galilei letztlich zu der Behauptung, daß die Erde ruhe und die Sonne und die Planeten sie umkreisen, die Bahnen dieser Himmelskörper aber auf eine komplizierte Weise so beschaffen seien, daß dies von der Erde aus gesehen mit einer ruhenden Sonne und sich bewegenden Planeten vereinbar ist. Wir wollen dies hier die «Inquisitionstheorie des Sonnensystems» nennen. Mit dieser falschen Grundannahme wären aber tatsächlich sehr viele Beobachtungen in Einklang gebracht worden. Man könnte die Inquisitionstheorie auch noch erweitern, damit sie noch genauere Beobachtungen erklärt, etwa über die Oberflächen der Planeten und der Sonne und der kleinen «Eigenbewegungen» einiger Sterne relativ zur scheinbaren Himmelskugel. Dazu müßte man komplizierte räumliche Manöver voraussetzen, und sie müßten von Naturgesetzen bestimmt sein, die ganz anders sind als die auf unserer Erde. Diese Gesetze wären aber gerade in einer Weise anders, die der Beobachtung nicht widersprechen würden, daß sich die Erde bewegt und dort draußen und hier dieselben Gesetze gelten. Es gibt viele solche Theorien. Wenn es uns nur darauf ankäme, die richtigen Vorhersagen zu machen, könnten wir Theorien erfinden, nach denen sich im Raum alles mögliche abspielt. Die Beobachtung allein kann niemals die Theorie ausschließen, daß die Erde in ein riesiges Planetarium eingeschlossen ist, das uns ein heliozentrisches Sonnensystems vorgaukelt! Zugegeben, um die heutigen Beobachtungen zu erklären, müßte das Planetarium auch unsere Radar- und Laserpulse umleiten, unsere Raumsonden und sogar unsere Astronauten einfangen, Botschaften von ihnen fingieren und sie mit dem entsprechenden Mondgestein, veränderten Erinnerungen und
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so weiter zurückschicken. Die Theorie ist sicher absurd, aber sie läßt sich, und das ist entscheidend, durch das Experiment nicht ausschließen. Wir können eine Theorie auch nicht allein deshalb ausschließen, weil sie «absurd» ist. Die Inquisitoren hielten wie die allermeisten Menschen zu Galileis Zeit die Behauptung, die Erde bewege sich, für den Gipfel der Absurdität. Wir können ihre Bewegung doch schließlich nicht spüren, oder? Man sagt, Galilei habe es einige Jahre lang nicht deshalb vermieden, die heliozentrische Theorie öffentlich zu vertreten, weil er Angst vor der Inquisition hatte, sondern weil er nicht ausgelacht werden wollte. Heute erscheint uns die Inquisitionstheorie außerordentlich weit hergeholt. Warum sollten wir eine komplizierte Erklärung für das Aussehen des Himmels akzeptieren, wenn die schlichte heliozentrische Kosmologie dasselbe mit weniger Aufwand leistet? Wir können uns auf Occams Messer berufen, wonach man nicht unnötig viele Größen einführen oder Erklärungen nicht unnötig komplizieren soll, denn dies führt zu unnötigen Komplikationen, die dann unerklärt bleiben. Ob jedoch eine Erklärung «gesucht» oder «unnötig kompliziert» ist, hängt vom jeweiligen Weltbild ab. Die Inquisition hätte behauptet, die Vorstellung einer bewegten Erde sei eine unnötige Komplikation. Sie widerspricht dem gesunden Menschenverstand, sie widerspricht der Heiligen Schrift, und (so hätten sie gesagt) es gibt eine gute Erklärung, die ohne sie auskommt. Aber stimmt das auch? Liefert die Inquisitionstheorie tatsächlich alternative Erklärungen? Schauen wir uns genauer an, wie sie die Dinge erklärt. Der anscheinende Stillstand der Erde habe seine Ursache darin, daß die Erde still stehe. So weit, so gut. Auf den ersten Blick ist diese Erklärung besser als Galileis, denn der hatte viel Mühe damit zu erklären, warum wir von der Bewegung der Erde nichts spüren. Und wie löst die Inquisitionstheorie die schwierigere Aufgabe, die Planetenbahnen zu erklären? Die heliozentrische Theorie erklärt die Planetenbahnen, indem sie sagt, die Planeten liefen anscheinend deshalb auf komplizierten Schleifenbahnen über den Himmel, weil sie sich eigentlich auf einfachen Kreisen (oder Ellipsen) bewegen, aber die Erde sich auch bewegt. Die Erklärung der Inquisitionstheorie lautet, daß die Planeten sich anscheinend auf komplizierten Schleifenbahnen bewegen, weil sie sich wirklich auf kom-
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plizierten Bahnen durch den Raum bewegen; aber, und das ist nach der Inquisitionstheorie das Wesentliche der Erklärung, diese komplizierte Bewegung wird durch ein merkwürdiges Prinzip bestimmt. Die Planeten bewegen sich nämlich so, daß sie von der Erde aus gesehen gerade dort am Himmel sind, wo sie sein würden, wenn sie und die Erde die Sonne auf einfachen Bahnen umliefen. Doch mit diesem Konjunktiv ist durch die Hintertür das heliozentrische System bereits eingeführt. Die Inquisitionsmethode kann die Planetenbewegung nicht erklären, «ohne die Komplikation des heliozentrischen Systems einführen zu müssen» . Im Gegenteil, sie führt das System unvermeidlich als Teil ihres eigenen Prinzips zur Erklärung der Planetenbewegungen ein. Man kann die Welt nicht mit Hilfe der Inquisitionstheorie verstehen, wenn man nicht zuerst die heliozentrische Theorie versteht. Deswegen tun wir gut daran, die Inquisitionstheorie als eine umständliche Form der heliozentrischen Theorie zu sehen und nicht umgekehrt. Zu diesem Schluß kamen wir nicht, indem wir die Inquisitionstheorie an der modernen Kosmologie maßen, was zu einem Zirkelschluß geführt hätte, sondern indem wir die Inquisitionstheorie als eine eigenständige Erklärung der Welt ernst nahmen. Denken Sie an die Theorie der Graskur, die sich ohne experimentelle Überprüfung verwerfen läßt, weil sie keine Erklärungen liefert. Wieder läßt sich eine Theorie ohne experimentelle Überprüfung ausschließen, weil sie eine schlechte Erklärung enthält, eine, die nach ihren eigenen Bedingungen schlechter ist als die rivalisierende. Die Inquisitionstheorie hat etwas mit dem Solipsismus gemeinsam: Beide ziehen eine willkürliche Grenze und behaupten, die menschliche Vernunft könne sie nicht überschreiten – oder jedenfalls führe die Problemlösungjenseits der Grenze nicht zu mehr Verständnis. Für Solipsisten schließt diese Grenze gerade ihr Gehirn oder vielleicht auch nur ihren abstrakten Geist oder die körperlose Seele ein. Für die Inquisition erfaßt sie die ganze Erde. Einige heutige Schöpfungswissenschaftler glauben an eine ähnliche Grenze nicht im Raum, sondern in der Zeit, denn sie glauben, daß das Weltall einschließlich aller irreführenden Hinweise auf frühere Ereignisse erst vor sechstausend Jahren geschaffen wurde. Die ersten Behavioristen leugneten, daß es Sinn habe, menschliches Ver-
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halten durch innere, geistige Vorgänge zu erklären. Für sie beschränkte sich die Psychologie auf die Erforschung der beobachtbaren Reaktionen der Menschen auf äußere Reize. Es gibt viele solcher Theorien. Sie unterscheiden sich darin, wo sie die Grenze der Wirklichkeit ziehen, aber sie alle ziehen eine Grenze menschlicher Erkenntnis! Wissenschaftliche Vernunft und Formen der Problemlösung außerhalb dieser Grenzen halten sie für nicht anwendbar – für nichts als ein Spiel. Auch wenn das Spiel befriedigend und nützlich ist, bleibt es doch ein Spiel, aus dem sich keine gültigen Schlüsse über die äußere Wirklichkeit ziehen lassen. Die Wahrheit dessen, was außerhalb dieser Grenzen liegt, suchen sie woanders, und alle suchen eine Quelle letzter Rechtfertigung. Für religiöse Menschen kann göttliche Offenbarung diese Rolle spielen, und Solipsisten vertrauen nur der unmittelbaren Erfahrung ihrer eigenen Gedanken. Es gibt einen bekannten Witz über einen Philosophieprofessor, der eine Vorlesung hält, in der er den Solipsismus verteidigt. Die Vorlesung ist überzeugend, und nach ihrem Ende stürzen begeisterte Studenten zum Podium, um dem Professor die Hand zu schütteln. «Wunderbar. Ich stimme jedem Ihrer Worte zu», sagt ein Student ganz ernsthaft. «Ich auch», sagt ein anderer. «Ich freue mich sehr, das zu hören», sagt der Professor. «Man trifft so selten andere Solipsisten.» In diesem Witz verbirgt sich ein echtes Argument gegen den Solipsismus. Man könnte es so formulieren: Welcher Theorie stimmten die Studenten in der Geschichte eigentlich zu? War es die Theorie des Professors, die Theorie, nach der es sie selbst nicht gibt, weil nur der Professor existiert? Wenn sie das glaubten, müßten sie zunächst einen Weg finden, Descartes’ Argument des cogito ergo sum zu widerlegen. Und wenn sie das schafften, wären sie keine Solipsisten, denn die zentrale These des Solipsismus besagt, daß es den Solipsisten gibt. Oder wurde jeder Student von einer Theorie überzeugt, die der des Professors widerspricht, der Theorie, daß dieser spezielle Student existiert, der Professor und die anderen Studenten aber nicht? Dann wären sie alle in der Tat Solipsisten, aber keiner der Studenten würde der vom Professor vertretenen Theorie zustimmen. Die Studenten sind also in keinem der Fälle von der
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Verteidigung des Solipsismus überzeugt, denn wenn sie die Meinung des Professors übernehmen, sind sie keine Solipsisten, und wenn sie Solipsisten sind, müssen sie davon überzeugt sein, daß der Professor sich irrt. Diese Überlegung versucht zu zeigen, daß der Solipsismus nicht zu verteidigen ist. Aber der Versuch gelingt nicht ganz. Unser solipsistischer Professor könnte entgegnen: «Ich kann den Solipsismus verteidigen und tue das auch. Nicht gegenüber anderen Menschen, denn die gibt es nicht, sondern gegenüber Gegenargumenten. Auf diese Argumente werde ich durch Traum-Menschen aufmerksam gemacht, die sich verhalten, als ob sie denkende Wesen wären, deren Gedanken meinen oft entgegengesetzt sind. Meine Vorlesung und die Überlegungen, die sie enthielt, sollten nicht diese Traum-Menschen überzeugen, sondern mich selbst, mir also helfen, meine Gedanken zu ordnen.» Wenn es aber Quellen für Gedanken gibt, die sich verhalten, als ob sie von einem selbst unabhängig wären, dann müssen sie aus genau diesem Grund wirklich von einem selbst unabhängig sein. Denn wenn ich «mich selbst» als das definiere, was meine Gedanken und Gefühle hat, dann sind die «Traum-Menschen», mit denen ich zu wechselwirken scheine, nach Definition etwas anderes als ich selbst, und deshalb muß ich zugeben, daß es etwas anderes gibt als mich selbst. Wenn ich ein überzeugter Solipsist wäre, bliebe nur die Möglichkeit, die TraumMenschen als Schöpfungen meines Unbewußten zu sehen und deshalb in einem umfassenderen Sinn als Teil von «mir selbst». Aber dann wäre ich gezwungen zuzugeben, daß mein «Selbst» eine sehr reiche Struktur hat, die größtenteils von meinem eng definierten Selbst unabhängig ist. In dieser Struktur gibt es Wesen – Traum-Menschen –, die sich genau so verhalten, als ob sie überzeugte Anti-Solipsisten wären, obwohl sie lediglich ein Teil des Geistes eines vermeintlichen Solipsisten sind. Ich könnte mich deshalb nicht voll und ganz als Solipsisten bezeichnen, denn nur mein engdefiniertes Selbst wäre dieser Ansicht. Viele, wohl die meisten der Meinungen, die ich in meinem Geist als Ganzem hege, würden dem Solipsismus entgegenstehen. Ich könnte die «äußeren» Bereiche meines Selbst untersuchen und finden, daß es gewissen Gesetzen gehorcht, denselben Gesetzen, die gemäß der Traum-Lehrbücher für das gelten, was sie das physikalische Weltall nennen. Der äußere
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Bereich wäre dann viel größer als der innere. Er enthielte nicht nur mehr Gedanken, sondern wäre auch komplexer, vielfältiger und hätte um Größenordnungen mehr meßbare Variablen als der innere Bereich. Außerdem ist dieser äußere Bereich nach den Methoden Galileis der wissenschaftlichen Forschung zugänglich. Weil ich jetzt gezwungen wurde, diesen Bereich als Teil von mir selbst zu sehen, kann der Solipsismus gegen die Gültigkeit einer solchen Untersuchung nichts ausrichten, die jetzt als nicht mehr als eine Form der Introspektion definiert ist. Der Solipsismus nimmt an, man könne durch Introspektion Wissen über sich selbst erlangen. Er kann nicht behaupten, daß die untersuchten Größen und Vorgänge unwirklich sind, denn die Wirklichkeit des Selbst ist ja eines seiner Grundpostulate. Der Solipsismus zerstört sich also selbst, wenn er ernstgenommen wird. Aufgrund dieser Überlegung können wir auf den Solipsismus und alle verwandten Theorien verzichten. Sie sind alle unhaltbar. Wir können uns beruhigt weiter an den Realismus des gesunden Menschenverstands halten und mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden nach Erklärungen suchen. Doch nun stehen wir fortwährend vor der Entscheidung, ob Dinge, auf die sich rivalisierende Erklärungen beziehen, wirklich sind oder nicht. Die Entscheidung, sie seien nicht wirklich – wie wir sie im Fall der «Engeltheorie» der Planetenbewegung fällten –, bedeutet, daß wir die entsprechende Erklärung zurückweisen. Wenn wir nach Erklärungen suchen und sie beurteilen, brauchen wir mehr als nur eine Widerlegung des Solipsismus. Wir müssen Gründe anführen, warum wir die Existenz von Dingen, die in rivalisierenden Theorien auftreten, akzeptieren oder verneinen. Wir brauchen, in anderen Worten, ein Kriterium für Wirklichkeit. Wir sollten natürlich nicht erwarten, ein endgültiges Kriterium zu finden. Unsere Urteile über das, was wirklich ist oder nicht, hängen immer davon ab, welche Erklärungen uns zur Verfügung stehen. Nicht nur Erklärungen verändern sich, sondern auch unsere Kriterien und Gedanken darüber, was als Erklärung zählen sollte, verändern (verbessern) sich. Die Liste akzeptabler Erklärungen kann also nie abgeschlossen sein, und folglich muß auch die Liste akzeptabler Kriterien für die Wirklichkeit offen bleiben. Ich frage mich, was es ist, das uns in
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einer Erklärung, die wir aus irgendwelchen Gründen befriedigend finden, einiges als wirklich und anderes als Illusion oder Phantasie klassifizieren läßt. James Boswell erzählt in seiner Biographie Samuel Johnsons von einem Gespräch, das er mit Johnson über die solipsistische Theorie des Bischofs Berkeley führte, der die Nichtexistenz der materiellen Welt behauptete. Boswell bemerkte, die Theorie sei unwiderlegbar, obwohl keiner an sie glaube. Da stieß Dr. Johnson gegen einen großen Stein: «Ich widerlege sie so.» Wie Johnson damit zeigte, ist Berkeleys Leugnen der Existenz des Steins unvereinbar mit einer Erklärung für den Rückstoß, den Dr. Johnson fühlte. Der Solipsismus kann keine Erklärung dafür geben, warum dieses Experiment – oder irgendein Experiment – ein bestimmtes Ergebnis haben sollte und nicht ein anderes. Um die Wirkung zu erklären, die der Stein auf ihn hatte, mußte Johnson sich eine Meinung über das Wesen von Steinen bilden. Sind sie Teil einer autonomen äußeren Wirklichkeit oder Produkte seiner Phantasie? In dem Fall wäre «seine Phantasie» selbst ein riesiges, komplexes, autonomes Universum. Vor demselben Dilemma stünde der solipsistische Professor, wenn er Stellung zum Wesen seiner Zuhörerschaft nehmen müßte. In all diesen Fällen hätte der Weg direkt zum Realismus und zu Galileischer Rationalität geführt, wenn die eigene Einstellung als mögliche Erklärung der Welt ernstgenommen worden wäre. Aber Dr. Johnsons Gedanke widerlegt nicht nur den Solipsismus, sondern veranschaulicht auch das Kriterium für Wirklichkeit, wie es die Naturwissenschaft verwendet. Ein Etwas, das zurückstoßen kann, existiert. «Zurückstoßen» bedeutet hier nicht notwendig, daß der betreffende Körper reagiert, wenn er getreten wird. Das, was wir treten, muß lediglich auf eine Weise reagieren, die eine unabhängige Erklärung erfordert. Galilei beispielsweise konnte nicht die Planeten beeinflussen, wohl aber ihr Licht. Es entsprach dem Tritt gegen den Stein, wenn er das Licht durch die Linsen seines Teleskops und seiner Augen fallen ließ. Dieses Licht reagierte darauf, indem es seine Netzhaut «zurückstieß». Aus diesem Rückstoß konnte Galilei nicht nur schließen, daß das Licht wirklich war, sondern auch, daß die zur Erklärung der ankom-
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menden Bilder nötigen heliozentrischen Planetenbewegungen wirklich waren. Auch Dr. Johnson stieß übrigens nicht direkt gegen den Stein. Der Dr. Johnson, der das Experiment durchführte, war ein Bewußtsein, und dieses Bewußtsein «stieß» nur einige Nerven an, die Nervensignale durch andere Nerven an Muskeln weiterleiteten, die seinen Fuß gegen den Stein stoßen ließen. Kurz danach nahm Dr. Johnson einen «Rückstoß» wahr, der, wenn auch nur mittelbar, von dem Stein kam, nachdem der Stoß in seinem Schuh und dann in seiner Haut einen Druck und in seinen Nerven elektrische Impulse ausgelöst hatte und so weiter. Das Bewußtsein des Dr. Johnson «stieß» genau wie das Galileis und das eines jeden anderen Menschen Nerven an und wurde von Nerven «zurückgestoßen», und es leitete die Existenz und die Eigenschaften der Wirklichkeit allein aus diesen Wechselwirkungen her. Was Dr. Johnson über die Wirklichkeit herleiten konnte, hing davon ab, wie er das Geschehen am besten erklären konnte. Für ihn waren die Wirkungen des Steinstoßes unabhängig von ihm, denn der Rückstoß hing vom Stein ab, und ziemlich kompliziert. Deshalb gehört zur realistischen Erklärung dafür, warum der Stein die Empfindung vermittelt, zurückzustoßen, eine komplizierte Geschichte über etwas, was autonom ist. Tatsächlich ist jede Erklärung, die die Erscheinung des Fußstoßens erklärt, notwendigerweise eine «komplizierte Geschichte über etwas, was autonom ist». Es muß eigentlich die Geschichte des Steins sein. Der Solipsist würde es einen Traum-Stein nennen, aber davon abgesehen stimmt das Drehbuch für die Geschichte des Solipsisten mit dem des Realisten überein. Unsere Erörterung der Schatten und paralleler Universen drehte sich um die Frage, was existiert und was nicht, und natürlich auch darum, was als Existenzbeweis zählen kann und was nicht. Wir wählten Dr. Johnsons Kriterium. Betrachten wir wieder den Punkt X auf dem Schirm, der beleuchtet ist, wenn nur zwei Schlitze offen sind, aber dunkel wird, wenn zwei weitere Schlitze geöffnet werden. Ich nannte den Gedanken «unausweichlich», daß «etwas durch das zweite Paar Schlitze kommen muß, das das Licht vom ersten Paar hindert, X zu erreichen». Der Schluß ist nicht logisch unausweichlich, denn wenn wir nicht nach Erklärungen suchten, könnten wir einfach sagen, die Photonen, die wir
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sehen, verhielten sich so, als ob sie etwas abgelenkt hätten, das durch die anderen Schlitze hindurchgegangen sei, aber tatsächlich sei nichts da. Ähnlich könnte Dr. Johnson gesagt haben, sein Fuß sei zurückgeprallt, als ob da ein Stein gewesen sei, aber tatsächlich sei dort nichts gewesen. Aber wenn es darum geht, die Bewegung der Photonen zu erklären, müssen wir es machen wie Dr. Johnson. Wir müssen die methodologische Regel aufstellen, daß es ein Existenzbeweis ist, wenn etwas sich verhält, als ob es existiert, indem es zurückstößt. Schattenphotonen stoßen zurück, indem sie mit den Photonen interferieren, die wir sehen. Deshalb gibt es schattenhafte Photonen. Wir fühlen nicht, daß wir in vielen Kopien existieren. Auch die Inquisition fühlte nicht, wie sich die Erde unter ihren Füßen bewegte. Aber sie bewegt sich doch! Man bedenke, wie es sich anfühlen würde, wenn es uns in mehrfacher Ausfertigung geben würde und wir nur durch die nicht wahrnehmbaren kleinen Wirkungen der Quanteninterferenz wechselwirken könnten. So ging Galilei vor, als er untersuchte, wie sich die Erde für uns anfühlen würde, wenn sie sich entsprechend der heliozentrischen Theorie bewegte. Er entdeckte, daß die Bewegung nicht wahrnehmbar sein würde. Aber vielleicht geht es nicht um «Wahrnehmbarkeit». Weder die Bewegung der Erde noch das Vorliegen paralleler Universen ist unmittelbar wahrnehmbar. Doch beide Dinge sind in dem Sinn wahrnehmbar, daß sie wahrnehmbar «zurückstoßen», wenn wir sie durch wissenschaftliche Instrumente betrachten. Wir können ein Foucault-Pendel in einer Ebene schwingen sehen, die sich allmählich zu drehen scheint, und so die Rotation der Erde darunter anzeigt. Und wir können Photonen entdecken, die durch Interferenz mit ihren Entsprechungen in anderen Universen abgelenkt wurden. Es ist sozusagen nur ein Zufall der Evolution, daß die Sinne, mit denen wir geboren werden, nicht dazu geschaffen sind, solche Dinge «unmittelbar» zu spüren. Nicht die Wucht des Rückstoßes macht also die Theorie zwingend, daß etwas existiert, sondern die Rolle, die das in den Erklärungen spielt, die eine solche Theorie liefert. Wir haben Beispiele aus der Physik angeführt, bei denen uns ganz winzige «Stöße» zu gewaltigen Schlüssen über die Wirklichkeit veranlaßten, weil es keine andere Erklärung gab.
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Ein wichtiges Kriterium dafür, daß etwas wirklich ist, ist die Komplexität. Wir haben einfachere Erklärungen lieber als kompliziertere und Erklärungen, die Einzelheiten und Komplexität erklären können, lieber als solche, die nur einfache Aspekte der Erscheinungen erklären. Nach Dr. Johnsons Kriterium sollen wir jene komplexen Größen für wirklich halten, die unsere Erklärungen komplizieren würden, wenn wir sie nicht für wirklich halten. Wir müssen beispielsweise die Planeten für wirklich halten, weil wir sonst gezwungen wären, komplizierte Erklärungen für ein kosmisches Planetarium oder veränderte Naturgesetze oder Engel zu finden. Die beobachtete Komplexität einer Größe ist also ein Hinweis darauf, daß diese Größe wirklich ist. Sie ist aber kein ausreichender Beweis. Wir halten unser Spiegelbild nicht für einen wirklichen Menschen. Natürlich sind Illusionen selbst wirkliche physikalische Prozesse. Aber wir brauchen die illusorischen Größen, die sie uns zeigen, nicht für wirklich zu halten, weil sie ihre Komplexität von anderer Seite beziehen. Sie sind nicht autonom komplex. Warum akzeptieren wir die «Spiegel»theorie der Reflektionen, lehnen aber die «Planetarium»theorie des Sonnensystems ab? Weil wir, wenn uns eine einfache Erklärung für die Wirkung von Spiegeln gegeben wird, verstehen können, daß nichts von dem, was wir in ihnen sehen, wirklich hinter ihnen liegt. Wir brauchen keine weitere Erklärung, weil die Spiegelungen zwar komplex sind, aber nicht autonom. Ihre Komplexität wird lediglich von unserer Seite des Spiegels geborgt. Das ist bei Planeten anders. Die Theorie, daß das kosmische Planetarium wirklich ist und nichts dahinter liegt, macht das Problem nur schlimmer. Denn wenn wir sie akzeptieren würden, müßten wir nicht nur fragen, wie das Sonnensystem funktioniert, sondern wir müßten zunächst einmal herausfinden, wie das Planetarium funktioniert, und erst dann danach fragen, wie das Sonnensystem, das es darstellt, beschaffen ist. Wir könnten diese letzte Frage nicht vermeiden, und sie ist letztlich eine Wiederholung dessen, was wir eigentlich beantworten wollten. Wir können also Dr. Johnsons Kriterium umformulieren. Wenn eine Größe nach der einfachsten Erklärung komplex und autonom ist, dann ist sie wirklich.
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Die Theorie der Komplexität ist der Zweig der Computerwissenschaft, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Ressourcen (Zeit, Gedächtnis, Energie) nötig sind, um bestimmte Klassen von Berechnungen durchzuführen. Die Komplexität einer Information wird durch das Minimum an Ressourcen (wie Programmlänge, Zahl der Rechenschritte, nötiger Speicherraum) definiert, die ein Computer braucht, wenn er diese Information reproduzieren sollte. Es sind mehrere Definitionen von Komplexität in Gebrauch, die alle ihren eigenen Anwendungsbereich haben. Die Definitionen selbst brauchen uns hier nicht zu beschäftigen, aber sie erwachsen alle aus dem Gedanken, daß ein Prozeß, der uns schließlich die Ergebnisse einer umfassenden Berechnung vermittelt, komplex ist. Auf welche Weise uns die Bewegung der Planeten «mit den Ergebnissen einer umfassenden Berechnung versorgt», läßt sich gut an einem Planetarium veranschaulichen. Man betrachte ein modernes Planetarium, das von einem Computer gesteuert wird, der die Bilder genau berechnet, die die Projektoren zeigen sollen, wenn sie den Nachthimmel darstellen. Um das authentisch zu tun, muß der Computer die Formeln der astronomischen Theorien verwenden. Die Berechnung ist die gleiche, die nötig ist, um herauszufinden, wie eine Sternwarte ihre Fernrohre für die Beobachtung von Planeten und Sternen ausrichten sollte. Wenn wir sagen, das Erscheinungsbild des Planetariums sei «so komplex» wie das des dargestellten Nachthimmels, meinen wir damit, daß diese beiden Berechnungen größtenteils identisch sind. Wir können Dr. Johnsons Kriterium also durch hypothetische Berechnungen wiedergeben: Wenn umfassende Berechnungen nötig sind, damit wir die Illusion haben, eine bestimmte Größe sei wirklich, dann ist diese Größe wirklich. Falls Dr. Johnsons Bein immer dann zurückprallt, wenn er es ausstreckt, müßte die Quelle seiner Täuschung nur eine einfache Rechnung durchführen, um zu bestimmen, wann sie ihm das Gefühl vermitteln soll, zurückgestoßen zu werden. Um aber zu reproduzieren, was Dr. Johnson in einem realistischen Experiment erlebte, müßte man berücksichtigen, wo der Stein ist und ob Dr. Johnsons Fuß ihn treffen oder verpassen wird; ferner wie schwer, fest oder verankert er ist und ob ihn
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gerade jemand anders aus dem Weg gestoßen hat und so weiter – eine enorme Berechnung. Physiker, die gern an der Weltsicht festhalten möchten, daß es nur ein einziges Universum gibt, sagen gelegentlich zur Erklärung der Quanteninterferenzerscheinungen: «Es gibt keine schattenhaften Photonen, und nichts übermittelt die Wirkungen der fernen Schlitze an das Photon, das wir sehen. Eine Art Fernwirkung – wie in Newtons Gravitationsgesetz – läßt die Photonen ihren Lauf ändern, wenn in der Ferne ein Schlitz geöffnet wird.» Aber an dieser mutmaßlichen Fernwirkung ist nichts «einfach». Das entsprechende Naturgesetz würde sagen müssen, daß ein Photon von fernen Objekten genau so beeinflußt wird, als ob etwas durch die fernen Schlitze ginge und an den fernen Spiegeln abprallte, so daß es das Photon zur rechten Zeit und am Ort abfängt. Um zu berechnen, wie ein Photon auf diese fernen Dinge reagiert, müßte man genausoviel rechnen, wie wenn man die Geschichte sehr vieler schattenhafter Photonen berechnen wollte. Die Berechnung müßte sich durch die Geschichte jedes schattenhaften Photons hindurcharbeiten: Hier prallte es ab und dort wird es aufgehalten und so weiter. Genau wie zuvor mit Dr. Johnsons Stein und wie mit Galileis Planeten steckt in jeder Erklärung der Beobachtungstatsachen eine Geschichte, die eigentlich von schattenhaften Photonen handelt. Weil die Komplexität dieser Geschichte irreduzierbar ist, läßt sich die Existenz der Objekte philosophisch nicht leugnen. Der Physiker David Böhm hat eine Theorie aufgestellt, deren Vorhersagen mit denen der Quantentheorie übereinstimmen, in der mit jedem Photon eine Art Welle einhergeht, die die Schranke überwindet, durch die Schlitze geht und mit dem von uns beobachteten Photon interferiert. Böhms Theorie wird oft als eine Variante der Quantentheorie mit einem einzigen Universum dargestellt. Aber nach dem Kriterium von Dr. Johnson ist das ein Fehler. Um herauszufinden, was Böhms unsichtbare Welle tun wird, sind dieselben Berechnungen nötig, als ob man herausfinden wollte, was Aberbillionen schattenhafter Photonen tun werden. Einige Teile der Welle beschreiben, wie wir, die Beobachter, die Photonen entdecken und auf sie reagieren. Andere Teile der Welle beschreiben andere Fassungen von uns, die auf Photonen in anderen
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Orten reagieren. Böhms bescheidene Namensgebung – er bezeichnet den größten Teil der Wirklichkeit als «Welle» – ändert nichts an der Tatsache, daß die Wirklichkeit nach seiner Theorie aus großen Mengen komplexer Größen besteht, wobei jede Größe andere in ihrer eigenen Menge direkt, die in anderen Mengen aber nur indirekt wahrnehmen kann. Diese Mengen von Größen sind, anders gesagt, parallele Universen. Wir haben Galileis neue Vorstellung von der Realität und unseren Zugang zu ihr als eine große methodologische Entdeckung beschrieben. Sie ermöglichte uns eine neue zuverlässige Form des Schließens, die Beobachtungen einbezieht. Das ist in der Tat ein wichtiger Aspekt seiner Entdeckung. Wissenschaftliches Schließen ist nicht in dem Sinn zuverlässig, daß es den Bestand einer Theorie sichert, sondern in dem Sinn, daß wir uns auf sie verlassen können. Denn wir tun gut daran, Lösungen für Probleme zu suchen und nicht Quellen für endgültige Rechtfertigungen. Aber die Entdeckung Galileis hat noch eine andere Seite, die viel seltener erkannt wird. Die Verläßlichkeit wissenschaftlichen Denkens ist nicht nur etwas, das uns zukommt, unserem Wissen und unserer Beziehung zur Realität. Sie ist auch eine neue Erkenntnis über die physikalische Realität selbst, eine Tatsache, die Galilei beschrieb, indem er sagte, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben. Es ist unmöglich, auch nur die Spur einer Theorie aus der Natur herauszulesen. Aber in dieser Natur sind Beobachtungsergebnisse vorhanden, genauer gesagt existiert eine Wirklichkeit, die uns Ergebnisse liefert, wenn wir sie richtig befragen. Wenn wir eine Spur von einer Theorie oder vielmehr von mehreren rivalisierenden Theorien haben, ermöglichen uns die Beobachtungsergebnisse, zwischen ihnen zu entscheiden. Jeder, der sich die Mühe macht, kann nach ihnen suchen, sie finden und sie verbessern. Galileis Universum ist gesättigt mit Beobachtungsergebnissen. Copernicus hatte in Polen Belege für seine heliozentrische Theorie gesammelt. Tycho Brahe hatte sie in Dänemark und Kepler in Deutschland gefunden. Und als Galilei sein eigenes Teleskop zum italienischen Himmel richtete, verschaffte er sich eine noch bessere Kenntnis derselben Beobachtungsergebnisse. Jeder Teil der Erdoberfläche wird seit Milliar-
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den Jahren in jeder klaren Nacht mit Daten über die Fakten und Gesetze der Astronomie überflutet. Dasselbe gilt für andere wissenschaftliche Theorien. Je fundamentaler eine Theorie ist, um so umfassender sind die Beobachtungen, die für sie eine Rolle spielen, und das nicht nur auf der Erde, sondern überall im Multiversum. Die physikalische Wirklichkeit ist also in mehrfacher Weise selbstähnlich. Bei all der stupenden Komplexität von Universum und Multiversum wiederholen sich doch einige Muster endlos. Erde und Jupiter sind äußerst unähnliche Planeten, aber sie laufen beide auf Ellipsen und bestehen, genau wie ihre Entsprechungen in parallelen Universen, beide aus denselben etwa hundert chemischen Elementen. Die Beobachtungsergebnisse, die Galilei und seine Zeitgenossen so beeindruckten, finden sich auch auf anderen Planeten und in fernen Galaxien. Die Beobachtungsergebnisse, die in diesem Augenblick von Physikern und Astronomen untersucht werden, wären auch vor einer Milliarde Jahren verfügbar gewesen und werden noch in einer Milliarde Jahren verfügbar sein. Schon die Existenz allgemeiner, erklärender Theorien bedeutet, daß verschiedenartige Objekte und Ereignisse physikalisch irgendwie ähnlich sind. Das Licht, das uns von einer fernen Galaxie erreicht, ist schließlich nur Licht, aber es sieht für uns aus wie eine Galaxie. Die Realität enthält also nicht nur Beobachtungsergebnisse, sondern auch die Mittel, sie zu verstehen. Es gibt in der physikalischen Wirklichkeit mathematische Zeichen. Auch wenn wir Menschen sie schaffen, sind sie nicht weniger physikalisch. In diesen Zeichen – in unseren Planetarien, Büchern, Filmen, Computerspeichern und in unseren Gehirnen – gibt es Bilder der physikalischen Wirklichkeit im Großen, und zwar nicht nur vom Erscheinungsbild der Dinge, sondern von der Struktur der Wirklichkeit. Es gibt reduktive und emergente Gesetze und Erklärungen. Es gibt Beschreibungen und Erklärungen des Urknalls und subnuklearer Teilchen und Vorgänge; es gibt mathematische Abstraktionen, Dichtung, Kunst, Moral, schattenhafte Photonen, parallele Universen. In dem Maß, in dem diese Symbole, Bilder und Theorien wahr sind, also den konkreten oder abstrakten Dingen entsprechen, auf die sie sich beziehen, geben sie der Realität eine neue Art von Selbstähnlichkeit, eben die Selbstähnlichkeit, die wir Wissen nennen. Wie gelangen wir also zu unse-
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rem Wissen, das die Grundvoraussetzung dafür ist, die Struktur der Wirklichkeit in unserem umfassenden Sinn zu verstehen? Wir haben gesehen, daß es eine autonome externe Realität gibt, und wir haben erörtert, wie wir richtiges Wissen über sie erlangen können. Die Selbstähnlichkeit der physikalischen Welt ist eine weitere wichtige Voraussetzung. Sie macht die Wirklichkeit «berechenbar». Diese Eigenschaft wurde nicht von Physikern erkannt und untersucht, sondern von Mathematikern und Computerwissenschaftlern. Sie nannten sie Universalität. Die Universalität der Berechnung, sie ist unser nächstes Thema.
5 Virtuelle Realität Es ist eine Binsenwahrheit, daß Computer heute allgegenwärtig sind. Die Theorie der Berechnung, die die Grundlage für den Bau aller Arten von Rechenmaschinen bildet, wurde jedoch traditionell im Rahmen der reinen Mathematik erörtert. Das trifft aber nicht ins Schwarze. Computer sind physikalische Objekte und Berechnungen sind physikalische Vorgänge. Was Computer können oder nicht können, wird nicht durch reine Mathematik bestimmt, sondern allein durch die Naturgesetze. Einer der wichtigsten Begriffe der Theorie der Berechnung ist die Universalität. Ein universeller Computer wird gewöhnlich als abstrakte Maschine definiert, die die Berechnungen jeder anderen abstrakten Maschine einer bestimmten wohldefinierten Klasse nachahmen kann. Die Bedeutung der Universalität liegt jedoch in der Tatsache, daß wir universelle Computer oder wenigstens gute Näherungen bauen können und daß wir sie dazu benutzen können, nicht nur unser Verhalten zu berechnen, sondern auch das interessanter physikalischer und abstrakter Größen. Daß dies möglich ist, gehört zu der im vorigen Kapitel erwähnten Selbstähnlichkeit der physikalischen Wirklichkeit. Die bekannteste physikalische Manifestation der Universalität ist ein Bereich der Technologie, der seit Jahrzehnten diskutiert wird, aber erst jetzt wirklich aufblüht, nämlich die virtuelle Realität. Damit ist jede Situation gemeint, in der einem Menschen künstlich die Erfahrung vermittelt wird, in einer bestimmten Umwelt zu sein. So erzeugt beispielsweise ein Flugsimulator – eine Maschine, die Piloten die Erfahrung vermittelt, ein Flugzeug zu steuern, ohne daß sie den Erdboden verlassen müssen – eine Art virtuelle Realität.
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Ein Flugsimulator oder genauer der Computer, der ihn steuert, kann mit den Kennzeichen eines wirklichen Flugzeugs programmiert werden. Das Programm kann auch Umweltbedingungen wie das Wetter und die Lage der Flughäfen vorgeben. Wenn der Pilot den Flug von einem Flughafen zum anderen übt, tauchen im Simulator die entsprechenden Bilder auf dem Bildschirm auf, werden die entsprechenden Rückstöße und Beschleunigungen spürbar und die entsprechenden Daten auf den Instrumenten angezeigt. Der Computer kann auch die Auswirkungen von Turbulenzen, Maschinenschäden und absichtlichen Veränderungen am Flugzeug vortäuschen, also dem Benutzer viele Flugerfahrungen vermitteln, darunter einige, die mit einem wirklichen Flugzeug unmöglich wären. Beispielsweise könnte ein simuliertes Flugzeug Dinge vollbringen, die die Naturgesetze verletzen, etwa durch einen Berg hindurch fliegen, schneller als das Licht sein oder ohne Treibstoff auskommen. Da wir unsere Umwelt durch unsere Sinne erleben, muß alles, was eine virtuelle Realität erzeugt, auch unsere Sinne beeinflussen können und ihre normale Funktion übertönen, damit wir anstelle unserer tatsächlichen die vorgegebene Umwelt erfahren können. Dies erinnert vielleicht an Gedanken aus Aldous Huxleys Schöne neue Welt, aber natürlich gibt es schon seit Tausenden von Jahren Verfahren, die menschliche Sinneserfahrung künstlich zu beeinflussen. Alle Verfahren der bildenden Kunst und auch die Verständigung über große Entfernungen hinweg lassen sich als eine Erweiterung normaler Sinnesfunktionen sehen. Selbst prähistorische Höhlengemälde vermittelten dem Betrachter ein wenig von der Erfahrung, Tiere zu sehen, die nicht wirklich da sind. Heute gelingt das mit Hilfe von Filmen und Tonbandaufnahmen viel genauer, auch wenn die Wiedergabe nicht mit dem Original verwechselt werden kann. Bilderzeuger steht hier für jedes Gerät, das, wie ein Planetarium, eine Hi-Fi-Anlage oder ein Gewürzregal bei den Benutzern erkennbare Sinneseindrücke erzeugen kann. Alle so erzeugten Bilder, Klänge und Geschmackseindrücke lassen sich als «Bilder» bezeichnen. Um ein olfaktorisches Bild zu erzeugen, öffnet man ein Gewürzglas, für ein akustisches Bild benutzt man den CD-Player und bewegte visuelle Bilder erhält man unter anderem durch das Fernsehen. Jeder Bilderzeuger erzeugt jeden-
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falls ansatzweise eine virtuelle Realität, aber gewöhnlich sprechen wir nur dann von «virtueller Realität», wenn der Einfluß auf die Sinne der Rezipienten groß ist und es zwischen dem Rezipienten und einigen der simulierten Größen viel Wechselwirkung («Stoß» und «Rückstoß») gibt. Auch Videospiele ermöglichen eine Wechselwirkung zwischen dem Spieler und den Dingen, mit denen er spielt, aber sie sprechen gewöhnlich nur einen kleinen Bruchteil der Sinne des Spielers an. Die simulierte «Umwelt» besteht aus Bildern auf einem kleinen Bildschirm, dem Monitor, und einem Teil der Geräusche, die der Spieler hört. Aber es gibt auch schon Videospiele, von denen sich mit mehr Berechtigung sagen läßt, sie simulierten die Wirklichkeit. Gewöhnlich trägt der Spieler einen Helm mit Kopfhörern und zwei in Augenhöhe angebrachten Bildschirmen und mit elektrisch kontrollierten Effektoren (Druckerzeugern) gefütterte Datenhandschuhe. Sensorengurte spüren die Bewegung der Körperteile des Spielers, besonders des Kopfes auf. Die Information über das, was die Benutzer tun, wird an einen Computer weitergeleitet, der berechnet, was der Benutzer sehen, hören und fühlen sollte und darauf reagiert, indem er die geeigneten Signale an die Bilderzeuger schickt. Wenn der Benutzer nach rechts oder links schaut, schwenken die Bilder auf den beiden Bildschirmen genau wie ein wirkliches Gesichtsfeld und zeigen, was sich in der simulierten Welt links oder rechts von dem Benutzer befindet. Der Benutzer kann in das Bild hineinreichen und ein simuliertes Objekt anfassen, das sich dann ganz wirklich anfühlt, weil die Effektoren im Handschuh «taktiles Feedback» liefern, das der Position und Orientierung entspricht, in der das Objekt gesehen wird. Solche Wirklichkeitssimulatoren existieren zur Zeit vor allem in Form von Spielen und Fahrzeugsimulatoren, aber für die nahe Zukunft sind eine Unmenge neuer Verwendungen geplant. Für Architekten wird es bald selbstverständlich sein, Prototypen von Gebäuden in virtueller Realität zu erstellen, in denen die Klienten umhergehen und Veränderungen ausprobieren können, wenn sie sich noch relativ einfach verwirklichen lassen. Käufer können in der virtuellen Realität in Supermärkten umhergehen (oder auch fliegen), ohne je das Haus zu verlassen und ohne je Massen anderer Kunden zu begegnen oder Musik anhören zu
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Abb. 13 Virtuelle Realität, wie sie heute erzeugt wird.
müssen, die ihnen nicht gefällt. Sie werden auch im simulierten Supermarkt nicht unbedingt allein sein, denn in der virtuellen Realität können beliebig viele Menschen gleichzeitig einkaufen, wobei jeder mit Bildern der anderen Menschen und des Supermarktes versehen wird, ohne daß einer von ihnen das Haus verlassen muß. Konzerte und Konferenzen werden ohne Tagungsräume und Konzertsäle auskommen. Die Organisatoren würden nicht nur die Kosten für das Auditorium und für Unterbringung und Fahrt sparen, sondern alle Teilnehmer kämen darüber hinaus in den Genuß, in der Mitte der ersten Reihe zu sitzen. Die Inquisition hätte in der virtuellen Realität vermutlich die vollkommene Illustration der Sinnestäuschung und eine Bestätigung ihrer Einwände gegen die wissenschaftliche Vernunft gesehen. Was würde passieren, wenn ein Pilot in einer Flugsimulation versuchte, die Wirklichkeit nach Art von Dr. Johnson zu überprüfen? Obwohl es das simulierte Flugzeug und seine Umwelt nicht wirklich gibt, erlebt der Pilot die Stöße so, als ob sie wirklich wären. Der Pilot kann Gas geben, hören, wie die Motoren aufheulen, fühlen, wie er durch den Antrieb in seinen Sitz gepreßt wird, und durch das Fenster sehen, wie sie virbrieren und heiße Gase ausstossen, obwohl es überhaupt keine Motoren gibt. Der Pilot erlebt vielleicht, wie das Flugzeug durch einen Gewittersturm fliegt, hört den Donner und sieht, wie der Regen gegen die Windschutzscheibe peitscht, obwohl nichts von diesen Dingen in Wirklichkeit passiert.
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Außerhalb der Pilotenkanzel gibt es lediglich einen Computer, einige hydraulische Schalthebel, Bildschirme, Lautsprecher und einen vollkommen trockenen, ruhenden Raum. Doch virtuelle Realität ist kein Argument gegen Dr. Johnsons Widerlegung des Solipsismus. Seine Unterhaltung mit Boswell hätte sich ebensogut in einem Flugsimulator abspielen können. «Ich widerlege es so», könnte er gesagt haben, indem er Gas gab und den simulierten Rückstoß fühlte, obwohl es gar keinen Motor gibt. Was zurückstößt, ist letztlich ein Computer, der einen Teil eines Programms ablaufen läßt, das berechnet, was ein Motor tun würde, wenn er «angestoßen» würde. Aber diese Berechnungen, die außerhalb von Dr. Johnsons Kopf durchgeführt werden, reagieren genauso komplex und autonom auf das Anlassen des Motors wie ein Motor. Deshalb bestehen sie den Wirklichkeitstest, und das zu Recht, denn diese Berechnungen sind physikalische Vorgänge, die sich im Computer abspielen. Der Computer wiederum ist, genau wie ein Motor, ein gewöhnlicher physikalischer Körper und völlig wirklich. Die Tatsache, daß er kein wirklicher Motor ist, spielt keine Rolle. Schließlich muß nicht alles, was wirklich ist, leicht zu identifizieren sein. Es hätte in Dr. Johnsons ursprünglichem Beweis keine Rolle gespielt, wenn das, was ein Stein zu sein schien, sich später als Tier in der Verkleidung eines Steins herausgestellt hätte oder als eine holographische Projektion, hinter der sich ein Gartenzwerg versteckte. Solange die Wirklichkeit komplex und autonom war, hatte Dr. Johnson recht, wenn er schloß, daß sie nicht aus ihm allein besteht. Für jene von uns, deren Weltanschauung auf der Naturwissenschaft beruht, stellt die Verwirklichung der virtuellen Realität womöglich eine eher unangenehme Tatsache dar. Man überlege sich nur, was ein solcher Simulator physikalisch darstellt. Er ist natürlich ein physikalisches Objekt, das denselben physikalischen Gesetzen gehorcht wie alle anderen Körper. Aber er kann so tun als ob, also etwas «vortäuschen» und vorgeben, ein ganz anderes Objekt zu sein, das falschen Gesetzen gehorcht. Mehr noch, er kann dies auf komplexe und autonome Art vortäuschen. Wenn der Benutzer des Simulators ihn stößt, um zu prüfen, ob er wirklich das ist, was er vorgibt zu sein, stößt er zurück, als ob er wirklich das andere, nichtexistente Ding wäre und als ob die falschen
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Gesetze tatsächlich gelten. Wenn wir nur aus der Beobachtung solcher Dinge Physik lernten, würden wir falsche Gesetze herleiten. Oder etwa doch nicht? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir das Phänomen der virtuellen Realität genauer untersuchen. Oberflächlich gesehen ist die virtuelle Realität ein Zeichen dafür, wie grob die menschlichen Fähigkeiten sind; daß sie möglich ist, macht uns auf die im Menschen liegenden Grenzen, die physikalische Welt zu verstehen, aufmerksam. Die virtuelle Realität fällt anscheinend in dieselbe philosophische Kategorie wie Illusionen, Irrwege und Zufälle, alles Phänomene, die uns etwas als wirklich vortäuschen, aber tatsächlich in die Irre führen. Wie wir sahen, läßt das wissenschaftliche Weltbild die Existenz von höchst irreführenden Phänomenen zu. Es ist par excellence die Weltanschauung, in der sowohl menschliche Fehlbarkeit als auch äußere Fehlerquellen ihren Platz haben. Trotzdem sind irreführende Phänomene grundsätzlich unwillkommen. Sie sind Dinge, die wir zu vermeiden versuchen und die wir lieber missen würden. Aber die virtuelle Realität gehört nicht in diese Kategorie. Die Existenz der virtuellen Realität ist, wie wir sehen werden, kein Anzeichen dafür, daß der Fähigkeit des Menschen, die Welt zu verstehen, Grenzen gesetzt sind, sondern sie ist im Gegenteil ein Anzeichen dafür, daß diese Fähigkeit ihrem Wesen nach unbegrenzt ist. Sie ist keine durch die zufälligen Eigenschaften der menschlichen Sinnesorgane bedingte Anomalie, sondern eine zentrale und grundlegende Eigenschaft des Multiversums. Und die Tatsache, daß das Multiversum diese Eigenschaft hat, ist für die Naturwissenschaft wesentlich. Sie erst ermöglicht Naturwissenschaft. Sie ist keine Eigenschaft, die «wir gerne missen würden». Ohne sie könnten wir nicht leben. Diese Behauptungen klingen hochtrabend, wenn man sie in Beziehung zu einem schlichten Flugsimulator oder einem Videospiel denkt. Aber in der Ordnung der Dinge nimmt nicht ein bestimmter Wirklichkeitssimulator einen zentralen Raum ein, sondern das Phänomen der virtuellen Realität. Ich möchte es deshalb auch so allgemein wie möglich betrachten. Was sind die letzten Grenzen der virtuellen Realität, falls es sie gibt? Welche Welten lassen sich im Prinzip simulieren und mit welcher Genauigkeit? Wenn ich «im Prinzip» sage, meine ich, daß wir vorübergehende Begrenzungen der Technologie vernachlässigen, aber
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alle Grenzen berücksichtigen, die Grundsätze der Logik und der Physik auferlegen könnten. Nach meiner Definition wird virtuelle Realität von einem Gerät erzeugt, das dem Rezipienten Erfahrungen einer wirklichen oder vorgestellten Umwelt vermittelt, die außerhalb der Sinne des Benutzers ist oder zu sein scheint. Ich nenne diese Erfahrungen extern. Wir stellen externen Erfahrungen interne Erfahrungen gegenüber, etwa die Nervosität, die man bei seiner ersten eigenverantwortlichen Landung empfindet, oder die Überraschung, wenn plötzlich an einem klaren blauen Himmel ein Gewitter auftaucht. Ein Wirklichkeitssimulator vermittelt dem Rezipienten indirekt sowohl interne als auch externe Erfahrungen, aber er läßt sich nicht so programmieren, daß er eine bestimmte interne Erfahrung simuliert. So macht ein Pilot, der denselben Flug im Simulator zweimal durchführt, jedesmal nahezu dieselben Erfahrungen, aber er wird bei der zweiten Gelegenheit vermutlich weniger überrascht sein, wenn ein Gewitter naht. Natürlich reagiert der Pilot beim zweiten Mal wohl auch anders auf das Gewitter als beim ersten Mal, und das beeinflußt die nachfolgenden externen Erfahrungen. Entscheidend ist, daß man die Maschine so programmieren kann, daß sie auf Wunsch ein Gewitter im Gesichtsfeld auftauchen läßt, nicht aber, daß der Pilot daraufhin etwas Bestimmtes denkt. Man kann sich eine Technologie jenseits der virtuellen Realität vorstellen, die auch bestimmte interne Erfahrungen simuliert. Einige wenige interne Erfahrungen wie Stimmungen, die von gewissen Drogen induziert werden, lassen sich schon jetzt künstlich erzeugen, und zweifellos wird es in Zukunft möglich sein, dieses Repertoire zu erweitern. Aber ein Computer, der bestimmte vorgegebene interne Erfahrungen erzeugt, müßte im allgemeinen sowohl das normale Funktionieren im Kopf des Benutzers als auch seine Sinne übertönen können. Er würde den Benutzer also durch einen anderen Menschen ersetzen. Dadurch gehören solche Maschinen zu einer anderen Kategorie als die Simulatoren. Sie erfordern eine ganz andere Technologie und werfen ganz andere philosophische Fragen auf. Deswegen habe ich sie nicht in meine Definition der virtuellen Realität aufgenommen. Vielleicht wird man sie eines Tages «Persönlichkeits-Simulatoren» nennen.
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Abb. 14 Eine Klassifizierung von Erfahrungen. Der virtuellen Realität geht es um die künstliche Erzeugung logisch möglicher externer Erfahrungen.
Eine andere Erfahrung, die sich sicherlich nicht künstlich erzeugen läßt, ist eine logisch unmögliche Erfahrung. Ich sagte, daß ein Flugsimulator die Erfahrung eines physikalisch unmöglichen Flugs durch einen Berg vermitteln kann. Aber nichts kann einem die Erfahrung der Zerlegung der Zahl 181 in Primfaktoren vermitteln, denn da 181 eine Primzahl ist, ist das logisch unmöglich. Eine andere logisch unmögliche Erfahrung ist das Unbewußte, denn was unbewußt ist, kann nach Definition nicht erfahren werden. Nachdem logisch unmögliche Erfahrungen und interne Erfahrungen ausgeschlossen wurden, bleibt uns die ungeheuer große Klasse logisch möglicher externer Erfahrungen. Das sind Erfahrungen von Umwelten, die logisch möglich sind und physikalisch verwirklicht werden können oder auch nicht. Etwas ist physikalisch möglich, wenn es irgendwo im Multiversum, also zumindest in einigen Universen, existiert. Etwas ist physikalisch unmöglich, wenn es nirgendwo im Multiversum existiert. Definieren wir das Repertoire eines Simulators jetzt als die Menge realer oder imaginärer Umwelten, die er dem Benutzer erfahrbar machen kann. Meine Frage zu den letzten Grenzen der virtuellen Realität läßt sich dann so formulieren: Welche Zwänge – wenn überhaupt – erlegen die Naturgesetze den Repertoires der Simulatoren auf?
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Zur virtuellen Realität gehört immer die Erschaffung künstlicher Sinneseindrücke – die Bilderzeugung –, deshalb wollen wir dort beginnen. Welche Zwänge erlegen die Naturgesetze der Fähigkeit von Bilderzeugern auf, künstliche Bilder zu erschaffen, Einzelheiten wiederzugeben und den ganzen Bereich der Sinneseindrücke zu erfassen? Natürlich läßt sich die Genauigkeit heutiger Flugsimulatoren verbessern – beispielsweise durch die Verwendung von Bildschirmen mit höherer Auflösung. Aber könnten ein realistisches Flugzeug und seine Umwelt auch nur im Prinzip mit letzter Genauigkeit simuliert werden – also mit so viel Einzelheiten, wie die Sinne des Piloten sie wahrnehmen können? Was Töne angeht, ist diese Qualität von Hi-Fi-Systemen schon fast erreicht worden, und im Fall des Sehvermögens sind wir in Reichweite. Aber wie steht es mit den anderen Sinnen? Könnte man eine chemische Allzweck-Fabrik bauen, die augenblicklich jede Kombination von Millionen verschiedener Duftstoffe herstellen kann? Oder eine Maschine, die, wenn sie einem Gourmet in den Mund gelegt wird, den Geschmack und die Beschaffenheit jedes möglichen Gerichts vortäuscht, und die natürlich auch vor der Mahlzeit den Appetit anregt und nach der Mahlzeit körperliches Wohlbehagen verbreitet? Möglicherweise gehören die Schwierigkeiten bei der Herstellung solcher Maschinen in den Bereich der Technologie, aber es gibt auch andere Probleme: Nehmen wir an, der Pilot eines Flugsimulators steuere das simulierte Flugzeug mit großer Geschwindigkeit senkrecht nach oben und stelle dann die Motoren ab. Das Flugzeug sollte weiter steigen, bis sein Impuls Null ist, und dann immer rascher fallen. Die ganze Bewegung heißt freier Fall, obwohl das Flugzeug zunächst steigt, weil es nur dem Einfluß der Schwerkraft ausgesetzt ist. Wenn ein Flugzeug frei fällt, sind seine Insassen schwerelos und können wie Astronauten auf der Umlaufbahn in der Kabine schweben. Das Gewicht macht sich erst dann wieder bemerkbar, wenn eine nach oben gerichtete Kraft auf das Flugzeug wirkt, was schon bald entweder die Aerodynamik oder der unerbittliche Erdboden besorgen. In der Praxis simuliert man den freien Fall gewöhnlich, indem man das Flugzeug mit Antrieb auf einer parabolischen Bahn fliegen läßt, weil das die Bahn ist, auf der es fliegen würde,
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wenn weder Motorkraft noch Luftwiderstand wirken. In freifallenden Flugzeugen können Astronauten Schwerelosigkeit erleben, bevor sie in den Raum geschickt werden. Ein wirkliches Flugzeug kann einige Minuten lang frei fallen, weil es mehrere Kilometer hoch steigen und fallen kann, aber ein Flugsimulator auf dem Boden kann nur solange frei fallen, bis sein Trägersystem so weit wie möglich ausgefahren wurde und dann wieder zurückfährt. Flugsimulatoren lassen sich nicht zur Einübung der Schwerelosigkeit verwenden. Dazu braucht man wirkliche Flugzeuge. Könnte man diesen Mangel beheben, indem man Flugsimulatoren so ausrüstet, daß sie auf der Erde den freien Fall simulieren können, denn dann ließen sie sich auch als Simulatoren für die Raumfahrt verwenden? Das wäre nicht einfach, denn dabei stören die Naturgesetze. Die uns bekannte Physik verfügt über kein anderes Mittel, das Gewicht eines Körpers aufzuheben, als den freien Fall. Die einzige Möglichkeit, einen Flugsimulator in freien Fall zu versetzen, während er fest auf der Erde steht, wäre, irgendwie einen massereichen Körper, etwa einen anderen Planeten mit der Masse der Erde oder ein schwarzes Loch, darüber zu hängen. Das wäre vielleicht möglich (uns geht es hier ja nicht um praktische Anwendungen, sondern um das, was die Naturgesetze im Prinzip erlauben oder nicht). Doch könnte nicht auch ein wirkliches Flugzeug häufige, komplizierte Veränderungen der Stärke und Richtung der Schwere der Insassen erzeugen, indem es Manöver fliegt oder die Motoren an- und abstellt? Zur Simulation solcher Bewegungen müßte der massereiche Körper genauso oft bewegt werden, und wahrscheinlich setzt (wenn nichts anderes) die Lichtgeschwindigkeit eine absolute Grenze dafür, wie schnell das geschehen könnte. Um jedoch den freien Fall zu simulieren, müßte ein Flugsimulator einen Körper nicht wirklich schwerelos machen, sondern nur die Erfahrung der Schwerelosigkeit vermitteln, und um sie anzunähern, gibt es außer dem freien Fall mehrere Möglichkeiten. So trainieren Astronauten unter Wasser in Raumanzügen, die so gewichtet sind, daß sie keinen Auftrieb haben. Bei einem anderen Verfahren wird der Astronaut angeseilt; ein Computer steuert die Aufhängung so, daß Schwerelosigkeit nachgeahmt wird. Aber diese Verfahren sind kaum gleichwertig mit dem wirklichen Erlebnis. Wir werden ja von den Kräften in unserer Haut
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gehalten und können nicht anders, als sie zu fühlen. Zudem wird die durch die Sinnesorgane im Innenohr vermittelte Erfahrung des Fallens überhaupt nicht simuliert. Man kann sich weitere Verbesserungen vorstellen, etwa die Verwendung tragender Flüssigkeiten mit sehr geringer Viskosität oder von Drogen, die das Gefühl des Fallens vermitteln. Aber trotz allem – könnte man die Erfahrung in einem feststehenden Flugsimulator je vollkommen simulieren? Wenn nicht, gibt es eine absolute Grenze für die Genauigkeit, mit der Flugerfahrungen je simuliert werden können. Wenn der Pilot zwischen einem wirklichen Flugzeug und einer Simulation unterscheiden will, braucht er nur auf einer Bahn zu fliegen, die dem freien Fall entspricht, und zu spüren, ob Schwerelosigkeit eintritt oder nicht. Allgemein gesagt stellt sich folgendes Problem: Um die normale Funktion der Sinnesorgane aufheben zu können, müssen wir sie mit Bildern versorgen, die jenen ähneln, die von der simulierten Umgebung erzeugt werden. Wir müssen also die Bilder, die von der tatsächlichen Umgebung des Rezipienten erzeugt werden, abfangen und unterdrücken. Aber diese Bildmanipulationen sind physikalische Operationen und lassen sich nur durch Vorgänge und Verfahren in der wirklichen Welt auslösen. Licht und Schall können relativ leicht absorbiert und ersetzt werden. Aber das gilt, wie schon gesagt, nicht für die Schwerkraft. Die Naturgesetze lassen das einfach nicht zu. Das Beispiel der Schwerelosigkeit scheint nahezulegen, daß eine Maschine, die nicht wirklich fliegt, eine schwerelose Umgebung nicht simulieren kann, weil das durch die Naturgesetze verboten ist. Das alles ist sehr richtig, aber es trifft nicht zu. Schwerelosigkeit und alle anderen Empfindungen lassen sich, zumindest in ferner Zukunft, im Prinzip nämlich künstlich erzeugen, denn es wird einmal möglich sein, die Sinnesorgane insgesamt zu umgehen und die Nerven, die von ihnen zum Gehirn führen, direkt zu stimulieren. Wie das? Nun, wir benötigen gar keine Allzweck-Chemiefabriken oder unmögliche Maschinen, die künstlich Schwerkraft erzeugen. Wenn wir die Riechorgane erst gut genug verstanden haben und den Code knacken können, mit dem sie Signale an das Gehirn schicken, sobald sie einen Geruch entdecken, könnte ein Computer mit geeigneten Verbindungen
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zu den betreffenden Nerven dem Gehirn dieselben Signale schicken. Dann könnte das Gehirn Geruchserlebnisse haben, ohne daß es die entsprechenden Chemikalien je gab. Ähnlich könnte das Gehirn auch bei normaler Schwerkraft Schwerelosigkeit erfahren. Und natürlich braucht man dann auch keine Bildschirme und keine Kopfhörer mehr. Die Naturgesetze legen der Reichweite und der Genauigkeit der Bilderzeuger also keine Grenzen auf. Es gibt keine mögliche Empfindung oder Folge von Empfindungen, die Menschen machen können, die sich nicht im Prinzip auch künstlich erzeugen ließe. Eines Tages wird es als eine Art Erweiterung von Filmen das geben, was Aldous Huxley Feelies nannte. Man wird das Schaukeln eines Bootes unter seinen Füßen fühlen, die Wellen hören und das Meer riechen können, den Sonnenuntergang am Horizont in seiner Farbenpracht bewundern und den Wind im Haar spüren (ob man Haare hat oder nicht), und das alles, ohne das trockene Land oder auch nur sein Sofa zu verlassen. Nicht nur das. Feelies werden ebensogut Szenen beschreiben können, die es nie gegeben hat und nie geben wird. Sie könnten darüber hinaus ein Äquivalent zur Musik schaffen: schöne abstrakte Kombinationen von Empfindungen, die zur Freude der Sinne komponiert wurden. Daß jede mögliche Empfindung simuliert werden kann, ist eine Sache; daß es eines Tages möglich sein wird, eine einzige Maschine zu bauen, die jede mögliche Empfindung erzeugen kann, ist etwas anderes, nämlich Universalität. Eine solche Feelie-Maschine wäre ein universeller Bilderzeuger.
Die Möglichkeit eines universellen Bilderzeugers zwingt uns, unsere Behauptung zur letzten Grenze der Feelie-Technologie anzuzweifeln. Zur Zeit gehen die Bemühungen dieser Technologie vor allem dahin, möglichst vielfältige und genaue Möglichkeiten zu erfinden, Sinnesorgane zu stimulieren. Aber diese Probleme sind nur vorläufig. Sie werden unwichtig, wenn wir wissen, welchen Code unsere Sinnesorgane verwenden, und wenn wir über hinreichend diffizile Verfahren verfügen, Nerven zu stimulieren. Wenn wir erst einmal künstlich Nervensignale erzeugen können, die so genau sind, daß das Gehirn keinen Unterschied zwischen diesen Signalen und denen, die die Sinnesorgane aussenden, bemerkt, ist die Technologie perfekt. Bei weiteren Verbes-
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serungen kann es nur noch darum gehen, welche Empfindungen simuliert werden sollten. In einem ganz eingeschränkten Bereich haben wir diese Zukunftsvision schon realisiert, da das Problem der größtmöglichen Wiedergabetreue bei der Schallerzeugung mit der CD praktisch gelöst worden ist. Bald wird es keine Hi-Fi-Fanatiker mehr geben. Wenn ein Bilderzeuger eine Live-Aufnahme wiedergibt, läßt sich seine Genauigkeit als die Ähnlichkeit definieren, die das so erzeugte Bild mit dem Bild hat, das ein Mensch in der ursprünglichen Situation gesehen hätte. Allgemeiner wird die Genauigkeit der Wiedergabe als die Ähnlichkeit zwischen der Simulation und dem Beabsichtigten definiert. Mit «Ähnlichkeit» meinen wir Ähnlichkeit, wie sie der Benutzer wahrnimmt. Wenn die Wiedergabe so gut ist, daß der Benutzer sie nicht von der beabsichtigten Wirkung unterscheiden kann, ist sie vollkommen genau. Ein universeller Bilderzeuger erzeugt natürlich nicht alle möglichen Bilder. Er ist universell, weil er immer dann, wenn ihm eine Aufzeichnung eines Bildes vorgelegt wird, im Rezipienten die entsprechende Empfindung wecken kann. Einem universellen Generator, der eine Hörempfindung vermittelt, könnte die Aufzeichnung in Form einer CD vorgelegt werden. Um Hörerfahrungen, die länger dauern, als es die Speicherfähigkeit der CD zuläßt, angemessen verarbeiten zu können, müssen wir uns Mechanismen überlegen, die nacheinander beliebig viele CDs eingeben können. Eine analoge Anforderung gilt für alle Bilderzeuger; ein Bilderzeuger ist strenggenommen nur dann universell, wenn er über ein Verfahren verfügt, mit dem er Aufnahmen unbegrenzt lange abspielen kann. Wie gesagt ist die Bilderzeugung nur eine Komponente der virtuellen Realität. Überaus wichtig ist auch die Wechselwirkung. Man kann sich ein Gerät, das virtuelle Realität simuliert, als Bilderzeuger vorstellen, dessen Bilder nicht im voraus völlig festgelegt sind, sondern zum Teil davon abhängen, wie sich der Benutzer entscheidet. Ein solcher Simulator spielt seinem Benutzer nicht wie ein Film oder ein Feelie eine vorherbestimmte Bildfolge vor, sondern er komponiert die Bilder erst im Lauf der Zeit unter Berücksichtigung eines steten Stroms von Informationen über das Verhalten des Rezipienten. Heutige Simulatoren verfolgen beispielsweise den Kopf des Benutzers mit Bewegungssensoren
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(siehe Abbildung 13). Irgendwann einmal werden sie alle Tätigkeiten des Benutzers verfolgen müssen, die das subjektive Erscheinungsbild der simulierten Umwelt beeinflussen könnten. Zur Umgebung könnte auch der Körper des Benutzers gehören. Da der Körper für den Geist extern ist, könnte die Forderung legitim sein, daß der Körper des Benutzers in der zu einer bestimmten virtuellen Realität gehörigen Umwelt durch einen neuen Körper mit vorgegebenen Eigenschaften ersetzt wird. Okay, das klingt sehr phantastisch, aber wir orientieren uns ja nur am prinzipiell Möglichen. Der menschliche Geist beeinflußt den Körper und die Außenwelt, indem er Nervenimpulse aussendet. Deshalb kann ein Wirklichkeitssimulator im Prinzip alle benötigten Informationen über das Tun der Rezipienten erhalten, indem er die Nervensignale auffängt, die aus ihrem Kopf kommen. Diese Signale, die sonst zum Körper der Rezipienten geleitet würden, können statt dessen an einen Computer übermittelt und entschlüsselt werden und genau mitteilen, wie sich der Körper bewegt haben würde. Die Signale, die der Computer dann an das Gehirn zurückschickt, würden dieselben sein wie jene, die der Körper geschickt hätte. Mit den entsprechenden Vorgaben könnte der simulierte Körper auch anders reagieren als der wirkliche; er könnte beispielsweise in simulierten Umwelten überleben, die für einen menschlichen Körper tödlich wären, oder Fehlfunktionen des Körpers simulieren. Wahrscheinlich ist es eine zu große Idealisierung, zu behaupten, daß die Wechselwirkung des menschlichen Geistes mit der Außenwelt nur durch das Ausschicken und Empfangen von Nervenimpulsen geschieht, denn auch chemische Botschaften werden in beide Richtungen geschickt. Nehmen wir an, daß auch diese Botschaften im Prinzip abgefangen und irgendwo zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers durch andere ersetzt werden könnten. Der Rezipient würde also in einer zukünftigen Virtual-Reality-Situation bewegungslos daliegen, während er mit dem Computer verbunden ist, aber die Erfahrung machen, vollständig mit einer simulierten Welt in Wechselwirkung zu sein – sogar in ihr zu leben. Abbildung 15 veranschaulicht die Situation, die ich mir vorstelle. Auch wenn die Technologie für «richtige» virtuelle Realität noch in ferner Zukunft liegt, ist der Gedanke an künstliche Realität alt. Schon
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Abb. 15. Virtuelle Realität, wie sie in Zukunft aussehen könnte.
im 17. Jahrhundert dachte Descartes an einen «Dämonen», der ein Wirklichkeitssimulator ist, wie ihn Abbildung 15 veranschaulicht. Ein solcher Simulator sollte mindestens drei wichtige Komponenten haben, nämlich • Sensoren (sie können Detektoren für Nervenimpulse sein), die herausfinden, was der Rezipient tut. • Bilderzeuger (sie können Geräte sein, die Nerven stimulieren). • einen steuernden Computer. Bis jetzt haben wir uns mit den beiden ersten Komponenten beschäftigt, den Sensoren und den Bilderzeugern, denn die Forschung auf dem Gebiet der virtuellen Realität befaßt sich vor allem mit der Bilderzeugung. Aber wenn wir über die vorübergehenden technologischen Begrenzungen hinaussehen, erkennen wir, daß die Bilderzeuger nur die Schnittstellen darstellen – die «Verbindungskabel» – zwischen dem Rezipienten und dem wahren Wirklichkeitssimulator, also dem Computer. Denn die jeweilige Umwelt wird ja vollständig innerhalb des Computers simuliert. Der Computer gibt den autonomen «Rückstoß», der das Wort «Realität» in «virtuelle Realität» rechtfertigt. Das Verbindungskabel trägt nichts zu der vom Benutzer dargestellten Umwelt bei, weil es vom Blickpunkt des Benutzers aus »transparent« ist, genau wie wir von Natur aus unsere Nerven nicht als einen Teil unserer Umwelt sehen. Wir soll-
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ten die Wirklichkeitssimulatoren der Zukunft also besser als einen Gegenstand mit nur einem wesentlichen Bestandteil betrachten: als einen durch einige Nebensächlichkeiten ergänzten Computer. Ohne das praktische Problem zu unterschätzen, das im Auffangen all der Nervensignale besteht, die ins menschliche Gehirn hineingehen und aus ihm herauskommen, und die im Entschlüsseln all der vielen Codes bestehen, müssen wir doch eines klar sehen: Wenn dieses Problem erst einmal gelöst ist, wird sich der Fokus der Technologie der virtuellen Realität ein für allemal zum Computer hin verlagern, und das Problem wird sein, ihn so zu programmieren, daß er unterschiedliche Umwelten simulieren kann. Eine Umwelt wird «vorgegeben», indem man dem Computer ein Programm eingibt, das virtuelle Realität erzeugt. Weil die virtuelle Realität so stark auf Wechselbeziehungen beruht, spielt die Genauigkeit der Wiedergabe keine so unmittelbar wichtige Rolle wie für die Bilderzeugung. Wie ich sagte, wird die Genauigkeit der Bilderzeugung gerade daran gemessen, wie gut die simulierten Bilder den vorgegebenen ähneln. Aber in der virtuellen Realität sind im allgemeinen keine Bilder vorgegeben, sondern eine Umwelt, die der Rezipient erfahren soll. Wenn man eine virtuelle Realität vorgibt, gibt man nicht vor, was der Rezipient später erfahren wird, sondern vielmehr, wie eine Umwelt auf jede der möglichen Handlungen des Rezipienten reagieren könnte. Bei einem simulierten Tennisspiel kann man beispielsweise im voraus festlegen, wie der Tennisplatz beschaffen ist, wie das Wetter ist, wie sich das Publikum verhält und wie gut der Gegner spielt. Aber das legt den Spielablauf noch nicht fest, denn der hängt von einer ganzen Kette von Entscheidungen ab, die der virtuelle Spieler während des Spiels fällt. Jede Entscheidung führt zu anderen Reaktionen der simulierten Umwelt und deshalb zu einem anderen Tennisspiel. Die Anzahl der möglichen Tennisspiele, die in einer einzigen Umwelt gespielt – also durch ein einzelnes Programm simuliert – werden können, ist sehr groß. Man betrachte einmal ein Tennisspiel in Wimbledon aus der Sicht eines Spielers. Nehmen wir sehr bescheiden an, daß der Spieler in jeder Sekunde zwei wahrnehmbare unterschiedliche Verhaltensweisen zur Verfügung hat. Dann gibt es nach zwei Sekunden vier
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mögliche Spiele, nach drei Sekunden acht und so weiter. Nach etwa vier Minuten ist die Anzahl der möglichen Spiele, die sich wahrnehmbar voneinander unterscheiden, größer als die Anzahl der Atome im Weltall und nimmt weiter exponentiell zu. Damit ein Programm diese eine Umwelt genau simulieren könnte, müßte es in der Lage sein, je nach dem vom Spieler gewählten Verhalten auf die ganze Palette dieser ungeheuer vielen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten zu reagieren. Wenn zwei Programme auf jede mögliche Handlung des Rezipienten gleich reagieren, geben sie dieselbe Umwelt wieder. Wenn sie aber auch nur auf eine mögliche Handlung wahrnehmbar unterschiedlich reagieren, geben sie unterschiedliche Umwelten wieder. Das trifft auch dann zu, wenn der Rezipient die Handlung niemals ausführt, die zu dem Unterschied führt. Welche Umwelt ein Programm simuliert, ist eine logische Eigenschaft des Programms und unabhängig davon, ob das Programm je ausgeführt wird. Eine simulierte Umwelt ist insofern genau, als sie auf jede mögliche Handlung des Rezipienten auf die beabsichtige Weise reagieren würde. Die Genauigkeit hängt also nicht nur von Erfahrungen ab, die Rezipienten tatsächlich machen, sondern auch von Erfahrungen, die sie nicht machen, aber machen würden, wenn sie ein anderes Verhalten gewählt hätten. Dies klingt paradox, folgt aber unmittelbar aus der Tatsache, daß die virtuelle Realität wie die Wirklichkeit selbst interaktiv ist. Daraus ergibt sich ein wichtiger Unterschied zwischen der Erzeugung von Bildern und virtueller Realität. Der Rezipient kann die Wiedergabegenauigkeit eines Bilderzeugers im Prinzip feststellen und beurteilen, die Genauigkeit einer Simulation jedoch nicht. Als Musikliebhaber können Sie beim Anhören eines Stücks, das Sie gut kennen, vielleicht bestätigen, daß die Wiedergabe genau ist, im Prinzip bis hin zur letzten Note, Phrasierung oder Dynamik. Wenn Sie aber ein Tennisnarr sind und Wimbledon ausgezeichnet kennen, können Sie trotzdem niemals bestätigen, daß die Simulation des Centre Court genau ist. Selbst wenn Sie die Möglichkeit haben, den simulierten Centre Court beliebig lange zu untersuchen und ihm auf jede mögliche Weise einen «Tritt» zu geben, und selbst wenn Sie auch den wirklichen Platz zum Vergleich untersuchen können, können Sie niemals sicher sein, daß das Programm den
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Ort tatsächlich haargenau wiedergibt. Denn Sie können niemals wissen, was hätte passieren können, wenn Sie nur etwas genauer geforscht oder sich im richtigen Augenblick umgedreht hätten. Vielleicht wäre gerade, als Sie auf dem Schiedsrichterstuhl «Fehler!» gerufen hätten, ein nukleares Unterseeboot aus dem Gras aufgetaucht, um die Anzeigetafel zu bombardieren. Falls Sie andererseits auch nur einen einzigen Unterschied zwischen der Simulation und der tatsächlichen Umgebung nachweisen können, wissen Sie sofort, daß die Wiedergabe ungenau ist. Die Ausnahme bildet eine Situation, in der eine simulierte Umwelt einige absichtlich unvorhersagbare Eigenschaften hat. Eine Roulettescheibe beispielsweise soll so konstruiert sein, daß der Weg der Kugel unvorhersagbar ist. Einen Film, der zeigt, wie in einem Spielkasino Roulette gespielt wird, kann man genau nennen, wenn die Zahlen, auf die die Kugel im Film fällt, dieselben Zahlen sind, auf die sie auch wirklich fiel, als der Film gedreht wurde. Der Film zeigt jedesmal, wenn er gezeigt wird, dieselben Zahlen. Er ist völlig vorhersagbar. Ein genaues Bild einer unvorhersagbaren Umgebung muß also vorhersagbar sein. Aber was bedeutet es, daß die Wiedergabe einer Roulettescheibe in einer virtuellen Realität genau ist? Wie zuvor bedeutet es, daß ein Benutzer keinen Unterschied zum Original wahrnehmen sollte. Das aber bedeutet, daß die Wiedergabe sich nicht genau so verhält wie das Original – denn wenn sie das täte, könnte entweder sie oder das Original zur Vorhersage des Verhaltens des jeweils anderen benutzt werden, und keines wäre unvorhersagbar. Die Simulation muß sich auch nicht bei jeder Gelegenheit, bei der sie abläuft, gleich verhalten. Eine vollkommen simulierte Roulettescheibe muß sich genauso zum Spielen eignen wie eine wirkliche. Deshalb muß sie genauso unvorhersagbar sein. Sie muß auch genauso «gerecht» sein, das heißt, jede mögliche Zahl muß mit gleicher Wahrscheinlichkeit rein zufällig fallen können. Wie erkennen wir unvorhersagbare Umwelten, und wie bestätigen wir, daß mutmaßlich zufällige Zahlen gerecht verteilt sind? Ob eine Simulation einer Roulettescheibe ihre Vorgaben erfüllt, prüfen wir genauso, wie wir prüfen, ob das reale Vorbild sie erfüllt: indem wir sie anstoßen (drehen) und sehen, ob sie wie behauptet reagiert. Wir machen sehr
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viele ähnliche Beobachtungen und überprüfen die Ergebnisse statistisch. Wieder können wir nicht bezeugen, daß die Wiedergabe genau oder auch nur wahrscheinlich genau ist, auch wenn wir noch so viele Überprüfungen durchführen. Denn so zufällig die auftauchenden Zahlen auch sein mögen, sie könnten trotzdem nach einem geheimen Muster fallen, und ein Benutzer, der das kennt, könnte sie vorhersagen. Vielleicht würden auch, wenn wir laut nach dem Datum der Schlacht von Waterloo fragen, die Zahlen fallen, die es angeben: 18 ... 15. Wenn andererseits die sich ergebende Zahlenfolge «unfair» zu sein scheint, können wir nicht sicher sein, daß sie das ist, aber wir könnten sagen, die Wiedergabe sei wahrscheinlich ungenau. Wenn beispielsweise auf unserer simulierten Roulettescheibe zehnmal nacheinander die Null fällt, würden wir schließen, daß sie wahrscheinlich keine genaue Wiedergabe einer ungewichteten Roulettescheibe ist. Und noch etwas: Die virtuelle Realität ist nicht unbedingt abhängig von den Sinnen des Rezipienten. Sicherlich gibt es einen Simulator, der eine vorgegebene Umwelt für Menschen vollkommen genau simuliert, nicht aber für Delphine oder Außerirdische. Um eine bestimmte Umwelt für einen Rezipienten mit bestimmten Sinnesorganen richtig wiederzugeben, muß der Simulator physikalisch an solche Sinnesorgane angepaßt sein, und sein Computer muß mit ihren Kennzeichen programmiert sein. Tröstlich ist aber, daß nur endlich viele Abänderungen nötig sind, um einem bestimmten Rezipienten gerecht zu werden, und sie brauchen nur ein einziges Mal durchgeführt zu werden. Sie laufen auf die Konstruktion eines neuen «Verbindungskabels» hinaus. Wenn wir Umwelten mit immer größerer Komplexität betrachten, besteht die Aufgabe, Umwelten zu simulieren, hauptsächlich darin, Programme zu schreiben, die für jeden möglichen Typ von Rezipienten berechnen, was die Umwelten tun werden. Der Teil der Aufgabe, das Programm für Rezipienten mit vorgegebener Komplexität zu schreiben, wird vergleichsweise vernachlässigbar. Bei diesen Gedanken geht es um die letzten Grenzen der virtuellen Realität, wir betrachten also beliebig genaue, lange und komplexe Simulationen. Deshalb ist es sinnvoll, von der «Simulation einer bestimmten Umwelt» zu sprechen, ohne festzulegen, für wen sie simuliert wird.
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Zusammengefaßt ist also die Genauigkeit der Wiedergabe einer virtuellen Realität wohldefiniert: Die Genauigkeit ist die Ähnlichkeit zwischen der simulierten und der zu simulierenden Umwelt. Aber die Ähnlichkeit muß für jedes mögliche Verhalten des Rezipienten gegeben sein, und deswegen kann man auch bei sorgfältigster Beobachtung, wenn man sich in einer simulierten Umwelt befindet, nicht bescheinigen, daß sie genau oder wahrscheinlich genau ist. Doch die Erfahrung kann gelegentlich zeigen, daß eine Simulation ungenau ist. Diese Erörterung von Genauigkeit in der virtuellen Realität spiegelt die Beziehung zwischen Theorie und Experiment in den Naturwissenschaften. Auch da ist es möglich, experimentell zu bestätigen, daß eine allgemeine Theorie falsch ist, aber niemals, daß sie wahr ist. Und auch dort ist die Naturwissenschaft kurzsichtig, wenn es ihr vor allem um die Vorhersage unserer Sinneseindrücke geht; Sinneseindrücke spielen zwar immer eine Rolle, aber der Naturwissenschaft geht es darum, die Realität insgesamt zu verstehen, von der sich nur ein infinitesimaler Bruchteil je erfahren läßt. Im Programm eines Computers, der virtuelle Realität erzeugt, steckt eine allgemeine vorhersagende Theorie über das Verhalten der simulierten Umwelt. Andere Komponenten befassen sich mit dem Verschlüsseln und Entschlüsseln von Sinnesdaten und mit der Beobachtung des Rezipienten, was ja relativ einfach ist. Wenn die Umwelt also physikalisch möglich ist, läuft ihre Wiedergabe im wesentlichen darauf hinaus, Regeln zu finden, die das Ergebnis jedes in dieser Umwelt möglichen Experiments finden lassen. Wegen der Art, wie wissenschaftliche Kenntnisse gewonnen werden, lassen sich Regeln, die immer genauere Vorhersagen erlauben, nur durch bessere erklärende Theorien entdecken. Eine genaue Wiedergabe einer physikalisch möglichen Umwelt hängt also davon ab, daß man die zugrundeliegende Physik versteht. Auch die Umkehrung trifft zu: Man kann die in einer Umwelt geltenden physikalischen Grundlagen entdecken, wenn sie simuliert werden können. Normalerweise würde man sagen, daß wissenschaftliche Theorien physikalische Dinge und Vorgänge nur beschreiben und erklären, aber nicht simulieren. So läßt sich beispielsweise eine Sonnenfinsternis in einem Buch erklären. Ein Computer läßt sich mit astrono-
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mischen Daten und physikalischen Gesetzen so programmieren, daß er eine Sonnenfinsternis vorhersagen und eine Beschreibung davon ausdrucken kann. Die Simulation der Finsternis in der virtuellen Realität würde jedoch weiteres Programmieren und weitere Hardware erfordern. Aber die steckt ja schon in unserem Gehirn! Die Worte und Zahlen, die von dem Computer gedruckt werden, laufen nur deshalb auf «Beschreibungen» einer Finsternis hinaus, weil jemand die Bedeutung dieser Symbole kennt. Die Symbole wecken also im Sinn des Lesers eine Art Ähnlichkeit mit einer vorhergesagten Wirkung der Finsternis, mit der sich das wirkliche Aussehen dieses Effekts vergleichen läßt. Außerdem ist die beschworene «Ähnlichkeit» eine Wechselwirkung. Eine Finsternis läßt sich auf viele Weisen beobachten: mit dem bloßen Auge oder mit einer Kamera oder mit vielen wissenschaftlichen Instrumenten. Von einigen Orten der Erde aus beobachtet man eine totale Finsternis, von anderen eine teilweise und überall sonst keine. In jedem Fall erlebt man andere Bilder, von denen jedes einzelne von der Theorie vorhergesagt werden kann. Die Beschreibung im Kopf des Lesers wird nicht nur durch ein einzelnes Bild oder eine Bildfolge geschaffen, sondern durch ein allgemeines Verfahren, das viele verschiedene Bilder erzeugt, die den vielen Möglichkeiten entsprechen, wie der Leser über Beobachtungen nachdenken kann. Es geht also um virtuelle Realität. In einem umfassenden Sinn läuft Naturwissenschaft dann, wenn sie Prozesse berücksichtigt, die sich im Geiste des Wissenschaftlers abspielen, auf dasselbe hinaus wie die virtuelle Realität, die physikalisch mögliche Umwelten simuliert. Naturwissenschaft und Simulation physikalisch möglicher Umwelten sind zwei Bezeichnungen für dieselbe Tätigkeit. Wie ist es nun mit der Simulation von Umwelten, die physikalisch nicht möglich sind? Oberflächlich gesehen gibt es zwei Formen der Simulation, nämlich eine Minderheit, die physikalisch mögliche Umwelten erzeugt, und eine Mehrheit, die physikalisch unmögliche Umwelten erzeugt. Aber hält diese Unterscheidung genauerer Überprüfung stand? Man denke an einen Computer, der in der virtuellen Realität gerade eine physikalisch unmögliche Umwelt simuliert. Stellen wir uns einen Flugsimulator vor, der ein Programm ablaufen läßt, das den Blick aus der Pilotenkanzel eines schneller als Lichtgeschwindigkeit fliegenden
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Flugzeugs zeigt. Dieser Flugsimulator sieht von innen betrachtet seltsam aus, stellt aber sicherlich eine physikalisch mögliche Umwelt dar. Kann sie auch simuliert werden? Sicherlich, weil ein zweiter, identischer Flugsimulator mit demselben Programm das Innere des ersten Flugsimulators vollkommen genau simulieren könnte. Den zweiten Flugsimulator kann man sich also als Simulation entweder des physikalisch unmöglichen Flugzeugs oder als physikalisch mögliche Umwelt, nämlich den ersten Flugsimulator denken. Ähnlich ließe sich der erste Flugsimulator als ein Gerät sehen, das eine physikalisch mögliche Umwelt simuliert, nämlich den zweiten Flugsimulator. Wenn wir annehmen, daß im Prinzip jeder Simulator, der überhaupt gebaut werden kann, im Prinzip auch wiederholt gebaut werden kann, folgt, daß jeder Simulator, der nach einem möglichen Programm läuft, irgendeine physikalisch mögliche Umwelt simuliert. Er simuliert vielleicht auch anderes, sogar physikalisch unmögliche Umwelten; immer aber simuliert er auch physikalisch mögliche Umwelten. Welche physikalisch unmöglichen Umwelten lassen sich simulieren? Eben jene, die sich nicht wahrnehmbar von physikalisch möglichen Umwelten unterscheiden. Deshalb ist die Verbindung zwischen der Welt der Physik und der Welt der virtuellen Realität viel enger, als es den Anschein hat. Wir können uns vorstellen, daß einige Simulationen Tatsachen wiedergeben und andere Fiktionen. Aber in der virtuellen Realität an sich gibt es so etwas wie Fiktion nicht. Die Fiktion ist immer eine Deutung im Geist des Betrachters und niemals zwangsläufig. In der virtuellen Realität gibt es keine Umwelt, die der Rezipient für physikalisch unmöglich halten würde. Wir könnten eine Umwelt wählen, wie sie von einigen «Naturgesetzen» vorhergesagt wird, die, wie wir wissen, unrichtig sind. Wir können darin eine Übung sehen oder ein Vergnügen oder eine Näherung, weil die wahre Wiedergabe zu schwierig oder zu teuer ist. Wenn die Gesetze, die wir benutzen, unter den vorgegebenen Bedingungen den wirklichen so nahe sind wie möglich, sprechen wir von «angewandter Mathematik» oder «Berechnung». Wenn die simulierten Dinge ganz anders sind als die physikalisch möglichen, können wir sie auch «reine
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Mathematik» nennen. Wenn eine physikalisch unmögliche Umwelt zum Spaß simuliert wird, nennen wir sie ein «Videospiel» oder «Computerkunst». Das sind alles Deutungen. Sie können nützlich oder auch zur Erklärung unserer Motive für die Schaffung einer bestimmten Simulation notwendig sein. Aber in bezug auf die Wiedergabe selbst gibt es immer eine andere mögliche Deutung, nämlich die, daß sie eine physikalisch mögliche Umwelt genau simuliert. Es ist nicht üblich, sich die Mathematik als eine Form der virtuellen Realität vorzustellen. Wir meinen gewöhnlich, die Mathematik handle von solchen abstrakten Größen wie Zahlen und Mengen, die unsere Sinne nicht beeinflussen, so daß es so aussieht, als ob ihre Wirkung auf uns unmöglich künstlich erzeugt werden könnte. Obwohl jedoch mathematische Größen die Sinne nicht beeinflussen, ist die Erfahrung, Mathematik zu betreiben, doch eine äußere Erfahrung, nicht weniger als die Erfahrung, Physik zu betreiben. Wir schreiben Zeichen auf Papier und betrachten sie. Oder wir stellen uns vor, wir betrachteten solche Zeichen – wir können gar nicht Mathematik betreiben, ohne uns abstrakte mathematische Größen vorzustellen. Aber das bedeutet, daß wir uns eine Umwelt vorstellen müssen, deren «Physik» die komplexen und autonomen Eigenschaften dieser Größen enthält. Wenn wir uns beispielsweise den abstrakten Inhalt einer Strecke vorstellen, die keine Breite hat, können wir uns einen Strich vorstellen, den wir sehen, dessen Breite wir aber nicht wahrnehmen können. Das läßt sich in der physikalischen Wirklichkeit gerade noch machen. Aber mathematisch darf die Gerade auch dann keine Breite haben, wenn wir sie beliebig stark vergrößern. Das gilt für keinen physikalischen Strich, läßt sich aber in der virtuellen Realität unserer Phantasie leicht erreichen. Die Einbildungskraft ist offenbar eine Form der virtuellen Realität. Es ist vielleicht nicht so offensichtlich, daß auch unsere «unmittelbare» Erfahrung der Welt durch unsere Sinne eine virtuelle Realität ist. Unsere externen Erfahrungen sind jedoch niemals unmittelbar. Wir nehmen nicht einmal die Signale unserer Nerven direkt wahr – wir würden ja gar nicht wissen, was wir mit dem elektrischen Geknatter, das sie übermitteln, anfangen sollten. Was wir unmittelbar erfahren, ist eine virtuelle Realität, die unser Unbewußtes zu unserer Bequemlichkeit erzeugt,
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und zwar aus unseren Sinnesdaten und komplizierten angeborenen oder gelernten Theorien (also Programmen) darüber, wie sie zu deuten sind. Wir Realisten sind der Ansicht, daß es dort draußen eine objektive, physikalische und von allem, was wir über sie glauben, unabhängige Wirklichkeit gibt. Aber wir haben diese Realität niemals unmittelbar wahrgenommen. Jedes noch so kleine Stückchen unserer externen Erfahrung gehört zur virtuellen Realität. Und jeder noch so kleine Teil unseres Wissens – einschließlich unseres Wissens über die nicht-physikalischen Welten der Logik, Mathematik oder Philosophie, der Imagination, Fiktion und Phantasie – ist in Form von Programmen in dem Wirklichkeitssimulator verschlüsselt, den unser Gehirn darstellt. Virtuelle Realität ist also nicht nur eine Technologie, mit deren Hilfe Computer physikalische Umwelten simulieren. Sie betrifft nicht nur die Naturwissenschaft – das Nachdenken über die erfahrbare Welt. Vielmehr sind alles Denken, alles Schließen und alle externen Erfahrungen Formen der virtuellen Realität. Dies sind physikalische Prozesse, die bis jetzt nur an einem Ort im Weltall, nämlich auf dem Planeten Erde, beobachtet wurden. Wir werden in Kapitel 7 sehen, daß alle Lebensvorgänge virtuelle Realität einbeziehen, aber wir Menschen haben zu ihr eine besondere Beziehung. Biologisch gesprochen ist die Simulation der Umwelt in der virtuellen Realität charakteristisch für das Überleben der Menschheit. Sie ist der Grund dafür, daß es Menschen gibt. Die ökologische Nische, die Menschen besetzen, hängt genauso unmittelbar und absolut von der virtuellen Realität ab wie die der Koalabären von Eukalyptusbäumen. Aber wo sind die letzten Grenzen der virtuellen Realität (der Berechnung) zu finden? Wir werden uns im nächsten Kapitel mit dieser Frage auseinandersetzen und sehen, daß sie einerseits unendlich, andererseits aber auch sehr begrenzt ist.
6 Universalität und die Grenzen der Berechnung Ein Gerät, das virtuelle Realität simuliert, ist im Kern ein Computer, und letztlich läuft die Frage, welche Umwelten in der virtuellen Realität wiedergegeben werden können, darauf hinaus, welche Berechnungen durchführbar sind. Selbst heute ist das Repertoire solcher Simulatoren ebensosehr durch ihre Computer eingeschränkt wie durch ihre Bilderzeuger. Das Repertoire vergrößert sich jedesmal, wenn ein neuer, schnellerer Computer mit größerer Speicherfähigkeit und besser auf Bildverarbeitung spezialisierter Elektronik eingesetzt wird. Wenn wir diesen Gedanken weiterspinnen, taucht eine wichtige Frage auf: Geht das immer so weiter, oder werden wir schließlich einmal Universalität erreichen, wie wir es bei den Bilderzeugern vorhersehen können? Wird es einmal einen Simulator geben, der ein für allemal gebaut wird und so programmiert werden kann, daß er jede Umwelt wiedergibt, die dem menschlichen Geist erfahrbar ist? Genau wie im Fall der Bilderzeuger meinen wir damit nicht, daß ein einziger Wirklichkeitssimulator in sich die Vorgaben für alle logisch möglichen Umwelten enthalten könnte. Wir meinen nur, daß der Simulator auf jede logisch mögliche Umwelt programmiert werden kann. Er könnte die Programme beispielsweise auf Magnetscheiben kodieren. Das Speichern des entsprechenden Programms braucht dann vielleicht um so mehr Disketten, je komplexer die Umwelt ist. Um also komplexe Umwelten speichern zu können, muß die Maschine einen Mechanis-
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mus haben, der unbegrenzt viele Disketten lesen kann. Anders als ein Gerät, das Bilder erzeugt, könnte ein Wirklichkeitssimulator vielleicht einen mitwachsenden «Arbeitsspeicher» für die Zwischenergebnisse seiner Berechnungen brauchen, und der könnte in Form leerer Disketten gegeben sein. Auch dann könnten wir das Gerät als «eine einzige Maschine» sehen, obwohl Energie, Instandhaltung und leere Disketten dazugehören, solange nicht der Bauplan der Maschine verändert wird und die Eingriffe nicht aufgrund der Naturgesetze verboten sind. In diesem Sinn ist also ein Computer mit praktisch unbegrenzter Speicherfähigkeit im Prinzip denkbar, nicht aber ein Computer mit unbegrenzter Rechengeschwindigkeit. Jeder nach einem bestimmten Plan gebaute Computer hat eine Höchstgeschwindigkeit, die nur bei einer anderen Bauweise übertroffen werden kann. Deshalb kann ein vorgegebener Simulator pro Zeiteinheit nicht unbegrenzt viele Berechnungen durchführen. Bedeutet das nicht eine Einschränkung für sein Repertoire? Wie kann das Gerät eine Umwelt je genau simulieren, wenn diese Umwelt so komplex ist, daß die Berechnung dessen, was der Rezipient in einer Sekunde sehen soll, länger dauert als eine Sekunde? Um Universalität zu erlangen, ist ein weiterer technologischer Trick notwendig. Damit ein solcher Simulator über ein physikalisch möglichst umfassendes Repertoire verfügen kann, müßte er die Kontrolle über eine weitere Eigenschaft der Sinne des Rezipienten, nämlich die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns, übernehmen. Falls das menschliche Gehirn ein elektronischer Computer ist, liefe dies auf die Veränderung der Frequenz hinaus, mit der seine «Uhr» synchronisierende Pulse abgibt. Zweifellos läßt sich die «Uhr» des Gehirns nicht leicht steuern. Aber wieder ist dies kein grundsätzliches Problem. Das Gehirn ist ein endliches physikalisches Ding, und seine Funktionen sind physikalische Prozesse, die im Prinzip verlangsamt oder angehalten werden können. Der endgültige Simulator für virtuelle Realität müßte das leisten können. Zur vollkommenen Simulation von Umwelten, die viel Berechnung erfordern, müßte ein solcher Simulator ungefähr so arbeiten müssen: Jeder Sinnesnerv ist in der Lage, Signale mit einer bestimmten Höchstgeschwindigkeit zu übermitteln, weil eine Nervenzelle sich erst etwa eine Millisekunde nach ihrer Entladung das nächste Mal entladen kann.
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Unmittelbar nach der Entladung eines Nervs hat der Computer mindestens eine Millisekunde Zeit, um sich zu entscheiden, ob und wann sich dieser Nerv wieder entladen soll. Wenn der Computer diese Entscheidung innerhalb einer halben Millisekunde gefällt hat, muß er die Geschwindigkeit des Gehirns nicht beeinflussen. Der Computer feuert den Nerv dann entsprechend der Berechnung. Andernfalls veranlaßt der Computer das Gehirn, sich zu verlangsamen oder, wenn notwendig, anzuhalten, bis die Berechnung dessen, was als nächstes passieren soll, abgeschlossen ist. Dann stellt er die normale Geschwindigkeit des Gehirns wieder her. Wie würde der Rezipient das spüren? Nach Definition überhaupt nicht. Er würde nur die im Programm vorgegebene Umwelt erfahren, ohne alles Verlangsamen, Anhalten oder Neubeginnen. Glücklicherweise muß ein Simulator das Gehirn niemals schneller laufen lassen als normal. Das könnte später unter anderem deshalb zu grundsätzlichen Problemen führen, weil kein Signal schneller laufen kann als mit Lichtgeschwindigkeit. Ein solches Verfahren ermöglicht es uns, im voraus eine beliebig komplizierte Umwelt festzulegen, deren Simulation eine beliebig große, aber endliche Menge an Berechnungen erfordert, und diese Umwelt mit jeder beliebigen subjektiven Geschwindigkeit und Genauigkeit zu erleben, die unser Geist verarbeiten kann. Wenn die nötigen Berechnungen so zahlreich sind, daß der Computer sie nicht in der subjektiv wahrgenommenen Zeit ausführen kann, wird die Erfahrung davon nicht beeinflußt, aber der Rezipient muß für die Komplexität büßen, weil extern mehr Zeit vergangen ist. Der Rezipient könnte etwa subjektiv das Gefühl haben, fünf Minuten im Simulator verlebt zu haben, während in der physikalischen Wirklichkeit Jahre vergangen sind. Ein Rezipient, dessen Gehirn für eine gewisse Zeit, ganz gleich, wie lang, ab- und dann wieder angestellt wurde, hat den Eindruck, seine Umwelt ununterbrochen wahrgenommen zu haben. Aber ein Rezipient, dessen Hirn für immer abgestellt wird, hat von diesem Augenblick an überhaupt keine Erfahrungen mehr. Ein Programm, das das Gehirn abstellen könnte, um es dann nicht wieder anzustellen, erzeugt keine dem Rezipienten erfahrbare Umwelt und kommt deshalb für einen Wirklichkeitssimulator nicht in Frage. Aber jedes Programm, das das Gehirn
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des Rezipienten immer wieder einschaltet, simuliert eine Umwelt. Selbst ein Programm, das keine Nervensignale ausschickt, vermittelt die dunkle schweigende Umwelt der Sinnesisolation. Auf unserer Suche nach dem endgültigen Simulator einer virtuellen Realität haben wir uns weit von dem heute Möglichen entfernt, und auch von dem, was technologisch abzusehen ist. Ich betone deshalb noch einmal, daß die technologischen Hindernisse für die Zwecke der jetzigen Untersuchung unwichtig sind. Wir erforschen nicht, welche Simulatoren heute gebaut werden können, und auch nicht notwendigerweise, welche Simulatoren menschliche Ingenieure jemals werden bauen können, sondern wir untersuchen, was die Naturgesetze in bezug auf die virtuelle Realität zulassen und was nicht. Diese ist nicht deshalb wichtig, weil es uns darum geht, ob wir bessere Simulatoren herstellen können. Vielmehr ist die Beziehung zwischen der virtuellen Realität und der «gewöhnlichen» Realität ein Teil der tiefen und unerwarteten Struktur der Welt, von der dieses Buch handelt. Mit Hilfe mehrerer Kunstgriffe – Nervenreize, Ein- und Ausschalten des Gehirns – haben wir es geschafft, uns ein physikalisch mögliches Gerät vorzustellen, das virtuelle Realität erzeugen kann und dessen Repertoire den ganzen Sinnesbereich umfaßt. Es ist völlig interaktiv und wird nicht durch die Rechengeschwindigkeit und Speicherfähigkeit seines Computers begrenzt. Gibt es irgend etwas, was ein solcher Simulator nicht kann? Gehören alle logisch möglichen Umwelten zu seinem Repertoire? Fast scheint es so. Aber selbst das Repertoire dieser futuristischen Maschine ist allein durch die Tatsache erheblich eingeschränkt, daß sie ein physikalisches Objekt ist. Sie kratzt, wie wir gleich sehen werden, nicht einmal die Oberfläche dessen, was logisch möglich ist. Der Grundgedanke des Beweises (das sogenannte Diagonalverfahren) ist älter als der Gedanke der virtuellen Realität. Mit seiner Hilfe zeigte der Mathematiker Georg Cantor im neunzehnten Jahrhundert, daß es Unendlichkeiten gibt, die größer sind als die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen. Dieselbe Beweisform liegt auch der modernen Theorie der Berechnungen zugrunde, die in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts von Alan Turing und anderen entwickelt wurde. Sie wurde
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auch von Kurt Gödel zum Beweis seines berühmten «Unvollständigkeitstheorems» verwendet, von dem wir in Kapitel 9 mehr hören werden. Jede Umwelt im Repertoire unserer Maschine wird von einem Programm für seinen Computer erzeugt. Man stelle sich die Menge aller gültigen Programme für diesen Computer vor. Aus physikalischer Sicht legt jedes solche Programm auf den Disketten oder anderen Medien, mit denen wir den Computer programmieren, eine bestimmte Wertemenge für physikalische Veränderliche fest. Wir wissen aus der Quantentheorie, daß diese Veränderlichen quantisiert sind und deshalb die Menge möglicher Programme ganz unabhängig davon, wie der Computer arbeitet, diskret ist. Jedes Programm kann also in einem diskreten Code oder einer Computersprache als endliche Folge von Symbolen beschrieben werden. Es gibt unendlich viele solche Programme, aber jedes bestimmte Programm kann nur endlich viele Symbole enthalten, denn Symbole sind physikalische Objekte, die aus erkennbaren Konfigurationen bestehen, und man könnte nicht unendlich viele von ihnen herstellen. Diese intuitiv einleuchtenden physikalischen Forderungen – die Programme müssen quantisiert sein und jedes von ihnen muß aus endlich vielen Symbolen bestehen – sind viel grundsätzlicher, als es den Anschein hat. Es ist trotzdem bemerkenswert, daß man für den Beweis keine anderen Folgen der Naturgesetze vorauszusetzen braucht. Schon diese schränken das Repertoire jeder physikalisch möglichen Maschine drastisch ein. Auch wenn andere Naturgesetze noch weitere Einschränkungen auferlegen, hat das auf die in diesem Kapitel gezogenen Schlüsse keinen Einfluß. Wir stellen uns jetzt eine unendlich lange Liste dieser unendlichen Menge möglicher Programme vor: Programm 1, Programm 2 und so weiter. Die Programme könnten beispielsweise entsprechend ihrer Bezeichnungen «alphabetisch» angeordnet sein. Weil jedes Programm eine Umwelt erzeugt, läßt sich diese Liste auch als eine Liste aller Umwelten aus dem Repertoire der Maschine sehen. Wir können sie Umwelt 1, Umwelt 2 und so weiter nennen. Einige Umwelten könnten in der Liste wiederholt vorkommen, weil zwei unterschiedliche Programme dieselben Rechnungen ausführen, aber das hat auf die Überlegung keinen Ein-
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fluß. Wichtig ist, daß alle Umwelten, die die Maschine in ihrem Repertoire hat, mindestens einmal vorkommen. Eine simulierte Umwelt kann ihrer scheinbaren physikalischen Größe und Dauer nach begrenzt oder unbegrenzt sein. Das von einem Architekten simulierte Haus kann unbegrenzt Bestand haben, füllt aber wahrscheinlich nur einen beschränkten Raum aus. Ein Videospiel gibt dem Spieler vielleicht nur begrenzt viel Zeit, bietet ihm aber eine unbegrenzte Spielwelt, läßt unbegrenzt viel Erkundung zu und hört erst dann auf, wenn der Benutzer selbst das Spiel beendet. Um den Beweis zu vereinfachen, betrachten wir nur Programme, die unendlich lange laufen können. Das ist keine starke Einschränkung, weil wir das Ausbleiben der Reaktion, wenn ein Programm anhält, für die Reaktion einer sinnesisolierten Umwelt halten können. Wir wollen jetzt eine Klasse logisch möglicher Umwelten beschreiben, die wir zu Ehren von Cantor, Gödel und Turing CGT-Welten nennen wollen. Sie sind folgendermaßen definiert: In der ersten subjektiven Minute verhält sich eine CGT-Welt anders als die (von Programm 1 unseres Simulators erzeugte) Umwelt 1. Es kommt nicht darauf an, wie sie sich wirklich verhält, solange der Benutzer sie deutlich von Umwelt 1 unterscheiden kann. In der zweiten Minute verhält sie sich anders als Umwelt 2 (sie darf aber wieder nicht Umwelt 1 ähneln), in der dritten Minute verhält sie sich anders als Umwelt 3 und so weiter. Jede Umgebung, die diesen Regeln genügt, wollen wir eine CGT-Umgebung nennen. Da eine CGT-Welt sich nicht genauso verhält wie Umwelt 1, kann sie nicht Umwelt 1 sein. Ähnlich muß sie sich früher oder später anders verhalten als Umwelt 2, Umwelt 3 und so weiter. Deshalb kann sie keine der Umwelten auf unserer Liste sein. Da diese Liste alle Umwelten enthält, die von jedem möglichen Programm erzeugt werden, folgt für diese Maschine, daß keine der CGT-Welten zu ihrem Repertoire gehört. Die CGT-Welten sind Umwelten, die dieser Computer nicht simulieren kann. Offensichtlich gibt es ungeheuer viele CGT-Welten, denn die Definition läßt enorm viele Möglichkeiten für ihr Verhalten offen; die Bedingung ist ja lediglich, daß sie sich in jeder Minute nicht auf eine bestimmte Weise verhalten dürfen. Es läßt sich beweisen, daß es für jede Umwelt im Repertoire eines bestimmten Wirklichkeitssimulators unendlich viele
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CGT-Welten gibt, die er nicht simulieren kann. Es gibt auch nicht viele Möglichkeiten, das Repertoire durch Verwendung anderer Simulatoren zu erweitern. Nehmen wir an, wir hätten hundert von ihnen, jede (der Einfachheit halber) mit einem anderen Repertoire. Dann ist dieses ganze Ensemble zusammen mit dem programmierbaren Kontrollsystem, das bestimmt, welche von ihnen benutzt werden sollen, um ein bestimmtes Programm zu simulieren, eigentlich nur ein noch größerer Simulator. Auf diesen Simulator trifft dann die gleiche Überlegung zu. Für jede Umwelt, die er simulieren kann, gibt es also unendlich viele, die er nicht simulieren kann. Weiterhin stellt sich die Annahme, daß unterschiedliche Simulatoren unterschiedliche Repertoires haben, als übermäßig optimistisch heraus. Wie wir gleich sehen werden, haben alle hinreichend raffinierten Simulatoren im wesentlichen dasselbe Repertoire. Unser hypothetisches Vorhaben, den endgültigen Simulator für virtuelle Realität zu finden, das sich zunächst so gut anließ, ist plötzlich gegen eine Mauer gestoßen. Auch wenn wir uns in ferner Zukunft noch so gute Verbesserungen ausdenken, wird das Repertoire der ganzen Technologie der virtuellen Realität niemals über eine bestimmte vorgegebene Menge von Umwelten hinausgehen können. Zugegeben, diese Menge ist unendlich groß und nach unseren Maßstäben sehr vielfältig. Trotzdem ist sie nur ein winziger Bruchteil der Menge aller logisch möglichen Umwelten. Wie würde es uns in einer CGT-Welt ergehen? Die Naturgesetze lassen es zwar nicht zu, daß wir in einer sind, aber es ist doch logisch möglich, und deshalb ist die Frage legitim. Sicherlich würde es uns keine neuen Sinneserfahrungen vermitteln, weil ein universeller Bilderzeuger möglich ist und nach Voraussetzung ein Teil unseres hochtechnologischen Simulators darstellt. Eine CGT-Welt würde uns also erst dann intellektuell geheimnisvoll erscheinen, wenn wir mit der Umwelt in Wechselwirkung waren und über die Ergebnisse nachgedacht haben. Das ginge etwa so: Nehmen wir an, Sie wären in ferner höchsttechnologisierter Zukunft begeistert von der virtuellen Realität, aber schon einigermaßen erschöpft, weil Sie bereits alles Interessante ausprobiert haben. Dann taucht eines Tages ein Genie auf und behauptet, Sie in eine CGT-Welt versetzen zu können. Sie sind skeptisch, aber bereit, die Behauptung
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zu überprüfen. Sie lassen sich in diese Welt versetzen, die Ihnen nach einigen Experimenten bekannt vorkommt, denn sie reagiert genau wie eine ihrer Lieblingswelten, die auf Ihrem System daheim die Nummer X hat. Aber wenn Sie weiter experimentieren, reagiert diese Umwelt spätestens nach der Xten subjektiven Minute der Erfahrung anders als alles, was Umwelt X tun würde. Sie müssen also den Gedanken aufgeben, daß dies Umwelt X ist. Sie bemerken dann vielleicht, daß alles, was bis jetzt passiert ist, auch mit einer anderen Umwelt verträglich ist, nämlich mit Umwelt Y, aber nach einer gewissen Zeit und nicht später als in der Yten subjektiven Minute werden Sie wieder enttäuscht. Das Kennzeichen einer CGT-Welt ist folglich sehr einfach: Ganz gleich, wie oft Sie raten und wie komplex das Programm ist, das Ihrer Meinung nach die Umwelt simulieren könnte, Sie werden immer widerlegt. Denn es gibt weder auf Ihrem noch auf irgendeinem anderen Simulator Programme, die die CGT-Welt simulieren. Früher oder später werden Sie den Test abschließen müssen, und dann können sie dem Genie ruhig recht geben. Sie können zwar nie beweisen, daß Sie in einer CGT-Welt waren. Es gibt immer ein noch komplexeres Programm, das Sie hätten berücksichtigen können (vielleicht ist es das, das das Genie benutzte), und das Ihren bisherigen Erfahrungen entsprach. Das ist, wie schon gesagt, das allgemeine Kennzeichen der virtuellen Realität: Die Erfahrung kann nicht beweisen, daß man in einer bestimmten Umwelt ist, ob es nun Wimbledon oder eine CGT-Welt ist. Aber es gibt weder solche Genies noch solche Umwelten. Deshalb müssen wir schließen, daß die Physik das Repertoire eines Simulators viel weiter einschränkt, als logisch nötig wäre. Wie groß kann es sein? Da wir nicht hoffen können, alle logisch möglichen Umwelten wiederzugeben, betrachten wir eine schwierige (aber letztlich ungeheuer viel interessantere) Art von Universalität. Wir definieren einen universellen Wirklichkeitssimulator als ein Gerät, dessen Repertoire das jedes anderen physikalisch möglichen Simulators enthält. Kann es eine solche Maschine geben? Ja, durchaus. Bei futuristischen Geräten, die auf computergesteuerter Nervenreizung beruhen, ist das offensichtlich – sogar fast zu offensichtlich. Ein solches Gerät könnte mit den Merkmalen jeder rivalisie-
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renden Maschine programmiert werden. Es könnte berechnen, wie diese Maschine bei jedem vorgegebenen Programm auf jedes beliebige Verhalten des Benutzers reagieren würde und diese Reaktionen deshalb mit jeder gewünschten Genauigkeit simulieren. Der Benutzer würde den Unterschied nicht bemerken. Es ist fast zu offensichtlich, weil es eine wichtige Annahme darüber enthält, wozu das vorgeschlagene Gerät und insbesondere sein Computer programmiert werden könnten: Wenn das geeignete Programm und genügend Zeit und Speichermöglichkeiten gegeben sind, könnte es das Ergebnis jeder Berechnung angeben, die ein anderer Computer, etwa der im rivalisierenden Simulator, durchführt. Die Durchführbarkeit hängt also davon ab, ob es einen universellen Computer gibt – eine einzige Maschine, die alles berechnet, was berechnet werden kann. Diese Art von Universalität wurde zuerst nicht von Physikern, sondern von Mathematikern untersucht. Wie wir in Kapitel 9 sehen werden, versuchten sie die intuitiven Begriffe «Berechnung» oder «Beweis» in der Mathematik zu präzisieren. Aber sie berücksichtigten nicht, daß das, was in der Mathematik berechnet oder bewiesen werden kann, nicht durch mathematische Schlußfolgerungen bestimmt wird, sondern eine Sache der Physik und insbesondere der virtuellen Realität ist. Durch mathematische Schlußfolgerungen läßt sich nicht zeigen, was mathematisch berechnet werden kann. Statt also zu versuchen, ihre Ergebnisse aus physikalischen Gesetzen herzuleiten, stellten sie abstrakte Modelle der «Berechnung» auf und definierten «Berechnung» und «Beweis» mit Hilfe ihrer Modelle. Auf diese Weise geschah es, daß die drei Mathematiker Emil Post, Alonzo Church und vor allem Alan Turing 1936 im Lauf weniger Monate unabhängig voneinander die ersten abstrakten Pläne für universelle Computer entwickelten. Jeder von ihnen meinte, sein Modell der «Berechnung» formalisiere den herkömmlichen Begriff einer mathematischen «Berechnung» richtig. Folglich vermuteten sie auch, ihre Modelle seien jeder anderen vernünftigen Formalisierung desselben Gedankens äquivalent, hätten also dasselbe Repertoire. Diese Vermutung ist jetzt als die Church-TuringHypothese bekannt. Turings Modell der Berechnung und die Art, wie er das zu lösende Problem sah, kamen der Physik am nächsten. Sein gedachter Compu-
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ter, die Turingmaschine, war eine Abstraktion des Gedankens, daß ein Papierstreifen in Quadrate unterteilt ist, wobei in jedem Quadrat eines aus einer endlichen Anzahl leicht unterscheidbarer Symbole steht. Die Berechnung besteht darin, daß jeweils ein Quadrat untersucht wird, der Streifen dabei vorwärts oder rückwärts geschoben wird und eines der Symbole nach einfachen eindeutigen Regeln gelöscht oder geschrieben wird. Turing wies nach, daß ein bestimmter solcher Computer, die sogenannte universelle Turingmaschine, das Repertoire aller anderen Turingmaschinen enthält. Er vermutete, dieses Repertoire bestehe aus genau «allen Funktionen, die natürlicherweise für berechenbar gehalten werden» . Er meinte damit: berechenbar durch Mathematiker. Aber Mathematiker sind eher untypische physikalische Körper. Warum sollten wir annehmen, daß es in bezug auf die Ausführung von Berechnungen nichts Besseres gibt als das, was sie können? Wie sich herausstellen wird, trifft diese Annahme tatsächlich nicht zu. Wir werden in Kapitel 8 sehen, daß ein Quantencomputer Rechnungen ausführen kann, die kein (menschlicher) Mathematiker je auch nur im Prinzip ausführen könnte. Turing erwartete auch, daß das, was «natürlicherweise für berechenbar gehalten wird», auch das ist, was zumindest im Prinzip berechnet werden kann. Diese Vermutung kommt einer stärkeren, einer physikalischeren Fassung der Church-Turing-Hypothese gleich. Der Mathematiker Sir Roger Penrose hat vorgeschlagen, man sollte sie das Turing-Prinzip nennen: Das Turing-Prinzip für abstrakte Computer, die physikalische Computer simulieren: Es gibt einen abstrakten universellen Computer, zu dessen Repertoire alle Rechnungen gehören, die jedes physikalisch mögliche Objekt ausführen kann. Turing glaubte, der in Frage stehende «universelle Computer» sei die universelle Turingmaschine. Um das umfassendere Repertoire der Quantencomputer zu berücksichtigen, habe ich das Prinzip in eine Form gebracht, die nicht festlegt, welcher bestimmte «abstrakte Computer» dies leistet. Der obige Beweis für die Existenz von CGT-Welten geht im wesentlichen auf Turing zurück. Turing dachte, wie gesagt, nicht ausdrücklich
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an virtuelle Realitäten. Aber eine «Umwelt, die simuliert werden kann» entspricht einer Klasse mathematischer Probleme, deren Lösungen berechnet werden können. Diese Probleme sind berechenbar. Die übrigen Probleme, deren Lösungen nicht berechnet werden können, heißen nichtberechenbar. Wenn ein Problem «nichtberechenbar» ist, heißt das nicht, daß es keine Lösung hat oder daß die Lösung vage oder mehrdeutig ist, sondern im Gegenteil, daß es eine Lösung hat. Allerdings gibt es physikalisch auch im Prinzip keine Möglichkeit, diese Lösung zu finden (oder genauer, zu beweisen, daß eine Lösung die richtige ist). In den Begriffen der virtuellen Realität bedeutet das: Kein physikalisch möglicher Simulator kann eine Umwelt simulieren, in der dem Rezipienten die Lösungen nichtberechenbarer Probleme auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden. Solche Umwelten sind CGT-Welten. Umgekehrt entspricht jede CGT-Welt einer Klasse mathematischer Probleme («Was würde in einer auf diese oder jene Art definierten Umwelt als nächstes passieren?»), die physikalisch unmöglich gelöst werden können. Es gibt unendlich viel mehr nichtberechenbare Fragen als berechenbare, und sie sind im allgemeinen ausgefallener. Das ist kein Zufall, sondern rührt daher, daß die Teile der Mathematik, die wir für die am wenigsten esoterischen halten, jene sind, in denen sich das Verhalten physikalischer Objekte in vertrauten Situationen spiegelt. In solchen Fällen können wir Fragen in bezug auf die entsprechenden mathematischen Beziehungen oft mit Hilfe physikalischer Objekte beantworten. Wir können beispielsweise mit unseren Fingern zählen, weil die Finger ganz natürlich der Arithmetik der ganzen Zahlen von Null bis Zehn entsprechen. Die Repertoires der drei sehr verschiedenen abstrakten Computer, die von Turing, Church und Post definiert wurden, erwiesen sich bald als identisch. Das gilt auch für die Repertoires aller abstrakten Modelle mathematischer Berechnung, die seitdem vorgeschlagen wurden. Dies bestätigt vordergründig die Church-Turing-Hypothese und die Universalität der universellen Turingmaschine. Das Rechenvermögen abstrakter Maschinen hat jedoch keine Bedeutung für das, was in Wirklichkeit berechenbar ist oder nicht. Das Spektrum der virtuellen Realität und ihre Auswirkungen auf die Verstehbarkeit der Natur und andere Aspekte der Wirklichkeit hängen davon
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ab, ob die dafür nötigen Computer physikalisch verwirklicht werden können. Insbesondere muß jeder «universelle Computer» selbst physikalisch realisierbar sein. Dies führt zu einer noch stärkeren Fassung des Turing -Prinzips: Das Turing-Prinzip der Berechnung für physikalische Computer, die einander simulieren: Es ist möglich, einen universellen Computer zu bauen, also eine Maschine, die so programmiert werden kann, daß sie jede Berechnung ausführt, die ein physikalisches Objekt ausführen kann. Wenn ein universeller Bilderzeuger also von einem universellen Computer gesteuert würde, wäre das Gerät ein universeller Wirklichkeitssimulator. Es gilt damit auch das folgende Prinzip: Das Turing-Prinzip für Wirklichkeitssimulatoren, die einander erzeugen: Es ist möglich, einen Simulator zu bauen, dessen Repertoire das aller anderen physikalisch möglichen Simulatoren enthält. Nun kann jede Umwelt durch irgendeinen Wirklichkeitssimulator erzeugt werden. Aus dieser Fassung des Turing-Prinzips folgt also, daß dieses Gerät jede physikalisch mögliche Umwelt simulieren kann, denn jede Umwelt kann trivialerweise als ein Simulator mit kleinem Repertoire betrachtet werden. Die sehr große Selbstähnlichkeit, die sich in der Struktur der Wirklichkeit zeigt und die nicht nur Berechnungen, sondern alle physikalischen Vorgänge betrifft, wird deutlich, wenn das Turing-Prinzip in dieser allumfassenden Form formuliert wird: Das Turing-Prinzip: Es ist möglich, einen Simulator zu bauen, dessen Repertoire jede physikalisch mögliche Umwelt enthält. Dies sagt uns nicht nur, daß die verschiedenen Teile der Wirklichkeit einander ähneln können, sondern auch, daß ein einzelnes physikali-
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sches Objekt, das ein für allemal gebaut werden kann (abgesehen von der Instandhaltung und gegebenenfalls einem Vorrat an zusätzlichem Speicherraum) mit unbegrenzter Genauigkeit die Aufgabe ausführen kann, jeden anderen Teil des Multiversums zu beschreiben oder zu simulieren. Die Menge aller Verhaltensweisen und Reaktionen dieses einen Objekts spiegelt genau die Menge aller Verhaltensweisen und Reaktionen aller anderen physikalisch möglichen Objekte und Vorgänge. Dies ist genau die Selbstähnlichkeit, die nötig ist, damit das Gewebe der allumfassenden Wirklichkeit einheitlich und verstehbar ist, unsere in Kapitel 1 geäußerte Hoffnung also erfüllt wird. Damit die Wirklichkeit verstehbar ist, müssen die Naturgesetze, wie sie für jedes physikalische Objekt und jeden physikalischen Vorgang gelten, in einem anderen Objekt, dem nämlich, der sie versteht, verkörpert werden können. Ausserdem müssen Vorgänge, die solches Wissen schaffen können, physikalisch möglich sein. Solche Prozesse nennen wir Wissenschaft. Die Naturwissenschaft hängt von experimentellen Überprüfungen ab, also davon, daß man die aus einem Gesetz folgenden Vorhersagen physikalisch verwirklicht und sie mit (einer Simulation) der Wirklichkeit vergleicht. Sie hängt auch von Erklärungen ab, und das setzt voraus, daß die abstrakten Gesetze selbst und nicht nur ihre Vorhersagekraft in der virtuellen Realität simuliert werden können. Das ist ein hoher Anspruch, aber die Wirklichkeit wird ihm gerecht. Da es physikalisch möglich ist, einen universellen Wirklichkeitssimulator zu bauen, muß er auch wirklich in einigen Universen gebaut werden. Hier ist Vorsicht angesagt. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, definieren wir normalerweise einen physikalisch möglichen Vorgang als einen, der irgendwo im Multiversum wirklich passiert. Aber strenggenommen ist ein universeller Wirklichkeitssimulator ein Grenzfall, der zu seinem Betrieb beliebig große Ressourcen braucht. Wenn wir also sagen, es sei «physikalisch möglich», meinen wir eigentlich, daß es im Multiversum Wirklichkeitssimulatoren mit Repertoires gibt, zu denen näherungsweise alle physikalisch möglichen Umwelten gehören. Weil die Naturgesetze simuliert werden können, werden sie irgendwo simuliert. Deshalb folgt aus der von uns befürworteten Fassung des TuringPrinzips, daß die Naturgesetze nicht nur in einem abstrakten Sinn ihre
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eigene Verstehbarkeit fordern, sondern auch, daß irgendwo im Multiversum Wesen physikalisch existieren, die sie beliebig gut verstehen. Wir werden noch darauf zurückkommen. Wenden wir uns jetzt der in früheren Kapiteln gestellten Frage zu, ob wir dann, wenn wir die Naturgesetze nur in einer simulierten Wirklichkeit kennenlernen könnten, die auf falschen Naturgesetzen beruht, auch die falschen Gesetze lernen würden. Zunächst müssen wir betonen, daß wir die Naturgesetze lediglich aus einer virtuellen Wirklichkeit kennen, die auf den falschen Gesetzen beruht! Wie gesagt, gehören alle unsere externen Erfahrungen der virtuellen Realität an, die von unserem eigenen Gehirn erzeugt wird. Und da unsere Begriffe und Theorien (ob angeboren oder gelernt) niemals vollkommen sind, sind alle unsere Simulationen ungenau. Sie vermitteln uns also die Erfahrung einer Umwelt, die wesentlich anders ist als die Umwelt, in der wir leben. Beispiele dafür sind Luftspiegelungen und andere optische Täuschungen, aber auch die Tatsache, daß wir die Erde unter unseren Füßen als ruhend wahrnehmen, obwohl sie sich in Wirklichkeit rasch und kompliziert bewegt, oder daß wir in jedem Augenblick ein einzelnes Universum wahrnehmen und ein einziges bewußtes Selbst, während es in Wirklichkeit viele gibt. Diese ungenauen und irreführenden Erfahrungen sprechen jedoch nicht gegen die wissenschaftliche Vernunft. Im Gegenteil sind diese Mängel gerade ihr Ausgangspunkt. Es geht uns darum, Probleme mit der physikalischen Wirklichkeit zu lösen. Wenn sich also herausstellt, daß wir jahrhundertelang die Programme eines kosmischen Planetariums erforscht haben, würde das lediglich bedeuten, daß wir einen kleineren Teil der Wirklichkeit erkundet haben, als wir dachten. Na und? Das ist in der Geschichte der Naturwissenschaft schon oft passiert, so, als sich unser Horizont über die Erde hinaus erweiterte, um das Sonnensystem, unsere Galaxis, andere Galaxien, galaktische Haufen und natürlich auch parallele Universen einzubeziehen. Schon morgen kann die nächste solche Erweiterung nötig werden. Sie kann von jeder von unendlich vielen möglichen Theorien bedingt sein. Oder auch gar nicht. Logisch müssen wir dem Solipsismus und verwandten Lehren zugestehen, daß die Wirklichkeit, über die wir etwas in Erfahrung bringen, ein nicht repräsentativer Teil einer größeren unzu-
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gänglichen oder unbegreiflichen Struktur sein könnte. Aber die Begründung, mit der wir diese Lehren widerlegten, zeigt uns, daß es irrational ist, auf diese Möglichkeit zu bauen. Nach Occam sollten wir solche Theorien dann und nur dann erwägen, wenn sie bessere Erklärungen geben als einfachere. Wir können aber dennoch diese Fragen stellen: Nehmen wir an, jemand wäre in einen kleinen, wenig repräsentativen Teil unserer Wirklichkeit eingeschlossen – beispielsweise in einen universellen Wirklichkeitssimulator, der mit den falschen Naturgesetzen programmiert ist. Was würde diese gefangene Person über unsere äußere Wirklichkeit erfahren? Auf den ersten Blick erscheint es unmöglich, daß sie überhaupt etwas entdeckt. Wir halten es für wahrscheinlicher, daß sie höchstens Handlungvorschriften, also das Programm des Computers, der sie gefangen hält, in Erfahrung bringt. Aber das stimmt nicht! Wieder dürfen wir nicht vergessen, daß solche Gefangene, wenn sie Naturwissenschaftler sind, ebenso Erklärungen suchen wie Vorhersagen. Sie werden also nicht damit zufrieden sein, nur die Programme zu kennen, die für das Gefängnis gelten, sondern auch den Ursprung und die Eigenschaften der Größen kennenlernen wollen, die sie in der von ihnen bewohnten Wirklichkeit beobachten. Aber in den meisten virtuellen Realitäten gibt es keine solche Erklärung, denn die simulierten Objekte sind ja in Wirklichkeit gar nicht dort entstanden, sondern in der äußeren Realität. Stellen Sie sich vor, Sie spielten in der virtuellen Realität ein Videospiel. Der Einfachheit halber nehmen wir an, es sei im wesentlichen ein Schachspiel (vielleicht in einer Fassung, in der Sie die Rolle des Königs übernehmen). Sie werden die in dieser Umwelt gültigen «Naturgesetze» und ihre emergenten Folgen mit Hilfe der gewöhnlichen naturwissenschaftlichen Methoden entdecken und die Erfahrung machen, daß Schachmatt oder Remis «physikalisch» (also nach Ihrem besten Verständnis dafür, wie die Umwelt wirkt) möglich sind, eine Stellung mit neun weißen Bauern aber «physikalisch» nicht. Wenn Sie einmal die Gesetze hinreichend gut verstanden haben, werden Sie bemerken, daß das Schachbrett zu einfach ist, um beispielsweise denken zu können, und daß folglich Ihre eigenen Denkprozesse nicht
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allein von den Schachregeln bestimmt sind. Ähnlich können Sie sagen, daß die Figuren auch nach noch so vielen Schachspielen niemals zu Konfigurationen werden, die sich selbst reproduzieren können. Und wenn sich auf dem Schachbrett kein Leben entwickeln kann, dann erst recht keine Intelligenz. Deshalb werden Sie auch schließen, daß Ihre eigenen Denkprozesse nicht in dem Universum entstanden sein können, in dem Sie sich befinden. Selbst wenn Sie Ihr Leben lang in der simulierten Umwelt gelebt hätten und nicht auch noch eigene Erinnerungen an die Außenwelt berücksichtigen müßten, würde Ihr Wissen nicht auf diese Umwelt beschränkt sein. Obwohl diese Welt eine gewisse Ordnung hat und gewissen Gesetzen gehorcht, würden Sie wissen, daß es doch eine umfassendere Außenwelt geben muß, die anderen physikalischen Gesetzen gehorcht. Und Sie könnten sogar vermuten, wie sich diese umfassenderen Gesetze von denen für das Schachbrett unterscheiden müßten. Arthur C. Clarke sagte einmal, fortschrittliche Technologie sei nicht von Zauberei zu unterscheiden. Dies ist wahr, aber etwas irreführend. Es ist eine Aussage, die aus der Sicht eines vor-wissenschaftlichen Denkers gemacht wird. Tatsächlich ist auch für jeden, der versteht, was virtuelle Realität ist, echte Zauberei von der Technologie ununterscheidbar. In der verstehenden Wirklichkeit ist kein Raum für Zauberei. Die Naturwissenschaft sieht alles, was unbegreiflich erscheint, lediglich als Hinweis darauf, daß es etwas gibt, das wir noch nicht verstanden haben, ob es nun ein Zaubertrick, hochentwickelte Technik oder neue Naturgesetze sind. Man nennt Überlegungen, die auf der Voraussetzung der eigenen Existenz beruhen, «anthropisch». Solche Überlegungen werden in der Kosmologie angestellt, aber gewöhnlich führen sie erst dann zu klaren Schlüssen, wenn sie durch wesentliche Annahmen über das Wesen des «Selbst» ergänzt werden. Doch die Insassen unseres hypothetischen Gefängnisses könnten nicht nur durch anthrophisches Denken innerhalb der virtuellen Realität Wissen über die Außenwelt gewinnen. Jede der Erklärungen, die sie für ihre enge Welt finden, könnte augenblicklich in eine externe Wirklichkeit hineinreichen. So enthalten beispielsweise die Schachregeln für einen aufmerksamen Spieler «fossile Hinweise» darauf, daß diese Regeln eine Entstehungsgeschichte haben. Es
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gibt «außergewöhnliche» Regeln wie die Rochade und das Schlagen en passant, die die Komplexität der Regeln vergrößern, aber das Spiel verbessern. Indem man diese Komplexität erklärt, folgert man mit Recht, daß die Schachregeln nicht immer so waren, wie wir sie heute kennen. Im Popperschen System führen Erklärungen immer zu neuen Problemen, die weitere Erklärungen nötig machen. Wenn die Gefangenen ihre Erklärungen nach einer Weile nicht weiter verbessern können, können sie natürlich aufgeben. Sie schließen dann vielleicht irrtümlich, daß es keine Erklärungen gibt. Wenn sie nicht aufgeben, denken sie über jene Aspekte ihrer Umwelt nach, die ihnen nicht angemessen erklärt zu sein scheinen. Wenn also die Hochtechnologie-Enthusiasten sicher sein wollten, daß ihre simulierte Umwelt ihren Gästen endlos vorgaukelt, es gäbe keine Außenwelt, hätten sie viel zu tun. Je länger sie die Täuschung aufrechterhalten wollten, um so einfallsreicher müßte das Programm sein. Denn es wäre nicht damit getan, daß die Menschen im Gefängnis daran gehindert würden, die Außenwelt zu beobachten. Die simulierte Umwelt müßte auch so sein, daß keinerlei Erklärungen für Vorgänge im Inneren auf eine Außenwelt hindeuten. Die Umwelt müßte, anders gesagt, in bezug auf Erklärungen abgeschlossen sein. Es läßt sich behaupten, daß kein Teil des Multiversums, das nicht das Ganze ist, diese Eigenschaft hat. Auch wenn es eine Mehrzahl von logischen Umwelten gibt, die nicht simuliert werden können, ist es trotzdem nach dem Turing-Prinzip möglich, einen Wirklichkeitssimulator zu bauen, dessen Repertoire jede physikalisch mögliche Umwelt umfaßt. So kann also ein einziges physikalisches Objekt alles Verhalten jedes anderen physikalischen Objektes darstellen. Dies macht die Realität überschaubar und die Evolution lebender Organismen möglich. Und damit kommen wir zu dem vierten Element der Physik der Welterkenntnis, der Evolutionstheorie und der Frage nach dem Leben.
7 Was ist Leben? Seit altersher, bis ins 19. Jahrhundert hinein, hielt man es für selbstverständlich, daß eine besondere Kraft, ein «Lebensstoff» oder eine «Lebenskraft», die Materie, aus der Lebewesen bestehen, von anderer unterscheidet. Man unterschied also zwei Formen von Materie, nämlich belebte und unbelebte, und schrieb ihnen völlig unterschiedliche physikalische Eigenschaften zu. Stellen wir uns beispielsweise einen Bären vor. Ein Photo eines Bären hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem lebenden Bären, ebenso wie andere unbelebte Dinge, etwa ein toter Bär oder sogar das Sternbild des Großen Bären. Aber nur belebte Materie kann uns durch den Wald jagen, uns fangen und zerreißen. Unbelebte Dinge unternehmen nichts so Absichtsvolles, jedenfalls dachten die Menschen früher so. Sie hatten natürlich auch niemals eine ferngelenkte Rakete gesehen. Für Aristoteles und andere antike Philosophen zeichnete sich belebte Materie vor allem durch ihre Fähigkeit aus, Bewegung in Gang zu setzen. Ruhende unbelebte Materie, etwa ein Stein, bleibt nach dieser Auffassung solange unbewegt liegen, bis sie durch etwas in Bewegung versetzt wird. Belebte Materie aber, etwa ein Bär im Winterschlaf, kann in Ruhe sein und ohne äußeren Anstoß anfangen, sich zu bewegen. Diese Verallgemeinerungen lassen sich mit den Mitteln der modernen Wissenschaft leicht entkräften. Unserer Meinung nach beruht der bloße Gedanke, etwas «fange an, sich zu bewegen», auf einem Mißverständnis, denn wir wissen, daß der Bär erwacht, weil in seinem Körper elektrochemische Prozesse ablaufen, die durch äußere «Anstöße», wie etwa
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steigende Temperatur oder eine innere biologische Uhr ausgelöst werden, die mit Hilfe langsamer chemischer Reaktionen die Zeit mißt. Chemische Reaktionen sind nichts anderes als die Bewegung von Atomen, deshalb ist der Bär niemals völlig in Ruhe. Andererseits kann ein Urankern, der sicherlich nicht lebendig ist, Milliarden Jahre lang unverändert sein und dann ohne jede äußere Einwirkung plötzlich und heftig zerfallen. Die aristotelischen Gedanken sind heute wertlos, wenn man sie wörtlich nimmt. Aber Aristoteles hat einen wichtigen Punkt richtig verstanden, der im modernen Denken zumeist falsch verstanden wird. Indem er Leben mit einem physikalischen Grundbegriff verknüpfte, erkannte er die Tatsache an, daß Leben ein grundlegendes Naturphänomen ist. Ein Phänomen muß dann «grundlegend» genannt werden, wenn es nötig ist, dieses Phänomen zu verstehen, bevor man die Welt hinreichend gut verstehen kann. Natürlich gehen die Meinungen darüber auseinander, welche Aspekte der Welt es wert sind, verstanden zu werden, und folglich herrscht auch keine Einigkeit darüber, was tief oder grundlegend bedeutet. Einige Menschen halten Liebe für die grundlegendste Naturerscheinung. Andere glauben, alles Verstehenswerte sei verstanden, wenn bestimmte heilige Texte verinnerlicht worden sind. Das Verständnis, das ich meine, findet seinen Ausdruck in den Naturgesetzen und in den Grundsätzen der Logik und der Philosophie. Ein Verständnis ist um so «tiefer», je allgemeiner es ist, je mehr Verbindungen zwischen oberflächlich unterschiedlichen Wahrheiten es enthält, und je mehr es aufgrund von wenigen unerklärten Annahmen erklären kann. Die grundlegendsten Phänomene sind solche, die zur Erklärung vieler anderer Phänomene notwendig sind, selbst aber nur durch Grundgesetze und Grundsätze erklärt werden. Nicht alle grundlegenden Phänomene haben große physikalische Wirkungen. Die Gravitation hat große Wirkungen und ist wirklich grundlegend. Die Quanteninterferenz aber, zu der die in Kapitel 2 beschriebenen Schattenmuster gehören, hatte unmittelbar keine großen direkten Auswirkungen. Es ist sogar ziemlich schwierig, sie auch nur eindeutig nachzuweisen. Trotzdem ist die Quanteninterferenz, wie wir sahen, ein grundlegendes Phänomen. Nurwenn wir sie verstehen, können wir die
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grundlegende Tatsache der physikalischen Wirklichkeit, nämlich die Existenz paralleler Universen, verstehen. Für Aristoteles war es offensichtlich, daß das Leben theoretisch ein Grundphänomen ist und große physikalische Wirkungen hat. Wie wir sehen werden, hatte er recht. Aber er gab dafür die falschen Gründe an, nämlich die seiner Meinung nach offensichtlichen mechanischen Eigenschaften unbelebter Materie und die Tatsache, daß die Erdoberfläche von Lebensvorgängen beherrscht wird. Aristoteles meinte, das Weltall bestehe vor allem aus dem, was wir jetzt die Biosphäre (den das Leben enthaltenden Bereich) der Erde nennen, der oben und unten weitere Teile – die Himmelskugeln und das Erdinnere – angefügt sind. Wer die Biosphäre der Erde für den Hauptinhalt des Kosmos hält, hält Pflanzen und Tiere natürlich für mindestens so wichtig für das Gesamtsystem wie Steine und Sterne. Die moderne Naturwissenschaft hat fast zum entgegengesetzten Schluß geführt. Zunächst machte die kopernikanische Revolution die Erde zum Begleiter einer zentralen, unbelebten Sonne, und spätere Entdeckungen in der Physik und Astronomie zeigten nicht nur, daß das Weltall im Vergleich mit der Erde riesig ist, sondern daß es unglaublich genau durch umfassende Gesetze beschrieben wird, in denen Leben gar keine Rolle spielt. Die Darwinsche Evolutionstheorie erklärte die Entwicklung des Lebens in einer Weise, die keine besondere Physik voraussetzt, und seitdem haben wir viele der grundlegendsten Lebensvorgänge entdeckt und durchschaut, und auch dort keine besondere Physik gefunden. Diese aufsehenerregenden Erfolge der Naturwissenschaft und die große Allgemeingültigkeit insbesondere der Physik Newtons und seiner Nachfolger haben viel zur Anziehungskraft des Reduktionismus beigetragen. Seit sich der religiöse Glaube als mit der Vernunft unvereinbar erwies, sehnen sich viele Menschen nach einer letzten Begründung der Dinge, an die sie glauben können. Als ich in der Schule Biologie lernte, lief die vorherrschende Meinung im wesentlichen auf das Gegenteil dessen hinaus, was Aristoteles für offensichtlich gehalten hatte. Die wissenschaftliche Weltsicht wurde von der beschriebenen reduktivistischen Hierarchie beherrscht, das Leben also keineswegs für grundlegend gehalten; der Ausdruck «Naturkunde» als Lehre von der belebten Natur
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war also ein Anachronismus. Vielmehr war Natur im Grunde gleichbedeutend mit Physik. Die Physik hatte ihrerseits einen Sprößling, die Chemie, die die Wechselwirkungen von Atomen untersuchte. Die Chemie hatte einen Sprößling, die organische Chemie, die sich mit den Eigenschaften von Kohlenstoffverbindungen beschäftigte. Die organische Chemie wiederum hatte einen Sprößling, die Biologie, die sich mit den chemischen Vorgängen beschäftigte, die wir Leben nennen. Dieser entfernte Sproß eines grundlegenden Fachs war für uns nur deshalb interessant, weil wir zufällig selbst ein solcher Prozeß sind. Die Physik dagegen galt selbstverständlich als Wissenschaft, die eigenes Interesse verdient, weil Weltall wie Lebensvorgänge ihren Grundsätzen gehorchen. Meine Mitschüler und ich mußten eine Reihe von «Merkmalen für Lebewesen» auswendig lernen. Diese Merkmale waren rein beschreibend und bezogen sich kaum auf Grundbegriffe. Zugegeben, (Fort-) Bewegung war einer davon, aber auch Atmung und Ausscheidung, Fortpflanzung, Wachstum und Reaktionsfähigkeit, was sich darauf bezieht, daß das, was man stößt, zurückstößt. Was diesen mutmaßlichen Merkmalen des Lebens an Eleganz und Tiefe fehlte, machten sie nicht etwa an Genauigkeit wett. Wie Dr. Johnson uns gesagt hätte, ist jedes wirkliche Ding «reaktionsfähig». Andererseits: Viren atmen nicht, sie wachsen nicht, sie scheiden nichts aus, und sie bewegen sich nicht. Und sterile Menschen reproduzieren sich nicht. Aber beide sind lebendig. Weder der aristotelischen Sichtweise früher noch den Lehrern meiner Schule gelang es, auch nur eine brauchbare systematische Unterscheidung von lebenden und nichtlebenden Dingen zu liefern, geschweige denn tieferes Verständnis zu vermitteln, denn beide hatten nicht erfaßt, was Lebewesen ausmacht – ein Mangel, den wir Aristoteles leichter verzeihen, weil man es zu seiner Zeit nicht besser wußte. Die moderne Biologie versucht nicht, das Leben durch eine charakteristische physikalische Eigenschaft oder Substanz – einen Lebensstoff – zu definieren, mit dem nur belebte Materie ausgestattet ist. Wir meinen nicht mehr, daß es eine solche Substanz gibt, weil wir jetzt wissen, daß «belebte Materie», also Materie in Form organischer Lebewesen, nicht Grundlage des Lebens ist, sondern nur eine seiner Auswirkungen. Die Grundlage des
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Lebens ist molekular. Leben beruht darauf, daß es Moleküle gibt, die bestimmte Umwelten dazu bringen, Kopien dieser Moleküle herzustellen. Solche Moleküle werden Replikatoren genannt. Allgemeiner formuliert ist jede Größe, die gewisse Umwelten dazu veranlaßt, Kopien von sich herzustellen, ein Replikator. Nicht alle Replikatoren sind biologisch, und nicht alle Replikatoren sind Moleküle. So ist beispielsweise ein sich selbst kopierendes Computerprogramm (etwa ein «Computervirus») ein Replikator. Auch ein guter Witz ist ein Replikator: Er bringt den, der ihn hört, dazu, ihn anderen Zuhörern zu erzählen. Richard Dawkins hat für menschliche Gedanken, die solcherart Replikatoren sind, den Ausdruck Meme geprägt. Alles irdische Leben jedoch basiert auf Replikatoren, die Moleküle sind. Sie heißen Gene, und die Biologie ist die Untersuchung des Ursprungs, der Struktur und der Wirkungsweise von Genen und ihrer Auswirkungen auf andere Materie. Ein Gen besteht aus Folgen von vier kleineren Molekülen, die eine Kette bilden. Die Namen der Komponenten Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin werden gewöhnlich mit A, T, G und C abgekürzt. Ein Gen besteht also aus einer Folge, wie sie Abbildung 16 zeigt. Der chemische Name für Moleküle mit dieser Struktur (Desoxyribonukleinsäure) wird mit DNA abgekürzt. Gene sind eigentlich Computerprogramme, die als Folgen der Symbole A, T, G und C in einer Standardsprache geschrieben werden. Diese Sprache heißt genetischer Code und ist mit sehr kleinen Abwandlungen für alles irdische Leben gleich. Innerhalb der Zellen eines jeden Organismus führen spezielle Strukturen dazu, diese Programme auszuführen, indem sie unter gewissen äußeren Bedingungen bestimmte Chemikalien (Proteine) herstellen. So wird das Gen in Abbildung 16 in bestimmten Körperzellen chemisch «eingeschaltet» und reagiert darauf, indem es diese Zellen zur Herstellung von Insulin anregt, dem Hormon, das den Blutzuckerspiegel reguliert. Auf molekularer Ebene kann ein Gen seinen Computer nur auf die Herstellung eines bestimmten chemischen Stoffs programmieren. Trotzdem schaffen es Gene, Replikatoren zu sein, weil sich diese einfachen chemischen Programme durch viele Schichten komplizierter Steuerungs- und Rückkopplungsverfahren auf höherem Niveau zu raffinierten Anweisungen zusammenfügen, die zum
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Abb. 16 Die Struktur des Gens für Insulin von Affen.
Kopieren von Genen und zur Herstellung anderer Organismen derselben Art führen, einschließlich der Teile, die alle diese Anweisungen als Computer der nächsten Generation ausführen. Es gibt auch Anweisungen dafür, wie der Körper als Ganzes auf Reize reagieren sollte: wann und wie er jagen, essen, sich paaren, kämpfen oder fliehen sollte. Ein Gen kann nur in gewissen Umwelten als Replikator wirken. Gelegentlich wird eine solche Umwelt als «Nische» des Replikators bezeichnet; wir wollen den Ausdruck Nische jedoch für die Menge aller möglichen Umwelten reservieren, die ein vorgegebener Replikator dazu veranlassen kann, Kopien des Replikators herzustellen. Die Nische eines menschlichen Insulin-Gens enthält Umwelten, in denen das Gen zusammen mit vielen anderen Chemikalien und insbesondere anderen Genen in den Kern einer menschlichen Zelle eingebettet ist. Dabei findet die Zelle selbst im Inneren eines funktionierenden menschlichen Körpers eine Umgebung, in der sich menschliches Leben über Jahrzehnte hin erhalten und fortpflanzen kann. Aber es gibt auch andere Umwelten – etwa
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biotechnische Labors, in denen Bakterien genetisch verändert werden, damit sie das Gen einbauen –, die ebenfalls Kopien des menschlichen Insulin-Gens erstellen. Diese Umwelten gehören ebenso zu den Nischen eines Gens wie unendlich viele andere mögliche Umwelten, die sich von jenen, in denen sich das Gen entwickelte, deutlich unterscheiden. Nicht alles, was kopiert werden kann, ist ein Replikator. Ein Replikator veranlaßt seine Umwelt dazu, ihn zu kopieren. Er trägt also ursächlich zu seiner eigenen Kopie bei, ist aber keinesfalls der einzige, der einen Beitrag leistet. Sowohl das Vorhandensein wie auch die spezifische physikalische Form des Replikators sind folglich dafür wesentlich, ob eine Kopie hergestellt wird oder nicht. Der Replikator wird also kopiert, wenn er selbst zugegen ist, nicht aber, wenn ihn ein anderer, auch sehr ähnlicher, Körper ersetzt. Das Insulin-Gen beispielsweise löst in dem enorm komplizierten Prozeß seiner eigenen Replikation nur einen kleinen Schritt aus (dieser Prozeß ist der ganze menschliche Lebenszyklus!), aber die allermeisten Varianten dieses Gens geben den Zellen keine Anweisung, eine Chemikalie herzustellen, die die für das menschliche Leben so wichtige Aufgabe des Insulins erfüllen könnte. Wenn die Insulin-Gene in den Zellen eines Menschen durch sehr ähnliche, aber andere Moleküle ersetzt würden, müßte dieser Mensch sehr jung sterben, falls er nicht durch andere Mittel am Leben erhalten wird. Er könnte also keine Nachkommen haben, und diese Moleküle würden nicht kopiert. Ob Kopien hergestellt werden oder nicht, hängt außerordentlich stark von der Form des Insulin-Gens ab. Wenn eine Kopie hergestellt wird, das Gen sich also repliziert, ist es wesentlich, ob das Gen in seiner eigentlichen Form vorliegt oder nicht; aber auch zahllose andere Ursachen tragen zu seiner Replikation bei. Man nimmt an, daß in der DNA der meisten Organismen außer Genen auch Zufallsfolgen der A, T, G und C vorkommen. Sie werden ebenfalls kopiert und an die Nachkommen weitergegeben. Eine solche Folge wird auch dann kopiert, wenn sie durch fast jede andere Folge ähnlicher Länge ersetzt wird. Beim Kopieren solcher Folgen kommt es also nicht auf die spezifische Form an. Obwohl auch solche Folgen kopiert werden, tragen sie nicht ursächlich zu ihren eigenen Kopien bei, sind also keine Replikatoren.
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Genaugenommen ist das eine Übertreibung. Alles, was tatsächlich kopiert wird, muß irgendeinen ursächlichen Beitrag zu diesem Kopieren geleistet haben. Zufallsfolgen von DNA bestehen ja zumindest auch aus DNA, was es dem Zeil-Computer erlaubt, sie zu kopieren. Er kann keine anderen als DNA-Moleküle kopieren. Es bringt gewöhnlich wenig, etwas als Replikator zu bezeichnen, dessen ursächlicher Beitrag zu seiner eigenen Replikation gering ist, obwohl es strenggenommen eine Frage der Ausprägung ist, ob etwas ein Replikator ist oder nicht. Der Grad, in dem ein Replikator ursächlich in einer gegebenen Umwelt zu seiner eigenen Replikation beiträgt, heißt Anpassungsgrad des Replikators an die Umwelt. Wenn ein Replikator an die meisten Umwelten einer Nische gut angepaßt ist, sagen wir, er sei gut an die Nische angepaßt. Wir haben gerade gesehen, daß das Insulin-Gen in hohem Maße an seine Nische angepaßt ist. Zufällige DNA-Folgen sind im Vergleich mit dem Insulin-Gen oder irgendeinem «ehrlichen» Gen an diese Nische zwar wenig, aber viel besser angepaßt als die meisten Moleküle. Um den Grad der Anpassung zu quantifizieren, müssen wir nicht nur den fraglichen Replikator betrachten, sondern auch eine Reihe von Varianten. Je empfindlicher das Kopieren in einer bestimmten Umwelt von der genauen physikalischen Struktur des Replikators abhängt, um so besser ist der Replikator an diese Umwelt angepaßt. Für hoch angepaßte Replikatoren (die einzigen, die es verdienen, Replikatoren genannt zu werden) müssen wir nur ziemlich kleine Varianten in Erwägung zu ziehen, weil sie bei fast allen großen Veränderungen keine Replikatoren mehr sein würden. Wir können also erwägen, den Replikator durch ähnliche Dinge zu ersetzen. Um anzugeben, wie hoch der Grad der Anpassung an eine Nische ist, müssen wir den Grad der Anpassung des Replikators an jede Umwelt der Nische, also Varianten sowohl der Umwelt als auch des Replikators betrachten. Wenn es den meisten Varianten des Replikators nicht gelingt, in den meisten Umwelten seiner Nische kopiert zu werden, ist die Form unseres Replikators eine wesentliche Ursache für seine eigene Kopie in dieser Nische. Das meinen wir, wenn wir sagen, er sei in hohem Grad an diese Nische angepaßt. Wenn andererseits die meisten Varianten des Replikators in den meisten Umwelten dieser Nische kopiert werden, kommt es offenbar kaum auf die Form des Repli-
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kators an, weil er ja in jedem Fall kopiert wird. In diesem Fall trägt unser Replikator ursächlich wenig zu seinem Kopiertwerden bei; er ist nicht sehr hoch an diese Nische angepaßt. Der Grad der Anpassung eines Replikators hängt also nicht nur davon ab, was dieser Replikator in seiner tatsächlichen Umwelt leistet, sondern auch davon, was ungeheuer viele andere Dinge, von denen es die meisten gar nicht gibt, in sehr vielen Umwelten, die anders sind als die tatsächliche, tun würden. Wir sind dieser seltsamen Eigenschaft schon früher begegnet. Die Genauigkeit einer Wirklichkeitssimulation hängt nicht nur davon ab, wie der Simulator auf die Handlungen des Rezipienten reagiert, sondern auch von den Reaktionen, die er nicht ausführt, wie er also auf das reagiert, was der Rezipient nicht tut. Diese Ähnlichkeit zwischen Lebensvorgängen und virtueller Realität ist nun beileibe kein Zufall. Die Nische eines Gens wird üblicherweise vor allem dadurch bestimmt, wie abhängig die Replikation des Gens vom Vorliegen anderer Gene ist. Die Replikation des Insulin-Gens etwa hängt also nicht nur davon ab, daß im Körper alle anderen menschlichen Gene vorhanden sind, sondern auch davon, daß es in der Umgebung Gene anderer Organismen gibt. Menschen können nicht ohne Nahrung überleben, und die Gene zur Herstellung dieser Nahrung gibt es nur in anderen Organismen. Andere Arten von Genen, die für ihre Vermehrung auf Kooperation angewiesen sind, finden sich oft in langen DNA-Ketten, der DNA eines Organismus. Ein Organismus ist etwas, das wir uns in der Umgangssprache gewöhnlich als lebendig vorstellen. Aber es folgt aus dem Gesagten, daß wir den Begriff «lebendig» auf andere Teile eines Organismus als auf seine DNA bestenfalls aus Höflichkeit anwenden können. Ein Organismus ist kein Replikator. Er ist Teil der Umwelt von Replikatoren – nach den Genen gewöhnlich der wichtigste Teil. Die übrige Umwelt ist die Umgebung, die der Organismus besetzen kann (ob Berggipfel oder Meeresgrund), und der besondere Lebensstil in dieser Umgebung (ob er Nahrung jagt oder sie filtriert), der es ihm ermöglicht, lange genug zu leben, damit seine Gene repliziert werden können. Gewöhnlich sprechen wir von der «Fortpflanzung» der Organismen und halten sie für ein «Merkmal von Lebewesen». Wir stellen uns also
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Organismen als Replikatoren vor. Aber das ist ungenau. Nicht Organismen werden bei der Reproduktion kopiert, und erst recht verursachen sie nicht ihre eigene Kopie. Sie werden nach Bauplänen, die in der DNA ihrer Eltern verkörpert sind, neu gebaut. Wenn beispielsweise die Nasenform eines Bären bei einem Unfall verändert wird, kann das den Lebensstil dieses bestimmten Bären verändern und seine Überlebenschancen und seine Fähigkeit zur «Selbstreplikation» beeinflussen. Aber der Bär mit der neuen Nasenform hat keine Chance, kopiert zu werden. Falls er Nachkommen hat, werden sie alle Nasen haben, die seiner ursprünglichen gleichen. Wenn man aber an dem entsprechenden Gen eine geeignete Veränderung anbringt (direkt nach der Zeugung müßte man nur ein einziges Molekül verändern), haben alle Nachkommen nicht nur die neue Nasenform, sondern auch Kopien des neuen Gens. Dies zeigt, daß die Form der Bärennase allein keinen ursächlichen Beitrag zur Nase der Nachkommen liefert. Aber die Form der Gene des Bären trägt sowohl zur Form ihrer eigenen Kopie als auch zur Nasenform des Bären und seiner Nachkommen bei. Ein Organismus ist also die unmittelbare Umwelt, die die wirklichen Replikatoren, die Gene des Organismus, kopiert. Traditionell hätte man eine Bärennase als lebendig und seine Höhle als nicht lebendig beschrieben. Doch diese Unterscheidung beruht auf keinem grundlegenden Unterschied. Die Bärennase spielt grundsätzlich keine andere Rolle als seine Höhle. Beide sind keine Replikatoren, obwohl fortwährend neue hergestellt werden. Sowohl die Nase als auch die Höhle sind lediglich Teile der Umwelt, die die Gene des Bären im Lauf der eigenen Replikation manipulieren. Dieses auf Genen basierende Verständnis des Lebens, das Organismen als Teil der Umwelt von Genen sieht, bildet seit Darwin implizit die Grundlage der Biologie, wurde aber erst seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts wirklich verstanden und zum ersten Mal vollständig ausformuliert, als Richard Dawkins 1976 Das egoistische Gen veröffentlichte. Kehren wir zu der Frage zurück, ob das Leben ein Grundphänomen der Natur ist. Anscheinend deutet alles darauf hin, daß es lediglich eine Begleiterscheinung in einer langen Reihe von Begleiterscheinungen dar-
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stellt. Denn nicht nur die Vorhersagen der Biologie, sondern oberflächlich gesehen auch die Erklärungen reduzieren sich im Prinzip auf die Physik. Die erklärenden Theorien Darwins (in modernen Fassungen wie der von Dawkins) und der modernen Biochemie sind reduktiv. Lebende Moleküle – Gene – sind lediglich Moleküle und gehorchen denselben Naturgesetzen wie unbelebte. Sie enthalten keine besondere Substanz und haben auch keine besonderen physikalischen Eigenschaften. Sie sind nur unter gewissen Umweltbedingungen zufällig Replikatoren. Die Eigenschaft, ein Replikator zu sein, ist in hohem Maße kontextabhängig – sie hängt also von verzwickten Einzelheiten der Umwelt des Replikators ab, und deshalb kann etwas in einer Umwelt ein Replikator sein und in einer anderen nicht. Auch die Eigenschaft, an eine Nische angepaßt zu sein, hängt nicht von einer einfachen intrinsisch physikalischen Eigenschaft ab, die dem Replikator zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade zukommt, sondern von Wirkungen, die er in Zukunft auslösen kann – und noch dazu unter hypothetischen Umständen (also in Varianten der Umwelt). Kontextabhängige und hypothetische Eigenschaften sind im wesentlichen hergeleitet, deshalb läßt sich schwer einsehen, wie ein nur durch solche Eigenschaften gekennzeichnetes Phänomen ein Grundphänomen sein könnte. Für die physikalischen Auswirkungen des Lebens kommen wir zu demselben Schluß: Die Auswirkungen des Lebens sind anscheinend vernachlässigbar klein. So weit wir wissen, ist der Planet Erde der einzige Ort im Weltall, an dem es Leben gibt. Wir haben keine Hinweise darauf, daß es anderswo vorliegt, so daß seine Wirkungen selbst dann, wenn es weitverbreitet ist, zu klein sind, um für uns wahrnehmbar zu sein. Was wir sehen, wenn wir über die Erde hinausschauen, ist ein aktives Weltall, übervoll mit vielfältigen, aber vollkommen unbelebten Vorgängen. Galaxien drehen sich, Sterne bilden sich, leuchten, flackern, explodieren und kollabieren. Hochenergetische Teilchen und elektromagnetische und Gravitationsstrahlung strömen in alle Richtungen. Ob es unter all diesen gewaltigen Vorgängen Leben gibt oder nicht, scheint keinen Unterschied zu machen. Anscheinend verliefe keiner der Vorgänge im geringsten anders, falls es dort Leben gäbe. Wenn die Erde in einer Sonnenfackel steckte, die astrophysikalisch gesehen ein unbe-
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deutendes Ereignis darstellt, würde unsere Biosphäre augenblicklich sterilisiert, und diese Katastrophe hätte so wenig Auswirkung auf die Fackel wie ein Regentropfen auf einen ausbrechenden Vulkan. Unsere Biosphäre macht aufgrund ihrer Masse, Energie oder ähnlicher Maße nur einen vernachlässigbaren Bruchteil der Erde aus, die selbst ein vernachlässigbarer Bruchteil des Sonnensystems ist. Astrophysiker sagen manchmal, das Sonnensystem bestehe «aus Sonne und Jupiter – und kleinen Unreinheiten». Die Sonne wiederum ist nur ein kleiner Stern am Rand eines Spiralnebels mit hundert Milliarden Sternen, den wir Milchstraße nennen, und diese unsere Galaxis ist unter den hundert Milliarden Galaxien im bekannten Universum völlig unauffällig und nur eine von vielen. Es scheint also, wie es Stephen Hawking in seiner unnachahmlichen Art formulierte, daß «die Menschheit nur ein chemischer Schaum auf einem mittelgroßen Planeten ist, der einen sehr mittelmäßigen Stern umkreist, der sich im Außenbereich einer von hundertmilliarden Galaxien befindet». Nach der heute vorherrschenden Sichtweise ist Leben keineswegs zentral; es ist von fast unvorstellbarer Bedeutungslosigkeit. So gesehen läßt sich der Status der Biologie mit dem der Topographie vergleichen: Ein Stadtplan ist wichtig für die Einwohner der Stadt, aber für Menschen, die nie etwas mit dieser Stadt zu tun haben, höchst bedeutungslos. Ähnlich wird Leben für die Eigenschaft eines oder vielleicht mehrerer engbegrenzter Bereiche des Universums gehalten, die für uns grundlegende Bedeutung haben, weil wir dort leben, die aber weder theoretisch noch praktisch im größeren Schema der Dinge fundamental sind. Bemerkenswerterweise ist dieser Eindruck irreführend. Es stimmt einfach nicht, daß das Leben mit seinen physikalischen Wirkungen unbedeutend ist, und es läßt sich auch nicht theoretisch herleiten. Als ersten Schritt zu einer Erklärung wollen wir auf die Bemerkung zurückkommen, daß Leben eine Art Wirklichkeitssimulation darstellt. Mechanismen, die in lebenden Zellen Genprogramme durchführen, haben wir mit dem Wort «Computer» versehen, aber das ist eine ziemlich ungenaue Ausdrucksweise. Im Vergleich mit den Allzweckcomputern, die wir künstlich herstellen, leisten sie in gewisser Hinsicht mehr und in anderer weniger. Man könnte sie nicht leicht auf Text-
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Verarbeitung oder die Faktorisierung großer Zahlen programmieren, aber sie steuern andererseits außerordentlich genau die Reaktionen einer komplexen Umwelt (des Organismus) auf alles, was ihr passieren kann. Und diese Kontrolle richtet sich darauf, daß die Umwelt in bestimmter Weise auf die Gene zurückwirkt, sie nämlich repliziert. Und das ist mehr als nur Berechnung, denn dadurch erzeugen sie virtuelle Realität. Die Analogie mit der menschlichen Technik der Simulation der virtuellen Realität ist nicht vollkommen. Obwohl Gene genau wie ein Rezipient in einer virtuellen Realität in eine Umwelt eingebettet sind, deren genaue Zusammensetzung und Verhalten im einzelnen von einem (von den Genen selbst verkörperten) Programm festgelegt wird, erfahren die Gene diese Umwelt nicht, weil sie weder über Sinne noch über Erfahrungen verfügen. Wenn ein Organismus also eine durch die Gene festgelegte Wirklichkeitssimulation darstellt, ist sie eine Simulation ohne Publikum. Außerdem wird der Organismus nicht nur simuliert, sondern hergestellt. Es geht nicht darum, die Gene zu «narren» und glauben zu machen, daß es einen Organismus gibt. Es gibt den Organismus dort draußen wirklich. Aber diese Unterschiede sind unwichtig. Wie gesagt, wird durch jede Simulation der virtuellen Realität die simulierte Umwelt physikalisch erzeugt. Das Innere eines Wirklichkeitssimulators ist während der Simulation eine wirkliche physikalische Umwelt, die so beschaffen ist, daß sie die in dem Programm festgelegten Eigenschaften hat. Wir Benutzer der virtuellen Realität deuten es eben manchmal lieber als eine andere Umwelt, die sich zufällig genauso anfühlt. Überlegen wir jetzt, was passiert, wenn kein Rezipient anwesend ist, indem wir darüber nachdenken, welche Rolle der Benutzer in der virtuellen Realität spielt. Erstens muß er die simulierte Umwelt stoßen und von ihr wiederum gestoßen werden, also mit der Umwelt auf autonome Weise wechselwirken. In der Biologie wird diese Rolle von der Umgebung übernommen. Die andere Aufgabe des Rezipienten ist es, die der Simulation zugrundeliegende Absicht zu liefern. Es macht, anders gesagt, wenig Sinn, eine bestimmte Situation als Wirklichkeitssimulation zu sehen, wenn man nicht sagen kann, ob die Simulation genau oder ungenau ist. Die Genauig-
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keit einer Simulation wird daran gemessen, wie groß die vom Rezipienten wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen simulierter und beabsichtigter Umwelt ist. Was aber bedeutet Genauigkeit für eine unbeabsichtigte Simulation, die niemand wahrnimmt? Sie beschreibt den Grad der Anpassung der Gene an ihre Nische. Wir können die «Absicht» der Gene, eine Umwelt zu simulieren, in der sie sich fortpflanzen können, aus Darwins Evolutionstheorie herleiten. Gene, die diese «Absicht» nicht so effizient oder entschieden vertreten wie andere rivalisierende Gene, sterben aus. Lebensvorgänge und Wirklichkeitssimulationen sind also, von oberflächlichen Unterschieden abgesehen, dieselben Vorgänge. Zu beiden gehört die physikalische Verkörperung allgemeiner Theorien über eine Umwelt. In beiden Fällen werden diese Theorien dazu benutzt, diese Umwelt zu verwirklichen und durch Wechselwirkungen nicht nur ihr augenblickliches Aussehen, sondern auch ihre genauen Reaktionen auf allgemeine Reize zu steuern. Gene verkörpern Wissen über ihre Nischen. Davon und nicht von der Replikation an sich hängt alles ab, was für das Phänomen des Lebens grundlegend wichtig ist. Wir können deshalb jetzt über Replikatoren hinausgehen. Im Prinzip könnte man sich eine Spezies vorstellen, deren Gene sich nicht replizieren können, sondern vielmehr am Leben bleiben, indem sie sich fortwährend instandhalten oder indem sie sich vor äußeren Einflüssen schützen. Eine solche Art entwickelt sich in der Natur vermutlich nur selten, könnte aber möglicherweise künstlich geschaffen werden. Genau wie der Grad der Anpassung eines Replikators als der Grad definiert wird, in dem er kausal zu seiner eigenen Replikation beiträgt, können wir den Grad der Anpassung dieser nicht replizierenden Gene als den Grad definieren, indem sie zu ihrem eigenen Überleben in einer bestimmten Form beitragen. Man betrachte eine Art, deren Gene in Diamanten geritzte Muster sind. Ein gewöhnlicher Diamant könnte unter vielen Umständen Millionen Jahre überleben, aber diese Form ist nicht an das Überleben angepaßt, denn unter anderen Umständen würde auch ein anders geformter Diamant überleben. Wenn aber die in Diamant codierten Gene unserer hypothetischen Spezies den Organismus zu einer bestimmten Verhaltensweise veranlassen können, bei-
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spielsweise eine, die die zerkratzte Oberfläche in einer feindlichen Umwelt vor Korrosion schützt oder gegen Wesen verteidigt, die andere Informationen einritzen möchten, hätten sie das Potential, sich an das Überleben in diesen Umwelten anzupassen. Von jedem einzelnen Gen dieser Art würde es immer gleich viele geben, niemals mehr oder weniger, solange das in ihm enthaltene Wissen ausreicht, seine Überlebensstrategie in der von ihm besetzten Nische durchzusetzen. Irgendwann einmal würde eine solche Art vermutlich aussterben, weil sich die Umwelt verändert oder Unfälle zum Verschleiß führen, aber sie könnte so lange leben wie viele natürlich vorkommende Arten. Die Gene dieser hypothetischen Art haben mit Ausnahme der Replikation alle Eigenschaften wirklicher Gene. Insbesondere erzeugen sie ihre Organismen genau so wie wirkliche Gene. Was in dieser hypothetischen Art und auch in wirklichen Genen überlebt, ist nicht unbedingt das Gen oder ein anderer physikalischer Körper, sondern das in ihm verkörperte Wissen. Genaugenommen ist es also ein Wissen, das an eine gewisse Nische entweder angepaßt ist oder nicht. Falls es angepaßt ist, hat es die Neigung, wenn es einmal eingebaut ist, auch weiter eingebaut zu bleiben. Im Fall eines Replikators wird die physikalische Materie, die ihn einbaut, bei der Replikation aus nicht replizierenden Komponenten zusammengestellt. Nicht replizierendes Wissen kann nacheinander in unterschiedlichen physikalischen Formen verkörpert sein, so beispielsweise, wenn eine Tonaufnahme von einer Schellack-Platte auf Magnetband und dann auf eine CD übertragen wird. Man könnte sich ein anderes künstliches Lebewesen vorstellen, das nicht durch Reproduktion entstanden ist, und das ganz ähnlich jede Gelegenheit wahrnimmt, das Wissen in seinen Genen auf das jeweils sicherste verfügbare Medium zu übertragen. Vielleicht machen es unsere Nachkommen eines Tages so. Können wir wirklich alle Organismen dieser hypothetischen Art «unbelebt» nennen? Doch wir brauchen uns nicht über die Terminologie zu streiten. Entscheidend ist, daß es bei dem Phänomen des Lebens eigentlich um Wissen geht, obwohl alles uns bekannte Leben auf Replikatoren beruht. Wir können Anpassung statt durch Replikation auch durch Wissen definieren: Eine Größe ist an ihre Nische angepaßt, wenn
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sie Wissen verkörpert, das die Nische dazu bringt, dieses Wissen zu bewahren. Jetzt kommen wir dem Grund dafür näher, warum Leben grundlegend ist. Leben hat mit der physikalischen Verkörperung von Wissen zu tun, und in Kapitel 6 lernten wir ein Naturgesetz, das Turing-Prinzip, kennen, in dem es ebenfalls um die physikalische Verkörperung von Wissen geht. Dieses Prinzip besagt, daß es möglich ist, die Naturgesetze in Programmen für einen Wirklichkeitssimulator zu verkörpern. Gene sind solche Programme. Mehr noch: Alle anderen Programme zur Erzeugung virtueller Realität, die es gibt oder die es je geben wird, sind direkte oder indirekte Auswirkungen des Lebens. So sind die Programme für Wirklichkeitssimulatoren, die auf unseren Computern und in unseren Gehirnen ablaufen, indirekte Auswirkungen menschlichen Lebens. Leben ist also das Mittel – mutmaßlich ein notwendiges Mittel –, durch das die vom Turing-Prinzip geforderten Effekte in der Natur verwirklicht wurden. Dies ist ermutigend, aber noch kein Beweis, daß Leben ein Grundphänomen ist, denn es ist noch nicht bewiesen, daß das Turing-Prinzip selbst ein Grundgesetz ist. Skeptiker könnten behaupten, es sei keines. Es ist ein Gesetz über die physikalische Verkörperung von Wissen, und diese Skeptiker könnten bezweifeln, daß Wissen eher ein enger anthropozentrischer als ein grundlegender Begriff ist. Wissen wäre dann etwas, was für uns wichtig ist, weil wir so sind, wie wir sind – nämlich Tiere, deren ökologische Nische von der Erschaffung und Anwendung von Wissen abhängt –, aber es ist nicht in einem absoluten Sinn wesentlich. Für einen Koalabären, dessen ökologische Nische von Eukalyptusblättern abhängt, ist Eukalyptus wesentlich, für den Wissen schaffenden Homo sapiens ist Wissen wesentlich. Aber diese Skeptiker irren sich. Wissen ist nicht nur für Homo sapiens wesentlich und nicht nur auf dem Planeten Erde. Betrachten wir die astrophysikalischen Auswirkungen von Wissen. Die Theorie der Sternentwicklung stellt einen der großen Erfolge der Naturwissenschaft dar. Vor nur einem Jahrhundert war nicht einmal die Quelle der Sonnenenergie bekannt. Die Physik der Zeit war zu dem falschen Schluß gekommen, daß die Sonne, ganz unabhängig von ihrer
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Energiequelle, nicht mehr als hundert Millionen Jahre existiert haben könnte. Interessanterweise hatten Geologen und Paläontologen fossile Hinweise darauf, daß die Sonnenstrahlung die Erde schon mindestens einige Milliarden Jahre lang erreicht haben mußte. Die Entdeckung der Kernphysik erlaubte es, die Physik des Sterninneren mit großer Genauigkeit zu erforschen. Seitdem ist die Theorie der Sternentwicklung ausgereift. Wir verstehen jetzt, was einen Stern «scheinen» läßt, und wir können vorhersagen, welche Temperatur, Farbe, Leuchtkraft und welchen Durchmesser er in jedem Stadium seiner Geschichte hat, wie lange jedes Stadium dauert, welche Elemente der Stern durch Kernumwandlungen erschafft und so weiter. Diese Theorie wurde experimentell überprüft und durch Beobachtungen der Sonne und anderer Sterne mit erstaunlicher Genauigkeit bestätigt. Mit Hilfe dieser Theorie können wir die zukünftige Entwicklung der Sonne vorhersagen. Danach wird sie noch etwa fünf Milliarden Jahre mit großer Konstanz so strahlen wie jetzt. Sie wird sich dann auf etwa das Hundertfache ihres jetzigen Durchmessers zu einem Roten Riesenstern aufblähen, anschließend wird sie zu pulsieren beginnen, zu einer Nova aufflackern und sich abkühlen, bis sie schließlich ein Schwarzer Zwerg wird. Aber wird dies alles wirklich mit der Sonne passieren? Ist jeder sonnenähnliche Stern, der sich Milliarden Jahre vor der Sonne bildete, jetzt schon ein Roter Riese, wie die Theorie es vorhersagt? Oder könnten einige anscheinend unbedeutende chemische Prozesse auf kleineren Planeten, die diese Sterne umlaufen, den Ablauf von Kern- und Gravitationsprozessen beeinflussen, die um Größenordnungen mehr Masse und Energie haben? Als Roter Riese wird die Sonne die Erde einhüllen und zerstören. Unsere körperlichen oder geistigen Nachkommen werden das, falls sie dann noch auf der Erde sind, womöglich nicht gern erleben. Wahrscheinlich werden sie alles tun, was in ihrer Macht steht, um es zu verhindern. Ist es wahrscheinlich, daß sie das nicht schaffen werden? Sicherlich ist unsere heutige Technologie viel zu kümmerlich, als daß wir es jetzt leisten könnten. Doch weder unsere Theorie der Sternentwicklung noch
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die übrige uns bekannte Physik gibt uns Anlaß zu glauben, daß die Aufgabe unmöglich ist. Im Gegenteil können wir schon in etwa sehen, was dazu nötig sein würde (nämlich der Sonne Materie wegzunehmen). Außerdem haben wir immerhin noch mehrere Milliarden Jahre Zeit, um unsere unausgegorenen Pläne zu vervollkommnen und in die Praxis umzusetzen. Falls unsere Nachkommen es schließlich schaffen, sich auf diese Weise zu retten, gibt unsere gegenwärtig höchst erfolgreiche Theorie der Sternentwicklung dann eine völlig falsche Antwort, wenn sie auf einen bestimmten Stern, nämlich die Sonne, angewendet wird. Die Antwort ist falsch, weil sie nicht die Auswirkungen des Lebens auf die Sternentwicklung berücksichtigt. Sie berücksichtigt solche grundlegenden physikalischen Einflüsse wie die Kernkräfte und den Elektromagnetismus, die Schwerkraft, hydrostatischen Druck und Lichtdruck – nicht aber Leben. Vermutlich kann das Wissen, das zur Beherrschung der Sonne auf diese Weise nötig ist, nicht allein durch natürliche Auslese gewonnen werden. Deshalb hängt die Zukunft der Sonne also insbesondere davon ab, daß es intelligentes Leben gibt. Nun könnte man einwenden, die Annahme, daß es auf der Erde noch mehrere Milliarden Jahre lang intelligente Wesen geben wird, sei gewaltig und unbegründet, und selbst, wenn es so sein sollte, müßte man die weitere Annahme machen, daß das Wissen dann ausreicht, die Sonne zu beherrschen. Nach einer zur Zeit oft vertretenen Ansicht ist das intelligente Leben auf der Erde schon heute in Gefahr, sich selbst zu zerstören, und zwar entweder durch einen Nuklearkrieg oder durch die katastrophalen Nebenwirkungen des technologischen Fortschritts oder der wissenschaftlichen Forschung. Nach Meinung vieler Menschen kann intelligentes Leben auf der Erde nur dann überleben, wenn der weitere Fortschritt der Technik aufgehalten wird. Diese Menschen fürchten womöglich, die Menschheit könne gerade deshalb, weil sie die Technologie entwickelt, die zur Beherrschung von Sternen nötig ist, gar nicht hinreichend lange überleben, um diese Technologie anwenden zu können. Das Leben auf der Erde ist ihrer Meinung nach irgendwie dazu bestimmt, die Entwicklung der Sonne nicht zu beeinflussen. Wir werden in Kapitel 13 darauf zu sprechen kommen, wie irregeleitet dieser modische Pessimismus ist, und daß wir jeden Grund zu der
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Vermutung haben, daß unsere Nachfahren schließlich einmal die Sonne und noch viel mehr beherrschen werden. Freilich können wir weder ihre Technologie noch ihre Wünsche vorhersehen. Vielleicht werden unsere Nachkommen es vorziehen, sich zu retten, indem sie aus dem Sonnensystem auswandern oder die Erde abkühlen oder indem sie andere Verfahren anwenden, die wir uns nicht vorstellen können und bei denen sie nicht auf die Sonne einwirken müssen. Andererseits möchten sie die Sonne vielleicht schon viel früher beherrschen können als nötig wäre, um das Stadium, in dem sie ein Roter Riese ist, zu verhindern, weil sie beispielsweise ihre Energie wirksamer nutzen oder ihr Rohstoffe entnehmen wollen, um sich selbst mehr Lebensraum zu verschaffen. Es kommt mir hier darauf an zu zeigen, daß nicht die Richtigkeit unserer Vorhersage zählt, sondern nur die Behauptung, daß das, was geschehen wird, davon abhängt, welches Wissen unsere Nachfahren haben und wie sie dieses Wissen verwenden. Man kann also nicht die Zukunft der Sonne vorhersagen, ohne Stellung zu beziehen zur Zukunft des Lebens auf der Erde und insbesondere zur Zukunft des Wissens. Die Farbe der Sonne in zehn Milliarden Jahren hängt von der Schwerkraft und dem Lichtdruck, von der Konvektion und von der Kernsynthese ab, aber nicht von der Geologie der Venus, der Chemie des Jupiter oder der Form der Mondkrater. Sie hängt jedoch sehr wohl vom Schicksal des intelligenten Lebens auf der Erde ab, also von Politik, Wirtschaft und den Ergebnissen von Kriegen. Sie hängt davon ab, was Menschen tun, welche Entscheidungen sie treffen, welche Probleme sie lösen, welche Werte ihnen wichtig sind und wie sie ihre Kinder erziehen. Man kann diesen Schluß nicht vermeiden, indem man sich eine pessimistische Sicht unserer Überlebensaussichten zu eigen macht. Denn eine solche Weltsicht folgt weder aus den Naturgesetzen noch aus irgendeinem anderen uns bekannten Grundprinzip. Sie läßt sich nur mit Hilfe höherer menschlicher Begriffe (wie etwa: «Wissenschaftliche Erkenntnis übersteigt moralisches Wissen») rechtfertigen. Wenn man sich auf eine solche Theorie beruft, gesteht man implizit ein, daß man Theorien für zwischenmenschliche Prozesse braucht, wenn man astrophysikalische Vorhersagen machen will. Und selbst wenn die Menschheit in ihren Bemühungen schließlich versagt und nicht überlebt, stellt sich die Frage,
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ob die pessimistische Theorie auf jede außerirdische Intelligenz im Universum zutrifft. Wenn nicht – wenn irgendwo, in irgendeiner Galaxie, intelligentes Leben es je schafft, Milliarden Jahre zu überleben –, dann hat das Leben für die physikalische Entwicklung des Weltalls im Großen einen Sinn. Die Sternentwicklung in der Galaxis und im Multiversum hängt also davon ab, ob und wo sich intelligentes Leben entwickelt hat und wie es sich weiterentwickelt. Unsere Theorien über die Struktur der Galaxien werden, so hoffen wir, bald genau genug sein, um uns die Vorhersage zu erlauben, in welchem Verhältnis die Sterne verschiedener Farbe in der Galaxie zueinander stehen. Dazu müssen wir Annahmen darüber machen, wieviel intelligentes Leben es dort draußen gibt und was bisher erreicht wurde. Wenn diese Annahmen ungenau sind, werden wir genauso sicher die falschen Farben vorhersagen, wie wenn wir einen Fehler in bezug auf die Zusammensetzung interstellarer Gase oder die Masse des Wasserstoffatoms machen. Umgekehrt könnten wir, wenn wir in der Verteilung der Farben gewisse Anomalien aufdecken, Hinweise auf das Vorliegen außerirdischer Intelligenz gewinnen. Die Kosmologen John Barrow und Frank Tipler haben betrachtet, welche astrophysikalischen Wirkungen Leben haben würde, wenn es lange über die Lebenszeit unserer Sonne hinaus Bestand haben würde. Sie fanden, daß Leben schließlich einmal die Struktur des Milchstraßensystems und danach die Struktur des Universums überhaupt stark und qualitativ verändern würde. Jede Theorie über die Struktur des Universums in allen außer seinen allerersten Minuten muß zu dem Faktor Leben Stellung nehmen. Die zukünftige Geschichte des Universums hängt von der zukünftigen Geschichte des Wissens ab. Astrologen glaubten immer an einen Einfluß kosmischer Ereignisse auf menschliches Leben. Die Naturwissenschaft glaubte jahrhundertelang, daß es keine Wechselwirkung gibt. Jetzt sehen wir, daß menschliche Belange doch kosmische Ereignisse beeinflussen. Es lohnt sich, über den Irrtum nachzudenken, der uns den physikalischen Einfluß des Lebens unterschätzen ließ. Es lag an unserer Engstirnigkeit. In dem Universum, wie wir es sehen, hat Leben in astrophysikalischer Hinsicht nichts irgendwie Bemerkenswertes bewirkt. Allerdings
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sehen wir nur die Vergangenheit, und wir können einigermaßen genau nur die Vergangenheit dessen sehen, was uns räumlich nahe ist. Aber die gesamte Vergangenheit – die Geschichte des Universums vom Urknall bis heute – ist nur ein kleiner Teil der physikalischen Wirklichkeit. Es gibt mindestens das Zehnfache an Geschichte und wahrscheinlich viel mehr, selbst wenn wir parallele Universen außer acht lassen. Wir können es nicht beobachten, aber wenn wir unsere besten Theorien auf die Zukunft der Sterne, der Galaxien und des Weltalls anwenden, finden wir reichlich Raum, in dem Leben alles Geschehen beeinflussen und auf Dauer auch beherrschen kann, genau wie es jetzt die Biosphäre der Erde beeinflußt. Die herkömmliche Begründung für die «Bedeutungslosigkeit des Lebens» legt zuviel Wert auf beobachtbare Größen wie Länge, Masse und Energie. Aus der engstirnigen Sicht der Vergangenheit und Gegenwart waren und sind dies gute Meßlatten für astrophysikalische Bedeutung. Aber es gibt keinen physikalischen Grund, warum sie das in Zukunft sein sollten. Darüber hinaus liefert die Biosphäre jetzt schon reichlich Gegenbeispiele, die die allgemeine Anwendbarkeit solcher Maßstäbe in Frage stellen. Im dritten vorchristlichen Jahrhundert beispielsweise betrug die Biomasse der Menschen etwa zehn Millionen Tonnen. Man könnte deshalb schließen, daß physikalische Vorgänge, die im dritten vorchristlichen Jahrhundert abliefen und die Bewegung eines Vielfachen dieser Masse betrafen, höchstwahrscheinlich nicht wesentlich durch die An- oder Abwesenheit von Menschen beeinflußt wurden. Doch just zu dieser Zeit wurde die Große Mauer mit einer Masse von über dreihundert Millionen Tonnen gebaut. Menschen bringen immer wieder Millionen Tonnen Gestein in Bewegung. Heute können wenige Dutzend Menschen für einen Eisenbahn- oder Autotunnel Millionen Tonnen Erde bewegen. Die Menschheit (oder, wenn Sie so wollen, ihre Meme) könnten wahrscheinlich ganze Planeten zerstören, wenn ihr Überleben davon abhinge. Selbst nicht-intelligentes Leben hat auf der Erdoberfläche und in der Erdatmosphäre das Vielfache seiner eigenen Masse umgewandelt. Der gesamte Sauerstoff in unserer Atmosphäre beispielsweise – über eintausend Billionen Tonnen – wurde von Pflanzen geschaffen und war deshalb eine Nebenwirkung der Replikation von
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Genen, also Molekülen, die die Nachkommen eines einzigen Moleküls waren. Leben ist nicht wegen seiner Überlegenheit an Größe, Masse oder Energie so wirkungsvoll, sondern wegen des größeren Wissens. Aber gibt es einen einfachen und grundlegenden physikalischen Unterschied zwischen jenen, die wissen, und jenen, die nicht wissen, der weder von der Umwelt der Objekte abhängt noch von ihren Auswirkungen auf die ferne Zukunft, sondern nur von ihren unmittelbaren physikalischen Eigenschaften? Erstaunlicherweise ja. Um das zu sehen, müssen wir die Sicht des Multiversums einnehmen. Denken wir wieder an das in Abbildung 16 gezeigte Insulin-Gen. In der Mitte des Gens finden wir die Folge GCCTTCAGCG. Diese Folge von zehn Komponenten sitzt in der Nische, die aus dem Rest des InsulinGens und seiner Nische besteht, und ist ein Replikator. Sie verkörpert eine kleine, aber bedeutsame Menge an Wissen. Gleichzeitig betrachten wir eine der oben erwähnten DNA-Folgen, die kein Gen darstellen, und nehmen der Einfachheit halber an, daß wir ein Segment eines Nicht-Gens finden können, das mit dem Segment des Insulin-Gens identisch ist. Es ist also ebenfalls diese Folge GCCTTCAGCG. Aber diese Folge verdient es nicht, Replikator genannt zu werden, weil sie fast nichts zu ihrer Replikation beiträgt und kein Wissen verkörpert. Sie ist eine Zufallsfolge. Hier haben wir also zwei physikalische Objekte, beide Abschnitte derselben DNA-Kette. Eines von ihnen verkörpert Wissen und das andere nicht. Aber sie sind physikalisch identisch. Kann Wissen eine physikalische Grundgröße sein, wenn das eine Ding es hat, ein physikalisch identisches Ding aber nicht? Es kann, denn diese beiden Segmente sind nicht wirklich identisch. Sie sehen nur gleich aus, wenn sie in einem Universum wie dem unseren betrachtet werden. Schauen wir uns an, wie sie in anderen Universen aussehen. Wir können andere Universen nicht direkt betrachten, deshalb müssen wir Theorien zu Hilfe nehmen. Wir wissen, daß DNA in Lebewesen von Natur aus Zufallsschwankungen in der Folge der A, T, G und C-Moleküle unterworfen ist – Mutationen. Nach der Evolutionstheorie sind die Anpassungen der Gene und deshalb die Existenz der Gene selbst an das Auftreten solcher
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Mutationen gekoppelt. Durch die Mutationen enthalten Genpopulationen eine gewisse Vielfalt, und Individuen, deren Gene in höherem Grad angepaßt sind, haben gewöhnlich mehr Nachkommen als andere. Die meisten Veränderungen eines Gens machen die Reproduktion untauglich, und andere machen die Reproduktion weniger wahrscheinlich (sie verkleinern also die Nische des Gens). Einige aber machen sie wahrscheinlicher. So kommt es zur natürlichen Auslese. Gewöhnlich nimmt der Grad der Anpassung der überlebenden Gene mit jeder Generation von Variation und Reproduktion zu. Man bemerke jetzt, daß eine zufällige Mutation, die beispielsweise durch einen Einfall kosmischer Strahlen verursacht wird, nicht nur in der Population des Organismus in einem einzigen Universum zu Varianten führt, sondern auch zwischen Universen. Kosmische «Strahlen» sind hochenergetische Teilchen und laufen wie die von einer Fackel ausgeschickten Photonen in verschiedenen Universen in unterschiedliche Richtungen. Wenn ein kosmisches Teilchen auf einen DNA-Strang trifft und eine Mutation verursacht, treffen seine Entsprechungen in anderen Universen deren Kopien des DNAStrangs an anderen Stellen und verursachen andere Mutationen. So kann der Einfall eines einzigen kosmischen Strahls auf ein einziges DNAMolekül je nachdem, wie unterschiedlich die Wege sind, auf denen es selbst und seine Entsprechungen laufen, in anderen Universen sehr viele verschiedene Mutationen verursachen. Wenn wir sehen wollen, wie ein bestimmtes Objekt in anderen Universen aussehen könnte, brauchen wir im Multiversum nicht in solcher Ferne zu suchen, daß wir im anderen Universum keine Entsprechung zu dem betrachteten Objekt mehr finden können. Man betrachte beispielsweise ein DNA-Segment. In einigen Universen gibt es überhaupt keine DNA-Moleküle. Einige Universen, die DNA enthalten, ähneln unserem so wenig, daß es keine Möglichkeit gibt herauszufinden, welches DNA-Segment im anderen Universum dem entspricht, das wir in unserem Universum betrachten. Es ist sinnlos zu fragen, wie unser DNASegment in einem solchen Universum aussieht. Wir brauchen nur Universen zu betrachten, die unserem ähnlich sind, um diese Mehrdeutigkeit zu vermeiden. Wir könnten beispielsweise nur solche Universen betrachten, in denen es die Spezies Homo sapiens gibt und in denen eine
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Probe eines DNA-Moleküls von einem Artgenossen in einen Analysator gelegt wurde. Dieser wurde darauf programmiert, zehn Buchstaben auszudrucken, die die Struktur an einem bestimmten Ort relativ zu bestimmten Markierungen auf einem bestimmten DNA-Strang wiedergeben. Die folgenden Betrachtungen wären dieselben, wenn wir irgendwelche anderen vernünftigen Kriterien für die Identifizierung entsprechender Segmente von DNA in nahen Universen wählen würden. Nach jedem solchen Kriterium muß das Insulin-Gen in fast allen nahen Universen dieselbe Folge haben wie in unserem. Das ist so, weil es mutmaßlich hochangepaßt ist, die meisten seiner Varianten also in den meisten Varianten ihrer Umwelt keine Aussicht hätten, kopiert zu werden; sie könnten an diesem Ort also nicht in der DNA eines lebenden Menschen vorkommen. Wenn im Gegensatz dazu das DNA-Segment, das kein Wissen verkörpert, eine Mutation durchmacht, kann die mutierte Fassung fast immer kopiert werden. Im Lauf von Generationen der Replikation sind sicher viele Mutationen eingetreten, und die meisten von ihnen haben sich nicht auf die Replikation ausgewirkt. Deshalb wird dieses DNA-Segment anders als seine Entsprechung im Insulin-Gen in anderen Welten völlig heterogen sein. Es könnte wohl sein, daß jede mögliche Variation seiner Folge gleich oft im Multiversum vorkommt. Die Folge ist also vollkommen zufällig. So offenbart die Multiversum-Sicht eine zusätzliche physikalische Struktur unseres DNA-Strangs. In unserem Universum enthält er zwei Segmente mit der Folge TCGTCGTTTC. Eines von ihnen gehört zum Insulin-Gen, das andere zu keinem Gen. In den meisten nahen Universen hat das erste der beiden Segmente dieselbe Folge TCGTCGTTTC wie in unserem, das zweite Segment ist aber in benachbarten Universen deutlich verschieden. Aus der Perspektive des Multiversums sind die beiden Segmente also nicht einmal entfernt ähnlich. Wieder waren wir zu engstirnig und kamen, weil wir nicht über den Tellerrand hinaussahen, zu dem falschen Schluß, daß Größen, die Wissen schaffen, physikalisch identisch sein können mit solchen, die kein Wissen verkörpern. Aber jetzt hat sich der Kreis fast geschlossen. Und der alte Gedankengang, daß lebende Materie bestimmte physikalische
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Abb. 17 Multiversale Sicht zweier DNA-Segmente, von denen eines beliebig ist und das andere aus einem Gen stammt. In unserem Universum sind die beiden zufällig gleich.
Eigenschaften hat, ist doch gar nicht so falsch: Nicht lebende Materie, sondern Wissen schaffende Materie ist physikalisch ausgezeichnet. Innerhalb eines Universums sieht sie unregelmäßig aus, über die Universen hinweg jedoch ist sie regelmäßig, wie ein Kristall im Multiversum. Wissen entpuppt sich also doch als eine grundlegende physikalische Größe, und das Phänomen des Lebens nur um ein Geringes weniger. Man stelle sich vor, man blicke durch ein Elektronenmikroskop auf ein DNA-Molekül in der Zelle eines Bären und versuche, die Gene von den Nicht-Gen-Folgen zu unterscheiden und den Grad der Anpassung jedes Gens abzuschätzen. Diese Aufgabe läßt sich in keinem Universum lösen. Es ist zu kompliziert, in einem Universum die Eigenschaft nachzuweisen, daß etwas ein Gen ist, etwas hochgradig Angepaßtes also – denn Angepaßtheit ist eine emergente Eigenschaft. Man müßte viele Kopien der DNA einschließlich ihrer Variationen herstellen und mit Hilfe der Gentechnologie für jede Variante der DNA viele Embryonen erzeugen, den Bären dann das Aufwachsen in einer Vielfalt von Umwelten ermöglichen, die der Nische des Bären entsprechen, und sehen, welchen Bären bei der Fortpflanzung Erfolg beschieden ist. Mit einem magischen Mikroskop, das in andere Universen sehen könnte, wäre diese Aufgabe einfach. Wie in Abbildung 17 würden sich die Gene von den Nichtgenen abheben wie Äcker in einer Luftaufnahme vom Dschungel oder Kristalle von der Lösung, in der sie sich bilden. Die Gene sind in vielen nahen Universen regelmäßig, während die Segmente der DNA, die keinen Genen entsprechen, unregelmäßig sind. Auch der Grad der Anpassung eines Gens läßt sich fast genauso leicht abschät-
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zen. Die besser angepaßten Gene haben in einem weiten Bereich von Universen dieselbe Struktur. Sie haben die größeren «Kristalle». Jetzt gehen wir zu einem fremden Planeten und versuchen, die dortigen Lebensformen zu finden, falls es welche gibt. Wieder ist dies eine äußerst schwierige Aufgabe. Man müßte komplexe und schwierige Versuche durchführen, deren unendliche Tücken das Thema vieler Sciencefiction-Romane sind. Wenn man sie jedoch durch ein Multiversum-Teleskop beobachten könnte, wären Leben und seine Folgen auf einen Blick zu erkennen. Man müßte nur nach Dingen Ausschau halten, die in den meisten Universen unterschiedlich sind, aber in vielen benachbarten gleich. Wenn man solche gefunden hat, hat man physikalisch verkörpertes Wissen gefunden. Wenn es Wissen gibt, muß es auch Leben geben oder jedenfalls in der Vergangenheit gegeben haben. Man vergleiche einen lebenden Bären mit dem Sternbild des Großen Bären. Der lebende Bär ist anatomisch in vielen benachbarten Universen sehr ähnlich. Nicht nur seine Gene haben diese Eigenschaft, sondern sein ganzer Körper. Andere Eigenschaften seines Körpers, etwa sein Gewicht, können sich allerdings durch Umwelteinflüsse viel stärker unterscheiden als seine Gene. Aber im Sternbild des Großen Bären gibt es keine solche Regelmäßigkeit, denn es ist ein Ergebnis der Anfangsbedingungen im galaktischen Gas, aus dem sich die Sterne bildeten. Diese Bedingungen waren zufällig, also in unterschiedlichen Universen sehr verschieden, und der Prozeß der Sternbildung aus diesem Gas enthielt mehrere Instabilitäten, die zu größeren Variationen führten. Deshalb gibt es nur in sehr wenigen Universen die Anordnung der Sterne, die wir im Sternbild des Großen Bären sehen. In den meisten benachbarten Varianten unseres Universums existieren zwar Sternbilder, aber sie sehen anders aus. Schließlich schauen wir uns auf diese Weise in unserem Universum um. Was sieht unser magisch verstärktes Auge? In einem einzelnen Universum sind die auffallendsten Strukturen Galaxien und Galaxienhaufen, doch diese Objekte haben im Multiversum keine erkennbare Struktur. Wo in einem Universum eine Galaxie ist, gibt es im Multiversum Myriaden von Galaxien mit sehr unterschiedlichen Strukturen. Und’so ist es überall im Multiversum. Nahe Universen ähneln sich nur in bezug
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auf gewisse grobe Merkmale, wie es die Naturgesetze fordern, die für sie alle gelten. So sind Sterne überall im Multiversum kugelförmig und Galaxien spiralig oder elliptisch, aber nichts reicht weit in andere Universen hinein, ohne seine Struktur im einzelnen unmerklich zu verändern – außer eben an jenen wenigen Orten, an denen Wissen verkörpert wird. An solchen Orten dehnen sich Objekte erkennbar über sehr viele Universen hinweg aus. Vielleicht ist die Erde in unserem Universum der einzige solche Ort. Jedenfalls zeichnen sich solche Orte in dem eben erklärten Sinn als die aus, an denen sich Vorgänge – Leben und Denken – abspielen, die die größten deutlich erkennbaren Strukturen im Multiversum erzeugen. Die modernen Naturwissenschaften sind wohl einhellig der Überzeugung, daß die Entwicklung von Leben kein fundamentales Phänomen der Natur ist. Wir aber sind der Meinung, daß Leben doch im großen Stil den Gang der Wirklichkeit bestimmt. Und Leben erzeugt die größten erkennbaren Strukturen im Multiversum. Wir haben also einen sehr unerwarteten, aber doch unmittelbaren Zusammenhang zwischen Evolutionstheorie und Quantentheorie gefunden – und dieser bildet die erstaunlichste Verflechtung zwischen den vielen Verwerfungen der vier Stränge. Eine weitere ist durch die Existenz einer Quantentheorie der Berechnung gegeben, der wir uns im folgenden Kapitel zuwenden wollen.
8 Quantencomputer Vermutlich ist der Begriff Quantencomputer für viele Leser noch sehr neu. Man könnte dabei an eine neue Technologie denken – vielleicht die jüngste und modernste in der bemerkenswerten Folge, zu der die Berechnung mit Transistoren, integrierten Schaltkreisen oder Siliziumchips gehört. Und es stimmt, auch die schon vorhandene Computertechnologie beruht weitgehend auf mikrophysikalischen quantenmechanischen Prozessen. Wenn sich der Hang zu immer schnellerer, kompakterer Computer-Hardware fortsetzen soll, muß die Technologie immer «quantenmechanischer» werden, weil quantenmechanische Effekte in allen kleinen Systemen überwiegen. Aber wenn das alles wäre, würden Quantencomputer bei grundlegenden Erklärungen in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle spielen. Unabhängig davon, welche quantenmechanischen Vorgänge heutige Computer zur Durchführung der Berechnungen nutzen, sie sind alle technologische Verwirklichungen desselben klassischen Grundgedankens, nämlich der universellen Turingmaschine. Deshalb können alle existierenden Computer im wesentlichen dieselben Berechnungen ausführen. Sie unterscheiden sich lediglich in bezug auf die Geschwindigkeit, Speicherfähigkeit und die Modi der Verarbeitung der Eingaben. Selbst ein langsamer Computer mit wenig Speicherplatz läßt sich so programmieren, daß er jedes Problem genausogut lösen und jede Umwelt genausogut simulieren kann wie unsere leistungsfähigsten Computer, wenn nur der Speicherplatz reicht, er lange genug laufen kann und ihm die Hardware zur Verfügung steht, auf der er die Ergebnisse darstellen kann.
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Die Quantenberechnung ist mehr als nur ein schnelleres, weniger aufwendiges Verfahren zur Verwirklichung von Turingmaschinen. Ein Quantencomputer ist vielmehr ein Gerät, das quantenmechanische Effekte, insbesondere Interferenz, einsetzt, um ganz neuartige Berechnungen durchzuführen, die auf jeder Turingmaschine und damit auf jedem klassischen Computer sogar im Prinzip unmöglich wären. Die Quantenberechnung ist deshalb ein völlig neuer Weg, sich die Natur zunutze zu machen. Die ersten Erfindungen, die sich der Natur bedienten, waren Werkzeuge, die durch menschliche Muskelkraft angetrieben wurden. Sie revolutionierten die Situation unserer Vorfahren, litten aber unter der Einschränkung, daß ihr Nutzen an unablässige menschliche Handhabung und Wartung gebunden war. Spätere technische Hilfsmittel überwanden diese Begrenzung: Menschen schafften es, Tiere und Pflanzen ihrer Wahl zu züchten und sich ihre Lebensweisen nutzbar zu machen. So reifte Getreide und wachten Hunde, während ihre Besitzer schliefen. Eine völlig neue Technik begann, als Menschen sich die Welt nicht nur durch schon existierende Lebensformen (und schon bekannte nichtbiologische Phänomene wie das Feuer), sondern durch Töpfe, Ziegel, Räder, Metall und Maschinen, auf neue Weise zunutze machten. Das setzte ein Nachdenken über die Gesetze, die für diese Welt gelten, voraus. Es folgten Tausende von Jahren des Fortschritts in dieser Art der Technologie, in denen die Materie, Kräfte und Energien der Physik genutzt wurden. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Liste durch den Begriff der Information ergänzt, als die Erfindung von Computern eine komplexe Informationsverarbeitung außerhalb des menschlichen Gehirns ermöglichte. Quantencomputer, die jetzt in ihren Kinderschuhen stecken, stellen einen weiteren Fortschritt dar. Sie sind das erste technische Hilfsmittel, das es ermöglicht, parallele Universen zur Verrichtung nützlicher Aufgaben zusammenarbeiten zu lassen. Ein Quantencomputer könnte eine komplizierte Aufgabe auf sehr viele parallele Universen verteilen und dann die Ergebnisse zusammenfassen. Wir sagten schon, wie wichtig es ist, daß ein einziger physikalisch möglicher Computer, wenn genügend Zeit und Speicherplatz zur Verfügung stehen, jede Berechnung ausführen kann, die jeder andere physikalisch mögliche Rechner ausführen kann. Ich sagte auch, daß die Natur-
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gesetze, wie wir sie zur Zeit kennen, solche rechnerische Universalität zulassen. Wenn der Begriff der Universalität jedoch überhaupt nützlich oder für die Gesamtordnung der Dinge bedeutungsvoll sein kann, reicht die bisherige Definition nicht aus. Universalität bedeutet lediglich, daß ein universeller Computer letztlich alles das kann, was jeder andere Computer kann. Anders gesagt ist ein Computer universell, wenn er genug Zeit hat. Was aber ist, wenn er nicht genug Zeit hat? Man stelle sich einen universellen Computer vor, der zu Lebzeiten des Universums nur einen einzigen Rechenschritt machen kann. Wäre seine «Universalität» auch dann noch eine grundlegende Eigenschaft der Natur? Wohl kaum. Allgemeiner kann man diesen engen Begriff der Universalität deshalb kritisieren, weil er einem Computer eine Aufgabe zuordnet, ohne die physikalischen Ressourcen zu berücksichtigen, die der Computer zur Durchführung der Aufgabe braucht. So haben wir beispielsweise einen Rezipienten der virtuellen Realität betrachtet, der bereit ist, sich auf Milliarden Jahre hinaus auf eine Animation einzulassen, während der Computer berechnet, was er als nächstes zeigt. Wenn man über die letzten Grenzen der virtuellen Realität nachdenkt, ist das die für uns angemessene Einstellung. Wenn wir jedoch die Nützlichkeit der virtuellen Realität erwägen, oder, wichtiger noch, fragen, welche Rolle sie im Verständnis der Wirklichkeit spielt, müssen wir genauer unterscheiden. Die Evolution hätte es niemals zu irgend etwas gebracht, wenn die Aufgabe, die Eigenschaften der ersten, einfachsten Umgebungen zu simulieren, nicht praktisch durchführbar gewesen wäre. Ähnlich hätten Naturwissenschaft und Technik niemals Fortschritte gemacht, wenn die Idee eines Steinwerkzeugs noch heute Ziel unseres Nachdenkens wäre. Mehr noch, was zu Beginn wahr war, ist auf jeder Stufe eine absolute Bedingung für den Fortschritt geblieben. Unabhängig davon, wieviel Wissen Gene enthalten, wäre rechnerische Universalität für sie nicht sehr nützlich gewesen, wenn die Simulation ihrer Organismen nicht auch praktisch durchführbar gewesen wäre –, wenn etwa ein einziger Fortpflanzungszyklus Milliarden Jahre dauerte. Die Tatsache, daß komplexe Organismen existieren und daß es eine Folge immer besserer Erfindungen und wissenschaftlicher Theorien gegeben hat, besagt noch mehr über die rechnerische Universalität der Wirk-
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lichkeit. Sie besagt, daß die Naturgesetze durch Theorien angenähert werden konnten, die immer bessere Erklärungen und Vorhersagen liefern, und daß die Aufgabe, diese Theorien zu entdecken, wenn die früher bekannten Gesetze bekannt und die frühere Technologie verfügbar war, rechnerisch durchführbar war. Wenn wir die Evolution selbst als eine Berechnung sehen, sagt sie uns entsprechend, daß es so viele physikalisch mögliche, durch die DNA kodierte Lebewesen gegeben hat, wie es brauchte, um besser angepaßte Lebewesen allein aus weniger gut adaptierten Vorgängern zu berechnen (also ihre Evolution zu ermöglichen). Wir können daraus schließen, daß die Gesetze der Physik nicht nur ihre eigene Verstehbarkeit fordern, sondern auch, daß die entsprechenden evolutionären Prozesse, wie etwa Leben und Denken, weder zu viel Zeit noch zu viele Ressourcen anderer Art erfordern, um in der Wirklichkeit vorzukommen. Das Gewebe der Wirklichkeit ist sozusagen geschichtet, damit es zu sich selbst guten Zugang hat. Die Naturgesetze lassen universelle virtuelle Realität nicht nur zu, sondern gewährleisten, ja fordern sogar auch in einem angemessenen Sinn ihre Effizienz. Um diese wichtige Eigenschaft der Wirklichkeit zu erfassen, fordern moderne Analysen der Universalität gewöhnlich Computer, die in einem stärkeren Sinn universell sind als das Turing-Prinzip fordern würde: Wirklichkeitssimulatoren sind nicht nur möglich, sondern sie können auch so gebaut werden, daß sie zur Simulation einfacher Aspekte der Wirklichkeit keine unrealistisch großen Ressourcen benötigen. Universalität ist in diesem nützlichen und bedeutungsvollen Sinn zu verstehen. Wie gut lassen sich vorgegebene Aspekte der Wirklichkeit simulieren? Welche Berechnungen sind, anders gesagt, in einem bestimmten Zeitraum und mit einem bestimmten Budget praktisch durchführbar? Dies ist die Grundfrage der Komplexitätstheorie, die nach den kleinsten Ressourcen fragt, die zur Durchführung vorgegebener Berechnungen nötig sind. Die Komplexitätstheorie ist noch nicht gut genug in die Physik eingebettet, als daß sie auf Fragen nach den Ressourcen, die zur Durchführung bestimmter Berechnungen nötig sind, viele quantitative Antworten geben könnte. Sie hat jedoch bei der Definition einer nützlichen praktischen Unterscheidung zwischen praktisch durchführbaren und
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undurchführbaren Rechenverfahren gute Fortschritte erzielt. Der allgemeine Ansatz läßt sich am besten an einem Beispiel veranschaulichen. Man betrachte die Aufgabe, zwei ziemlich große Zahlen, etwa 4 220 851 und 2 594 209 zu multiplizieren. Viele von uns erinnern sich an das Verfahren, das wir in der Schule lernten. Man multipliziert jede Ziffer einer Zahl nacheinander mit jeder Ziffer der anderen, während man die Ergebnisse auf bestimmte Weise anordnet und addiert, um die Antwort 10 949 769 651 859 zu erhalten. Auch wenn nicht jeder es gern zugibt, macht dieses mühsame Verfahren die Multiplikation in jedem gewöhnlichen Wortsinn «durchführbar». Aus Sicht der Komplexitätstheorie, die umfangreiche Aufgaben mit Rechnern bearbeitet, die keine Langeweile kennen und fast niemals Fehler machen, fällt diese Methode sicherlich in die Kategorie der «praktisch durchführbaren» Aufgaben. Nach der herkömmlichen Definition kommt es bei der «praktischen Durchführbarkeit» nicht auf die Zeit an, die die Multiplikation eines Zahlenpaars benötigt, sondern auf die Tatsache, daß die Zeit nicht zu stark zunimmt, wenn wir dieselbe Methode auf immer größere Zahlen anwenden. Es überrascht vielleicht, daß sich diese eher indirekte Definition der Durchführbarkeit in der Praxis für viele (wenn auch nicht alle) wichtige Klassen von Rechenaufgaben bewährt. So können wir beispielsweise im Fall der Multiplikation leicht sehen, daß es nach dem herkömmlichen Verfahren wenig Mehrarbeit macht, Zahlen zu multiplizieren, die zehnmal so groß sind. Nehmen wir etwa an, ein bestimmter Computer benötige für jede elementare Multiplikation einer Ziffer mit einer anderen (einschließlich der Zeit, die zur Ausführung der Additionen, Verschiebungen und anderen Operationen nötig ist, die jeder elementaren Multiplikation folgen) eine Mikrosekunde. Wenn wir die siebenstelligen Zahlen 4 220 851 und 2 594 209 multiplizieren, muß jede der sieben Ziffern in 4 220 851 mit jeder der sieben Ziffern von 2 594 209 multipliziert werden. Die Multiplikation benötigt dann (falls die Operationen der Reihe nach ausgeführt werden) sieben mal sieben oder 49 Mikrosekunden. Wenn die Eingaben zehnmal so groß sind wie diese, also je acht Ziffern haben, beträgt die zur Multiplikation benötigte Zeit 64 Mikrosekunden, also nur 31 Prozent mehr.
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Offensichtlich lassen sich die allermeisten Zahlen in einem winzigen Bruchteil einer Sekunde multiplizieren. Deshalb ist die Multiplikation in der Tat für alle Zwecke der Physik durchführbar. Zugegeben, außerhalb der Physik kann es praktische Gründe geben, viel größere Zahlen miteinander zu multiplizieren. Die Faktorisierung, im wesentlichen die Umkehr der Multiplikation, ist anscheinend viel schwieriger. Dabei beginnt man mit einer Zahl, etwa 10 949 769 651 859, und steht vor der Aufgabe, die beiden kleineren Zahlen zu finden, deren Produkt 10 949 769 651859 ist. Da wir sie gerade multipliziert haben, wissen wir in diesem Fall, daß die Antwort 4 220 851 und 2 594 209 lautet (und da beides Primzahlen sind, ist das die einzige richtige Antwort). Aber wie hätten wir die Faktoren sonst gefunden? Sie suchen in Ihrem Schulwissen vergeblich nach einer einfachen Methode, denn es gibt keine. Das offensichtlichste Verfahren der Faktorisierung besteht darin, die Ausgangszahl durch alle möglichen Faktoren zu teilen, zunächst durch 2 und dann durch jede ungerade Zahl, bis schließlich einmal kein Rest bleibt. Falls die vorgegebene Zahl keine Primzahl ist, kann wenigstens einer der Faktoren nicht größer sein als die Quadratwurzel der vorgegebenen Zahl, und daraus läßt sich abschätzen, wie lange das Verfahren dauern kann. In dem von uns betrachteten Fall würde unser Computer den kleineren der beiden Faktoren, also 2 594 209, in wenig mehr als einer Sekunde finden. Die Quadratwurzel einer zehnmal so großen Zahl wäre jedoch dreimal so groß, deshalb würde die Produktzerlegung in diesem Fall bis zu dreimal so lange dauern. Die Hinzufügung einer einzigen Ziffer zur Ausgangszahl würde die Laufzeit verdreifachen. Noch eine Stelle mehr würde sie wieder verdreifachen und so weiter. Die Laufzeit würde geometrisch, also exponentiell mit der Anzahl von Ziffern in der zu faktorisierenden Zahl zunehmen. Die Faktorisierung einer Zahl mit 25 Ziffern würde nach dieser Methode alle Computer der Erde ein Jahr lang beschäftigen. Die Methode läßt sich verbessern, aber alle zur Zeit gebräuchlichen Verfahren der Produktzerlegung haben diese Eigenschaft der exponentiellen Zunahme. Die größte Ziffer, die sozusagen «aus Wut» faktorisiert wurde – eine Zahl, deren Faktoren heimlich von Mathematikern gewählt wurde, um andere Mathematiker auf die Probe zu
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stellen –, hatte 129 Ziffern. Die Faktorisierung wurde nach einem Aufruf im Internet in weltweiter Zusammenarbeit von Tausenden von Computern erreicht. Der Computerwissenschaftler Donald Knuth hat geschätzt, daß die Faktorisierung einer Zahl mit 250 Ziffern mit den besten bekannten Verfahren über eine Million Jahre dauern würde, wenn ein Netzwerk von einer Million Computern daran arbeitete. Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum die Faktorisierung großer Zahlen praktisch nicht durchführbar ist. Niemand kann sich denn auch nur vorstellen, wie eine Zahl mit tausend oder gar einer Million Ziffern faktorisiert werden könnte. Jedenfalls war das bis vor kurzem unvorstellbar. Dann dachte 1982 der große Physiker Richard Feynman über die Computersimulation quantenmechanischer Objekte nach. Er ging von einer schon seit einiger Zeit bekannten Tatsache aus, deren Bedeutung man noch nicht erkannt hatte, nämlich daß die Vorhersage des Verhaltens quantenmechanischer Systeme (also die Simulation quantenmechanischer Umwelten) im allgemeinen undurchführbar ist. Die Bedeutung dieser Tatsache war unter anderem deshalb noch nicht erkannt worden, weil niemand erwartete, die Computervorhersage interessanter physikalischer Phänomene würde besonders einfach sein. Man denke beispielsweise an die Wettervorhersage oder die Vorhersage eines Erdbebens. Obwohl die entscheidenden Gleichungen bekannt sind, sind die Schwierigkeiten, sie in realistischen Situationen anzuwenden, berüchtigt und seit einiger Zeit mit den Begriffen Chaos und «Schmetterlingseffekt» allgemein bekannt. Diese Effekte sind nicht die Ursache der Undurchführbarkeit, von der Feynman sprach. Der Grund hierfür liegt in der einfachen Tatsache, daß sie nur in der klassischen Physik vorkommen (also nicht in Wirklichkeit). Trotzdem möchte ich nachfolgend einige Bemerkungen über «chaotische» klassische Bewegungen machen, wenn auch nur, um den großen Unterschied zwischen der Vorhersagbarkeit in der klassischen und in der Quantenphysik zu beleuchten. Bei der Chaostheorie geht es um Beschränkungen der Vorhersagbarkeit in der klassischen Physik, die von der Tatsache herrühren, daß klassische Systeme inhärent instabil sind. Die «Instabilität» hat nichts
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mit einer Neigung zu ungestümem Verhalten oder zum Zerfall zu tun, sondern mit einer extremen Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen. Nehmen wir an, wir kennen den jetzigen Zustand eines physikalischen Systems, etwa von Billardkugeln, die auf einem Tisch herumrollen. Wenn das System der klassischen Physik gehorchte, wie es das mit guter Näherung tut, sollten wir in der Lage sein, sein zukünftiges Verhalten zu bestimmen – etwa, ob eine bestimmte Kugel in eine Tasche rollt oder nicht –, wenn wir die wesentlichen Bewegungsgesetze kennen. Aber in der Praxis können wir die Anfangsbedingungen und Geschwindigkeiten niemals vollkommen genau messen. So stellt sich die Frage, ob wir, wenn wir die Bewegungsgesetze einigermaßen genau kennen, auch halbwegs genau vorhersagen können, wie sie sich in Zukunft verhalten werden. Die Antwort lautet gewöhnlich: Nein. Der Unterschied zwischen der wirklichen und der vorhergesagten Bahn, die aus leicht ungenauen Daten berechnet wird, wächst gewöhnlich exponentiell und unregelmäßig («chaotisch»), so daß nach einer Weile der ursprüngliche, etwas ungenau bekannte Zustand überhaupt nichts mehr mit dem zu tun hat, was das System tut. Für die Computervorhersage folgt daraus, daß die Planetenbewegungen, das Musterbeispiel klassischer Vorhersagbarkeit, untypische klassische Systeme darstellen. Um vorherzusagen, wie sich ein typisches klassisches System nach relativ kurzer Zeit in der Zukunft verhalten wird, müßte man den Anfangszustand mit unmöglicher submikroskopischer Genauigkeit bestimmen können. Deshalb sagt man, das Schlagen eines Schmetterlingsflügels in Brasilien könne am anderen Ende der Welt einen Wirbelsturm auslösen. Die Unmöglichkeit etwa der genauen Wettervorhersage wird dann der Unmöglichkeit zugeschrieben, jedem Schmetterling auf dem Planeten nachzuspüren. Aber wirkliche Wirbelstürme und Schmetterlinge gehorchen den Gesetzen der Quantentheorie, nicht denen der klassischen Mechanik. Die Instabilität, die geringe Ungenauigkeiten eines klassischen Anfangsstadiums rasch vergrößert, ist keine Eigenschaft eines quantenmechanischen Systems. In der Quantenmechanik führen kleine Abweichungen von einem bestimmten Anfangsstadium gewöhnlich zu nur kleinen Abweichungen vom vorhergesagten Endstadium. Die genaue Vorhersage wird durch einen ganz anderen Effekt erschwert.
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Die Gesetze der Quantenmechanik fordern, daß ein Körper, der anfangs, sagen wir, (in allen Universen) an einem bestimmten Ort ist, sich im Sinn des Multiversums «ausbreitet». So gehen ein Photon und seine Entsprechungen in anderen Universen von demselben Punkt im Glühfaden aus, laufen dann aber in Billionen unterschiedliche Richtungen. Wenn wir später das Geschehen messen, werden auch wir zu unterschiedlichen Wesen, weil jede Kopie von uns das Geschehen in ihrem eigenen Universum beobachtet. Wenn das fragliche Objekt die Erdatmosphäre ist, ist es vielleicht in 30 Prozent der Universen zu einem Wirbelsturm gekommen und in den übrigen 70 Prozent nicht. Subjektiv nehmen wir dies als einzelnes unvorhersagbares «Zufalls»ergebnis wahr, obwohl diese Ereignisse sich aus der Sicht des Multiversums alle ereignet haben. Der wirkliche Grund für die Unvorhersagbarkeit des Wetters ist also die Multiplizität der parallelen Universen, und nicht unsere Unfähigkeit, die Anfangsbedingungen genau zu bestimmen. Selbst wenn wir die Anfangsbedingungen genau kennen würden, bliebe doch diese Multiplizität und damit die Unvorhersagbarkeit der Bewegung. Andererseits würde sich, anders als im klassischen Fall, ein imaginäres Multiversum mit etwas anderen Anfangsbedingungen nicht sehr anders verhalten als das wirkliche Multiversum. Es könnte in 30,000001 Prozent seiner Universen Wirbelstürme erleben und nicht in den restlichen 69,999999 Prozent. Das Flattern von Schmetterlingsflügeln verursacht also in Wirklichkeit keinen Wirbelsturm. Man betrachte vielmehr eine Gruppe identischer Universen in einem Augenblick, in dem in ihnen allen ein bestimmter Schmetterling mit seinen Flügeln schlägt, und eine zweite Gruppe von Universen, die in diesem Augenblick mit denen der ersten Gruppe identisch sind bis auf die Tatsache, daß die Schmetterlingsflügel eben nicht schlagen. Dann warte man einige Stunden. Die Quantenmechanik sagt vorher, daß die beiden Gruppen von Universen, die zunächst identisch waren, immer noch nahezu identisch sind, solange keine außergewöhnlichen Umstände eintreten (wenn etwa jemand den Schmetterling beobachtet und einen Knopf drückt, der eine Atombombe detonieren läßt, sowie der Schmetterling seine Flügel schlägt). Aber jede Gruppe ist in sich sehr einheitlich. Sie enthält Universen mit Wirbel-
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stürmen, Universen ohne Wirbelstürme und selbst einige wenige Universen, in denen der Schmetterling durch eine spontane Umgruppierung seiner Atome zu einer anderen Art mutierte, oder die Sonne explodiert ist, weil ihre Atome zufällig zu einer Kettenreaktion veranlaßt wurden. Die Gruppen sind einander jedoch sehr ähnlich. In den Universen, in denen der Schmetterling mit den Flügeln flattert und Wirbelstürme eintraten, waren diese Wirbelstürme wirklich unvorhersagbar, aber das lag nicht am Schmetterling, denn es gab fast identische Wirbelstürme in Universen, in denen alles andere gleich war, die Flügel sich aber nicht bewegten. Der Unterschied zwischen Unvorhersagbarkeit und Undurchführbarkeit ist wichtig. Unvorhersagbarkeit hat nichts mit den verfügbaren Rechenhilfsmitteln zu tun. Klassische Systeme sind unvorhersagbar (oder wären es, falls es sie gäbe), weil sie so empfindlich auf die Anfangsbedingungen reagieren. Quantensysteme sind nicht so empfindlich, aber unvorhersagbar, weil sie verschiedene Werte annehmen können – sie verhalten sich in unterschiedlichen Universen verschieden –, und deshalb scheinen sie zufällig zu sein. Auch noch soviel Rechenarbeit kann jemals diese Unvorhersagbarkeit verringern. Die praktische Undurchführbarkeit dagegen ist eine Frage der Leistungsfähigkeit des Computers. Sie bezieht sich auf eine Situation, in der wir eine Vorhersage machen könnten, wenn wir nur die nötigen Berechnungen durchführen könnten. Wenn wir die Probleme der Unvorhersagbarkeit in der Quantenmechanik nicht mit der praktischen Undurchführbarkeit durcheinanderbringen wollen, müssen wir Quantensysteme behandeln, die im Prinzip vorhersagbar sind. Von der Quantentheorie wird oft gesagt, sie mache nur Wahrscheinlichkeitsaussagen. So läßt sich beobachten, daß das Photon in dem in Kapitel 2 beschriebenen Interferenz-Experiment in einem Schirm irgendwo im «hellen» Teil des Schattenmusters ankommt. In vielen anderen Experimenten jedoch sagt die Quantentheorie ein einziges, ganz bestimmtes Ergebnis vorher, nämlich, daß das Ergebnis in allen Universen dasselbe ist, obwohl sich die Universen in den Zwischenstufen des Versuchs unterscheiden, und sie sagt auch vorher, welches Ergebnis es ist. In solchen Fällen beobachten wir nicht-zufällige Interferenzerscheinungen.
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Abb. 18a Die Wirkung eines normalen Spiegels ist in allen Universen gleich.
Abb. 18b Ein Einwegspiegel trennt zuvor gleiche Universen in zwei gleiche Gruppen, die sich nur in bezug auf die Bahn eines einzelnen Photons unterscheiden.
Solche Phänomene lassen sich mit einem Interferometer nachweisen, einem optischen Instrument, das hauptsächlich aus Spiegeln besteht, und zwar sowohl aus herkömmlichen (die in den Diagrammen durch angedeutet werden) als auch aus halbversilberten sogenannten Einwegspiegeln, wie sie bei Zaubertricks und in Polizeistationen Verwendung finden und hier durch angezeigt werden. Wenn ein Photon auf einen Einwegspiegel fällt (Abbildung 18), prallt es in der Hälfte der Universen wie von einem herkömmlichen Spiegel ab. In den anderen Universen geht es hindurch, als ob es keinen Spiegel gäbe.
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Abb. 19 Ein einzelnes Photon geht durch ein Interferometer hindurch. Die Spiegel lassen sich so einstellen, daß beide Fassungen des Photons (in verschiedenen Universen) aufgrund der Interferenz am unteren halbversilberten Spiegel herauskommen.
Ein einzelnes Photon tritt oben links, wie in Abbildung 19 gezeigt, in das Interferometer ein. In allen Universen, in denen das Experiment durchgeführt wird, laufen das Photon und seine Entsprechungen auf demselben Weg auf das Interferometer zu. Diese Universen sind also gleich. Aber sobald das Photon auf den halbversilberten Spiegel trifft, werden die anfangs gleichen Universen unterscheidbar. In der einen Hälfte der Universen geht das Photon geradewegs durch den Spiegel hindurch und läuft oben am Interferometer entlang. In den anderen Universen prallt es vom Spiegel ab und läuft links am Interferometer entlang. Die Fassungen des Photons in diesen beiden Gruppen von Universen prallen dann oben rechts beziehungsweise unten links von den gewöhnlichen Spiegeln ab. Sie kommen gleichzeitig unten rechts am halbversilberten Spiegel an und interferieren miteinander. Man bedenke, daß wir nur ein Photon in den Apparat hineingelassen haben und daß jedes der Universen nach wie vor überhaupt nur ein einziges Photon enthält. In allen Universen hat das Photon jetzt den Spiegel rechts unten getroffen. In der einen Hälfte kam es von links und in der anderen Hälfte von oben. Die Fassungen des Photons in diesen beiden Gruppen von Universen interferieren stark. Die Gesamtwirkung hängt von der Anordnung im einzelnen ab, aber Abbildung 19 zeigt den Fall, in dem das Photon am Schluß in allen Universen rechts durch den Spiegel läuft und in kei-
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nem Universum nach unten geschickt oder gespiegelt wird. Deshalb sind alle Universen am Ende des Versuches gleich, genau wie zu Beginn. Sie waren nur zwischendurch einen Bruchteil einer Sekunde lang unterscheidbar und miteinander in Interferenz. Dieses bemerkenswerte, nicht zufällige Interferenzphänomen gibt einen genauso unausweichlichen Hinweis auf die Existenz des Multiversums wie das Phänomen der Schatten. Denn das beschriebene Ergebnis ist mit keinem der beiden möglichen Wege verträglich, den ein Teilchen in einem einzigen Universum genommen haben könnte. Wenn wir ein Photon beispielsweise entlang des unteren Arms des Interferometers nach rechts schicken, könnte es wie das Photon in dem Interferenzexperiment durch den Einwegspiegel laufen oder auch nicht. Manchmal wird es nach unten abgelenkt. Ebenso könnte ein Photon, das an der rechten Seite entlang nach unten läuft, nach rechts abgelenkt werden, wie im Interferenzexperiment, oder einfach weiter nach unten laufen. Auf welchen Weg man also ein einzelnes Photon auch in das Innere des Apparats schickt, immer ist das Ergebnis zufällig. Nur wenn es zur Interferenz zwischen den beiden Wegen kommt, ist das Ergebnis vorhersagbar. Folglich kann das, was genau vor dem Ende des Interferenzexperiments im Apparat steckt, nicht ein einzelnes Photon auf einer einzelnen Bahn sein. Es kann nicht nur ein Photon sein, das den unteren Weg wählt. Es muß etwas geben, das es davon abhält, nach unten abzuprallen. Es kann aber nicht nur ein einzelnes Photon sein, das den Weg nach rechts wählt. Wieder muß etwas anderes da sein. Genau wie bei den Schattenbildern können wir uns weitere Experimente ausdenken, um zu zeigen, daß dieses «etwas andere» alle Eigenschaften eines Photons hat, das den anderen Weg entlang läuft, und mit dem von uns gesehenen Photon, aber mit nichts anderem in unserem Weltall interferiert. Da an diesem Experiment nur zwei Universen beteiligt sind, benötigt die Berechnung des Geschehens nur etwa doppelt so viel Zeit wie notwendig wäre, wenn das Teilchen klassischen Gesetzen gehorchte. Eine solche Berechnung wird wohl kaum durch einen Faktor zwei undurchführbar. Wir haben schon gesehen, wie leicht es zu viel höherer Multiplizität kommen kann. In den Schattenexperimenten läuft ein einzelnes Photon durch kleine Löcher in einer Schranke und fällt dann auf
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einen Schirm. Nehmen wir an, es gebe in der Schranke 1000 Löcher. Dann gibt es auf dem Schirm Orte, auf die ein Photon treffen kann (und in einigen Universen auch trifft), und es gibt solche Orte, auf die es nicht treffen kann. Um zu berechnen, ob ein bestimmter Punkt auf dem Schirm jemals von einem Photon getroffen werden kann oder nicht, müssen wir die Interferenzeffekte von tausend Fassungen des Photons in parallelen Universen berechnen, und dann die Wirkungen jener Photonen aufeinander berechnen, um herauszufinden, ob sie alle daran gehindert werden, diesen Punkt zu erreichen. Wir müssen also etwa tausendmal so viele Berechnungen durchführen, als wenn wir herausfinden wollten, ob ein klassisches Teilchen auf einen bestimmten Punkt trifft oder nicht. Die Komplexität dieser Art von Berechnung zeigt, daß in einer quantenmechanischen Umwelt sehr viel mehr geschieht, als ins Auge fällt. Wie wir weiter oben gesehen haben, läßt sich Dr. Johnsons Wirklichkeitskriterium auf rechnerische Komplexität zurückführen, und vor allem wegen dieser Komplexität ist es sinnlos, die Existenz des Multiversums zu leugnen. Doch wenn bei einem Interferenzphänomen zwei oder mehr Teilchen wechselwirken, sind noch viel höhere Multiplizitäten möglich. Nehmen wir an, jedes von zwei wechselwirkenden Teilchen könnte auf etwa eintausend möglichen Bahnen laufen. Dann kann dieses Paar im Zwischenstadium des Versuchs in einer Million verschiedener Zustände sein, so daß es bis zu einer Million Universen gibt, die sich in dem unterscheiden, was dieses Teilchenpaar tut. Wenn drei Teilchen miteinander wechselwirkten, gäbe es eine Milliarde verschiedener Universen, bei vier eine Billion und so weiter. Die Anzahl der Abläufe, die wir berechnen müssen, um vorhersagen zu können, was in solchen Fällen geschieht, kann also exponentiell mit der Anzahl der beteiligten Teilchen zunehmen. Deshalb ist die Berechnung des Verhaltens eines typischen quantenmechanischen Systems wirklich und wahrhaftig undurchführbar. Dieses Art von praktischer Undurchführbarkeit quälte Feynman. Wir sahen, daß sie nichts mit Unvorhersagbarkeit zu tun hat. Sie zeigt sich sogar am deutlichsten in Quantenphänomenen, die in hohem Maße vorhersagbar sind, denn bei solchen Erscheinungen tritt dasselbe Ergebnis in allen Universen ein, ist aber das Ergebnis der Interferenz ungeheuer
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vieler Universen, die verschieden waren, während das Experiment ablief. All dies ist im Prinzip aufgrund der Quantentheorie vorhersagbar und hängt nicht besonders stark von den Anfangsbedingungen ab. Die Vorhersage, daß das Ergebnis in solchen Experimenten immer dasselbe sein wird, ist deshalb so schwierig, weil dazu ungeheuer viele Berechnungen nötig sind. Diese praktische Undurchführbarkeit ist im Prinzip ein viel größeres Hindernis für die Universalität, als reine Unvorhersagbarkeit es je sein könnte. Wir haben schon gesehen, daß eine völlig genaue Simulation einer Roulettescheibe nicht dieselbe Zahlenfolge zeigen müßte – oder sogar dürfte – wie eine wirkliche. Entsprechend können wir auch nicht im voraus eine virtuelle Realität simulieren, die das Wetter von morgen zeigt. Aber wir können (oder werden es eines Tages können) ein Wetter simulieren, das kein Benutzer, auch kein noch so guter Fachmann, vom wirklichen Wetter unterscheiden kann. Dasselbe gilt für jede Umwelt, die nicht die Wirkungen der Quanteninterferenz zeigt, also für die allermeisten. Die Simulation einer solchen Umwelt ist eine durchführbare Rechenaufgabe. Anscheinend lassen sich jedoch Umwelten, die die Wirkung von Quanteninterferenz zeigen, nicht simulieren. Wie können wir in jenen Fällen sicher sein, daß unsere simulierte Umwelt nicht aufgrund eines Interferenzphänomens etwas tut, was in der wirklichen Umwelt niemals passieren würde, ohne unglaublich viele Rechnungen anzustellen? Daraus ließe sich natürlich schließen, die Wirklichkeit weise letztlich deswegen keine wirkliche rechnerische Universalität auf, weil sich Interferenzphänomene nicht brauchbar simulieren lassen. Feynman zog jedoch ganz richtig den entgegengesetzten Schluß! Statt ein Hindernis darin zu sehen, daß die Aufgabe, Quantenphänomene zu simulieren, undurchführbar ist, erkannte Feynman dies als eine günstige Gelegenheit. Wenn es so viel Berechnung erfordert herauszufinden, was in einem Interferenzexperiment geschehen wird, läuft die Durchführung eines solchen Experiments und die Messung des Ergebnisses auf die Ausführung einer komplexen Rechnung hinaus. Vielleicht also, überlegte Feynman, ließen sich Quantenumwelten schließlich doch zuverlässig simulieren, falls man dem Computer erlaubte, ein
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reales quantenmechanisches Objekt zu messen. Er würde während des Vorgangs entscheiden, welche Messungen er macht, und die Ergebnisse der Messungen in seine Berechnungen einbauen. Dieses Quantenhilfsmittel wäre praktisch auch ein Computer. Man kann sich beispielsweise ein Interferometer wie jeden anderen physikalischen Körper als einen Computer vorstellen. Wir würden ihn heute einen Spezial-Quantencomputer nennen, den wir «programmieren», indem wir die Spiegel in einer bestimmten Anordnung aufstellen und dann ein einziges Photon auf den ersten Spiegel projizieren. In einem nicht zufälligen Interferenzexperiment wird das Photon immer in einer bestimmten Richtung herauskommen, die durch die Anordnung der Spiegel bestimmt ist, und wir könnten diese Richtung als einen Hinweis auf das Ergebnis der Berechnung deuten. In einem komplizierteren Experiment mit mehreren wechselwirkenden Teilchen könnte eine solche Berechnung, wie schon erwähnt, leicht «undurchführbar» werden. Wir können das Ergebnis erhalten, indem wir einfach dieses Experiment durchführen. Das Problem ist also nicht wirklich undurchführbar. Wir müssen jetzt sorgfältig auf unsere Sprache achten. Offensichtlich gibt es Rechenaufgaben, die mit jedem existierenden Computer «undurchführbar» sind, die aber durchführbar würden, wenn man quantenmechanische Objekte als Spezial-Computer verwendet. Quantenphänomene können auf diese Weise jedoch nur dann zur Durchführung von Berechnungen eingesetzt werden, wenn sie nicht chaotisch sind. Wenn das Ergebnis von Berechnungen ungewöhnlich stark vom Anfangszustand abhinge, würde die Aufgabe, das Gerät zu «programmieren», indem man es in einen geeigneten Anfangszustand versetzt, zu einer zu schwierigen Aufgabe. Man könnte es für Betrug halten, ein Quantengerät auf diese Weise als Hilfsmittel zu verwenden, weil sich offenbar jede Umwelt, von der man eine Kopie übrigt hat, die man während der Simulation messen kann, viel leichter simulieren läßt als alle anderen. Außerdem würde das allein nicht die Universalität wiederherstellen. Bei der Universalität kommt es ja darauf an, daß eine einzelne Maschine, die ein für allemal festgelegt ist, in der Lage sein sollte, jede physikalisch mögliche Umwelt zu simulieren. Feynman vermutete jedoch, man würde dazu nicht unbe-
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dingt eine haargenaue Kopie der simulierten Umwelt brauchen. Vielmehr würde es möglich sein, ein viel leichter zu konstruierendes Hilfsgerät zu finden, dessen Interferenzeigenschaften zu denen der Zielumwelt analog wären. Dann könnte ein normaler Computer aufgrund der Analogie zwischen dem Hilfsgerät und der Zielumwelt den Rest der Simulation besorgen. Und das, so meinte Feynman, wäre eine durchführbare Aufgabe. Außerdem vermutete er, es würde nicht nötig sein, das zugehörige Hilfsgerät von Grund auf neu zu bauen, wenn man eine andere Umwelt simulieren wollte. Es sollte möglich sein, das Hilfsgerät so zu bauen, daß relativ kleine systematische Veränderungen genügen würden, alle gewünschten Interferenzeigenschaften zu erzeugen. Er nannte ein solches Gerät einen universellen Quantensimulator. Feynman hatte recht. Ich konnte 1985 beweisen, daß es in der Quantenphysik einen universellen Quantencomputer gibt. Der Beweis war ziemlich direkt, weil ich nur Turings Konstruktionen nachahmen mußte, wobei ich jedoch statt der klassischen Mechanik, die Turing implizit vorausgesetzt hatte, die Quantentheorie zur Definition der grundlegenden Physik verwandte. Ein universeller Quantencomputer könnte jede Rechnung durchführen, die jeder andere Quantencomputer (oder irgendein Turing-Computer) durchführen kann, und er könnte jede mögliche endliche physikalische Umwelt in der virtuellen Realität simulieren. Außerdem wurde seither gezeigt, daß die Zeit und andere Ressourcen, die die Durchführung dieser Dinge voraussetzen würde, nicht exponentiell mit der Größe oder den Einzelheiten der simulierten Umwelt zunehmen würde. Aus diesen Gründen müßten die nötigen Berechnungen nach den Maßstäben der Komplexitätstheorie durchführbar sein. Die klassische Theorie der Berechnung, die ein halbes Jahrhundert lang als Paradigma der Computerwissenschaft nicht in Frage gestellt wurde, ist jetzt veraltet, aber sie ist wie der Rest der klassischen Physik eine Näherung. Die Theorie der Berechnung ist jetzt die Quantentheorie der Berechnung. Im Rückblick sehen wir, daß selbst die klassische Theorie der Berechnung der klassischen Physik nicht völlig entsprach, sondern stark von der Quantentheorie überschattet war. Es ist kein Zufall, daß das Wort bit, das die kleinste mögliche Informationsmenge bezeichnet, mit der ein Computer umgehen kann, im wesentlichen dasselbe
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Abb. 20 Multiverselle Sicht davon, wie ein Bit stetig von 0 auf 1 anwächst.
bezeichnet wie Quant, nämlich ein kleines Bißchen. Diskrete Variablen kommen in der klassischen Physik nicht vor. Nehmen wir an, eine Variable habe nur die beiden Werte 0 und 1. Wie kann sie dann je von 0 zu 1 gelangen? In der klassischen Physik mußte sie unstetig springen, was sich nicht damit verträgt, wie Kräfte und Bewegungen in der Mechanik wirken. In der Quantenphysik ist keine unstetige Veränderung nötig, obwohl alle meßbaren Größen diskret sind. Vor der Veränderung hat die Variable in allen Universen den Wert 0. Nach der Veränderung hat sie in allen Universen den Wert 1. Während der Veränderung sinkt der Bruchteil der Universen, in denen der Wert 0 ist, stetig von 100 Prozent auf 0, und entsprechend wächst der Anteil, in denen der Wert 1 ist, von 0 auf 100 Prozent. Abbildung 20 zeigt eine multiverselle Sicht einer solchen Veränderung. Sie könnte nahelegen, daß der Übergang von 0 zu 1 auf der Ebene des Multiversums objektiv stetig ist, subjektiv jedoch aus der Sicht eines einzelnen Universums unstetig – was beispielsweise durch eine Horizontale durch Abbildung 20 dargestellt würde. Dies ist jedoch lediglich eine Einschränkung für das Diagramm, nicht eine Eigenschaft dessen, was passiert. Obwohl das Diagramm es so aussehen läßt, als gäbe es in jedem Augenblick ein bestimmtes Universum, das sich gerade eben von 0 zu 1 veränderte, weil es die Grenze überschritt, ist das nicht wirklich so. Das liegt daran, daß ein solches Universum mit jedem anderen Universum übereinstimmt, in dem das Bit zu der Zeit den Wert 1 hat. Wenn die Bewohner eines von ihnen eine unstetige Veränderung erleben, dann auch die Bewohner aller anderen. Deswe-
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gen kann keiner von ihnen diese Erfahrung machen. In Kapitel 10 werden wir sehen, daß der Gedanke, etwas bewege sich wie in Abbildung 20 durch ein Diagramm, in dem die Zeit schon dargestellt wird, einfach falsch ist. In jedem Augenblick hat das Bit in einer bestimmten Anzahl der Universen den Wert 1 und in den anderen ist es 0. Abbildung 20 zeigt all diese Universen zu all diesen Zeiten. Sie bewegen sich nirgendwo hin. Die Quantenphysik steckt auch dadurch implizit in klassischen Berechnungen, daß alle praktischen und theoretischen Verwirklichungen von Turing-Rechnern auf Festkörpern oder magnetisierten Stoffen beruhen, die es ohne quantenmechanische Effekte nicht geben könnte. So besteht jeder Pestkörper aus Atomen, die selbst aus elektrisch geladenen Teilchen zusammengesetzt sind. Unter den klassischen Bewegungsgesetzen könnte keine Anordnung geladener Teilchen stabil sein. Die positiv und negativ geladenen Teilchen würden sich einfach von ihrem Ort weg bewegen und aufeinanderprallen, und die Struktur würde zerfallen. Nur starke Quanteninterferenz zwischen den Wegen, die geladene Teilchen in parallelen Universen wählen, verhindert solche Katastrophen und macht Festkörper möglich. Der Bau eines universellen Quantencomputers liegt weit außerhalb der Möglichkeiten der heutigen Technik. Zur Aufdeckung eines Interferenzphänomens gehört immer auch eine entsprechende Wechselwirkung zwischen allen Variablen, in denen die zur Interferenz beitragenden Universen sich unterscheiden. Je mehr wechselwirkende Teilchen beteiligt sind, um so schwieriger ist gewöhnlich die Wechselwirkung zu steuern, die die Interferenz zeigen, also das Ergebnis der Berechnung angeben würden. Abgesehen von den technischen Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn in der Größenordnung einzelner Atome oder Elektronen gearbeitet wird, besteht eines der wichtigsten Probleme darin zu verhindern, daß die Umwelt durch die interferierenden Teilrechnungen beeinflußt wird. Denn wenn eine Gruppe von Atomen ein Interferenzphänomen durchläuft und sie andere Atome in ihrer Umwelt beeinflußt, kann die Interferenz nicht länger durch Messungen allein in der ursprünglichen Gruppe aufgespürt werden, die Gruppe führt also keine nützlichen Quantenrechnungen mehr durch. Dies nennt man Dekohärenz.
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Es geht darum, möglichst bald ein sub-mikroskopisches System zu konstruieren, in dem Variablen, die Information übermitteln, miteinander wechselwirken, ihre Umwelt jedoch so wenig wie möglich beeinflussen. Eine andere neuartige Vereinfachung, die es nur bei der Quantentheorie der Berechnung gibt, kann die durch die Dekohärenz verursachten Schwierigkeiten teilweise beheben. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß die genaue Form der Interaktionen im Quantenfall kaum eine Rolle spielt, während man im klassischen Fall spezielle Elemente der klassischen Logik wie und, oder und nicht einbauen muß. Praktisch jedes System wechselwirkender Einheiten im atomaren Maßstab könnte nützliche Quantenberechnungen durchführen, solange es nicht zu Dekohärenz kommt. Wir kennen Interferenzphänomene wie Supraleitung und Hyperfluidität, zu denen gewaltige Anzahlen von Teilchen gehören. Anscheinend kann aber keines von ihnen als etwas gesehen werden, das irgendwelche interessante Berechnungen durchführt. Zur Zeit lassen sich im Labor nur Quantenrechnungen mit einem einzigen Bit einigermaßen leicht bewältigen. Die Experimentatoren sind jedoch zuversichtlich, daß innerhalb der nächsten wenigen Jahre Quantengatter (das Quantenäquivalent der klassischen logischen Elemente) mit zwei und mehr Bits konstruiert werden. Dies sind die Grundbausteine der Quantencomputer. Einige Physiker, allen voran Rolf Landauer von der Forschungsgruppe der IBM, sind eher pessimistisch in bezug auf weiteren Fortschritt. Ihrer Meinung nach kann die Dekohärenz in der Praxis niemals auf einen Punkt reduziert werden, in dem mehr als nur wenige Quantenrechenschritte nacheinander möglich sind. Die meisten Forscher auf dem Gebiet sind viel optimistischer, vielleicht deshalb, weil nur optimistische Forscher an Quantenrechnungen arbeiten. Einige auf Spezialzwecke zugeschnittene Quantencomputer wurden schon gebaut, und früher oder später wird es komplexere Geräte geben. Ich halte auch den Bau des universellen Quantencomputers nur für eine Frage der Zeit, obwohl ich nicht vorhersagen möchte, ob diese Zeit Jahrzehnte oder Jahrhunderte beträgt. Daß das Repertoire des universellen Quantencomputers Umwelten enthält, deren Simulation klassisch undurchführbar sind, legt nahe, daß
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auch neue Klassen rein mathematischer Berechnungen durchführbar geworden sind. Denn die Naturgesetze sprechen, wie Galilei sagte, die Sprache der Mathematik, und die Simulation einer Umwelt läuft auf die Berechnung gewisser mathematischer Funktionen hinaus. In der Tat hat man viele mathematische Aufgaben gefunden, die gut durch Quantencomputer ausgeführt werden können, bei denen aber alle bekannten klassischen Methoden undurchführbar sind. Die spektakulärste von diesen ist die Aufgabe der Faktorisierung großer Zahlen. Diese als Shors Algorithmus bekannte Methode wurde 1994 von Peter Shor entdeckt. Shors Algorithmus ist außerordentlich einfach und benötigt viel bescheidenere Hardware als ein universeller Quantencomputer. Deshalb wird vermutlich eine Quantenfaktorisierungsmaschine schon gebaut werden, wenn der volle Bereich der Quantenrechnung technologisch noch gar nicht zugänglich ist. Dieses Vorhaben hat große Bedeutung für die Kryptographie (die Wissenschaft von der sicheren Verständigung und Informationsübermittlung). Realistische Kommunikationsnetzwerke können global sein und große, immer veränderliche Gruppen von Teilnehmern mit unvorhersagbaren Formen der Kommunikation aufweisen. Es wäre unpraktisch, wenn immer zwei Teilnehmer leibhaftig und im voraus einen Geheimcode austauschen müßten, der es ihnen später ermöglichen würde, ohne Angst vor Mithörern zu kommunizieren. Die Public-key-Kryptographie (Chiffriersysteme mit veröffentlichtem Schlüssel) erlaubt es, Geheiminformation zu übermitteln, ohne daß Sender und Empfänger der Information geheime Botschaften austauschen müssen. Das wohl sicherste der bekannten Verfahren dieser Form der Kryptographie hängt von der praktischen Undurchführbarkeit der Faktorisierung großer Zahlen ab. Dieses Verfahren wird nach Ronald Rivest, Adi Shamir und Leonard Adelman, die es 1978 erdachten, RSA-System genannt. Es beruht auf einem mathematischen Verfahren, bei dem eine Botschaft mit Hilfe einer großen Zahl (mit etwa 250 Ziffern) entziffert werden kann. Dieser Schlüssel kann öffentlich bekanntgegeben werden, denn eine damit chiffrierte Botschaft läßt sich nur entschlüsseln, wenn die Faktoren dieser Zahl bekannt sind. Ich kann also zwei Primzahlen mit je 125 Ziffern wählen und sie geheimhalten, ihr 25Osteiliges Produkt jedoch bekanntgeben; dann kann mir jeder eine Botschaft
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schicken, die mit dieser Zahl verschlüsselt ist, die aber nur ich lesen kann, weil nur ich die geheimen Faktoren kenne. Wie gesagt ist der Versuch praktisch aussichtslos, eine 250stellige Zahl mit klassischen Mitteln zu faktorisieren. Aber eine Quantenfaktorisierungsmaschine, die Shors Algorithmus befolgt, könnte das in wenigen tausend Rechenschritten – in Bruchteilen einer Sekunde – durchführen. Jeder, der Zugang zu einer solchen Maschine hat, wäre mühelos in der Lage, jede aufgefangene Nachricht zu lesen, die im RSA-Kryptosystem verschlüsselt ist. Es würde den Kryptographien gar nicht helfen, wenn sie als Schlüssel größere Zahlen wählten, weil die für Shors Algorithmus benötigten Ressourcen mit der Größe der faktorisierten Zahl nur langsam zunehmen. In der Quantentheorie der Berechnung ist die Faktorisierung eine durchaus durchführbare Aufgabe. Eines zukünftigen Tages wird also das RSA-Chiffriersystem unsicher sein. In gewissem Sinn ist es deshalb heute schon unsicher. Denn jeder einzelne und jede Organisation, die heute eine RSA-chiffrierte Botschaft erhalten und abwarten, bis eine Quantenfaktorisierungsmaschine mit geringer Dekohärenz erhältlich ist, können dann die Botschaft lesen. Das könnte erst in mehreren Jahrhunderten passieren. Oder auch schon in Jahrzehnten – vielleicht noch rascher, wer kann es sagen? Der einzige Ersatz für die frühere vollständige Sicherheit des RSA-Systems ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese Entwicklung lange dauern wird. Wenn eine Quantenfaktorisierungsmaschine eine 250stellige Zahl faktorisiert, liegt die Anzahl der Universen, die daran einen Anteil haben, 500 in der Größenordnung 10 . Diese überwältigend große Zahl ist der Grund, warum Shors Algorithmus die Faktorisierung durchführbar macht. Wenn wir sagen, daß der Algorithmus nur wenige tausend Schritte braucht, sind natürlich wenige tausend Schritte in jedem Universum gemeint, das zu der Antwort beiträgt. All diese Berechnungen werden parallel, in unterschiedlichen Universen, durchgeführt und teilen die Ergebnisse durch Interferenz mit. Die Existenz des Multiversums, wie sie durch Interferenzphänomene bestätigt wird, ist uns ja nicht mehr neu. 500 Vielleicht fragen Sie sich, wie wir unsere Entsprechungen in 10 Universen dazu bringen können, an unserer Faktorisierungsaufgabe zu
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arbeiten. Spannen sie ihre Computer nicht für ihre eigenen Zwecke ein? Nein, und sie müssen auch nicht überredet werden. Shors Algorithmus gilt anfangs nur in einer Menge identischer Universen und macht sie lediglich innerhalb der Grenzen der Faktorisierungsmaschine unterscheidbar. Wir, die wir die zu faktorisierende Zahl vorgegeben haben und auf die Berechnung der Antwort warten, sind in all diesen interferierenden Universen identisch. Es gibt zweifellos viele andere Universen, in denen wir andere Zahlen programmieren oder überhaupt niemals eine Faktorisierungsmaschine bauen. Aber diese Universen unterscheiden sich durch zu viele Variablen von uns – oder genauer gesagt, in bezug auf Variablen, die durch das Programm von Shors Algorithmus nicht in der richtigen Form zur Wechselwirkung gebracht werden – und interferieren deshalb nicht mit unserem Universum. Logisch trägt die Möglichkeit komplexer Quantenberechnungen zu einem Fall, der schon als unbeantwortbar bekannt ist, nichts bei, aber psychologisch hat sie großen Einfluß, denn wieder wird die Frage nach parallelen Universen gestellt. Wie wäre Shors Algorithmus zu erklären, wenn es nur ein Universum gäbe? Dazu genügt nicht die Vorhersage, daß er funktioniert, denn das ist lediglich eine Frage der Lösung einiger Gleichungen, sondern wir fordern eine richtige Erklärung. Wo war die faktorisierte Zahl, wenn Shors Algorithmus eine Zahl faktorisiert 500 und dazu das 10 fache der Rechner-Ressourcen benutzt hat, die sich beobachten lassen? Es gibt im ganzen sichtbaren Universum nur etwa 80 500 10 Atome, und diese Zahl ist im Vergleich mit 10 geradezu winzig. Falls also das sichtbare Universum tatsächlich die ganze physikalische Wirklichkeit umfaßt, enthält sie nicht einmal näherungsweise die Ressourcen, die zur Faktorisierung einer solch großen Zahl nötig wären. Wer hat sie dann faktorisiert? Wie und wo wurde die Rechnung durchgeführt? Es gibt eine weitere Klasse neuer Aufgaben, die Quantencomputer lösen können, klassische Computer jedoch nicht. Durch einen seltsamen Zufall betrifft eine dieser Aufgaben, die als erste entdeckt wurde, ebenfalls die Public-key-Kryptographie. Diesmal geht es nicht darum, ein vorhandenes Chiffriersystem zu knacken, sondern ein neues, absolut sicheres System der Quantenkryptographie zu verwirklichen.
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In der Forschungsabteilung der IBM in Yorktown Heights, New York, wurde 1989 im Arbeitszimmer des Theoretikers Charles Bennett der erste funktionierende Quantencomputer gebaut. Es war ein Spezial-Quantencomputer, der aus zwei quantenkryptographischen Geräten bestand, die Bennett und Gilles Brassard von der Universität von Montreal konstruierten. Sie war die erste Maschine, die jemals nicht-triviale Rechnungen durchführte, die keine Turingmaschine leisten konnte. Im Quantenkryptosystem von Bennett und Brassard sind Botschaften in den Zuständen einzelner von einem Laser ausgeschickter Photonen kodiert. Obwohl viele Photonen nötig sind, um eine Botschaft zu übermitteln (ein Photon pro Bit, und dazu noch viele weitere Photonen, die bei den verschiedensten Gelegenheiten vergeudet werden), können die Maschinen mit heutiger Technik gebaut werden, weil sie ihre Quantenberechnungen jeweils nur an einem Photon ausführen müssen. Die Sicherheit des Systems beruht nicht auf Undurchführbarkeit, weder der klassischen noch der Quantenphysik, sondern unmittelbar auf den Eigenschaften der Quanteninterferenz. Das gibt ihm seine im klassischen System unerreichbare absolute Sicherheit. Noch so viele zukünftige Berechnungen durch Computer, und wenn sie Millionen oder Milliarden von Jahren dauerten, wären keine Hilfe für einen Abhörer, der quantenverschlüsselte Botschaften aufgefangen hätte. Der entscheidende Gedanke ist, daß man Lauscher entdecken kann, wenn man sich mittels eines Mediums verständigt, in dem es Interferenz gibt. Nach der klassischen Physik kann einen Lauscher, der Zugang zu dem Medium hat, das die Kommunikation vermittelt – etwa zu einer Telephonleitung –, nichts daran hindern, eine passive Abhöranlage einzurichten. Allerdings ändert man mit einer Messung an einem Quantensystem seine späteren Interferenzeigenschaften. Das Protokoll der Kommunikation beruht auf dieser Wirkung. Die kommunizierenden Parteien führen praktisch wiederholt Interferenzexperimente durch und koordinieren sie über einen öffentlichen Kommunikationskanal. Nur wenn die Interferenz den Test besteht, daß es keine Lauscher gab, gehen sie zur nächsten Stufe des Protokolls über, wobei ein Teil der übermittelten Information als kryptographischer Schlüssel dient. Im schlimmsten Fall kann ein ausdauernder Lauscher alle Kommunikation verhindern (was sich natür-
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lich durch Durchtrennen der Telephonleitung leichter verhindern ließe). Die Botschaft jedoch ist, das garantieren die Naturgesetze, nur dem beabsichtigten Empfänger zugänglich. Weil die Quantenkryptographie davon abhängt, daß man einzelne Photonen beeinflussen kann, leidet sie unter einer wesentlichen Einschränkung. Jedes Photon, das erfolgreich empfangen wird und ein Bit der Informationseinheit übermittelt hat, muß irgendwie intakt vom Sender an den Empfänger gelangt sein. Aber jede Form der Übermittlung schließt Verluste ein, und wenn diese zu groß sind, kann die Botschaft niemals ankommen. Die Einrichtung von Relais-Stationen (sie sind in bestehenden Kommunikationssystemen ein Hilfsmittel für diese Art von Problem) würde Zugeständnisse an die Sicherheit nötig machen, weil ein Lauscher kontrollieren könnte, was in der Relais-Station abläuft, ohne selbst entdeckt zu werden. Die besten existierenden quanten-kryptographischen Systeme benutzen Glasfaserkabel und haben eine Reichweite von etwa zehn Kilometern. Das würde genügen, um beispielsweise den Finanzdistrikt einer Stadt mit einem absolut sicheren internen Kommunikationsnetz auszustatten. Vielleicht dauert es nicht lange, bis solche Geräte auf den Markt kommen. Aber um das Problem der Publickey-Kryptographie allgemein – etwa für globale Kommunikation – zu lösen, sind weitere Fortschritte in der Quantenkryptographie nötig. Die experimentelle und theoretische Forschung im Bereich der Quantencomputer macht weltweit immer raschere Fortschritte. Fortwährend werden immer verheißungsvollere neue Verfahren zur Verwirklichung von Quantencomputern vorgeschlagen und neue Formen der Quantenberechnung entdeckt und untersucht, die gegenüber klassischen Berechnungen mehrere Vorteile haben. Alle diese Entwicklungen sind sehr aufregend und sicherlich werden sich einige von ihnen in der Praxis bewähren. Aber in bezug auf unser Thema sind sie eigentlich nebensächlich. Im Grunde kommt es nicht darauf an, wie nützlich Quantenberechnung sein kann oder ob der erste universelle Quantencomputer in der nächsten Woche oder in Jahrhunderten oder nie gebaut wird. Die Quantentheorie der Berechnung muß in jedem Fall ein integraler Teil der Weltanschauung jedes Menschen werden, der die Wirklichkeit verstehen will. Was Quantencomputer über Verbindungen zwischen den
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Naturgesetzen, der Universalität und anscheinend beziehungslosen Strängen im Gewebe der Wirklichkeit erzählen, können wir herausfinden, indem wir sie theoretisch untersuchen. Und theoretisch zumindest können Quantencomputer jede physikalisch mögliche Quantenumgebung simulieren. Darüber hinaus können sie auch einige praktische Probleme der Mathematik lösen. Man kann wohl sagen, daß sie eine neue Möglichkeit darstellen, die Natur nutzbar zu machen. Apropos Mathematik: Unser nächstes Kapitel wird möglicherweise viele Mathematiker verärgern, denn die Mathematik ist nicht, was sie zu sein scheint.
9 Das Wesen der Mathematik In den vorausgegangenen Kapiteln haben wir uns mit der physikalischen Wirklichkeit beschäftigt. Doch wir haben auch von Größen gesprochen, die es als Dinge in der physikalischen Welt nicht gibt – logische Abstraktionen, Zahlen und Mengen mit unendlich vielen Computerprogrammen. Auch die Naturgesetze selbst sind andere physikalische Gegebenheiten als Steine und Planeten. Und es gibt die Fiktionen der virtuellen Wirklichkeit, die nichtexistenten Umwelten, deren Gesetze sich von den wirklichen Naturgesetzen unterscheiden, die sogenannten CGT-Welten, die sich nicht simulieren lassen. Von ihnen kommen unendlich viele auf jede simulierbare Welt. Aber was bedeutet es, wenn man sagt, daß es solche Umwelten «gibt»? Wo gibt es sie, wenn nicht in der Realität oder jedenfalls in der virtuellen Realität? Gibt es abstrakte, nichtphysikalische Größen? Sind sie Teil der Wirklichkeit? Welche Zahlen oder Naturgesetze beziehen sich letztlich nur auf die gewöhnliche, physikalische Realität? Welche sind lediglich Randerscheinungen unserer Kultur? Und welche können, wenn überhaupt, nur auf eine Weise erklärt werden, die ihnen eine unabhängige Existenz zuschreibt? Diese letzteren müssen Teil der umfassenden Wirklichkeit sein, wie sie in diesem Buch definiert wird, weil man sie verstehen muß, wenn man alles verstehen will. Das legt nahe, wieder Dr. Johnsons Kriterium anzuwenden. Wenn wir wissen wollen, ob es eine bestimmte Abstraktion wirklich gibt oder nicht, sollten wir fragen, ob es einen komplexen, autonomen «Rück-
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stoß» gibt. Beispielsweise kennzeichnen Mathematiker die «natürlichen Zahlen» 1, 2, 3... zunächst durch eine Definition: 1 ist eine natürliche Zahl. Jede natürliche Zahl hat genau einen Nachfolger, der auch eine natürliche Zahl ist. 1 ist kein Nachfolger einer natürlichen Zahl. Zwei natürliche Zahlen mit demselben Nachfolger sind dieselbe Zahl. Solche Definitionen sind ein Versuch, die intuitive physikalische Vorstellung der Aufeinanderfolge diskreter Größen abstrakt auszudrücken. Die arithmetischen Operationen, etwa Multiplikation und Addition, und weitere Begriffe wie die der Primzahl werden dann mit bezug auf die «natürlichen Zahlen» definiert. Wenn wir durch diese Definition abstrakte «natürliche Zahlen» geschaffen und sie intuitiv verstanden haben, merken wir, daß sie noch viel mehr Eigenschaften haben, die wir noch gar nicht verstehen. Die Definition einer Primzahl legt ein für allemal fest, welche Zahlen Primzahlen sind und welche nicht. Aber zu dem Verständnis dafür, welche Zahlen Primzahlen sind – wie häufig beispielsweise Primzahlen unter sehr großen Zahlen vorkommen, wo sie sich häufen, wie «zufällig» sie sind und warum –, gehören ungeheuer viele neue Einsichten und neue Erklärungen. Die Zahlentheorie ist, wie sich zeigt, eine eigene Welt (der Ausdruck wird oft verwendet). Wenn wir Zahlen verstehen wollen, müssen wir viele neue Klassen abstrakter Größen definieren und viele neue Strukturen und Verbindungen zwischen diesen Strukturen postulieren. Es stellt sich heraus, daß einige dieser abstrakten Strukturen mit anderen Erkenntnissen zusammenhängen, die wir schon früher gewonnen hatten, die aber oberflächlich gesehen nichts mit Zahlen zu tun hatten – etwa Symmetrie, Rotation, Kontinuum, Mengen, Unendlichkeit und viele andere. Abstrakte mathematische Begriffe, mit denen wir meinen vertraut zu sein, können uns also trotzdem überraschen oder enttäuschen. Sie können unvermutet in neuen Formen oder Verkleidungen auftauchen. Sie können unerklärbar sein und später zu einer neuen Erklärung passen. Sie sind also komplex und autonom, und wir müssen deshalb nach Dr. Johnsons Kriterium schließen, daß sie wirklich sind. Da wir sie weder als Teil von uns selbst noch als Teil von etwas anderem,
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schon Verstandenem, verstehen können, wohl aber, wenn wir sie als davon unabhängig sehen, müssen wir sie als wirkliche, unabhängige Gegebenheiten betrachten. Doch abstrakte Größen lassen sich nicht anfassen. Sie stoßen nicht auf dieselbe Weise zurück wie ein Stein. Deshalb spielen Experiment und Beobachtung in der Mathematik nicht genau die gleiche Rolle wie in der Naturwissenschaft. Diese Rolle übernimmt in der Mathematik der Beweis. Dr. Johnsons Stein stieß zurück, indem er seinen Fuß abprallen ließ. Primzahlen stoßen zurück, wenn wir etwas Unerwartetes über sie beweisen – besonders, falls wir es dann auch erklären können. Aus herkömmlicher Sicht ist der entscheidende Unterschied zwischen Beweis und Experiment, daß ein Beweis sich nicht auf die physikalische Welt bezieht. Wir können einen Beweis in unserem Kopf durchführen oder auch, wenn wir in einem Wirklichkeitssimulator stecken, in dessen virtueller Realität falsche Physik gilt. Solange wir nur den Regeln der mathematischen Herleitungen folgen, sollten wir dieselbe Antwort erhalten wie jeder andere. Wenn wir etwas bewiesen haben und dabei keinem Irrtum aufgesessen sind, wissen wir mit absoluter Genauigkeit, daß es wahr ist. Mathematiker sind recht stolz auf diese absolute Sicherheit, und Naturwissenschaftler sind deswegen gewöhnlich ein bißchen neidisch, weil es in der Naturwissenschaft keine Möglichkeit gibt, sich irgendeiner Behauptung sicher zu sein. Selbst wenn die verfügbaren Theorien die vorhandenen Beobachtungen noch so gut erklären, könnte jemand irgendwann eine neue unerklärte Beobachtung machen oder schlicht zu einer besseren Einsicht gelangen. Galilei beispielsweise fand viele neue Erklärungen für seit langem bekannte Beobachtungen. Auch die virtuelle Realität veranschaulicht die Tatsache, daß wir aufgrund von Beobachtungen niemals Gewißheit darüber haben können. Wenn aber der Beweis entscheidet, dann kann es, so meint man, Sicherheit geben. Man sagt, die Regeln der Logik seien zunächst in der Hoffnung formuliert worden, um damit ein unparteiisches und unfehlbares Verfahren zu erhalten, alle Streitigkeiten zu lösen. Aber die Hoffnung trügt. Das Studium der Logik selbst zeigte, daß die Reichweite der logischen Herleitung als Mittel zur Entdeckung der Wahrheit stark begrenzt ist.
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Wenn man wesentliche Annahmen über die Welt macht, kann man Schlüsse ziehen. Aber die Schlüsse sind nicht sicherer als die Annahmen. Die einzigen Sätze, die die Logik beweisen kann, ohne Annahmen zu machen, sind Tautologien – nichtssagende Aussagen wie «Alle Planeten sind Planeten». Insbesondere liegen alle wesentlichen wissenschaftlichen Fragen außerhalb des Bereichs, in dem die Logik allein Auseinandersetzungen schlichten kann. Mathematik jedoch, so nimmt man an, liegt innerhalb dieses Bereichs. Deshalb suchen Mathematiker absolute, aber abstrakte Wahrheit, während die Naturwissenschaftler sich mit dem Gedanken trösten, daß sie wesentliches und nützliches Wissen über die physikalische Welt gewinnen können, wenn auch Irrtümer immer möglich sind. Wie wir gesehen haben, hilft auch der Induktivismus nicht aus diesem Dilemma. Seit alten Zeiten ist die Vorstellung, mathematisches Wissen sei privilegiert, oft mit dem Gedanken verknüpft worden, gewisse abstrakte Größen seien nicht nur ein Teil der Wirklichkeit, sondern sogar wirklicher als die Dinge der physikalischen Welt. Pythagoras glaubte, Regelmäßigkeiten in der Natur seien ein Ausdruck der mathematischen Beziehungen zwischen natürlichen Zahlen. «Alles ist Zahl» war das Schlagwort. Platon ging noch weiter und stritt der physikalischen Welt jede Wirklichkeit ab. Er hielt unsere Erfahrungen für wertlos oder irreführend und behauptete, die physikalischen Körper und Phänomene, die wir wahrnehmen, seien reine «Schatten» oder unvollkommene Imitationen ihres idealen Wesens (ihrer «Idee» oder «Form»), die in einem anderen Reich existieren, das die eigentliche Wirklichkeit darstellt. In diesem Reich gibt es unter anderem die Idee der reinen Zahlen und mathematischen Operationen wie Addition und Multiplikation. Wir können die Schatten einiger dieser Formen wahrnehmen, etwa wenn wir einen Apfel auf den Tisch legen und dann noch einen und sehen, daß dort zwei Äpfel liegen. Aber die Äpfel weisen nur unvollkommen «Einheit» und «Zweiheit» (oder auch «Apfelheit») auf. Sie sind nicht vollkommen identisch, und deshalb sind niemals zwei Dinge auf dem Tisch, was immer Ding bezeichnet. Auch wenn wir zulassen, daß verschiedene Dinge Zweiheit darstellen, ist die Darstellung doch unvollkommen, weil wir zugeben müssen, daß auch Zellen von den Äpfeln und Staub und
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Luft auf dem Tisch liegen. Anders als Pythagoras hielt Platon die natürlichen Zahlen für nichts Besonderes. Seine Wirklichkeit enthielt die Ideen aller Begriffe, etwa die eines vollkommenen Kreises. Die «Kreise» unserer Erfahrung sind niemals wirklich Kreise. Sie sind weder vollkommen rund noch vollkommen eben, sie haben eine endliche Dicke. Sie sind unvollkommen. Dann wies Platon auf ein Problem hin. Wie können wir in Anbetracht all dieser irdischen Unvollkommenheit überhaupt etwas über wirkliche, vollkommene Kreise wissen? Offensichtlich wissen wir etwas über sie, aber wie? Woher hatte Euklid sein Wissen über die Geometrie, die er in seinen berühmten Axiomen zusammenfaßte, wenn ihm doch keine Kreise, Punkte oder Geraden zur Verfügung standen? Woher kommt die Gewißheit eines mathematischen Beweises, wenn niemand die abstrakten Größen wahrnehmen kann, auf die sich der Beweis bezieht? Platon antwortete darauf, daß wir unser Wissen solcher Dinge nicht aus der Welt der Schatten und Täuschungen beziehen, sondern unmittelbar aus der wirklichen Welt der Ideen. Wir werden mit einem vollkommenen Wissen über diese Welt geboren, das wir, so meinte er, bei der Geburt vergessen und das durch Schichten von Fehlern verdeckt wird, die sich einstellen, wenn wir unseren Sinnen trauen. Aber wir können uns an die wahre Wirklichkeit erinnern, wenn wir gewissenhaft der «Vernunft» folgen; sie kann uns die absolute Sicherheit vermitteln, die die Erfahrung niemals geben kann. Es ist zu bezweifeln, daß irgendjemand diese etwas wacklige Phantasie je geglaubt hat (Platon selbst eingeschlossen, der schließlich ein sehr kompetenter Philosoph war, und gern öffentlich erbauliche Lügen erzählte). Das von ihm gestellte Problem ist wirklich, und einige Elemente der von ihm vorgeschlagenen Lösung sind seitdem Teil der vorherrschenden Wissenschaftstheorie. Insbesondere der Kerngedanke, wonach mathematisches Wissen aus einer anderen Quelle stammt als anderes Wissen und daß diese Quelle absolute Gewißheit vermittelt, wird bis heute von sehr vielen Mathematikern unkritisch akzeptiert. Heutzutage heißt diese Quelle mathematische Einsicht oder Intuition, aber sie spielt genau dieselbe Rolle wie Platons «Erinnerungen» an das Reich der Ideen.
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Es hat viele erbitterte Auseinandersetzungen darüber gegeben, welche Formen vollkommen zuverlässigen Wissens uns unsere mathematische Eingebung möglicherweise offenbaren könnte. Anders gesagt stimmen Mathematiker darin überein, daß die mathematische Eingebung eine Quelle absoluter Gewißheit ist, aber nicht darüber, was sie ihnen vermittelt! Und das kann offensichtlich unendliche Auseinandersetzungen auslösen. Unvermeidlicherweise haben sich die meisten solcher Kontroversen auf die Frage nach der Gültigkeit der Beweismethoden konzentriert. Eine Auseinandersetzung betraf die sogenannten «imaginären» Zahlen. Imaginäre Zahlen sind die Quadratwurzeln aus negativen Zahlen. Es ließen sich neue Sätze über gewöhnliche, «reelle» Zahlen beweisen, wenn man sich in Zwischenstadien des Beweises auf die Eigenschaften imaginärer Zahlen bezog. So wurden die ersten Sätze über die Verteilung von Primzahlen bewiesen. Aber einige Mathematiker erhoben Einwände gegen imaginäre Zahlen, weil sie eben nicht reell sind. Vermutlich hatten ihnen ihre Lehrer in der Schule gesagt, es sei nicht erlaubt, die Quadratwurzel aus minus eins zu ziehen, und folglich sahen sie nicht ein, warum jemand das doch tun dürfe. Zweifellos nannten sie diesen unbarmherzigen Impuls «mathematische Intuition». Aber andere Mathematiker hatten andere Intuitionen. Sie verstanden, was die imaginären Zahlen waren und wie sie mit den reellen Zahlen zusammenhängen. Warum, dachten sie, sollte man nicht neue abstrakte Größen mit beliebigen Eigenschaften definieren? Sicherlich war der einzig legitime Grund für ein Verbot, daß die benötigten Eigenschaften einen logischen Widerspruch enthielten. Zugegeben, niemand hat je die Widerspruchsfreiheit des Systems der imaginären Zahlen bewiesen. Aber niemand hat auch je die Widerspruchsfreiheit der gewöhnlichen Arithmetik der natürlichen Zahlen bewiesen. Ähnliche Auseinandersetzungen wurden über die Zulässigkeit unendlich großer Zahlen und Mengen mit unendlich vielen Elementen und die Unendlichkeiten, die in der Infinitesimalrechnung vorkommen, geführt. Der große Göttinger Mathematiker David Hubert, der viel zum Verständnis der mathematischen Struktur beigetragen hat, sagte einmal, die Literatur der Mathematik sei gespickt mit albernem Geschwätz, das
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seinen Ursprung im Unendlichen habe. Einige Mathematiker meinten, es sei überhaupt unmöglich, über unendliche Größen nachzudenken. Der überwältigende Erfolg der reinen Mathematik im 19. Jahrhundert hat wenig zur Lösung dieser Kontroversen beigetragen, sondern sie im Gegenteil eher verschärft und neue Probleme aufgezeigt. Als die mathematische Logik immer raffinierter wurde, entfernte sie sich unweigerlich immer weiter von der alltäglichen Intuition, und dies hatte zwei wichtige, einander entgegengesetzte Wirkungen. Erstens verwandten die Mathematiker mehr Sorgfalt auf die Beweise und legten immer strengere Maßstäbe an, bevor sie eine Aussage als bewiesen erachteten. Zweitens entwickelten sie aussagekräftigere Beweismethoden. Und das führte oft zu Zweifeln an der Unfehlbarkeit eines Beweisverfahrens. Um 1900 kam es deshalb zu einer Krise in der Mathematik – nämlich der, daß sie keine Grundlagen hatte. Wie das? Was war aus den Gesetzen der reinen Logik geworden? Sollten sie nicht allen Streit in der Mathematik lösen können? Das Schlimme war, daß sich die Auseinandersetzungen in der Mathematik ausgerechnet darum drehten, was denn eigentlich die «Gesetze der reinen Logik» seien. Als erster hatte Aristoteles im vierten vorchristlichen Jahrhundert solche Gesetze aufgestellt und damit das begründet, was wir heute Beweistheorie nennen. Er sah in einem Beweis eine Folge von Aussagen, die von einigen Voraussetzungen und Definitionen ausgehend zu dem gewünschten Schluß kommen. Damit eine Folge von Aussagen ein gültiger Beweis ist, muß, von den zu Beginn gemachten Annahmen abgesehen, jede Aussage nach bestimmten vorgegebenen Regeln, den sogenannten Syllogismen, aus vorhergehenden folgen. Ein typischer Syllogismus ist Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. [Also gilt...] Sokrates ist sterblich. Syllogismen drücken das aus, was wir Beweisregeln nennen – sie sind Regeln, mit deren Hilfe sich bestimmen läßt, ob ein vermeintlicher Beweis gültig ist oder nicht.
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Aristoteles hatte behauptet, alle gültigen Beweise könnten als Syllogismen formuliert werden, aber er hatte diese Aussage nicht bewiesen! Die Beweistheorie stand vor dem Problem, daß sich nur sehr wenige moderne mathematische Beweise als Folge von Syllogismen formulieren lassen und sehr viele von ihnen nicht einmal im Prinzip in diese Form gebracht werden können. Die meisten Mathematiker konnten sich nicht dazu durchringen, dem aristotelischen Gesetz aufs Wort zu gehorchen, weil einige der neuen Beweise genauso selbstverständlich gültig zu sein schienen wie die aristotelischen Überlegungen. Die Mathematik hatte Fortschritte gemacht, und die Mathematiker konnten mit neuen Mitteln wie der symbolischen Logik und der Mengentheorie mathematische Strukturen neu miteinander in Beziehung setzen. Dies hatte neue und unmittelbar einsichtige Wahrheiten geschaffen, die nicht von den klassischen Beweisregeln abhingen. Deshalb waren diese klassischen Regeln offensichtlich unangemessen. Aber welche der neuen Beweisverfahren waren unfehlbar? Wie ließen sich die Beweisregeln abändern, damit sie über die Vollständigkeit verfügten, die Aristoteles ihnen fälschlich zugeschrieben hatte? Wie ließ sich die absolute Autorität der alten Regeln je wieder zurückgewinnen, wenn die Mathematiker nicht darin übereinstimmten, was einsichtig und was Unsinn war? Inzwischen bauten sie weiter an ihren Wolkenkuckucksheimen. Für praktische Zwecke schienen viele der Beweisverfahren gut genug zu sein. Einige waren für die Naturwissenschaft und Technik geradezu unentbehrlich geworden, und die meisten waren durch schöne und fruchtbare Erklärungen miteinander verknüpft. Trotzdem konnte niemand garantieren, daß nicht das ganze Gebäude oder doch ein wesentlicher Teil davon auf einem Widerspruch beruhte, der es buchstäblich zunichte machen konnte. So bewies Bertrand Russell 1902, daß ein Entwurf einer strengen Definition der Mengenlehre, die der Logiker Gottlob Frege gerade entwickelt hatte, Widersprüche enthielt. Dies bedeutete nicht, daß in Beweisen keine Mengen vorkommen durften. Tatsächlich nahmen auch nur sehr wenige Mathematiker an, die üblichen Verwendungen von Mengen, der Arithmetik oder anderer wichtiger mathematischer Begriffe sei jetzt unzulässig. Schockierend an Russells Ergebnis war vielmehr, daß der Glaube vieler Mathematiker an ihr Gebiet als einer
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Disziplin, in der durch den Beweis absolute Gewißheit zu erlangen war, erschüttert wurde. Schon die Möglichkeit einer Kontroverse über die Gültigkeit unterschiedlicher Beweisverfahren mußte den (vermeintlichen) Sinn und Zweck des Fachbereichs untergraben. Deshalb hatten viele Mathematiker das Gefühl, die Beweistheorie und damit die Mathematik selbst müsse unbedingt auf eine sichere Grundlage gestellt werden. Die Fortschritte waren stürmisch gewesen. Jetzt sollten die Grundlagen gesichert und ein für allemal festgelegt werden, welche Beweisformen absolut sicher sind und welche nicht. Alles außerhalb des sicheren Bereichs konnte dann weggelassen werden, und alles innerhalb würde die alleinige Grundlage aller zukünftigen Mathematik sein. Zu diesem Zweck setzte sich der holländische Mathematiker Luitzen Brouwer für eine extrem konservative Strategie der Beweistheorien ein, die als Intuitionismus bekannt ist und bis heute Anhänger hat. Sie gab der mathematischen Einsicht sogar den Vorrang vor der reinen Logik, wobei aber «Intuition» so eng wie nur möglich gefaßt war und auf das fraglos Einsichtige beschränkt wurde. Die Intuitionisten bestritten beispielsweise, daß es möglich sei, Einsicht in das Unendliche zu erhalten. Für sie gab es keine unendlichen Mengen wie etwa die Menge der natürlichen Zahlen. Aussagen wie: «Es gibt unendlich viele natürliche Zahlen» würden sie selbstverständlich für sinnlos halten. Und die Aussage: «Es gibt mehr CGT-Umwelten als physikalisch mögliche Umwelten» wäre ihnen als völlig sinnlos erschienen. In diesem Ansatz zeigt sich der Solipsismus in mathematischer Gestalt. Beide Lehren sind eine Überreaktion auf den Gedanken, daß wir uns unseres Wissens über die weitere Welt nicht gewiß sein können. In beiden Fällen wird als Lösung vorgeschlagen, sich in eine innere Welt zurückzuziehen, die wir mutmaßlich unmittelbar und deswegen (?) mit Gewißheit kennen können. In beiden Fällen gehört zur Lösung entweder ein Leugnen der Existenz einer Außenwelt oder wenigstens die Ablehnung der Erklärung dessen, was außen liegt. In beiden Fällen macht diese Zurückweisung es auch unmöglich, viel von dem zu erklären, was im Inneren des begünstigten Bereichs liegt. Wenn es beispielsweise nicht unendlich viele natürliche Zahlen gibt, kann es nur endlich viele geben. Wie viele? Wie heißt die letzte natürliche Zahl? Anhänger dieser Schule
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würden dieses Problem wegdiskutieren, indem sie darauf verweisen, daß damit die Gültigkeit der gewöhnlichen Logik vorausgesetzt wird. Weil es nicht unendlich viele natürliche Zahlen gibt, so schließt man, muß es eine bestimmte endliche Anzahl geben. Die Intuitionisten glauben also an die Wirklichkeit der endlichen natürlichen Zahlen 1, 2, 3 ... und sogar der Zahl 10 949 769 651 859. Aber die intuitive Begründung, daß diese Zahlen eine unendliche Folge bilden, weil jede von ihnen einen Nachfolger hat, ist aus ihrer Sicht lediglich eine Selbsttäuschung oder eine Anmaßung und unhaltbar. Indem sie jedoch die Verbindung zwischen ihrer Fassung der abstrakten «natürlichen Zahlen» und den Intuitionen, die diese Zahlen ursprünglich formalisieren sollten, unterbrochen haben, versagten sie sich selbst den üblichen Erklärungsverfahren, durch die die natürlichen Zahlen verstanden werden. Das führt für jeden, dem Erklärungen lieber sind als unerklärte Komplikationen, zu großen Problemen. David Hubert schlug einen viel vernünftigeren, aber letztlich doch zum Scheitern verurteilten Plan vor, um «ein für allemal die Gewißheit der mathematischen Methoden zu beweisen». Huberts Plan gründete auf dem Gedanken der Widerspruchsfreiheit. Er hoffte, eine vollständige Liste moderner Herleitungsregeln für mathematische Beweise aufstellen zu können. Es sollte nur endlich viele dieser Beweisregeln geben, und sie sollten ganz direkt anwendbar sein, denn die Überprüfung, ob ein mutmaßlicher Beweis sie erfüllte oder nicht, sollte unumstritten sein. Die Regeln sollten nach Möglichkeit intuitiv einsichtig sein, aber das war für den pragmatischen Hubert keine besonders wichtige Überlegung. Er wäre auch zufrieden gewesen, wenn die Regeln einigermaßen gut mit der Intuition übereinstimmten, solange ihre Widerspruchsfreiheit gesichert war. Wenn ein Satz nach diesen Regeln bewiesen war, dann, das sollte gesichert sein, konnte niemals der entgegengesetzte Satz bewiesen werden. Wie konnte das gesichert sein? Diesmal müßte die Widerspruchsfreiheit bewiesen werden, und zwar mit Hilfe von Verfahren, die selbst den Beweisregeln gehorchen. So, hoffte Hubert, ließe sich aristotelische Vollständigkeit und Gewißheit wieder herstellen; jede wahre mathematische Aussage, aber keine falsche, würde gemäß diesen Regeln im Prinzip beweisbar sein.
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Im Jahr 1900 veröffentlichte er eine Liste von Problemen, von denen er hoffte, die Mathematiker würden sie im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts lösen. Im zehnten Problem ging es darum, eine Menge von Beweisregeln mit den obigen Eigenschaften zu finden und sie nach ihren eigenen Maßstäben als widerspruchsfrei zu beweisen. Hubert stand eine große Enttäuschung bevor, denn 31 Jahre später revolutionierte Kurt Gödel die Beweistheorie, indem er sie restlos widerlegte – und zwar so, daß Mathematik und Philosophie auch heute noch daran zu beißen haben. Gödel bewies, daß Huberts zehntes Problem unlösbar ist, indem er erstens zeigte, daß nicht einmal die Beweisregeln, mit denen sich die Beweise der gewöhnlichen Arithmetik führen lassen, ihre eigene Widerspruchsfreiheit beweisen können. Es besteht also keine Hoffnung, die von Hubert gewünschte widerspruchsfreie Menge von Regeln zu finden. Zweitens bewies Gödel, daß es, wenn ein System von Beweisregeln in einem Zweig der Mathematik widerspruchsfrei ist, in diesem Zweig der Mathematik gültige Beweismethoden geben muß, die diese Regeln nicht als gültig nachweisen können. Dies ist Gödels sogenannter Unvollständigkeitssatz. Zum Beweis seiner Sätze benutzte Gödel eine bemerkenswerte Erweiterung des in Kapitel 6 erwähnten «Cantorschen Diagonalverfahrens». Er begann mit der Betrachtung einer widerspruchsfreien Menge von Herleitungen. Dann zeigte er, wie man eine Aussage konstruieren kann, die sich mit diesen Regeln weder beweisen noch widerlegen läßt, und bewies, daß diese Aussage wahr ist. Wenn Huberts Programm durchführbar gewesen wäre, hätte es auch der in diesem Buch vertretenen Auffassung der Wirklichkeit einen schweren Schlag versetzt. Denn es hätte uns der Notwendigkeit enthoben, bei der Beurteilung mathematischer Gedanken an das Verständnis zu appellieren. Alle Menschen, die Huberts erhoffte Beweisregeln auswendig lernen, könnten dann die Wahrheit einer mathematischen Aussage genau so gut beurteilen wie der fähigste Mathematiker, ohne jedoch die Einsicht des Mathematikers oder sein Verständnis zu benötigen oder auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, worum es bei den Aussagen geht. Im Prinzip wäre es möglich gewesen, neue mathematische Entdeckungen zu machen, ohne über die Hilbertschen Regeln hinaus
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irgendwelche Mathematik zu kennen. Man müßte einfach alle möglichen Folgen von Buchstaben und mathematischen Symbolen in alphabetischer Reihenfolge untersuchen, bis einer von ihnen sich als Beweis oder Widerlegung einer berühmten ungelösten Vermutung erwies. Im Prinzip hätte man so jede mathematische Auseinandersetzung lösen können, ohne sie je zu verstehen – sogar ohne die Bedeutungen der Symbole zu kennen oder auch nur einen Funken Verständnis dafür zu haben, worauf die Beweise beruhen oder was sie beweisen sollen. Vielleicht sieht es so aus, als ob wir dem Ziel der Vereinheitlichung wenigstens näher kommen könnten, wenn wir in der Mathematik einen einheitlichen Maßstab für Beweise hätten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wie die vorhersagende «Theorie für Alles» in der Physik hätten Huberts Regeln uns fast nichts über die Wirklichkeit erzählen können. Sie hätten, soweit es die Mathematik betrifft, die endgültige reduktionistische Vision verwirklicht, indem sie (im Prinzip) alles vorhersagten, aber nichts erklärten. Außerdem hätte die Mathematik dann alle die unerwünschten Eigenschaften gehabt, die die Struktur des menschlichen Wissens nicht aufweist. Mathematische Gedanken würden eine Hierarchie bilden, deren Grundlage die Hilbertschen Gedanken bilden. Mathematische Wahrheiten, die komplizierte Beweise erforderten, wären objektiv weniger grundlegend als jene, die unmittelbar aus den Regeln folgten. Da es nur endlich viele solche Grundwahrheiten geben würde, müßte sich die Mathematik im Lauf der Zeit mit immer weniger fundamentalen Problemen abgeben. Unter diesen schlechten Vorzeichen würde die Mathematik einmal zu einem Ende kommen. Wenn nicht, würde sie unvermeidlich in immer mehr geheimnisvolle Fachbereiche zerbrechen, da die Mathematiker dann gezwungen wären, sich mit immer komplizierteren «emergenten» Themen zu beschäftigen, und diese Themen und die Grundlagenfragen hätten immer weniger miteinander zu tun. Dank Gödel wissen wir, daß es ebensowenig ein festgelegtes Verfahren geben kann, mit dem sich bestimmen läßt, ob eine mathematische Aussage wahr ist, wie es einen vorgegebenen Weg gibt, um herauszufinden, ob eine wissenschaftliche Theorie wahr ist. Es wird auch niemals einen perfekten Weg dafür geben, wie neues mathematisches Wissen
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erzeugt werden kann. Zum Fortschritt wird in der Mathematik immer Kreativität gehören. Deshalb werden Mathematiker immer neue Beweisformen erfinden können und müssen. Sie werden sie durch neue Begründungen und durch neue Erklärungen bestätigen, die auf ihrem eigenen besseren Verständnis der daran beteiligten abstrakten Strukturen beruhen. Die Erklärung spielt also in der reinen Mathematik letztlich eine genauso wichtige Rolle wie in der Naturwissenschaft, und der Hintergrund ist derselbe. Es ist der Wille, die Welt zu verstehen und zu erklären – die Welt der Physik und die Welt der mathematischen Abstraktionen. Beweis und Beobachtung sind lediglich Mittel, mit denen wir unsere Behauptungen überprüfen können. Roger Penrose zog eine weitere radikale und sehr platonische Lehre aus den Gödelschen Ergebnissen. Wie Platon ist Penrose fasziniert von der Fähigkeit des menschlichen Geistes, die abstrakten Gewißheiten der Mathematik zu erfassen. Anders als Platon glaubt Penrose nicht an das Übernatürliche. Er hält es für gesichert, daß das Gehirn ein Teil der Natur ist und auch nur zu ihr Zugang hat. Das Problem ist für ihn also noch akuter als für Platon: Wie kann die verschwommene und unzuverlässige physikalische Welt sich selbst mathematische Gewißheiten vermitteln? Insbesondere fragt sich Penrose, wie wir die Unfehlbarkeit neuer Beweisformen wahrnehmen können, von denen es nach Gödel unendlich viele gibt. Penrose arbeitet noch an einer genauen Antwort, aber er behauptet, daß sich schon die Existenz dieser Art offener mathematischer Intuition nicht mit der bestehenden Struktur der Physik und insbesondere mit dem Turing-Prinzip verträgt. Er begründet das zusammengefaßt so: Wenn das Turing-Prinzip wahr ist, können wir das Gehirn (wie jedes andere Objekt) als einen Computer auffassen, der ein bestimmtes Programm ausführt. Die Wechselwirkungen des Gehirns mit der Umwelt stellen Input und Output des Programms dar. Man betrachte jetzt einen Mathematiker, der entscheidet, ob eine neu vorgeschlagene Beweisform gültig ist oder nicht. Eine solche Entscheidung läuft darauf hinaus, daß in dem Gehirn des Mathematikers ein Computerprogramm abläuft, das den Beweis überprüft. Ein solches Programm verkörpert eine Menge
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von Hilbertschen Beweisregeln, die nach Gödels Satz nicht vollständig sein kann. Darüber hinaus liefert Gödel, wie ich schon sagte, eine neue Möglichkeit, eine wahre Aussage zu konstruieren und zu beweisen, von der diese Regeln niemals nachweisen können, daß sie wahr ist. Deshalb kann der Mathematiker, dessen Geist im wesentlichen ein Computer ist, und der diese Regeln anwendet, diese Aussage ebenfalls niemals als bewiesen anerkennen. Penrose schlägt dann vor, die Aussage und Gödels Verfahren, seine Wahrheit zu beweisen, eben diesem Mathematiker vorzulegen. Der Mathematiker versteht den Beweis. Er ist ja schließlich selbstverständlich gültig. Und deshalb kann der Mathematiker vermutlich sehen, daß er gültig ist. Aber das würde Gödels Satz widersprechen. Deshalb muß irgendwo in der Überlegung eine falsche Annahme stecken, und nach Meinung von Penrose ist diese falsche Annahme das TuringPrinzip. Die meisten Computerwissenschaftler stimmen nicht mit Penrose überein, wenn er behauptet, das Turing-Prinzip sei das schwächste Glied dieser Überlegung. Sie würden sagen, der Mathematiker sei nicht dazu in der Lage, die Gödelsche Aussage als bewiesen zu erkennen. Es mag seltsam erscheinen, daß ein Mathematiker plötzlich unfähig sein sollte, einen einsichtigen Beweis zu begreifen. Aber betrachten Sie diese Aussagen: David Deutsch kann die Wahrheit dieser Aussage nicht widerspruchsfrei beweisen. Ich bemühe mich nach Kräften, kann aber diese Aussage nicht widerspruchsfrei als wahr beweisen. Denn wenn ich es täte, würde ich urteilen, daß ich sie nicht als wahr erkennen kann und würde damit mir selbst widersprechen. Aber Sie sehen doch, daß sie wahr ist, oder nicht? So ist es zumindest möglich, daß eine Aussage für einen Menschen unbegreiflich ist, für jeden anderen jedoch selbstverständlich wahr sein kann. Penrose jedenfalls setzt seine Hoffnungen auf eine neue Grundlagentheorie der Physik, die sowohl die Quantentheorie als auch die allgemeine Relativitätstheorie ersetzt. Sie würde neue, überprüfbare Vorhersagen machen, obwohl sie natürlich in bezug auf alle bekannten
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Beobachtungen mit Quantentheorie und Relativitätstheorie übereinstimmt. (Es gibt keine experimentellen Befunde, die diesen Theorien widersprechen.) Penrose stellt sich jedoch eine grundlegend andere Welt vor als die, die die bestehende Physik beschreibt. Ihre Wirklichkeit ist das, was wir die Welt der mathematischen Abstraktionen nennen würden. In dieser Hinsicht ist Penrose, dessen Wirklichkeit alle mathematischen Abstraktionen, aber vielleicht nicht alle Abstraktionen (wie Ehre und Gerechtigkeit) einschließt, irgendwo zwischen Platon und Pythagoras anzusiedeln. Was wir die physikalische Welt nennen, ist für ihn (wieder im Unterschied zu Platon) vollkommen wirklich, aber es ist irgendwie Teil der Mathematik selbst oder ergibt sich aus ihr. Außerdem, und das ist entscheidend, gibt es keine Universalität. Trotzdem ist die Welt (insbesondere natürlich ihr mathematisches Substrat) immer noch verstehbar. Ihre Verstehbarkeit wird nicht durch universelle Berechenbarkeit gesichert, sondern durch ein für die Physik (nicht jedoch für Piaton) recht neues Phänomen. Mathematische Größen wirken unmittelbar durch noch zu entdeckende physikalische Vorgänge auf das menschliche Gehirn ein. Auf diese Weise treibt das Gehirn für Penrose Mathematik nicht unter Bezugnahme auf das, was wir zur Zeit die physikalische Welt nennen, sondern es hat unmittelbaren Zugang zu einer platonischen Wirklichkeit mathematischer Ideen und kann dort mathematische Wahrheiten (von Irrtümern abgesehen) mit absoluter Gewißheit wahrnehmen. Es wird oft behauptet, das Gehirn sei ein Quantencomputer und seine Intuitionen, sein Bewußtsein und seine Fähigkeiten zum Problemlösen könnten von Quantenberechnungen abhängen. Dies könnte zutreffen, läßt sich aber anscheinend weder belegen noch überzeugend begründen. Ich wette vielmehr, daß das Gehirn als Computer einem klassischen Computer entspricht. Doch das hat keine Auswirkungen auf die von Penrose entwickelten Gedanken. Nach Penrose ist das Gehirn nicht eine neue Art universeller Computer, der sich vom universellen Quantencomputer dadurch unterscheidet, daß er aufgrund der neuen Physik nach der Quantenphysik mehr Berechnungen durchführen kann. Vielmehr verficht Penrose den Gedanken, die neue Physik werde keinen universellen Computer zulassen, so daß einige der Vorgänge im Gehirn nach seiner neuen Theorie gar nicht als Berechnungen konstruiert werden können.
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Ich muß zugeben, daß ich mir keine solche Theorie vorstellen kann. Aber grundlegende Durchbrüche sind gewöhnlich schwer vorstellbar, bevor sie gemacht wurden. Die von Penrose vorhergesehene Theorie ist schwer zu beurteilen, bevor es ihm gelingt, sie zu formulieren. Wenn eine Theorie mit den von ihm erhofften Eigenschaften schließlich einmal die Quantentheorie oder die allgemeine Relativitätstheorie oder beide ablöst, wird jeder vernünftige Mensch sie übernehmen wollen, ganz gleich, ob Experimente für sie sprechen oder weil sie eine tieferliegende Erklärung liefert. Dann werden wir uns auf das Abenteuer einlassen, die neue Weltsicht zu verstehen, die die Erklärungen der Theorie erzwingen werden. Wahrscheinlich wird dies eine ganz andere Weltsicht sein als die dieses Buches. Aber selbst wenn all das passiert, kann ich doch nicht sehen, wie der ursprüngliche Beweggrund der Theorie, nämlich zu erklären, wie es kommt, daß wir neue mathematische Beweise erfassen können, je befriedigt werden könnte. Es bliebe eine Tatsache, daß jetzt und in der ganzen Menschheitsgeschichte große Mathematiker unterschiedliche, einander widersprechende Intuitionen über die Gültigkeit von Beweisverfahren hatten. Selbst wenn es zutrifft, daß eine absolute, physikalisch-mathematische Wirklichkeit ihre Wahrheit direkt in unsere Gehirne schickt, um mathematische Intuitionen zu erzeugen, können Mathematiker diese Intuitionen nicht immer von anderen, irrtümlichen Intuitionen und Ideen unterscheiden. Es läutet leider kein Glöckchen, und es blitzt kein Licht auf, wenn sie eine wirklich gültige Einsicht haben. Sie könnten gelegentlich einen solchen Gedankenblitz erleben und «Heureka» rufen – und sich doch irren. Selbst wenn die Theorie vorhersagte, daß es zuvor unbemerkte physikalische Hinweise gibt, die wahre Intuitionen begleiten, würden sie das sicherlich nützlich finden, aber es wäre kein Beweis dafür, daß der Indikator funktioniert. Nichts könnte beweisen, daß nicht eines Tages die von Penrose geforderte Theorie durch eine noch bessere physikalische Theorie ersetzt wird, die zeigt, daß der mutmaßliche Indikator unzuverlässig und ein anderer besser ist. Selbst wenn wir also alle möglichen Zugeständnisse an das von Penrose vorgeschlagene Unterfangen machen und uns vorstellen, es sei ricritig und die Welt ganz und gar aus seiner Sicht sehen, erklärt es doch
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nicht die vorgebliche Gewißheit des Wissens, zu der uns die Mathematik verhilft. Wir haben an dieser Stelle die Argumente von Penrose und seinen Gegnern lediglich skizziert. Es wird deutlich geworden sein, daß ich selbst im wesentlichen auf der Seite seiner Gegner stehe. Aber selbst wenn man zugibt, daß die von Penrose gegebene Gödelsche Überlegung nicht beweist, was sie beweisen sollte, und die von ihm geforderte neue physikalische Theorie höchstwahrscheinlich nicht erklärt, was sie sich zu erklären vornimmt, hat Penrose doch insofern recht, als jede Weltsicht, die auf der vorherrschenden Auffassung der wissenschaftlichen Rationalität beruht, ein Problem für die akzeptierten Grundlagen der Mathematik darstellt. Dies ist das alte, schon von Platon gestellte Problem: Woher kommt mathematische Gewißheit in einer Wirklichkeit, die aus Physik besteht und mit den Methoden der Naturwissenschaft verstanden wird? Die meisten Mathematiker und Computerwissenschaftler halten die Gewißheit der mathematischen Intuition für selbstverständlich, nehmen aber das Problem, wie sie mit der wissenschaftlichen Weltsicht zu vereinbaren sei, nicht ernst. Penrose nimmt es ernst und schlägt eine Lösung vor. Dieser Vorschlag setzt darüber hinaus eine begreifbare Welt voraus, lehnt das Übernatürliche ab, erkennt Kreativität für die Mathematik als wesentlich an, schreibt sowohl der physikalischen Welt als auch abstrakten mathematischen Größen objektive Wirklichkeit zu und bezieht eine Integration der Grundlagen der Mathematik und Physik mit ein. In all diesem bin ich ganz auf seiner Seite. Da die Versuche von Brouwer, Hubert, Penrose und allen anderen, sich Platons Herausforderung zu stellen, anscheinend keinen Erfolg gehabt haben, lohnt es sich, noch einmal Platons scheinbare Widerlegung des Gedankens zu betrachten, daß die Methoden der Naturwissenschaft zu mathematischer Wahrheit führen können. Wir können nach Platon deswegen nichts über vollkommene Kreise wissen, weil wir nur zu unvollkommenen Kreisen Zugang haben. Aber was heißt das? Man könnte genausogut sagen, wir könnten die Gesetze für die Planetenbewegung nicht entdecken, weil wir keinen Zugang zu wirklichen Planeten haben, sondern nur zu Bildern der Planeten auf unserer Netzhaut. Man könnte auch sagen, es sei unmöglich, genaue
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Werkzeugmaschinen zu bauen, weil man die ersten mit ungenauen Werkzeugen bauen müßte. Im Rückblick sehen wir, daß diese Art der Kritik auf einem sehr groben Bild davon beruht, was die Naturwissenschaft ausmacht, was kaum überrascht, denn Platon lebte, bevor es Naturwissenschaft in der heutigen Form gab. Wenn man beispielsweise nur aus der Erfahrung über Kreise lernen könnte, indem man Tausende physikalischer Kreise untersucht und aus den gesammelten Daten etwas über ihre abstrakten euklidischen Entsprechungen herleitet, wäre Platon im Recht. Aber wenn wir die Hypothese aufstellen, daß wirkliche Kreise auf ganz bestimmte Weise den abstrakten entsprechen, und sie richtig ist, können wir auch etwas über die abstrakten Kreise lernen, indem wir uns die wirklichen ansehen. In der euklidischen Geometrie stellt man ein geometrisches Problem oder seine Lösung oft graphisch dar. Man kann bei solchen Darstellungen durchaus Fehler machen, wenn die Unvollkommenheiten der Kreise in der graphischen Darstellung einen falschen Eindruck wecken – wenn also beispielsweise zwei Kreise einander berühren, obwohl sie das nicht tun. Mit etwas Sorgfalt lassen sich alle solchen Fehler vermeiden, falls man die Beziehung zwischen wirklichen Kreisen und vollkommenen Kreisen verstanden hat. Wenn man diese Beziehung nicht versteht, ist es praktisch unmöglich, die euklidische Geometrie überhaupt zu verstehen. Die Zuverlässigkeit des Wissens über einen vollkommenen Kreis, das man aus einer graphischen Darstellung eines Kreises erhalten kann, hängt ausschließlich von der Genauigkeit der Hypothese ab, daß die beiden einander in wesentlichen Merkmalen ähneln. Eine solche Hypothese entspricht einer physikalischen Theorie und kann niemals ganz gesichert sein. Das aber schließt die Möglichkeit nicht aus, aus der Erfahrung etwas über vollkommene Kreise zu lernen, wie Platon es für möglich hielt. Es schließt nur die Möglichkeit der Gewißheit aus. Das sollte niemanden kümmern, der nicht nach Gewißheit sucht, sondern nach Erklärungen. Die euklidische Geometrie läßt sich abstrakt ohne alle Diagramme formulieren, aber die Bedeutung der Ziffern, Buchstaben und mathematischen Symbole, die in einem symbolischen Beweis verwendet werden, ist eigentlich dieselbe wie die einer graphischen Darstellung. Auch die Symbole sind physikalische Objekte – etwa Muster von Tinte auf
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Papier –, die abstrakte Objekte bezeichnen. Wieder hängt die Zuverlässigkeit dessen, was wir lernen, indem wir mit diesen Symbolen umgehen, einzig von der Genauigkeit unserer Theorien für ihr physikalisches Verhalten und von dem Verhalten unserer Hände und Schreibstifte ab, mit denen wir die Zeichen schreiben. Eine Zaubertinte, die das Erscheinungsbild eines Symbols verändert, wenn wir nicht hinschauen – und vielleicht sogar von einem hochtechnologischen Witzbold ferngesteuert wird –, könnte uns bald in bezug auf das, was wir «mit Sicherheit» wissen, in die Irre führen. Wir überprüfen jetzt noch einmal eine andere Annahme Platons: seine Mutmaßung, daß wir in der physikalischen Welt keinen Zugang zu Vollkommenheit haben. Vielleicht hat er damit recht, daß es für uns keine vollkommene Ehre oder Gerechtigkeit gibt, und sicherlich hat er damit recht, daß wir niemals die Naturgesetze oder die Menge aller natürlichen Zahlen finden werden. Wir können aber ein vollkommenes Skatblatt finden oder in einer vorgegebenen Schachstellung den vollkommenen Zug, also physikalische Objekte oder Vorgänge, die die Eigenschaften der vorgegebenen Abstraktionen haben. Wir können Schach genausogut mit wirklichen Schachfiguren lernen wie mit der vollkommenen Idee eines Schachspiels. Die Tatsache, daß der Läufer beschädigt ist, macht das Schachmatt, zu dem er führt, nicht weniger endgültig. Unsere Sinne haben auch zu einem vollkommenen euklidischen Kreis Zugang. Platon erkannte das nicht, weil er nichts über die virtuelle Realität wußte. Es würde nicht besonders schwierig sein, Wirklichkeitssimulatoren, wie wir sie uns in Kapitel 5 vorstellten, mit den Regeln der euklidischen Geometrie so zu programmieren, daß der Rezipient mit einem vollkommenen Kreis wechselwirkt. Da der Kreis keine Dicke hat, würde er unsichtbar sein, wenn wir nicht auch die Gesetze der Optik veränderten; er könnte Licht ausstrahlen, damit der Rezipient weiß, wo er ist. Puristen kommen vielleicht lieber ohne diese Zusätze aus. Auf jeden Fall könnten wir den Kreis starr und undurchdringlich machen, und die Rezipienten könnten seine Eigenschaften überprüfen, indem sie starre, undurchdringliche Werkzeuge und Meßinstrumente verwenden. Die Sensoren der virtuellen Realität würden auf eine vollkommene Messerschneide stoßen, so daß sie genau die Dicke Null mes-
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sen würden. Vielleicht dürften die Rezipienten sogar nach den Regeln der euklidischen Geometrie weitere Kreise oder andere geometrische Figuren «zeichnen». Die Größe der Werkzeuge und die Größe der Rezipienten könnten beliebig angepaßt werden, um die Überprüfung von Vorhersagen aus geometrischen Sätzen in jedem Maßstab, auch dem kleinsten, zu erlauben. Die simulierten Kreise könnten sich genauso verhalten, wie es in Euklids Axiomen steht. Auf der Grundlage der heutigen Naturwissenschaft müssen wir schließen, daß Platon wohl falsch lag. Wir können in der physikalischen Wirklichkeit (d.h. in der virtuellen Realität) vollkommene Kreise wahrnehmen. Nebenbei bemerkt ist Platons Gedanke, wonach die physikalische Wirklichkeit aus unvollkommenen Nachahmungen von Abstraktionen besteht, wohl unnötig asymmetrisch. Wie einst Platon beschäftigen wir uns auch heute immer noch mit Abstraktionen um ihrer selbst willen. Aber in der Naturwissenschaft nach Galilei und in der Theorie der virtuellen Realität sehen wir in den Abstraktionen auch ein Mittel zum Verständnis wirklicher oder künstlicher physikalischer Größen. In diesem Zusammenhang nehmen wir selbstverständlich an, daß die Abstraktionen fast immer Approximationen an die wahre physikalische Situation sind. Während also Platon in irdischen Kreisen Näherungen an wahre mathematische Kreise sah, sieht ein moderner Physiker einen mathematischen Kreis als eine schlechte Näherung der wirklichen Formen von Planetenbahnen und anderen Dingen. Es besteht sicherlich immer die Möglichkeit, daß der Wirklichkeitssimulator oder seine Benutzerschnittfläche sich irren. Kann man von einer Simulation eines euklidischen Kreises mit mathematischer Gewißheit sagen, sie sei vollkommen? Durchaus. Niemand behauptet, die Mathematik sei von dieser Art Ungewißheit frei. Mathematiker können sich verrechnen, sich nicht richtig an Axiome erinnern oder sich verschreiben. Die Behauptung ist, daß ihre Schlüsse unfehlbar sind, wenn man von Irrtümern absieht. Ähnlich gibt der Wirklichkeitssimulator einen vollkommenen euklidischen Raum vollkommen wieder, wenn er seinem Bauplan entsprechend perfekt arbeitet. Ein ähnlicher Einwand besagt, daß wir niemals mit Sicherheit sagen können, wie sich der Wirklichkeitssimulator verhält, wenn er von einem
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Programm kontrolliert wird, weil das von der Funktionsweise des Simulators und letztlich von den Naturgesetzen abhängt. Da wir die Naturgesetze nicht mit Gewißheit kennen können, wissen wir nicht mit Sicherheit, ob das Gerät wirklich die euklidische Geometrie simuliert. Aber niemand bestreitet, daß unvorhergesehene physikalische Erscheinungen – ob sie von unbekannten Naturgesetzen, einer Hirnkrankheit oder Zaubertinte herrühren – einen Mathematiker irreführen könnten. Wenn die Naturgesetze jedoch im wesentlichen so sind, wie wir sie uns vorstellen, kann der Wirklichkeitssimulator seine Aufgabe vollkommen verrichten, auch wenn wir nicht sicher sein können, daß es so ist. Wir müssen hier sorgfältig zwischen den beiden Fragen unterscheiden, ob wir wissen können, daß die virtuelle Realität einen vollkommenen Kreis simuliert, und ob sie wirklich einen simuliert. Wir können es niemals sicher wissen. Das schränkt jedoch die Vollkommenheit des Kreises, den das Gerät tatsächlich simuliert, nicht um ein Jota ein. Ich komme in Kürze auf diesen entscheidenden Unterschied zurück – den zwischen vollkommenem Wissen (Gewißheit) in bezug auf eine Größe und der «Vollkommenheit» der Größe selbst. Nehmen wir an, wir änderten das Programm der euklidischen Geometrie absichtlich so, daß der Simulator Kreise immer noch ziemlich gut, aber nicht vollkommen wiedergibt. Könnten wir irgend etwas über vollkommene Kreise herleiten, wenn wir nur diese unvollkommene Simulation kennenlernen? Das würde völlig davon abhängen, ob wir wüßten, in welcher Hinsicht das Programm geändert wurde. Wenn wir das wüßten, würden wir mit Gewißheit (von Irrtümern abgesehen) herausfinden, welche Aspekte der Erfahrungen, die wir in dem Simulator machten, wirklich vollkommene Kreise darstellten und welche nicht. In diesem Fall wäre das dort gewonnene Wissen genauso zuverlässig, wie wenn wir das richtige Programm benutzten. Wenn wir uns Kreise vorstellen, simulieren wir die Wirklichkeit in unseren eigenen Gehirnen auf genau diese Weise. Dieses Nachdenken über vollkommene Kreise ist deshalb nicht unnütz, weil wir genaue Theorien darüber aufzustellen vermögen, welche Eigenschaften unsere gedachten Kreise mit vollkommenen Kreisen gemeinsam haben und welche nicht.
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Wenn wir die Wirklichkeit vollkommen simulieren könnten, würden wir vielleicht sechs gleiche Kreise sehen, die den Rand eines anderen identischen Kreises in einer Ebene ohne Überlappen berühren. Diese Erfahrung würde unter solchen Umständen einem strengen Beweis dafür entsprechen, daß ein solches Muster möglich ist, weil die geometrischen Eigenschaften der simulierten Formen absolut identisch wären mit jenen der abstrakten Formen. Aber diese Art von direkter Wechselwirkung mit vollkommenen Formen kann nicht jede Art von Wissen über euklidische Geometrie vermitteln. Die meisten der interessanten Sätze beziehen sich nicht auf ein geometrisches Muster, sondern auf unendliche Klassen von Mustern. So beträgt beispielsweise die Summe der Winkel in jedem ebenen euklidischen Dreieck 180°. Wir können in der virtuellen Realität vorgegebene Dreiecke mit vollkommener Genauigkeit messen. Aber selbst in der virtuellen Realität können wir nicht alle Dreiecke messen, und deshalb können wir den Satz nicht auf diese Weise bestätigen. Wie bestätigen wir ihn dann? Wir beweisen ihn. Ein Beweis wird gewöhnlich als eine Reihe von Aussagen definiert, die offensichtlichen Beweisregeln folgen. Aber auf was läuft der «Beweisvorgang» physikalisch hinaus? Um eine Aussage über unendlich viele Dreiecke zu beweisen, untersuchen wir bestimmte physikalische Objekte – in diesem Fall Symbole –, die dieselben Eigenschaften haben wie ganze Klassen von Dreiecken. Wenn wir beispielsweise unter geeigneten Umständen die Symbole «ΔABC = ΔDEF» sehen (d.h. «Dreieck ABC ist kongruent zu Dreieck DEF»), schließen wir, daß alle Dreiecke einer ganzen Klasse von Dreiecken, die wir auf bestimmte Art definiert haben, immer dieselbe Form haben wie die entsprechenden Dreiecke einer anderen Klasse, die wir anders definiert haben. Die «geeigneten Umstände», die diesem Schluß den Rang eines Beweises geben, sind, physikalisch gesprochen, in der Tatsache zu sehen, daß die Symbole auf einer Seite unter anderen Symbolen stehen (von denen einige Axiome der euklidischen Geometrie darstellen) und daß das Muster, in dem die Symbole vorkommen, bestimmten Regeln, nämlich den Beweisregeln, gehorcht. Aber welche Beweisregeln sollen wir benutzen? Das ist, als ob wir fragten, wie wir den Wirklichkeitssimulator programmieren sollen, damit er die Welt der euklidischen Geometrie simuliert. Die Antwort ist, daß
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wir Beweisregeln benutzen müssen, die nach unserem Verständnis unsere Symbole veranlassen, sich im wesentlichen wie die abstrakten Größen zu verhalten, die sie bezeichnen. Wie können wir sicher sein, daß sie das tun? Wir können nicht sicher sein. Nehmen wir an, einige Kritiker hätten Einwände gegen unsere Beweisregeln erhoben, weil sie meinen, unsere Symbole verhielten sich anders als die abstrakten Größen. Wir können uns nicht auf die Autorität eines Aristoteles oder Platon berufen. Ganz abgesehen von Gödel würde dies zu einer unendlichen Kette führen, denn wir müßten zunächst beweisen, daß unser Beweisverfahren gültig ist. Wir können den Kritikern auch nicht von oben herab sagen, mit ihrer Intuition sei etwas nicht in Ordnung, weil unsere Intuition sagt, daß die Symbole die abstrakten Größen vollkommen wiedergeben. Wir können nur erklären. Wir müssen erklären, warum wir denken, daß die Symbole sich nach unseren vorgeschlagenen Regeln in der gewünschten Weise verhalten. Und die Kritiker können erklären, warum sie eine rivalisierende Theorie bevorzugen. Eine Unstimmigkeit über zwei solche Theorien ist zum Teil eine Unstimmigkeit über das beobachtbare Verhalten der physikalischen Objekte. Solche Unstimmigkeiten lassen sich mit normalen wissenschaftlichen Methoden klären. Manchmal lassen sie sich leicht lösen, manchmal nicht. Die andere Komponente einer solchen Unstimmigkeit könnte eine begriffliche Unstimmigkeit sein, die das Wesen der abstrakten Größen selbst betrifft. Es ist erneut eine Frage rivalisierender Erklärungen, diesmal von Abstraktionen und nicht von physikalischen Objekten. Wir könnten mit unseren Kritikern entweder zu einem Einverständnis gelangen oder uns darüber einigen, daß wir über zweierlei abstrakte Objekte sprechen. Wir könnten auch keine Übereinstimmung erreichen. Es gibt keine Garantien. Im Gegensatz zur herkömmlichen Überzeugung lassen sich Meinungsverschiedenheiten in der Mathematik nicht immer mechanisch lösen. Auf den ersten Blick scheint ein herkömmlicher symbolischer Beweis etwas ganz anderes zu sein als der direkte Nachweis in der virtuellen Realität. Jetzt jedoch sehen wir, daß beide ähnlich miteinander verknüpft sind wie Berechnung und physikalische Experimente. Jedes physikalische Experiment läßt sich als Berechnung sehen und jede Berechnung
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als physikalisches Experiment. Zu beiden Beweismethoden gehört der bestimmten Regeln folgende Umgang mit physikalischen Größen. In beiden Fällen werden die interessanten abstrakten Größen durch physikalische Größen dargestellt, und in beiden Fällen hängt die Zuverlässigkeit des Beweises von der Wahrheit der Theorie ab, daß die entsprechenden Eigenschaften der physikalischen und der abstrakten Größen tatsächlich übereinstimmen. Wir können der obigen Erörterung auch entnehmen, daß ein Beweis ein physikalischer Vorgang ist. Ein Beweis ist eigentlich eine Art Berechnung. Eine Behauptung «beweisen» bedeutet eine Rechnung durchführen, die dann, wenn sie richtig gemacht wurde, beweist, daß die Annahme wahr ist. Wenn wir mit dem Wort «Beweis» ein Ding, etwa einen mit Tinte auf Papier geschriebenen Text bezeichnen, meinen wir damit, daß sich dieses Ding als ein Programm für den Nachvollzug einer geeigneten Berechnung benutzen läßt. Folglich können weder die mathematischen Sätze noch der Vorgang des mathematischen Beweises und die Erfahrung der mathematischen Intuition Gewißheit vermitteln. Diese Gewißheit gibt es nicht. Unser mathematisches Wissen kann genau wie unsere naturwissenschaftlichen Kenntnisse tief und breit sein, es kann subtil sein und wunderbar viel erklären, und es kann unumstritten akzeptiert sein, aber niemals gewiß. Niemand kann garantieren, daß ein Beweis, der zuvor für gültig gehalten wurde, sich nicht eines Tages als ein tiefes Mißverständnis herausstellt, das ganz natürlich erschien, weil es auf einer zuvor «selbstverständlichen», nie in Frage gestellten Annahme beruht, die entweder die physikalische Welt betrifft oder die abstrakte Welt oder die Art, in der einige physikalische und abstrakte Größen miteinander in Beziehung stehen. Genau solch eine fehlerhafte, selbstverständliche Annahme führte dazu, daß die Geometrie selbst fälschlich für einen Zweig der Mathematik gehalten wurde. Über zwei Jahrtausende lang, von etwa 300 vor Christus, als Euklid seine Elemente schrieb, bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein, bildete die euklidische Geometrie einen Teil der Einsichten für jeden Mathematiker. Dann kamen einigen Mathematikerri Zweifel an der Selbstverständlichkeit insbesondere eines der euklidischen
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Axiome des sogenannten «Parallelenaxioms» auf. Dieses Axiom ist notwendig für den Beweis, daß die Winkel eines Dreiecks sich zu 180° addieren. Zunächst wurde die Wahrheit dieses Axioms nicht bezweifelt. Der große Mathematiker Karl Friedrich Gauß soll der erste gewesen sein, der es auf die Probe stellte. Die Legende sagt, er habe (aus Angst, sich lächerlich zu machen) unter größter Geheimhaltung Helfer mit Laternen und Theodoliten auf drei Berggipfel gestellt, die Scheitel des größten Dreiecks, das er einigermaßen bequem messen konnte. Er fand keine Abweichung von Euklids Vorhersagen. Aber das lag, wie wir jetzt wissen, daran, daß seine Instrumente nicht empfindlich genug waren, um die geringen vorhandenen Abweichungen entdecken zu können, denn die Nähe der Erde ist, geometrisch gesehen, ein recht zahmer Ort. Zu Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie gehört eine neue Theorie der Geometrie, die der Euklids widerspricht und die durch Experimente bestätigt wurde. Danach addieren sich die Winkel eines Dreiecks nicht zu 180°; der Wert hängt davon ab, welches Gravitationsfeld in dem Dreieck herrscht. Eine sehr ähnliche falsche Klassifizierung wurde durch den grundlegenden Irrtum verursacht, dem Mathematiker seit dem Altertum erlegen sind, wenn sie mathematisches Wissen für gesicherter hielten als alles andere Wissen. Nachdem dieser Fehler einmal gemacht wurde, blieb keine andere Wahl, als die Beweistheorie selbst zur Mathematik zu zählen, denn ein mathematischer Satz kann nicht gewiß sein, wenn die Theorie, die sein Beweis verfahren rechtfertigt, selbst nicht gesichert ist. Aber wie wir gerade sahen, ist die Beweistheorie kein Zweig der Mathematik, sondern eine Naturwissenschaft. Beweise sind nicht abstrakt. Es gibt einen abstrakten Beweis genausowenig wie eine abstrakte Rechnung. Man kann natürlich eine Klasse abstrakter Größen definieren und sie «Beweise» nennen. Aber diese «Beweise» können keine mathematischen Aussagen verifizieren, weil niemand sie sehen kann. Sie können uns von der Wahrheit einer Aussage genausowenig überzeugen wie ein Wirklichkeitssimulator Menschen davon überzeugen kann, daß sie in einer anderen Umwelt sind. Eine mathematische «Beweistheorie» wirkt sich nicht nur darauf aus, welche mathematischen Wahrheiten sich beweisen lassen oder nicht, so wie eine Theorie der abstrakten «Berech-
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nung» sich nicht darauf auswirkt, was Mathematiker oder andere Menschen in Wirklichkeit berechnen können. Berechnungen, insbesondere solche, die als Beweise gelten, sind physikalische Vorgänge. Die Beweistheorie möchte sicherstellen, daß sie abstrakte Größen richtig wiedergeben. Gödels Sätze wurden als «die ersten neuen Sätze der reinen Logik in zweitausend Jahren» gepriesen. Aber das ist nicht so. Gödels Sätze handeln davon, was bewiesen werden kann und was nicht, und Beweise sind physikalische Vorgänge. In der Beweistheorie ist nichts eine Frage allein der Logik. Die neue Art, mit der Gödel allgemeine Behauptungen über Beweise bewies, hängt von gewissen Annahmen darüber ab, welche physikalischen Vorgänge eine abstrakte Tatsache so darstellen können, daß ein Beobachter sie entdeckt und davon überzeugt wird. Gödel baute solche Annahmen in die explizite und stillschweigende Rechtfertigung seiner Ergebnisse ein. Seine Ergebnisse waren nicht deshalb offensichtlich gerechtfertigt, weil sie «reine Logik» waren, sondern weil Mathematiker die Annahmen für selbstverständlich hielten. Zu Gödels Annahmen gehörte beispielsweise, daß ein Beweis nur eine endliche Anzahl von Schritten haben kann. Intuitiv wird diese Annahme gerechtfertigt, weil wir endliche Wesen sind und niemals eine unendliche Anzahl von Behauptungen erfassen können. Dieses Gefühl bereitete übrigens vielen Mathematikern Sorgen, als Kenneth Appel und Wolf gang Haken 1976 den berühmten «Vierfarbensatz» mit Hilfe eines Computers bewiesen. Das Programm brauchte Hunderte von Stunden Computerzeit. Der Ausdruck der Beweisschritte könnte in einem noch so langen Menschenleben weder ganz gelesen noch gar als selbstverständlich erkannt werden. Die Skeptiker fragten sich, ob sie dem Computer glauben sollten, daß der Vierfarbensatz bewiesen ist – obwohl es ihnen niemals eingefallen wäre, alle Entladungen der Neuronen zu katalogisieren, die in ihrem eigenen Gehirn ablaufen, wenn sie einen relativ «einfachen» Beweis akzeptieren. Diese Sorge mag gerechtfertigter erscheinen, wenn sie auf einen mutmaßlichen Beweis mit unendlich vielen Schritten angewendet wird. Aber was ist ein «Schritt» und was ist «unendlich»? Zeno von Elea schloß auf der Grundlage einer ähnlichen Überlegung, daß Achilles die Schildkröte niemals einholen kann, wenn
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die Schildkröte einen Vorsprung hat. Schließlich wird die Schildkröte, wenn Achilles sie erreicht hat, ja schon wieder etwas weiter sein. Wenn er ihren neuen Ort erreicht hat, ist sie ihm schon wieder etwas voraus, und so weiter ad infinitum. Dieses »Einholen« erfordert also, daß Achilles unendlich viele Schritte macht, was er als endliches Wesen mutmaßlich nicht kann. Was Achilles jedoch kann, läßt sich nicht durch reine Logik entdecken, sondern hängt völlig davon ab, was die herrschenden Naturgesetze über seine Handlungsmöglichkeiten aussagen. Und wenn sie sagen, daß er die Schildkröte überholen kann, wird er sie überholen. Dazu gehören (nach der klassischen Physik) unendlich viele Schritte der Art «Gehe an den Ort, an dem die Schildkröte jetzt ist». In diesem Sinn ist der Vorgang rechnerisch unendlich. Als Beweis, daß eine abstrakte Größe größer ist als eine andere, wenn eine bestimmte Menge von Operationen auf sie angewendet wird, ist er ebenfalls ein Beweis mit unendlich vielen Schritten. Aber die entsprechenden Gesetze kennzeichnen ihn als einen physikalisch endlichen Prozeß, und allein darauf kommt es an. Gödels Einsicht über Schritte und Endlichkeit spricht, so weit wir wissen, wirkliche physikalische Zwänge für den Beweisvorgang an. Die Quantentheorie setzt diskrete Schritte voraus, und keiner der bekannten Wege, auf denen physikalische Objekte wechselwirken können, würde eine unendliche Anzahl von Schritten zulassen, um zu einem meßbaren Schluß zu kommen. Es ist sehr fraglich, ob die klassische Physik, wenn sie wahr gewesen wäre, dieselben Einsichten gestützt hätte. Die stetige Bewegung klassischer Systeme hätte sehr wohl auch eine «analoge» Berechnung erlaubt, die nicht in Schritten abläuft und ein wesentlich anderes Repertoire hat als die universelle Turingmaschine. Es sind mehrere Beispiele von künstlichen klassischen Gesetzen bekannt, die (nach den Maßstäben von Turingmaschinen oder Quantencomputern) mit physikalisch endlichen Methoden unendlich viele Berechnungen durchführen könnten. Man kann, wie diese Beispiele zeigen, jedenfalls nicht unabhängig von allem physikalischen Wissen beweisen, daß ein Beweis aus endlich vielen Schritten bestehen muß. Dieselbe Überlegung gilt für die Intuition, daß es endlich viele Beweisregeln geben muß, und daß diese «direkt anwendbar» sein müssen. Keine dieser For-
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derungen ist abstrakt gesehen sinnvoll. Sie sind physikalische Forderungen. Hubert spottete in seinem einflußreichen Aufsatz Über das Unendliche über den Gedanken, daß die Forderung nach der «endlichen Anzahl von Schritten» wesentlich ist. Aber die obige Begründung zeigt, daß er sich irrte. Sie ist wichtig und folgt nur aus der physikalischen Intuition der Mathematiker. Zumindest eine von Gödels Einsichten in Beweise stellt sich als fehlerhaft heraus, betrifft aber glücklicherweise nicht die Gültigkeit seiner Sätze. Gödel übernahm den Gedanken unmittelbar aus der griechischen Mathematik, und bis er sich in den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts durch Entdeckungen in der Quantentheorie der Berechnung als falsch erwies, wurde er von keiner Mathematikergeneration angezweifelt. Diesem Gedanken zufolge ist ein Beweis etwas Besonderes, eine Reihe von Aussagen, die Beweisregeln gehorchen. Wir haben schon gesehen, daß ein Beweis besser nicht als ein Ding, sondern als ein Vorgang gesehen werden sollte, als eine Art Berechnung. In der klassischen Beweistheorie macht das aus dem folgenden Grund jedoch keinen grundlegenden Unterschied: Wenn wir den Beweisprozeß durchgehen, können wir mit nur wenig zusätzlicher Mühe alles aufzeichnen, was im Lauf dieses Vorgangs passiert. Die Aufzeichnung, ein physikalisches Objekt, stellt einen Beweis im Sinn der Aussagenfolge dar. Umgekehrt können wir eine solche Aufzeichnung, wenn sie uns vorliegt, durchlesen und überprüfen, ob die Beweisregeln erfüllt sind. Damit können wir schließlich den Schluß als bewiesen betrachten. Im klassischen Fall ist also die Umwandlung von Beweisvorgängen in Beweisdinge immer durchführbar. Jetzt betrachten wir eine klassisch nicht auszuführende mathematische Berechnung, die aber ein Quantencomputer leicht bewerkstelligen kann, indem er die Interferenz zwischen, sagen wir, 10500 Universen nutzt. Um den Punkt deutlicher zu machen, sei die Berechnung so, daß eine Bestätigung der Antwort, wenn sie einmal bekannt ist, praktisch nicht durchführbar ist. Der Vorgang, der darin besteht, den Quantencomputer so zu programmieren, daß er eine solche Berechnung vornimmt, das Programm ablaufen läßt und ein Ergebnis ausgibt, stellt einen Beweis dafür dar, daß die mathematische Berechnung dieses
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bestimmte Ergebnis hat. Aber es gibt keine Möglichkeit, all das aufzuzeichnen, was im Beweisprozeß abläuft, weil das meiste in anderen Universen passiert und die Messung des Rechenzustands die Interferenzeigenschaften ändern und damit den Beweis ungültig machen würde. Auf diese Weise kann man keinen Beweis alter Art führen; es gäbe auch nicht annähernd genug Materie im uns bekannten Universum, um ein solches Objekt herzustellen, weil der Beweis ungeheuer viel mehr Schritte enthält, als es im bekannten Universum Atome gibt. Dieses Beispiel zeigt, daß die beiden Beweisbegriffe wegen der Möglichkeit der Quantenberechnung nicht gleichwertig sind. Die Vorstellung eines Beweises als Ding umfaßt nicht all die Möglichkeiten, mit denen eine mathematische Aussage in Wirklichkeit bewiesen werden kann. Wir erkennen die Unzulänglichkeit der herkömmlichen mathematischen Verfahren, Gewißheit zu erlangen, indem wir versuchen, jede mögliche Quelle der Mehrdeutigkeit oder des Irrtums von unseren Vorstellungen fernzuhalten, bis nur die Wahrheit übrigbleibt. Das hatten Gödel, Church, Post und insbesondere Turing getan, als sie versuchten, universelle Modelle solcher Berechnungen aufzustellen. Turing hoffte, sein abstrahiertes Papierstreifen-Modell sei so einfach, durchschaubar und wohldefiniert, daß es nicht von irgendwelchen anderen physikalischen Annahmen abhängen würde, die möglicherweise falsifiziert werden könnten, es also Grundlage einer von der Physik unabhängigen abstrakten Theorie der Berechnung sein könnte. «Er dachte», so sagte Feynman einmal, «er habe das Papier verstanden». Aber er irrte sich. Quantenmechanisches Papier ist ganz anders beschaffen als das abstrakte Papier der Modelle der Turingmaschinen. Die Turingmaschine ist klassisch und läßt nicht zu, daß in anderen Universen andere Symbole auf dem Papier stehen und miteinander interferieren. Natürlich lassen sich Interferenzen zwischen unterschiedlichen Zuständen eines Papierstreifens praktisch nicht aufspüren. Aber es kommt darauf an, daß Turings Intuition, da sie falsche Annahmen in bezug auf die klassische Physik enthielt, ihn veranlaßte, von einigen der für die Berechnung wesentlichen Eigenschaften seiner hypothetischen Maschine abzusehen, und zwar gerade von jenen, die er behalten wollte. Deshalb ergab sich ein unvollständiges Modell der Berechnung.
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Daß Mathematiker sich im Lauf der Zeit in bezug auf Beweise und Gewißheit mehrfach geirrt haben, ist nur natürlich. Die gegenwärtige Erörterung sollte uns dazu bringen zu erwarten, daß die jetzige Sicht ebenfalls nicht ewig überdauern wird. Aber das Vertrauen, mit dem Mathematiker in diese Fehler hineingestolpert sind, und ihre Unfähigkeit, auch nur die Möglichkeit eines Fehlers in bezug auf diese Fragen anzuerkennen, hängen wohl damit zusammen, daß seit langer Zeit weitverbreitete Verwirrung in bezug auf die Methoden und den Inhalt der Mathematik herrscht. Anders als die Beziehungen zwischen physikalischen Dingen sind Beziehungen zwischen abstrakten Größen unabhängig von allen zufälligen Tatsachen und den Gesetzen der Physik. Sie werden absolut und objektiv durch die autonomen Eigenschaften der abstrakten Größen selbst bestimmt. Die Mathematik, die Untersuchung dieser Beziehungen und Eigenschaften, ist deshalb die Untersuchung absolut notwendiger Wahrheiten. Anders gesagt sind die Wahrheiten, die die Mathematik untersucht, absolut gewiß. Aber das bedeutet nicht, daß unser Wissen über diese notwendigen Wahrheiten selbst gewiß ist. Es bedeutet nicht, daß die Methoden der Mathematik diese notwendige Wahrheit auf ihre Schlüsse übertragen. Schließlich beschäftigt sich die Mathematik auch mit falschen Aussagen und Paradoxien. Die aus einer solchen Untersuchung gezogenen Schlüsse brauchen deshalb nicht notwendigerweise falsch oder paradox zu sein. Notwendige Wahrheit betrifft lediglich den Inhalt der Mathematik, nicht den Lohn, den wir dafür erhalten, daß wir Mathematik betreiben. Das Ziel der Mathematik ist nicht mathematische Gewißheit und kann es auch nicht sein. Das Ziel ist auch nicht mathematische Wahrheit, ob sie nun gewiß ist oder nicht. Das Ziel ist die mathematische Erklärung, und muß es sein. Warum bewährt sich dann die Mathematik so gut? Warum führt sie zu Schlüssen, die, wenn sie auch nicht absolut gewiß sind, doch akzeptiert und problemlos jahrtausendelang angewendet werden können? Letztlich, weil ein Teil unseres Wissens über die physikalische Welt ebenfalls so zuverlässig und unumstritten ist. Und wenn wir die physikalische Welt hinreichend gut verstehen, verstehen wir auch, welche physikalischen Objekte dieselben Eigenschaften haben wie abstrakte. Aber
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im Prinzip bleibt die Zuverlässigkeit unserer mathematischen Kenntnisse unserem Wissen über die physikalische Wirklichkeit untergeordnet. Die Gültigkeit eines mathematischen Beweises hängt davon ab, daß wir die richtigen Regeln für das Verhalten einiger physikalischer Objekte kennen, ob es nun Wirklichkeitssimulatoren, Tinte und Papier oder unsere eigenen Gehirne sind. Mathematische Einsicht ist also eine Form der physikalischen Intuition. Physikalische Einsicht läuft auf die Beherrschung einer Reihe von Faustregeln über das Verhalten der physikalischen Welt hinaus; einige Regeln sind vielleicht angeboren und viele wurden in der Kindheit gewonnen. Uns ist beispielsweise klar, daß es so etwas wie Gegenstände gibt und daß sie solche Eigenschaften wie Form, Farbe, Gewicht, Lage im Raum und so weiter haben, von denen einige auch dann existieren, wenn die Dinge nicht beobachtet werden. Ähnlich einsichtig ist uns, daß es eine physikalische Variable, die Zeit, gibt, in bezug auf die sich die Attribute verändern, daß aber Objekte im Lauf der Zeit trotzdem ihre Identität behalten können. Eine andere Einsicht zeigt uns, daß Objekte wechselwirken und dadurch einige ihrer Eigenschaften verändern können. Mathematische Intuition betrifft die Art und Weise, in der die physikalische Welt die Eigenschaften abstrakter Größen beeinflussen kann. Eine solche Erkenntnis führt zu einem abstrakten Gesetz oder zumindest einer Erklärung, die dem Verhalten von Dingen zugrunde liegt. Die Einsicht, daß der Raum geschlossene Flächen zuläßt, die ein «Innen» von einem «Außen» trennen, läßt sich zur mathematischen Intuition der Menge verfeinern, wodurch das betrachtete Universum (physikalisch und abstrakt) in Elemente und Nicht-Elemente dieser Menge unterteilt werden kann. Aber weitere Erkenntnisse der Mathematiker (angefangen mit Russell) haben gezeigt, daß diese intuitive Einteilung fragwürdig wird, wenn die betreffenden Mengen «zu viele» Elemente enthalten (der Grad der Unendlichkeit der Elemente also zu groß ist). Physikalische oder mathematische Einsicht hat natürlich nicht schon deshalb einen besonderen Stellenwert, weil sie angeboren ist. Neu-Platoniker können die angeborene Intuition nicht als Ersatz für Platons «Erinnerungen» an die Welt der Ideen in Anspruch nehmen. Denn es ist eine verbreitete Beobachtung, daß uns durch die Zufälle der Evolu-
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tion viele falsche Einsichten vermittelt wurden. So verkörpern beispielsweise das menschliche Auge und das zugehörige Sehsystem implizit die falsche Theorie, daß gelbes Licht aus einer Mischung von rotem und grünem Licht besteht. In Wirklichkeit entsprechen alle drei Farben jeweils eigenen Frequenzen und können nicht durch die Mischung anderer Farben gewonnen werden. Daß uns eine Mischung von rotem und grünem Licht als gelbes Licht erscheint, hat überhaupt nichts mit den Eigenschaften des Lichts zu tun, sondern ist eine Eigenschaft unserer Augen. Vielleicht ist die Möglichkeit vorstellbar, daß die euklidische Geometrie oder die aristotelische Logik irgendwie in den Bau unserer Gehirne eingebaut sind, wie Immanuel Kant dachte. Aber deshalb müßten sie nicht aus logischen Gründen wahr sein. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, daß wir angeborene Intuitionen haben, die wir aufgrund unserer Konstitution nicht abschütteln können, müßten solche Intuitionen nicht unbedingt notwendige Wahrheiten sein. Die Wirklichkeit hat also eine sehr viel einheitlichere Struktur, als es mit dem traditionell unbefleckten Status mathematischen Wissens vereinbar wäre. Mathematische Größen sind ein Teil dieses Strukturgewebes, weil sie komplex und autonom sind. Die Wirklichkeit, die sie darstellen, ähnelt in mancher Hinsicht der, die Platon oder Penrose sich vorstellten: Obwohl sie nach Definition unfaßbar ist, gibt es sie objektiv und sie haben Eigenschaften, die von den Gesetzen der Physik unabhängig sind. Aber eben die Physik ermöglicht es uns, etwas über dieses Reich zu erfahren, obwohl sie uns auch enge Zwänge auferlegt. Während alles in der physikalischen Wirklichkeit verstehbar ist, sind die verstehbaren mathematischen Wahrheiten eine infinitesimale Minderheit, die zufällig genau einer physikalischen Wahrheit entspricht. Sie sind also Wahrheiten, die sich in der virtuellen Realität simulieren lassen. Wir haben keine andere Wahl als anzunehmen, daß die unfaßbaren mathematischen Größen ebenfalls wirklich sind, weil sie in unseren Erklärungen verstehbarer Größen unabdingbar sind. Das Gewebe der physikalischen Wirklichkeit öffnet uns ein Fenster zur Welt der Abstraktionen. Es ist ein sehr kleines Fenster, und es ermöglicht uns nur eine sehr beschränkte Aussicht. Einige der Strukturen, die wir dort sehen, wie etwa die Logik und die natürlichen Zahlen, schei-
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nen uns für die abstrakte Welt wichtig oder «grundlegend» zu sein, so wie tiefe Naturgesetze für die physikalische Welt grundlegend sind. Aber vieles davon könnte auch eine Täuschung sein. Sicherlich sind einige abstrakte Strukturen für unser Verständnis von Abstraktionen grundlegend. Wir haben jedoch keinen Grund zu der Annahme, daß die von Selbstverständlichkeit, Intuition und Verstehbarkeit auferlegten Strukturen eine objektive Eigenschaft der abstrakten Welt darstellen. Es ist nur so, daß einige abstrakte Größen gerade vor unserem Fenster sind und wir sie besser sehen können als andere. Einige von ihnen sind nur Kratzspuren im Fensterglas. Was haben wir in diesem Exkurs über Mathematik gelernt? Abstraktionen sind komplex und autonom und existieren objektiv als Teil unseres umfassenden Wirklichkeitsbegriffs. Für die Abstraktionen gelten Wahrheiten, die Gegenstand der Mathematik sind, auch wenn sie nie sicher als solche erfahren werden können. Aber sie lassen sich in der virtuellen Realität simulieren. Wie schon früher bemerkt, ist Berechnung ein Begriff aus der Quantentheorie, weil die klassische Physik unvereinbar ist mit den Intuitionen, die ihre Grundlage bilden. Dies gilt auch für die Zeit, der wir uns nun zuwenden wollen.
10 Zeit, der erste Quantenbegriff Wie wogen drängen nach dem steinigen strand Ziehn unsre stunden eilig an ihr end Und jede tauscht mit der die vorher stand mühsamen zugs nach vorwärts nötigend Shakespeare, Sonnett 60 (Übersetzer: George) Obwohl die Zeit ein uns besonders vertrauter Teil der physikalischen Welt ist, erscheint uns der Begriff doch zutiefst geheimnisvoll. Das Geheimnis ist sogar Teil des Zeitbegriffs, mit dem wir aufwachsen. Wenige Menschen halten den Begriff der Entfernung für geheimnisvoll, alle aber den der Zeit. Und alle Geheimnisse der Zeit rühren von ihrer grundlegenden, dem gesunden Menschenverstand vertrauten Eigenschaft her, daß der jetzige Augenblick, der, den wir «Jetzt» nennen, nicht feststeht, sondern sich stetig auf die Zukunft hin bewegt. Diese Bewegung wird Strom der Zeit oder Zeitfluß genannt. Wir werden sehen, daß es so etwas wie den Strom der Zeit nicht gibt, aber die Vorstellung davon ist doch höchst vernünftig. Sie erscheint uns so selbstverständlich, daß sie in der Struktur unserer Sprache vorausgesetzt wird. So erklären Randolph Quirk und seine Mitverfasser in ihrer Grammatik der englischen Sprache den Zeitbegriff so: «Man kann sich die Zeit als eine theoretisch unendlich lange Gerade vorstellen, auf der als ein stetig bewegter Punkt der jetzige Augenblick seinen Platz hat. Alles, was vor dem gegenwärtigen Augenblick liegt, gehört zur Zukunft, und alles, was dahinter liegt, gehört der Vergangenheit an.»
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Abb. 21 Zeitbegriff, wie er in der englischen Grammatik von Quirk definiert ist.
Jeder Punkt auf der Geraden stellt einen bestimmten Augenblick dar. Das Dreieck V zeigt an, wo der «stetig bewegte Punkt, der jetzige Augenblick» auf der Geraden liegt. Es wird angenommen, daß er sich von links nach rechts bewegt. Was meinen wir, wenn wir sagen, man könne sich die «Zeit als eine Gerade vorstellen»? Man kann sich eine Gerade als Folge von Punkten vorstellen, die an unterschiedlichen Orten sind. Ähnlich kann man sich jedes bewegte oder veränderliche Ding als eine Folge bewegungsloser «Schnappschüsse» des Dings vorstellen, von denen in jedem Augenblick einer gemacht wird. Wenn wir sagen, jeder Punkt auf der Geraden stelle einen bestimmten Augenblick dar, meinen wir, daß wir uns all die Schnappschüsse entlang der Geraden wie in Abbildung 22 aneinandergeheftet vorstellen können. Einige von ihnen sind das Ding, wie es in der Vergangenheit war, einige das Ding, wie es in Zukunft sein wird, und einer von ihnen – der, auf den das bewegte V gerade zeigt – ist das Ding, wie es jetzt ist, obwohl diese bestimmte Fassung des Dings einen Augenblick später auch in der Vergangenheit sein wird, weil das V sich weiterbewegt haben wird. All diese augenblicklichen Fassungen eines Dings gemeinsam sind das bewegte Ding, ähnlich wie eine Folge von Einzelbildern dann, wenn sie rasch genug auf einen Schirm projiziert werden, ein Film ist. Die einzelnen Schnappschüsse verändern sich nicht. Die Veränderung besteht darin, daß sie nacheinander vom bewegten V (dem Projektor) «beleuchtet» werden, so daß sie einer nach dem anderen in der Gegenwart sind.
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Abb. 22 Ein bewegter Körper als eine Folge von «Schnappschüssen», die einer nach dem anderen zum gegenwärtigen Augenblick werden.
Heutige Grammatiker vermeiden es, Werturteile über die Verwendung von Sprache abzugeben. Sie versuchen nur, sie aufzuzeichnen, zu analysieren und zu verstehen. Deshalb sind Quirk et al. nicht für die Qualität der von ihnen beschriebenen Theorie der Zeit verantwortlich zu machen. Sie behaupten nicht, daß sie eine gute Theorie sei, sondern nur, daß sie unsere Theorie ist. Leider ist sie keine gute Theorie. Offen gesagt liegt der Grund dafür, warum dieser scheinbar dem gesunden Menschenverstand entsprechende Zeitbegriff so geheimnisvoll ist, darin, daß die Theorie unsinnig ist. Sie ist nicht nur faktisch ungenau, sondern auch, wie wir sehen werden, selbst nach ihren eigenen Maßstäben sinnlos. Das mag überraschen. Wir haben uns daran gewöhnt, unseren gesunden Menschenverstand wissenschaftlichen Entdeckungen anzupassen. Doch der sogenannte gesunde Menschenverstand stellt sich oft als falsch, gelegentlich sogar als sehr falsch heraus – hier hat er sich in einer alltäglichen Erfahrung sogar als unsinnig erwiesen.
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Betrachten wir wieder Abbildung 22. Sie veranschaulicht die Bewegung von zwei Größen. Eine von ihnen ist ein rotierender Pfeil, der als eine Reihe von Schnappschüssen dargestellt wird. Der andere ist der sich bewegende «gegenwärtige» Augenblick, der von links nach rechts durch das Bild zieht. Aber die Bewegung des jetzigen Augenblicks wird in dem Bild nicht als eine Reihe von Schnappschüssen dargestellt. Vielmehr zeichnet ∇ einen bestimmten Augenblick aus, der dunkler gezeichnet ist und als einziger «[Jetzt]» genannt ist. Obwohl sich also «Jetzt», wie die Bildunterschrift sagt, über das Bild hinwegbewegt, ist nur ein zu einem bestimmten Augenblick gemachter Schnappschuß zu sehen. Warum? Schließlich soll dieses Bild doch zeigen, was in einem längeren Zeitraum passiert, nicht nur in einem Augenblick. Wenn wir gewollt hätten, daß das Bild nur einen Augenblick zeigt, hätten wir uns nicht die Mühe geben müssen, mehr als einen Schnappschuß des rotierenden Pfeils zu zeigen. Das Bild soll die vernünftige Theorie veranschaulichen, die besagt, daß jedes bewegte oder veränderliche Objekt aus einer Reihe von Schnappschüssen besteht – für jeden Augenblick einer. Warum zeigen wir nicht auch eine Folge von Schnappschüssen von ∇, wenn es sich doch bewegt? Der gezeigte Schnappschuß muß doch einer von vielen sein, die es geben würde, wenn dies eine getreuliche Beschreibung der Zeit wäre. Tatsächlich führt das Bild so, wie es dasteht, in die Irre. Es zeigt ∇ nicht in Bewegung, sondern vielmehr als etwas, das in einem bestimmten Augenblick entsteht und dann sofort aufhört zu existieren. Wenn das so wäre, wäre das «Jetzt» ein fester Augenblick. Es ändert nichts, daß ich die Überschrift «Bewegung des gegenwärtigen Augenblicks» und einen Hinweis gegeben habe, daß sich ∇ nach rechts bewegt. Diese Abbildung und auch Abbildung 21 zeigen ein ∇, das niemals einen anderen Augenblick erreicht als den bezeichneten. Bestenfalls könnte man sagen, Abbildung 22 sei ein Zwitter, der die Bewegung seltsamerweise zweimal veranschaulicht. Was den bewegten Pfeil betrifft, entspricht sie der uns vernünftig erscheinenden Theorie der Zeit. Aber sie stellt lediglich fest, daß der jetzige Augenblick sich bewegt, zeigt ihn aber nicht als bewegt. Wie könnten wir das Bild so verändern, daß es sowohl die dem gesunden Menschenverstand entspre-
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chende Theorie der Zeit in bezug auf die Bewegung des jetzigen Augenblicks als auch die Bewegung des Pfeils veranschaulicht? Indem wir mehr Schnappschüsse von ∇ berücksichtigen, nämlich für jeden Augenblick einen, von denen jeder anzeigt, wo «Jetzt» in diesem Moment ist. Und wo ist es? Offensichtlich ist dieser Augenblick in jedem Augenblick «Jetzt». Um Mitternacht muß ∇ beispielsweise auf den Schnappschuß des Pfeils zeigen, der um Mitternacht gemacht wurde, um 1 Uhr auf den, der um 1 Uhr gemacht wurde und so weiter. Das Bild sollte also so aussehen:
Abb. 23 In jedem Augenblick ist »Jetzt« dieser Augenblick.
Dieses ergänzte Bild (Abbildung 23) ist eine befriedigende Veranschaulichung der Bewegung. Aber immer noch ist unser Zeitbegriff sehr eingeschränkt. Die vernünftige Vorstellung, daß ein bewegtes Objekt eine Folge augenblicklicher Fassungen von sich selbst ist, blieb erhalten. Aber die andere so selbstverständliche Vorstellung vom Strom der Zeit ist weg. In diesem Bild gibt es keinen «stetig bewegten Punkt, den jetzigen Augenblick», der an den festen Augenblicken vorbeiläuft, einer nach dem anderen. Es gibt keinen Prozeß, durch den ein fester Augenblick in der Zukunft beginnt, zur Gegenwart wird und dann der Vergangenheit überantwortet wird. Da die Symbole ∇ und [Jetzt] so häufig vorkommen,
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unterscheiden sie nicht mehr einen Augenblick vom anderen, sind also überflüssig. Das Bild würde die Bewegung des rotierenden Pfeils genausogut veranschaulichen, wenn sie fehlten. Es gibt einen einzelnen «gegenwärtigen Augenblick» also nur subjektiv. Aus dem Blickwinkel eines Beobachters in einem bestimmten Augenblick ist dieser Augenblick in der Tat ausgezeichnet. Er kann von diesem Beobachter «Jetzt» genannt werden, genau wie jeder Ort im Raum vom Gesichtspunkt eines Beobachters an diesem Ort als «Hier» ausgezeichnet ist. Aber objektiv genießt kein Augenblick den Vorzug, mehr «Jetzt» zu sein als ein anderer, genau wie kein Ort mehr »Hier« ist als ein anderer. Das subjektive «Hier» kann sich durch den Raum bewegen, wenn sich der Beobachter bewegt. Bewegt sich nun das subjektive «Jetzt» genauso durch die Zeit? Sind die Abbildungen 21 und 22 überhaupt richtig, da sie die Zeit aus dem Blickwinkel eines Beobachters in einem bestimmten Augenblick veranschaulichen? Sicherlich nicht. Selbst subjektiv bewegt sich «Jetzt» nicht durch die Zeit. Es wird oft gesagt, die Gegenwart scheine sich in der Zeit vorwärts zu bewegen, weil die Gegenwart nur relativ zu unserem Bewußtsein definiert wird und unser Bewußtsein die Augenblicke vorwärts durchläuft. Aber so verhält sich unser Bewußtsein nicht, und das könnte es auch gar nicht. Wenn wir sagen, unser Bewußtsein «scheine» sich von einem Augenblick zum nächsten zu bewegen, umschreiben wir lediglich die dem gesunden Menschenverstand entsprechende Theorie vom Strom der Zeit. Doch die Vorstellung, ein einzelner «Augenblick, den wir bewußt erleben», bewege sich zu einem anderen Augenblick, ist genauso sinnlos wie die Vorstellung eines einzigen gegenwärtigen Augenblicks. Nichts kann sich von einem Augenblick zum anderen bewegen. Wenn etwas in einem bestimmten Augenblick existiert, dann existiert es immer. Unser Bewußtsein existiert in allen unseren (wachen) Momenten. Zugegeben, verschiedene Schnappschüsse des Beobachters nehmen verschiedene Augenblicke als «jetzt» wahr. Aber das bedeutet nicht, daß sich das Bewußtsein des Beobachters oder irgendeine andere bewegte oder veränderliche Gegebenheit durch die Zeit bewegt, wie es der gegenwärtige Augenblick angeblich macht. Die Schnappschüsse des Beobachters sind nicht nacheinander in der Gegenwart. Sie sind sich nicht
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nacheinander ihrer Gegenwart bewußt. Sie sind alle bewußt, und subjektiv sind sie alle in der Gegenwart. Objektiv gibt es keine Gegenwart. Wir nehmen die Zeit nicht als fließend oder vergänglich wahr. Was wir wahrnehmen, sind Unterschiede zwischen unseren gegenwärtigen Wahrnehmungen und unseren gegenwärtigen Erinnerungen an frühere Wahrnehmungen. Wir deuten jene Unterschiede richtig als Hinweise darauf, daß sich das Universum im Lauf der Zeit ändert. Wir deuten sie auch, fälschlich, als Hinweis darauf, daß sich unser Bewußtsein oder die Gegenwart oder irgend etwas anderes durch die Zeit bewegt. Was würden wir bewußt wahrnehmen, wenn die Bewegung mutwillig ein oder zwei Tage lang aufhören und dann mit dem Zehnfachen ihrer früheren Geschwindigkeit fortgesetzt würde? Nichts Bestimmtes – die Frage ist vielmehr sinnlos. Es gibt nichts, das sich bewegen, anhalten oder fließen könnte, und nichts ließe sich sinnvoll als «Geschwindigkeit der Zeit» bezeichnen. Alles, was es in der Zeit gibt, soll die Gestalt unveränderlicher Schnappschüsse annehmen, die entlang der Zeitlinie angeordnet sind. Dazu gehören die bewußten Erfahrungen aller Beobachter, einschließlich ihres falschen Gefühls, daß die Zeit «fließt». Sie können sich vielleicht eine «bewegte Gegenwart» vorstellen, die an der Gerade entlang läuft, anhält und wieder neu beginnt. Aber die Vorstellung allein läßt es nicht passieren. Nichts kann sich entlang der Geraden bewegen. Die Zeit kann nicht fließen. Der Gedanke des Stroms der Zeit setzt neben der vertrauten Zeit, die eine Folge von Augenblicken ist, eigentlich die Existenz einer zweiten Form der Zeit voraus. Wenn «Jetzt» wirklich von einem Augenblick zum nächsten liefe, dann mit Bezug auf diese äußere Zeit. Wenn dieser Gedanke jedoch ernstgenommen wird, löst er eine unendliche Regression aus, denn wir müßten uns dann die äußere Zeit selbst wieder als eine Folge von Augenblicken vorstellen, mit ihrem eigenen «gegenwärtigen» Augenblick, der sich mit Bezug auf eine noch äußerere Zeit bewegt und so weiter. Es wäre in jedem Stadium sinnlos, vom Strom der Zeit zu sprechen, wenn wir ihn nicht bis in alle Ewigkeit dem Fluß einer äußeren Zeit zuschreiben. Wir hätten dann in jedem Stadium einen sinnlosen Begriff, und auch die ganze unendliche Hierarchie wäre sinnlos.
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Solche Fehler entstehen, weil wir die Zeit gewöhnlich als einen Rahmen sehen, der außerhalb aller physikalischen Gegebenheiten ist, die wir in Betracht ziehen können. Wir sind daran gewöhnt, uns jedes physikalische Ding als möglicherweise veränderlich vorzustellen, es also als eine Folge von Fassungen von sich selbst zu sehen, die in unterschiedlichen Augenblicken existieren. Aber die Folge der Augenblicke selbst ist außergewöhnlich. Es gibt sie nicht im Rahmen der Zeit, sie ist der Rahmen der Zeit. Da es keine Zeit außerhalb von ihr gibt, ist es nicht stimmig, sich vorzustellen, man könne sie verändern, oder es gäbe sie in mehr als nur einer aufeinanderfolgenden Fassung. Das macht solche Bilder so schwer verständlich. Das Bild selbst existiert wie jedes andere physikalische Ding über einen Zeitraum hinweg und besteht wirklich aus mehreren Fassungen von sich selbst. Aber was das Bild darstellt, existiert in nur einer Fassung. Ein bewegtes oder veränderliches Bild kann kein genaues Bild vom Rahmens der Zeit geben, denn der muß statisch sein. Wenn man dies verstehen will, stößt man auf eine inhärente psychologische Schwierigkeit. Obwohl das Bild statisch ist, können wir es nicht statisch verstehen. Es zeigt gleichzeitig und auf derselben Seite eine Folge von Augenblicken, und um das in Beziehung zu unserer Erfahrung zu setzen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die ganze Reihe richten. Wir könnten beispielsweise einen Schnappschuß betrachten und ihn das «Jetzt» darstellen lassen, und einen Augenblick später einen Schnappschuß rechts davon als den ansehen, der das neue «Jetzt» darstellt. Dabei verwechseln wir leicht die wirkliche Bewegung des Brennpunkts unserer Aufmerksamkeit, die sich auf das Bild richtet, mit der unmöglichen Bewegung durch wirkliche Augenblicke hindurch. In diesem Problem steckt mehr als nur die Schwierigkeit der Veranschaulichung des vertrauten Zeitbegriffs. Sie selbst enthält eine wesentliche und tiefe Doppeldeutigkeit. Sie kann sich nicht entscheiden, ob die Gegenwart objektiv ein einzelner Augenblick ist oder aus vielen Augenblicken besteht – und deshalb auch nicht, ob Abbildung 21 einen Augenblick darstellt oder viele. Der gesunde Menschenverstand möchte die Gegenwart als einen einzelnen Augenblick sehen, damit die Zeit fließen kann, damit also die Gegenwart durch die Augenblicke von der Vergangenheit zur Zukunft strömen kann. Aber der gesunde Menschen-
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verstand möchte auch, daß die Zeit eine Folge von Augenblicken ist, wobei alle Bewegung und Veränderung von unterschiedlichen Fassungen herrührt, die eine Größe zu verschiedenen Zeitpunkten hat. Die Augenblicke selbst verändern sich nicht. Ein bestimmter Augenblick kann also nicht Gegenwart werden oder aufhören, Gegenwart zu sein, denn dies wären Veränderungen. Deshalb kann die Gegenwart ganz objektiv kein einzelner Augenblick sein. Wir halten aus diesen Gründen an diesen beiden unvereinbaren Begriffen – der bewegten Gegenwart und der Folge unveränderlicher Momente – fest, weil wir sie beide brauchen oder vielmehr denken, wir brauchten sie. Im Alltagsleben berufen wir uns fortwährend auf beide, wenn auch niemals ganz im selben Atemzug. Wenn wir Ereignisse beschreiben, und sagen, wann etwas passiert, denken wir an eine Folge unveränderlicher Augenblicke. Wenn wir Ereignisse als Ursache und Wirkung voneinander erklären, denken wir in Form der bewegten Gegenwart. Wenn wir beispielsweise sagen, Faraday habe im Jahre 1831 die elektromagnetische Induktion entdeckt, schreiben wir dieses Ereignis einer gewissen Folge von Augenblicken zu. Wir legen fest, in welcher Menge von Schnappschüssen aus dem großen Bündel von Schnappschüssen der Weltgeschichte diese Entdeckung zu finden ist. Wenn wir sagen, wann etwas passiert ist, brauchen wir uns genausowenig auf einen «Zeitfluß» zu berufen, wie wir von einem «Raumfluß» sprechen, wenn wir sagen, wo etwas geschah. Aber sobald wir sagen, warum etwas passierte, müssen wir den Strom der Zeit einbeziehen. Wenn wir sagen, daß wir unsere Elektromotoren und Dynamos zum Teil Faraday verdanken und daß die Auswirkungen seiner Entdeckung bis auf den heutigen Tag spürbar sind, haben wir ein Bild vor Augen, wonach die Auswirkungen 1831 begannen, sich durch alle Augenblicke des restlichen neunzehnten Jahrhunderts hindurchzogen, dann ins zwanzigste Jahrhundert hineinreichten und dort zu Errungenschaften wie Elektrizitätswerken führten. Wenn wir nur oberflächlich urteilen, würden wir den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als noch nicht unter den Einfluß der großen Ereignisse von 1831 gestellt sehen, während sich das später durch die Auswirkungen verändert hat, die sich auf dem Weg ins 21. Jahrhundert und darüber
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hinaus einstellten. Doch gewöhnlich sind wir sorgfältig und vermeiden diese Widersprüche, indem wir niemals beide Teile der uns so selbstverständlichen Theorie der Zeit gleichzeitig verwenden. Wir haben vom «Geheimnis» der Zeit gesprochen. Vielleicht ist «Paradoxon» ein besseres Wort als Geheimnis, denn wir stoßen hier auf einen offenen Konflikt zwischen zwei anscheinend selbstverständlichen Gedanken. Sie können nicht beide wahr sein. Wir werden sehen, daß keiner davon wahr ist. Im Gegensatz zum gesunden Menschenverstand sind unsere physikalischen Theorien stimmig, und dies erreichen wir zunächst, indem wir auf den Gedanken vom Zeitfluß verzichten. Zugegeben, Physiker sprechen genau wie alle anderen Menschen vom Strom der Zeit. So schrieb beispielsweise Sir Isaac Newton in seinen Principia: Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand. Aber Newton macht wohlweislich keinen Versuch, seine Behauptung, daß die Zeit fließt, in mathematische Form zu fassen oder daraus etwas zu schließen. Keine der physikalischen Theorien Newtons bezieht sich auf den Strom der Zeit, und auch keine spätere physikalische Theorie hat sich je auf ihn bezogen oder sich damit verträglich erwiesen. Warum also hielt Newton es für nötig zu sagen, daß die Zeit «gleichförmig fließt»? Am Begriff «gleichförmig» ist nichts falsch, denn man kann darunter verstehen, daß Messungen der Zeit für Beobachter an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Bewegungszuständen zu demselben Ergebnis führen. Das ist eine wesentliche Aussage (von der wir seit Einstein wissen, daß sie nicht zutrifft). Aber sie kann leicht ohne Bezug auf den Zeitfluß formuliert werden. Ich denke, Newton verwandte absichtlich die vertraute Sprache der Zeit, ohne sie wortwörtlich zu meinen, genau wie er informell auch gesagt hätte, die Sonne «gehe auf». Er mußte den Lesern, die sich auf seine revolutionäre Arbeit einließen, den Gedanken vermitteln, daß sein Zeitbegriff weder neu noch besonders schwierig war. Die Principia definieren viele Begriffe, wie
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Abb. 24 Die Raumzeit als eine Reihe aufeinanderfolgender Augenblicke.
«Kraft» und «Masse» genau, aber in präziser Fachsprache und somit etwas anders, als sie gewöhnlich verwendet werden. Das aber, was »Zeit« genannt wird, ist einfach die Zeitangabe des gesunden Menschenverstands, wie wir sie auf Uhren und Kalendern ablesen, und der Begriff der Zeit in den Principia ist der herkömmliche. In der Newtonschen Physik werden Zeit und Bewegung ähnlich verstanden wie in Abbildung 23. Ein kleiner Unterschied ist, daß aufeinanderfolgende Augenblicke als voneinander getrennt gezeichnet wurden, was aber in der Physik vor der Quantenphysik eine Näherung darstellt, weil die Zeit ein Kontinuum ist. Wir müssen uns unendlich viele, unendlich dünne Schnappschüsse vorstellen, die stetig zwischen den gezeichneten interpolieren. Wenn jeder Schnappschuß alles darstellt, was im ganzen Raum in einem bestimmten Augenblick physikalisch vorhanden ist, können wir uns die Schnappschüsse an ihren Vor- und Rückseiten zu einem einzigen, unveränderlichen Block zusammengeklebt denken, der alles enthält, was in Raum und Zeit passiert – also die ganze physikalische Wirklichkeit. Ein Diagramm wie in Abbildung 24 hat den unvermeidlichen Nachteil, daß die Schnappschüsse des Raums in jedem Augenblick als zweidimensional dargestellt werden, während sie in Wirklichkeit dreidimen-
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sional sind. Jeder einzelne ist der Raum in einem bestimmten Moment. Wir sehen also die Zeit analog zu den drei Raumdimensionen der klassischen Geometrie als vierte Dimension. Raum und Zeit zusammen werden als vierdimensionale Größe, als Raumzeit, bezeichnet. In der Newtonschen Physik war diese vierdimensionale geometrische Deutung der Zeit willkürlich, in Einsteins Relativitätstheorie jedoch stellt sie einen unverzichtbaren Teil der Theorie dar. Beobachter, die sich nach der Relativitätstheorie mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen, stimmen nicht darin überein, welche Ereignisse gleichzeitig sind. Sie stimmen also nicht darin überein, was sie auf demselben Schnappschuß sehen. Jeder nimmt eine andere Einteilung der Raumzeit in «Augenblicke» wahr, und doch sind die so konstruierten Raumzeiten alle identisch, wenn jeder seine Schnappschüsse wie in Abbildung 24 aneinanderreiht. Deshalb sind die «Augenblicke» in Abbildung 24 keine objektiven Kennzeichen der Raumzeit. Sie stellen nur eine Möglichkeit dar, wie Gleichzeitigkeit wahrgenommen werden kann. Ein anderer Beobachter würde die «Jetzt»-Scheiben in einem anderen Winkel zeichnen. Die zugrundeliegende objektive Wirklichkeit, nämlich die Raumzeit und ihr physikalischer Inhalt, ließe sich also so darstellen:
Abb. 25 Raumzeitliche Sicht eines bewegten Objekts.
Gelegentlich bezeichnet man die Raumzeit auch als «Block-Universum», weil in ihr die Gesamtheit der physikalischen Wirklichkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ein für allemal als ein einziger vierdimensionaler Block festliegt. Relativ zur Raumzeit bewegt sich nichts.
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Was wir Augenblicke nennen, sind bestimmte Schnitte durch die Raumzeit. Wenn solche Schnitte unterschiedliche Inhalte haben, sprechen wir von Veränderung oder Bewegung im Raum. Wir sehen also den Zeitfluß im Zusammenhang mit Ursachen und Wirkungen. Wir denken uns, daß Ursachen ihren Wirkungen vorausgehen. Wir stellen uns vor, daß die bewegte Gegenwart zunächst zu den Ursachen kommt und dann zu deren Wirkungen, und wir stellen uns vor, daß die strömenden Wirkungen mit dem gegenwärtigen Augenblick zusammen vorwärtsfließen. Philosophisch gesehen sind die wichtigsten Ursache- und Wirkungsprozesse unsere bewußten Entscheidungen und die darauf folgenden Handlungen. Der gesunde Menschenverstand sieht darin unseren freien Willen. Wir können demnach zukünftige Ereignisse manchmal auf verschiedene Art und Weise beinflussen und wählen, was eintreten soll, während wir im Gegensatz dazu niemals in der Lage sind, die Vergangenheit irgendwie zu beeinflussen. Die Vergangenheit ist fest; die Zukunft ist offen. Für viele Philosophen ist der Strom der Zeit der Vorgang, in dessen Verlauf die offene Zukunft Augenblick für Augenblick festgelegt wird. Nach Meinung anderer stellen die alternativen Ereignisse in jedem Augenblick der Zukunft Möglichkeiten dar. Der Zeitfluß ist der Vorgang, durch den Augenblick für Augenblick eine dieser Möglichkeiten aktuell wird (so gesehen gibt es die Zukunft erst dann, wenn der Strom der Zeit sie erreicht und in Vergangenheit umwandelt). Aber wenn die Zukunft wirklich offen ist (und das ist sie!), kann das nichts mit dem Strom der Zeit zu tun haben, denn es gibt keinen Strom der Zeit. In der Physik der Raumzeit (also in der Physik vor der Quantenphysik, beginnend mit Newton) ist die Zukunft nicht offen. Sie ist schon da, mit festen Inhalten, genau wie Vergangenheit und Gegenwart. Wenn ein bestimmter Augenblick in der Raumzeit (in irgendeiner Weise) «offen» wäre, müßte er notwendigerweise offen bleiben, wenn er Gegenwart und Vergangenheit wird, denn Augenblicke können sich nicht ändern. Subjektiv kann man die Zukunft eines bestimmten Beobachters «offen aus der Sicht dieses Beobachters» nennen, weil man seine eigene Zukunft nicht messen oder beobachten kann. Aber Offenheit in diesem subjektiven Sinn läßt keine Wahlfreiheit zu. Wenn Sie ein Los für die gestrige Lotterie haben, aber noch nicht wissen, ob Sie gewonnen haben oder
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nicht, ist das Ergebnis aus Ihrer Sicht noch offen, obwohl es objektiv gesehen festliegt. Aber Sie können es weder subjektiv noch objektiv beeinflussen. Keine denkbaren Ursachen, die es nicht schon beeinflußt haben, können es jetzt noch beeinflussen. Die uns selbstverständliche Theorie des freien Willens besagt, daß die Zukunft gestern, als Sie sich entscheiden konnten, ob Sie ein Los kaufen oder nicht, noch objektiv offen war. Sie konnten wirklich eine von zwei oder mehr Möglichkeiten wählen – aber das ist unverträglich mit der Raumzeit. Nach der Physik der Raumzeit ist die Offenheit der Zukunft eine Illusion, und deshalb können auch Verursachung und freier Wille nichts als Illusionen sein. Wir brauchen den Glauben, daß die Zukunft durch gegenwärtige Ereignisse und besonders durch unsere Entscheidungen beeinflußt werden kann, und halten an ihm fest, aber vielleicht ist das nur unsere Art und Weise, mit der Tatsache umzugehen, daß wir die Zukunft nicht kennen. In Wirklichkeit treffen wir keine Entscheidungen. Selbst wenn wir meinen, die Möglichkeiten abzuwägen, liegt das Ergebnis auf dem entsprechenden Raumzeitabschnitt schon vor, unveränderlich wie alles andere in der Raumzeit und ohne durch unsere Überlegungen beinflußt zu werden. Es scheint, daß diese Überlegungen selbst unveränderlich sind und schon in den ihnen zukommenden Augenblicken existieren, bevor wir je etwas von ihnen wissen. Damit etwas die «Wirkung» einer Ursache ist, muß es durch diese Ursache beeinflußt, also verändert werden. Wenn die Raumzeit-Physik die Wirklichkeit des Stroms der Zeit leugnet, kann sie auch die dem gesunden Menschenverstand entsprechenden Begriffe von Ursache und Wirkung nicht logisch einordnen. Denn im Block-Universum ist nichts veränderlich. Ein Teil der Raumzeit kann einen anderen so wenig verändern, wie ein Teil eines festen dreidimensionalen Objekts einen anderen Teil dieses Objekts verändern kann. Alle grundlegenden Theorien der Raumzeit-Physik haben eine gemeinsame Eigenschaft: Bei allem, was vor einem bestimmten Augenblick passiert, bestimmen die Naturgesetze das Geschehen in allen folgenden Augenblicken. Wir sprechen von Determinismus, wenn gewisse Schnappschüsse durch andere Schnappschüsse bestimmt sind. In der Newtonschen Physik beispielsweise kann man, wenn man Lage und
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Geschwindigkeiten aller Massen eines isolierten Systems, etwa des Sonnensystems, in einem bestimmten Augenblick kennt, im Prinzip berechnen (vorhersagen), wo diese Massen zu allen späteren Zeiten sein werden. Man kann auch zurückrechnen und herausfinden, wo diese Massen zu allen früheren Zeiten waren. Der «Klebstoff», der die Schnappschüsse zu einer Raumzeit zusammenfügt, besteht aus den Naturgesetzen; sie bestimmen einen Schnappschuß, wenn ein anderer gegeben ist. Stellen wir uns einmal vor, wir seien auf magische und unmögliche Weise außerhalb der Raumzeit und deshalb in einer äußeren Zeit, die anders ist als unsere eigene und nicht von der Raumzeit abhängt. Wir zerschneiden die Raumzeit in Schnappschüsse des Raums in jedem Augenblick, wie sie ein bestimmter Beobachter in der Raumzeit wahrnimmt. Dann mischen wir all diese Schnappschüsse und kleben sie in neuer Reihenfolge wieder zusammen. Könnten wir von außen sagen, daß dies nicht die richtige Raumzeit ist? Fast sicherlich. Denn erstens wären die physikalischen Prozesse in der vermischten Raumzeit nicht stetig, weil die Objekte plötzlich an einem Punkt verschwinden und sofort an einem anderen wieder auftauchen. Zweitens, und noch wichtiger, würden die Naturgesetze nicht mehr gelten. Zumindest würden die wirklichen Naturgesetze nicht mehr gelten. Zweifellos würde es andere Gesetze geben, die die gemischte Raumzeit richtig beschreiben. Wir könnten also die vermischte und die wirkliche Raumzeit ohne weiteres unterscheiden. Aber wie wäre es für die Bewohner? Könnten sie den Unterschied erkennen? Wir kommen hier der Grenze des Unsinns – des vertrauten Unsinns der gewöhnlichen Theorie der Zeit – gefährlich nahe. Haben Sie etwas Geduld, dann werden wir den Untiefen ausweichen. Natürlich können die Bewohner den Unterschied nicht erkennen. Wenn sie ihn erkennen könnten, würden sie es tun. Sie würden beispielsweise die Existenz von Unstetigkeiten in ihrer Welt bemerken und wissenschaftliche Arbeiten darüber schreiben – wenn sie in der vermischten Raumzeit überhaupt überleben könnten. Aus unserem magischen Blickwinkel können wir sehen, daß sie und auch ihre wissenschaftlichen Arbeiten überleben. Wir können diese Arbeiten lesen und sehen, daß sie lediglich Beobachtungen der ursprüng-
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lichen Raumzeit enthalten. Alle Aufzeichnungen im Rahmen physikalischer Ereignisse, einschließlich jener in den Erinnerungen bewußter Beobachter, sind dieselben wie in der ursprünglichen Raumzeit. Wir haben die Schnappschüsse nur vermischt, sie aber intern nicht verändert. Die Bewohner nehmen sie also noch in der ursprünglichen Anordnung wahr. In bezug auf die wirkliche Physik – die Physik, wie sie die Bewohner der Raumzeit wahrnehmen – ist all dieses Aufschneiden und Neuzusammenkleben folglich sinnlos. Nicht nur die vermischte Raumzeit, sondern auch all die nicht zusammengeklebten Schnappschüsse sind physikalisch mit der ursprünglichen Raumzeit identisch. Wir stellen uns alle diese Schnappschüsse in der richtigen Anordnung zusammengeklebt vor, weil sie die Beziehungen zwischen ihnen darstellt, die durch die Naturgesetze bestimmt sind. Ein Bild, auf dem sie in anderer Reihenfolge aneinandergeklebt sind, würde dieselben physikalischen Ereignisse – dieselbe Geschichte – darstellen, aber nicht diese Beziehungen. Die Schnappschüsse haben also eine innere Ordnung, die durch ihren Inhalt und durch die wirklichen Naturgesetze bestimmt ist. Jeder der Schnappschüsse bestimmt zusammen mit den Naturgesetzen nicht nur, was alle diese anderen sind, sondern auch ihre Reihenfolge und den jeweiligen Platz in dieser Reihenfolge. Anders gesagt, verschlüsselt jeder Schnappschuß in seinem physikalischen Inhalt einen «Zeitstempel». So muß es sein, wenn der Zeitbegriff nicht den Fehler haben soll, einen allumfassenden Rahmen der Zeit zu bedingen, der nicht zur physikalischen Wirklichkeit gehört. Der «Zeitstempel» ist bei einem Schnappschuß das Ziffernblatt einer natürlichen Uhr, die es in diesem Universum gibt. In einigen Schnappschüssen – beispielsweise jenen, die die Menschheit enthalten – gibt es richtige Uhren. In anderen gibt es physikalische Veränderliche – etwa die chemische Zusammensetzung der Sonne oder der gesamten im Raum vorhandenen Materie –, die man für Uhren halten könnte, weil sie auf verschiedenen Schnappschüssen jedenfalls in einem bestimmten Bereich der Raumzeit bestimmte, unterscheidbare Werte annehmen. Wir können sie standardisieren und eichen, damit sie dort, wo sie überlappen, miteinander übereinstimmen.
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Wir können die Raumzeit wieder zusammenbauen, indem wir die innere Ordnung zu Hilfe nehmen, die durch die Naturgesetze bestimmt ist. Wir beginnen mit einem beliebigen Schnappschuß. Dann berechnen wir, wie die unmittelbar vorhergehenden und nachfolgenden Schnappschüsse aussehen sollten, suchen uns diese aus der verbleibenden Sammlung heraus und kleben sie an den ursprünglichen Schnappschuß an. Wenn wir diesen Vorgang wiederholen, erhalten wir die gesamte Raumzeit. Diese Berechnungen sind im wirklichen Leben kompliziert, aber in einem Gedankenexperiment, in dem wir uns von der Welt der wirklichen Physik gelöst haben, erlaubt. Wenn ein Ereignis aus einem anderen vorhergesagt werden kann, ist es nicht unbedingt die Wirkung einer Ursache. Nach der Elektrodynamik haben beispielsweise alle Elektronen dieselbe Ladung. Mit Hilfe dieser Theorie können wir deshalb das Ergebnis einer Messung an einem Elektron aufgrund des Ergebnisses einer Messung an einem anderen vorhersagen – und das tun wir auch oft. Aber kein Ergebnis wurde vom anderen verursacht. So weit wir wissen, wird der Wert der Ladung eines Elektrons durch keinen physikalischen Vorgang verursacht. Vielleicht wurde er durch die Gesetze der Physik selbst «verursacht». Jedenfalls ist dies ein Beispiel für Ereignisse, die sich voneinander herleiten lassen, aber ursächlich nichts zueinander beitragen. Ein weiteres Beispiel: Wenn wir beobachten, wo ein Teil eines vollständig zusammengelegten Puzzles liegt und die Formen aller anderen Stücke kennen und wissen, daß sie richtig zusammengefügt wurden, können wir vorhersagen, wo die anderen Teile liegen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Lage der anderen Teile durch das Teil, dessen Lage wir beobachten, verursacht wurde. Ob solche Verursachung vorliegt, hängt davon ab, wie das Puzzle als Ganzes dorthin kam. Wenn das beobachtete Stück zuerst gelegt wurde, war es in der Tat eine der Ursachen dafür, daß die anderen Teile dort sind, wo sie sind. Wenn ein anderes Stück zuerst hingelegt wurde, war die Lage des beobachteten Teils eine Auswirkung und keine Ursache. Wenn aber das Puzzle durch einen einzigen Schnitt eines Geräts entstand, das solche Puzzleteile stanzt, und wenn es noch nie auseinandergenommen wurde, ist die Lage keines dieser Teile Ursache oder Wirkung der Lage eines anderen. Sie wurden in kei-
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nerlei Ordnung zusammengelegt, sondern gleichzeitig geschaffen, und zwar so, daß die Regeln des Spiels beachtet wurden. Das machte die jeweilige Lage der Puzzleteile vorhersagbar. Aber keine hat die andere verursacht. Der Determinismus physikalischer Gesetze in bezug auf Ereignisse in der Raumzeit entspricht der Vorhersagbarkeit eines richtig zusammengelegten Puzzles. Die Naturgesetze bestimmen das, was in einem Augenblick passiert, aufgrund dessen, was in einem anderen Augenblick passiert, genau wie die Regeln des Puzzles die Lage einiger Teile aufgrund der Lage anderer Teile bestimmen. Aber es ist genau wie beim Puzzle: Ob die Ereignisse, die zu verschiedenen Augenblicken geschehen, die Ereignisse verursachen oder nicht, hängt nicht davon ab, wie die Augenblicke dahin kamen. Wenn wir ein Puzzle anschauen, können wir nicht sagen, ob ein Teil nach dem anderen hingelegt wurde. Im Fall der Raumzeit wissen wir jedoch, wie sinnlos die Aussage ist, ein Augenblick nach dem anderen sei «hingelegt» worden. Das wäre der Strom der Zeit. Deshalb wissen wir, daß sich zwar einige Ereignisse aus anderen vorhersagen lassen, aber kein Ereignis in der Raumzeit ein anderes verursacht hat. Ich betone noch einmal, daß all dies in der Physik vor der Quantenphysik gilt, in der alles, was passiert, in der Raumzeit passiert. Wir sehen also, daß die Raumzeit mit der Existenz von Ursache und Wirkung unvereinbar ist. Es ist nicht so, daß Menschen sich irren, wenn sie sagen, gewisse physikalische Ereignisse seien Ursachen und Wirkungen voneinander. Allerdings ist diese Intuition mit den Gesetzen der Raumzeit-Physik unvereinbar. Aber das ist in Ordnung, weil die Physik der Raumzeit falsch ist. Wir haben bereits gesehen, daß für eine Größe zwei Bedingungen gelten müssen, wenn sie die Ursache ihrer eigenen Replikation sein soll. Erstens muß die Größe wirklich reproduziert werden, und zweitens müssen die meisten ihrer Varianten in derselben Situation nicht reproduziert werden. Diese Definition enthält den Gedanken, daß eine Ursache etwas ist, das für die Wirkungen einen Unterschied macht, und das gilt auch für allgemeine Formen der Verursachung. Damit. X eine Ursache für Y ist, müssen zwei Bedingungen gelten. Erstens müssen X und Y eintreten, und zweitens müßte Y nicht eintreten dürfen, wenn X anders gewesen
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wäre. So war das Sonnenlicht eine Ursache für das Leben auf der Erde, weil es auf der Erde sowohl Sonnenlicht als auch Leben wirklich gibt und weil Leben sich ohne Sonnenlicht nicht entwickelt hätte. Das Nachdenken über Ursachen und Wirkungen betrifft also unweigerlich auch Varianten der Ursachen und Wirkungen. Es wird oft darüber spekuliert, was passiert wäre, wenn ein bestimmtes Ereignis anders verlaufen, alles andere aber gleich geblieben wäre. Ein Historiker könnte vielleicht zu dem Schluß kommen: «Wenn Faraday 1830 gestorben wäre, dann wäre die Entwicklung der Technik um zwanzig Jahre verzögert worden.» Die Bedeutung dieses Urteils scheint völlig klar und auch ganz einleuchtend, weil Faraday tatsächlich nicht 1830 starb, sondern 1831 die elektromagnetische Induktion entdeckte. Dieser Aussage ähnelt die, daß der technische Fortschritt zum Teil durch Faradays Entdeckung und deshalb auch durch sein Überleben verursacht wurde. Aber was bedeutet es im Zusammenhang der Raumzeit-Physik, wenn wir über die Zukunft von Ereignissen nachdenken, die es gar nicht gibt? Wenn es in der Raumzeit kein Ereignis gibt wie Faradays Tod 1830, dann gibt es auch seine Nachwirkungen nicht. Sicherlich können wir uns eine Raumzeit vorstellen, die ein solches Ereignis enthält; aber da wir sie uns nur vorstellen, können wir uns auch ausmalen, daß sie jede beliebige Nachwirkung enthält. Wir können uns beispielweise überlegen, daß sich der Fortschritt der Technik nach Faradays Tod beschleunigte. Wir könnten versuchen, diese Mehrdeutigkeit zu vermeiden, indem wir uns auf imaginäre Raumzeiten beschränken, in denen die Naturgesetze dieselben sind, obwohl das fragliche Ereignis ein anderes ist als in der tatsächlichen Raumzeit. Es ist nicht klar, was diese Einschränkung der Phantasie rechtfertigt, aber in jedem Fall könnte das fragliche Ereignis, wenn die Naturgesetze dieselben sind, nicht anders gewesen sein, weil die Gesetze es aufgrund der vorangegangenen Geschichte eindeutig bestimmen. Auch die vorhergehende Geschichte hätte also schon anders verlaufen müssen. Wie anders? Welche Auswirkungen die von uns ersonnene Variation der Geschichte hat, hängt entscheidend davon ab, was wir mit «alles andere sei gleich» meinen. Diese Aussage muß immer mehrdeutig sein, denn es gibt unendlich viele Wege, sich Umstände für die Zeit vor 1830 vorzustellen, die zu Faradays Tod in diesem Jahr hat-
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ten führen können. Einige von diesen könnten zu rascherem technischem Fortschritt geführt haben und andere zu langsameren. Welche von ihnen meinen wir, wenn wir « Wenn ... dann» sagen? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit alles andere gleich ist? Wir können uns noch so viel Mühe geben, es wird uns nicht gelingen, diese Mehrdeutigkeit im Rahmen der Raumzeit-Physik zu lösen. Es gibt keine Möglichkeit, die Tatsache zu umgehen, daß in der Raumzeit in Wirklichkeit nur eine Sache passiert und alles andere Phantasie ist. Wir werden zu dem Schluß gezwungen, daß konditionale Aussagen, deren Prämisse falsch ist («Wenn Faraday 1830 gestorben wäre ...»), keinen Sinn haben. Logiker nennen solche Aussagen kontrafaktisch, und ihr Status ist herkömmlicherweise paradox. Wir alle wissen, was solche Aussagen bedeuten, aber sobald wir versuchen, ihren Sinn in Worte zu fassen, scheint er uns zu entschwinden. Dieses Paradoxon hat seinen Ursprung nicht in der Logik oder Linguistik, sondern in der Physik – in der falschen Physik der Raumzeit. Die physikalische Wirklichkeit ist keine Raumzeit. Sie ist eine viel größere und vielfältigere Gegebenheit, das Multiversum. In erster Näherung entspricht das Multiversum einer sehr großen Anzahl von Raumzeiten, die nebeneinander existieren und nur wenig miteinander wechselwirken. Wenn die Raumzeit einem Stapel von Schnappschüssen gleicht, und jeder Schnappschuß den ganzen Raum in einem Augenblick darstellt, gleicht das Multiversum einer gewaltigen Menge solcher Stapel. Selbst in diesem (wie wir sehen werden) etwas schiefen Bild des Multiversums können wir von Ursache und Wirkung sprechen, denn im Multiversum gibt es fast sicher einige Universen, in denen Faraday 1830 starb. Daß der technische Fortschritt in jenen Universen später oder früher stattfand als in unserem eigenen, ist eine Tatsache (keine beobachtbare, aber doch eine objektive Tatsache). Es ist nichts beliebig daran, auf welche Varianten unseres eigenen Universums sich das kontrafaktische «Wenn Faraday 1830 gestorben wäre ...» bezieht. Es bezieht sich auf die Varianten, die es im Multiversum gibt. Dadurch löst sich die Mehrdeutigkeit auf. Die Vorstellung von imaginären Universen ist nicht hilfreich, weil wir uns alle Universen vorstellen können, die wir uns vorstellen wollen, und zwar in beliebigen Zahlenverhältnissen. Aber im Multiversum
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Abb. 26 Die Zeit würde auch dann noch eine Folge von Augenblicken sein, wenn das Multiversum eine Ansammlung wechselwirkender Raumzeiten wäre.
gibt es die Universen in ganz bestimmten Verhältnissen. Deshalb ist die Aussage sinnvoll, daß gewisse Arten von Ereignissen im Multiversum «sehr selten» oder «sehr häufig» sind und daß einige Ereignisse «in den meisten Fällen» auf andere folgen. Die meisten logisch möglichen Universen sind überhaupt nicht gegenwärtig – es gibt beispielsweise keine Universen, in denen die Ladung eines Elektrons anders ist als in unserem Universum oder in dem die Gesetze der Quantenphysik nicht gelten. Die Naturgesetze, auf die sich das Kontrafaktische implizit bezieht, sind die Gesetze, die in anderen Universen wirklich befolgt werden, nämlich die Gesetze der Quantentheorie. Deshalb läßt sich die «Wenn ... dann»-Aussage eindeutig verstehen als: «In den meisten Universen, in denen Faraday 1830 starb, war der technische Fortschritt im Vergleich zu unserem verzögert». Im allgemeinen können wir sagen, daß ein Ereignis X ein Ereignis Y in unserem Universum verursacht, wenn sowohl X als auch Y in unserem Universum vorkommen, aber in den meisten Varianten unseres Universums, in denen X nicht eintritt, auch Y nicht eintritt.
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Wenn das Multiversum buchstäblich eine Ansammlung von Raumzeiten wäre, würde der Quantenbegriff der Zeit mit dem klassischen Zeitbegriff übereinstimmen. Wie Abbildung 26 zeigt, wäre die Zeit auch dann eine Folge von Augenblicken, mit dem einzigen Unterschied, daß in einem bestimmten Augenblick im Multiversum statt eines Universums viele Universen existieren. Die physikalische Wirklichkeit zu einem bestimmten Augenblick wäre ein «Superschnappschuß», der aus Schnappschüssen vieler Fassungen des ganzen Raums besteht. Die ganze Wirklichkeit in der ganzen Zeit wäre ein Stapel aller Superschnappschüsse, der klassisch ebenso ein Stapel aller Schnappschüsse des Raums war. Wegen der Quanteninterferenz würde ein Schnappschuß nicht mehr ausschließlich durch frühere Schnappschüsse derselben Raumzeit determiniert sein. Aber die nach einem bestimmten Augenblick aufgenommenen Superschnappschüsse wären genau durch die vorangegangenen Superschnappschüsse bestimmt. Dieser vollständige Determinismus würde nicht einmal im Prinzip zu vollständiger Vorhersagbarkeit führen, denn um eine Vorhersage machen zu können, müßte man wissen, was in allen Universen passiert ist; jede Kopie von uns kann aber nur ein Universum unmittelbar wahrnehmen. Trotzdem würde das Bild, so weit es den Zeitbegriff betrifft, eine Raumzeit mit einer Folge von Augenblicken zeigen, die durch deterministische Gesetze verknüpft sind, in denen aber in jedem Augenblick auch anderes passiert, wovon jedoch das meiste den einzelnen Kopien eines Beobachters verborgen bleibt. Aber dies ist keine genaue Darstellung des Multiversums. Schon seit einigen Jahrzehnten bemüht sich die theoretische Physik angestrengt und bisher erfolglos um eine Quantentheorie der Zeit – die auch eine Quantentheorie der Gravitation sein würde. Wir kennen die Theorie jedoch schon gut genug, um zu wissen, daß die Gesetze der Quantenphysik zwar auf der Ebene des Multiversums vollkommen deterministisch sind, das Multiversum aber nicht in getrennte Raumzeiten oder in Superschnappschüsse eingeteilt ist, von denen jeder den anderen vollkommen bestimmt. So wissen wir, daß der klassische Zeitbegriff als eine Folge von Augenblicken nicht zutreffend sein kann, obwohl er unter vielen Umständen – also in vielen Bereichen des Multiversums – eine gute Näherung darstellt.
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Zum besseren Verständnis des Quantenbegriffs der Zeit stellen wir uns vor, wir hätten das Multiversum in einen Haufen einzelner Schnappschüsse zerschnitten, genau wie wir es bei der Raumzeit gemacht haben. Wie können wir sie wieder zusammenkleben? Wie zuvor sind einzig die Naturgesetze und die intrinsischen, physikalischen Eigenschaften der Schnappschüsse als Klebstoff zulässig. Wenn die Zeit im Multiversum eine Folge von Augenblicken wäre, müßte es möglich sein, alle Schnappschüsse des Raums zu einem bestimmten Augenblick zu erkennen und sie zu einem Superschnappschuß zusammenzufügen. Wie zu erwarten, ist das nicht möglich. Im Multiversum haben Schnappschüsse keine «Zeitstempel». Es gibt nicht so etwas wie einen Schnappschuß von einem anderen Universum, der «im selben Augenblick» gemacht wird wie in unserem. Wieder müssen wir uns vor der Annahme hüten, daß es außerhalb des Multiversums einen umfassenden zeitlichen Rahmen gibt, in dem sich die Ereignisse im Multiversum abspielen. Es existiert also keine grundlegende Trennung zwischen Schnappschüssen anderer Zeiten und Schnappschüssen anderer Universen. Dieses ist der Kern des Quantenbegriffs der Zeit: Andere Zeiten sind lediglich Spezialfälle anderer Universen. Die Schnappschüsse, die wir «andere Augenblicke in unserem Universum» nennen, unterscheiden sich von «anderen Universen» nur aus unserem Blickwinkel und nur dadurch, daß sie durch die Naturgesetze besonders eng mit unseren verwandt sind. Sie sind deshalb diejenigen, von deren Existenz unser eigener Schnappschuß die meisten Hinweise liefert. Aus diesem Grund haben wir sie Tausende von Jahren früher entdeckt als das übrige Multiversum, das sich nur durch vergleichsweise sehr schwache Interferenzeffekte bemerkbar macht. Wir haben besondere Sprachformen entwickelt (die Verbformen der Vergangenheit und Zukunft), um über sie zu sprechen. Wir haben auch andere Konstruktionen (wie «Wenn ... dann»-Aussagen und den Konditional und den Konjunktiv von Verben) entwickelt, um über andere Arten von Schnappschüssen sprechen zu können, ohne überhaupt zu wissen, ob es sie gibt. Wir haben diese beiden Arten von Schnappschüssen – die anderer Zei-
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ten und die anderer Universen – völlig verschiedenen begrifflichen Kategorien zugeordnet. Jetzt sehen wir, daß das nicht nötig ist. Wir wenden uns nun wieder unserer begrifflichen Rekonstruktion des Multiversums zu. Es gibt jetzt in unserem Stapel viel mehr Schnappschüsse, aber wir beginnen wieder mit einem einzigen Schnappschuß unseres Universums in einem Augenblick. Wenn wir den Stapel nach anderen Schnappschüssen durchsuchen, die dem ursprünglichen sehr ähnlich sind, merken wir, daß dieser Stapel ganz anders ist als die zerlegte Raumzeit. Zum einen finden wir viele Schnappschüsse, die dem ursprünglichen aufs Haar gleichen. In der Tat gibt es jeden Schnappschuß auch in unendlich vielen Kopien. Es ist also sinnlos zu fragen, wie viele Schnappschüsse zahlenmäßig diese oder jene Eigenschaft haben. Zu fragen ist dagegen, welchen Anteil der unendlichen Gesamtheit sie ausmachen. Wenn wir von einer bestimmten «Anzahl» von Universen sprechen, meinen wir immer einen gewissen Anteil der Gesamtmenge im Multiversum. Wenn es in anderen Universen nicht nur Varianten von mir gibt, sondern auch viele völlig gleiche Ausgaben, welche davon bin ich? Ich bin natürlich alle. Jede von ihnen hat gerade eben die Frage «Wer bin ich?» gestellt, und jede wahre Antwort auf die Frage muß für jede von ihnen gleich lauten. Die Frage, welche der identischen Kopien ich bin, läuft auf die Annahme hinaus, daß es ein Bezugssystem außerhalb des Multiversums gibt, auf das bezogen die Antwort formuliert werden könnte: «Ich bin der Dritte von links...» Welches «Links» könnte das sein, und was bedeutet «der Dritte»? Dies macht nur dann Sinn, wenn wir uns die Schnappschüsse an verschiedenen Orten eines äußeren Raums unterschiedlich angeordnet vorstellen. Aber das Multiversum existiert ebensowenig in einem äußeren Raum wie in einer äußeren Zeit. Es enthält alle Zeit und allen Raum. Es existiert einfach, und physikalisch ist es alles, was existiert. Die Quantentheorie bestimmt im allgemeinen das Geschehen auf einem bestimmten Schnappschuß nicht in der Weise, wie es die Raumzeit-Physik tut. Sie bestimmt vielmehr, welcher Bruchteil aller Schnappschüsse im Multiversum eine bestimmte Eigenschaft hat. Aus diesem Grund können wir Bewohner des Multiversums gelegentlich nur Wahr-
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Abb. 27 Ein Bereich des Multiversums mit einer schon geworfenen Münze. Jeder Punkt im Diagramm stellt einen Schnappschuß dar.
scheinlichkeitsaussagen über unsere eigene Erfahrung machen, obwohl das, was im Multiversum passiert, vollständig bestimmt ist. Nehmen wir beispielsweise an, daß wir eine Münze werfen. Eine typische Vorhersage der Quantentheorie könnte die folgende sein: Eine Münze wird, wenn sie in einer bestimmten Anzahl von Schnappschüssen in einer bestimmten Weise geworfen wird und die Uhren eine bestimmte Zeit angeben, in der Hälfte dieser Universen, in denen die Uhren eine spätere Zeit angeben, «Kopf» zeigen und in der anderen Hälfte der Universen, in denen die Uhren eine spätere Zeit anzeigen, «Zahl». Abbildung 27 zeigt den kleinen Bereich des Multiversums, in dem diese Ereignisse passieren. Selbst in diesem kleinen Bereich müssen viele Schnappschüsse veranschaulicht werden, deshalb können wir jedem Schnappschuß nur einen Punkt des Diagramms zuteilen. Die Schnappschüsse, die wir betrachten, enthalten alle gewöhnliche Uhren, und das Diagramm ist so angeordnet, daß alle Schnappschüsse mit einer bestimm-
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ten Zeitangabe senkrecht übereinanderstehen und die abgelesenen Zeitangaben von links nach rechts zunehmen. Wenn wir eine beliebige Senkrechte verfolgen, sehen wir, daß nicht alle Schnappschüsse verschieden sind. Wir durchlaufen Gruppen, in denen sie gleich sind, wie es die Schattierung andeutet. Die Schnappschüsse, in denen die Uhren die frühesten Ablesungen zeigen, befinden sich am linken Rand des Diagramms. Wir sehen, daß die Münze in allen diesen identischen Schnappschüssen noch in der Luft ist. Am rechten Rand des Diagramms zeigt die Münze in der Hälfte der Schnappschüsse, in denen die Uhren die späteste Ablesung zeigen, «Kopf» und in der anderen Hälfte «Zahl». In Universen mit dazwischenliegenden Zeitangaben gibt es drei Arten von Universen, deren Anteile sich je nach dem Zeitpunkt verändern. Wenn Sie sich in dem veranschaulichten Bereich des Multiversums befänden, würden alle Ihre Kopien zunächst die Münze in Bewegung sehen. Später würde bei der Hälfte aller Ihrer Kopien «Kopf» oben liegen, und bei der anderen Hälfte «Zahl». In einem Zwischenstadium würden Sie die Münze immer noch in Bewegung sehen, aber schon vorhersagen können, wie sie schließlich fallen wird. Diese Differenzierung identischer Kopien eines Beobachters in etwas unterschiedlichen Fassungen bedingt den subjektiven Wahrscheinlichkeitscharakter von Quantenvorhersagen. Denn wenn Sie anfangs fragten, welches Ergebnis Sie für den Münzwurf sehen würden, lautet die Antwort, daß das strenggenommen nicht vorhersagbar ist, weil die Hälfte Ihrer Kopien, die diese Frage stellt, «Kopf» sieht und die andere Hälfte «Zahl». Eine Antwort darauf, «welche Hälfte» «Kopf» sehen wird, gibt es sowenig, wie es eine Antwort auf die Frage «Wer bin ich?» gibt. Aus praktischen Gründen könnte man die Wahrscheinlichkeitsvorhersage machen, daß die Münze mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent «Kopf» zeigen wird und mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent «Zahl». Der Determinismus der Quantentheorie arbeitet genau wie der der klassischen Physik sowohl vorwärts wie rückwärts in der Zeit. Aus dem Zustand der gesammelten «Kopf-» und «Zahl»-Schnappschüsse zum späteren Zeitpunkt wird in Abbildung 27 der «Wurfzustand» zu einer früheren Zeit vollständig bestimmt und umgekehrt. Trotzdem geht aus der Sicht eines jeden Beobachters bei diesem Münzwurf Information ver-
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Abb. 28 Eine Folge von Schnappschüssen mit immer höheren Zeitangaben ist nicht unbedingt eine Raumzeit.
loren. Denn während der anfängliche «Wurfzustand» der Münze von einem Beobachter beobachtet werden kann, entspricht der kombinierte «Kopf-» und «Zahl»-Zustand keiner möglichen Erfahrung des Beobachters. Deshalb kann ein Beobachter zu einer früheren Zeit die Münze beobachten und ihren zukünftigen Zustand und die folgenden subjektiven Wahrscheinlichkeiten vorhersagen. Aber keine der späteren Kopien des Beobachters kann die Information beobachten, die nötig ist, um rückwirkend etwas über den «Wurfzustand» auszusagen, denn diese Information ist auf zwei Universen verteilt. Das macht die «Nachhersage» vom Endzustand der Münze her unmöglich. Wenn wir beispielsweise alle nur wissen, daß die Münze Kopf zeigt, könnte der Zustand wenige Sekunden früher der Zustand gewesen sein, den wir «geworfen» nannten, oder die Münze könnte schon in die entgegengesetzte Richtung gefallen sein. Es gibt hier keine Möglichkeit zur Nachhersage, nicht einmal eine, die nur Wahrscheinlichkeitsaussagen macht. Der frühere Zustand der Münze wird einfach nicht durch den späteren Zustand der «KopfsSchnappschüsse bestimmt. Jede horizontale Gerade, die durch Abbildung 27 geht, schneidet eine Folge von Schnappschüssen mit immer späteren Zeitangaben. Man könnte sich eine solche Gerade, wie sie in Abbildung 28 eingezeichnet ist, als eine Raumzeit vorstellen und das ganze Diagramm als einen Stapel von Raumzeiten, eine für jede mögliche solche Gerade. Wir können aus Abbildung 28 ablesen, was in der durch die Horizontale definierten «Raumzeit» passiert. Eine Weile enthält sie eine sich drehende Münze.
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Dann enthält sie eine weitere Zeitlang eine Münze, die sich auf eine Weise bewegt, die vermutlich mit «Kopf» enden wird. Später jedoch enthält sie im Widerspruch dazu eine Münze, für die sich «Zahl» vorhersagen läßt. Und schließlich zeigt sie «Zahl». Die Gesetze der Quantenphysik sagen jedoch vorher, daß kein Beobachter, der sich erinnert, die Münze im Zustand «vorhersagbar Kopf» gesehen zu haben, sie im Zustand «Zahl» sehen wird. Nur deshalb konnten wir den Zustand «vorhersagbar Kopf» nennen, und deshalb würde kein Beobachter im Multiversum Ereignisse erkennen, wie sie in der durch die Gerade definierten «Raumzeit» eintreten. Wir dürfen die Schnappschüsse also nicht beliebig zusammenkleben, sondern nur auf eine Weise, die die durch die Naturgesetze bestimmten Beziehungen zwischen ihnen widerspiegelt. Zwischen den Schnappschüssen entlang der Geraden in Abbildung 28 bestehen nicht genügend viele Beziehungen, um sie in einem einzigen Universum zusammenfassen zu können. Sicherlich, sie treten in der Reihenfolge zunehmender Uhrenablesungen auf, die in der Raumzeit «Zeitstempel» wären und zur Zusammensetzung der Raumzeit ausreichen würden. Aber im Multiversum gibt es viel zu viele Schnappschüsse, als daß man einem Schnappschuß allein mit Hilfe von Uhrenablesungen seinen Platz relativ zu anderen zuweisen könnte. Wenn wir das tun wollen, müssen wir die komplizierten Einzelheiten der deterministischen Beziehungen zwischen Schnappschüssen betrachten. In der Raumzeit-Physik ist jeder Schnappschuß durch jeden anderen bestimmt. Wie gesagt ist das im Multiversum im allgemeinen nicht so. Gewöhnlich bestimmt der Zustand einer Gruppe identischer (etwa der sich «drehenden») Schnappschüsse den Zustand einer gleichen Anzahl voneinander unterschiedener Schnappschüsse (etwa der mit «Kopf» und «Zahl»). Wegen der Zeitumkehrbarkeit der Gesetze der Quantenphysik bestimmt der gesamte, vielwertige Zustand dieser Gruppe auch den Zustand der früheren. In einigen Bereichen des Multiversums und an einigen Orten im Raum finden sich die Schnappschüsse einiger physikalischer Objekte jedoch vorübergehend zu Ketten zusammen, von denen jedes Glied alle anderen mit guter Näherung bestimmt. Ein Musterbeispiel dafür sind aufeinanderfolgende Schnappschüsse des Sonnensystems. In solchen Bereichen sind die klassischen Naturgesetze eine
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gute Näherung für die der Quantenphysik. In jenen Bereichen und Orten sieht das Multiversum wirklich wie in Abbildung 26 aus, also wie eine Ansammlung von Raumzeiten, und der Quantenbegriff der Zeit reduziert sich auf der Ebene dieser Näherung auf den klassischen Zeitbegriff. Man kann näherungsweise zwischen «verschiedenen Zeiten» und «verschiedenen Universen» unterscheiden, und die Zeit ist näherungsweise eine Folge von Augenblicken. Doch diese Näherung versagt immer dann, wenn man die Schnappschüsse genauer untersucht oder in der Zeit weit vor oder zurück oder weit hinaus in das Multiversum schaut. Alle uns zur Zeit zur Verfügung stehenden Experimente sind mit der Näherung vereinbar, daß die Zeit eine Folge von Augenblicken ist. Wir erwarten nicht, daß diese Näherungen in einem heute schon vorhersehbaren irdischen Experiment versagen. Aber die Theorie sagt uns, daß sie bei gewissen physikalischen Prozessen gefährlich zusammenbrechen werden. Der erste solche Prozeß ist der Beginn des Universums, der «Urknall». Nach der klassischen Physik begann die Zeit in einem Augenblick, in dem der Raum unendlich dicht war und nur einen einzigen Punkt einnahm; davor gab es keine Augenblicke. Nach der Quantenphysik waren die Schnappschüsse (soweit wir es sagen können) in der Nähe des Urknalls nicht in irgendeiner bestimmten Ordnung. Die zeitliche Ausrichtung der Zeit beginnt nicht mit dem Urknall, sondern etwas später. Dem Wesen der Dinge entsprechend ist es nicht sinnvoll, danach zu fragen, wieviel später das war. Aber wir können sagen, daß die frühesten Augenblicke, für die sich mit guter Näherung eine Reihenfolge angeben läßt, die waren, als nach der Extrapolation der klassischen Physik –42 der Urknall etwa 10 Sekunden zurück lag. Einen zweiten und ähnlichen Zusammenbruch der Zeitrichtung erwartet man inmitten Schwarzer Löcher und beim Endkollaps des Universums, falls es einen gibt. In beiden Fällen ist die Materie nach der klassischen Physik unendlich dicht zusammengepreßt, genau wie beim Urknall, und die sich ergebenden Gravitationskräfte zerren bis zum Zerreißen am Gewebe der Raumzeit. Falls Sie sich übrigens je gefragt haben, was vor dem Urknall war oder was nach dem Endkollaps geschehen wird, können Sie jetzt damit aufhören. Warum ist es schwer einzusehen, daß es vor dem Urknall oder
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nach dem Endkollaps keine Augenblicke gibt, so daß dort nichts passiert und nichts existiert? Weil es schwer ist, sich vorzustellen, die Zeit käme zu einem Halt oder hätte einen Anfang. Aber die Zeit kommt ja weder zu einem Halt noch hat sie einen Anfang, denn sie bewegt sich gar nicht. Das Multiversum «kommt nicht ins Sein» und «hört nicht auf zu sein». Diese Begriffe setzen den Zeitfluß voraus. Nur wenn wir uns einen Zeitfluß vorstellen, fragen wir uns, was «vor» oder «nach» dem Ganzen der Wirklichkeit passiert. Drittens meint man, Quanteneffekte könnten die Raumzeit auf submikroskopischer Skala erneut entstellen und zerreißen, ferner, daß es auf diesem Maßstab geschlossene Zeitschleifen – eigentlich winzig kleine Zeitmaschinen – gibt. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist dieser Zusammenbruch der Zeitfolge auch im großen Maßstab physikalisch möglich. Es ist eine offene Frage, ob er sich in der Nähe rotierender Schwarzer Löcher ereignet. Während wir also keine dieser Wirkungen entdecken können, sagen uns doch schon jetzt unsere Theorien, daß die Raumzeit-Physik die Natur niemals genau beschreiben kann. Eine Näherung kann noch so gut sein, die Zeit muß sich in Wirklichkeit immer grundlegend unterscheiden von der linearen Folge, die der gesunde Menschenverstand annimmt. Trotzdem ist alles im Multiversum genauso starr determiniert wie in der klassischen Raumzeit. Man nehme einen Schnappschuß weg, und die verbleibenden bestimmen ihn genau. Auch wenn man die meisten Schnappschüsse wegnimmt, legen die wenigen verbleibenden immer noch alles fest, genau wie in der Raumzeit. Der Unterschied ist nur, daß das Multiversum, anders als die Raumzeit, nicht aus Schichten besteht, die einander wechselseitig bestimmen und die wir als Superschnappschüsse bezeichneten. Im Multiversum gibt es keine solchen «Augenblicke». Es ist vielmehr ein komplexes, vieldimensionales Legespiel. In diesem Puzzle-Multiversum, das weder aus einer Reihe von Augenblicken besteht noch einen Zeitfluß zuläßt, sind die uns so vertrauten Begriffe von Ursache und Wirkung völlig sinnvoll. Das Problem, das wir in der Raumzeit mit der Verursachung hatten, bestand darin, daß sie eine Eigenschaft sowohl der Varianten der Ursachen und Wirkungen wie der Ursachen und Wirkungen selbst ist. Da es diese Varianten nur
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in unserer Vorstellung gibt und nicht in der Raumzeit, stießen wir uns an der physikalischen Sinnlosigkeit, daß wir aus den imaginierten Eigenschaften nicht-existenter («kontrafaktischer») physikalischer Vorgänge wesentliche Schlüsse ziehen sollten. Aber im Multiversum gibt es Varianten, und sie gehorchen bestimmten deterministischen Gesetzen. Wenn diese Gesetze gegeben sind, läßt sich objektiv feststellen, welche Ereignisse einen Unterschied für das Auftreten welcher anderen Ereignisse machen. Nehmen wir an, es gebe eine Gruppe nicht notwendig identischer Schnappschüsse, die alle die Eigenschaft X haben. Nehmen wir ferner an, daß die Naturgesetze dann, wenn die Existenz dieser Gruppe gegeben ist, bestimmen, daß es eine andere Gruppe von Schnappschüssen mit der Eigenschaft Y gibt. Dann ist eine der Bedingungen dafür erfüllt, daß X eine Ursache von Y ist. Die andere Bedingung hat mit den Varianten zu tun. Man betrachte die Varianten der ersten Gruppe, die nicht die Eigenschaft X haben. Wenn aus ihrer Existenz dennoch die Existenz einiger der Y-Schnappschüsse folgt, war X nicht die Ursache von Y. Y wäre auch ohne X passiert. Wenn aber aus der Gruppe der Varianten, die nicht X sind, nur die Existenz von Varianten folgt, die nicht Y sind, war X eine Ursache von Y. Bei dieser Definition von Ursache und Wirkung wird nicht die logische Bedingung gestellt, daß Ursachen ihren Wirkungen vorausgehen. In sehr extremen Situationen, etwa in der Nähe des Urknalls und im Inneren von Schwarzen Löchern, ist dies womöglich auch nicht der Fall. In der alltäglichen Erfahrung jedoch gehen die Ursachen immer ihren Wirkungen voraus, weil zumindest in unserer Umgebung im Multiversum die Anzahl unterschiedlicher Schnappschüsse mit der Zeit rasch zu- und kaum je abnimmt. Diese Eigenschaft hängt mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zusammen, der besagt, daß geordnete Energie, wie etwa chemische Energie oder potentielle Gravitationsenergie völlig in ungeordnete Energie, also Wärme, umgewandelt werden kann, aber niemals umgekehrt. Wärme ist mikroskopisch zufällige Bewegung. Im Multiversum bedeutet dies, daß es in unterschiedlichen Universen viele mikroskopisch verschiedene Bewegungszustände gibt. In sukzessiven Schnappschüssen der Münze bei gewöhnlichen Vergrößerungen scheint es so zu sein, daß sich eine Gruppe identischer «vorhersagbar
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Kopf»-Schnappschüsse, wenn sie zur Ruhe kommt, in eine Gruppe identischer «Kopf»-Schnappschüsse verwandelt. Aber bei diesem Prozeß wird die Energie der Münzenbewegung in Wärme verwandelt, und deswegen sind die Schnappschüsse dieser Gruppe bei Vergrößerungen, die die einzelnen Moleküle zeigen, überhaupt nicht mehr identisch. Sie stimmen insofern alle überein, als die Münze in der «Kopf»-Stellung ist, aber sie zeigen ihre Moleküle und die der umgebenden Luft und der Oberfläche, auf der sie liegenbleibt, in vielen unterschiedlichen Konfigurationen. Zugegeben, die anfänglichen Schnappschüsse mit «vorhersagbar Kopf» waren auch nicht mikroskopisch identisch, weil auch da Wärme im Spiel war, aber die Erzeugung von Wärme bedeutet bei diesem Prozeß, daß diese Schnappschüsse sich viel weniger unterscheiden als die späteren. So bestimmt jede homogene Gruppe von «vorhersagbar Kopf»Schnappschüssen die Existenz von ungeheuer vielen mikroskopisch unterschiedlichen « Kopf»- Schnappschüssen – und verursacht sie damit auch. Aber keiner der «Kopf» -Schnappschüsse für sich bestimmt die Existenz irgendeines der «vorhersagbar Kopf»-Schnappschüsse, ist also auch nicht ihre Ursache. Auch in diesem Rahmen ist es relativ zu einem Beobachter sinnvoll, Möglichkeiten in Aktualitäten, eine offene Zukunft in eine festgelegte Vergangenheit umzuwandeln. Man betrachte wieder das Beispiel mit der Münze. Vor dem Wurf ist die Zukunft aus der Sicht eines Beobachters in dem Sinn offen, daß es immer noch möglich ist, jedes der Ergebnisse «Kopf» oder «Zahl» zu beobachten. Aus der Sicht dieses Beobachters sind beide Ergebnisse Möglichkeiten, obwohl sie objektiv beide Aktualitäten sind. Wenn die Münze liegt, haben sich die Kopien des Beobachters in zwei Gruppen geteilt. Jeder Beobachter hat nur ein Ergebnis des Wurfs beobachtet und gespeichert. Deshalb ist das Ergebnis, wenn es einmal zur Vergangenheit eines Beobachters gehört, für jede Kopie des Beobachters eindeutig und tatsächlich, obwohl es aus Sicht des Multiversums so zweiwertig ist wie eh und je. Fassen wir die Elemente des Quantenbegriffs der Zeit zusammen: Die Zeit ist keine Folge von Augenblicken und fließt auch nicht. Aber unsere Intuitionen über die Eigenschaften der Zeit sind im großen und ganzen richtig. Gewisse Ereignisse sind wirklich Ursachen und Wirkungen von-
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einander. Relativ zu einem Beobachter ist die Zukunft in der Tat offen und die Vergangenheit festgelegt, und aus Möglichkeiten werden Tatsachen. Unsere herkömmlichen Theorien der Zeit sind nur deshalb nicht richtig, weil sie versuchen, diese wahren Einsichten in den Rahmen einer falschen klassischen Physik zu pressen. Erst in der Quantenphysik sind sie sinnvoll, weil die Zeit schon immer ein Quantenbegriff war. Es gibt uns in vielfachen Fassungen in Universen, die «Augenblicke» heißen. Jede Fassung von uns ist sich der anderen nicht unmittelbar bewußt, hat aber Hinweise auf ihre Existenz, weil physikalische Gesetze den Inhalt verschiedener Universen verknüpfen. Es ist ein verführerischer Gedanke, daß der Augenblick, dessen wir uns bewußt sind, der einzig wirkliche ist, oder zumindest etwas wirklicher als die anderen. Alle Augenblicke sind physikalisch wirklich. Das ganze Multiversum ist physikalisch wirklich. Aber nichts anderes ist wirklich. Zeitreisen, auf die wir nun zu sprechen kommen, mögen durchführbar sein oder nicht. Aber schon jetzt könnten wir uns vorstellen, wie sie sein würden ...
11 Zeitreisen Wenn man bedenkt, daß die Zeit in mancher Hinsicht eine zusätzliche, vierte Raumdimension ist, liegt der Gedanke nahe, man könne vielleicht so, wie man von einem Ort zum anderen reisen kann, auch von einer Zeit zur anderen reisen. Wie wir im vorigen Kapitel sahen, ist der Gedanke einer «Bewegung» durch die Zeit, die unserer Bewegung durch den Raum entspricht, nicht sehr sinnvoll. Trotzdem scheint klar, was man mit einer Reise in das 25. Jahrhundert oder in das Zeitalter der Dinosaurier meint. In Science-fiction-Romanen oder -Filmen sind Zeitmaschinen gewöhnlich ausgefallene Fahrzeuge, bei denen die Automatik auf den Tag und das Jahr der gewählten Bestimmungszeit eingestellt ist. Dann wartet man, bis das Gefährt an diesem Datum angekommen ist – gelegentlich kann man auch den Ort auswählen –, und schon ist man da. Wenn man die ferne Zukunft gewählt hat, unterhält man sich mit denkenden und fühlenden Robotern und bewundert interstellare Raumfahrzeuge oder wandert durch verkohlte radioaktive Ruinen. Wenn man die ferne Vergangenheit gewählt hat, wehrt man einen Angriff eines Tyrannosaurus rex ab, während über den Köpfen ein Pterodaktylus flattert. Die Begegnung mit Dinosauriern wäre ein eindrucksvoller Hinweis darauf, daß wir wirklich in eine frühere Zeit gelangt sind. Wir sollten diese Hinweise überprüfen und das Datum genauer bestimmen können, indem wir einige natürliche «ewige Kalender» beobachten, etwa die Gestalten der Sternbilder am Nachthimmel oder die Anteile radioaktiver Elemente im Gestein. Die Natur stellt uns viele solcher Kalender zur
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Verfügung, und die Naturgesetze zwingen sie zur Übereinstimmung, falls sie richtig geeicht sind. Wenn wir das Multiversum näherungsweise als eine Menge paralleler Raumzeiten sehen, von denen jede einen Stapel von «Schnappschüssen» des Raums enthält, ist das auf diese Weise definierte Datum eine Eigenschaft, die einem ganzen Schnappschuß zukommt; je zwei Schnappschüsse sind durch ein Zeitintervall getrennt, nämlich den Unterschied zwischen diesen Daten. Eine Zeitreise ist dann jeder Vorgang, bei dem die Zeitspanne zwischen zwei Schnappschüssen nicht mit der übereinstimmt, die nach unserer Einschätzung zwischen unserem Aufenthalt in den beiden Schnappschüssen verstrichen ist. Wir könnten auf eine Uhr sehen, die wir bei uns tragen, oder wir könnten abschätzen, wie lange wir Gelegenheit zum Denken hatten, oder wir könnten mit physiologischen Kriterien messen, wieviel unser Körper gealtert ist. Wenn wir beobachten, daß extern eine lange Zeit verstrichen ist, während wir nach allen subjektiven Messungen eine viel kürzere Zeit erlebt haben, sind wir in die Zukunft gereist. Wenn wir andererseits an äußeren Uhren und Kalendern eine Zeitangabe sehen, die eine immer frühere Zeit anzeigt, sind wir in die Vergangenheit gereist. Die meisten Science-fiction-Verfasser kennen den radikalen Unterschied zwischen Zeitreisen in die Zukunft und in die Vergangenheit. Wir wollen den in die Zukunft gerichteten Zeitreisen hier nicht viel Aufmerksamkeit widmen, weil sie viel weniger problematisch sind. Selbst im Alltagsleben, beispielsweise beim Aufwachen, kann unsere subjektiv erlebte Zeit kürzer sein als die äußerlich vergangene. Man könnte von Menschen, die jahrelang in einem Koma lagen, behaupten, sie seien ebenso viele Jahre in die Zukunft gereist, wenn nicht ihre Körper entsprechend der Außenzeit gealtert wären und nicht entsprechend der psychologisch erlebten Zeit. Im Prinzip könnte also ein ähnliches Verfahren wie das, was wir in Kapitel 5 zur Verlangsamung des Gehirns eines Rezipienten der virtuellen Realität beschrieben, auf den ganzen Körper angewendet werden und wirklich zukunftsgerichtete Zeitreisen bewirken. Eine weniger einschneidende Methode bietet Einsteins spezielle Relativitätstheorie, wonach ein beschleunigter oder verlangsamter Beobachter im allgemeinen weniger Zeit durchlebt als ein Beobachter, der in Ruhe ist oder sich gleichförmig bewegt. Ein Astronaut beispielsweise,
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der auf eine Rundreise ginge, bei der er auf Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wird, würde viel weniger Zeit erleben als ein Beobachter, der auf der Erde bleibt. Dies ist die sogenannte Zeitdilatation. Durch hinreichend große Beschleunigung kann die Dauer des Flugs aus Sicht der Astronauten beliebig kurz und die auf der Erde gemessene Dauer beliebig lang gemacht werden. Man könnte also in einer vorgegebenen subjektiv kurzen Zeit beliebig weit in die Zukunft reisen. Aber eine solche Reise in die Zukunft ist unumkehrbar. Die Rückreise wäre eine Zeitreise in die Vergangenheit; keine noch so große Zeitdilatation ermöglicht es einem Raumschiff, noch vor dem Start von einem Flug zurückzukehren. Virtuelle Realität und Zeitreisen haben zumindest dieses gemeinsam: Zu beiden gehört eine systematische Veränderung der üblichen Beziehung zwischen der äußeren Wirklichkeit und ihrer Erfahrung durch einen Rezipienten. Man könnte also fragen: Gibt es eine Möglichkeit, einen universellen Wirklichkeitssimulator für Zeitreisen in die Vergangenheit zu nutzen, falls er sich ohne Schwierigkeiten auf zukunftsgerichtete Zeitreisen programmieren läßt? Führt beispielsweise eine Beschleunigung in die Vergangenheit, wenn eine Verlangsamung in die Zukunft führen würde? Nein. Die Außenwelt würde sich nur scheinbar verlangsamen. Selbst in dem unerreichbaren Grenzfall, in dem das Gehirn unendlich schnell arbeitet, erschiene die Außenwelt in einem bestimmten Augenblick eingefroren. Das wären nach der obigen Definition immer noch Zeitreisen, aber sie wären nicht in die Vergangenheit gerichtet. Man könnte sie «gegenwartsgerichtete» Zeitreisen nennen. Ich erinnere mich, wie sehr ich – wie wohl alle Examenskandidaten – eine Maschine für gegenwartsgerichtete Zeitreisen herbeiwünschte, als ich bei den letzten Examensvorbereitungen war. Bevor wir uns den Zeitreisen in die Vergangenheit zuwenden, stellt sich die Frage, wie es mit der Simulation von Zeitreisen in die Vergangenheit bestellt ist. In welchem Ausmaß ließe sich ein Wirklichkeitssimulator darauf programmieren, dem Benutzer die Erfahrung von Zeitreisen in die Vergangenheit zu geben? Wir werden sehen, daß die Antwort auf diese Frage uns wie alle Fragen zur Reichweite der virtuellen Realität auch etwas über die physikalische Wirklichkeit mitteilt.
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Die entscheidenden Aspekte beim Erleben einer früheren Umwelt sind nach Definition die Erlebnisse gewisser physikalischer Objekte oder Vorgänge – «Uhren» und «Kalender» – in Zuständen, die es nur zu früheren Zeiten, also in früheren Schnappschüssen gab. Ein Wirklichkeitssimulator könnte diese Dinge natürlich in jenen Zuständen simulieren. Er könnte beispielsweise die Erfahrung vermitteln, zur Zeit der Dinosaurier oder in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gelebt zu haben, und er könnte die Sternbilder, die Datumsangaben auf Zeitungen und alles übrige so erscheinen lassen, wie es für diese Zeiten stimmt. Wie gut könnte es stimmen? Gibt es eine grundsätzliche Grenze dafür, wie genau eine Ära simuliert werden kann? Nach dem Turing-Prinzip ist ein universeller Wirklichkeitssimulator möglich, der auf jede physikalisch mögliche Umwelt programmiert werden kann. Deshalb könnte er insbesondere darauf programmiert werden, jede Umwelt zu simulieren, die es physikalisch einmal gegeben hat. Zur Simulation einer Zeitmaschine, die über einen gewissen Vorrat an früheren Reisezielen verfügt (also auch zur Simulation dieser Reiseziele selbst), müßte das Programm historische Aufzeichnungen der Umwelten jener Ziele enthalten. Es würde sogar mehr brauchen als reine Aufzeichnungen, weil zur Erfahrung von Zeitreisen mehr gehört als nur die Beobachtung, daß sich in der Umwelt frühere Ereignisse abspielen. Wenn man dem Benutzer Aufzeichnungen aus der Vergangenheit vorspielte, würde man lediglich Bilder erzeugen, aber keine virtuelle Realität. Da ein wirklicher Zeitreisender an Ereignissen teilnehmen würde und auf die vergangene Umwelt einwirken könnte, müßte eine genaue Simulation der virtuellen Realität durch eine Zeitmaschine wie jede andere Umwelt auch Wechselwirkung erlauben. Das Programm würde für jede Handlung des Benutzers berechnen müssen, wie die historische Umwelt darauf reagiert hätte. Um beispielsweise Dr. Johnson davon zu überzeugen, daß eine angebliche Zeitmaschine ihn wirklich ins alte Rom gebracht hätte, sollten wir ihm erlauben können, nicht nur passiv und unsichtbar zuzuschauen, wie Julius Cäsar vorübergeht, denn Dr. Johnson würde die Echtheit seiner Erfahrungen überprüfen und gegen die dortigen Steine stoßen wollen. Vielleicht stieße er auch gegen Cäsar – oder spräche ihn auf lateinisch an und erwartete eine entspre-
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chende Antwort. Eine Wirklichkeitssimulation einer Zeitmaschine ist dann genau, wenn die Simulation einer solchen Begegnung ähnlich verläuft, wie sie in einer wirklichen Zeitmaschine und in den wirklichen früheren Umwelten, in die sie zurückführte, verlaufen wäre. Dazu würde in diesem Fall eine sich richtig verhaltende und lateinisch sprechende Ausgabe von Julius Cäsar gehören. Da es Julius Cäsar und das alte Rom einmal gab, könnten sie im Prinzip mit beliebiger Genauigkeit simuliert werden. Diese Aufgabe unterscheidet sich nur im Grad von jener, den Centre Court in Wimbledon mitsamt den Zuschauern zu simulieren. Natürlich wäre die Komplexität der nötigen Programme gewaltig. Noch komplexer oder vielleicht sogar im Prinzip unmöglich wäre die Aufgabe, die Information zu sammeln, die zum Schreiben der Programme nötig wäre. Aber es geht hier nicht darum, Programme zu schreiben. Die Frage ist nicht, ob wir genug über eine frühere Umwelt (oder auch eine heutige oder zukünftige Umwelt) herausfinden können, um ein Programm schreiben zu können, das gerade diese Umwelt wiedergibt. Wir fragen uns, ob die Menge allermöglichen Programme, die virtuelle Realität erzeugen, nicht auch eines enthält, das eine in die Vergangenheit gerichtete Zeitreise simuliert. Falls dies so ist, stellt sich die Anschlußfrage, wie genau eine solche Wiedergabe sein kann. Wenn es keine Programme gibt, die Zeitreisen simulieren können, würde aus dem Turing-Prinzip die physikalische Unmöglichkeit von Zeitreisen folgen (es besagt ja, daß alles, das physikalisch möglich ist, auch durch ein Programm beschrieben werden kann). Und in der Tat liegt hier oberflächlich gesehen ein Problem vor. Obwohl es Programme gibt, die frühere Umwelten genau simulieren, scheint es grundlegende Hindernisse dabei zu geben, wie sie zur Simulation von Zeitreisen einzusetzen sind. Es sind dieselben Hindernisse, die anscheinend die Zeitreisen selbst verhindern, nämlich ihre sogenannten «Paradoxien». Lassen Sie uns ein solches Paradoxon konstruieren. Ich baue eine Zeitmaschine und reise mit ihr in die Vergangenheit. Dort hindere ich mein früheres Selbst daran, diese Zeitmaschine zu bauen. Aber wenn die Zeitmaschine nicht gebaut wird, kann ich sie nicht dazu benutzen, in die Vergangenheit zu reisen, und also auch nicht verhindern, daß die
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Zeitmaschine gebaut wird. Mache ich dann diese Reise oder nicht? Wenn ich sie mache, beraube ich mich selbst der Zeitmaschine und mache die Reise also nicht. Wenn ich die Reise nicht mache, erlaube ich mir, die Zeitmaschine zu bauen und mache also die Reise. Diese nette Geschichte kennt man auch als das «Großvater-Paradoxon»: Ich töte auf einer Zeitreise meinen eigenen Großvater, bevor er noch Kinder zeugen konnte. Der Großvater hätte dann, weil er keine Kinder hatte, auch keine Enkel haben können. Wer also tötete ihn? In beiden Paradoxa kommt es zu einem Konflikt zwischen dem Zeitreisenden und Menschen in der Vergangenheit, bei dem man sich fragt, wer wohl gewinnen wird. Vielleicht wird der Zeitreisende besiegt und das Paradoxon vermieden. Aber ein solcher Konflikt ist kein wesentlicher Teil des vorliegenden Problems. Wenn ich eine Zeitmaschine hätte, könnte ich wie folgt entscheiden: Falls mein zukünftiges Selbst mich heute besucht, nachdem es morgen wegging, werde ich morgen meine Zeitmaschine nicht gebrauchen, aber wenn ich heute keinen solchen Besuch erhalte, reise ich morgen mit der Zeitmaschine ins Heute zurück und besuche mich selbst. Aus dieser Entscheidung scheint zu folgen, daß ich, wenn ich die Zeitmaschine benutze, sie nicht benutzen werde, und daß ich sie benutzen werde, wenn ich sie nicht benutze: ein Widerspruch. Ein Widerspruch ist immer ein Hinweis auf eine falsche Annahme, deshalb wurden solche Paradoxa üblicherweise als Beweis für die Unmöglichkeit von Zeitreisen gesehen. Gelegentlich wird die Annahme in Frage gestellt, ob es auf einer solchen Reise einen freien Willen geben könnte, ein Zeitreisender also wählen kann, wie er sich in einer bestimmten Umgebung verhält. Man schließt dann, daß der freie Wille verletzt würde, wenn es Zeitmaschinen gäbe. Menschen könnten keine Absichten der beschriebenen Art haben, oder sie würden auf einer Zeitreise irgendwie systematisch die Entschlüsse vergessen, die sie gefaßt haben, bevor sie sich auf den Weg machten. Aber wie sich herausstellt, ist die falsche Annahme hinter den Paradoxa weder die Existenz einer Zeitmaschine noch die Fähigkeit der Menschen, ihre Handlungen wie gewöhnlich zu wählen. Falsch ist die klassische Theorie der Zeit, die, wie ich schon zeigte, aus anderen, davon unabhängigen Gründen unhaltbar ist.
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Wenn Zeitreisen logisch unmöglich wären, könnten sie auch nicht simuliert werden. Wenn Zeitreisen eine Aufhebung des freien Willens bedingen, dann auch ihre Simulation. Die Paradoxien der Zeitreise lassen sich in bezug auf die virtuelle Wirklichkeit wie folgt beschreiben: Die Genauigkeit einer Wirklichkeitssimulation ist die Wiedergabetreue, die Ähnlichkeit, so weit sie sich feststellen läßt, zwischen der simulierten und der beabsichtigten Umwelt. Im Fall der Zeitreise ist die beabsichtigte Umwelt diejenige, die es historisch gab. Aber sobald die simulierte Umwelt wie gefordert auf den Fußtritt des Benutzers reagiert, wird sie dadurch historisch ungenau, weil die wirkliche Umwelt niemals auf den Benutzer reagierte. Der Benutzer hat sie niemals getreten. Der reale Julius Cäsar ist beispielsweise niemals Dr. Johnson begegnet. Folglich würde Dr. Johnson, wenn er die Wiedergabetreue der Simulation überprüft, indem er sich mit Cäsar unterhält, diese Wiedergabetreue zerstören, indem er einen historisch unzutreffenden Cäsar erschafft. Eine Simulation kann sich getreulich verhalten, indem sie ein getreues Bild der Geschichte gibt, oder sie kann angemessen reagieren, aber nicht beides. Es scheint also, daß eine Simulation einer Zeitreise auf die eine oder andere Weise nicht genau sein kann – und das heißt in anderen Worten, daß Zeitreisen in der virtuellen Realität nicht simuliert werden können. Aber ist das wirklich ein Hindernis, wenn man Zeitreisen simulieren will? Normalerweise ist das Ziel der virtuellen Realität nicht die Simulation des Verhaltens einer Umwelt, sondern es kommt auf die genaue Reaktion an. Sobald Sie beginnen, auf dem simulierten Centre Court in Wimbledon Tennis zu spielen, veranlassen Sie diese Umwelt, sich anders zu verhalten als die wirkliche. Aber das macht die Simulation noch nicht weniger genau, vielmehr wird dies für die Wiedergabetreue gefordert. Wiedergabetreue bedeutet in der virtuellen Realität die Ähnlichkeit des simulierten Verhaltens mit dem Verhalten, das die ursprüngliche Umwelt zeigen würde, wenn die Rezipienten in ihr wären. Nur zu Beginn der Simulation muß der Zustand der simulierten Umwelt dem Original entsprechen. Danach muß nicht sein Zustand getreu wiedergegeben werden, sondern seine Reaktion auf die Taten des Benutzers. Warum ist das für die Simulation von Zeitreisen «para-
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dox», nicht aber für andere Simulationen – beispielsweise die gewöhnlicher Reisen? Der Grund ist, daß der Rezipient bei der Simulation von Zeitreisen in die Vergangenheit eine einzigartige Doppel- oder sogar Mehrfach-Rolle spielt. Weil es darin Schleifen gibt, in denen beispielsweise eine oder mehrere Kopien des Rezipienten nebeneinander existieren und miteinander wechselwirken können, muß der Simulator den Rezipienten selbst simulieren, während er gleichzeitig auf seine Handlungen reagiert. Stellen wir uns beispielsweise vor, ich sei der Rezipient eines Simulators, auf dem ein Programm zur Simulation von Zeitreisen läuft. Nehmen wir an, die Umwelt, die ich sehe, wenn ich das Programm anstelle, sei ein futuristisches Labor. In seiner Mitte ist, wie an Eingängen zu großen Gebäuden, eine Drehtür; diese ist undurchsichtig und fast ganz in einen undurchsichtigen Zylinder eingeschlossen, denn es gibt nur einen einzigen in den Zylinder geschnittenen Ein- und Ausgang. Die Tür dreht sich unablässig. Auf den ersten Blick scheint man mit diesem Gerät wenig mehr anfangen zu können als hineinzugehen, sich ein- oder mehrmals mit der Drehtür im Kreis zu drehen und wieder herauszukommen. Aber über dem Eingang hängt ein Schild: Weg in die Vergangenheit. Dieser Zylinder ist eine Zeitmaschine. Eine erfundene Zeitmaschine, eine der virtuellen Realität. Aber wenn es eine wirkliche Zeitmaschine gäbe, die Reisen in die Vergangenheit macht, würde sie, wie diese, ein exotischer Ort sein und nicht ein exotisches Fahrzeug. Sie würde uns nicht in die Vergangenheit fahren oder fliegen, sondern wir würden den Ort auf einem bestimmten Weg durchqueren (vielleicht in einem gewöhnlichen Raumfahrzeug) und zu einer früheren Zeit herauskommen. An der Wand des simulierten Labors hängt eine Uhr, die zunächst 12 Uhr Mittag anzeigt, und am Eingang zum Zylinder hängen einige Anweisungen. Wenn ich sie alle gelesen habe, ist es sowohl nach meiner eigenen Wahrnehmung wie auch auf der Uhr schon 5 Minuten nach 12 Uhr. Die Anweisungen sagen, daß es im Labor, wenn ich den Zylinder betrete, einmal mit der Drehtür kreise und wieder herauskomme, fünf Minuten früher sein wird. Ich betrete einen der Flügel der Drehtür. Während ich herumgehe, schließt sich die Tür hinter mir. Augenblicke später erreiche ich den Eingang und trete hinaus in das Labor. Es sieht
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Abb. 29 Die Raumzeitbahn eines Zeitreisenden.
ähnlich aus wie zuvor, außer daß – ja was? Was genau sollte ich als nächstes erwarten, wenn dies eine genaue Simulation von Zeitreisen in die Vergangenheit ist? Gehen wir etwas zurück. Nehmen wir an, beim Eingang sei ein Schalter, auf dem steht «Wechselwirkung an» und «Wechselwirkung aus». Anfangs ist er bei «Wechselwirkung aus». Bei dieser Einstellung kann der Benutzer nicht mit der Vergangenheit wechselwirken, sondern sie nur beobachten. Sie ermöglicht also keine volle Simulation der näheren Umgebung im Sinn der virtuellen Realität, sondern nur ein Bild. Zumindest besteht bei dieser einfacheren Einstellung keine Mehrdeutigkeit, und die Frage, welche Bilder erzeugt werden sollten, wenn ich aus der Drehtür herauskomme, führt zu keinem Paradoxon. Es gibt im Labor Bilder von mir, die das tun, was ich um 12 Uhr tat. Es gibt unter anderem deshalb keine Mehrdeutigkeit, weil ich mich an diese Ereignisse erinnern und deshalb die Bilder der Vergangenheit anhand meiner eigenen Erinnerung an das Geschehen überprüfen kann. Indem wir unsere Untersuchung auf eine kleine abgeschlossene Umwelt und einen kurzen Zeitraum beschränken, vermeiden wir das Problem, das dem entspricht, herauszufinden, wie Julius Cäsar wirklich war. Dies wäre ja eher auch ein Problem der Grenzen der Archäologie als eines, das bei Zeitreisen unausweichlich ist. In unserem Fall kann der Wirklichkeitssimulator die Informationen, die er braucht, um die nötigen
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Bilder zu simulieren, leicht erhalten, indem er alles aufzeichnet, was ich tue. Er zeichnet nicht meine Tätigkeit in der physikalischen Wirklichkeit auf (ich liege ja einfach still im Simulator), sondern was ich in der virtuellen Umwelt des Labors unternehme. Von dem Augenblick an, in dem ich aus der Zeitmaschine herauskomme, simuliert der Computer nicht länger das Labor zur Zeit 12.05 Uhr, sondern er spielt mir die Aufnahme zurück, wobei er mit Bildern von dem anfängt, was um 12 Uhr passierte. Er spielt mir diese Aufnahme aus der Perspektive vor, die meiner jetzigen Lage entspricht, und wenn ich mich bewege, paßt sich die Perspektive fortwährend meiner Bewegung an. Ich sehe also, wie die Uhr Mittag zeigt. Ich sehe auch mein früheres Selbst, wie es vor der Zeitmaschine steht, das Schild über dem Eingang und die Anweisungen liest, genau wie ich es fünf Minuten früher gemacht habe. Ich sehe es, aber es kann mich nicht sehen. Dieses bewegte Bild von mir reagiert überhaupt nicht auf meine Gegenwart, was immer ich auch anstelle. Nach einer Weile geht es auf die Zeitmaschine zu. Wenn ich zufällig den Eingang blockiere, geht mein Bild trotzdem geradewegs auf mich zu und tritt ein, genau wie ich es gemacht habe, denn sonst wäre die Wiedergabe ja ungenau. Es gibt viele Möglichkeiten, einen Bilderzeuger so zu programmieren, daß er mit einer Situation umgehen kann, in der ein Bild eines Festkörpers durch den Ort hindurchgehen muß, an dem sich der Rezipient befindet. Das Bild könnte beispielsweise wie ein Gespenst geradewegs hindurchgehen, oder es könnte den Rezipienten wegstoßen und keinen Widerstand dulden. Diese Möglichkeit entspricht einer genaueren Simulation, weil die Bilder dann in gewisser Weise sowohl taktil als auch visuell sind. Es besteht keine Verletzungsgefahr, auch wenn mein Bild mich sehr abrupt zur Seite stößt, weil ich natürlich nicht körperlich dort bin. Wenn der Platz nicht reicht und ich nicht ausweichen kann, kann der Simulator mich mühelos durch eine enge Lücke fließen lassen oder auch an einem Hindernis vorbei teleportieren. Es ist nicht nur das Bild von mir selbst, auf das ich keinen weiteren Einfluß habe. Weil wir vorübergehend von der virtuellen Realität zur Bilderzeugung übergegangen sind, kann ich in der simulierten Umgebung nichts mehr beeinflussen. Wenn auf dem Tisch ein Glas Wasser
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steht, kann ich es nicht mehr hochheben und trinken, wie ich es gekonnt hätte, bevor ich durch die Drehtür in die simulierte Vergangenheit ging. Indem ich eine Simulation nicht wechselwirkender Zeitreisen in die Vergangenheit gefordert habe, die im Grunde bestimmte Ereignisse wiederholt, die sich vor fünf Minuten abspielten, verliere ich notwendigerweise die Kontrolle über meine Umwelt. Ich überlasse die Kontrolle sozusagen meinem früheren Selbst. Wenn mein Bild durch die Drehtür tritt, zeigt die Uhr wieder 5 Minuten nach 12 Uhr, obwohl nach meiner subjektiven Wahrnehmung in der Simulation zehn Minuten vergangen sind. Was dann passiert, hängt von mir ab. Wenn ich einfach im Labor bleibe, muß der Wirklichkeitssimulator mich Ereignisse erleben lassen, die in der Laborzeit nach 5 Minuten nach 12 Uhr eintreten. Der Computer hat noch keinerlei Aufzeichnungen solcher Ereignisse, und ich habe keine Erinnerungen an sie. Relativ zu mir, relativ zu dem simulierten Labor und relativ auch zur physikalischen Wirklichkeit sind jene Ereignisse noch nicht passiert. Der Wirklichkeitssimulator kann also seine vollkommen wechselwirkende Simulation wieder aufnehmen. Die Gesamtwirkung ist die, daß ich fünf Minuten in der Vergangenheit verbracht habe, ohne sie beinflussen zu können und dann in die «Gegenwart» zurückgekehrt bin, die ich verlassen hatte, also zu der normalen Folge von Ereignissen, die ich beeinflussen kann. Ich kann aber auch meinem Bild in die Zeitmaschine folgen, mit ihm darin herumgehen und in der Vergangenheit des Labors wieder herauskommen. Wieder schlägt es 12 Uhr. Jetzt kann ich zwei Bilder meines früheren Selbst sehen. Eines von ihnen sieht die Zeitmaschine zum ersten Mal und bemerkt weder mich noch das andere Bild. Das zweite Bild scheint zwar das erste zu sehen, aber nicht mich. Ich kann beide sehen. Nur das erste Bild scheint etwas im Labor zu beeinflussen. Dieses Mal ist aus Sicht des Simulators im Augenblick der Zeitreise nichts Besonderes passiert. Er ist immer noch in der Einstellung «Wechselwirkung aus» und zeigt (aus meiner subjektiven Sicht) einfach weiterhin Bilder von Ereignissen von vor fünf Minuten. Diese haben jetzt den Augenblick erreicht, in dem ich begann, ein Bild von mir selbst zu sehen.
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Abb. 30 Die wiederholte Benutzung der Zeitmaschine ermöglicht das Nebeneinanderbestehen von mehrfachen Kopien des Zeitreisenden.
Wenn weitere fünf Minuten verstrichen sind, kann ich wieder wählen, ob ich erneut, diesmal in Begleitung von zwei Bildern von mir, in die Zeitmaschine eintreten will. Wenn ich den Vorgang wiederhole, erscheint nach je fünf subjektiven Minuten ein zusätzliches Bild von mir. Jedes Bild scheint alle jene zu sehen, die früher (in meiner Erfahrung) als es selbst erschienen, aber keines von jenen, die später auftraten als es selbst. Nur das zuletzt auftretende beeinflußt die Umwelt. Wenn ich die Erfahrung so lange fortführe wie möglich, hängt die Maximalzahl der Kopien von mir, die nebeneinander bestehen können, von der Strategie ab, mit der der Bilderzeuger Zusammenstöße vermeidet. Nehmen wir an, er versuche, es mir ganz realistisch schwer zu machen, mich mit allen meinen Abbildern durch die Drehtür zu zwängen. Dann werde ich schließlich gezwungen sein, etwas anderes zu tun, als mit ihnen in die Vergangenheit zurückzureisen. Ich könnte ein wenig warten und den folgenden Flügel der Drehtür wählen, und in diesem Fall würde ich das Labor einen Augenblick später erreichen als sie. Aber das verschiebt das Problem der Überbevölkerung in der Zeitmaschine nur auf später. Wenn ich diese Schleife oft durchlaufe, sind schließlich alle «Schlitze» für Zeitreisen in die Zeit 5 Minuten nach 12 Uhr gefüllt, und das zwingt mich, mich zu einer späteren Zeit zu erreichen, von der aus es keine Möglichkeiten mehr zur Rückkehr in diese Zeit gibt. Auch dies
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ist eine Eigenschaft, die Zeitmaschinen haben würden, wenn es sie wirklich gäbe. Sie sind nicht irgendwelche Orte, sondern solche, die nur endlich viele Reisen in die Vergangenheit zulassen. Weil Zeitmaschinen Orte oder Pfade und keine Fahrzeuge sind, folgt außerdem, wie dieses Beispiel veranschaulicht, daß man nicht völlig frei wählen kann, in welche Zeit man mit ihrer Hilfe reist. Man kann mit einer Zeitmaschine nur zu Zeiten und Orten reisen, zu denen es sie gab. Der Wirklichkeitssimulator verfügt jetzt über Aufzeichnungen von vielen unterschiedlichen Fassungen dessen, was im Labor zwischen 12 Uhr und 5 Minuten nach 12 Uhr passiert ist. Welche Fassung gibt die wirkliche Geschichte wieder? Wir müssen uns nicht zu viele Sorgen machen, wenn es auf diese Frage keine Antwort gibt, denn sie fragt nach der Wirklichkeit in einer Situation, in der wir die Wechselwirkung künstlich unterdrückt haben und deshalb Dr. Johnsons Verfahren nicht anwenden können. Man könnte behaupten, nur die letzte Fassung, die die meisten Kopien von mir enthält, sei die wahre, weil alle früheren Fassungen die Geschichte aus der Sichtweise von Menschen zeigen, die nach der künstlichen Regel der Nicht-Wechselwirkung daran gehindert wurden, zu erkennen, was da vor sich ging. Andererseits könnte man behaupten, daß die erste Fassung der Ereignisse mit nur einer Kopie von mir die einzig wirkliche ist, weil sie die einzige ist, die ich als Mitwirkender erlebte. Das Wesentliche an der Nicht-Wechselwirkung ist, daß wir uns selbst vorübergehend nicht erlauben, die Vergangenheit zu verändern, und da spätere Fassungen sich alle von der ersten unterscheiden, stellen sie nicht die Vergangenheit dar, sondern nur jemanden, der die Vergangenheit mittels eines universellen Bilderzeugers betrachtet. Man könnte auch behaupten, daß alle Fassungen gleich wirklich sind. Schließlich erinnere ich mich, wenn alles vorüber ist, nicht nur an eine Geschichte, die während dieser fünf Minuten im Labor passierte, sondern an mehrere solcher Geschichten. Ich habe sie eine nach der anderen erlebt, aber aus der Sicht des Labors sind sie alle in denselben fünf Minuten passiert. Die volle Aufzeichnung meiner Erfahrung erfordert für jeden von einer Uhr bestimmten Augenblick viele Schnappschüsse des Labors und nicht nur den üblichen einen Schnappschuß pro Augenblick. Es war also, anders gesagt, eine Simulation paralleler Universen.
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Diese letzte Deutung kommt der Wahrheit am nächsten, wie wir sehen können, wenn wir dasselbe Experiment noch einmal durchführen, dieses Mal aber Wechselwirkung zulassen. Im Fall mit Wechselwirkung, in dem ich also die Umwelt beeinflussen kann, stellt eine der Möglichkeiten genau die Ereignisfolge dar, die wir eben im Fall ohne Wechselwirkung beschrieben haben. Ich kann zurückgehen und einer oder mehreren Kopien von mir selbst begegnen, mich aber (wenn ich ein hinreichend guter Schauspieler bin) genau so verhalten, als ob ich keine von ihnen sehen könnte. Trotzdem muß ich sie sorgfältig beobachten. Wenn ich die Folge von Ereignissen nachschaffen will, die ablief, als ich dieses Experiment ohne Wechselwirkung durchführte, muß ich mich erinnern, wie sich die Kopien von mir verhalten, damit ich das bei späteren Besuchen in dieser Zeit selbst tun kann. Zu Beginn der Sitzung, wenn ich die Zeitmaschine zuerst bemerke, sehe ich sofort, daß sie eine oder mehr Kopien von mir ausspuckt. Warum? Weil ich, wenn Wechselwirkung eingeschaltet ist und ich die Zeitmaschine um 5 Minuten nach 12 Uhr benutze, das Recht habe, die Vergangenheit zu beeinflussen, in die ich zurückkehre. Und diese Vergangenheit ereignet sich genau jetzt, um 12 Uhr. Deshalb kommen meine zukünftigen Ichs, um ihr Recht in Anspruch zu nehmen, um 12 Uhr in das Labor, um auch mich zu beeinflussen und insbesondere, um von mir gesehen zu werden. Dann begeben sich die Kopien von mir an ihre Aufgabe. Man bedenke die Rechenleistung, die der Wirklichkeitssimulator mit der Simulation dieser Kopien zu bewältigen hat. Es gibt jetzt ein neues Element, das diese Aufgabe ungeheuer viel schwieriger macht als im Fall ohne Wechselwirkung. Wie kann der Wirklichkeitssimulator herausfinden, was die Kopien von mir tun werden? Er hat noch keine Aufzeichnungen von dieser Information, denn in der physikalischen Zeit hat die Sitzung gerade erst begonnen. Aber er muß mir sofort Simulationen meines zukünftigen Selbst liefern. Solange ich entschlossen bin, so zu tun, als ob ich diese Simulationen nicht sehen kann und dann nachzuahmen, was ich sie tun sehe, werden sie keinem allzu strengen Test auf Genauigkeit unterworfen. Der Wirklichkeitssimulator muß sie nur irgend etwas tun lassen – irgend etwas,
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das ich tun könnte, oder genauer, irgendein Verhalten, das ich nachahmen kann. Das würde die gewaltigen Fähigkeiten der Technologie, auf der nach unseren Annahmen der Wirklichkeitssimulator ohnehin schon beruht, vermutlich nicht übersteigen. Er hat ein genaues mathematisches Modell meines Körpers und bis zu einem bestimmten Grad direkten Zugang zu meinem Gehirn. Er kann dies dazu benutzen, Verhalten zu berechnen, das ich nachahmen kann, und dann seine ersten Simulationen von mir dieses Verhalten ausführen lassen. Die Erfahrung beginnt für mich also damit, daß ich einige Kopien von mir aus der Drehtür hervorkommen sehe und bei einer Tätigkeit beobachte. Ich gebe vor, sie nicht zu bemerken, und nach fünf Minuten gehe ich selbst durch die Drehtür und mache das nach, was ich die erste Kopie tun sah. Fünf Minuten später gehe ich wieder hindurch und ahme die zweite Kopie nach und so weiter. Inzwischen bemerke ich, daß eine der Kopien immer das wiederholt, was ich in den ersten fünf Minuten gemacht habe. Am Ende der Folge der Zeitreisen hat der Wirklichkeitssimulator wieder mehrere Aufzeichnungen davon, was in den fünf Minuten nach 12 Uhr geschehen ist, aber diesmal sind alle Aufzeichnungen identisch. Anders gesagt ist also nur eine Geschichte passiert: Ich bin meinem zukünftigen Selbst begegnet, gab aber vor, es nicht zu bemerken. Später wurde ich dieses zukünftige Selbst, reiste in der Zeit zurück, um mein früheres Selbst zu treffen und wurde anscheinend nicht bemerkt. Das ist alles ganz in Ordnung und nicht paradox – und unrealistisch. Die Ursache war, daß sich der Wirklichkeitssimulator und ich auf ein kompliziertes, jeweils auf den anderen bezogenes Spiel einließen. Ich ahmte ihn nach, während er mich nachahmte. Aber wenn die Wechselbeziehung normal ist, kann ich wählen. Ich habe die Wahl, dieses Spiel nicht zu spielen. Wenn ich wirklich Zeitreisen in der virtuellen Realität machen könnte, würde ich sicherlich die Echtheit der Simulation auf die Probe stellen wollen. In dem erörterten Fall würde die Überprüfung beginnen, sowie ich Kopien von mir sehe. Ich würde sie nicht ignorieren, sondern sofort in ein Gespräch verwickeln, denn ich verfüge über viel mehr Möglichkeiten, ihre Echtheit zu überprüfen als Dr. Johnson bei der Überprüfung der Echtheit von Julius Cäsar. Um auch nur diese erste Prüfung
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zu bestehen, würden die Simulationen von mir Wesen sein müssen, die über künstliche Intelligenz verfügen – mehr noch, sie müßten Wesen sein, die mir jedenfalls in ihren Reaktionen auf äußere Reize sehr ähnlich sind, und mich davon überzeugen können, daß sie genaue Simulationen von mir sind, wie ich fünf Minuten später sein könnte. Der Wirklichkeitssimulator muß Programme ablaufen lassen, die ihrem Inhalt und ihrer Komplexität nach Ähnlichkeit mit meinem Verstand haben. Wieder geht es hier nicht um die Schwierigkeit, solche Programme zu schreiben. Wir untersuchen ja das Prinzip der simulierten Zeitreise, nicht die Möglichkeit der praktischen Verwirklichung. Es kommt nicht darauf an, woher unser hypothetischer Wirklichkeitssimulator seine Programme erhält. Wir fragen vielmehr, ob die Menge aller möglichen Programme ein Programm enthält, das Zeitreisen zuverlässig simuliert. Aber tatsächlich verfügt unser Wirklichkeitssimulator im Prinzip über die Mittel, alle für mich unter den verschiedenen Situationen möglichen Verhaltensweisen zu entdecken. Diese Information steckt im physikalischen Zustand meines Gehirns, und hinreichend genaue Messungen könnten es im Prinzip ablesen. Ein (wahrscheinlich nicht annehmbares) Verfahren bestünde darin, daß der Wirklichkeitssimulator mein Gehirn in der virtuellen Realität mit einer Testumgebung wechselwirken läßt, sein Verhalten aufzeichnet und dann seinen ursprünglichen Zustand wiederherstellt; dazu könnte er es rückwärts laufen lassen. Das ist wohl schon deshalb nicht annehmbar, weil ich vermutlich etwas von dieser Testumgebung erfahren würde, und obwohl ich mich nachher nicht daran erinnern würde, möchte ich, daß der Wirklichkeitssimulator mir die Erfahrungen vermittelt, die ich vorgegeben habe, und keine anderen. Für die jetzigen Zwecke ist jedenfalls wichtig, daß nach dem TuringPrinzip mein Gehirn als ein physikalisches Objekt zum Repertoire eines universellen Wirklichkeitsgenerators gehört. Diese Kopie von mir kann also im Prinzip den Ähnlichkeitstest mit mir bestehen. Das ist aber nicht die einzige Probe, die ich machen möchte. Ich möchte vor allem überprüfen, ob die Zeitreise selbst richtig simuliert ist. Dazu möchte ich nicht nur herausfinden, ob diese Person auch glaubwürdig ist, sondern auch, ob sie wirklich aus der Zukunft stammt. Zum Teil kann ich das durch Befragen herausfinden. Die Person sollte beschreiben können, wie sie
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vor fünf Minuten in meiner Lage war und dann durch die Drehtür ging und mir begegnete. Ich sollte auch finden, daß sie meine Echtheit prüft. Warum würde sie das tun? Weil die strengste und direkteste Überprüfung ihrer Ähnlichkeit mit dem zukünftigen Ich, die ich vornehmen könnte, darin bestünde zu warten, bis ich durch die Zeitmaschine gegangen bin, und dann zu beobachten, ob erstens die dort vorgefundene Kopie von mir sich so verhält, wie ich mich erinnere, mich verhalten zu haben, und ob zweitens ich mich so verhalte, wie sich nach meiner Erinnerung die Kopie verhielt. Jedenfalls wird die Simulation bei der Überprüfung mit Sicherheit versagen! Bei meinem allerersten und leisesten Versuch, mich anders zu verhalten, als sich meiner Erinnerung nach meine Kopie verhielt, werde ich Erfolg haben. Es wird fast genau so einfach sein, die Kopie dazu zu bringen, sich anders zu verhalten, als ich mich verhalten habe, denn ich brauche ihr nur eine Frage zu stellen, die ich an ihrer Stelle nicht gefragt wurde und die eine klare Antwort hat. So sehr mir diese Personen also auch nach Aussehen und Wesen ähneln, sind die Wesen, die aus der virtuellen Zeitmaschine herauskommen, doch keine Simulationen der Person, die ich in Kürze sein werde. Sie müssen es auch nicht sein. Schließlich habe ich die feste Absicht, mich nicht so zu verhalten wie sie, wenn ich an der Reihe bin, die Zeitmaschine zu benutzen. Da der Wirklichkeitssimulator mir jetzt erlaubt, frei mit der simulierten Umwelt wechselzuwirken, gibt es nichts, was mich daran hindern könnte, diese Absicht auszuführen. Da dies alles für unsere Ohren sehr fremd klingt, wollen wir uns das Experiment nochmals vergegenwärtigen. Wenn es beginnt, begegne ich einer Person, in der ich mich selbst bis auf relativ kleine Abweichungen wiedererkenne. Diese Abweichungen deuten übereinstimmend darauf hin, daß diese Person aus der Zukunft kommt: Sie erinnert sich daran, wie das Labor 5 Minuten nach 12 Uhr aussah, zu einer Zeit also, die aus meiner Sicht noch nicht erreicht wurde. Sie erinnert sich, daß sie zu dieser Zeit begann, durch die Drehtür zu gehen, und um 12 Uhr ankam. Vor allem erinnert sie sich, daß sie um 12 Uhr mit ihrem Versuch begann, als sie die Drehtür zum ersten Mal sah. Und sie bemerkte, wie Kopien von ihr selbst herauskamen. Sie sagt, dies sei nach ihrer subjektiven Wahr-
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nehmung vor mehr als fünf Minuten geschehen, obwohl das ganze Experiment nach meiner Wahrnehmung noch keine fünf Minuten gedauert hat und so weiter. Aber obwohl sie alle Proben besteht, mit denen ich überprüfen kann, ob sie eine zukünftige Version meiner selbst ist, ist es doch nachweislich nicht meine Zukunft. Wenn ich überprüfe, ob sie die Person ist, die ich sein werde, besteht sie die Probe nicht. Ähnlich erzählt sie mir, daß ich den Test, ob ich ihr früheres Selbst bin, nicht bestehe, denn ich verhalte mich nicht so, wie sie es ihrer Erinnerung nach getan hat. Wenn ich also in die Vergangenheit des Labors reise, finde ich, daß es nicht die Vergangenheit ist, aus der ich gerade komme, denn aufgrund ihrer Wechselwirkung mit mir verhält sich die Kopie von mir, die ich dort vorfinde, nicht exakt so, wie ich mich erinnere, mich verhalten zu haben. Wenn der Wirklichkeitssimulator die Gesamtheit dessen aufzeichnen würde, was in diesem Zeitreisenabschnitt passiert, würde er wieder für jeden Augenblick, wie ihn die Uhr im Labor aufzeichnet, mehrere Schnappschüsse speichern müssen, und diesmal wären alle verschieden. Es würde also mehrere unterscheidbare parallele Geschichten des Labors während der fünf Minuten meiner Zeitreise geben. Wieder habe ich jede dieser Geschichten nacheinander erlebt, aber weil ich sie alle interaktiv erlebt habe, kann ich mich nicht damit herausreden, daß ich eine von ihnen weniger wirklich nenne als die anderen. Damit haben wir also ein kleines Multiversum simuliert. Wäre dies eine physikalische Zeitreise, wären die vielfachen Schnappschüsse in jedem Augenblick parallele Universen. Weil die Zeit ein Quantenbegriff ist, sollte uns das nicht überraschen. Wir wissen, daß die Schnappschüsse, die sich in unserer Alltagserfahrung näherungsweise zu einer einzelnen Zeitfolge stapeln, eigentlich parallele Universen sind. Wir erleben die anderen parallelen Universen normalerweise nicht gleichzeitig, aber wir haben Grund, ihre Existenz anzunehmen. Nehmen wir an, wir hätten ein bisher nicht näher umrissenes Verfahren gefunden, in eine frühere Zeit zu reisen. Warum sollten wir dann erwarten, daß dieses Verfahren notwendigerweise jede Kopie von uns zu dem bestimmten Schnappschuß zurückbringt, auf dem die Kopie schon war? Warum sollten wir erwarten, daß jeder Besucher, der aus der Zukunft zu uns kommt, gerade aus dem bestimmten zukünftigen Schnappschuß stammt, auf dem wir uns selbst
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schließlich finden werden? Wir sollten das eben nicht erwarten. Wenn wir darum bitten, mit der vergangenen Umwelt wechselwirken zu können, bitten wir damit auch darum, sie verändern zu dürfen, was bedeutet, daß wir auf einem anderen Schnappschuß sein wollen als auf dem, an den wir uns erinnern. Ein Zeitreisender würde zu demselben (oder, was vielleicht dasselbe ist, zu einem identischen) Schnappschuß nur in dem äußerst künstlichen Fall zurückkehren, den ich oben erörterte: dann nämlich, wenn es zwischen den sich begegnenden Kopien keine wirkliche Wechselwirkung gibt und der Zeitreisende es schafft, alle parallelen Geschichten identisch zu machen. Unterwerfen wir die virtuelle Realität einer letzten Probe und lassen wir sie absichtlich ein Paradoxon ausführen. Ich nehme mir fest vor, was ich oben schon sagte: Ich beschließe, daß ich die Zeitmaschine nicht um 5 Minuten nach 12 Uhr besteigen werde, falls eine Kopie von mir um 12 Uhr aus der Zeitmaschine herauskommt, ja, daß ich während des Versuchs überhaupt nicht hineingehe. Falls aber niemand herauskommt, werde ich um 5 Minuten nach 12 Uhr hineingehen, um 12 Uhr herauskommen und die Zeitmaschine nicht wieder benutzen. Was passiert? Wird jemand aus der Zeitmaschine herauskommen oder nicht? Ja und nein! Es kommt darauf an, von welchem Universum wir sprechen. Man bedenke, daß in diesem Labor um 12 Uhr nicht nur eine Sache passiert. Nehmen wir an, ich sehe niemanden aus der Zeitmaschine herauskommen, wie es an dem mit «Start» bezeichneten Punkt rechts in Abbildung 31 markiert ist. Dann warte ich fest entschlossen bis 5 Minuten nach 12 Uhr und gehe nun durch die uns schon vertraute Drehtür. Wenn ich um 12 Uhr herauskomme, finde ich natürlich eine andere Fassung von mir an dem Punkt vor, der in Abbildung 31 links mit «Start» bezeichnet ist. Im Gespräch stellt sich heraus, daß sie und ich dieselbe Absicht hatten. Weil ich in ihr Universum gekommen bin, wird sie sich anders verhalten, als ich mich verhalten habe. Weil sie genau dieselbe Absicht hatte wie ich, benutzt sie die Zeitmaschine nicht. Von da an können sie und ich so lange wechselwirken, wie die Simulation dauert; in diesem Universum gibt es dann zwei Fassungen von mir. In dem Universum, aus dem ich kam, bleibt das Labor nach 5 Minuten nach 12 Uhr leer, denn ich kehre niemals wieder dorthin zurück. Hier ergibt
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Abb. 31 Die Pfade eines Zeitreisenden im Multiversum, der versucht, «ein Paradoxon auszuführen».
sich kein Paradoxon. Beide Fassungen von mir haben es geschafft, die gemeinsame Absicht durchzuführen, die deshalb also logisch doch nicht unmöglich war. Mein Alter ego und ich haben in diesem Versuch unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Es sah um 12 Uhr jemanden aus der Zeitmaschine herauskommen, ich aber nicht. Unsere Erfahrungen hätten unsere Absichten ebenso getreu wiedergegeben und wären ebensowenig paradox gewesen, hätten wir die Rollen vertauscht. Ich hätte es also auch um 12 Uhr aus der Zeitmaschine herauskommen sehen können und sie dann selbst nicht benutzt. In diesem Fall wären wir beide schließlich in dem Universum gelandet, in dem ich zunächst war, und in dem Universum, aus dem es kam, wäre das Labor leer geblieben. Welche dieser beiden widerspruchsfreien Möglichkeiten wird mir der Wirklichkeitssimulator zeigen? Während dieser Simulation eines Vorgangs, der sich eigentlich im Multiversum abspielt, bin ich nur eine der beiden daran beteiligten Kopien. Das Programm simuliert die andere. Zu Beginn des Versuchs sehen die beiden Kopien gleich aus (obwohl sie in der physikalischen Wirklichkeit verschieden sind, weil nur eine von ihnen ein Gehirn und einen Körper hat, die außerhalb der virtuellen Umwelt existieren). Aber in der physikalischen Fassung des Experiments – wenn es also wirklich eine Zeitmaschine gäbe – wären die beiden Universen, die die sich begegnenden Kopien von mir enthalten, anfangs vollkommen gleich; die beiden Kopien wären auch gleich wirklich. In
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dem Augenblick des Multiversums, in dem wir uns (im einen Universum) begegnen oder (im anderen) nicht begegnen, wären diese beiden Kopien verschieden. Die Frage, welche Kopie von mir welche Erfahrung machen würde, ist sinnlos. So lange wir identisch sind, gibt es so etwas wie «welcher von uns» nicht. Parallele Universen haben keine verborgenen Seriennummern, sondern lassen sich nur durch das kennzeichnen, was in ihnen passiert. Wenn der Wirklichkeitssimulator dies alles zum Nutzen der einen Kopie von mir erzeugt, muß er bei mir den Anschein erwecken, daß ich als zwei identische Kopien existiere, die dann verschiedene Wesen werden und unterschiedliche Erfahrungen machen. Er kann das bewirken, indem er zufällig wählt, welche der beiden Rollen er spielen will (und damit, weil ich die Absicht habe, die andere zu übernehmen, welche Rolle ich spielen werde). Eine zufällige Wahl läuft nämlich darauf hinaus, daß eine elektronische Version einer ungewichteten Münze geworfen wird, also eine, die in der Hälfte der Welten «Kopf» zeigt und in der anderen «Zahl». In der einen Hälfte der Universen spiele ich also die eine Rolle und in der anderen Hälfte die andere. Genau das würde bei einer wirklichen Zeitmaschine passieren. Wir haben gesehen, daß ein Wirklichkeitssimulator dann Zeitreisen simulieren kann, wenn er den Geisteszustand des Benutzers genau kennt. Dies könnte zu Zweifeln daran führen, ob Paradoxien vermieden werden. Bin ich wirklich frei, die Tests durchzuführen, die ich durchführen wollte, wenn der Wirklichkeitssimulator schon vorher weiß, was ich tun werde? Wir brauchen hier nicht auf tiefe Fragen über das Wesen des freien Willens einzugehen. Ich bin in diesem Versuch wirklich frei zu tun, was ich möchte. Der Wirklichkeitssimulator erlaubt es mir, auf jede von mir gewählte Weise auf die simulierte Vergangenheit zu reagieren – auch zufällig, wenn ich das will. Alle Umwelten, mit denen ich wechselwirke, werden durch mein Verhalten wirklich beeinflußt und reagieren auf mich in derselben Weise, wie sie reagieren würden, wenn keine Zeitreise unternommen würde. Der Wirklichkeitsgenerator benötigt die Information von meinem Gehirn nicht, um meine Handlungen vorhersagen zu können, sondern um das Verhalten meiner Entsprechungen aus anderen Universen simulieren zu können. Sein Problem ist, daß es in der wirklichen Fassung
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dieser Situation Entsprechungen von mir aus parallelen Universen geben würde, die anfangs identisch sind und deshalb dieselben Meinungen und denselben Geschmack haben wie ich und dieselben Entscheidungen treffen. In größerer Entfernung vom Multiversum würde es auch solche geben, die schon zu Beginn des Versuchs anders wären als ich, aber eine Zeitmaschine könnte mich nie mit diesen Fassungen zusammentreffen lassen. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, diese Entsprechungen zu simulieren, würde der Wirklichkeitssimulator keine Information von meinem Gehirn und auch nicht die üppige, für die Berechnungen nötige Computerausrüstung benötigen. Wenn einige Menschen, die mich gut kennen, mich einigermaßen genau nachahmen könnten, dann könnte der Wirklichkeitssimulator jene Menschen dazu benutzen, die Rollen meiner Entsprechungen in parallelen Universen nachzuahmen und damit Zeitreisen mit diesem selben Grad an Genauigkeit zu simulieren. Eine wirkliche Zeitmaschine hätte solche Probleme natürlich nicht. Sie würde einfach Wege aufzeigen, wie ich und meine schon existierenden Entsprechungen einander begegnen könnten, und sie würde weder unser Verhalten noch unsere Wechselwirkung einschränken, wenn wir uns begegnen. Wie sich die Bahnen begegnen –, d.h. zu welchen Schnappschüssen die Zeitmaschine führt –, würde durch den Zustand meines Körpers und Geistes beeinflußt werden. Das entspricht der üblichen Situation, in der mein Körperzustand, der sich in meiner Neigung zu bestimmten Verhaltensweisen zeigt, das Geschehen beeinflußt. Der große Unterschied zwischen dieser und der alltäglichen Erfahrung ist, daß jede Kopie von mir potentiell eine große Wirkung auf andere Universen hat (indem sie dahin reisen kann). Entspricht es wirklich einer Zeitreise, wenn man in die Vergangenheit anderer Universen, aber nicht die unseres eigenen, reisen kann? Sind wirklich nur Reisen zwischen den Universen, aber keine Zeitreisen denkbar? Nein. Die beschriebenen Vorgänge sind echte Zeitreisen. Erstens trifft es nicht zu, daß wir nicht zu einem Schnappschuß reisen können, auf dem wir schon waren. Das geht sehr wohl, wenn wir die Dinge richtig einrichten. Wenn wir natürlich in der Vergangenheit etwas verändern – etwas anders machen, als es in unserer Vergangenheit war –, befinden wir uns in einer anderen Vergangenheit. Zu voll ausgereiften
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Zeitreisen gehört die Möglichkeit, die Vergangenheit zu verändern: Die Vergangenheit muß anders gestaltet werden können als die, an die wir uns in diesem Universum erinnern. Sie ist dann eine andere als auf den Schnappschüssen, zu denen wir nicht kamen und an denen wir nichts verändern konnten. Zu diesen gehören auch die Schnappschüsse, auf denen wir unserer Erinnerung nach waren. Es wäre sinnlos, genau jene früheren Schnappschüsse verändern zu wollen, auf denen wir einmal waren. Aber das hat nichts mit Zeitreisen zu tun. Es ist ein Unsinn, der unmittelbar auf der unsinnigen klassischen Theorie des Stroms der Zeit beruht. Die Veränderung der Vergangenheit bedeutet, daß wir wählen, auf welchem früheren Schnappschuß wir sein wollen, nicht aber, daß wir aus einem bestimmten Schnappschuß einen anderen machen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Veränderung der Vergangenheit nicht von der Veränderung der Zukunft, wie wir sie immerzu vornehmen. Immer wenn wir eine Wahl treffen, verändern wir die Zukunft. Wir machen sie anders, als sie gewesen wäre, wenn wir anders gewählt hätten. Wir verändern sie also gegenüber dem, was sie in Universen sein wird, in denen wir tatsächlich anders wählen. Aber in keinem Fall verändert sich ein bestimmter zukünftiger Schnappschuß. Er kann sich nicht verändern, denn es gibt keinen Zeitfluß, in bezug auf den er sich verändern könnte. Die Zukunft «verändern» bedeutet wählen, in welchem Schnappschuß wir sein wollen. Die Vergangenheit «verändern» bedeutet genau dasselbe. Weil es keinen Zeitfluß gibt, können wir keinen früheren Schnappschuß verändern, auf dem wir nach unserer Erinnerung selber sind. Wenn wir jedoch irgendwie physikalischen Zugang zur Vergangenheit erhalten, gibt es keinen Grund, warum wir sie nicht in genau der Weise ändern sollten, wie wir die Zukunft ändern, nämlich indem wir wählen, auf einem anderen Schnappschuß zu sein als auf dem, auf dem wir sein würden, wenn wir anders gewählt hätten. Überlegungen zur virtuellen Realität helfen, Zeitreisen zu verstehen, weil der Begriff der virtuellen Realität uns zwingt, «kontrafaktische Ereignisse» ernst zu nehmen; deshalb erscheint auch der dem Multiversum zugehörige Quantenbegriff der Zeit ganz natürlich, wenn er in der virtuellen Realität simuliert wird. Wenn wir sehen, daß Reisen in die Vergangenheit im Repertoire eines universellen Wirklichkeitssimulators lie-
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gen, sehen wir, daß der Gedanke an Zeitreisen in die Vergangenheit völlig sinnvoll ist. Aber das bedeutet nicht, daß sie notwendigerweise auch verwirklicht werden können. In der virtuellen Realität kann man mit Überlichtgeschwindigkeit reisen – und unter anderen physikalischen Unmöglichkeiten ist dort auch ein Perpetuum mobile möglich. Keine noch so vernünftige Überlegung zur virtuellen Realität kann beweisen, daß ein bestimmter Prozeß von den Naturgesetzen zugelassen wird (obwohl man beweisen kann, daß er nicht zugelassen wird). Wenn wir zum entgegengesetzten Schluß gekommen wären, folgte daraus aufgrund des Turing-Prinzips, daß Zeitreisen physikalisch unmöglich sind. Was sagen also unsere positiven Aussagen über Zeitreisen in der virtuellen Realität für die Physik aus? Sie sagen uns, wie Zeitreisen aussehen würden, wenn es sie gäbe. Sie sagen uns, daß eine Zeitreise in die Vergangenheit unvermeidlich ein Vorgang wäre, der sich in mehreren wechselwirkenden und zusammenhängenden Universen abspielte. Bei diesem Vorgang würden die Reisenden im allgemeinen von einem Universum zu einem anderen reisen, wann immer sie durch die Zeit reisen. Wie diese Universen genau zusammenhängen, würde unter anderem von der Absicht der Teilnehmer abhängen. Damit also Zeitreisen physikalisch möglich sind, muß es ein Multiversum geben, und die physikalischen Gesetze, die im Multiversum gelten, müssen so beschaffen sein, daß die Universen dann, wenn es eine Zeitmaschine und mögliche Zeitreisende gibt, in der beschriebenen Weise zusammenhängen und nicht in einer anderen. Wenn wir, anders formuliert, auf keinen Fall eine Zeitmaschine verwenden möchten, dann dürfen auf unserem Schnappschuß keine zeitreisenden Fassungen von uns auftauchen. Mit unserem Universum dürfen dann also keine solchen Universen verbunden sein, in denen es Kopien von uns gibt, die eine Zeitmaschine benutzen. Wenn wir unbedingt eine Zeitreise machen wollen, muß unser Universum mit einem anderen Universum verbunden werden, in dem wir ebenfalls eine Zeitmaschine benutzen. Und wenn wir ein «Paradoxon» auszuführen versuchen, muß unser Universum mit einem anderen verbunden werden, in dem eine Kopie von uns dieselbe Absicht hat, sich aber bei der Ausführung dieser Absicht anders verhält
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als wir. Bemerkenswerterweise ist all dies genau das, was die Quantentheorie vorhersagt. Wenn es also Wege in die Vergangenheit gibt, können Reisende, die sich auf ihnen bewegen, mit ihrer Umwelt genau so wechselwirken, wie sie es tun könnten, wenn die Wege nicht in die Vergangenheit führten. Zeitreisen führen nicht zu Widersprüchen, und sie erlegen dem Verhalten des Reisenden auch keine besonderen Zwänge auf. Damit stellt sich uns die Frage, ob es physikalisch möglich ist, daß Wege in die Vergangenheit existieren. Dieser Frage ist viel Aufmerksamkeit gewidmet worden, und sie ist immer noch sehr umstritten. Der Ausgangspunkt ist gewöhnlich eine Reihe von Gleichungen, die die Grundlage der Einsteinschen allgemeinen Relativitätstheorie darstellen. Diese sogenannten «Einsteinschen Gleichungen» haben viele Lösungen, von denen jede eine mögliche vierdimensionale Konfiguration von Raum, Zeit und Schwerkraft beschreibt. Einsteins Gleichungen lassen sicherlich die Existenz von Wegen in die Vergangenheit zu. Mittlerweile sind viele Lösungen mit dieser Eigenschaft entdeckt worden. Bis vor kurzem war es üblich, solche Lösungen systematisch zu ignorieren. Aber das ließ sich weder theoretisch noch physikalisch begründen. Vielmehr glaubten die Physiker, Zeitreisen würden «zu Paradoxien führen», und solche Lösungen der Einsteinschen Gleichungen müßten «unphysikalisch» sein. Diese willkürlichen Vermutungen erinnern an das, was in den ersten Jahren der Relativitätstheorie passierte, als Einstein selbst die Lösungen verwarf, die den Urknall und ein sich ausdehnendes Universum beschrieben. Einstein versuchte, die Gleichungen so abzuändern, daß sie statt dessen ein statisches Universum beschrieben, was er später einmal die größte Eselei seines Lebens nannte. Und tatsächlich bestätigten die Beobachtungen des Astronomen Edwin Hubble die Ausdehnung. Viele Jahre lang wurden auch die von Karl Schwarzschild gefundenen Lösungen, die als erste Schwarze Löcher beschrieben, fälschlich als «unphysikalisch» abgelehnt, weil die Phänomene unanschaulich waren und unglaubhaft wirkten, denn sie suggerierten ein Gebilde, dem man unmöglich entkommen kann, und Gravitationskräfte, die im Mittelpunkt eines Schwarzen Lochs unendlich groß werden. Heute ist man allgemein der Meinung, daß es Schwarze Löcher mit den von Einsteins Gleichungen vorhergesagten Eigenschaften gibt.
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Genaugenommen sagen Einsteins Gleichungen vorher, daß Reisen in die Vergangenheit in der Nähe massereicher rotierender Objekte wie Schwarzen Löchern möglich wären, wenn die Objekte rasch genug rotieren oder bestimmte andere Bedingungen erfüllt sind. Viele Physiker bezweifeln jedoch, daß diese Vorhersagen realistisch sind, weil keine hinreichend rasch rotierenden Schwarzen Löcher bekannt sind, und weil, was nicht überzeugend ist, behauptet wird, man könne Schwarze Löcher nicht künstlich stark genug beschleunigen, denn die dorthin geschickte rasch rotierende Materie würde weggeschleudert, bevor sie in den Sog des Schwarzen Lochs geriete. Vielleicht haben die Skeptiker recht, aber ihre Abneigung gegen Zeitreisen ist nicht gerechtfertigt, wenn sie auf der Überzeugung gründet, daß Zeitreisen zu Paradoxien führen. Selbst wenn Einsteins Gleichungen voll und ganz verstanden worden sind, geben sie keine schlüssigen Antworten auf die Frage nach den Zeitreisen. Die allgemeine Relativitätstheorie geht der Quantentheorie voraus und ist nicht vollständig mit ihr verträglich. Es ist noch niemandem gelungen, eine befriedigende Quantenfassung, eine Quantentheorie der Gravitation, zu formulieren. Aber wir wissen aufgrund der oben angestellten Überlegungen, daß Quanteneffekte bei Zeitreisen eine wichtige Rolle spielen würden. Gute Kandidaten für eine Quantentheorie der Gravitation lassen nicht nur zu, daß es im Multiversum Verbindungen zur Vergangenheit gibt, sondern sie sagen auch vorher, daß sich solche Verbindungen fortwährend bilden und wieder zerbrechen. Dies passiert überall in Raum und Zeit, aber nur im submikroskopisch Kleinen. Der Weg, den diese Effekte zurücklegen, umfaßt –35 –42 gewöhnlich nur 10 Meter, und er bleibt nur etwa 10 Sekunden –42 zugänglich, reicht also nur etwa 10 Sekunden in die Vergangenheit. Zeitreisen in die Zukunft, die im wesentlichen nur leistungsfähige Raketen voraussetzen, befinden sich bereits am mäßig entfernten, aber vorhersehbaren technologischen Horizont. Zeitreisen in die Vergangenheit, bei denen Schwarze Löcher manipuliert werden müssen oder an denen ähnlich heftige gravitationale Störungen von Raum und Zeit beteiligt sind, werden, wenn überhaupt, erst in ferner Zukunft verwirklicht werden können. Zur Zeit kennen wir keine Naturgesetze, die Zeitreisen in die Vergangenheit ausschließen; sie machen Zeitreisen im Gegenteil
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eher wahrscheinlich. Zukünftige Entdeckungen in der Grundlagenphysik könnten dies jedoch ändern. Vielleicht wird man entdecken, daß Quantenschwankungen in Raum und Zeit in der Nähe von Zeitmaschinen überwältigend stark werden und ihre Eingänge versiegeln. Beispielsweise glaubt Stephen Hawking, dies sei aufgrund einiger seiner Berechnungen wahrscheinlich – aber das ist umstritten. Möglicherweise existiert auch ein noch unbekanntes Phänomen, das Zeitreisen in die Vergangenheit ausschließt oder eine neue und einfachere Methode zu ihrer Durchführung liefert. Die Zunahme des Wissens läßt sich nicht vorhersagen. Falls aber die zukünftige Entwicklung der Grundlagenphysik weiterhin im Prinzip Zeitreisen zuläßt, wird ihre praktische Umsetzung sicherlich ein rein technisches Problem, das sich schließlich irgendwann lösen läßt. Was könnten wir aus dem Gebrauch von Zeitmaschinen lernen? Nun, der Nutzen wäre beschränkt, weil keine Zeitmaschine Wege zu Zeiten eröffnet, die vor dem Augenblick liegen, in dem sie entstand, und weil die Universen nach der Quantentheorie in gewisser Weise zusammenhängen. Erst wenn wir eine Zeitmaschine gebaut haben, und keinesfalls vorher, können wir Besucher oder Botschaften aus der Zukunft erwarten. Was werden sie uns erzählen? Sicherlich werden sie uns nichts über unsere eigene Zukunft erzählen. Der Alptraum von Vorhersagen unausweichlichen Unheils, das eintreten wird, obwohl oder vielleicht gerade, weil wir uns bemühen, es zu vermeiden, gehört in den Bereich von Mythos und Science-fiction. Besucher aus der Zukunft könnten unsere Zukunft genausowenig kennen wie wir selbst. Sie kommen nicht von dort. Aber sie könnten uns etwas über die Zukunft ihres Universums erzählen, dessen Vergangenheit dieselbe war wie unsere. Sie könnten Aufzeichnungen von Nachrichtensendungen mitbringen und Zeitungen mit dem Datum von morgen und später. Wenn ihre Gesellschaft eine falsche Entscheidung getroffen hat, die zu einer Katastrophe führte, könnten sie uns davor warnen. Wir hätten dann die Wahl, ihrem Rat zu folgen oder nicht. Wenn wir ihm folgten, könnten wir die Katastrophe vermeiden oder – es gibt keine Garantien – in eine noch schlimmere hineingeraten. Im großen und ganzen würden wir vermutlich von der Auseinandersetzung mit ihrer zukünftigen Geschichte sehr profitieren. Obwohl sie nicht unsere eigene zukünftige Geschichte ist und obwohl die Kennt-
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nis von einem möglicherweise bevorstehenden Unglück nicht gleichbedeutend mit seiner Vermeidung ist, sollten wir wohl doch viel darüber lernen können, was aus unserer Sicht passieren könnte. Unsere Besucher brächten vielleicht auch genaue Informationen über wissenschaftliche und künstlerische Errungenschaften mit. Wenn diese in der nahen Zukunft des anderen Universums gemacht worden wären, gäbe es in unserem Universum wahrscheinlich bereits Entsprechungen ihrer Urheber, die schon an diesen Errungenschaften arbeiten. Sie stünden dann plötzlich vor der vollendeten Fassung ihrer Arbeit. Ob sie dankbar sein würden? Hier verbirgt sich ein weiteres Paradoxon von Zeitreisen. Weil es anscheinend nicht zu Widersprüchen, sondern lediglich zu Merkwürdigkeiten führt, wird dieses Paradoxon eher in der Sciencefiction erörtert als in wissenschaftlichen Überlegungen zu Zeitreisen. Gewöhnlich wird es so formuliert: Ein Historiker der Zukunft, der sich für Shakespeare interessiert, benutzt eine Zeitmaschine, um den großen Dichter zu besuchen, der gerade an dem Text von Hamlet arbeitet. Sie unterhalten sich, und im Verlauf dieses Gesprächs zeigt der Zeitreisende Shakespeare den Text von Hamlets Monolog «Sein oder Nichtsein», den er aus der Zukunft mitgebracht hat. Shakespeare findet Gefallen daran und nimmt ihn in das Schauspiel auf. In einer anderen Fassung stirbt Shakespeare, und der Zeitreisende nimmt seine Gestalt an und wird berühmt, indem er vorgibt, Dramen zu schreiben, während er insgeheim «Shakespeares Gesammelte Werke» abschreibt, die er aus der Zukunft mitgebracht hatte. In einer weiteren Fassung wundert sich der Zeitreisende, daß er Shakespeare nicht finden kann. Durch eine Reihe von Zufällen wird er zu einer Personifizierung von Shakespeare und schreibt wiederum Plagiate seiner Werke. Ihm gefällt dieses Leben und er erkennt erst Jahre später, daß er der Shakespeare geworden ist: Es hat niemals einen anderen gegeben. Übrigens würde die Zeitmaschine in diesen Geschichten von einer außerirdischen Zivilisation zur Verfügung gestellt werden müssen, die schon zu Lebzeiten Shakespeares Zeitreisen durchführen konnte und bereit wäre, unserem Historiker die Benutzung einer ihrer wenigen, nicht erneuerbaren Möglichkeiten zur Reise in diese Zeit zur Verfügung zu stellen. Möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich wäre auch die Exi-
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stenz einer brauchbaren, natürlich vorkommenden Zeitmaschine in der Nähe eines Schwarzen Lochs. Was ist das Paradoxe an diesem Paradoxon des antizipierten Wissens? In jeder dieser Geschichten entsteht große Literatur, ohne daß jemand sie schrieb oder genauer, ohne daß jemand sie ursprünglich schrieb. Niemand hat sie erschaffen. Und diese Behauptung, die zwar logisch widerspruchsfrei ist, widerspricht doch zutiefst unserem Verständnis davon, wie Wissen entsteht. Unser Wissen fällt nicht fix und fertig vom Himmel. Wissen existiert nur als das Ergebnis von Schöpfungsvorgängen. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, besteht die Vermehrung von Wissen aus Prozessen und evolutionären Vorgängen, die von einer Ausgangssituation beginnend, Schritt für Schritt voranschreiten, bis eine neue, höhere Wissensebene erreicht ist, die der alten vorzuziehen ist. So entdeckte Einstein seine Feldgleichungen. So gelingt es uns allen, die großen oder kleinen Lebensprobleme zu lösen oder etwas Wertvolles zu erschaffen. Wir haben gesehen, daß die biologische Evolution in ganz ähnlicher Weise abläuft. Das Analogon zu einem «Problem» ist in diesem Fall die ökologische Nische. Die «Theorien» sind Gene, und die vermuteten neuen Theorien sind mutierte Gene. Die «Kritik» und das «Ausmerzen von Fehlern» entsprechen der natürlichen Auslese. Wissen entsteht allerdings durch intendiertes Handeln; biologische Anpassungen werden durch einen blinden Mechanismus geschaffen. Übrigens wäre in analoger Weise auch eine Verletzung der Prinzipien biologischer Evolution vorstellbar, und wir hätten im Ergebnis einen Ursprung der Arten und ihrer Evolution, der nicht auf die Lehren Darwins zurückzuführen ist. Das Paradoxon dieser Geschichten liegt also in der Verletzung des Prinzips des evolutionären Wissenserwerbs. Sie sind nur deshalb paradox, weil sie aussagen, daß komplexes menschliches Wissen (oder komplexe biologische Anpassungen) aus dem Nichts erschaffen wurden. Analoge Geschichten mit anderen Dingen oder Informationen, die in der Schleife vorkommen, sind nicht paradox. Denken Sie an einen Kiesel am Strand und reisen Sie dann nach gestern zurück, finden Sie den Stein wieder und legen Sie ihn dorthin, wo Sie ihn finden werden. Warum haben Sie ihn dort gefunden? Weil Sie ihn dorthin gelegt haben. Warum haben Sie ihn dorthin gelegt? Weil Sie ihn dort gefunden haben. Sie
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haben damit in einer widerspruchsfreien Schleife Information (die Lage des Kieselsteins) entstehen lassen. Ja und? Irgendwo mußte der Kieselstein ja sein. Solange aus einer Geschichte nicht folgt, daß es etwas, sei es Wissen oder Anpassung, umsonst gibt, ist sie nicht paradox. Aus der Sicht des Multiversums kommt der Zeitreisende, der Shakespeare besucht, nicht aus der Zukunft dieser Kopie von Shakespeare. Er kann die von ihm besuchte Kopie beeinflussen oder vielleicht auch ersetzen. Aber er kann niemals die Kopie besuchen, die in dem Universum existierte, aus dem er kam. Und diese Kopie schrieb die Dramen. Die Dramen hatten also wirklich einen Urheber, und es gibt keine paradoxen Schleifen der Art, wie wir sie in der Geschichte schilderten. Wissen und Anpassung sind selbst, wenn es Wege in die Vergangenheit gibt, durch menschliche Kreativität oder biologische Evolution entstanden und nicht anders. Wird auch diese Bedingung durch die Gesetze gefordert, die die Quantentheorie dem Multiversum auferlegt? Vermutlich ist es so, aber das ist schwer zu beweisen, weil sich die gewünschte Eigenschaft in der heutigen Sprache der theoretischen Physik nicht gut ausdrücken läßt. Welche mathematische Formel unterscheidet «Wissen» oder «Anpassung» von wertloser Information? Welche physikalischen Eigenschaften unterscheiden einen «schöpferischen Vorgang» von einem nicht schöpferischen? Obwohl wir diese Fragen noch nicht beantworten können, ist die Situation nicht hoffnungslos. Denken Sie an die Schlußfolgerungen in Kapitel 7 über die Bedeutung von Leben und Wissen im Multiversum. Wir haben gesehen, daß die Erschaffung von Wissen und die biologische Evolution physikalisch bedeutungsvolle Vorgänge sind. Einer der Gründe dafür war, daß diese Prozesse, und nur sie, eine bestimmte Wirkung auf parallele Universen haben. Sie bewirken, daß sie sich ähnlich werden, schaffen also über die Universen hinweg Struktur. Wenn wir dies eines Tages im einzelnen verstehen werden, können wir Wissen, Anpassung, Kreativität und Evolution vielleicht durch die Konvergenz von Universen definieren. Es ist eine allgemeine Regel, daß nach einer Zeitreise die Gesamtzahl der Kopien von mir in allen Universen unverändert ist. Ebenso gelten die Erhaltungssätze für Masse, Energie und andere physikalische Größen
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auch für das Universum. Es existiert allerdings kein Erhaltungssatz für Wissen. Wenn wir eine Zeitmaschine hätten, hätten wir damit Zugang zu Wissen aus einer völlig neuen Quelle, nämlich der Kreativität anderer Universen. Die vernunftbegabten Wesen dort könnten auch von uns Wissen übernehmen, deshalb könnte man salopp von einem «Handel mit Wissen» sprechen und auch von einem Handel in Gebrauchsgegenständen, die Wissen verkörpern. Aber man darf diese Analogie nicht zu wörtlich nehmen. Das Multiversum wird niemals eine Freihandelszone sein, weil die Gesetze der Quantenmechanik drastisch einschränken, welche Schnappschüsse untereinander verbunden werden können. Eine erste Verbindung zwischen zwei Universen wird nur in einem Augenblick hergestellt, in dem sie identisch sind. Wenn sie verbunden sind, beginnen sie sich zu unterscheiden. Erst wenn diese Unterschiede größer geworden sind und neues Wissen, das in einem Universum geschaffen und durch die Zeit ins andere zurückgeschickt worden ist, können wir Wissen erhalten, das es in unserem Universum noch nicht gibt. Eine zutreffendere Weise, über den «Handel» mit Wissen zwischen den Universen nachzudenken, besteht darin, sich all unsere Prozesse, die Wissen schaffen, also unsere ganze Kultur und Zivilisation und alle Denkvorgänge in den Köpfen jedes einzelnen und sogar in der ganzen sich entwickelnden Biosphäre, als eine gigantische Berechnung vorzustellen. Das Ganze führt ein aus sich selbst motiviertes, sich selbst erzeugendes Computerprogramm aus. Genauer gesagt ist es, wie erwähnt, ein Programm, das mit immer größerer Genauigkeit in der virtuellen Realität die Existenz insgesamt simuliert. In anderen Universen gibt es andere Fassungen dieses Wirklichkeitssimulators, von denen einige völlig gleich und einige ganz verschieden sind. Wenn ein solcher Wirklichkeitssimulator Zugang zu einer Zeitmaschine hätte, könnte er einige der Ergebnisse der Berechnungen erhalten, die von seinen Entsprechungen in anderen Universen durchgeführt wurden, falls die Naturgesetze den dazu nötigen Austausch von Information zulassen. Jedes Wissen, das man von einer Zeitmaschine erhält, ist dann irgendwo im Multiversum entstanden, kann aber unzähligen anderen Universen zugute kommen. Eine Zeitmaschine wäre also ein Hilfsmittel, das es erlaubt, gewisse Arten von Berechnungen mit viel größerer Effizienz
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durchzuführen, als es auf einem einzelnen Computer möglich wäre. Sie erzielte diese Leistungsfähigkeit, indem sie ihren Kopien in anderen Universen die Ergebnisse der Berechnungen mitteilt. Ohne Zeitmaschinen wäre sehr wenig Informationsübermittlung zwischen Universen möglich, weil die Naturgesetze in diesem Fall sehr wenige ursächliche Verbindungen zwischen ihnen vorhersagen. Nach einer zuverlässigen Näherung erreicht Wissen, das in einer Menge identischer Schnappschüsse geschaffen wurde, relativ wenige andere Schnappschüsse, nämlich nur jene, die in Raumzeiten gestapelt sind, die in der Zukunft der ursprünglichen Schnappschüsse liegen. Interferenzphänomene sind das Ergebnis kausaler Verbindungen zwischen benachbarten Universen. Wir sahen in Kapitel 8, daß sich selbst dieses winzige Ausmaß an Verbindung zum Austausch wesentlicher, rechnerisch hilfreicher Information zwischen Universen nutzen läßt. Zeitreisen mögen eines fernen Tages möglich werden oder auch nicht, aber sie sind zumindest in der Theorie kein Paradoxon. Die theoretische Beschäftigung mit Zeitreisen bietet eine Möglichkeit, den Zusammenhang der «vier Hauptstränge», die unseren umfassenden Wirklichkeitsbegriff strukturieren, zu verdeutlichen. Ein Strang ist die Quantenmechanik mit ihren parallelen Universen und dem Quantenbegriff der Zeit, ein anderer die Theorie der Berechnung, die den Zusammenhang zwischen virtueller Realität und Zeitreisen herstellt, weil die entscheidenden Kennzeichen der Zeitreisen als neuartige Berechnungen gesehen werden können, ein dritter die Erkenntnistheorie und ein vierter die Evolutionstheorie. Alle erlegen der Entstehung von Wissen Einschränkungen auf und sind wichtig für das Verständnis von Zeitreisen. Falls sie eines Tages möglich gemacht werden können, sollte keine grundlegende Veränderung der Weltsicht nötig sein, jedenfalls nicht für die, die der in diesem Buch entwickelten Weltsicht im großen und ganzen zustimmen. Alle Zusammenhänge, die Zeitreisen zwischen Vergangenheit und Zukunft herstellen können, sind einsichtig und widerspruchsfrei. Wir haben also am Beispiel der Zeitreisen gesehen, wie die vier Stränge unseres Wirklichkeitsbegriffs miteinander verflochten sind. Im folgenden Kapitel wollen wir uns mit den bemerkenswerten Parallelen zwischen ihnen beschäftigen.
12 Die vier Stränge In der Naturwissenschaft ist das Stereotyp des idealistischen jungen Neuerers weitverbreitet, der sich gegen die alten Herren des wissenschaftlichen Establishments stellt. Die bornierten Alten, eingeschworen auf die bequeme Orthodoxie, zu deren Verteidigern und zugleich Gefangenen sie sich selbst gemacht haben, erregen sich über alles, was sie in Frage stellt. Ihr Verhalten ist unvernünftig, sie weigern sich, auf Kritik zu hören, Begründungen ernst zu nehmen oder Tatsachenmaterial zu bedenken, sondern sie versuchen, die Gedanken des Neuerers zu unterdrücken. Dieses Stereotyp wurde von Thomas Kuhn, dem Verfasser des einflußreichen Buchs Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, in den Rang einer Philosophie erhoben. Nach Kuhn wird das wissenschaftliche Establishment dadurch definiert, daß seine Mitglieder fest an die vorherrschenden Theorien glauben, die insgesamt eine Weltsicht oder ein Paradigma darstellen. Das Paradigma gibt den psychologischen und theoretischen Rahmen, in den seine Vertreter alles in ihrem Erfahrungsbereich einordnen und erklären. Für eine Verletzung des Paradigmas durch eine Beobachtung, die ihm nicht entspricht, sind sie buchstäblich blind. Nach Kuhn sind wissenschaftlich so wichtige Werte wie Offenheit gegenüber Kritik und versuchsweise Akzeptanz von Theorien größtenteils Mythen, die keinerlei Richtschnur für das Handeln geben, wenn es um wesentliche wissenschaftliche Themen geht. Kuhn würde akzeptieren, daß sich in bezug auf unwesentliche wissenschaftliche Themen wissenschaftliche Diskussion und Erkenntnis-
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gewinn so abspielen könnte, wie wir es in Kapitel 3 umrissen haben. Seiner Meinung nach hat die Naturwissenschaft stets nur zu bestimmten Zeiten Fortschritte gemacht. Dazu unterscheidet er «normale Naturwissenschaft» von «revolutionärer Naturwissenschaft». Zur Zeit der normalen Naturwissenschaft glaubt fast jeder an die vorherrschenden grundlegenden Theorien; alles Bemühen geht darum, die Beobachtungen und Folgetheorien dem gängigen Paradigma anzupassen. Forschung besteht im Verknüpfen loser Enden, der Verbesserung der praktischen Anwendungen von Theorien, der Klassifizierung, Neuformulierung und Bestätigung. Wenn wissenschaftliche Methoden anwendbar sind, werden sie angewendet, aber sie führen niemals zu grundlegend Neuem, weil sie das Grundlegende niemals in Frage stellen. Dann jedoch kommen einige junge Unruhestifter daher, die eine Grundaussage des bestehenden Paradigmas bestreiten. Doch das ist nicht wirklich wissenschaftliche Kritik im Popperschen Sinn, denn die Unruhestifter sind der Vernunft nicht zugänglich. Sie sehen die Welt eben im Licht eines anderen, neuen Paradigmas. Wie kamen sie dazu? Nach Kuhn wird der Druck des angesammelten, ignorierten Tatsachenmaterials schließlich zu groß. Jedenfalls beginnt eine Zeit der «revolutionären» Naturwissenschaft. Die Mehrheit der Wissenschaftler, die immer noch versucht, nach dem alten Paradigma «normale» Naturwissenschaft zu betreiben, bekämpft die Neuerer notfalls auch mit harten Bandagen – indem sie Veröffentlichungen verhindert, die Ketzer von akademischen Stellungen ausschließt und so weiter. Die Ketzer wiederum suchen und finden Möglichkeiten, trotzdem zu veröffentlichen, machen die alten Herren lächerlich und versuchen, einflußreiche Einrichtungen zu unterwandern. Weil das neue Paradigma aus sich heraus soviel erklären kann, gewinnt es Anhänger, vor allem unter den jungen Menschen, die sich noch nicht festgelegt haben. Natürlich kann es auch in beiden Richtungen Abtrünnige geben, und schließlich sterben die alten Herren. So gewinnt die eine oder die andere Seite. Falls die Ketzer gewinnen, bilden sie das neue Establishment und verteidigen ihr neues Paradigma genau so blind wie das alte Establishment das seine verteidigte; falls sie verlieren, werden sie zu einer Fußnote der Wissenschaftsgeschichte. In jedem Fall ist es der Beginn der «normalen» Naturwissenschaft.
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Die Kuhnsche Sicht des wissenschaftlichen Fortschritts kommt vielen Menschen ganz natürlich vor. Sie kann anscheinend die wiederholten scharfen Richtungswechsel erklären, die die Naturwissenschaft dem modernen Denken aufzwang und die sich in alltäglichen menschlichen Eigenschaften und Impulsen zeigt. Dazu gehören auch starre Vorurteile und vorgefaßte Meinungen, Blindheit für alle Hinweise auf eigene Irrtümer oder die Unterdrückung abweichender Meinungen durch einflußreiche Interessengruppen. Zur Opposition gehört die Rebellion der Jugend, die Suche nach Neuem, die Freude am Verletzen von Tabus und der Kampf um Macht. Ein anderer Reiz der Kuhnschen Gedanken liegt sicherlich darin, daß die Naturwissenschaftler von ihrem Sockel heruntergestoßen werden. Sie können nicht mehr behaupten, sie seien edle Wahrheitssuchende, die die Probleme mit den vernünftigen Verfahren von Hypothesenbildung, Kritik und experimenteller Überprüfung lösen wollen, um die Welt immer besser erklären zu können. Nach Kuhn sind sie nur eine mildere Form von Gangstern, die in endlose Spiele um die Vorherrschaft in ihren Hoheitsgebieten verwickelt sind. Die Idee eines Paradigmas selbst ist unbestreitbar richtig. Wir beobachten und verstehen die Welt aufgrund von Theorien oder Paradigmen. Aber Kuhn irrt, wenn er behauptet, die Annahme eines Paradigmas mache notwendig blind für die Verdienste eines anderen oder verhindere Paradigmenwechsel oder mache es gar unmöglich, zwei Paradigmen gleichzeitig zu verstehen. Zugegeben, es besteht immer eine Gefahr, daß wir das Erklärungsvermögen einer neuen, grundlegenden Theorie unterschätzen oder völlig verfehlen, wenn wir sie im begrifflichen Rahmen der alten Theorie bewerten. Aber diese Gefahr läßt sich mit etwas Glück vermeiden, wenn wir Sorgfalt walten lassen. Es ist auch wahr, daß Menschen, Wissenschaftler eingeschlossen, und besonders Menschen in Machtpositionen sich üblicherweise an die vorherrschende Art, die Dinge zu sehen, gewöhnen und neuen Gedanken gegenüber mißtrauisch sind. Ungerechtfertigte Loyalität gegenüber Paradigmen ist in der Wissenschaft wie anderswo ein häufiger Grund für Kontroversen. Aber als Beschreibung oder Analyse des wissenschaftlichen Fortschritts und der Wissenschaft im großen leidet Kuhns Theorie unter einem fatalen Mangel. Sie erklärt den Wechsel vom einen Para-
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digma zum anderen in soziologischen oder psychologischen Begriffen und nicht mit dem objektiven Wettstreit rivalisierender Erklärungen. Wenn man aber die Naturwissenschaft nicht als Suche nach Erklärungen versteht, bleibt unverständlich, daß sie tatsächlich Erklärungen findet, von denen jede objektiv besser ist als die vorhergehende. Der Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnis läßt sich also im Kuhnschen Bild nicht aus der Wissenschaft selbst erklären. Die Last des wissenschaftlichen Fortschritts liegt für Kuhn zudem in der Hand einiger weniger aufrührerischer Genies wie Galilei, Newton, Darwin oder Einstein, die trotz aller Widerstände Paradigmen verändert haben. Ich habe mich selbst bei grundlegenden wissenschaftlichen Kontroversen gelegentlich auf Seiten der Minderheit befunden, aber mir ist niemals eine Situation begegnet, die auch nur annähernd an die von Kuhn beschriebene erinnerte. Natürlich ist die Mehrheit nicht immer ganz so offen für Kritik, wie es im Idealfall sein sollte. Trotzdem ist das Ausmaß, in dem die Gemeinschaft der Wissenschaftler sich bei der Durchführung wissenschaftlicher Forschung an «das richtige wissenschaftliche Vorgehen» hält, äußerst bemerkenswert. Man muß nur an einem Forschungsseminar auf einem grundlegenden Gebiet der «harten» Naturwissenschaften teilnehmen, um zu merken, wie deutlich sich das Verhalten der Menschen als Forscher vom Verhalten der Menschen im allgemeinen unterscheidet. Stellen wir uns einen Gelehrten vor, der als der führende Experte eines ganzen Forschungsbereichs anerkannt ist und über genau dieses Gebiet ein Seminar hält. Im Seminarzimmer sitzen Menschen aus allen Bereichen der akademischen Hierarchie, von Studenten höherer Semester bis zu Professoren, deren Ansehen es mit dem des Sprechers aufnehmen kann. Während des Seminars jedoch würde ein Beobachter kaum irgendeine Rangordnung erkennen. Der jüngste Diplomand fragt: «Folgt die dritte Gleichung wirklich aus der zweiten? Der ausgelassene Term ist doch nicht vernachlässigbar?» Der Professor weiß, daß der Ausdruck vernachlässigbar ist und daß der Student noch zu wenig Erfahrung hat. Was passiert nun? In einer analogen Situation würde ein mächtiger Hauptgeschäftsführer, dessen Urteil von einem kühnen neuen Untergebenen in Frage
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gestellt wird, vielleicht sagen: «Also hören Sie. Ich habe mehr solche Urteile abgegeben, als Sie Jahre auf dem Buckel haben. Wenn ich sage, daß es funktioniert, funktioniert es auch.» Ein erfahrener Politiker würde der Kritik eines unbekannten, aber ehrgeizigen Parteimitglieds vielleicht entgegnen: «Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?» Selbst unser Professor könnte, wenn er nicht gerade in einem Forschungsseminar wäre, herablassend antworten: «Sie sollten besser gehen lernen, bevor Sie zu laufen versuchen. Lesen Sie das Lehrbuch und verschwenden Sie nicht Ihre und unsere Zeit.» In einem Forschungsseminar aber würde jede dieser Reaktionen peinlich sein. Die Seminarteilnehmer würden verlegen ihre Augen abwenden und vorgeben, eifrig ihre Notizen zu studieren, oder verlegen grinsen und sich Seitenblicke zuwerfen. Jeder wäre über die Unschicklichkeit einer solchen Haltung schockiert. In der wissenschaftlichen Forschung sind Appelle an die Autorität selbst zwischen den Ältesten und den Jüngsten auf dem Gebiet einfach unzulässig. Der Professor nimmt den Studenten also ernst, und ihm ist nichts davon anzumerken, daß Kritik aus einer solchen Quelle ihn irritiert haben könnte. Die meisten der Fragen aus der Zuhörerschaft haben die Form von Kritik, die, wenn sie gültig wäre, den Wert der Lebensarbeit des Professors mindern oder vernichten würde. Aber das Seminar hat den Zweck, aussagekräftige und vielfältige Kritik an den akzeptierten Wahrheiten zu Tage zu fördern. Jeder ist davon überzeugt, daß die Wahrheit nicht offensichtlich ist und daß das Offensichtliche nicht wahr sein muß, daß Gedanken nach ihrem Inhalt und nicht nach ihrer Herkunft angenommen oder abgelehnt werden sollten, daß auch die größten Geister Fehler machen können und daß die trivialsten Einwände den Schlüssel zu einer großen neuen Entdeckung darstellen können. Die Teilnehmer des Seminars suchen, unabhängig von ihrem Rang, Erklärungen. Tatsachen und Begründungen beherrschen das Denken. Während sich die Seminarteilnehmer also der Wissenschaft widmen, verhalten sie sich entsprechend der wissenschaftlichen Vernunft. Wenn wir der Gruppe aber nach dem Seminar in die Mensa folgen, stellt sich möglicherweise sofort wieder das normale gesellschaftliche Verhalten ein. Der Professor wird mit Hochachtung behandelt und sitzt mit Per-
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sonen gleichen Rangs an einem Tisch. Einige Auserwählte aus den unteren Rängen genießen den Vorzug, am selben Tisch sitzen zu dürfen – zumindest ist dies in Großbritannien so. In der Geschichte der Quantentheorie gibt es viele Beispiele dafür, daß Wissenschaftler aus irrationalen Gründen etwas vertreten haben, was man ein »Paradigma« nennen könnte, aber dennoch ließe sich nur schwer ein spektakuläreres Gegenbeispiel zu Kuhns Theorie des Paradigmenwechsels finden als gerade die Quantentheorie. Ihre Entdeckung war zweifellos eine begriffliche Revolution, vielleicht die größte seit Galilei, und es gab in der Tat einige «alte Herren», die sie nie akzeptierten. Aber die wichtigen Persönlichkeiten der Physik, darunter ausnahmslos alle, die sich zum Establishment zählen konnten, waren fast augenblicklich bereit, das klassische Paradigma fallen zu lassen. Es war selbstverständlich, daß die neue Theorie eine radikale Abweichung von der klassischen Auffassung der Wirklichkeit bedeutete. Die Debatte ging nur noch darum, wie die neue Auffassung beschaffen war. Nach einer Weile etablierte sich unter der Führung des Physikers Niels Bohr und seiner «Kopenhagener Schule» eine neue Lehrmeinung, die jedoch niemals so allgemein als Beschreibung der Wirklichkeit akzeptiert wurde, daß sie ein Paradigma genannt werden konnte, obwohl sie von den meisten Physikern begrüßt wurde. (Einstein bildete eine bemerkenswerte Ausnahme.) Erstaunlicherweise ging es bei der «Kopenhagener Deutung» nicht um den Wahrheitsgehalt der neuen Quantentheorie. Sie hing im Gegenteil entscheidend davon ab, daß sie zumindest in ihrer jetzigen Form falsch ist! Nach der «Kopenhagener Deutung» gelten die Gleichungen der Quantentheorie nur für unbeobachtete Aspekte der physikalischen Wirklichkeit, denn im Augenblick der Beobachtung kommt es zu einem anderen Vorgang, bei dem menschliches Bewußtsein und subatomare Physik unmittelbar wechselwirken. Ein bestimmter Zustand des Bewußtseins wird real, der Rest bliebe Möglichkeit. Die Kopenhagener Deutung legte diesen vermeintlichen Prozeß nur in Umrissen fest. Eine vollständige Beschreibung sollte der Zukunft überlassen bleiben, wenn sie nicht sogar für immer jenseits des menschlichen Begriffsvermögens war. Wie Physiker eine solche gehaltlose Konstruktion wie die orthodoxe Fassung der Quantentheorie akzeptieren
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konnten, ist eine Frage an die Historiker. Wir wollen uns hier nicht näher mit den verborgenen Einzelheiten der Kopenhagener Deutung beschäftigen. Etwa zwanzig Jahre später stellte Hugh Everett, damals Doktorand des großen Physikers John Archibald Wheeler in Princeton, als erster die Viele-Welten-Deutung der Quantentheorie auf. Wheeler akzeptierte diese Folgerung nicht. Er war (und ist immer noch) davon überzeugt, daß Bohrs Sicht trotz ihrer Unvollständigkeit die Grundlage der richtigen Erklärung darstellt. Aber verhielt er sich so, wie es nach dem Kuhnschen Schema zu erwarten wäre? Versuchte er die ketzerischen Gedanken seines Schülers zu unterdrücken? Im Gegenteil, Wheeler befürchtete, Everetts Gedanken könnten nicht genügend Beachtung finden. Er schrieb deshalb einen kurzen Begleittext zu Everetts Arbeit, der ebenfalls in der Fachzeitschrift Reviews of Modern Physics veröffentlicht wurde. Wheeler erklärte und verteidigte Everetts Gedanken so gut, daß die meisten Leser annahmen, er sei für den Inhalt mitverantwortlich. Daraufhin wurde die Multiversums-Theorie fälschlich und sehr zu Wheelers Kummer jahrelang als «Everett-Wheeler-Theorie» bezeichnet. Wheelers beispielhafte Treue zu wissenschaftlicher Rationalität ist vielleicht extrem, aber keineswegs einzigartig. Es ließen sich mühelos weitere Beispiele finden. Everetts Entdeckung wurde nicht sofort gewürdigt. Leider hatten die meisten Physiker in der Generation zwischen der Kopenhagener Deutung und Everett die Hoffnung aufgegeben, die Quantentheorie jemals erklären zu können. Seitdem ist die Einstellung des typischen Physikers zu der tiefsten uns bekannten Theorie der Wirklichkeit durch die Ablehnung der Kopenhagener Deutung und zugleich einen pragmatischen Instrumentalismus geprägt. In dieser Hinsicht wird Kuhns Pessimismus in bezug auf die wissenschaftliche Vernunft bestätigt, aber Kuhns Abfolge, wie neue Paradigmen alte ersetzen, nicht. Zwar könnte man den herrschenden Instrumentalismus als ein neues «Paradigma» sehen, mit dessen Hilfe die Physiker die klassische Idee einer objektiven Wirklichkeit ersetzen. Aber ist die Theorie des Multiversums im Rahmen dieses Paradigmas unbegreiflich? Sie ist es nicht mehr als eine Theorie der vielen Planeten. Wie auch immer, jedenfalls sahen die Physiker die Welt nicht mehr durch die Brille der klassischen Physik. Obwohl dieses klassische
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Paradigma in der Naturwissenschaft nie in Frage gestellt worden war, seit Galilei dreihundert Jahre zuvor die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Inquisition gewonnen hatte, gaben die meisten Physiker es auf, sowie die Quantentheorie aufgestellt wurde. Der pragmatische Instrumentalismus war nur möglich, weil die Quantentheorie in den meisten Zweigen der Physik nicht als Erklärung dient. Sie dient nur indirekt zur Überprüfung anderer Theorien, und deshalb braucht man nur ihre Vorhersagen. Aus diesem Grund konnten sich Generationen von Physikern damit zufrieden geben, Interferenzvorgänge als «schwarzen Kasten» zu sehen: Sie geben Daten ein und beobachten ein Ergebnis. Sie sagen mit Hilfe der Gleichungen der Quantentheorie das eine aufgrund des anderen vorher, aber sie wissen nicht, und es kümmert sie auch nicht, auf welche Weise das Ergebnis zustandekommt. Es gibt jedoch zwei Zweige der Physik, in denen diese Einstellung unmöglich ist, weil die Abläufe im Inneren des quantenmechanischen Objekts den gesamten Inhalt dieses Zweigs ausmachen. Dies sind die Quantentheorie der Berechnungen und die Quantenkosmologie (die Quantentheorie der physikalischen Wirklichkeit überhaupt). Schließlich wäre es eine armselige «Theorie der Berechnung», die sich niemals damit beschäftigt, wie sich der Output aus dem Input ergibt! In der Quantenkosmologie wiederum haben wir zu Beginn des Multiversums keinen Input, und am Ende können wir auch keinen Output messen. Es gibt nur die Vorgänge im Inneren. Aus diesem Grund verwenden die allermeisten Forscher, die auf diesen beiden Gebieten arbeiten, die Quantentheorie in ihrer vollen multiversalen Form. Die Geschichte Everetts ist also in der Tat die eines innovativen jungen Forschers, der einen allgemeinen Konsens in Frage stellt und dann größtenteils ignoriert wird, bis seine Sichtweise Jahrzehnte später allmählich zum neuen Konsens wird. Aber Everetts Neuerung beruhte nicht auf der Behauptung, daß die vorherrschende Theorie falsch, sondern daß sie wahr sei! Die Pfründeninhaber waren weit davon entfernt, nur in den Begriffen ihrer eigenen Theorie zu denken; sie weigerten sich geradezu, in ihren Begriffen zu denken und benutzten sie nur instrumentell. Aber was ist mit Berechnung, mit der Evolutionslehre und der von uns formulierten Epistemologie nach Popper? Auch diesen wissen-
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schaftlichen Theorien ist es nicht gelungen, zum neuen «Paradigma» zu werden. Obwohl sie ihre Vorgänger und andere Rivalen sicherlich ersetzt haben und ganz pragmatisch und routinemäßig Anwendung finden, werden sie nicht als grundlegende Erklärung der Wirklichkeit gesehen. Das Turing-Prinzip etwa ist kaum je als pragmatische Wahrheit angezweifelt worden. Die von Penrose geübte Kritik verkörpert eine seltene Ausnahme; er hat begriffen, daß Einwände gegen das Turing-Prinzip radikal neue Theorien der Physik und der Epistemologie und einige interessante neue Annahmen auch in der Biologie zur Folge haben müßten. Weder Penrose noch irgendjemand sonst hat jedoch bisher eine echte Alternative zum Turing-Prinzip vorgeschlagen, deshalb bleibt es die vorherrschende Theorie der Berechnung. Die Behauptung jedoch, daß künstliche Intelligenz im Prinzip möglich ist, gilt keineswegs für gesichert, obwohl sie durch einfache Logik aus dieser Theorie folgt. Künstliche Intelligenz ist ein Computerprogramm, das über alle Eigenschaften des menschlichen Geistes verfügt, einschließlich Intelligenz, Bewußtsein, freier Wille, Gefühle und so weiter, aber nicht im menschlichen Gehirn, sondern auf anderer Hardware abläuft. Die Möglichkeit der künstlichen Intelligenz wird von hervorragenden Philosophen und Wissenschaftlern entschieden bestritten. Aber wenige dieser Gegner scheinen zu verstehen, daß sie dem anerkannten Grundprinzip einer Grundwissenschaft widersprechen. Sie ziehen nicht, wie Penrose, andere Grundlagen in Betracht. Es ist, als ob sie die Möglichkeit leugnen, daß wir zum Mars reisen können, ohne zu bemerken, daß unser Wissen es ermöglicht, daß wir es können. Aber die Gegner der künstlichen Intelligenz sind nicht die einzigen, die es versäumten, das Turing-Prinzip in ihre Paradigmen aufzunehmen. Wie wenige Forscher seine Bedeutung erkannten, zeigt sich daran, daß nach der Aufstellung des Prinzips vier Jahrzehnte vergingen, bevor seine Folgerungen für die Physik untersucht wurden, und daß bis zur Entdeckung der Quantenberechnung ein weiteres Jahrzehnt verstrich. Das Turing-Prinzip wird im Rahmen der Computerwissenschaft pragmatisch angewendet, gehörte aber nicht zum wissenschaftlichen Paradigma. Die Erkenntnistheorie Poppers ist in jedem pragmatischen Sinn die heute vorherrschende Theorie zur Vermehrung wissenschaftlicher Er-
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kenntnis. Wenn es darum geht, daß die Theoretiker eines Gebiets den Regeln für Experimente «wissenschaftliche Evidenz» zuschreiben oder angesehene Zeitschriften Beiträge zur Veröffentlichung annehmen oder wenn Ärzte zwischen rivalisierenden medizinischen Behandlungen entscheiden müssen, sind die modernen Schlagworte ganz nach Poppers Geschmack, denn sie lauten experimentelle Überprüfung, Offenheit für Kritik, theoretische Erklärungen und die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit durch das Experiment. In allgemeinverständlichen Darstellungen der Naturwissenschaft werden wissenschaftliche Theorien gewöhnlich eher als kühne Vermutungen denn als Folgerungen aus den gesammelten Daten dargestellt, und der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und (etwa) der Astrologie wird ganz richtig an ihrer Überprüfbarkeit aufgezeigt und nicht am Grad der Bestätigung. In den Experimentierkursen an Gymnasien und den Praktika an der Universität gehören «Hypothesenbildung und -überprüfung» zum Alltag. In diesem Sinn ist die Poppersche Erkenntnistheorie zwar die vorherrschende Theorie, aber sie ist nicht unumstritten, wie die Popularität der Kuhnschen Theorie des Paradigmenwechsels zeigt. Noch schwerwiegender ist, daß sehr wenige Philosophen Poppers Behauptung zustimmen, es gebe kein «Induktionsproblem» mehr, weil wir Theorien nicht aufgrund von Beobachtungen erhalten oder rechtfertigen, sondern anhand von erklärenden Mutmaßungen und Widerlegungen. Dabei sind gar nicht sehr viele Philosophen Induktivisten, und sie haben auch gar nicht viele Einwände gegen Poppers Beschreibung der wissenschaftlichen Methode. Doch sie akzeptieren nicht Poppers Erklärung. Das erinnert wieder an die Geschichte mit Everett. Nach mehrheitlicher Meinung gibt es mit der Popperschen Methodologie ein grundlegendes philosophisches Problem, obwohl sie aller (erfolgreichen) Naturwissenschaft zugrunde liegt. Poppers ketzerische Neuerung läuft auf die Behauptung hinaus, die Methodologie sei immer schon gültig gewesen. Die Darwinsche Evolutionstheorie kann auf ihrem Gebiet ebenfalls als vorherrschende Lehre betrachtet werden, denn niemand bezweifelt heute mehr ernsthaft die Evolution aufgrund einer natürlichen Auslese. Aber genau wie bei den anderen drei Strängen werden auch gegen den reinen Darwinismus als eine Erklärung der Erscheinungen der Bio-
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Sphäre zahlreiche und weitverbreitete Einwände erhoben. Viele von ihnen konzentrieren sich auf die Frage, ob die Geschichte der Biosphäre genug Zeit hatte, um eine so enorme Komplexität allein durch natürliche Auslese zu entwickeln. Wir kennen keine andere Theorie, die solchen Einwänden Gewicht verleiht. Eine Ausnahme könnte höchstens die von dem Astronomen Sir Fred Hoyle vertretene Vermutung sein, die komplexen Moleküle, auf denen das Leben beruht, könnten sich im Weltraum gebildet haben. Aber das Entscheidende ist an solchen Einwänden nicht so sehr, daß sie dem Darwinschen Modell widersprechen, als daß sie behaupten, am Entstehungsvorgang der Anpassungen, die wir in der Biosphäre beobachten, bleibe etwas Grundlegendes unerklärt. Der Darwinismus ist als Zirkelschluß getadelt worden, weil er sich auf «das Überleben der Tauglichsten» beruft, während die «Tauglichsten» retrospektiv durch ihre Überlebensfähigkeit definiert werden. Wenn man andererseits eine unabhängige Definition von «Tauglichkeit» zugrunde legt, scheint der Gedanke, daß die Evolution «die Tauglichsten begünstigt», nicht den Tatsachen zu entsprechen. Beispielsweise wäre die intuitivste Definition der biologischen Tauglichkeit einer Art ihre Fähigkeit, in einer bestimmten Nische überleben zu können. So kann man einen Tiger als die Maschine sehen, die am geeignetsten ist, die ökologische Nische zu besetzen, die Tiger besetzen. Die üblichen Gegenbeispiele gegen diese Art des «Überlebens der Tauglichsten» sind Anpassungen wie das Pfauenrad, die das Lebewesen viel weniger geeignet erscheinen lassen, seinen Lebensraum auszunutzen. Solche Einwände untergraben anscheinend die Fähigkeit der Darwinschen Theorie zu erklären, wie der offensichtliche «Plan» (also die Anpassungen) von lebenden Organismen durch das Wirken «blinder» Naturgesetze auf unbelebte Materie ohne den Eingriff eines Planers zustande gekommen sein könnte. Der neuartige Gedanke Richard Dawkins, den er mit bewundernswürdiger Klarheit in seinen Büchern Das egoistische Gen und Der blinde Uhrmacher darstellt, ist die neue alte Behauptung, die vorherrschende Theorie der Evolution sei doch wahr. Dawkins meint, bei sorgfältiger Überprüfung sei keiner der gegenwärtigen Einwände gegen das schlichte
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Darwinsche Modell haltbar, und die Darwinsche Evolutionstheorie erkläre den Ursprung der biologischen Anpassungen. Dawkins führt die Theorie Darwins in ihrer modernen Form als Theorie der Replikatoren weiter. Der Replikator, der sich in einer bestimmten Umwelt am besten replizieren kann, ersetzt schließlich alle Varianten von sich selbst, weil die sich nach Definition weniger gut vermehren. Es überlebt nicht die tauglichste Variante der Art – das hatte Darwin nicht klar erkannt –, sondern die tauglichste Variante des Gens. Eine Folge hiervon ist, daß ein Gen gelegentlich Genvarianten (wie etwa Gene für weniger lästige Pfauenräder) durch Mittel (wie etwa die geschlechtliche Auslese) ersetzt, die nicht ausdrücklich dem Wohl der Art dienen. Aber alle Evolution fördert das «Wohl» (also die Replikation) der sich am besten fortpflanzenden Gene – daher der Begriff «egoistisches Gen». Dawkins setzt sich mit jedem der Einwände genau auseinander und zeigt, daß Darwins Theorie, wenn sie richtig verstanden wird, keine der vermeintlichen Schwächen hat und in der Tat den Ursprung von Anpassungen erklärt. Insbesondere die Dawkinssche Fassung des Darwinismus bildet die im pragmatischen Sinn heute vorherrschende Evolutionstheorie. Und doch wird sie immer noch nicht in das bestimmende Paradigma einbezogen. Viele Biologen und Philosophen haben das quälende Gefühl, in der Erklärung klaffe eine wesentliche Lücke. Ähnlich wie Kuhns Theorie der «wissenschaftlichen Revolutionen» das Poppersche Bild der Naturwissenschaften in Frage stellt, wird das Dawkinssche Bild der Evolution durch eine andere Evolutionstheorie in Frage gestellt. Diese Theorie des punktierten Gleichgewichts besagt, daß sich die Evolution in kurzen Zeiträumen abspielt, zwischen denen lange Perioden liegen, in denen die Veränderungen nicht auf natürlicher Auslese beruhen. Diese Theorie könnte sich sogar schließlich als wahr erweisen. Sie widerspricht der Theorie vom «egoistischen Gen» ebensowenig wie die Poppersche Epistemologie durch die Behauptung widerlegt wird, daß begriffliche Revolutionen nicht alltäglich sind oder daß Wissenschaftler sich oft grundlegenden Neuerungen widersetzen. Aber genau wie bei der Lehre Kuhns zeigt sich in der Art und Weise, wie andere Varianten evolutionärer Szenarien als Lösungen einiger angeblich übersehener Probleme
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der Evolutionstheorie gepriesen werden, wie wenig die von Dawkins Theorie gebotenen Erklärungsmöglichkeiten erkannt werden. Kommen wir auf unser eigentliches Thema zurück: Eine einheitliche Theorie zur Erklärung der Wirklichkeit ist auf der unmittelbarsten Ebene der Betrachtung lediglich die Verkettung der vier beschriebenen Theorien. Wir müssen davon ausgehen, daß sie, trotz aller Widersprüche und Anfechtungen ihrer Gegner die «vorherrschenden Theorien» der jeweiligen Gebiete repräsentieren. Einige der zumindest paarweisen Verknüpfungen zwischen den vier Strängen sind weithin anerkannt. Nicht nur setze ich mich dafür ein, jede der grundlegenden Theorien als Erklärung ihres eigenen Gebiets ernst zu nehmen, sondern ich behaupte, daß sie zusammen eine neue tiefere Erklärung der Wirklichkeit ermöglichen. Ich habe auch behauptet, daß keiner der vier Stränge sich unabhängig von den drei anderen angemessen verstehen läßt. Dies gibt möglicherweise einen Hinweis darauf, warum diese vorherrschenden Theorien immer wieder angezweifelt werden. Allen vier Erklärungen ist eine unschöne Eigenschaft gemeinsam, die gelegentlich als «kalt», «mechanistisch» und «unmenschlich» kritisiert wird. In dem Gefühl, das sich in dieser Kritik zeigt, steckt wohl viel Wahrheit. Wenn beispielsweise einige Forscher die Möglichkeit der künstlichen Intelligenz leugnen und absurderweise bestreiten, daß das Gehirn ein physikalisches Objekt ist, versuchen sie eigentlich nur, eine viel vernünftigere Kritik zu üben. Die Erklärung der Berechnung durch Turing läßt nämlich anscheinend nicht einmal im Prinzip Raum für eine zukünftige physikalische Erklärung geistiger Eigenschaften wie Bewußtsein und freier Wille. Es genügt nicht, wenn die begeisterten Vertreter der künstlichen Intelligenz brüsk erwidern, das Turing-Prinzip garantiere ja, daß ein Computer alles leistet, was ein Gehirn kann. Das trifft natürlich zu, aber es ist eine Antwort in Form einer Vorhersage, während das Problem einer Erklärung bedarf. Es gibt deutliche Hinweise darauf, daß die Vereinheitlichung von Berechnung und Quantenphysik und wahrscheinlich die umfassendere Vereinigung aller vier Stränge für die grundlegenden philosophischen Fortschritte wesentlich sein wird, die eines Tages zum Verständnis des Be-
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wußtseins führen werden. Dies mag paradox erscheinen, legt aber einen Vergleich mit einem ähnlichen Problem aus früherer Zeit an, nämlich dem Problem: Was ist Leben? Dieses Problem wurde von Darwin gelöst. Das Wesentliche an der Lösung war der Gedanke, daß der komplizierte und anscheinend absichtsvolle Plan, der in Lebewesen offensichtlich ist, nicht von Anfang an in die Natur eingebaut ist, sondern sich durch die Anwendung der Naturgesetze ergibt. Die Naturgesetze haben das Aussehen von Elefanten und Pfauen genausowenig festgelegt wie ein Schöpfer. Sie geben die Ergebnisse nicht vor, insbesondere nicht solche, die sich erst herausbilden. Sie bestimmen lediglich die Regeln für die Wechselwirkung von Atomen und anderen Elementarteilchen. Diese Auffassung vom Naturgesetz als Bewegungsgesetz ist relativ neu; wir verdanken sie insbesondere Galilei und in gewisser Weise Newton. Früher hatte man unter einem Naturgesetz eine Regel verstanden, die feststellt, was passiert. Ein Beispiel sind die Keplerschen Gesetze für die Planetenbewegung auf Ellipsenbahnen. Demgegenüber sind die Gesetze Newtons Naturgesetze im modernen Sinn. In ihnen kommen keine Ellipsen vor. Niemand könnte nach Keplers Auffassung des «Naturgesetzes» erklärt haben, was Leben ist. Denn dazu hätte man nach einem Gesetz suchen müssen, das in derselben Weise zu Elefanten führt wie Keplers Gesetze zu Ellipsen führen. Aber Darwin konnte darüber staunen, daß Naturgesetze, die Elefanten überhaupt nicht erwähnen, sie trotzdem erzeugen, genau wie Newtons Gesetze Ellipsen erzeugen, ohne sie zu erwähnen. Obwohl Darwin keines der Newtonschen Gesetze explizit benutzte, wäre seine Entdeckung ohne das diesen Gesetzen zugrundeliegende Weltbild unvorstellbar. In diesem Sinn erwarte ich, daß die Lösung des Problems: Was ist Bewußtsein? von der Quantentheorie abhängen wird. Sie wird sich nicht auf spezielle quantenmechanische Vorgänge berufen, aber sie wird entscheidend vom quantenmechanischen und besonders vom multiversalen Weltbild abhängen. Womit können wir dies belegen? Obwohl wir nicht wissen, was Bewußtsein ist, ist es offensichtlich eng mit dem Wachstum und der Darstellung von Wissen im Gehirn verknüpft. Wir werden deshalb Bewußtsein höchstwahrscheinlich erst dann als einen physikalischen Vorgang erklären können, wenn wir Wissen im Rahmen physikalischer Begriffe
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verstehen. Eine solche Erklärung hat sich der klassischen Theorie der Berechnung entzogen. Aber wie schon gesagt, bietet die Quantentheorie dafür eine gute Grundlage: Wissen läßt sich als Komplexität verstehen, die sich über sehr viele Universen erstreckt. Eine andere Eigenschaft des Geistes, die gelegentlich mit Bewußtsein in Zusammenhang gebracht wird, ist der freie Wille. Auch dieser Begriff läßt sich im Rahmen des klassischen Weltbildes nur schwer verstehen. Die Schwierigkeit, den freien Willen mit der Physik zu vereinbaren, wird oft auf den Determinismus zurückgeführt. Aber nicht der Determinismus ist schuld, sondern der klassische Begriff der Raumzeit. In der Raumzeit passiert in jedem einzelnen Augenblick meiner Zukunft etwas mit mir. Selbst wenn das, was passiert, unvorhersagbar ist, ist es schon im entsprechenden Raumzeitabschnitt vorhanden. Es ist sinnlos zu sagen, ich könnte das, was auf diesem Abschnitt ist, «verändern». Die Raumzeit verändert sich nicht. Deshalb kann man in der RaumzeitPhysik nicht von Ursachen, Wirkungen, der Offenheit der Zukunft oder vom freien Willen sprechen. Wenn man die deterministischen Bewegungsgesetze also durch indeterministische (zufällige) ersetzte, würde das zur Lösung des Problems des freien Willens nichts beitragen, solange es klassische Gesetze sind. Freiheit hat nichts mit Zufälligkeit zu tun. Wir schätzen unseren freien Willen als die Fähigkeit, in unseren Handlungen zu zeigen, wer wir als Individuen sind. Wer will schon zufällig sein! Was wir als unsere freien Handlungen sehen, sind nicht jene, die zufällig oder indeterminiert sind, sondern jene, die größtenteils durch das bestimmt sind, was wir sind und was wir denken und was zur Debatte steht. Man betrachte diese typische Aussage, die sich auf den freien Willen bezieht: «Nach sorgfältigem Nachdenken habe ich mich entschlossen, X zu tun. Ich hätte nicht anders entscheiden können. Es war die richtige Entscheidung. Es fällt mir leicht, solche Entscheidungen zu treffen.» In jedem klassischen Weltbild ist diese Aussage reines Kauderwelsch. Im multiversalen Bild hat sie eine direkte physikalische Übersetzung, wie Abbildung 32 zeigt. Turings Begriff der Berechnung ist also anscheinend nicht ohne jeden Zusammenhang mit menschlichen Werten und stellt für das Verstand-
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Abb. 32 Physikalische Übersetzung einiger Aussagen, die sich auf den freien Willen beziehen.
nis menschlicher Eigenschaften wie den freien Willen kein Hindernis dar, wenn er in multiversalem Zusammenhang gesehen wird. Dasselbe gilt auch für Everetts Theorie. Oberflächlich betrachtet ist der Preis für das Verständnis von Interferenzphänomenen, daß viele philosophische Probleme geschaffen oder verschärft werden. Aber hier und in vielen anderen Beispielen, die wir in diesem Buch gegeben haben, sehen wir, daß das genaue Gegenteil der Fall ist. Die Theorie des Multiversums trägt soviel zur Lösung bislang ungelöster philosophischer Probleme bei, daß sie es wert wäre, selbst dann übernommen zu werden, wenn keine physikalischen Hinweise dafür sprechen würden. Tatsächlich forderte der Philosoph David Lewis in seinem Buch On the Plurality of Worlds die Existenz eines Multiversums allein aus philosophischen Gründen. Kehren wir zur Evolutionstheorie zurück; auch da kann ich jenen Kritikern der Darwinschen Evolutionstheorie ein wenig folgen, denen es »unwahrscheinlich« erscheint, daß sich in der zur Verfügung stehenden Zeit solche komplizierten Anpassungen entwickelt haben sollten. Einer von Dawkins Gegnern, Fred Hoyle, möchte, daß wir so überrascht sind von der Biosphäre, wie wir es wären, wenn ein Wirbelsturm über einen Schrottplatz hinwegfegt und die Einzelteile zu einer funktionierenden Boeing 747 zusammensetzt. Oberflächlich gesehen ver-
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gleicht Hoyle damit einen Vorgang, der sich nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum planetenweit über Milliarden von Jahren hinweg abspielte, mit einem «zufälligen Zusammentreffen». Damit geht gerade das verloren, was an der Erklärung, die die Evolution liefert, entscheidend ist. Aber ist Dawkins genau entgegengesetzte Sicht eine ausreichende und angemessene Erklärung? Dawkins meint, wir sollten uns nicht zu sehr darüber wundern, daß komplexe Anpassungen spontan entstanden sind. Er behauptet, mit anderen Worten, daß seine Theorie eines «egoistischen Gens» bestimmte Anpassungen zwar nicht im einzelnen erklären kann, wohl aber vollständig Aufschluß darüber gibt, wie solche komplexen Anpassungen überhaupt entstehen konnten. Aber die Erklärung ist nicht vollständig. Allein die Tatsache, daß physikalische Freiheitsgrade Information speichern können, daß sie miteinander wechselwirken können, um Information zu übermitteln und zu replizieren, und daß solche Prozesse stabil sind, hängen von den Einzelheiten der Quantentheorie ab. Außerdem ist die Existenz hoch adaptierter Replikatoren an die physikalische Verwirklichung von Wirklichkeitssimulatoren und an Universalität gebunden, die sich wiederum als Folgen eines tiefen Prinzips, des Turing-Prinzips, verstehen lassen, das die Physik und die Theorie der Berechnung verknüpft und sich nicht explizit auf Replikatoren, Evolution oder Biologie bezieht. Ähnlich fragen sich Kritiker der Popperschen Erkenntnistheorie, warum sich die wissenschaftliche Methode bewährt, und dies bringt sie dazu, nach einem Induktionsprinzip oder ähnlichem zu suchen. Wenn wir erst einmal verstehen, daß das Wachstum menschlichen Wissens ein physikalischer Vorgang ist, sehen wir, daß die Epistemologie eine Theorie der (emergenten) Physik ist. Sie ist eine faktische Theorie, die nach den Umständen fragt, unter denen eine bestimmte physikalische Größe (Wissen) zunimmt oder nicht. Die faktische Substanz dieser Theorie wird größtenteils akzeptiert. Aber wir können eine Erklärung unmöglich allein im Rahmen der Popperschen Epistemologie finden. Die Erklärung muß auch die Quantenphysik, das Turing-Prinzip und, wie Popper selbst betonte, die Evolutionstheorie einbeziehen. Wenn sie alle gemeinsam gesehen werden, als eine Möglichkeit einer Physik der Welterkenntnis, verlieren sie auch ihre kalten und mecha-
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nistischen Züge. Weit davon entfernt, den Sinn des Lebens zu zerstören, menschliche Werte in einem Zusammenhang zu sehen, in dem sie trivial und unbedeutend sind, weit davon entfernt, pessimistisch zu sein, ist diese Weltsicht im Grunde eine optimistische. Sie rückt den menschlichen Geist in die Mitte des physikalischen Universums und sieht Erklärung und Verständnis als die eigentlichen Ziele. Es wird keinen Mangel an Rivalen geben, wenn wir diese vereinheitlichte Theorie zur Erklärung der Wirklichkeit ernst nehmen und mit ihrer Weiterentwicklung beginnen. Es ist Zeit, Fortschritte zu machen.
13 Am Ende des Universums Die Geschichte hat keinen Zweck, aber wir können ihr einen geben. Karl Popper Als mir auf meiner Suche nach den Begründungen der Quantentheorie die Verbindungen zwischen Quantenphysik, Berechnung und Epistemologie bewußt wurden, erkannte ich darin einen weiteren Beleg für den in der Geschichte immer wieder zu beobachtenden Vorgang, daß sich die Physik Wissensgebiete einverleibt, zwischen denen man zuvor keinerlei Beziehung gesehen hatte. Beispielsweise wurde die Astronomie im Lauf der Jahrhunderte als Astrophysik ganz von der Physik absorbiert, nachdem Newtons Gesetze sie mit der irdischen Physik verknüpft hatte. Durch Faradays Entdeckungen in der Elektrochemie wurde die Chemie zu einer Verwandten der Physik, und allein aufgrund der Gesetze der Physik kann die Quantentheorie für einen bemerkenswert großen Teil der Grundlagenchemie Vorhersagen machen. Einsteins allgemeine Relativitätstheorie nahm die Geometrie in sich auf, befreite sowohl die Kosmologie als auch die Theorie der Zeit von ihrem zuvor rein philosophischen Status und machte auch sie zu einem vollwertigen Teil der Physik. Damals, als ich bemerkte, wie sich die Quantenphysik nicht nur die Theorie der Berechnung, sondern ausgerechnet auch die (früher als Metamathematik bezeichnete) Beweistheorie zu eigen gemacht hat, schien mir das zweierlei zu belegen: Erstens weist menschliches Wissen insgesamt weiter die einheitliche Struktur auf, die es haben muß, wenn es in dem
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von uns erhofften Sinn verstehbar sein soll, und zweitens besteht die einheitliche Struktur selbst aus einer immer tieferen und umfassenderen Theorie der Grundlagenphysik. Vielleicht haben Sie bemerkt, daß ich meine Meinung zum zweiten Punkt ein wenig geändert habe. Unser heutiges Verständnis für das Gewebe der Wirklichkeit beruht nicht allein auf der Grundlagenphysik. Die Quantentheorie der Berechnung wurde beispielsweise nicht allein aus den Prinzipien der Berechnung der Quantenphysik hergeleitet. Das Turing-Prinzip war schon unter dem Namen Church-Turing-Vermutung die Grundlage der Theorie der Berechnung. Auch wenn es in der Physik niemals Anwendung gefunden hat, erwies es sich doch als ein tiefes physikalisches Prinzip, das auf gleicher Stufe mit dem Prinzip von der Energieerhaltung und den anderen Gesetzen der Thermodynamik steht. Es erlegt eine Einschränkung auf, die, so weit wir wissen, für alle Theorien gilt. Aber anders als alle früheren Naturgesetze ist es ein zum Teil emergentes Phänomen; es bezieht sich unmittelbar auf die Eigenschaften komplexer Maschinen und nur mittelbar auf subatomare Dinge und Vorgänge. Wir verstehen jetzt Wissen und Anpassung als Komplexität, die sich über sehr viele Universen erstreckt. Dann sollten sich die Grundsätze der Epistemologie und Evolution unmittelbar als Gesetze über die Struktur des Multiversums formulieren lassen. Auch diese Grundsätze sind Naturgesetze, aber emergenter Art. Zugegeben, die Theorie der Quantenkomplexität hat noch nicht den Punkt erreicht, an dem sie den Gedanken physikalisch fassen kann, daß Wissen nur in Situationen zunimmt, die dem Popperschen Muster entsprechen. Aber gerade eine solche These wird meiner Meinung nach Teil der sich jetzt abzeichnenden Theorie für Alles sein, der einheitlichen erklärenden und vorhersagenden Theorie, die die Wirklichkeit umfassend erklären wird. Dann aber kann meine frühere Sicht, wonach die Quantenphysik die anderen drei Stränge in sich enthält, nicht die objektive Wahrheit sein. Sie stellt lediglich die enge Sichtweise eines Physikers dar und ist vielleicht reduktionistisch gefärbt. In der Tat ist jeder der anderen drei Stränge umfassend genug, eigenständige Grundlage einer Weltanschauung zu sein, ähnlich wie die Grundlagenphysik die Grundlage der Welt-
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anschauung eines Reduktionisten bildet. Richard Dawkins meint, ein uns überlegenes extraterrestrisches Wesens würde bei einem Besuch auf der Erde als erstes fragen: «Haben sie schon die Evolution entdeckt?» Viele Philosophen sind mit René Descartes darin einig, daß die Grundlage allen Wissens die Epistemologie ist und das cogito ergo sum unsere grundlegendste Erklärung darstellt. Viele Computerwissenschaften sind so beeindruckt von den kürzlich entdeckten Zusammenhängen zwischen Physik und Berechnung, daß sie das Universum fik einen Computer halten und die Gesetze der Physik für darauf ablaufende Programme. Aber all dieses sind unangemessene Sichtweisen der Wirklichkeit. Objektiv gesehen hat die neue Synthese einen ganz eigenen Charakter, und der ist ganz anders als der jedes der vier Stränge. Die grundlegenden Theorien der vier Stränge sind teilweise zu Recht als «mechanistisch» und «kalt» kritisiert worden. So ist die Menschheit aus Sicht des reduktionistischen Physikers Stephen Hawking lediglich chemischer Schaum auf einem mittelgroßen Planeten. Steven Weinberg sagt, das Universum erscheine um so sinnloser, je begreiflicher es uns wird. «Doch wenn die Früchte unserer Forschung uns keinen Trost spenden, finden wir zumindest eine gewisse Ermutigung in der Forschung selbst.» Alle Leser jedoch, die nicht mit Grundlagenphysik befaßt sind, müssen sich fragen, warum. Der Computerwissenschaftler Tomasso Toffoli meinte einmal: «Wir führen niemals selbst eine Computerrechnung durch, sondern wir hängen uns einfach an die große Berechnung an, die schon im Gang ist.» Für ihn ist das kein Grund zur Verzweiflung – ganz im Gegenteil. Kritiker dieser Sichtweise aber sehen sich nicht gern als ein Programm, das von jemandem geschrieben wurde, der es auf dem Computer eines anderen ablaufen läßt. Die enggefaßte Evolutionstheorie betrachtet uns als reine «Werkzeuge» zur Replikation unserer Gene oder Meme; sie sagt nichts darüber aus, warum die Evolution zur Schaffung immer größerer adaptiver Komplexität neigt. Ähnlich kritisieren die Induktivisten an Poppers Epistemologie, daß sie die Bedingungen für das Wachstum wissenschaftlicher Erkenntnis angibt, nicht jedoch erklärt, warum die sich daraus ergebenden Theorien wert sind, Grundlage des Handelns zu sein.
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Wie schon gesagt ist die Rechtfertigung in jedem Fall auf Erklärungen aus anderen Strängen angewiesen. Wir sind nicht nur «chemischer Schaum», weil das Verhalten unseres Planeten, der Sterne und Galaxien insgesamt von einer emergenten, aber grundlegenden physikalischen Größe abhängt, nämlich dem in diesem Schaum steckenden Wissen. Die Schaffung nützlichen Wissens durch die Naturwissenschaft und die Anpassungen aufgrund der Evolution müssen als Emergenz der Selbstähnlichkeit gesehen werden, wie es das Turing-Prinzip, ein physikalisches Prinzip, fordert und so weiter. Das Problem ist also, daß jede einzelne dieser Theorien in einem verallgemeinerten Sinn reduktionistisch ist, wenn sie zur Grundlage einer Weltanschauung gemacht wird. Ihre Erklärungsstruktur ist monolithisch, denn alles folgt aus einigen wenigen äußerst tiefen Gedanken. Das läßt jedoch einige Aspekte des Themas völlig unerklärt. Im Gegensatz dazu ist die Erklärungsstruktur, die die Theorien gemeinsam für die Wirklichkeit liefern, nicht hierarchisch. Jeder der vier Stränge enthält Grundsätze, die aus der Perspektive der anderen drei «emergent» sind, sie aber trotzdem erklären helfen. Drei der vier Stränge schließen Menschen und menschliche Werte von der Erklärungsebene aus. Der vierte, die Epistemologie, sieht Wissen als primär an, ohne jedoch einen Grund anzugeben, warum diese Erkenntnistheorie für etwas anderes wichtig sein könnte als für die Psychologie von uns Menschen. Sie scheint eine sehr engstirnige Auffassung zu sein, bis wir Wissen aus multiversaler Sicht betrachten. Wenn aber Wissen von grundlegender Bedeutung ist, könnten wir fragen, welche Rolle Wesen wie wir, die Wissen schaffen, im vereinheitlichten Gewebe dieser umfassenden Wirklichkeit spielen. Diese Frage wurde von dem Kosmologen Frank Tipler untersucht. Seine Antwort, die Omegapunkt-Theorie, ist ein ausgezeichnetes Beispiel für eine Theorie, bei der es, wie in unserem Buch auch, um die Wirklichkeit in einem umfassenden Sinn geht. Sie wird nicht innerhalb eines einzigen Strangs formuliert, sondern gehört irreduzierbar zu allen vieren. Tipler selbst leitet in seinem bekannten Buch Die Physik der Unsterblichkeit aus seiner Theorie etwas übertriebene Forderungen ab, die viele Wissenschaftler und Philosophen verärgert haben. Deshalb wurde sie vernachlässigt und unterschätzt.
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Man erhält den Zugang zur Theorie des Omegapunkts am einfachsten über das Turing-Prinzip, das ja einen universellen Wirklichkeitssimulator für physikalisch möglich hält. Da eine solche Maschine jede physikalisch mögliche Umwelt und auch gewisse hypothetische und abstrakte Größen mit jeder gewünschten Genauigkeit simulieren kann, benötigt der Computer potentiell unbegrenzt viel Speicherraum und muß unbegrenzt viele Schritte zurücklegen können. Dies ließ sich im Rahmen der klassischen Theorie leicht erreichen, solange der universelle Computer rein abstrakt gedacht wurde. Turing forderte einfach ein unendlich langes Speicherband, eine genaue und wartungsfreie Verarbeitungseinheit und unbegrenzt viel verfügbare Zeit. Die periodische Instandhaltung stellt kein grundsätzliches Problem dar, aber die beiden anderen Anforderungen sind im Licht der heutigen kosmologischen Theorie problematisch. In einigen gängigen kosmologischen Modellen fällt das räumlich endliche Universum nach einer endlichen Zeit in einem «Endkollaps» zusammen. Es hat die Geometrie einer «3-Kugel», dem dreidimensionalen Analogon zur Oberfläche einer Kugel. Oberflächlich gesehen begrenzt eine solche Kosmologie sowohl die Speicherfähigkeit als auch die Anzahl der Verarbeitungsschritte, die die Maschine durchführen kann, bevor das Universum endet. Dann ist ein universeller Computer physikalisch unmöglich, und das verletzt das Turing-Prinzip. In anderen kosmologischen Modellen breitet sich das Universum immer weiter aus und ist räumlich unendlich, womit jedenfalls garantiert zu sein scheint, daß es genug Materie für den Bau von immer mehr Speicherraum gibt. Leider nimmt in den meisten dieser Modelle die Dichte der dem Computer zur Verfügung stehenden Energie mit der Ausdehnung des Weltalls ab; die Energie müßte dann aus immer weiteren Fernen herbeigeholt werden. Weil der Geschwindigkeit mit der Lichtgeschwindigkeit eine absolute Grenze gesetzt ist, verlangsamt sich der Zugang zum Computerspeicher, und wieder lassen sich insgesamt nur endlich viele Rechenschritte machen. Die entscheidende Entdeckung der Omegapunkt-Theorie ist, daß es eine Klasse kosmologischer Modelle gibt, in der die Speicherfähigkeit und die Anzahl der möglichen Rechenschritte unbegrenzt sind, obwohl das Universum räumlich und zeitlich endlich ist. Dieses scheinbare Un-
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mögliche wird möglich, weil die letzten Augenblicke des Zusammenfalls des Universums im «Endkollaps» so extrem heftig sind. Singularitäten der Raumzeit, wie Urknall und Endkollaps, sind wohl kaum geruhsame Vorgänge, aber dieser Kollaps ist viel schlimmer als alle anderen. Das Weltall wird von einer 3-Kugel zum Analogon eines Ellipsoids. Die Verformung würde zunächst stärker, dann geringer, und dann um eine andere Achse herum noch rascher noch stärker. Sowohl die Amplitude als auch die Frequenz dieser Schwingungen würden mit der Annäherung an die letzte Singularität grenzenlos zunehmen, so daß es zu unendlich vielen Schwingungen kommt, obwohl die Zeit bis zum Ende endlich ist. Das kann die uns bekannte Materie nicht überleben: Die gravitationalen Scherkräfte der deformierten Raumzeit würde selbst Atome zermalmen. Diese Scherkräfte liefern aber auch unbegrenzt viel Energie, die im Prinzip zum Antrieb eines Computers dienen könnte. Wie aber könnte es unter solchen Bedingungen einen Computer geben? Als Baumaterial gäbe es nur die Schwerkraft und Elementarteilchen, die dann vermutlich in höchst ausgefallenen Quantenzuständen wären, deren Existenz wir, da uns noch eine angemessene Theorie der Quantengravitation fehlt, zur Zeit weder bestätigen noch widerlegen können – denn natürlich ist jede experimentelle Beobachtung ausgeschlossen. Geeignete Teilchenzustände und ein Gravitationsfeld könnten auch unbegrenzte Speicherfähigkeit gewährleisten, und weil das Universum so rasch schrumpft, sind in dem endlichen Zeitraum vor dem Ende unendlich viele Speicherzugänge vorstellbar. Tipler nennt den Endpunkt des Gravitationszerfalls, den «Endkollaps» dieser Kosmologie, den Omegapunkt. Die Überlegungen gehen noch weiter, und wir wollen nun eigene Gedanken formulieren, die sich von denen Tiplers ein wenig unterscheiden: Wir setzen das Turing-Prinzip als wahr voraus. Wenn dann (unter plausiblen Annahmen) nur eine Omegapunkt-Kosmologie unendlich viele Rechenschritte zuläßt, können wir folgern, daß unsere tatsächliche Raumzeit die Form eines Omegapunkts haben muß. Da alle Berechnung sofort aufhören muß, wenn es keine Information übermittelnde Zustände mehr gibt, müssen die nötigen Quantengravitationszustände bis hin zum Omegapunkt wirklich existieren.
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Skeptiker könnten behaupten, daß diese Art der Überlegung eine starke und ungerechtfertigte Extrapolation enthält. Wir haben «universelle» Computer nur in einer für sie sehr vorteilhaften Umwelt erlebt, die auch nicht im geringsten den Endstufen des Universums ähnelt, und wir haben sie nur endlich viele Rechenschritte durchführen sehen, für die sie endlich viel Speicherraum brauchten. Wieso ist es dann zulässig, diese endlichen Zahlen ins Unendliche zu extrapolieren? Wie können wir wissen, daß das Turing-Prinzip in seiner starken Form zutrifft? Welche Belege gibt es dafür, daß die Wirklichkeit mehr als nur näherungsweise Universalität zuläßt? Was eine «Extrapolation» ist oder nicht, hängt davon ab, von welcher Theorie man ausgeht. Wenn man mit einem vagen, aber engen Begriff dessen beginnt, was in bezug auf die Möglichkeiten der Berechnung «normal» ist, und die besten zur Verfügung stehenden Erklärungen unberücksichtigt läßt, wird man jede Anwendung der Theorie außerhalb vertrauter Umstände als «ungerechtfertigte Extrapolation» sehen. Wenn man aber mit Erklärungen beginnt, die auf der besten zur Verfügung stehenden Theorie beruhen, hält man schon den Gedanken, daß in extremen Situation eine nebulöse «Normalität» gilt, für eine absurde Extrapolation. Wenn wir unsere Theorien verstehen wollen, müssen wir sie ernstnehmen, indem wir sie als Erklärungen der Wirklichkeit und nicht lediglich als Zusammenfassung existierender Beobachtungen sehen. Zur Begründung der Berechnung haben wir keine bessere Theorie als das Turing-Prinzip. Natürlich wurde es nur in endlich vielen Fällen bestätigt. Das gilt für jede naturwissenschaftliche Theorie. Es gibt immer die logische Möglichkeit, daß die Universalität nur näherungsweise gilt, aber ein «Prinzip der näherungsweisen Universalität» könnte nichts erklären. Die Annahme, am Ende des Universums gelte das volle Turing-Prinzip, wird also dadurch gerechtfertigt, daß jede andere Annahme gute Erklärungen für das, was jetzt und hier geschieht, zunichte macht. Nun stellt sich heraus, daß Raumschwingungen, die zu einem Omegapunkt führen, nicht nur heftig, sondern auch sehr instabil sind. Ihre Instabilität und Heftigkeit nehmen unbegrenzt zu, je näher sie dem Omegapunkt kommen. Eine kleine Abweichung von der richtigen Form würde so rasch anwachsen, daß die Bedingungen für die Berechnungen ver-
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letzt würden, deshalb käme es schon nach endlich vielen Schritten zum Endkollaps. Um deshalb das Turing-Prinzip zu befriedigen und einen Omegapunkt zu erreichen, müßte das Universum immer wieder auf die richtigen Bahnen «gelenkt» werden. Tipler hat im Prinzip gezeigt, wie sich das durch Manipulation des Gravitationsfelds über den ganzen Raum hinweg erreichen ließe. Mutmaßlich (wieder würden wir eine Quantentheorie der Gravitation brauchen, um sicher zu sein) würde die Technik, die zur Stabilisierung der Mechanismen und zum Speichern von Information verwendet wird, immer, sogar unendlich oft, verbessert werden, während die Dichte und die Belastungen grenzenlos anwachsen. Dies würde die fortwährende Erschaffung neuen Wissens erfordern, was, wie uns Poppers Epistemologie sagt, immer aufs neue vernünftige Kritik nötig macht. Wir folgern deshalb aus dem Turing-Prinzip und einigen anderen unabhängig davon zu rechtfertigenden Annahmen, daß Intelligenz überlebt und bis ans Ende der Welt Wissen neu erschaffen wird. Die Stabilisierungsprozesse und die damit einhergehende Erschaffung von Wissen werden immer schneller ablaufen müssen, bis es im Endspurt in endlichen Zeiträumen unendlich viele sind. Wir kennen keinen Grund, warum dafür nicht ausreichend viele physikalische Ressourcen zur Verfügung stehen sollten, aber man könnte sich fragen, warum die Bewohner der Welt sich soviel Mühe machen sollten. Warum sollten sie die Gravitationsschwingungen des Weltalls beispielsweise auch in der letzten Sekunde des Universums noch sorgfältig regulieren? Warum sollte man sich, wenn man nur noch eine Sekunde zu leben hat, nicht zurücklehnen und es sich endlich einmal gut gehen lassen? Aber das ist natürlich eine Verzerrung der Lage, wie sie kaum schlimmer sein kann. Denn der Verstand dieser Menschen wird in Form von Computerprogrammen in Computern ablaufen, deren physikalische Geschwindigkeit grenzenlos zunimmt. Wie unsere Gedanken werden auch ihre Gedanken von Computern simuliert werden. Sicher, am Ende dieser letzten Sekunde wird der ganze raffinierte Mechanismus zerstört werden. Aber wir wissen, daß die subjektive Dauer einer virtuellen Erfahrung der Wirklichkeit nicht durch die verstrichene Zeit bestimmt wird, sondern durch die Berechnungen, die in dieser Zeit durchgeführt wer-
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den. Wenn unendlich viele Rechnungen durchgeführt werden, reicht die Zeit für unendlich viele Gedanken. Denker können sich also in jede beliebige virtuelle Umgebung hineindenken und sie beliebig lange erfahren. Wenn ihnen ihre Welt langweilig wird, können sie auf alle möglichen anderen Umwelten umschalten. Subjektiv fühlen sie sich nicht im Endstadium ihres Lebens, sondern am Anfang. Sie brauchen sich nicht zu beeilen, denn subjektiv werden sie ewig leben. In einer Sekunde oder einer Mikrosekunde erleben sie mehr, tun sie mehr, schaffen sie mehr – unendlich viel mehr – als irgend jemand je zuvor. Sie haben also allen Grund, dem Umgang mit ihren Ressourcen einige Aufmerksamkeit zu widmen. Damit bereiten sie lediglich ihre eigene Zukunft vor, eine offene unendliche Zukunft, die sie völlig kontrollieren und auf die sie sich zu jedem bestimmten Zeitpunkt gerade erst einlassen. Es ist eine angenehme Vorstellung, daß die Intelligenz am Omegapunkt aus unseren Nachfahren besteht. Damit meinen wir unsere intellektuellen Nachfahren, denn unsere heutigen Körper können in der Nähe des Omegapunkts nicht überleben. In einem gewissen Stadium werden Menschen die Computerprogramme, die ihren Geist verkörpern, in widerstandsfähigere Hardware umwandeln müssen – und das schließlich sogar unendlich oft. Die Mechanik, die das Universum an den Omegapunkt «steuert», muß überall im Weltraum ansetzen. Deshalb muß sich die Intelligenz rechtzeitig über das Universum ausbreiten, um die nötigen Anpassungen vornehmen zu können. Diese Frist ist, wie Tipler zeigte, eine von vielen, die wir einhalten müssen – und Tipler zeigte auch, daß ihre Einhaltung nach dem Stand unseres heutigen Wissens physikalisch möglich ist. Der erste Termin steht in etwa fünf Milliarden Jahren an, wenn die Sonne, falls sie sich selbst überlassen bleibt, explodieren und uns auslöschen wird. Wir müssen vorher lernen, die Sonne zu kontrollieren oder ihr zu entkommen. Dazu müssen wir zunächst die Galaxis und anschließend den lokalen Galaxienhaufen und endlich das ganze Universum kolonisieren. Wir müssen all dies bald genug tun, um die Frist einzuhalten, dürfen aber auch nicht so rasch vorgehen, daß alle Ressourcen aufgebraucht sind, bevor die nächste Stufe der Technologie entwickelt wurde.
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Wir «müssen» all dieses tun, aber das «Müssen» gilt nur unter der Annahme, daß wir die Vorfahren der Intelligenz am Omegapunkt sind. Wir müssen diese Rolle nicht übernehmen, wenn wir es nicht wollen. Wenn das Turing-Prinzip wahr ist, können wir sicher sein, daß dann jemand anders (vermutlich eine außerirdische Intelligenz) sie übernehmen wird. Inzwischen stehen unsere Entsprechungen in parallelen Universen vor denselben Entscheidungen. Werden sie alle Erfolg haben? Oder wird, anders gesagt, irgend jemand notwendigerweise Erfolg damit haben, in unserem Universum einen Omegapunkt zu schaffen? Dies hängt von den Einzelheiten des Turing-Prinzips ab. Es besagt, daß ein universaler Computer physikalisch möglich ist, und «möglich» bedeutet gewöhnlich «in diesem oder einem anderen Universum wirklich». Erfordert das Prinzip, daß in allen Universen ein universeller Computer gebaut wird oder nur in einigen – oder vielleicht in den «meisten»? Wir verstehen das Prinzip noch nicht gut genug, um das zu entscheiden. Einige physikalische Prinzipien, etwa der Energieerhaltungssatz, gelten nur in einer Gruppe von Universen und können unter gewissen Umständen in einzelnen Universen verletzt sein. Andere, wie etwa das Prinzip der Ladungserhaltung, gelten in aller Strenge in jedem Universum. Die beiden einfachsten Fassungen des Turing-Prinzips wären, daß es (1) in allen Universen einen universellen Computer gibt oder (2) daß es zumindest in einigen Universen einen universellen Computer gibt. Die Fassung mit «allen Universen» scheint sehr stark, wenn nur gesagt werden soll, daß ein Computer physikalisch möglich ist. Aber «zumindest in einigen Universen» scheint zu schwach zu sein, weil die Universalität ihre erklärende Kraft verliert, wenn sie nur in sehr wenigen Universen gilt. Eine Fassung jedoch, die etwas über die meisten Universen aussagt, würde voraussetzen, daß das Prinzip einen bestimmten Prozentsatz, etwa 85 Prozent, festlegt, und das ist sehr unwahrscheinlich. Deshalb entscheidet sich Tipler für alle Universen, und dies ist die natürlichste Wahl, wenn wir bedenken, wie wenig wir wissen. Das also ist die Aussage der strengen Fassung der Omegapunkt-Theorie. In drei der vier Stränge hätten wir von mehreren Ausgangspunkten aus zu derselben Schlußfolgerung kommen können. Ein solcher Aus-
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gangspunkt ist das epistemologische Prinzip von der Verstehbarkeit der Natur. Auch dieses Prinzip läßt sich unabhängig rechtfertigen, insofern es Poppers Epistemologie unterliegt. Aber seine Formulierungen sind zu vage, als daß man kategorische Schlüsse beispielsweise über die Unbeschränktheit physikalischer Formen des Wissens ziehen könnte. Deshalb ziehe ich es vor, sie nicht zu postulieren, sondern aus dem TuringPrinzip zu folgern. Tipler selbst beruft sich entweder darauf, daß das Leben immer weitergeht, oder darauf, daß die Informationsverarbeitung immer weitergeht. Aus unserer Sicht ist keines dieser Postulate grundlegend. Das Turing-Prinzip hat den Vorteil, daß es aus Gründen, die nichts mit der Kosmologie zu tun haben, als Grundprinzip gilt. Wie Tipler ausführt, beschäftigt sich die Kosmologie traditionell vor allem mit der Vergangenheit, mit den allerersten Augenblicken der Raumzeit. Nun liegt jedoch der größte Teil der Raumzeit in der Zukunft der jetzigen Zeit. Die herkömmliche Kosmologie hat die Frage erörtert, ob das Weltall kollabieren wird oder nicht. Davon abgesehen aber ist der größere Teil der Raumzeit, die Zukunft, theoretisch noch sehr wenig erforscht. Insbesondere hat das, was zum Endkollaps führt, viel weniger Beachtung gefunden als die Auswirkungen des Urknalls. Tipler meint, die Omegapunkt-Theorie könne diese Lücke in der Kosmologie füllen. Ich glaube, daß die Omegapunkt-Theorie es verdient, die vorherrschende Theorie der Zukunft der Raumzeit zu werden, bis sie experimentell widerlegt wird. Eine Widerlegung ist möglich, weil die Existenz eines Omegapunkts in unserer Zukunft dem heutigen Universum gewisse Einschränkungen auferlegt. Nachdem Tipler die Omegapunkt-Theorie geschildert hat, macht er einige zusätzliche, mehr oder weniger plausible Annahmen, die es ihm erlauben, die Zukunft genauer zu beschreiben. Diese Annahmen und die sich seiner Meinung nach daraus ergebende Weiterentwicklung brachten ihn jedoch in Schwierigkeiten. Nach Tipler wird unendlich viel Geschichte geschaffen sein, wenn der Omegapunkt erreicht ist. Die Intelligenzen werden dann genau wie wir über das zu ihrem Überleben notwendige Wissen hinaus weiteres Wissen schaffen wollen (oder vielleicht auch müssen). Sie haben sogar das Potential, alles zu wissen, was physikalisch gewußt werden kann, und werden, wie Tipler annimmt.
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ihr Potential auch verwirklichen. Sie werden also letztlich in gewissem Sinn allwissend sein. Tipler verwendet diesen theologischen Ausdruck aus einem Grund, der gleich klar werden wird. Der Omegapunkt wird nicht alles wissen. Die allermeisten abstrakten Wahrheiten, wie CGTUmwelten und ähnliches, werden ihm so unzugänglich sein wie sie es für uns sind. Außerdem wird der intelligente Computer allgegenwärtig sein (wenn auch erst nach einem bestimmten Datum), da er den ganzen Raum erfüllt. Weil er sich immer wieder neu aufbaut und den Gravitationskollaps steuert, kann man sagen, er beherrsche alles, was im materiellen Universum (oder im Multiversum, wenn sich das Phänomen des Omegapunkts in allen Universen einstellt) passiert. Deshalb also, sagt Tipler, wird er allmächtig sein. Da die Intelligenzen im Computer kreative Denker sein werden, kann man sie als «Personen» oder auch, falls sie hinreichend gut integriert sind, als eine «Person» klassifizieren. Und so gibt es im Grenzwert des Omegapunkts eine allwissende, allmächtige allgegenwärtige Person. Diese Person setzt Tipler mit Gott gleich. Dieser «Gott» unterscheidet sich in vieler Hinsicht von dem Gott, an den fromme Menschen glauben. Er hat die Naturgesetze nicht erfunden und könnte sie selbst dann nicht ändern, wenn er das wollte. Er kann (heute) nicht zu uns sprechen, uns irgendwelche Informationen vermitteln oder Wunder vollbringen. Er hört vielleicht, was wir heute beten (vielleicht durch Verstärkung schwacher Signale), aber er schweigt. Er ist ein Gegner des Glaubens und wünscht keinen Gottesdienst. Aber Tipler geht darüber hinaus und schreibt dem Omegapunkt die Eigenschaften zu, die er für die wesentlichen Eigenschaften des jüdisch-christlichen Gottes hält. Die meisten religiösen Menschen haben vermutlich eine andere Meinung darüber, was für ihre Religion wesentlich ist als Tipler. Vielleicht irren sie sich, vielleicht haben sie Recht. Niemand kann dies entscheiden. Insbesondere weist Tipler darauf hin, daß eine hinreichend fortgeschrittene Technologie eine Auferstehung der Toten ermöglicht. Dafür sind mehrere Möglichkeiten denkbar. Am einfachsten wäre wohl die folgende: Wenn die Technologie über genügend Computerleistung verfügt (und man bedenke, daß sie schließlich einmal beliebig
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groß sein wird), kann sie das Universum, ja sogar das Multiversum, vom Urknall an mit jeder gewünschten Genauigkeit simulieren. Wenn der Anfangszustand nicht genau genug bekannt ist, kann diese Technologie von hinreichend genauen Beispielen für mögliche Anfangszustände ausgehen und sie alle gleichzeitig simulieren. Die Simulation könnte aus Gründen der Komplexität unterbrochen werden müssen, wenn die simulierte Epoche der Zeit, zu der die Simulation durchgeführt wird, zu nahe kommt, aber sie wird sofort wieder aufgenommen werden können, wenn mehr Computerleistung verfügbar wird. Für den Omegapunkt-Computer ist keine Aufgabe im Prinzip unlösbar. Er unterscheidet nur zwischen «berechenbar» und «nichtberechenbar», und die Simulation wirklicher physikalischer Umwelten gehört sicherlich zur Kategorie des Berechenbaren. Im Lauf dieser Simulation wird der Planet Erde mit vielen Varianten vorkommen. Es wird sich Leben entwickeln, und es wird schließlich auch Menschen geben. In dieser gewaltigen Simulation werden alle Menschen, die je irgendwo im Multiversum gelebt haben, irgendwo auftauchen. Das steuernde Programm kann nach ihnen Ausschau halten und sie, falls erwünscht, in eine bessere virtuelle Welt versetzen – vielleicht in eine, in der sie nicht sterben oder in der ihnen alle Wünsche erfüllt werden. Wenigstens alle Wünsche, die nicht mehr als einen bestimmten unvorstellbar hohen Grad an Rechenleistung erfordern, sollten realisierbar sein. Warum sollte das Programm so handeln? Ein Grund könnte moralischer Art sein: Nach den Maßstäben der fernen Zukunft ist die Umwelt, in der wir heute leben, vielleicht extrem rauh und das Leid grausam. Es wäre dann womöglich unethisch, die jetzt Lebenden nicht zu retten und ihnen keine Chance auf ein besseres Leben zu geben. Aber es wäre unangebracht, sie unmittelbar mit der Kultur zur Zeit der Auferstehung in Berührung zu bringen: Sie wären verwirrt, gedemütigt und überwältigt. Deshalb, so Tipler, können wir erwarten, daß wir uns bei unserer Auferstehung in einer uns im wesentlichen vertrauten Umwelt wiederfinden, aus der lediglich alles Unangenehme entfernt worden ist und die durch viele äußerst angenehme Elemente bereichert wurde. Also, anders gesagt, im Himmel. Tipler rekonstruiert auf diese Weise viele weitere Begriffe des herkömmlichen religiösen Denkens, indem er sie als physikalische Größen
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oder Vorgänge beschreibt, von denen man zu Recht erwarten kann, daß es sie in der Nähe des Omegapunkts gibt. Wir lassen die Frage außer acht, ob die rekonstruierten Fassungen ihren religiösen Analoga entsprechen; wie wir gerade sahen, beruht das, was diese Intelligenzen der fernen Zukunft tun werden oder nicht, auf einer Reihe von Annahmen, und auch wenn wir diese Annahmen jede für sich plausibel finden, läßt sich vom Schluß insgesamt nicht wirklich behaupten, er sei mehr als gutbegründete Spekulation. Solche Spekulationen sind es wohl wert, angestellt zu werden. Aber meiner Meinung nach hätte Tipler sie besser von den Überlegungen zur Existenz des Omegapunkts und von der Theorie seiner physikalischen und epistemologischen Eigenschaften unterscheiden sollen. Denn wenn die Struktur der Wirklichkeit in der Tat unseren besten Theorien entspricht, erscheinen mir diese Begründungen ziemlich schlüssig zu sein. Als Warnung vor der Unzulässigkeit selbst begründeter Spekulation möchte ich dem alten Baumeister aus Kapitel 1, der nur eine vorwissenschaftliche Kenntnis von Architektur und Ingenieurwesen hat, einen weiteren Besuch abstatten. Wir sind von ihm durch eine so große kulturelle Lücke getrennt, daß es für ihn äußerst schwierig wäre, sich ein zutreffendes Bild von unserer Kultur zu machen. Aber wir und er sind praktisch Zeitgenossen, wenn wir an die ungeheure Zeitspanne zwischen uns und dem frühesten möglichen Augenblick der Tiplerschen Auferstehung denken. Nehmen wir an, der Baumeister denke über die ferne Zukunft der Bauindustrie nach, und nehmen wir weiter an, er sei unglaublicherweise zufällig zu einer vollkommen zutreffenden Einschätzung der heutigen Technologie gekommen. Dann wird er unter anderem wissen, daß wir Gebäude errichten können, die weitaus größer und eindrucksvoller sind als die größten Gotteshäuser seiner Zeit. Wir könnten einen Dom bauen, der einen Kilometer hoch ist, wenn wir das wollten. Und wir könnten das mit einem viel kleineren Bruchteil unseres Wohlstands und weniger Zeit und Arbeitskraft, als er für eine bescheidene Kirche gebraucht haben würde. Der Baumeister würde also zuversichtlich vorhersagen, daß es im Jahr 2000 Dome geben wird, die einen Kilometer hoch sind. Damit hätte er sich jedoch schwer geirrt, denn obwohl wir die technischen Mittel haben, solche Gebäude zu errichten, bauen
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wir sie nicht, und es scheint auch sehr unwahrscheinlich, daß ein solches Gebilde je erbaut werden wird. Selbst wenn unser Fast-Zeitgenosse unsere technischen Möglichkeiten also richtig eingeschätzt hätte, hätte er sich in bezug auf unsere Wünsche doch sehr geirrt. Er hätte sich geirrt, weil einige seiner am wenigsten in Frage gestellten Annahmen über menschliche Motivationen schon nach wenigen Jahrhunderten veraltet waren. In ähnlicher Weise mag es uns ganz natürlich erscheinen, daß die Omegapunkt-Intelligenzen aus Gründen der historischen oder archäologischen Forschung, aus Mitgefühl oder aus moralischem Pflichtgefühl einen von uns schließlich einmal simulieren werden, und uns, wenn ihr Experiment vorüber ist, die lächerlichen Rechenhilfsmittel zur Verfügung stellen, die wir brauchten, um für immer im «Himmel» leben zu können. Ich selbst würde es allerdings vorziehen, allmählich Teil ihrer Kultur zu werden. Aber wir kennen ihre zukünftigen Wünsche nicht. Kein Versuch, die spätere Entwicklung menschlicher oder übermenschlicher Angelegenheiten auch nur grob vorherzusagen, kann je zu zuverlässigen Ergebnissen führen. Wie Popper zeigte, hängt der zukünftige Verlauf menschlicher Unterfangen vom zukünftigen Wissenszuwachs ab. Und wir können nicht vorhersagen, welches Wissen in Zukunft geschaffen werden wird, denn wenn wir das könnten, würden wir schon in der Gegenwart über dieses Wissen verfügen. Nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis bestimmt die Vorlieben der Menschen und beeinflußt ihr Verhalten, sondern auch moralische Kriterien. Sie schreiben möglichen Handlungen Eigenschaften wie «richtig» und «falsch» zu. Solche Werte lassen sich bekanntermaßen nur schwer in die wissenschaftliche Weltsicht einbauen. Sie bilden anscheinend ein eigenes abgeschlossenes Erklärungssystem, das von dem der physikalischen Welt getrennt ist. Wie der Philosoph David Hume zeigte, ist es logisch unmöglich, ein «sollte» von einem «ist» zu unterscheiden. Und doch benutzen wir solche Werte sowohl zur Erklärung unserer Taten als auch zur Entscheidung über unser Handeln. Die Nützlichkeit wiederum ist eine arme Verwandte der Moral. Da es anscheinend viel einfacher ist zu verstehen, was objektiv nützlich oder nutzlos ist, als was objektiv richtig oder falsch ist, hat es viele Versuche
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gegeben, die Moral durch Formen der Nützlichkeit zu definieren. Es gibt beispielsweise die evolutionäre Moral, die bemerkt, daß viele Verhaltensformen, die wir als moralisch einordnen, etwa nicht zu morden oder nicht zu betrügen, Analogien im Verhalten der Tiere haben. Ein Zweig der Evolutionstheorie, die Soziobiologie, konnte bei der Erklärung tierischen Verhaltens einigen Erfolg verbuchen. Viele Menschen waren versucht zu schließen, daß moralische Erklärungen für menschliche Entscheidungen nur Augenwischerei sind. Die Moral hat ihrer Meinung nach keine objektive Grundlage; «richtig» und «falsch» sind einfach Etiketten, die wir unserem angeborenen Trieb anheften, uns auf die eine oder andere Weise zu verhalten. Eine andere Fassung derselben Erklärung ersetzt Gene durch Meme und behauptet, der Begriff der Moral sei nur eine Attrappe für soziales Konditionieren. Aber nichts davon entspricht den Tatsachen. Einerseits neigen wir nicht dazu, angeborenes Verhalten – etwa epileptische Anfälle – für moralische Entscheidungen zu halten. Wir unterscheiden zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Handlungen und schreiben nur den willkürlichen moralische Erklärungen zu. Andererseits ist es schwer, sich auch nur eine einzige angeborene menschliche Verhaltensweise – etwa Schmerzvermeidung, Geschlechtsverkehr, Nahrungsaufnahme – vorzustellen, auf die zu verzichten Menschen nicht unter gewissen Umständen aus moralischen Gründen bereit waren. Das gilt noch mehr für sozial bedingtes Verhalten. Menschliches Verhalten zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es sich sowohl über angeborene wie auch über sozial konditionierte Verhaltensweisen hinwegsetzen kann. Keine dieser Verhaltensweisen hat ein Analogon bei Tieren; ebensowenig lassen sich moralische Erklärungen in genetische oder memetische Begriffe umdeuten. Könnte es ein Gen geben, das es erlaubt, sich über Gene hinwegzusetzen, wenn man das gern möchte? Ist eine soziale Konditionierung zur Rebellion denkbar? Vielleicht. Aber das löst nicht das Problem, wie wir entscheiden, was wir statt dessen tun wollen. Und es läßt die Frage unbeantwortet, wo wir das Recht und die Begründungen hernehmen, uns über ererbtes oder anerzogenes Verhalten hinwegzusetzen. Diese genetischen Theorien lassen sich als Spezialfälle einer anderen Strategie sehen, die den Sinn moralischer Urteile bestreitet. Wir sind
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ja, so wird dann gesagt, nicht frei in unseren Entscheidungen, denn der freie Wille ist eine Illusion, die mit der Physik unvereinbar ist. Aber wie wir gesehen haben, verträgt sich der freie Wille sehr wohl mit der Physik und paßt ganz natürlich in den Rahmen der Theorie für Alles. Ein früher Versuch, moralische Erklärungen durch einen Appell an die «Nützlichkeit» mit der wissenschaftlichen Weltsicht zu vereinbaren, war der Utilitarismus. Hier wurde «Nützlichkeit» mit menschlichem Glück gleichgesetzt, und eine moralische Entscheidung mit der Erwägung, welche Handlung für einen Menschen oder für «möglichst viele» Menschen das größte Glück bedeuten würde. Einige Fassungen dieser Lehre ersetzten Glück durch «Freude» oder «Vorteil». Der Utilitarismus ist ein einwandfreies Mittel zur Widerlegung früherer autoritärer moralischer Systeme. Wenn er bedeutet, daß wir Menschen uns nicht auf Doktrinen berufen sollten, sondern unser Handeln von der «bevorzugten Theorie» leiten lassen, ist jede vernünftige Person ein Utilitarist. Aber als ein Versuch, das hier erörterte Problem zu lösen, nämlich eine Erklärung für den Sinn moralischer Urteile zu finden, hat auch er eine fatale Schwäche. Wir wählen nämlich, was wir gern haben. Insbesondere ändern wir unsere Vorlieben gelegentlich und geben dafür dann moralische Erklärungen. Solche Erklärungen lassen sich nicht in utilitaristische Begriffe übersetzen. Liegt unseren Vorlieben eine «Hauptvorliebe» zugrunde, die bestimmt, wie sich unsere Neigungen verändern? Wenn ja, wäre sie selbst nicht veränderlich, und der Utilitarismus würde zu der oben erörterten genetischen Theorie der Moral degenerieren. Welche Beziehung besteht dann zwischen den moralischen Werten und der in diesem Buch vertretenen wissenschaftlichen Weltsicht? Ich habe hier zwar keine vollentwickelte Theorie vertreten, aber genügend Ansätze entwickelt, daß ihrer Formulierung keine grundlegenden Hindernisse im Weg stehen sollten. Alle früheren «wissenschaftlichen Weltanschauungen» waren durch das Problem der hierarchischen Erklärungsstruktur gekennzeichnet. Genau wie es im Rahmen einer solchen Struktur unmöglich ist, wissenschaftliche Theorien als wahr zu «rechtfertigen», kann man auch ein Vorgehen nicht als richtig rechtfertigen (denn wie würde man die Struktur insgesamt als richtig rechtfertigen?). Wie schon gesagt, hat jeder der vier Stränge eine hierarchische Erklärung,
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nicht jedoch das Gewebe der Wirklichkeit als Ganzes. Die Erklärung moralischer Werte als objektive Eigenschaft physikalischer Vorgänge muß nicht darauf hinauslaufen, daß sie auch nur im Prinzip aus etwas abgeleitet sind. Genau wie bei abstrakten mathematischen Größen stellt sich die Frage, was sie zur Erklärung beitragen – oder ob sich die physikalische Wirklichkeit nicht verstehen läßt, wenn nicht auch solchen Werten Wirklichkeit zugeschrieben wird. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf verweisen, daß «Emergenz» im üblichen Sinn nur eine von vielen Möglichkeiten ist, Erklärungen in den verschiedenen Strängen zueinander in Beziehung zu setzen. Bis jetzt habe ich wirklich nur das erörtert, was man «vorhersagende» Emergenz nennen könnte. Wir glauben beispielsweise, daß die Vorhersagen der Evolutionstheorie logisch aus den Naturgesetzen folgen, obwohl der Beweis dieses Zusammenhangs sich rechnerisch als nicht praktisch durchführbar erweisen könnte. Allerdings wird allgemein nicht angenommen, daß die Erklärungen in der Evolutionstheorie logisch aus den Naturgesetzen folgen. Ein nicht-hierarchisches Erklärungssystem läßt jedoch auch die Möglichkeit erklärender Emergenz zu. Stellen wir uns vor, ein bestimmtes moralisches Urteil lasse sich in einem engen utilitaristischen Sinn als richtig erklären, indem man formuliert: «Ich möchte es haben; es schadet niemandem, deshalb ist es richtig». Nun könnte dieses Urteil eines Tages in Frage gestellt werden. Ich frage mich vielleicht: «Sollte ich es wollen?» Oder «Schadet es auch wirklich niemandem?» Die Frage, wem die Handlung meiner Meinung nach «schadet», hängt selbst wieder von moralischen Annahmen ab. Wenn ich in meinem eigenen Haus ruhig auf einem Stuhl sitze, «schadet» das jedem auf der Erde, der einen Vorteil davon hätte, wenn ich hinausginge, um ihm zu helfen. Es «schadet» auch allen Dieben, die den Stuhl gern stehlen würden, wenn ich nur eine Weile wegginge und so weiter. Um solche Fragen zu entscheiden, führe ich weitere moralische Kategorien mit neuen Erklärungen meiner moralischen Situation an. Wenn eine solche Erklärung befriedigend erscheint, benutze ich sie vorläufig dazu, über richtig und falsch zu urteilen. Die Erklärungen mögen mich zwar zeitweilig befriedigen, gehen aber nicht über Nützlichkeitsbetrachtungen hinaus.
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Nehmen wir jetzt jedoch an, jemand entwickelte eine Theorie solcher Erklärungen, führte einen höheren Begriff wie etwa «Menschenrechte» ein und stellte Vermutungen darüber an, wie die Einführung dieses Begriffs für eine bestimmte Klasse moralischer Probleme zu immer neuen Erklärungen, in diesem Fall also Handlungsanweisungen, führt, die das Problem im utilitaristischen Sinn lösen. Man nehme weiter an, diese Theorie der Erklärungen sei selbst eine erklärende Theorie. Sie erklärt dann mit Hilfe eines anderen Strangs, warum die Analyse der Probleme durch den Begriff der Menschenrechte (im utilitaristischen Sinn) «besser» ist. Sie könnte beispielsweise auf epistemologischer Grundlage erklären, daß das Respektieren der Menschenrechte den Wissenszuwachs fördern sollte. Wenn die Erklärung gut zu sein scheint, könnte es sich lohnen, eine solche Theorie zu adoptieren. Es wäre denkbar, eine Orientierung moralischer Probleme und Verhaltensweisen in bezug auf die «Menschenrechte» jedem Verhaltensmuster vorzuziehen, das daran orientiert ist, welche Folgerungen eine bestimmte Handlung für das «Glück» hat – wie auch immer man diesen Begriff definieren mag. Glück ist kein utilitaristischer, sondern eher ein moralischer Begriff, sehr häufig aber einfach eine individuell formulierte Vorstellung. Der Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen beruht auf emergenten Erklärungen, nicht auf emergenten Vorhersagen. Wir wollen dies nicht weiter verfolgen. Wichtig ist nur, daß es moralische Werte objektiv geben kann, wenn sie für emergente Erklärungen relevant sind. Wenn sich dieser Ansatz bewährte, könnte er die Moral durch eine Art «emergenter Nützlichkeit» erklären. Ganz ähnlich lassen sich Begriffe wie «künstlerischer Wert» – oder die Frage: «Was ist Kunst?» – objektiv immer schwer erklären. Auch sie werden oft als Eigenschaften einer Kultur oder als individuelle Vorlieben abgetan. Und wieder sehen wir, daß dies nicht unbedingt so ist. Genau wie Moral mit Nützlichkeit verknüpft ist, hat der künstlerische Wert eine weniger hervorstechende, aber objektiver definierbare Entsprechung im Entwurf oder Plan. Der Wert eines Entwurfs läßt sich nur im Zusammenhang mit dem Zweck sehen, für den der Gegenstand entworfen wurde. Aber wir können den Entwurf vielleicht verbessern,
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wenn wir ihn unter dem Aspekt der Schönheit beurteilen. Dieses Kriterium ließe sich nicht aus anderen Kriterien herausfiltern, und sein Nutzen bestünde unter anderem in der Verbesserung der Kriterien für den Entwurf. Allerdings müßte dann noch geklärt werden, was Schönheit ist, aber dies führt hier zu weit. Wieder liegt erklärende Emergenz vor. Künstlerischer Wert oder Schönheit wären dann eine Art emergenter Entwurf. Weil Tipler übergroßes Vertrauen in die Vorhersagbarkeit menschlicher Motive in der Nähe des Omegapunktes hat, unterschätzt er eine wichtige Folgerung, die sich aus der Theorie des Omegapunktes für die Rolle der Intelligenz im Multiversum ziehen läßt. Intelligenz ist nicht nur dazu da, physikalische Ereignisse auf größtmöglichem Maßstab zu beherrschen, sondern auch, um zu entscheiden, was passieren soll. Die intelligenten Gedanken der Zukunft drehen sich hauptsächlich um das, was passieren wird, denn schließlich einmal wird der gesamte Raum mit allem, was darin ist, ein Computer sein. Die Raumzeit wird am Ende buchstäblich aus intelligenten Gedankenvorgängen bestehen. Irgendwo am fernen Ende dieser materialisierten Gedanken liegt vielleicht in Form physikalischer Strukturen alles physikalisch mögliche Wissen. Dann haben auch moralische und ästhetische Überlegungen diese Struktur, ebenso wie die Ergebnisse all dieser Überlegungen. Unabhängig davon, ob es einen Omegapunkt gibt oder nicht, muß es immer dort, wo es im Multiversum (Komplexität über viele Universen hinweg) Wissen gibt, auch die physikalischen Spuren der moralischen und ästhetischen Vernunft geben, die bestimmt, welche Art von Problemen wie gelöst werden sollen. Insbesondere müssen auch moralische und ästhetische Urteile in diesen Universen weitgehend übereinstimmen, bevor tatsächliches Wissen eines Universums in einem ganzen Schwärm von Universen gleich werden kann. Solche Urteile enthalten folglich auch im physikalisch multiversalen Sinn objektives Wissen. Dies rechtfertigt die Verwendung epistemologischer Begriffe wie «Problem», «Lösung», «Vernunft» und «Wissen» im Rahmen der Ethik und Ästhetik. Wenn also Ethik oder Ästhetik überhaupt mit einer Theorie für Alles vereinbar sind, müssen Schönheit und moralische Kategorien so objektiv sein wie wissenschaftliche oder mathematische Wahrheit. Und sie müssen
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durch vernünftige Kritik in ähnlicher wenn auch nicht gleicher Weise erschaffen werden. Keats hatte also mehr oder weniger recht, als er sagte, daß Schönheit Wahrheit ist und Wahrheit Schönheit. Aber er hatte natürlich völlig Unrecht, wenn er weiterhin sagte, daß dies alles sei, was wir auf Erden wissen können und auch alles, was wir zu wissen brauchen. Wir müssen im Gegenteil alles wissen oder vielmehr verstehen, was uns möglich ist. In seiner Begeisterung hat Tipler auch den Teil von Poppers Lehre vernachlässigt, der aussagt, wie der Zuwachs des Wissens aussehen muß. Wenn es den Omegapunkt gibt und wenn er in der plausiblen Art geschaffen wird, die Tipler vorschlug, besteht das späte Universum wirklich aus verkörperten Gedanken und unvorstellbarer Weisheit, Kreativität und reinen Zahlen. Aber Denken ist Problemlösen, und reines Problemlösen bedeutet, daß es rivalisierende Vermutungen, Fehler, Kritik, Widerlegung und Rückschritte gibt. Zugegeben, im Grenzfall (den keiner erlebt), in dem Augenblick, in dem das Universum endet, könnte vollkommenes Wissen erreicht worden sein. Aber an jedem endlichen Punkt wird das Wissen unserer Nachfahren mangelhaft sein. Das Wissen wird größer, tiefer und breiter sein, als wir es uns vorstellen können, aber unsere Nachkommen werden auch in entsprechend gigantischen Maßstäben Fehler machen. Ihre Kultur wird vermutlich über unsere verwegensten Träume hinaus friedfertig und wohlwollend, aber nicht friedlich und gelassen sein. Sie wird um die Lösung gewaltiger Probleme ringen und sich leidenschaftlich mit ihnen auseinandersetzen. Aus diesem Grund scheint es unwahrscheinlich, daß unsere Nachkommenschaft als eine «Person» betrachtet werden kann. Vielmehr werden ungeheuer viele Menschen auf vielen Schichten und auf viele verschiedene Weisen miteinander wechselwirken, aber nicht übereinstimmen. Sie werden genausowenig mit einer Stimme sprechen wie heutige Wissenschaftler bei einem Forschungsseminar. Aus demselben Grund wird die Kultur moralisch nicht homogen sein. Nichts wird heilig sein, und Menschen werden fortwährend Annahmen in Frage stellen, die andere Menschen für fundamentale moralische Wahrheiten halten. Natürlich läßt sich Moral, weil sie real ist, mit den Mitteln der Vernunft begreifen, und des-
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halb wird sich jede konkrete Kontroverse lösen lassen. Aber sie wird durch weitere, noch aufregendere und grundlegendere Kontroversen ersetzt werden. Eine solche Gemeinschaft ist nicht mit dem Gott einer der mir bekannten Religionen gleichzusetzen. Doch sie oder ein Teil von ihr ist das, was uns, wenn Tipler recht hat, auferstehen lassen wird. Schließlich möchte ich auf die Hoffnungen zurückkommen, die ich in Kapitel 1 äußerte. In Anbetracht der von mir erörterten vereinheitlichenden Gedanken zur Quantenrechnung, evolutionärer Epistemologie und multiversaler Sicht von Wissen, Zeit und freiem Willen scheint mir offensichtlich, daß wir gegenwärtig in unserem gesamten Naturverständnis genau in die von mir erhoffte Richtung streben. Unser Wissen wird sowohl umfassender als auch tiefer, aber die Tiefe gewinnt. Ich habe in diesem Buch jedoch mehr behauptet. Ich habe eine einheitliche Weltsicht vertreten, die auf den vier Strängen (oder Theorien) der Quantenphysik des Multiversums, Poppers Erkenntnistheorie, der Evolutionstheorie von Darwin und Dawkins und einer stärkeren Fassung von Turings Theorie der universellen Berechnungen beruht. Diese Sichtweise scheint mir beim heutigen Stand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis die «natürliche» zu sein. Sie ist konservativ und erfordert keine umwälzenden Veränderungen unserer fundamentalen Erklärungen. Deshalb sollte sie die Sicht sein, an der Neuerungen gemessen werden. Das ist die Rolle, die ich für sie in Anspruch nehme. Damit will ich keineswegs eine neue Orthodoxie schaffen. Ganz im Gegenteil meine ich, daß es an der Zeit ist, voranzuschreiten im Verständnis unserer Wirklichkeit. Aber um zu besseren Theorien zu gelangen, müssen wir die existierenden Erklärungen der Welt ernstnehmen.
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Index Achilles 234f. Adelman, Leonard 203 Anfangsbedingungen 23,27,190 Anfangszustand – beim Urknall 23 – des Weltalls 27-30 – von Berechnungen 198 Anomalie 83ff. Anpassung 71, 168f„ 177, 306, 328 Anthropische Überlegungen 152 Appel, Kenneth 234 Architektur 19f. Aristoteles 155-158,215,216,231, 240 Astrologie 174, 318 Astronomie 60,111,327 Astrophysik 18,24,327 Atome 25 – faßbare 51 – schattenhafte 51 Auferstehung 338f. Aufklärung 96 Augenblick 254f., 260, 264, 274f. Axiome 213, 228 Baumeister 18, 20 Barrow, John 174 Behaviorismus 100f. – s. Verhaltensforschung Bennett, Charles 206 Berechnung 25, 145, 231, 327f., 348 Berkeley, George 104 Beugung 43 Bewegungsgesetze 28-31 Beweis 145, 231f., 234
– Beweisregeln 215 – Beweistheorie 234,236 Bewußtsein 62, 249, 321 ff. Bilderzeuger 114L, 127 – Bilderzeugung 121,286 – universeller Bilderzeuger 124f., 143 Biosphäre 166 Bit 199 Block-Universum 254,256 Böhm, David 109,110 Bohr, Niels 314f. Boswell, James 104,117 Brahe, Tycho 110 Brassard, Gilles 206 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 217, 225 Cäsar, Julius 281,283,285,291 Cantor, Georg 140,142,219 Chaos 189 Church, Alonzo 145, 147, 237 – Church-Turing-Hypothese 145f., 328 Churchill, Winston 26 CGT-Umgebung 142f. CGT-Welten 142ff„ 146, 209, 217 Clarke, Arthur C. 152 Computer 17, 24, 32, 113f., 127, 132f„ 137ff„ 184 – universeller Computer 145 Copernicus, Nicolaus 110,157 Darwin, Charles 24, 164f., 168, 318, 322f., 324, 348
352
Dawkins, Richard 159, 164f., 319L, 324f., 329, 348 Deduktion 63, 90f. Dekohärenz 201, 204 Denken 25 Descartes, René 101,127,329 – cogito ergo sum 101 Determinismus 256, 260, 264, 268, 322 Deutsch, David 222 Diagonalverfahren 140,219 DNA 160, 162, 186 – Abfall-DNA 161 Eddington, Arthur 60ff. Einheitlichkeit 22 Einstein, Albert 10, 22, 60, 86, 233, 252, 254, 278, 300f„ 305, 314, 327 Elektromagnetismus 23,27 Elektron 49 Emergenz 25f., 30f., 70, 220, 328, 330, 344, 346 Endzustand der Welt 29 Epistemologie 32, 70, 316f., 327-330, 334,337 – s. Erkenntnistheorie Erfahrung 19 – externe Erfahrung 1191,150 – interne Erfahrung 119f. Erkenntnistheorie 317f., 348 – s. Epistemologie Erklärung 16f., 20, 23, 26f. Euklid, 213, 226, 228, 230, 232f., 240 Everett, Hugh 54, 315f., 318, 324 – Everett-Wheeler-Theorie 315 Evolution 70,185,316 – biologische Evolution 70 – Evolution des Wissens 70 – Evolutionstheorie 24, 30, 32, 157, 168, 181, 318, 325, 344, 348 Experimente 61, 68 – Vorhersagen 54f. Extrapolation 63, 333 – s. Verallgemeinerung Faktorisierung 188f., 203 Faraday, Michael 16, 35, 251, 261ff„ 327 Farben 42 Fäden 27 Faustregeln 19f.
Die Physik der Welterkenntnis
Feelies 124f. Feynman, Richard 189, 196f„ 198f. Flugsimulator 113f., 117f., 121ff., 133f. Frege, Gottlob 216 Frosch 37ff., 56f. Galaxien 17,150 Galilei, Galileo 95-98, 104, 110, 211, 228, 314ff., 322 Gauß, Karl Friedrich 233 Gehirn 17, 123f., 136, 138f., 150, 221,223,234,292 Gegenwart 247f., 250f., 254 Gen 159,168,320,329,342 – egoistisches Gen 164, 320, 325 – genetischer Code 159 – Umwelt von Genen 164 Geometrie 22,213,226,230,240 Geozentrisches System 96 Gesunder Menschenverstand 65, 67, 71, 103, 243, 245, 247f., 250-253, 256,272 Glück 345 Gödel, Kurt 141f., 219L, 222, 225, 234f., 237 Gold 38f., 42 Gott 97,338,348 Graskur 14,100 Gravitation 18 – s. Schwerkraft – Gravitationsgesetz 60 – Gravitationstheorie 22, 83f. Great Unified Theory 22f. – s. GUT – s. Vereinheitlichung Großvater-Paradoxon 282 GUT 22f., 26-29, 32 – s. Great Unified Theory – s. Vereinheitlichung Haken, Wolfgang 234 Hawking, Stephen 166, 303, 329 Heliozentrisches System 16, 96ff., 100 Hilbert, David 214, 218f., 225, 236 Himmelskugel 60, 70, 98 Hierarchie 24, 26f., 32 Hoyle, Fred 319,324 Hubble, Edwin 301 Hume, David 341 Huxley, Aldous 114,124
Index
Idee 212f. Induktion 63f., 78 – s. Krypto-Induktivismus – Induktionsprinzip 73 – Induktionsproblem 63,72,76, 84f., 88 – Induktivismus 212,329 Information 184 – Genetischeinformation 16 Ingenieurwesen 19 Inquisition 95-100,116 Instabilität 189f. Instrumentalismus 25, 52, 55, 316 Insulin 159-163,176,178 Interferenz 45ff., 48-54, 63, 192, 195ff., 201L, 204 Interferometer 193ff., 198 Intuition 19 – Intuitionismus 217f. Jetzt 246ff., 250 Johnson, Samuel 104ff., 116L, 158, 211,283,289,291 – Dr. Johnsons Kriterium 104f., 107f., 196, 209f. Kalender 252, 277f., 280 Kant, Immanuel 240 Kepler, Johannes 60,110,322 Kernkraft 23,27 Klumpenbildung 28, 39 Knuth, Donald 189 Komplexität 107f., 111, 131, 153, 196, 323, 328 – Komplexitätstheorie I86f., 199 Kontrafaktische Bedingungen 262f. Kontrafaktische Ereignisse 299 Kopenhagener Deutung 314 Kopenhagener Schule 314 Kosmologie 28, 152, 327, 331, 337 Krümmung der Raumzeit 17, 60 Kryptographie 203, 206f. – Public-key-Kryptographie 203, 205, 207 Krypto-Induktivismus 73 Kuhn, Thomas 309ff., 314f., 318, 320 Landauer, Rolf 202 Leben 25, 30, 155, 166, 169 – Bedeutungslosigkeit von Leben 166, 175
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– Lebensvorgänge und Wirklichkeitssimulationen 168 – Merkmale des Lebens 158 Lewis, David 324 Licht 35,40 Logik 21 lf., 240 – Gesetze der reinen Logik 215 Materie 155 – lebende Materie 179 – Wissen schaffende Materie 179 Mathematik 19, 22, 24 Maxwell, James Clerk 16 Meme 159,329,342 Methodologie 68f., 75f. Multiversum 50, 52, 55f., 118, 149, 174, 176f„ 179f., 191, 204, 262, 264-267, 270ff„ 278, 294, 296, 300, 306f., 315, 346, 348 Mutation 176ff. Münze 267-270, 273L, 297 Naturgesetze 17 Naturwissenschaft 18,25,27,132, 311 – Arbeitsweise der Naturwissenschaften 63, 79, 95 – Geschichte der Naturwissenschatten 59,66 – normale Naturwissenschaft 310 – revolutionäre Naturwissenschaft 310 Näherungen 24 Neutron 49 Newton, Isaac 10f., 22, 60, 157, 252f., 256f., 322, 327 Nische 71, 160-163, 168, 177 – s. ökologische Nische Numerische Werte 20 Occam 151 Occams Messer 99 Ökologische Nische 70,170,305,319 Omegapunkt-Theorie 330-340, 346f. Orakel 12f. Orwell, George 114 Paradigma 309ff„ 314, 317f., 320 – Paradigmenwechsel 311, 318 Paradoxie 252, 262, 281, 285, 295, 300ff., 304
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Parallele Welten 36 Parallelenaxiom 233 Paralleles Universum – s. Universum Parameter 20 Penrose, Roger 146,221-225,240, 317 Photonen 38ff., 42, 45^8, 53ff., 194, 196,207 – faßbare Photonen 53 – schattenhafte Photonen 50f., 53 Photovervielfacher 38 Physik 19, 22 Planetarium 98, 107f„ 114, 150 Planeten 17f., 59f., 100 – Planetenbewegungen 96, 99f., 190, 225 Platon 213f., 221, 223, 226, 231, 239f. Popper, Karl 66, 70, 73f., 77f., 86f., 93, 153, 310, 316ff., 320, 325, 327ff., 334, 337, 341, 347f. Positivismus 13,52 Post, Emil 145, 147, 237 Pragmatismus 52 Problem 66,147 Programm 117, 131f. Ptolemäisches System 16 Pythagoras 213, 223 – s. Gravitation Quanten 39,200 – Quantenberechnung 184 – Quantencomputer 146, 183f., 201ff., 206, 223, 236 – Quantenfaktorisierungsmaschine 203f. – Quanteninterferenz 206 – Quantenkryptographie 205ff. – Quantenmechanik 53,191 – Quantenphysik 39, 327, 348 – universeller Quantensimulator 199 – Quantentheorie 30ff., 49, 53ff., 56,58,141,181,192,235,316, 327 – Quantentheorie der Zeit 264f. Quasare 17f. Quirk, Randolph 243, 245 Raumzeit 254-262, 266, 269ff., 278, 322, 337, 346
Die Physik der Welterkenntnis
Reduktionismus 2 4L, 27L, 31, 157 Relativitätstheorie 254 – allgemeine Relativitätstheorie 10f., 17, 22, 30f.l, 60, 233, 301 – spezielle Relativitätstheorie 278 Religiöser Glaube 157 Repertoire eines Simulators 120,138, 141 Replikation 159-165,260,320,325, 329 Reproduktion 177 Rivest, Ronald 203 RSA-System 203f. Russell, Bertrand 64f. Schatten 35,40,43,51,55,195 – Halbschatten 40, 42f. – Schattenbilder 35 – Schattenmuster 47ff. Schildkröte 234f. Schmetterlingseffekt 189-192 Schnappschuß 244, 246ff., 250f., 253f., 256, 258, 264, 266f., 270, 272, 280, 289 Schwarzes Loch 271ff., 300f. Schwarzschild, Karl 301 Schwerkraft 23, 27f., 60, 80f., 121, 123f. Selbst 152, 282, 286f. Selbstähnlichkeit Hilf., 148, 330 Shakespeare, William 243, 304ff. Shamir, Adi 203 Shor, Peter 203 – Shors Algorithmus 203ff. Sinne 61, 114 – Künstliche Sinneseindrücke 121 – Sinneserfahrungen 143 Solipsismus 62, 100f., 103, 117, 159, 217 Sonne 171 – zukünftige Entwicklung der Sonne 171 Spezialisierung 21 Sprache 83ff. Stringtheorie 27 Subatomare Teilchen 23ff. Superstringtheorie 27 Syllogismus 215
Index
Teilchen 52 – faßbare Teilchen 49f. – schattenhafte Teilchen 49f. Theorie 20, 26, 63 – Ablösung von Theorien 16,69 – Breite und Tiefe einer Theorie 21f. – des Anfangszustandes 30 – der Sternentwicklung 170ff. – der Zeit 30, 245, 247, 275, 327 – kosmologische Theorie 28 – rivalisierende Theorien 61,68, 78, 103 – Theorie für Alles 22, 24, 32, 219, 328, 343, 346, 348 – vorherrschende Theorie 77 – Vorrat an Theorien 18 Tipler, Frank 174, 330, 332, 334-340, 346f. Toffoli, Tomasso 329 Turing, Alan 140ff., 144L, 147, 199, 237, 321, 322, 348 – Turingmaschine 146f., 183L, 236 – Turing-Prinzip 91, 146, 148f., 153, 170, 186, 221L, 281, 292, 300, 317, 321, 325, 328, 33OL, 333f., 336 Uhr 253, 258, 267, 278, 280, 284, 294 Umwelt 114, 131, 136f. – logisch mögliche Umwelt 144 – physikalisch mögliche Umwelt 198 – physikalisch unmögliche Umwelt 139 – simulierte Umwelt 115, 119L, 130,132,138 Unbewußtes 120,135 Undurchführbarkeit 189, 192, 196f., 203, 206 Universalität von Berechnung 112f„ 137, 138, 144, 185L, 197f„ 223 Universum 49, 52-56, 59, 150, 152, 180, 195 – Beginn des Universums 27 – Endkollaps des Universums 271, 331ff., 337 – faßbares Universum 51,56 – Geschichte des Universums 175
355
– parallele Universen 49, 51, 55f., 60, 110, 150, 175, 205, 294, 336 Unstetigkeit 39 Unvollständigkeitstheorem 141 UnVorhersagbarkeit 192 Urknall 29f„ 111, 271, 273, 301, 332, 337ff. Ursache 27 – Ursache und Wirkung 256,258, 260f., 273 Utilitarismus 243 Verallgemeinerung 20, 63 – s. Extrapolation Vereinheitlichung 22, 33 – s. Great Unified Theory – s. GUT Vergangenheit 86, 89, 24f., 247, 250, 254f.5, 281, 288f. Verhaltensforschung – s. Behaviorismus Vernunft 157 Versuch und Irrtum 70 Vierfarbensatz 234 Virtuelle Realität 113-119, 126ff., 130, 134-138, 144, 149, 150, 167, 170, 185, 197, 278, 281, 283f., 286, 292, 295, 299 Vorhersagbarkeit 26, 28, 80 – eines Ereignisses 259 – des Systemverhaltens 23 – in der Physik 189 Wahrscheinlichkeit 23, 26 Watkins, John 74 Wechselwirkung 53f. – zwischen Rezipienten und simuHerten Größen 115,125 – zwischen subatomaren Teilchen 27 Weinberg, Steven 12, 329 Welt – äußere Welt 217 – innere Welt 217 Weltbild 22, 118 Weltsicht – ganzheitliche Weltsicht 52 Wettervorhersage 189f. Wheeler, John Archibald 315 Widerspruchsfreiheit 218
356
Wille 255, 282 Wirklichkeit 7,15, 23, 59, 110, 117 – äußere Wirklichkeit 62 – ganze Wirklichkeit 49 – Kriterium für Wirklichkeit 103f. – physikalische Wirklichkeit 28, 30,49,50,96,111,253,254 – reduktionistische Beschreibung der Wirklichkeit 28 Wirklichkeitssimulator 91, 115, 119, 128, 137ff., 167, 170, 229, 285, 287, 290ff., 294, 296 – universeller WirklichkeitsSimulator 144, 148, 280, 299f. Wissen 84, 111, 169, 305ff., 322, 328f„ 341, 346 – physikalische Verkörperung von Wissen 170 – Theorie des Wissens 65f. – Vollkommenes Wissen 213 – Zuwachs an Wissen 16, 21, 65 Worrall, John 73 Zahl 210 – imaginäre Zahl 214 – natürliche Zahl 210,218 – Primzahl 214
Die Physik der Welterkenntnis
Zeit 30, 243, 246, 249 – Anfang und Ende der Zeit 272 – klassischer Begriff der Zeit 271 – Quantenbegriff der Zeit 271, 274f., 294 – Strom der Zeit 247-252, 255f„ 260,299 – Unmöglichkeit von Zeitreisen 282 – Zeit als vierte Raumdimension 277 – Zeitdilatation 279 – Zeitfluß 72, 25lt., 272 – Zeitmaschine 272, 277, 282, 284, 286-290, 293, 295-298, 3O3f., 307 – Zeitreisen 275f., 278L, 283f., 291, 297f., 301ff. – Zeitreisen in die Vergangenheit 279, 284L, 287, 302 – Zeitreisen in die Zukunft 278, 302 Zeno von Elea 234 Zukunft 75, 86, 89, 243f„ 247, 250, 254f., 261 – Offenheit der Zukunft 256,274 – Vorhersage der Zukunft 76