DAVID LINDSAY
DIE REISE ZUM ARCTURUS Ein klassischer Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEY...
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DAVID LINDSAY
DIE REISE ZUM ARCTURUS Ein klassischer Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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SCIENCE FICTION
Herausgegeben von Dr. Herbert W. Franke und Wolfgang Jeschke
DAVID LINDSAY
DIE REISE ZUM ARCTURUS Ein klassischer Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3440 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe A VOYAGE TO ARCTURUS Deutsche Übersetzung von Walter Brumm
Redaktion: F. Stanya Copyright © 1920 by Victor Gollanz Ltd. Copyright © 1975 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1975 Umschlagbild: Karl Stephan, München Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3-453-30.352-0
1 An einem Märzabend um acht Uhr wurde Backhouse, das Medium – ein rasch aufstrahlender Stern in der Welt der Parapsychologie –, ins Herrenzimmer der Villa Proland geführt, Montague Faulls Londoner Residenz im vornehmen Stadtteil Hampstead. Der Raum wurde nur vom Licht eines flammenden Feuers im offenen Kamin erhellt. Der Gastgeber, der ihn mit träger Neugierde beäugte, stand auf, und die üblichen konventionellen Begrüßungsfloskeln wurden ausgetauscht. Nachdem er seinen Gast zu einem Sessel vor dem Feuer geführt hatte, sank der südamerikanische Kaufmann wieder in seinen eigenen zurück. Die elektrische Beleuchtung wurde eingeschaltet. Faulls energische, gutgeschnittene Züge, seine metallisch aussehende Haut und seine gelangweilte, gleichgültige Haltung schienen das Medium, gewohnt, die Menschen aus einem besonderen Blickwinkel zu betrachten, nicht sonderlich zu beeindrucken. Backhouse dagegen war für den Kaufmann eine Neuheit. Während Faull ihn durch halbgeschlossene Lider und den Rauch seiner Zigarre ruhig betrachtete, fragte er sich, wie dieser kleine, untersetzte Mensch mit dem Spitzbart es angesichts der morbiden Natur seines Berufs fertigbrachte, so frisch und geistig gesund zu erscheinen. »Rauchen Sie?« sagte Faull schließlich, um die Konversation in Gang zu bringen. »Nein? Dann darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?« »Im Moment nicht, danke sehr.« Eine Pause. »Alles ist zufriedenstellend? Die Materialisierung wird stattfinden?« »Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln.« »Das ist gut, denn ich möchte meine Gäste nicht enttäuschen. Ich habe Ihren Scheck in der Tasche.« »Sie können ihn mir danach geben. Das wird völlig ausreichen.« »Neun Uhr war die vorgesehene Zeit, nicht wahr?«
»Ja, ich denke.« Die Konversation geriet wieder ins Stocken. Faull lag mit von sich gestreckten Beinen in seinem Sessel und blieb lethargisch. »Möchten Sie hören, welche Vorbereitungen ich getroffen habe?« »Ich wüßte nicht, daß welche nötig wären, abgesehen von Stühlen für Ihre Gäste.« »Ich meine die Dekoration des Raums, in dem die Seance stattfinden wird, die Musik und so weiter.« Backhouse starrte seinen Gastgeber an. »Aber dies ist keine Theateraufführung.« »Das ist richtig. Vielleicht sollte ich erklären… Es werden Damen anwesend sein, und Damen sind, wie Sie wissen, ästhetischen Dingen zugeneigt.« »In diesem Fall habe ich keine Einwände. Ich hoffe nur, daß es Ihnen bis zum Schluß Vergnügen bereiten wird.« Er sprach ziemlich trocken. »Nun, das wäre also in Ordnung«, sagte Faull. Er warf seine Zigarre ins Feuer, stand auf und verhalf sich zu einem Glas Whisky. »Wollen Sie mitkommen und sich den Raum ansehen?« »Danke, nein. Ich ziehe es vor, nichts damit zu tun zu haben, bis die Zeit gekommen ist.« »Dann lassen Sie uns gehen und meine Schwester, Mrs. Jameson, aufsuchen, die im Salon ist. Sie ist gelegentlich so freundlich, als meine Gastgeberin aufzutreten, da ich unverheiratet bin.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Backhouse kühl. Sie fanden die Dame allein im Salon, wo sie in nachdenklicher Haltung am offenen Pianoforte saß. Sie hatte Skrjabin gespielt und war überwältigt. Das Medium betrachtete ihre schmalen vornehmen Züge und die porzellanähnlichen Hände und fragte sich, wie Faull zu einer solchen Schwester gekommen sein mochte. Sie begrüßte ihn tapfer mit nur einem Hauch von kontrollierter Emotionalität. Er war solche Empfänge von seiten des schönen Geschlechts gewohnt und wußte, wie er sie zu erwidern hatte. »Was mich verblüfft«, wisperte sie nach etwa zehn Minuten
anmutiger, hohler Konversation, »ist, wenn Sie es wissen müssen, nicht so sehr die Manifestation selbst – obwohl das sicherlich wundervoll sein wird –, sondern vielmehr Ihre Sicherheit, daß es stattfinden wird. Erklären Sie mir die Gründe für Ihre Zuversicht.« »Ich träume mit offenen Augen«, antwortete er mit einem Blick zur Tür, »und andere sehen meine Träume. Das ist alles.« »Aber das ist schön«, antwortete Mrs. Jameson. Sie lächelte ziemlich abwesend, denn der erste Gast war eben hereingekommen. Es war Kent-Smith, der ehemalige Polizeirichter, gefeiert wegen seines schlauen richterlichen Humors, den nicht auf das Privatleben zu übertragen er immerhin die Vernunft hatte. Obwohl er ein gutes Stück auf der falschen Seite der siebzig war, waren seine Augen noch immer beunruhigend scharf und wachsam. Mit der selektiven Geschicklichkeit eines alten Mannes ließ er sich sofort in dem bequemsten von den vielen bequemen Sesseln nieder. »Also werden wir heute abend Wunder sehen?« »Frisches Material für Ihre Autobiographie«, bemerkte Faull. »Ach, Sie hätten mein unglückliches Buch nicht erwähnen sollen. Ein alter Diener der Öffentlichkeit, der sich in seinem Ruhestand zu unterhalten sucht, Mr. Backhouse. Sie haben keine Ursache, besorgt zu sein – ich habe in der Schule der Diskretion gelernt.« »Ich bin nicht besorgt. Es gibt keinen möglichen Einwand dagegen, daß Sie veröffentlichen, was immer Ihnen gefällt.« »Sie sind sehr freundlich«, sagte der alte Mann mit einem wissenden Lächeln. »Trent wird heute abend nicht kommen«, bemerkte Mrs. Jameson mit einem neugierigen kleinen Blick zu ihrem Bruder. »Ich hatte nicht damit gerechnet. Es ist nicht sein Fach.« »Mrs. Trent, müssen Sie wissen«, fuhr sie, zum Ex-Polizeirichter gewandt, fort, »hat uns alle zu Dankbarkeit verpflichtet. Sie hat nicht nur den alten Gesellschaftsraum oben auf das Schönste dekoriert, sondern sie hat uns überdies ein entzückendes kleines Orchester vermittelt.« »Aber das ist eine geradezu römisch-katholische Prachtentfaltung.«
»Backhouse meint, die Geister sollten mit mehr Ehrerbietung behandelt werden«, lachte Faull. »Sicherlich, Mr. Backhouse, werden sie… eine poetische Umgebung…« »Entschuldigen Sie. Ich bin ein einfacher Mann und ziehe es immer vor, die Dinge auf eine elementare Einfachheit zu reduzieren. Ich erhebe keinen Einspruch, aber ich sage meine Meinung. Natur ist eine Sache, und Kunst ist eine andere.« »Und ich bin nicht sicher, daß ich Ihnen nicht zustimme«, sagte der Ex-Polizeirichter. »Eine Veranstaltung wie diese sollte einfach sein, schon um gegen die Möglichkeit einer Täuschung zu schützen – wenn Sie mir eine Grobheit vergeben wollen, Mr. Backhouse.« »Wir werden in hellem Licht sitzen«, erwiderte Backhouse. »Und alle werden jede Gelegenheit erhalten, den Raum zu inspizieren. Ich werde Sie außerdem bitten, mich einer Leibesvisitation zu unterziehen.« Ein ziemlich verlegenes Schweigen folgte. Es wurde durch die Ankunft zweier weiterer Gäste beendet, die gemeinsam hereinkamen. Sie waren Prior, der wohlhabende Kaffeeimporteur, und Lang, der Börsenmakler, in seinen Kreisen als ein AmateurTaschenspieler wohlbekannt. Backhouse kannte ihn nur flüchtig. Prior, der den Raum mit den schwachen Gerüchen von Wein und Tabakrauch parfümierte, versuchte eine Atmosphäre von Jovialität in das Geschehen zu bringen. Als er fand, daß niemand auf seine Bemühungen einging, gab er sie jedoch nach kurzer Zeit auf und begnügte sich damit, die Aquarelle an den Wänden zu betrachten. Lang, groß, dünn und kahlköpfig, sagte wenig, starrte aber häufig zu Backhouse hinüber. Kaffee, Liköre und Zigaretten wurden hereingebracht. Alle, bis auf Lang und das Medium, bedienten sich. Im gleichen Augenblick wurde Professor Halbart angekündigt. Er war der eminente Psychologe, der Publizist und akademische Lehrer über Verbrechen, Geisteskrankheit, Genie etc. betrachtet unter ihren psychologischen Aspekten. Seine Anwesenheit bei einer solchen Zusammenkunft
verblüffte die anderen Gäste ein wenig, doch alle hatten das Gefühl, daß der Gegenstand ihres Beisammenseins dadurch eine zusätzliche Bedeutung gewonnen habe. Halbart war klein und unscheinbar, von sanften Manieren, aber wahrscheinlich gab es in der gemischten Gesellschaft keinen, der hartnäckiger und skeptischer war als er. Ohne das Medium weiter zu beachten, setzte er sich neben KentSmith, mit dem er Bemerkungen auszutauschen begann. Einige Minuten nach der verabredeten Zeit erschien unangekündigt Mrs. Trent. Sie war eine Frau von etwa achtundzwanzig oder dreißig Jahren, mit einem blassen, madonnenhaften Gesicht, glattem schwarzen Haar und so vollen roten Lippen, daß man den Eindruck hatte, sie müßten unter der Fülle des Blutes platzen. Ihr großer, anmutiger Körper war kostspielig bekleidet. Sie und Mrs. Jameson küßten einander, dann verneigte sie sich vor dem Rest der Anwesenden und warf Faull ein Lächeln zu. Dieser antwortete mit einem seltsamen Blick, und Backhouse, dem nichts entging, sah den versteckten Barbaren im selbstzufriedenen Glanz seiner Augen. Mrs. Trent schlug die Erfrischungen aus, die ihr angeboten wurden, und Faull regte an, daß man sich nun, da alle eingetroffen waren, in den Gesellschaftsraum begeben solle. Mrs. Trent hielt ihre schlanke Hand hoch. »Haben Sie mir ›Carte blanche‹ gegeben oder nicht, Montague?« »Selbstverständlich«, sagte Faull lachend. »Aber was ist los?« »Vielleicht bin ich anmaßend gewesen. Ich weiß es nicht. Ich habe ein paar Freunde eingeladen, an unserer Seance teilzunehmen. Nein, niemand kennt sie… die zwei außerordentlichsten Individuen, die Sie je gesehen haben. Und sie sind Medien, davon bin ich überzeugt.« »Das klingt sehr geheimnisvoll. Wer sind diese Verschwörer?« »Sag uns wenigstens ihre Namen, du provozierendes Mädchen«, warf Mrs. Jameson ein. »Der eine erfreut sich des Namens Maskull, und der andere heißt Nightspore. Das ist beinahe alles, was ich über sie weiß, also bedrängen Sie mich nicht mit weiteren Fragen.«
»Aber wo haben Sie sie aufgelesen? Sie müssen sie doch irgendwo kennengelernt haben.« »Dies wird zu einem Kreuzverhör. Habe ich mich gegen die Konvention versündigt? Ich schwöre Ihnen, daß ich kein Wort mehr über sie sagen werde. Sie werden gleich hier sein, und dann werde ich sie Ihrer Barmherzigkeit ausliefern.« »Ich kenne sie nicht«, sagte Faull, »und auch von den anderen Anwesenden scheint niemand sie zu kennen, aber natürlich werden wir alle sehr erfreut sein, sie bei uns zu haben. Sollen wir warten, oder was?« »Ich sagte neun, und jetzt ist es schon später. Durchaus möglich, daß sie schließlich doch nicht kommen werden… Wie auch immer, warten Sie nicht.« »Ich würde es vorziehen, sofort anzufangen«, sagte Backhouse. Der Gesellschaftsraum, ein luftiger kleiner Saal, zwölf Meter lang und sechs breit, war zu dem Anlaß durch einen schweren Brokatvorhang in zwei gleiche Teile aufgeteilt worden. Die rückwärtige Hälfte war so verborgen. Die vordere Hälfte war durch halbkreisförmig aufgestellte Armsessel in einen Zuschauerraum verwandelt worden. Im offenen Kamin an der Frontseite brannte ein großes Feuer, und helle Lampen in Wandhaltern verbreiteten strahlendes Licht. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden. Nachdem seine Gäste Platz genommen hatten, ging Faull zum Vorhang und zog ihn zurück. Dahinter wurde eine Theaterdekoration sichtbar, die offensichtlich die Tempelszene aus der ›Zauberflöte‹ darstellte. Die düstere, massive Architektur des Interieurs, der glühende Himmel darüber im Hintergrund, und – als Silhouette gegen ihn abgesetzt – die gigantische, sitzende Statue des Pharao. Vor dem Sockel der Statue stand eine fantastisch geschnitzte hölzerne Couch. In der Nähe des Vorhangs, seitwärts gestellt, so daß die Zuschauer ihn im Halbprofil sehen konnten, war ein einfacher eichener Armstuhl für den Gebrauch des Mediums. Viele der Anwesenden hatten den persönlichen Eindruck, daß die Dekoration und der ganze bühnenhafte Anstrich dem Anlaß völlig
unangemessen waren und ziemlich peinlich nach Prahlerei rochen. Besonders Backhouse schien unangenehm berührt. Trotzdem wurde Mrs. Trent mit den üblichen Komplimenten überschüttet, wie sie es als Entwerferin eines so bemerkenswerten Bühnenbilds verdient hatte. Faull lud seine Freunde ein, vorzutreten und den Raum so gründlich zu überprüfen, wie es ihnen wünschenswert erschien. Prior und Lang waren die einzigen, die der Aufforderung folgten. Der erstere wanderte zwischen den Pappkulissen herum, pfiff dazu vor sich hin und klopfte gelegentlich mit den Knöcheln gegen dieses oder jenes Versatzstück. Lang, der in seinem Element war, ignorierte alle anderen und begann mit einer geduldigen und systematischen Durchsuchung, die offenbar geheimen Apparaten und technischen Vorrichtungen galt. Faull und Mrs. Trent standen in einer Ecke des Bühnentempels und unterhielten sich mit leisen Stimmen, während Mrs. Jameson, die vorgab, Backhouse zu unterhalten, sie beobachtete, wie nur eine zutiefst interessierte Frau beobachten kann. Nachdem es Lang zu seinem Verdruß nicht gelungen war, irgend etwas Verdächtiges zu finden, forderte das Medium die Anwesenden zur Durchsuchung seiner Kleider auf. »Alle diese Sicherheitsvorkehrungen sind völlig überflüssig, wie Sie gleich selbst sehen werden. Mein guter Ruf verlangt jedoch, daß ich anderen, hier nicht anwesenden Leuten keine Möglichkeit gebe, später zu behaupten, ich hätte zu Tricks oder Schwindelmanövern Zuflucht genommen.« Wieder fiel Lang die undankbare Aufgabe zu, Taschen und Ärmel zu untersuchen. Nach wenigen Minuten erklärte er sich überzeugt, daß Backhouse keine mechanischen Hilfsmittel verwende. Die Gäste setzten sich wieder. Faull ließ zwei weitere Stühle für Mrs. Trents Freunde bringen, die immer noch nicht erschienen waren. Dann drückte er auf einen Klingelknopf und nahm seinen Platz ein. Das Klingeln war ein Signal für das verborgene Orchester, mit der Musik zu beginnen. Ein überraschtes Murmeln ging durch die kleine Schar der Zuhörer, als plötzlich die schönen, feierlichen Töne aus
der Zwischenaktmusik zu Mozarts ›Zauberflöte‹ erklangen. In allen Anwesenden wuchs die Erwartung, während Mrs. Trent tiefbewegt schien. Es war offensichtlich, daß sie im ästhetischen Sinne die bei weitem sensibelste Person unter den Anwesenden war. Backhouse stand auf, eine Hand auf die Lehne seines Armsessels gestützt, und begann zu sprechen. Augenblicklich verminderte sich die Lautstärke der Musik und blieb im Hintergrund, solange er redete. »Meine Damen und Herren, Sie werden jetzt Zeugen einer Materialisierung sein. Das heißt, Sie werden etwas im Raum erscheinen sehen, das vorher nicht da war. Zuerst wird es als eine Art Wolke erscheinen, doch aus ihr wird sich schließlich ein fester Körper bilden, den Sie alle berühren können. Sie werden sogar die Möglichkeit haben, ihm die Hand zu schütteln, denn dieser Körper wird in menschlicher Gestalt erscheinen. Mehr noch, er wird ein echter Mann – oder eine echte Frau – sein. Wenn ich auch nicht voraussagen kann, welchen Geschlechts der materialisierte Mensch sein wird, so werden Sie sich selbst davon überzeugen können, daß er in jeder Hinsicht lebendig und von Fleisch und Blut sein wird. Sollten Sie nun eine Erklärung von mir verlangen, was die Herkunft dieser materialisierten Gestalt betrifft – wo sie herkommt, wie und unter welchen Bedingungen die Moleküle entstanden sind, aus denen das Körpergewebe besteht –, so bin ich unfähig, Sie zufriedenzustellen. Ich bin im Begriff, das Phänomen hervorzubringen; wenn jemand es mir später erläutern kann, werde ich dem oder der Betreffenden sehr dankbar sein… Das ist alles, was ich zu sagen habe.« Er setzte sich wieder, kehrte den Zuschauern halb den Rücken zu und verharrte eine Weile in stiller Konzentration, bevor er seine Arbeit in Angriff nahm. Genau in dieser Minute öffnete der Diener die Tür und verkündete mit gedämpfter, doch deutlich hörbarer Stimme: »Mr. Maskull, Mr. Nightspore.« Alle drehten sich um. Faull stand auf, die Neuankömmlinge zu
begrüßen. Auch Backhouse stand auf und starrte die beiden hart und mißtrauisch an. Die zwei Fremden blieben an der Tür stehen, die leise hinter ihnen geschlossen wurde. Sie schienen darauf zu warten, daß die Unruhe, die ihr Erscheinen ausgelöst hatte, nachlasse, bevor sie in den Raum gingen. Beide Männer waren in Tweedanzüge gekleidet. Maskull war ein hünenhafter Mann, aber breiter und robuster als die meisten großgewachsenen Männer. Er trug einen Vollbart. Seine Züge waren schwartig und dick, derb modelliert wie die einer Holzschnitzerei; aber in seinen kleinen schwarzen Augen funkelten Intelligenz und Kühnheit. Sein Haar war kurz, schwarz und borstig. Nightspore war von mittlerer Größe, sah aber so hart und zäh aus, daß man den Eindruck hatte, er habe sich durch zielbewußtes Training aller menschlichen Schwächen und Empfänglichkeiten entledigt. Sein bartloses Gesicht schien von einem brennenden geistigen Hunger verzehrt, seine Augen hatten einen wilden Blick visionärer Entrücktheit. Bevor ein Wort gesprochen wurde, veranlaßte ein lautes und furchtbares Krachen wie von einstürzendem Mauerwerk die Versammelten, erschreckt von ihren Stühlen aufzuspringen. Es hörte sich an, als ob das ganze Obergeschoß des Hauses zusammengebrochen sei. Faull sprang zur Tür und rief dem Diener zu, er solle sagen, was das zu bedeuten habe. Er mußte seine Frage wiederholen, bevor der Mann begriff, was von ihm erwartet wurde. Er sagte, er habe nichts gehört. Dem Befehl seines Herrn folgend, ging er hinauf und überprüfte die oberen Räume. Doch dort war alles in Ordnung, und auch die Hausmädchen hatten nichts gehört. Unterdessen war Backhouse, der beinahe als einziger unter den Anwesenden Ruhe und Kaltblütigkeit bewahrt hatte, zu Nightspore gegangen, der nervös an seinen Nägeln kaute. »Vielleicht können Sie es erklären, Sir?« »Es war übernatürlich«, sagte Nightspore in einem rauhen, gedämpften Ton, um sich dann von Backhouse abzuwenden. »Ich dachte es mir. Es ist ein vertrautes Phänomen, aber ich habe
es nie so laut gehört.« Er ging unter die Gäste und beruhigte sie. Nach und nach legte sich ihre Aufregung, aber es war deutlich zu sehen, daß ihr vorheriges heiteres und freudig-erwartungsvolles Interesse an den Vorgängen sich nun zu angestrengter Wachsamkeit gewandelt hatte. Maskull und Nightspore nahmen die ihnen zugewiesenen Plätze ein. Mrs. Trent warf ihnen wiederholt verstohlene und unbehagliche Blicke zu. Während des gesamten Zwischenfalls wurde Mozarts Zwischenaktmusik weitergespielt. Auch das Orchester hatte nichts gehört. Backhouse begann nun mit seiner Arbeit. Es war eine, die ihm vertraut war, und er war über den Ausgang seiner Vorführung nicht besorgt. Es war nicht möglich, die Materialisierung durch eine bloße Willensanstrengung oder die Ausübung irgendeiner Fähigkeit herbeizuführen; andernfalls hätten viele Leute tun können, was zu tun er sich anheischig gemacht hatte. Seine Natur war in einem besonderen Sinne phänomenal – die Trennwand zwischen ihm selbst und der geistigen Welt war an vielen Stellen durchbrochen. Durch die Lücken seines Geistes traten die Bewohner des Unsichtbaren, wenn er sie herbeirief, für einen Moment schüchtern und furchtsam in das bunte, fühlbare Universum der Materie. Er konnte nicht sagen, wie es bewirkt wurde… Der Vorgang strengte den Körper nicht weniger an als den Geist, und viele solcher Kämpfe würden wahrscheinlich zu Wahnsinn und frühem Tod führen. Darum gab sich Backhouse ernst und manchmal brüsk. Das vulgäre, niedrige Mißtrauen einiger Zeugen, der frivole Ästhetizismus anderer und die unreife Sensationsgier aller übrigen waren ihm verhaßt; aber er war gezwungen zu leben, und um seinen Unterhalt zu bezahlen, mußte er diese Dinge auf sich nehmen. Er wandte sich der hölzernen Couch zu und setzte sich. Seine Augen blieben offen, schienen jedoch nach innen zu blicken. Sein Gesicht erblaßte und fiel merklich ein. Spannung bemächtigte sich der Zuschauer; sie vergaßen fast zu atmen. Die Sensibleren unter ihnen begannen, seltsame Phänomene ringsum wahrzunehmen oder sich einzubilden. Maskulls Augen glitzerten in Erwartung, und seine
Brauen gingen in die Höhe und wieder herunter; nur Nightspore schien gelangweilt. Nach langen zehn Minuten sah man, wie der Sockel der Statue ein wenig undeutlich wurde, als ob ein Dunst vom Boden aufstiege. Dieser Dunst verdichtete sich langsam zu einer sichtbaren Wolke, die träge hierhin und dorthin trieb und ständig ihre Form veränderte. Der Professor erhob sich halb von seinem Stuhl und hielt seine Brille mit einer Hand fest, während er sie auf seinem Nasenrücken weiter nach vorn schob. Allmählich gewann die Wolke die Dimensionen und ungefähren Umrisse eines erwachsenen menschlichen Körpers, obgleich alles noch immer vage und verwischt blieb. Die Erscheinung schwebte in der Luft, ungefähr einen Fuß über der Oberfläche der Couch. Backhouse sah hager und erschöpft aus. Mrs. Jameson fiel in Ohnmacht, aber niemand bemerkte es, und bald kam sie wieder zu sich. Die Erscheinung ließ sich nun auf die Couch nieder, und in dem Moment, da sie es tat, schien sie plötzlich dunkel, fest und menschenähnlich zu werden. Viele von den Gästen waren so blaß wie das Medium, aber Faull hatte seine stoische Lethargie bewahrt und fand Zeit, einmal oder zweimal zu Mrs. Trent zu blicken. Sie starrte wie gebannt auf die Couch und drehte ein kleines Spitzentaschentuch zwischen den Fingern. Die Musik dauerte an. Die Gestalt war inzwischen unverkennbar die eines liegenden Mannes. Das Gesicht fixierte sich zu Individualität. Der Körper war in eine Art Bahrtuch gehüllt, doch die Züge waren die eines jungen Mannes. Eine glatte Hand fiel schlaff herab, weiß und scheinbar leblos, so daß sie beinahe den Boden berührte. Die nervenschwächeren Mitglieder der Gesellschaft starrten die Vision in krankem Entsetzen an, die übrigen waren ernst und betroffen. Der Mann, der sich dort vor ihnen materialisiert hatte, war tot, doch irgendwie schien es nicht ein Tod zu sein, der dem Leben folgte, sondern einer, der ihm vorausging. Alle fühlten, daß er jeden Augenblick aufstehen könnte. »Bringen Sie diese Musik zum Schweigen!« stieß Backhouse
hervor, der sich wankend von seinem Stuhl erhoben hatte und der Schar seiner Zuschauer gegenüberstand. Faull läutete ein Signal. Nach wenigen Takten verstummte das Orchester, und dann herrschte völlige Stille. »Jeder, der den Wunsch hat, mag zur Couch kommen«, sagte Backhouse mit einiger Mühe. Sofort erhob sich Lang von seinem Platz und trat näher; dann starrte er von Ehrfurcht ergriffen auf den übernatürlichen jungen Mann hinab. »Es steht Ihnen frei, ihn zu berühren«, sagte das Medium. Aber Lang wagte es nicht, noch wagte es einer von den anderen, die sich nun einzeln zögernd zur Couch wagten; bis Faull an die Reihe kam. Er blickte Mrs. Trent an, die angesichts des Schauspiels ängstlich und angeekelt schien, und dann berührte er die Erscheinung nicht nur, sondern ergriff die herabhängende Hand mit der seinen und drückte sie kräftig. Mrs. Trent stieß einen leisen Schrei aus. Der geisterhafte Besucher öffnete die Augen, blickte Faull seltsam an und setzte sich auf. Ein kryptisches Lächeln begann seinen Mund zu umspielen. Faull bildete auf seine Hand; ein Gefühl intensiven Wohlbefindens ging durch seinen Körper. Maskull fing Mrs. Jameson auf; sie war von einem weiteren Ohnmachtsanfall überwältigt worden. Mrs. Trent eilte herbei und half ihr aus dem Raum. Keine der beiden kehrte zurück. Das Phantom stand jetzt aufrecht und blickte mit seinem sonderbaren Lächeln umher. Prior fühlte eine jähe Übelkeit und ging hinaus. Die anderen Männer standen in einer zusammengedrängten kleinen Gruppe, als suchten sie in der Herde Schutz vor dem Außergewöhnlichen, doch Nightspore wanderte müde und ungeduldig auf und ab, als habe er schon zu lange gewartet, während Maskull den jungen Mann zu befragen versuchte. Die Erscheinung sah ihn mit verblüffter Miene an, antwortete jedoch nicht. Backhouse saß abseits, das Gesicht in den Händen vergraben. In diesem Moment wurde die Tür gewaltsam aufgestoßen, und ein unangemeldeter Fremder rannte in den Raum, wo er nach einigen
Schritten stehenblieb. Keiner von Faulls Freunden hatte ihn je gesehen. Er war ein kurzer, dicklicher Mann mit überraschend entwickelten Muskeln und einem Kopf, der im Verhältnis zu seinem Körper zu groß erschien. Sein bartloses, gelbliches Gesicht zeigte eine auf den ersten Blick verwirrende Mischung von Klugheit, Brutalität und Humor. »Guten Abend, meine Herren!« rief er laut. Seine Stimme war durchdringend und dem Ohr unangenehm. »Da ist ja der kleine Besucher.« Nightspore kehrte dem Fremden den Rücken zu, aber alle anderen starrten ihn verblüfft an. Er ging bis an den Rand der Bühnenausstattung, wo er wieder haltmachte. »Darf ich fragen, Sir, wie ich zu der Ehre komme. Ihr Gastgeber zu sein?« fragte Faull verdrießlich. Er fand, daß der Abend nicht so zufriedenstellend verlief, wie er erwartet hatte. Der Eindringling blickte ihn eine Sekunde lang an, dann brach er in brüllendes Lachen aus. Er schlug Faull spielerisch auf den Rücken, doch das Spiel war ziemlich grob, denn das Opfer taumelte gegen die Wand, bevor es sein Gleichgewicht wiedergewann. »Guten Abend, mein Gastgeber!« rief der Fremde. »Und auch dir einen guten Abend, mein Junge!« fuhr er fort, diesmal zu dem übernatürlichen jungen Mann gewandt, der nun im Raum umherzuwandern begann, anscheinend ohne etwas von seiner Umgebung zu bemerken. »Ich habe schon mal einen gesehen, der dir sehr ähnlich war, glaube ich.« Es gab weder eine Antwort noch eine Reaktion. Der Fremde vertrat dem Phantom den Weg und schob sein Gesicht nahe an das seines Gegenübers heran. »Du hast kein Recht, hier zu sein, wie du wohl weißt.« Die Erscheinung sah ihn mit einem bedeutungsvollen Lächeln an, das jedoch niemand verstand. »Seien Sie vorsichtig in dem, was Sie tun«, sagte Backhouse schnell. »Was ist los, Geisterbeschwörer?«
»Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber wenn Sie gegen diese Gestalt physische Gewalt anwenden, wie Sie geneigt zu sein scheinen, könnten die Konsequenzen sich als sehr unangenehm erweisen.« »Und Unannehmlichkeiten würden unseren Abend verderben, nicht wahr, mein kleiner Söldnerfreund?« Der Humor verschwand aus seinem Gesicht wie Sonnenlicht aus einer Landschaft und ließ es hart und felsig zurück. Bevor einer der Anwesenden begriff, was er tat, packte er den weichen, weißen Hals des materialisierten Jugendlichen mit seinen haarigen Pranken und drehte ihn mit doppeltem Zupacken einmal ganz herum. Ein schwacher, unirdischer Schrei ertönte, und der Junge brach zusammen. Die Gäste waren unaussprechlich schockiert zu sehen, daß sein Gesichtsausdruck sich von dem geheimnisvollen, aber faszinierenden Lächeln zu einem vulgären, schmutzigen Grinsen verändert hatte, das einen kalten Schatten moralischer Schlechtigkeit in jedes Herz warf. Die Verwandlung wurde von einem ekelerregenden Verwesungsgestank begleitet. Die Gesichtszüge des jungen Mannes verfielen rasch, der Körper verlor seine feste Beschaffenheit und seinen Zusammenhalt und ging wieder in den schattenhaften Zustand über, und bevor zwei Minuten verstrichen waren, war die Erscheinung völlig verschwunden. Der untersetzte Fremde wandte sich um und konfrontierte die Gesellschaft mit einem langen, schallenden Gelächter. Der Professor redete leise und aufgeregt auf Kent-Smith ein. Faull winkte Backhouse hinter ein Versatzstück und reichte ihm wortlos seinen Scheck. Das Medium steckte ihn in die Tasche, knöpfte die Jacke zu und ging hinaus. Lang folgte ihm, um etwas zu trinken. Der Fremde musterte Maskull von oben bis unten, dann sagte er: »Nun, Riese, was halten Sie von alledem? Möchten Sie nicht das Land sehen, wo solche Früchtchen wild wachsen?« »Was für Früchtchen?« »Wie dieses Musterexemplar von einem Gnom.« Maskull schob ihn mit seiner riesigen Hand beiseite. »Wer sind Sie, und wie sind Sie hierhergekommen?«
»Rufen Sie Ihren Freund. Vielleicht erkennt er mich.« Nightspore hatte seinen Stuhl zum Kaminfeuer getragen und beobachtete mit seinem verschlossenen, fanatischen Gesichtsausdruck die Flammen. »Krag soll zu mir kommen, wenn er was von mir will«, sagte er. »Sehen Sie, er kennt mich«, sagte Krag und grinste wieder. Er ging zu Nightspore hinüber und legte eine Hand auf die Stuhllehne. »Immer noch derselbe nagende Hunger?« »Was machen Sie hier?« fragte Nightspore unwillig, ohne seine Haltung zu verändern oder den anderen anzusehen. »Surtur ist fort, und wir müssen ihm folgen.« »Wie kommt es, daß Sie einander kennen, und von wem sprechen Sie?« fragte Maskull, der stirnrunzelnd und verwundert von einem zum anderen blickte. »Krag hat etwas für uns. Gehen wir hinaus«, erwiderte Nightspore. Er stand auf und blickte über die Schulter. Als Maskull seiner Blickrichtung folgte, sah er, daß die wenigen verbliebenen Gäste ihre kleine Gruppe aufmerksam und mißtrauisch beobachteten.
2 Die drei Männer versammelten sich vor dem Haus auf der Straße. Die Nacht war ein wenig frostig, aber sehr klar, und es blies ein Ostwind. Die Vielzahl der Sterne ließ den Himmel wie eine ungeheure Schriftrolle voller Hieroglyphen erscheinen. Maskull verspürte eine unerklärliche Erregung; er hatte das Gefühl, daß etwas Außergewöhnliches zu geschehen im Begriff sei. »Was brachte Sie heute abend zu diesem Haus, Krag, und was veranlaßte Sie zu Ihrer Tat? Wie haben wir diese Erscheinung zu verstehen?« »Das muß der Gesichtsausdruck des Kristallmanns gewesen sein«, murmelte Nightspore mehr zu sich selbst.
»Wir haben das diskutiert, nicht wahr, Maskull? Maskull ist begierig, diese seltene Frucht in ihrer einheimischen Wildnis zu selten.« Maskull beobachtete Krag und versuchte dabei, seine eigenen Empfindungen zu analysieren. Die Persönlichkeit des anderen stieß ihn entschieden ab, doch neben dieser Aversion schien eine wilde, kraftvolle Energie in seinem Herzen zu erwachen, die in irgendeiner seltsamen Art und Weise auf Krag zurückgehen mußte. »Warum bestehen Sie auf diesem Vergleich?« fragte er. »Weil es ein passender Zeitpunkt ist. Nightspore hat völlig recht. Das war das Gesicht des Kristallmanns, und wir werden in das Land des Kristallmanns reisen.« »Und wo ist dieses mysteriöse Land?« »Tormance.« »Das ist ein wunderlicher Name. Aber wo liegt es?« Krag grinste und zeigte im Licht der Straßenlaterne seine gelben Zähne. »Es ist der Wohnvorort von Arcturus.« »Wovon redet er, Nightspore? Meinen Sie etwa den Stern dieses Namens?« fragte er dann, zu Krag gewandt. »Den Sie in dieser Minute vor sich haben«, sagte Krag. Er streckte seinen Arm aus und zeigte mit dickem Finger auf den hellsten Stern im Südosthimmel. »Dort sehen Sie Arktur oder Arcturus, den ›Bärenjäger‹, wie ihn die Alten nannten, und Tormance ist sein einziger bewohnter Planet.« Maskull spähte zu dem hell strahlenden Stern hinauf, dann richtete er seinen Blick wieder auf Krag. Er zog eine Pfeife hervor und begann sie zu stopfen. »Sie scheinen eine neue Art von Humor zu kultivieren.« »Es freut mich, wenn ich Sie amüsieren kann, Maskull, wenn auch nur für ein paar Tage.« »Ich wollte Sie vorhin schon fragen – woher wissen Sie meinen Namen?« »Es wäre komisch, wenn ich ihn nicht wüßte, denn ich bin nur
Ihretwegen hierher gekommen. Übrigens sind Nightspore und ich alte Freunde.« Maskull verharrte in seiner Bewegung des Pfeifenanzündens und stand bewegungslos, das Zündholz in den Fingern. »Sie kamen meinetwegen hierher?« »Gewiß. Ihretwegen und wegen Nightspore. Wir drei werden Reisegefährten sein.« Maskull zündete endlich seine Pfeife an und brachte sie paffend in Gang. Als er mit ihr zufrieden war, nahm er sie aus dem Mund und sagte kühl: »Tut mir leid, Mr. Krag, aber ich muß annehmen, daß Sie verrückt sind.« Krag warf den Kopf in den Nacken und stieß ein krächzendes Lachen aus. »Bin ich verrückt, Nightspore?« »Ist Surtur nach Tormance gegangen?« fragte Nightspore mit erregter, halberstickter Stimme, seine Augen starr auf Krags Gesicht gerichtet. »Ja, und er erwartet, daß wir ihm sofort folgen.« Maskulls Herz begann dumpf zu pochen. Das alles klang wie ein Gespräch aus einem unheimlichen Traum. »Seit wann, Mr. Krag, erwarten wildfremde Leute von mir, daß ich irgend etwas tue? Und wer ist dieses Individuum?« »Krags Chef«, erklärte Nightspore leise. »Das Rätsel ist mir zu kompliziert. Ich gebe auf.« »Sie suchen nach Geheimnissen«, sagte Krag, »also finden Sie natürlich überall welche. Versuchen Sie, Ihre Vorstellungen zu vereinfachen, mein Freund. Die Angelegenheit ist klar und ernst.« Maskull starrte ihn an, heftig an seiner Pfeife paffend. »Woher sind Sie gekommen?« fragte Nightspore plötzlich. »Vom alten Observatorium in Starkness… Haben Sie jemals von dem berühmten Starkness-Observatorium gehört, Maskull?« »Nein. Wo ist es?« »An der Nordostküste Schottlands. Von Zeit zu Zeit werden dort seltsame Entdeckungen gemacht.«
»Zum Beispiel, wie man Reisen zu den Sternen macht. Dieser Surtur ist also ein Astronom? Und Sie auch, wie ich annehme?« Krag grinste wieder. »Wie lange werden Sie benötigen, um Ihre Geschäfte hier abzuwickeln? Wann können Sie reisefertig sein?« »Sie sind sehr besorgt, ich danke Ihnen«, sagte Maskull mit einem kurzen Auflachen. »Ich begann zu befürchten, daß Sie mich sofort wegschleppen würden… Wie auch immer, ich habe weder eine Frau, noch berufliche Verpflichtungen oder Besitz, der verwaltet werden müßte, also brauchen wir auf nichts zu warten – welchen Reiseweg nehmen wir?« »Sie sind ein glücklicher Mann. Ein kühnes, wagemutiges Herz und keinen Anhang.« Krags Lächeln verlor sich plötzlich, und sein Gesicht wurde streng und ernst. »Seien Sie kein Dummkopf, und verweigern Sie nicht ein Geschenk des Glücks. Ein zurückgewiesenes Geschenk wird nicht ein zweites Mal angeboten.« »Krag«, sagte Maskull, während er seine Pfeife ausklopfte und in die Tasche steckte, »ich ersuche Sie, sich in meine Lage zu versetzen. Selbst wenn ich ein Mann wäre, der nach Abenteuern giert, wie könnte ich ernsthaft auf einen so unsinnigen Vorschlag eingehen? Was weiß ich über Sie oder Ihre Vergangenheit? Sie mögen ein Mann mit einer Neigung zu handgreiflichen Scherzen sein, oder Sie mögen aus einem Irrenhaus entlaufen sein – ich weiß nichts davon. Wenn Sie angeben, ein besonderer Mann zu sein, und wenn Sie meine Mitarbeit wünschen, müssen Sie mir auch besondere Beweise vorlegen.« »Und welche Beweise würden Sie als hinreichend betrachten, Maskull?« sagte Krag. Seine Hand ergriff Maskulls Arm, und ein scharfer, eisiger Schmerz durchlief dessen Körper; gleichzeitig schien sein Gehirn Feuer zu fangen. Ein Licht wie die aufgehende Sonne flammte auf. Er fragte sich zum erstenmal, ob diese fantastische Konversation sich womöglich auf reale Dinge beziehen könnte. »Hören Sie zu, Krag«, sagte er langsam, während Vorstellungsbilder und Ideen in wirrer Unordnung durch seinen
Geist zogen. »Sie sprechen von einer bestimmten Reise. Nun, wenn diese Reise möglich wäre und ich die Gelegenheit erhielte, sie zu machen, würde ich bereit sein, selbst wenn es bedeuten würde, daß ich niemals zurückkehre. Für vierundzwanzig Stunden auf diesem Planeten der Sonne Arktur würde ich mein Leben geben, glaube ich. Das ist meine Haltung zu dieser Reise… Nun beweisen Sie mir, daß Sie nicht bloß Unsinn reden. Legen Sie mir Ihre Beglaubigung vor.« Krag starrte ihn die ganze Zeit über an, und allmählich nahm sein Gesicht wieder den heiteren Ausdruck an. »Oh, Sie werden Ihre vierundzwanzig Stunden bekommen, und vielleicht noch mehr, aber nicht viel. Sie sind ein wagemutiger Mann, Maskull, aber diese Reise wird sich als ein wenig anstrengend erweisen, selbst für Sie… Und nun wollen Sie ein Zeichen des Himmels, wie die Ungläubigen in früheren Zeiten?« Maskull runzelte die Stirn. »Aber die ganze Sache ist lächerlich. Unsere Gehirne sind übererregt, weil wir diese Erscheinung gesehen haben, oder was immer es war. Lassen Sie uns nach Hause gehen und es überschlafen; morgen wird es sich anders ausnehmen.« Krag hielt ihn mit einer Hand zurück, während er mit der anderen in seiner Brusttasche kramte. Im nächsten Moment brachte er etwas zum Vorschein, das an ein Vergrößerungsglas in einem Etui erinnerte. Der Durchmesser der Linse machte kaum fünf Zentimeter aus. »Werfen Sie zuerst einen Blick auf Arktur, Maskull, das mag Ihnen als ein provisorisches Zeichen des Himmels dienen. Mehr kann ich Ihnen unglücklicherweise nicht bieten. Ich bin kein reisender Magier… aber seien Sie vorsichtig und lassen Sie das Glas nicht fallen. Es ist ziemlich schwer.« Maskull nahm die Linse in die Hand, mühte sich damit ab und warf Krag einen verblüfften Blick zu. Der kleine Gegenstand wog wenigstens zwanzig Pfund, obwohl seine Größe nicht die eines Fünfmarkstücks übertraf. »Was für ein Zeug kann dies sein, Krag?« »Sehen Sie durch, mein guter Freund, darum habe ich es Ihnen
gegeben.« Maskull hob das Glas mit einigen Schwierigkeiten, richtete es auf den leuchtenden Arktur und beobachtete den Stern, solange es die Muskeln seines Armes zuließen. Der Stern, der dem unbewaffneten Auge als ein strahlender Lichtpunkt erschien, spaltete sich nun, durch das Glas gesehen, deutlich in zwei helle, kleine Sonnen, deren größere gelblich strahlte, während der kleinere Begleiter von einem schönen blassen Blau war. Aber dies war nicht alles. In der Nähe war ein vergleichsweise kleines und schwierig auszumachendes Objekt, das ein Satellit des Doppelsterns sein mußte, denn es schien nicht durch sein eigenes Licht zu leuchten, sondern das Licht der beiden Zentralgestirne zu reflektieren… Maskull senkte und hob seinen Arm wiederholt. Das gleiche Schauspiel zeigte sich jedesmal, wenn er durch die Linse blickte, aber er konnte nichts anderes sehen. Zuletzt gab er die Linse Krag ohne ein Wort zurück, stand da und kaute auf der Unterlippe herum. »Werfen Sie auch einen Blick durch«, sagte Krag und hielt das Glas Nightspore hin. Nightspore kehrte ihm den Rücken zu und begann auf und ab zu gehen. Krag lachte sarkastisch und steckte die Linse wieder ein. »Nun, Maskull, sind Sie zufrieden?« »Arktur ist also ein Doppelstern. Und ist dieser dritte, kleinere Lichtpunkt der Planet Tormance?« »Unsere zukünftige Heimat, Maskull.« Maskull grübelte weiter. »Sie fragen, ob ich zufrieden sei. Ich weiß es nicht. Krag. Es ist wie ein Wunder, und das ist alles, was ich darüber sagen kann… Aber eins ist mir klargeworden; in Starkness muß es ausgezeichnete Astronomen geben, und wenn Sie mich in Ihr Observatorium einladen wollen, werde ich bestimmt kommen.« »Ich lade Sie ein. Von dort aus starten wir nämlich.« »Und Sie, Nightspore?« fragte Maskull. »Die Reise muß unternommen werden«, antwortete sein Freund in einem undeutlichen Ton, »obwohl ich nicht einsehe, was daraus werden soll.«
Krag schoß ihm einen durchbohrenden Blick zu, dann sagte er zu Maskull: »Man müßte aufregendere und bemerkenswertere Abenteuer als dieses arrangieren, um Nightspore in Wallung zu versetzen.« »Und doch kommt er mit.« »Aber nicht con amore. Er kommt nur mit, um Ihnen Gesellschaft zu leisten.« Maskulls Augen suchten wieder den hellen, nun auf einmal düster erscheinenden Stern, der in einsamer Helligkeit den Südosthimmel beherrschte, und als er hinaufblickte, wuchs in ihm ein großes und schmerzhaftes Verlangen, eine Sehnsucht, für die er keine Erklärung wußte. Er fühlte, daß sein Schicksal in irgendeiner Weise mit dieser gigantischen und fernen Doppelsonne verbunden war. Aber sein Intellekt weigerte sich noch immer, Krags Ernsthaftigkeit anzuerkennen. Er hörte seine Abschiedsworte in tiefer Geistesabwesenheit, und erst nachdem mehrere Minuten vergangen waren und er sich allein mit Nightspore sah, begriff er, daß Krags letzte Bemerkungen sich auf so weltliche Dinge wie Reiserouten und Fahrpläne bezogen hatten. »Fährt Krag mit uns nach Norden, Nightspore? Ich hatte eben nicht aufgepaßt.« »Nein. Wir fahren voraus, und er stößt übermorgen abend zu uns, wenn wir in Starkness sind.« Maskull blieb nachdenklich. »Was soll ich von diesem Mann halten?« »Zu Ihrer Information«, erwiderte Nightspore verdrießlich, »er hat meines Wissens noch nie gelogen.«
3 Zwei Tage später erreichten Maskull und Nightspore gegen zwei Uhr
nachmittags das Starkness-Observatorium, nachdem sie zu Fuß die sieben Meilen von der Bahnstation Haillar zurückgelegt hatten. Es war eine sehr einsame und wildromantische Gegend, und die Landstraße folgte die meiste Zeit dem Rand der ziemlich hohen, steil zur Nordsee abstürzenden Klippen. Die Sonne schien, doch ein frischer Ostwind blies, und die Luft war kalt und schmeckte salzig. Weiße Schaumkronen fleckten die dunkelgrünen Wellen. Während der ganzen Wanderung wurden sie von den klagenden, durchdringenden Schreien der Möwen begleitet. Das Observatorium stellte sich als eine isolierte kleine Gebäudegruppe heraus, unmittelbar am Klippenrand errichtet. Es gab drei Gebäude: ein kleines, steinernes Wohnhaus, einen niedrigen Schuppen, der Werkstätten zu beherbergen schien, und – ungefähr zweihundert Schritte weiter nördlich – einen gedrungenen Turm aus Granitmauerwerk, der etwa fünfundzwanzig Meter hoch sein mochte. Ein mit Unrat und Abfällen übersäter offener Hof trennte Wohnhaus und Schuppen. Eine Steinmauer umgab das Areal auf der Landseite, während das Haus selbst unmittelbar an den Klippenrand gebaut war und gewissermaßen eine Fortsetzung der Felsabstürze bildete. Niemand ließ sich blicken. Alle Fenster waren geschlossen, und Maskull hatte den Eindruck, daß die gesamte Anlage verlassen sei. Sie gingen durch das offene Tor zum Haus und klopften kräftig an die Tür. Der bronzene Klopfer war von einer dicken Staubschicht überzogen und offensichtlich lange nicht benutzt worden. Maskull legte sein Ohr an die Tür, konnte aber keine Bewegungen im Innern des Hauses hören. Er drückte auf die Klinke, doch die Tür war verschlossen. Sie gingen um das Haus und suchten nach einem anderen Eingang, aber es gab nur die eine Tür. »Das ist nicht gerade vielversprechend«, grollte Maskull. »Kein Mensch ist hier… Nun, versuchen Sie es mit dem Schuppen, während ich zum Turm hinübergehe.« Nightspore, der seit dem Verlassen des Zugs noch kein Dutzend
Worte gesprochen hatte, kam seiner Aufforderung schweigend nach und entfernte sich über den Hof. Maskull ging wieder durch das Tor in der Umfassungsmauer und schlug den Weg zum Observatorium ein. Als er den Fuß des Turms erreichte, der von einer Kuppel gekrönt war und ein Stück landeinwärts vom Klippenrand stand, entdeckte er, daß die Tür mit einem schweren Vorhängeschloß gesichert war. Aufblickend sah er sechs Fenster in gleichmäßigen Abständen übereinander, alle auf der Ostseite, zur See hinaus. Bald war ihm klar, daß auch hier nichts zu erreichen war, und er kehrte zurück, noch um einiges nervöser und gereizter als zuvor. Als er Nightspore traf, meldete dieser, daß auch der Schuppen verschlossen sei. »Haben wir eine Einladung erhalten oder nicht?« fragte Maskull zornig. »Das Haus ist leer«, erwiderte Nightspore, wieder mit seiner widerlichen Gewohnheit des Nägelkauens beschäftigt. »Am besten schlagen Sie ein Fenster ein.« »Ich habe ganz gewiß nicht die Absicht, im Freien zu kampieren, bis Krag zu kommen geruht.« Er hob einen alten eisernen Riegel auf, ging ein Stück zurück und schleuderte ihn gegen das Fenster neben der Eingangstür. Die Scheibe zersplitterte, und Maskull steckte den Kopf vorsichtig durch die Öffnung. Im Haus rührte sich nichts. Er griff durch das Loch und öffnete die Fensterverriegelung. Sekunden später waren sie durchgeklettert und standen im Wohnhaus. Der Raum, der eine Küche war, befand sich in einem unbeschreiblich schmutzigen und vernachlässigten Zustand. Die Möbel hielten kaum zusammen, zerbrochene Utensilien und Unrat lagen auf dem Boden, und alles war von dicken Staubablagerungen bedeckt. Die Luft war so muffig und modrig, daß Maskull vermutete, seit mehreren Monaten könne keine frische Luft hereingekommen sein. Schaben und Asseln krochen an den Wänden und in schimmelig-feuchten Winkeln. Sie durchstöberten die anderen Räume im Erdgeschoß – einen Abstellraum, eine Speisekammer, ein spärlich möbliertes Eßzimmer,
eine Waschküche und einen Lagerraum für Brennholz und Kohlen. Überall begegneten ihnen der gleiche Schmutz und die gleiche Verwahrlosung. Wenigstens ein halbes Jahr mußte verstrichen sein, seit diese Räume Bewohner gesehen hatten. »Ist Ihr Glaube an Krag noch unerschüttert?« fragte Maskull. »Ich muß bekennen, daß der meine im Schwinden ist. Wenn diese ganze Angelegenheit nicht ein einziger, ziemlich geschmackloser Scherz ist, dann verspricht sie jedenfalls einer zu werden. Krag hat nie in seinem Leben hier gelebt.« »Kommen Sie zuerst mit nach oben«, sagte Nightspore. Die oberen Räume waren eine Art Bibliothek, ein Aufenthaltsraum und drei Schlafzimmer. Alle Fenster waren fest verschlossen, und die Luft war unerträglich. Jemand hatte in den Betten geschlafen, augenscheinlich vor langer Zeit, und sie waren seither nicht gemacht worden. Das zerknitterte fleckige Bettzeug bewahrte noch die Körperabdrücke der Schläfer, doch es gab keinen Zweifel, daß diese Abdrücke alt waren, denn Staub und Rußteilchen hatten sich auf Decken und Laken angesammelt. »Wer könnte hier geschlafen haben?« sagte Maskull. »Das Personal des Observatoriums? Was meinen Sie?« »Wahrscheinlich Reisende wie wir. Sie verließen dieses Haus in Eile.« Maskull stieß in jedem Raum, den er betrat, die Fenster weit auf und hielt den Atem an, bis frische Luft hereingeströmt war. Zwei Schlafzimmer gingen zur Seeseite hinaus; das dritte und die Bibliothek lagen auf der Westseite, wo sanft ansteigendes Heideund Moorland zu sehen war. Diese Bibliothek war der letzte Raum, den sie besuchten, und Maskull war entschlossen, die ganze Angelegenheit als einen derben und kostspieligen Scherz anzusehen, wenn sie auch hier keine Zeichen frischer Benutzung entdeckten. Die Bibliothek glich den anderen Räumen. Auch hier war die Luft abgestanden und muffig, auch hier war alles von einer Staubschicht bedeckt. Nachdem Maskull ein Fenster aufgestoßen hatte, ließ er sich schwerfällig in einen Sessel fallen und blickte verdrießlich zu
seinem Freund auf. »Nun, wie denken Sie nun von Krag?« Nightspore wischte den Staub von der Kante des Tischs, der vor dem Fenster stand, und setzte sich darauf. »Er könnte uns immerhin eine Botschaft hinterlassen haben.« »Was für eine Botschaft? Warum? Sie meinen, in diesem Raum? Ich sehe keine Botschaft.« Nightspore ließ seinen Blick durch den Raum wandern, schließlich starrte er eine Vitrine mit Glastüren an, die einige alte Flaschen enthielt und sonst nichts. Maskull sah ihn an, sah dann zur Vitrine. Wortlos stand er auf, um die Flaschen näher zu untersuchen. Es waren vier, und eine von ihnen war größer als die übrigen drei. Die kleineren waren ungefähr zwanzig Zentimeter lang. Alle hatten die Form von Geschossen. Zwei von den kleineren Behältern waren leer und ohne Stöpsel, die anderen enthielten eine farblose Flüssigkeit und waren mit eigenartig aussehenden, düsenähnlichen Stöpseln versehen, die durch einen dünnen Metallstab mit einem Schließhaken auf halber Höhe der Flasche verbunden waren. Sie trugen vergilbte Etiketten mit Aufschriften, die kaum noch zu entziffern waren. Maskull trug die gefüllten Flaschen zu dem Tisch am Fenster, um besseres Licht zu haben, und Nightspore machte ihm Platz. Auf der größeren Flasche waren nun die Worte ›Solare Rückstrahler zu sehen, und auf einer anderen glaubte er nach einigen Zweifeln etwas wie ›Arkturische Rückstrahlen‹ auszumachen. Er blickte neugierig auf. »Sind Sie schon mal hiergewesen, Nightspore?« »Ich nahm an, daß Krag eine Botschaft hinterlassen würde.« »Nun, ich weiß nicht – es mag eine Botschaft sein, aber es sagt uns nichts, oder jedenfalls nicht mir. Was sind ›Rückstrahlen‹?« »Licht, das zu seiner Quelle zurückkehrt«, murmelte Nightspore unwillig. »Und was für ein Licht soll das sein?« Nightspores Unwille, die Fragen zu beantworten, wurde noch
deutlicher, aber da er Maskulls Augen unverwandt auf sich gerichtet sah, brachte er hervor: »Wenn das Licht neben der Druckwirkung nicht auch eine Zugwirkung hätte, wie würden die Blumen es dann fertigbringen, ihre Blüten nach der Sonne zu drehen?« »Weiß ich nicht. Ich würde sagen, die Blumen tun das von sich aus. Aber die Sache ist die, wozu sind diese Flaschen gedacht?« Während er sprach und seine linke Hand auf einer der Flaschen ruhte, rollte die andere, die auf der Seite lag, zufällig über die Tischkante. Maskull machte eine schnelle Bewegung, um sie aufzufangen, und seine Hand war bereits an Ort und Stelle, als die Flasche plötzlich vor seinen Augen verschwand. Sie war nicht vom Tisch gerollt, sondern war schon vorher verschwunden. Er blickte verdutzt umher, konnte sie aber nirgends erblicken. Maskull starrte lange auf den Tisch. Nach einer Minute wandte er sich zu Nightspore um und betrachtete ihn mit hochgezogenen Brauen. »Die Botschaft wird komplizierter.« Nightspore machte ein gelangweiltes Gesicht. »Das Ventil lockerte sich«, sagte er. »Der Inhalt ist durch das offene Fenster zur Sonne abgeflossen und hat die Flasche mitgenommen. Aber die Flasche wird in der Erdatmosphäre verbrennen, und der Inhalt wird sich verteilen und die Sonne nicht erreichen.« Maskull lauschte aufmerksam, und das matte Lächeln, das bei seiner Bemerkung auf seine Züge gekommen war, verblaßte. »Hindert uns irgend etwas daran, mit dieser anderen Flasche zu experimentieren?« »Stellen Sie sie ins Regal zurück«, sagte Nightspore. »Arktur ist noch immer unter dem Horizont, und Sie würden nur das Haus ruinieren.« Maskull blieb am Fenster stehen und blickte nachdenklich hinaus auf die sonnenbeschienenen Heideflächen. »Krag behandelt mich wie ein Kind«, bemerkte er nach einer Weile. »Und vielleicht bin ich tatsächlich ein Kind… Mein Zynismus muß sich für Krag sehr amüsant ausgenommen haben. Aber warum überläßt er es mir, alles das selbst herauszufinden –
denn Sie schließe ich nicht mit ein, Nightspore… Aber um welche Zeit wird Krag hier sein?« »Nicht vor Anbrach der Dunkelheit, denke ich«, erwiderte der andere.
4 Inzwischen war es drei Uhr vorbei. Sie hatten eine fast dreistündige Wanderung hinter sich und seit dem frühen Morgen nichts gegessen, und Maskull war sehr hungrig. Er ging ins Erdgeschoß, um nach etwas Eßbarem zu suchen, doch ohne große Hoffnung, etwas zu finden. In der Vorratskammer entdeckte er einen halben Sack moderig riechendes Roggenmehl, etwas guten Tee in einer luftdicht schließenden Dose, und eine ungeöffnete Konserve mit Ochsenzunge. Das beste von allem aber war die unverkorkte Flasche mit erstklassigem Hochlandwhisky, die er im Büfett des Speisezimmers entdeckte. Sofort traf er Vorbereitungen für ein improvisiertes Mahl. Eine Pumpe im Hof lieferte klares Wasser, nachdem er sich am Pumpenschwengel in Schweiß gearbeitet hatte, und er wusch und füllte den alten Teekessel. Einer der Küchenstühle wurde zerschlagen und zu Feuerholz gemacht. Das ausgetrocknete, staubige Holz brannte gut und erzeugte eine gewaltige Hitze, das Teewasser kochte, und Tassen wurden gespült. Zehn Minuten später saßen die beiden Männer in der Bibliothek und dinierten. Nightspore aß und trank wenig, doch Maskull setzte sich mit Heißhunger an den Tisch. Der heiße und fast schwarze Tee wurde im Verhältnis fünfzig zu fünfzig mit dem Whisky gemischt. Von diesem Gebräu trank Maskull eine Tasse nach der anderen, und lange, nachdem die Ochsenzunge verschwunden war, trank er noch immer. Nightspore blickte ihn prüfend an. »Wollen Sie die Flasche leer trinken, bevor Krag kommt?« »Krag wird nichts davon wollen, und man muß etwas tun. Ich fühle
mich unruhig.« »Lassen Sie uns ein wenig Spazierengehen und die Gegend ansehen.« Die Tasse, wieder auf dem Weg zu Maskulls Lippen, verhielt in der Luft. »Denken Sie an etwas Bestimmtes, Nightspore?« »Lassen Sie uns zu der Kluft von Sorgie hinausgehen.« »Was soll das sein?« »Eine Sehenswürdigkeit«, antwortete Nightspore. Maskull zuckte die Achseln, trank seine Tasse leer und stand auf. »Gehen ist immer besser als herumsitzen und trinken, und besonders an einem Tag wie diesem… Wie weit ist es?« »Ungefähr drei Meilen.« »Wahrscheinlich haben Sie etwas im Sinn«, sagte Maskull, »denn ich beginne Sie langsam als einen zweiten Krag zu betrachten. Aber wenn es sich so verhält, desto besser. Ich werde allmählich nervös und brauche Aktivität.« Sie verließen das Haus durch die Tür, die sie angelehnt ließen, und fanden sich kurz darauf wieder auf der schmalen Landstraße, die sie von Haillar hergebracht hatte. Diesmal folgten sie ihr in nördlicher Richtung weiter, vorbei am Observatorium. »Sagen Sie Nightspore, was ist dieser Turm?« »Wir starten von der Plattform oben.« »Heute abend?« Mit einem schnellen Blick. »Ja.« Maskull lächelte, doch seine Augen blieben ernst. »Dann haben wir also das Tor zum Arktur vor uns, und Krag wird es öffnen?« »Ich sehe, Sie halten es nicht mehr für unmöglich«, murmelte Nightspore. Nach einer halben Stunde verließ die Straße die Steilküste und bog nach Westen ab, um das Hügelland zu durchqueren. Sie blieben am Steilufer und wanderten auf einem wenig begangenen Schäferpfad ein Stück den Klippenrand entlang. Nach ungefähr einer weiteren Meile bog auch diese Wegspur landeinwärts ab, und die beiden
Männer wanderten nun weglos und ziemlich mühsam hügelauf und hügelab, durch steinige Rinnen und über abschüssige Grashänge. Die Sonne versank hinter den Hügeln, und unmerklich kam die Dämmerung über das Land. Bald erreichten sie eine Stelle, wo jedes Weiterkommen unmöglich schien. Massige Bergflanken schoben sich hier bis an die Steilküste vor und bildeten unpassierbare, mit schlüpfrigem Gras bewachsene Steilhänge über den lotrecht abfallenden Klippen. Maskull blieb stehen, strich sich den Bart und fragte sich, was der nächste Schritt sein würde. »Es gibt hier ein bißchen Kletterei«, sagte Nightspore. »Aber wir haben beide Übung, und es ist nicht viel dabei.« Er deutete auf eine schmale Leiste, die sich einige Meter unter ihrem Standplatz durch die Felsen zog. Die Breite dieses Simses betrug zwischen einem halben und einem Meter. Ohne Maskulls Zustimmung abzuwarten, kletterte Nightspore hinunter, erreichte das Band und begann ziemlich schnell darauf entlang zu gehen. Maskull sah, daß ihm keine Wahl blieb, und folgte ihm. Das Felsband war ungefähr zweihundert Meter lang, und sein Begehen erforderte absolute Schwindelfreiheit. Maskull war schwindelfrei, doch er fand es trotzdem entnervend. Vor ihren Füßen fielen die Felsstürze in senkrechte Wandfluchten hundertzwanzig Meter in die Tiefe ab. An einigen Stellen war der Sims so schmal, daß sie gezwungen waren, sich seitwärts zu bewegen, ohne einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das Donnern der Brecher drang wie ein unaufhörliches dumpfes Brüllen zu ihnen herauf. Nachdem sie auf dem Sims einen Felsturm umgangen hatten, verbreiterte sich das Band zu einer geräumigen Plattform und kam zu einem jähen Ende. Eine tief in die Felswände gerissene Schlucht trennte sie von der Fortsetzung der Klippen auf der anderen Seite. »Da wir nicht weitergehen können«, sagte Maskull, »nehme ich an, daß dies Ihre Kluft oder Schlucht von Sorgie ist?« »Ja«, antwortete Nightspore. Er ließ sich auf die Knie nieder, dann streckt er sich in seiner ganzen Länge aus, das Gesicht nach unten. Er schob den Kopf und die Schulter über die Kante und spähte in die
schwarze Tiefe, auf deren Grund weißer Gischt schäumte. »Was gibt es dort unten Interessantes, Nightspore?« Als Maskull keine Antwort bekam, folgte er dem Beispiel seines wortkargen Freundes. Viel war nicht zu sehen; die Dämmerung nahm zu, und in der Schlucht war es bereits völlig dunkel, nur die Brandung in dem schmalen Einlaß kontrastierte trübweiß zu den grauen und schwarzen Tönen. Doch während er in die dunkle Tiefe starrte, hörte er etwas, das wie das Schlagen einer Trommel klang. Es war sehr schwach, aber ganz deutlich zu hören. Die Schläge ertönten im Viervierteltakt, und der jeweils dritte Schlag war leicht betont. Die Schläge wurden von den weitaus lauteren Geräuschen der Brandung nicht übertönt, sondern schienen irgendwie einer anderen Welt anzugehören… Als sie wieder aufgestanden waren, fragte er Nightspore: »Sind wir hierhergekommen, nur um das zu hören?« Nightspore warf ihm einen seiner seltsamen Blicke zu. »Die Leute hier in der Gegend nennen es ›Die Trommeln von Sorgie‹. Sie werden diesen Namen nicht wieder hören, aber vielleicht werden Sie das Geräusch noch einmal vernehmen.« »Und wenn ich es vernehme, was soll es bedeuten?« fragte Maskull verwundert. »Es trägt seine eigene Botschaft. Versuchen Sie nur, es deutlicher und immer deutlicher zu hören… Nun wird es dunkel, und wir müssen umkehren.« Maskull zog seine Uhr und sah, daß es sechs vorbei war… Aber er dachte an Nightspores Worte, und nicht an die Zeit. Die Nacht war angebrochen, als sie die Gebäude des Observatoriums erreichten. Die Wolken, die am Nachmittag aufgezogen waren, hatten sich längst aufgelöst, und der schwarze Himmel funkelte von Abertausenden von Sternen. Arktur stand ihnen direkt gegenüber am Osthimmel, ein gutes Stück über der See. Als sie um den Turm herumgingen, bemerkte Maskull plötzlich mit einem Schock, daß die Eingangstür offenstand. Er packte Nightspore am Arm.
»Sehen Sie! Krag ist gekommen.« »Ja, wir müssen schnell zum Haus.« »Und warum nicht in den Turm? Wahrscheinlich ist er hier, denn die Tür ist offen. Ich werde hinaufgehen und nachsehen.« Nightspore grunzte, doch er fügte sich. Im Innern war es stockdunkel. Maskull zündete ein Streichholz an, und das zuckende kleine Licht zeigte ihnen das untere Ende einer Wendeltreppe. »Kommen Sie mit hinauf?« fragte er. »Nein, ich werde hier warten.« Maskull machte sich sofort an den Aufstieg. Doch er hatte kaum ein halbes Dutzend Stufen erstiegen, als er schon pausieren mußte, um Luft zu schnappen. Er schien nicht einen Maskull die Treppe hinaufzuschleppen, sondern drei. Als er weiterging, wurde das Gefühl von unerträglicher Schwere stärker und stärker. Es war ihm körperlich fast unmöglich, weiterzugehen. Seine Lungen konnten nicht genug Sauerstoff aufnehmen, und sein Herz pochte wie ein Schiffsdiesel. Schweiß rann übers Gesicht. Nach zwanzig Stufen hatte er die erste Treppenwindung hinter sich und kam auf gleiche Höhe mit dem untersten Fenster, das in einer hohen Leibung saß. Er begriff, daß er nicht höher steigen konnte, zündete ein zweites Streichholz an und kletterte in die Fensterleibung, die wegen der Dicke der Außenmauer reichlich Platz bot. Er spähte durch das Fenster hinaus, das Zündholz erlosch, und zu seiner Verblüffung entdeckte er, daß es kein Fenster war, sondern eine Linse… Statt der Weite des Sternenhimmels sah er eine verschwommene Dämmerung, scharf nur in der Mitte, wo zwei sehr helle Sterne von der Größe kleiner Monde in enger Konjunktion zu stehen schienen; und in ihrer Nähe war ein viel kleineres planetarisches Objekt, hell wie die Venus und von eben noch erkennbarer Scheibengestalt. Eine der Sonnen verstrahlte grellweißes Licht; die andere ein unheimliches, blasses Blau. Obwohl dieses Licht in der Intensität beinahe der Sonne gleichkam, erhellte es nicht das Innere des Turms. Maskull wußte sofort, daß das Doppelsternsystem, das er
betrachtete, dasselbe war, das den Astronomen als der Stern Arktur bekannt ist… Er hatte das Bild schon einmal gesehen, durch Krags Glas, aber dort war es wesentlich kleiner gewesen, und die Farben waren nicht so zur Geltung gekommen… Diese Farben erschienen ihm wunderbar, als ob er sie mit seinen irdischen Augen nicht ganz richtig sähe, denn er wußte, daß die Farbskala der Sterne eine nur geringe Variationsbreite hatte und daß die meisten dem menschlichen Auge einfach weiß erschienen… Aber die winzige Scheibe des Planeten Tormance starrte er am längsten an. Sollte es ihm wirklich beschieden sein, seinen Fuß auf diese geheimnisvolle Welt zu setzen, ungezählte Milliarden von Kilometern entfernt? Man hatte es ihm versprochen. Die fremden Geschöpfe, die er sehen und berühren sollte, lebten bereits dort, in diesem Moment… Ein leises, seufzendes Wispern drang ihm ans Ohr, von nicht mehr als einem Schritt Entfernung. »Verstehen Sie nicht, Maskull, daß Sie nur ein Instrument sind, das gebraucht und dann zerbrochen wird? Nightspore schläft jetzt, doch wenn er erwacht, müssen Sie sterben. Sie werden gehen, aber er wird zurückkehren.« Maskull zündete hastig ein weiteres Streichholz an und hielt es mit zitternden Fingern. Niemand war in Sicht, und alles war still wie ein Grab. Die Stimme kam nicht wieder. Nachdem er einige Minuten gewartet hatte, stieg er die Treppe wieder hinunter. Sobald er ins Freie trat, war das Gefühl lastender Schwere sofort vergangen, doch er fuhr fort zu keuchen und zu schwitzen, wie ein Mann, der eine viel zu schwere Last geschleppt hat. Nightspores dunkle Gestalt kam auf ihn zu. »War Krag da?« »Wenn er da war, habe ich ihn nicht gesehen. Aber ich hörte jemanden sprechen.« »War es Krag?« »Es war nicht Krag – aber eine Stimme warnte mich vor Ihnen.« »Ja, Sie werden diese Stimmen auch hören«, sagte Nightspore rätselhaft.
5 Als sie zum Haus zurückkamen, waren die Fenster alle in Dunkelheit und die Tür stand angelehnt, wie sie sie verlassen hatten; Krag war anscheinend nicht hier. Maskull ging durch das ganze Haus und zündete in jedem Raum Streichhölzer an. Am Ende der Durchsuchung war er bereit zu schwören, daß der Mann, den sie erwarteten, nicht einmal eine Nase zur Tür hereingesteckt hatte. Sie tasteten sich in die Bibliothek und machten es sich in der völligen Dunkelheit in den Sesseln bequem. Dann warteten sie, denn etwas anderes blieb ihnen nicht zu tun. Maskull zündete seine Pfeife an und begann den Rest des Whiskys zu trinken. Durch das offene Fenster hörten sie das gleichmäßige, dumpfe Brausen der Brandung am Fuß der Steilküste. »Krag muß doch im Turm sein«, bemerkte Maskull nach einiger Zeit. »Ja, er trifft die Vorbereitungen.« »Ich hoffe, er erwartet nicht, daß wir zu ihm kommen. Es ging über meine Kräfte – aber warum, das weiß der Himmel. Die Stufen müssen eine Art magnetische Anziehungskraft haben.« »Es ist die Schwere, die auf Tormance herrscht«, sagte Nightspore. »Ich verstehe… Oder, besser gesagt, ich verstehe nicht… Aber es spielt keine Rolle.« Er rauchte und schwieg. Hin und wieder trank er einen Schluck Whisky. Nach langer Pause fragte er unvermittelt: »Wer ist Surtur?« »Wir anderen sind ungeschickte Stümper und Pfuscher, aber er ist ein Meister.« Maskull verdaute diese Auskunft. »Vielleicht haben Sie recht, denn obwohl ich nichts über ihn weiß, hat sein bloßer Name eine erregende Wirkung auf mich… Sind Sie persönlich mit ihm bekannt?« »Ich muß… ich vergesse…«, murmelte Nightspore mit erstickter
Stimme. Maskull blickte erstaunt auf, konnte in der Finsternis des Raums aber nichts ausmachen. »Sie kennen so viele außergewöhnliche Männer, daß Sie einige von ihnen vergessen können… Vielleicht können Sie mir dies sagen – werden wir ihm dort, wo wir hingehen, begegnen?« »Sie werden dem Tod begegnen, Maskull… Stellen Sie mir keine weiteren Fragen – ich kann sie nicht beantworten.« »Dann werden wir eben weiter auf Krag warten«, sagte Maskull unerschütterlich. Zehn Minuten später hörten sie die Haustür schlagen, und leichte schnelle Schritte kamen die Treppe herauf. Maskull stand auf; das Herz klopfte ihm zum Hals. Krag, eine schwächlich glimmende Laterne in der Hand, erschien in der Türöffnung. Er trug einen Hut und sah streng und unzugänglich aus. Nachdem er die zwei Männer einen Moment lang gemustert hatte, schritt er in den Raum und stellte die Laterne auf den Tisch. Ihr Licht reichte kaum hin, die Wände zu erhellen. »Sie haben also den Weg hierher gefunden, Maskull?« »So scheint es – aber ich werde Ihnen nicht für Ihre Gastfreundschaft danken, denn sie hat durch Abwesenheit geglänzt.« Krag ignorierte die Bemerkung. »Sind Sie bereit zu gehen?« »Jederzeit – wenn Sie es sind. Es ist hier nicht besonders amüsant.« Krag musterte ihn kritisch. »Ich hörte Sie im Turm herumstolpern. Sie konnten nicht hinauf, wie es scheint.« »Das scheint ein Hindernis zu sein, ja, denn Nightspore sagte mir, daß von oben gestartet wird.« »Aber Ihre anderen Zweifel sind alle zerstreut?« »Soweit, Krag, daß ich jetzt unvoreingenommen bin. Ich bin bereit zu sehen, was Sie können.« »Mehr wird nicht verlangt… Aber da ist die Sache mit dem Turm. Sie wissen, daß Sie ungeeignet sind, die Schwerkraft von Tormance auszuhalten, solange Sie nicht in der Lage sind, den Turm zu
ersteigen?« Maskull zuckte die Achseln. »Das ist ein unangenehmes Hindernis, denn ich muß bekennen, daß ich ganz bestimmt nicht hinaufkomme.« Krag wühlte in seinen Taschen und brachte schließlich ein Klappmesser zum Vorschein. »Ziehen Sie Ihre Jacke aus und rollen Sie Ihren Ärmel hoch«, befahl er. »Haben Sie die Absicht, mich mit dem Ding zu operieren?« »Ja, und machen Sie keine Schwierigkeiten, denn die Wirkung ist sicher, aber Sie können sie vorher nicht verstehen.« »Trotzdem, ein Schnitt mit einem Taschenmesser…«, begann Maskull zweifelnd. »Sie werden sehen, Maskull«, unterbrach Nightspore. »Dann entblößen auch Sie Ihren Arm«, sagte Krag. »Lassen Sie uns sehen, woraus Ihr Blut gemacht ist.« Nightspore gehorchte. Krag zog die unangenehm große Klinge des Klappmessers heraus und machte achtlos und doch irgendwie sadistisch einen Einschnitt in Maskulls Oberarm. Die Wunde war tief, und das Blut floß reichlich. Maskull starrte ihn finster an, zornig über die Gleichgültigkeit Krags und den Schmerz. Er sagte: »Sollte man die Wunde nicht verbinden?« Krag drehte sich zu ihm um und spuckte auf den Einschnitt. »Lassen Sie Ihren Hemdsärmel herunter«, sagte er. »Es wird nicht mehr bluten.« Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Nightspore, der die Operation mit grimmiger Gleichgültigkeit über sich ergehen ließ. Krag warf das Messer auf den Boden. Ein von der Wunde ausgehender furchtbarer Schmerz begann plötzlich Maskulls Körper zu erfüllen, und er hatte das Gefühl, ohnmächtig werden zu müssen. Doch schon nach kurzer Zeit ließ dieser unnatürliche Schmerz nach, und dann fühlte er nur mehr ein Brennen und Stechen in dem verletzten Arm, das gerade stark genug
war, das Leben beschwerlich zu machen. »Das ist erledigt«, sagte Krag. »Nun können Sie mir folgen.« Er nahm die Laterne und ging zur Tür. Die anderen beeilten sich, ihm zu folgen und das Licht zu nutzen, und einen Moment später hallte das Poltern ihrer Schritte auf der Holztreppe durch das verlassene Haus. Krag wartete, bis sie draußen waren, dann warf er die Eingangstür ins Schloß, daß die Fensterscheiben klirrten. Als sie den Hof überquerten, faßte Maskull seinen Arm. »Als ich im Turm war, hörte ich eine Stimme.« »Was sagte sie?« »Daß ich gehen müsse, daß aber Nightspore zurückkehren werde.« Krag lächelte. »Viele scheinen von der Reise zu wissen«, bemerkte er nach einer Pause. »Es muß Böswillige geben, die davon erfahren haben… Nun, wollen Sie umkehren?« »Ich weiß nicht, was ich will. Aber ich dachte, der Vorfall sei seltsam genug, um erwähnt zu werden.« »Es ist keine schlechte Sache, Stimmen zu hören«, sagte Krag. »Aber Sie dürfen keine Minute lang glauben, daß alles weise sei, was aus der Nachtwelt zu Ihnen kommt.« Als sie am offenen Eingang des Turms angelangt waren, hob Krag die Laterne und lief leichtfüßig die Wendeltreppe hinauf. Maskull folgte ihm zögernd, denn seine mühevollen Erfahrungen mit dieser Treppe waren ihm noch frisch im Gedächtnis. Doch als er nach den ersten fünf oder sechs Stufen entdeckte, daß er immer noch mühelos atmete, verwandelte seine Befürchtung sich in Erleichterung und in Erstaunen, und er hätte wie ein Mädchen kichern können. Krag passierte das unterste Fenster ohne anzuhalten, aber Maskull kletterte wieder in die Leibung hinauf, um seine Bekanntschaft mit dem wunderbaren Schauspiel des Doppelsterns und seines Planeten zu erneuern… Doch das Fenster hatte seine magische Eigenschaft verloren und war zu gewöhnlichem Glas geworden, durch das er den gewohnten Sternenhimmel sehen konnte. Er stieg weiter, und als er das zweite und dann das dritte Fenster
erreichte, kletterte er neuerlich hinauf und starrte ins Freie, aber auch hier bot sich jedesmal der gleiche alltägliche Anblick. Danach gab er es auf und blickte nicht mehr durch die weiteren Fenster. Krag und Nightspore hatten mittlerweile einen Vorsprung gewonnen, und weil sie die Laterne trugen, mußte Maskull im Dunkeln aufsteigen. Oben sah er gelben Lichtschein durch den Spalt einer halbgeöffneten Tür fallen. Seine Gefährten standen in einem kleinen Raum, durch rohe Holzplanken vom Treppenhaus abgetrennt; die Kammer war primitiv möbliert und enthielt nichts von astronomischem Interesse. Die Laterne stand auf einem Tisch. Maskull ging hinein und sah sich neugierig um. »Sind wir oben?« »Über uns ist die Plattform mit dem Kuppeldach, aber es ist geöffnet«, antwortete Krag. »Warum hatte das unterste Fenster seine vergrößernde Eigenschaft verloren, die es vorhin noch hatte?« »Ah, Sie haben Ihre Gelegenheit verpaßt«, sagte Krag lächelnd. »Wenn Sie Ihren Aufstieg vollendet hätten, wären Ihnen großartige Ausblicke gewährt worden. Aus dem fünften Fenster hätten Sie zum Beispiel Tormance wie einen Kontinent in Reliefdarstellung gesehen; durch das sechste Fenster hätten Sie den Planeten wie eine Landschaft vor sich gesehen… aber nun ist das nicht mehr nötig.« »Warum nicht – und was hat Notwendigkeit damit zu tun?« »Seit Sie die Wunde bekamen, haben die Dinge sich geändert, mein Freund. Aus dem gleichen Grund, aus dem es Ihnen jetzt möglich war, die Treppe zu ersteigen, gab es keine Notwendigkeit mehr, stehenzubleiben und illusionäre Darstellungen zu betrachten.« »Nun gut«, sagte Maskull, ohne ganz zu verstehen, was der andere meinte. »Sagen Sie, ist dies Surturs Behausung?« »Er hat einige Zeit hier verbracht.« »Ich wünschte, Sie würden diese geheimnisvolle Person etwas eingehender beschreiben, Krag. Vielleicht bietet sich keine andere Gelegenheit mehr.« »Was ich über die Fenster sagte, gilt auch für Surtur. Es gibt keine
Notwendigkeit, Zeit mit seiner Betrachtung zu vergeuden, denn Sie werden gleich zur unmittelbaren Realität weitergehen.« Maskull rieb sich müde die Augen. »Dann lassen Sie uns gehen.« »Ziehen wir uns aus?« fragte Nightspore. »Selbstverständlich«, antwortete Krag, und er begann sich gemächlich seiner Kleidungsstücke zu entledigen. »Warum?« fragte Maskull, während er dem Beispiel der beiden anderen folgte. Krag schlug sich auf die breite, dichtbehaarte Brust. »Wer weiß, wie die Mode auf Tormance ist? Vielleicht wachsen uns neue Glieder – ich will nicht behaupten, daß es so sein wird.« »Aha!« sagte Maskull, der mitten im Auskleiden innehielt. Krag stieß ihn an. »Möglicherweise neue Lustorgane, Maskull. Würde Ihnen das gefallen?« Die drei Männer standen nun nackt beieinander. Maskulls Stimmung verbesserte sich zusehends, als der Augenblick der Abreise näher rückte. »Trinken wir auf den Erfolg!« rief Krag, ergriff eine Flasche und schlug ihr den Hals ab. Es gab keine Gläser, aber er goß den bernsteinfarbenen Wein in ein paar gesprungene Tassen, denen die Henkel fehlten. Maskull sah die anderen trinken und leerte seine Tasse auf einen Zug… Es war, als ob er flüssige Elektrizität geschluckt hätte. Krag fiel zu Boden und wälzte sich auf dem Rücken herum, strampelte mit den Beinen in der Luft. Er versuchte auch Maskull zu Boden zu ziehen, und sie zerrten und zogen spielerisch eine Weile hin und her. Nightspore beteiligte sich nicht daran, sondern lief wie ein eingesperrtes Tier auf und ab. Auf einmal war von draußen ein langes, durchdringendes Winseln zu hören, das abrupt wieder verstummte. »Was war das?« sagte Maskull und befreite sich ungeduldig aus Krags Griff. Krag lachte laut. »Ein schottisches Gespenst vermutlich, das die Dudelsäcke seines Erdenlebens nachzuahmen sucht – unserer
Abreise zu Ehren.« Nightspore wandte sich zu Krag und sagte: »Wird Maskull während der Reise schlafen?« »Und Sie auch, wenn Sie wollen, mein altruistischer Freund. Ich bin der Pilot, und Sie, die Passagiere, können sich nach Belieben amüsieren.« »Ja, Sie sind im Begriff, Ihren Rubikon zu überschreiten, Maskull. Und was für einen Rubikon!… Wissen Sie, daß das Licht ungefähr einhundert Jahre braucht, um von Arktur hierherzugelangen? Doch wir werden die Strecke in neunzehn Stunden überwinden.« »Dann behaupten Sie, daß Surtur bereits dort ist?« »Surtur ist, wo er ist. Er ist ein großer Reisender.« »Werde ich ihn nicht sehen?« Krag trat auf ihn zu und blickte ihm in die Augen. »Vergessen Sie nicht, daß Sie danach gefragt haben und es wollten. Wenige Leute auf Tormance werden mehr über ihn wissen als Sie, aber Ihre Erinnerung wird Ihr schlechtester Freund sein.« Sie kletterten eine kurze Eisenleiter empor und stiegen durch eine Luke in den überkuppelten Raum, wo Krag eine elektrische Lampe einschaltete. Maskull betrachtete staunend den torpedoförmigen Kristallkörper, der sie durch den Weltraum tragen sollte. Er ruhte in einem Winkel von etwa dreißig Grad auf einer Art Katapult, und auf den ersten Blick hätte man ihn für ein großes astronomisches Fernrohr halten können. Er war zwölf Meter lang und hatte einen Durchmesser von ungefähr drei Metern; der Tank, der die arkturischen Rückstrahlen enthielt, befand sich vorn, die Kabine hinten. Die spitze Nase des Torpedos zeigte auf den südöstlichen Himmel. Ein breites Segment der Kuppel war in dieser Richtung geöffnet. Krag kam mit einer starken Taschenlampe, schaltete die Beleuchtung unter der Kuppel aus und richtete den Lichtkegel auf die Tür der Kabine. Bevor sie einer nach dem anderen einstiegen, blickte Maskull noch einmal zu dem hellen fernen Stern, der von nun an ihre Sonne sein sollte. Er runzelte die Stirn, fröstelte ein wenig
und kletterte benommen hinter Nightspore durch die Lukenöffnung. Krag folgte ihm, drängte sich vorbei und nahm den Pilotensitz ein. Nachdem der Einstieg sorgfältig verschlossen und verschraubt worden war und Krag seine Instrumente überprüft hatte, zog er den Starthebel. Sanft glitt der Torpedo von seiner Rampe und durch die Öffnung in der Kuppel, dann hinaus über die See. Es ging alles sehr viel langsamer, als Maskull erwartet hatte, und die Geschwindigkeit wurde nur allmählich beschleunigt, blieb aber immer verhältnismäßig niedrig, bis ungefähr die Grenze der Erdatmosphäre erreicht wurde. Dann erst setzte Krag die volle Antriebsenergie ein, und der Torpedo beschleunigte auf eine Geschwindigkeit, die eher der des Gedankens als der des Lichts gleichkam. Maskull hatte keine Gelegenheit, durch die Kristallwände das sich rasch verändernde Himmelspanorama zu betrachten. Eine extreme Schläfrigkeit überkam ihn. Ein dutzendmal öffnete er gewaltsam die Augen, nahm sogar die Finger zu Hilfe, doch beim dreizehnten Versuch gab er auf. Von da an schlief er tief und traumlos. Der gelangweilte und gleichzeitig hungrige Ausdruck wich nicht von Nightspores Gesicht. Die Veränderungen des Himmelspanoramas schienen ihn nicht im geringsten zu interessieren. Krag saß ruhig, seine Hand auf dem Hebel, und beobachtete mit konzentrierter Aufmerksamkeit seine phosphoreszierenden Instrumente und Navigationshilfen.
6 Es war Nacht, als Maskull aus seinem tiefen Schlaf erwachte. Ein Wind blies ihn an, sanft, doch mit einem Druck, wie er es auf Erden nie erfahren hatte. Er blieb ausgestreckt auf dem Boden liegen, da er seinen Körper wegen seines enormen Gewichts nicht heben konnte. Ein dumpfer, betäubender Schmerz, den er nicht lokalisieren konnte,
war von nun an der Grundton für alle seine anderen Empfindungen. Dieser Schmerz nagte unaufhörlich an ihm; manchmal irritierte und erbitterte er ihn, zu anderen Zeiten konnte Maskull ihn fast vergessen. Er fühlte etwas Hartes an der Stirn. Er hob die Hand und befühlte die Stelle, um einen festen, fleischigen Auswuchs zu entdecken, der etwa die Größe einer kleinen Pflaume und die Festigkeit einer Beule hatte. Dieser seltsame Auswuchs wies in der Mitte eine Höhlung auf, deren Grund er nicht fühlen konnte. Kurz darauf wurde ihm bewußt, daß er auch auf beiden Seiten seines Halses eine große Verdickung hatte, ungefähr einen Zoll unter den Ohren. Seiner linken Brustseite war überdies ein Fühler entsprossen. Dieser Fühler war so lang wie sein Arm, aber dünn, weich und flexibel. Maskull mußte an eine Peitschenschnur denken, als er das Ding untersuchte. Sein Herz begann heftig zu pochen. Was immer der Sinn dieser Organe sein mochte, ihr Vorhandensein bewies, daß er auf einer neuen Welt war. Ein Teil des Himmels begann heller zu werden als der Rest. Maskull rief nach seinen Gefährten, erhielt jedoch keine Antwort. Das beunruhigte ihn. Er rief in unregelmäßigen Intervallen weiter ihre Namen, gleichermaßen alarmiert über die Stille wie über den Klang seiner eigenen Stimme. Schließlich, als jede Antwort ausblieb, hielt er es für klüger, nicht allzuviel Lärm zu machen, und danach lag er still und beschränkte sich darauf, abzuwarten, was geschehen mochte. Nach einiger Zeit nahm er trübe Schatten ringsum wahr, aber sie hatten nichts mit seinen Gefährten zu tun. Ein blasser, milchiger Dunst wie Bodennebel begann die Schwärze der Nacht abzulösen, während in der Höhe des Himmels rosige Töne erschienen. Auf Erden hätte man gesagt, daß der Tag anbreche. Die Helligkeit vermehrte sich langsam und für eine sehr lange Zeit fast unmerklich. Maskull sah, daß er auf Sand lag. Die Farbe des Sandes war rot wie
Tonerde. Die obskuren Schatten, die er zuvor gesehen hatte, waren Büsche mit schwarzen Stämmen und dunkelroten Blättern. Sonst war nichts sichtbar. Der Tag brach an. Es war zu neblig für direkten Sonnenschein, aber bald war die Brillanz des Lichts bereits größer als die der Mittagssonne auf Erden. Auch die Hitze nahm zu, doch Maskull begrüßte sie – sie linderte seine Schmerzen und schien das erdrückende Gewicht zu verringern, das auf ihm zu liegen schien. Der Wind hatte mit Sonnenaufgang nachgelassen. Er versuchte aufzustehen, doch gelang es ihm nur, auf die Knie zu kommen. Er konnte nicht weit sehen. Der Nebel hatte sich nur stellenweise aufgelöst, und alles, was er ausmachen konnte, war ein nicht sehr großer Kreis aus rotem Sand, gesprenkelt mit zehn oder zwanzig Büschen. Er fühlte eine leichte, kühle Berührung im Nacken. Er schrak nervös zusammen und machte unwillkürlich eine Vorwärtsbewegung, so daß er das Gleichgewicht verlor und vornüber in den Sand fiel. Als er schnell über die Schulter blickte, sah er zu seiner Überraschung eine Frau neben sich stehen. Sie war in ein fließendes, blaßgrünes Kleidungsstück gehüllt, das merkwürdig klassisch um ihren Körper drapiert war. Nach irdischen Begriffen war sie nicht schön, denn obgleich ihr Gesicht menschlich war, trug sie die zusätzlichen entstellenden Organe, die Maskull auch an sich selbst entdeckt hatte. Sie besaß auch den Brustfühler. Aber als er sich aufsetzte und ihre Augen einander begegneten und in Verbindung blieben, schien er direkt in eine Seele zu blicken, in der Liebe, Wärme, Güte und Zärtlichkeit wohnten. Schon nach diesem einen Blick glaubte er sie zu kennen, doch erst später erkannte er die ganze Lieblichkeit ihrer Person. Sie war mittelgroß und schmächtig. Alle ihre Bewegungen waren anmutig wie Musik. Ihre Haut war nicht von der toten, undurchsichtigen Farbe, wie die einer irdischen Schönheit, sondern schien von innen zu leuchten; ihre Tönung veränderte sich ständig, mit jedem Gedanken und jeder Emotion, doch diese Tönungen waren nicht stark und lebhaft – alle waren fein,
abgestuft und poetisch. Sobald Maskull sich an die neuen Organe gewöhnt hatte, sah er, daß sie ihrem Gesicht etwas hinzufügten, das einzigartig und eindrucksvoll war. Er konnte es nicht definieren, aber es schien an Subtilität und Innerlichkeit zu gewinnen. Die Organe widersprachen nicht der Lieblichkeit ihrer Augen, der engelhaften Reinheit ihrer Züge, sondern ließen eine tiefere Note anklingen – eine Note, die sie vor bloßer Mädchenhaftigkeit bewahrte. Ihr Blick war so freundlich und ohne alle Verlegenheit, daß Maskull kaum Scham oder Erniedrigung fühlte, als er so zu ihren Füßen saß, nackt und hilflos. Sie begriff seine mißliche Lage und legte ein Kleidungsstück, das sie über dem Arm getragen hatte, in seine Hände. Es war dem Gewand ähnlich, das sie trug, aber von einer dunkleren, mehr männlichen Farbe. »Glauben Sie, daß Sie es allein anziehen können?« Er war sich dieser Worte deutlich bewußt, doch sie hatte sie nicht ausgesprochen. Er mühte sich, auf die Füße zu kommen, und sie half ihm, das Kleidungsstück anzulegen und richtig zu drapieren. »Armer Mann – wie Sie leiden!« sagte sie, wieder in der unhörbaren Sprache. Diesmal entdeckte er, daß der Sinn dessen, was sie sagte, von seinem Gehirn offenbar durch das Organ an seiner Stirn empfangen wurde. »Wo bin ich? Ist dies Tormance?« fragte er. Er taumelte, und sie hielt ihn fest und half ihm, sich zu setzen. »Ja, Sie sind bei Freunden.« Dann betrachtete sie ihn lächelnd und begann laut zu sprechen. Ihre Stimme erinnerte ihn irgendwie an einen Apriltag, sie war so frisch, mädchenhaft und ungestüm. »Ich kann jetzt Ihre Sprache verstehen. Zuerst war sie mir fremd. In Zukunft werde ich mit dem Mund zu Ihnen sprechen.« »Das ist nicht zu glauben!« sagte Maskull verdutzt. »Was ist dies für ein Organ?« Er berührte seine Stirn und den Auswuchs daran. »Es wird das ›Breve‹ genannt. Mit seiner Hilfe lesen wir die Gedanken der anderen. Trotzdem ist die Sprache besser, denn dann
kann auch das Herz lesen.« Er lächelte. »Man sagt, die Sprache sei uns gegeben, um andere zu täuschen.« »Man kann auch mit Gedanken täuschen. Aber ich denke gern das Beste, nicht das Schlechteste.« »Haben Sie meine Freunde gesehen?« Sie sah ihn schweigend und aufmerksam an, bevor sie nach einigem Zögern sagte: »Sind Sie nicht allein gekommen?« »Ich kam mit zwei anderen Männern, in einer Maschine. Bei der Ankunft muß ich das Bewußtsein verloren haben, und ich habe sie seitdem nicht gesehen.« »Das ist sehr seltsam! Nein, ich habe sie nicht gesehen. Sie können nicht hier sein, oder wir hätten es bemerkt. Mein Mann und ich…« »Wie heißen Sie, und wer ist Ihr Mann?« »Mein Name ist Joiwind – und mein Mann heißt Panawe. Wir leben weit von hier; dennoch wurde uns beiden gestern abend klar, daß Sie hier besinnungslos lagen. Wir gerieten beinahe in Streit, wer von uns zu Ihnen gehen sollte, und schließlich gewann ich.« Sie lachte hell. »Ich gewann, weil ich das stärkere Herz von uns beiden habe; er ist der Reinere in der Wahrnehmung.« »Danke, Joiwind!« sagte Maskull. Die Farben jagten einander unter ihrer Haut. »Oh, warum sagen Sie das? Welch größeres Vergnügen könnte es geben, als anderen Freundlichkeit zu erweisen? Ich war glücklich über die Gelegenheit… Aber nun müssen wir das Blut austauschen.« »Was soll das bedeuten?« fragte er verwundert. »Es muß sein. Ihr Blut ist für unsere Welt bei weitem zu dick und zu schwer. Solange Sie nicht eine Infusion von meinem erhalten, werden Sie nie auf die Füße kommen.« Maskull errötete. »Ich komme mir hier völlig unwissend vor… Wird es Ihnen keine Schmerzen bereiten?« »Wenn Ihr Blut Ihnen Schmerzen bereitet, dann wird es wohl auch mir Schmerzen bereiten, aber wir werden die Schmerzen teilen.« »Dies ist eine völlig neue Art von Gastfreundschaft für mich«,
murmelte er. »Würden Sie nicht das gleiche für mich tun?« fragte Joiwind lächelnd. »Ich kann das nicht beantworten. Ich weiß kaum, wo ich bin. Alles ist mir fremd… Aber, ja – natürlich würde ich es tun, Joiwind.« Inzwischen war es ganz Tag geworden. Die Nebel hatten sich vom Boden gehoben und in größerer Höhe zu einer diesigen Schicht vereinigt, die wie eine dünne Wolkendecke wirkte. Die Halbwüste aus rotem Sand erstreckte sich in allen Richtungen. In einiger Entfernung war eine Art Oase zu sehen – niedrige Hügel, deren Flanken mit rotblättrigen Büschen und Bäumen bedeckt waren. Die Entfernung mochte einen Kilometer betragen. Joiwind hatte ein kleines Steinmesser mitgebracht. Ohne eine Spur von Scheu oder Zimperlichkeit machte sie einen sorgfältigen tiefen Einschnitt in ihren Oberarm. Maskull war entsetzt. »Aber das ist gar nichts, wirklich«, sagte sie lachend. »Und wenn es etwas wäre… wie verdienstvoll wäre ein Opfer, das kein Opfer ist? Kommen Sie – Ihren Arm!« Das Blut lief an ihrem Arm herab. Aber es war kein rotes Blut, sondern eine milchige, opalisierende Flüssigkeit. »Nicht diesen!« sagte Maskull zurückschreckend. »Ich bin dort bereits geschnitten worden.« Er hielt den anderen Arm hin, und sein Blut quoll hervor. Joiwind legte die beiden Schnittwunden, deren Ränder sie für den Kontakt geschickt auseinandergezogen hatte, zusammen, und dann hielt sie ihren Arm lange fest gegen den Maskulls gepreßt. Ihm war, als flösse ein Strom angenehmer Empfindungen durch den Einschnitt in seinen Körper. Seine alte Beweglichkeit und Lebenskraft begannen zurückzukehren. Nach etwa fünf Minuten begann ein Duell der Freundlichkeit zwischen ihnen; er wollte seinen Arm wegnehmen, und sie wollte den Kontakt aufrechterhalten. Schließlich setzte er seinen Willen durch, und es war nicht zu früh, denn sie stand blaß und erschöpft da. Als sie ihn anblickte, war ein ernster Ausdruck in ihren Augen, der
zuvor nicht dagewesen war, als ob sie in unbekannte Tiefen geblickt hätte. »Wie heißen Sie?« »Maskull.« »Wo sind Sie hergekommen, mit diesem schrecklichen Blut?« »Von einer Welt, die Erde genannt wird… Das Blut ist für diese Welt offenbar ungeeignet, Joiwind, aber das war zu erwarten… Es tut mir leid, daß ich Sie mit diesem Blutaustausch gewähren ließ.« »Oh, sagen Sie das nicht! Es war notwendig. Wir alle müssen einander helfen. Doch irgendwie – vergeben Sie mir – fühle ich mich befleckt.« »Und mit gutem Grund, denn es ist sicherlich eine gewagte Sache, in die eigenen Adern das Blut eines fremden Wesens von einem fremden Planeten aufzunehmen. Wäre ich nicht so benommen und schwach gewesen, hätte ich es niemals erlaubt.« »Aber ich hätte darauf bestanden. Sind wir nicht alle Brüder und Schwestern? Warum sind Sie gekommen, Maskull?« Er blickte verlegen zu Boden, bevor er sagte: »Sie werden mich für albern halten, wenn ich sage, daß ich es kaum weiß… Ich kam mit diesen beiden Männern. Vielleicht wurde ich von Neugierde angelockt, vielleicht war es Abenteuerlust…« »Vielleicht«, sagte Joiwind. »Ich frage mich… Diese Ihre Freunde müssen furchtbare Männer sein. Warum sind sie gekommen?« »Das kann ich Ihnen sagen. Sie sind gekommen, um Surtur zu folgen.« Ihr Gesichtsausdruck wurde besorgt. »Ich verstehe es nicht. Mindestens einer von ihnen muß ein schlechter Mensch sein, und doch, wenn er Surtur folgt – oder Former, wie er hier genannt wird – , kann er nicht wirklich schlecht sein.« »Was wissen Sie von Surtur?« fragte Maskull. Joiwind betrachtete sein Gesicht und schwieg eine Zeitlang. Er hatte ein seltsames Gefühl im Kopf, als ob etwas von außen in sein Gehirn eingedrungen sei und dort herumfingerte. »Ich sehe… und doch sehe ich nicht«, sagte sie schließlich. »Es ist
sehr schwierig… Ihr Gott ist ein fürchterliches Wesen – körperlos, unfreundlich, unsichtbar. Hier verehren wir keinen solchen Gott. Sagen Sie mir, hat irgendein Mensch jemals diesen Gott zu Gesicht bekommen?« »Was hat das alles zu bedeuten, Joiwind? Warum sprechen Sie von Gott?« »Ich möchte es wissen.« »In alter Zeit, als die Menschheit ihre ersten Kulturen schuf, sollen ein paar heilige Männer gelebt haben, mit denen Gott sprach, und die ihn sahen, aber das sind alte Überlieferungen, für die es keine Beweise gibt, und jene Tage sind längst vergangen.« »Unsere Welt ist noch jung«, sagte Joiwind. »Der Former wohnt unter uns und spricht mit uns. Er ist wirklich und aktiv – ein Freund. Der Former machte uns, und er liebt sein Werk.« »Sind Sie ihm schon einmal begegnet?« fragte Maskull, der seinen Ohren nicht trauen wollte. »Nein. Ich habe noch nichts getan, womit ich mir das verdient hätte. Eines Tages mag ich eine Gelegenheit erhalten, mich aufzuopfern, und dann mag es meine Belohnung sein, dem Former zu begegnen und mit ihm zu sprechen.« »Ich bin wahrhaftig auf einer anderen Welt. Aber warum sagen Sie, er sei derselbe wie Surtur?« »Ja, er ist derselbe. Wir Frauen nennen ihn den Former, und so nennen ihn auch die meisten Männer. Aber einige nennen ihn Surtur.« »Haben Sie jemals vom Kristallmann gehört?« sagte Maskull. »Das ist wieder der Former. Sie sehen, er hat viele Namen – das zeigt, wie sehr er unsere Gedanken beschäftigt. Kristallmann ist ein zärtlicher Name.« »Komisch«, sagte Maskull. »Ich kam mit ganz anderen Vorstellungen vom Kristallmann hierher.« Joiwind schüttelte ihr Haar. »In der Baumgruppe dort steht ein Wüstenschrein von ihm. Gehen wir hin und beten, und dann werden wir uns aufmachen und nach Poolingdred gehen. Das ist mein
Heimatort. Er ist weit von hier, und wir müssen vor Blodsombre hinkommen.« »Was ist Blodsombre?« »Für die Dauer von ungefähr vier Stunden in der Mitte des Tages sind Branchspells Strahlen so heiß, daß niemand sie ertragen kann. Diese Mittagsstunden werden Blodsombre genannt.« »Ist Branchspell ein anderer Name für Arktur?« Joiwind warf ihren Ernst ab und lachte. »Natürlich gebrauchen wir unsere Namen und nicht die Ihren, Maskull. Ich glaube, daß unsere Namen nicht sehr poetisch sind, aber sie folgen der Natur.« Sie nahm seinen Arm und ging mit ihm auf die baumbedeckten Hügel zu. Als sie gingen, brach die Sonne durch die Schicht des Hochnebels, und eine schreckliche, sengende Hitze traf Maskulls Kopf wie der feurige Hauch aus einem Hochofen. Er blickte unwillkürlich auf und schloß geblendet die Augen. Alles, was er in diesem kurzen Moment sah, war ein greller Ball von geradezu elektrischem Weiß, der den scheinbaren Durchmesser der Sonne um das Dreifache übertraf. Minutenlang war er völlig blind. »Mein Gott!« rief er. »Wenn es am frühen Morgen so ist, wie muß dann Blodsombre sein!« Er ließ sich von ihr führen, und als er sich erholt und sein Augenlicht wiedergewonnen hatte, fragte er: »Wie lang sind die Tage hier, Joiwind?« Wieder hatte er das Gefühl einer fremden Gegenwart in seinem Gehirn. »Um diese Jahreszeit haben wir doppelt soviel Stunden Tageslicht wie ihr im Sommer.« »Die Hitze ist schrecklich – und doch stört sie mich irgendwie nicht so, wie ich es mir vorgestellt haben würde.« »Ich fühle sie mehr als gewöhnlich. Das ist nicht schwierig zu erklären; Sie haben etwas von meinem Blut, und ich habe etwas von dem Ihren.« »Ja, jedesmal, wenn ich daran denke, habe ich ein schlechtes Gewissen… Sagen Sie mir, Joiwind, wird mein Blut sich verändern,
wenn ich lange genug hierbleibe? Ich meine, wird es seine rote Farbe und seine Beschaffenheit verlieren und dünn und hellfarbig werden?« »Warum nicht? Wenn Sie leben wie wir, dann werden Sie sicherlich in jeder Weise einer der unseren.« »Sie meinen, wenn ich das gleiche esse und trinke wie Sie?« »Wir essen keine Nahrung und trinken nur Wasser.« »Und davon können Sie leben?« »Nun, Maskull, unser Wasser ist gutes Wasser«, erwiderte Joiwind lächelnd. Er starrte in die Landschaft hinaus, die Augen gegen das grelle Licht zusammengekniffen. Die rote Halbwüste oder Trockensteppe erstreckte sich überall bis zum Horizont, außer an der Stelle, wo die Hügel sich aus der Ebene erhoben. Der Himmel darüber war wolkenlos und von einem tiefen, beinahe violetten Blau. Der Kreis des Horizonts war bei weitem größer als auf der Erde. Zur Rechten sah Maskull in der Ferne eine Gebirgskette, die vielleicht sechzig Kilometer entfernt sein mochte. Der höchste Gipfel war wie eine Tasse geformt. Wäre die Intensität des Lichts nicht gewesen, die allem eine lebendige Realität verlieh, so wäre Maskull geneigt gewesen zu glauben, daß er in einem Traumland sei. Joiwind zeigte auf den tassenförmigen Berg. »Das ist Poolingdred.« »Sie können nicht von dort gekommen sein!« rief er erschrocken. »Doch, ich bin von dort gekommen, und dort müssen wir jetzt hin.« »Und Sie haben diesen Weg nur deshalb gemacht, um mich zu finden?« »Wieso, ja.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Dann sind Sie die mutigste und vornehmste aller Frauen«, sagte er leise nach einer Pause. »Ich kann es nicht fassen… Das ist ein Tagesmarsch für einen Athleten!« Sie drückte seinen Arm, während verschiedene blasse Farbtönungen in rascher Folge über ihre Wangen zogen. »Bitte
sagen Sie nichts mehr darüber, Maskull. Ich habe dabei kein gutes Gefühl.« »Wie Sie wollen. Aber wie sollen wir vor der Mittagszeit hinkommen?« »Oh, es ist zu machen. Und Sie dürfen sich von der Entfernung nicht schrecken lassen. Weite Strecken machen uns nichts aus – wir haben soviel, über das nachzudenken sich lohnt. Die Zeit vergeht nur zu rasch.« Während ihres Gesprächs waren sie in die Nähe der Hügel gelangt. Die Hänge waren sanft, und die Kuppen nicht höher als dreißig Meter. Maskull sah seltsame Exemplare pflanzlichen Lebens. Was wie ein Fleck roten Grases aussah, ungefähr einen Quadratmeter groß, bewegte sich in ihrer Richtung über den Sand. Als es nahe genug herangekommen war, sah Maskull, daß es kein Gras war; es hatte keine lanzettförmigen Blätter, sondern nur rötliche Wurzeln. Die Wurzeln bewegten sich wie Beine, stießen in den Sand und zogen sich wieder daraus zurück, und so bewegte sich die Pflanze vorwärts. Ein unheimlicher, halbintelligenter Instinkt hielt alle die Pflanzen zusammen und lenkte sie im Gleichschritt in dieselbe Richtung. Eine weitere bemerkenswerte Pflanze war ein großer, wie gefiedert aussehender Ball, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Löwenzahnsamen hatte und wie dieser durch die Luft segelte. Joiwind fing ihn ein und zeigte ihn Maskull. Er hatte zwar Wurzeln, lebte aber vermutlich in der Luft, wo er sich von den chemischen Bestandteilen der Atmosphäre ernährte. Aber das vielleicht Sonderbarste daran war seine Farbe. Es war eine völlig neue Farbe – keine neue Mischung, Tönung oder Kombination, sondern eine bisher nicht gesehene Grundfarbe, so lebhaft wie Blau, Rot oder Gelb, aber ganz anders. Als er fragte, sagte sie ihm, daß die Farbe ›Ulfire‹ genannt werde. Bald darauf zeigte sie ihm eine zweite neue Farbe, die sie ›Jale‹ nannte. Die Gefühlsimpressionen, die diese zwei zusätzlichen Grundfarben in Maskull auslösten, lassen sich durch Analogie nur vage andeuten. Wenn Blau zart und geheimnisvoll ist,
Gelb klar und unverstellt, und Rot lebhaft und leidenschaftlich, so fühlte er, daß Ulfire wild und schmerzhaft war, und Jale traumhaft, fiebrig und wollüstig. Kleine Bäume von verschiedenen Arten und Formen, doch alle rotblättrig, bedeckten die Hügel. Maskull und Joiwind überstiegen einen niedrigen Sattel, um auf die andere Seite zu gelangen. Harte Früchte von blauer Farbe und der Größe mittlerer Äpfel lagen unter den Bäumen verstreut. »Sind die Früchte hier giftig, oder warum essen Sie sie nicht?« fragte Maskull. Sie blickte ihn ruhig an. »Wir essen keine Lebewesen. Der Gedanke ist uns schrecklich.« »Theoretisch habe ich nichts dagegen zu sagen. Aber können Sie sich wirklich nur von Wasser erhalten?« »Angenommen, Sie könnten nichts anderes finden, um davon zu leben, Maskull – würden Sie andere Menschen essen?« »Ich würde es nicht tun.« »Ebensowenig werden wir Pflanzen und Tiere essen, die unsere Mitgeschöpfe sind. Also bleibt uns nichts als Wasser, und da man wirklich von allem leben kann, geht es mit Wasser sehr gut.« Maskull hob eine der Früchte auf und drehte sie neugierig zwischen den Fingern. Sie war annähernd eiförmig. Während er sie hielt, wurde eins von seinen neu erworbenen Sinnesorganen aktiv. Er fand, daß die fleischigen, knolligen Auswüchse unter seinen Ohren ihn in irgendeiner neuartigen Form mit den Eigenschaften der Frucht bekanntmachten. Er konnte sie nicht nur sehen, fühlen und riechen, sondern konnte ihre innere Beschaffenheit und Natur feststellen. Diese Natur war hart, beharrlich und melancholisch. Joiwind beantwortete die Fragen, die er nicht gestellt hatte. »Diese Organe werden ›Poignes‹ genannt. Sie befähigen uns, alle lebenden Kreaturen zu verstehen und mit ihnen zu fühlen.« »Welchen Vorteil beziehen Sie daraus, Joiwind?« »Den Vorteil, nicht grausam, selbstsüchtig und gedankenlos zu sein, Maskull.«
Er warf die Frucht fort und errötete. Joiwind blickte ohne Verlegenheit in sein schwartiges, schwitzendes, bärtiges Gesicht. Langsam erschien ein Lächeln auf ihren Zügen. »Habe ich zuviel gesagt? Wissen Sie, warum Sie Mühe haben, diese Denkweise zu verstehen? Es kommt daher, weil Sie noch immer unrein sind. Mit der Zeit werden Sie besser verstehen.« Sie blieb stehen, legte ihre Hände auf seine Schultern und blickte tief in seine Augen. Er hatte das Gefühl, daß sie bis ins Innerste seiner Seele blickte. »Ja, ich möchte rein sein«, murmelte er. Joiwind ließ ihn los und trat zurück. Bevor er wußte, wie ihm geschah, legte sie ihren Fühler wie einen dritten Arm um seinen Hals. Die Berührung war so zart und empfindsam, daß sie auf ihn zärtlich wie ein Kuß wirkte. Doch obwohl er sah, daß es ein blasses, schönes Mädchen war, das ihn umarmte, verspürte er weder sexuelles Verlangen noch Stolz auf seine vermeintliche Unwiderstehlichkeit. Die Liebe, die sich durch die Zärtlichkeit ausdrückte, war umfassend und persönlich, aber es gab nicht die geringste Spur von Sex darin – und so nahm er sie auf. »Dies nennen wir den ›Magn‹«, sagte sie, als sie ihren Fühler wieder einrollte. »Mit seiner Hilfe lernen wir lieben, was wir nicht lieben und mehr lieben, was wir schon geliebt haben.« »Ein göttliches Organ!« »Es ist der Teil, den wir am eifersüchtigsten hüten«, sagte Joiwind. Der Schatten der Bäume schützte sie vor den nun beinahe unerträglichen Strahlen Branchspells, die stetig höher stieg, dem Zenit entgegen. Beim Abstieg auf der anderen Seite der kleinen Hügel hielt Maskull besorgt nach Spuren von Krag und Nightspore Ausschau, doch ohne Ergebnis. Nachdem er längere Zeit in die Runde geblickt hatte, zuckte er die Achseln; aber Mißtrauen und Verdacht regten sich bereits. Zu ihren Füßen lag ein kleines, natürliches Amphitheater, völlig eingeschlossen von den baumbestandenen Hügeln. Die Mitte war aus
rotem Sand, und dort erhob sich ein großer, stattlicher Baum mit schwarzen Ästen und halbtransparenten, glasig aussehenden Blättern. Zu Füßen dieses Baums war eine fast kreisrunde Wasserstelle mit dunkelgrünem Wasser. Als sie unten anlangten, führte Joiwind ihn zur Wasserstelle. Maskull betrachtete das Wasser und den Baum und die Umgebung, dann blickte er die Frau an und sagte: »Ist dies der Götterschrein, von dem Sie sprachen?« »Ja. Man nennt es den Brunnen des Formers. Wer den Former anrufen möchte, muß etwas von dem Wasser trinken.« »Beten Sie für mich«, sagte Maskull. »Ihr unbeflecktes Gebet wird mehr Gewicht haben und wohlgefälliger sein.« »Was wollen Sie erbitten?« »Reinheit«, antwortete Maskull. Joiwind beugte sich über das Wasser, schöpfte ein wenig mit der hohlen Hand und trank es. Dann bückte sie sich noch einmal und hob ihre Hand zu Maskulls Mund. »Sie müssen auch trinken.« Er gehorchte. Nachdem er getrunken hatte, richtete sie sich auf, stand mit geschlossenen Augen und betete in einer Stimme, die an das weiche Gemurmel einer Quelle gemahnte. »Former, mein Vater, ich hoffe, du kannst mich hören. Ein fremder Mann ist zu uns gekommen, beschwert mit dunklem Blut. Er wünscht rein zu sein. Laß ihn die Bedeutung der Liebe erfahren. Laß ihn für andere leben. Erspare ihm keine Schmerzen, aber lasse ihn seinen eigenen Schmerz suchen. Hauche ihm eine vornehme Seele ein.« Maskull lauschte, mit Tränen im Herzen. Als Joiwind geendet hatte, sah er etwas wie weißlichen Nebel vor den Augen, und halbvergraben im roten Sand erschien ein großer Ring aus strahlend weißen Säulen. Minutenlang flackerten sie zwischen Deutlichkeit und Undeutlichkeit hin und her, dann verblaßten sie wieder. »Ist das ein Zeichen vom Former?« fragte Maskull mit leiser, ehrfürchtiger Stimme. »Vielleicht. Es ist eine Zeitspiegelung.«
»Was soll das sein?« »Sehen Sie, mein lieber Maskull, der Tempel existiert noch nicht, aber er wird existieren, weil es sein muß. Was Sie und ich jetzt in Einfachheit tun, werden weise Männer später in vollem Wissen tun.« »Es ist richtig, zu beten«, sagte Maskull. »Das Gute und das Böse in der Welt sind nicht aus dem Nichts entstanden. Gott und Teufel müssen existieren. Und wir sollten zu dem einen beten und den anderen bekämpfen.« »Ja, wir müssen Krag bekämpfen«, sagte Joiwind. »Was sagen Sie da?« fragte Maskull bestürzt. »Krag – den Urheber des Bösen und allen Elends… den Sie Teufel nennen.« Er versuchte sofort, seine Gedanken zu verbergen. Um zu verhindern, daß Joiwind von seiner Beziehung zu diesem Wesen erfuhr, machte er seinen Geist leer. »Warum verbergen Sie Ihre Gedanken vor mir?« wollte sie wissen. Sie sah ihn forschend an, und ihre Gesichtsfarbe begann wieder zu wechseln. »In dieser hellen, reinen, strahlenden Welt scheint das Böse so fern… Man kann kaum seine Bedeutung begreifen.« Aber er log. Joiwind fuhr fort, ihn anzusehen, geradewegs aus ihrer reinen Seele heraus. »Die Welt ist gut und rein, aber viele Menschen sind verdorben. Panawe, mein Mann, ist weit gereist, und er hat mir Dinge erzählt, von denen ich lieber nicht gehört hätte. Eine Person, der er begegnete, hielt das Universum für die Höhle eines Hexenmeisters.« »Ich würde Ihren Mann gerne kennenlernen.« »Nun, wir gehen jetzt nach Hause.« Maskull war nahe daran, sie zu fragen, ob sie Kinder habe, doch fürchtete er, sie zu beleidigen, und schwieg. Doch sie las die unausgesprochene Frage. »Welche Notwendigkeit könnte es geben? Ist die Welt nicht voll von lieblichen Kindern? Warum sollte ich selbstsüchtig Besitz wünschen?« Eine außerordentliche Kreatur flog vorbei und stieß im Flug einen
klagenden Ruf aus. Es war kein Vogel, sondern hatte einen ballonförmigen Körper, der von fünf Schwimmfüßen durch die Luft gepaddelt wurde. Das seltsame Wesen verschwand zwischen den Bäumen. Joiwind schaute ihm nach. »Ich liebe dieses Tier, so grotesk es ist«, sagte sie. »Vielleicht noch mehr als andere, weil es so grotesk ist. Aber wenn ich eigene Kinder hätte, würde ich es immer noch lieben? Was ist besser – zwei oder drei zu lieben, oder alle zu lieben?« »Nicht alle Frauen können wie Sie sein, Joiwind, aber es ist gut, einige wie Sie zu haben… Würde es nicht gut sein«, fuhr er fort, »aus einigen dieser langen Blätter Turbane oder Kopfbedeckungen zu machen, wenn wir durch diese glühende Wildnis gehen müssen?« Sie lächelte entschuldigend. »Sie werden mich für albern halten, aber das Abreißen eines Blattes würde eine Wunde in meinem Herzen sein… Wir können unsere Köpfe mit den Gewändern bedecken.« »Richtig, das wird auch gehen, aber sagen Sie mir – waren diese Gewänder nicht auch einmal Teil eines Lebewesens?« »O nein – nein, sie stammen zwar von einem Tier, aber sie sind selbst niemals lebendig gewesen.« »Sie reduzieren das Leben auf extreme Einfachheit«, bemerkte Maskull nachdenklich, »aber es ist sehr schön.« Sie wanderten Seite an Seite. Joiwind hielt direkt auf Poolingdred zu. Nach der Position der Sonne urteilte Maskull, daß sie genau nordwärts marschierten. Der Sand war weich und pulverig, und seine nackten Füße ermüdeten rasch. Die Luft flimmerte über der roten Wüste, und das grelle Licht machte ihn halbblind. Er schwitzte, seine Kehle war ausgedörrt und gierte nach Wasser. Er mußte an seine Reisegefährten denken, und ob sie es besser getroffen haben mochten. »Es ist sehr sonderbar, daß ich meine Freunde nirgends sehe«, sagte er. »Ja, es ist sonderbar – wenn es zufällig ist«, erwiderte Joiwind. »Genau!« stimmte Maskull zu. »Wäre ihnen etwas zugestoßen, so
hätten wir ihre Körper finden müssen. Es beginnt nach einem üblen Schurkenstreich auszusehen. Sie müssen weitergereist sein und mich zurückgelassen haben… Nun, ich bin hier und muß das Beste daraus machen. Ich werde mich nicht weiter um sie kümmern.« »Ich will von niemandem schlecht reden«, sagte Joiwind, »aber mein Instinkt sagt mir, daß Sie ohne diese Männer besser dran sind. Sie sind nicht um Ihretwillen hierhergekommen, sondern um ihres eigenen Vorteils willen.« Sie wanderten lange Zeit. Maskull ermattete allmählich und begann sich elend zu fühlen. Sie schlang ihren Fühler um seine Mitte, und ein starker Strom von Zuversicht und Wohlbefinden durchflutete ihn. »Danke, Joiwind… Aber schwächt es Sie nicht?« »Doch, ein wenig«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Aber nicht sehr – und es macht mir Freude.« Einige Zeit später begegneten sie einem absonderlichen kleinen Geschöpf von der Größe eines Foxterriers, das auf drei Beinen einhertanzte. Es sah wie eine Riesenkrabbe aus, die alle Beine bis auf drei eingebüßt hatte, und sich nun fortbewegte, indem sie sich um ihre eigene Achse drehte. Das Tier war rotbraun gefärbt mit gelben Flecken und blickte aus winzigen glänzenden Augen zu ihnen auf, als sie vorübergingen. Joiwind nickte dem Wesen zu und lächelte. »Das ist ein persönlicher Freund von mir, Maskull. Wann immer ich in diese Gegend komme, sehe ich ihn. Er scheint es immer eilig zu haben und dreht sich ständig vorwärts, aber er scheint nie irgendwo hinzukommen.« »Das Leben ist hier offenbar so selbstgenügsam, daß für niemanden eine Notwendigkeit besteht, irgendwo hinzukommen… Was ich nicht ganz verstehe, ist, wie Sie es fertigbringen, Ihre Tage ohne Langeweile hinzubringen.« »Das ist ein seltsames Wort. Es bedeutet Sehnsucht nach Aufregung, nicht wahr?« »So ungefähr«, sagte Maskull.
»Das muß eine Krankheit sein, die vom reichhaltigen Essen herrührt.« »Aber kennen Sie keine Langeweile?« »Wie sollten wir? Unser Blut ist schnell und leicht und frei, unser Fleisch ist rein, innen und außen… Ich hoffe, Sie werden bald verstehen, welche Art von Frage Sie da gestellt haben.« Geraume Zeit später stießen sie auf einen Wasserlauf, der aus den vor ihnen aufragenden Bergen kam. Maskull, den der Durst peinigte, wartete Joiwinds Aufforderung zum Trinken nicht ab; er rannte zum Ufer, warf sich der Länge nach in den Sand und tauchte Kopf und Arme ins kühle Wasser. Dann stillte er seinen Durst. Das Wasser hatte einen säuerlichen, mineralischen Geschmack und prickelte ein wenig, als enthalte es Kohlensäure. Es beeinflußte Maskulls Geschmackssinn in einer neuen Art und Weise. Mit der Reinheit und Sauberkeit des Wassers schien sich die Heiterkeit eines funkelnden Weins in ihm auszubreiten, und seine Stimmung hob sich wie in einem Rausch. Doch es war ein Rausch, der irgendwie seiner besseren Natur zugute kam, und nicht seiner niedrigeren. »Dieses Wasser ist nicht ganz rein, wie Sie an der dunkelgrünen Farbe sehen können«, sagte Joiwind. »In Poolingdred haben wir kristallklares Wasser. Aber wir wären undankbar, wenn wir uns beklagten. Nach dieser Stärkung werden wir viel besser vorankommen. Sie werden sehen.« Tatsächlich schien das Wasser etwas in Maskull zu bewirken. Er sah seine Umgebung wie mit anderen Augen, oder als ob es das erstemal wäre. Seine Sinnesorgane zeigten ihm Schönheiten und Wunder, die ihm bisher verborgen geblieben waren. Das einförmige Rostbraun der Sandflächen gliederte sich auf und zeigte deutlich verschiedene Tönungen. Auch der Himmel zeichnete sich jetzt durch eine Vielfalt von Blautönen aus, die stufenlos ineinander übergingen. Seine Ohren erwachten; die Luft war voll von Gemurmel, der Sand summte, selbst die Sonnenstrahlen hatten ihren eigenen Klang – etwas wie von einer fernen Äolsharfe. Subtile Düfte stiegen ihm in die Nase. Alle Poren seiner Haut prickelten unter bisher nicht
wahrgenommenen Luftströmungen. Seine Poignes erforschten die innere Natur von allem, das in seiner Nachbarschaft war. Er entrollte seinen Fühler oder Magn und berührte Joiwind, und mit der Berührung floß ein Strom von Liebe und Freude auf ihn über. Und schließlich tauschte er Gedanken mit ihr aus, ohne sich der Sprache zu bedienen. Diese mächtige Symphonie seiner Sinneswahrnehmungen berührte ihn tief, und während des weiteren Verlaufs ihrer langen Wanderung fühlte er keine Müdigkeit und Ermattung mehr. Als der Sonnenstand anzeigte, daß Blodsombre nahe war, erreichten sie die schilfbestandenen Ufer eines dunkelgrünen Sees zu Füßen der Berge. Panawe saß auf einem schwarzen Felsen und erwartete sie.
7 Der Mann sprang vom Felsen, seine Frau und den Gast zu begrüßen. Er war in Weiß gekleidet und hatte ein bartloses, schmales Gesicht. Die Haut seines Gesichts und seines Körpers war so weiß, frisch und weich, daß sie kaum wie Haut aussah – sie ähnelte eher einer neuen Art von reinem, schneeigen Fleisch. Es hatte keine Ähnlichkeit mit der kosmetisch behandelten Haut einer überzivilisierten Frau, auch weckten die glatte Weiße und Festigkeit keine sexuellen Begierden. Es war offensichtlich die Manifestation einer kalten und beinahe grausamen Keuschheit der Natur. Sein Haar, das tief in den Nacken fiel, war ebenfalls weiß; doch auch hier war es eine Weiße, die eher von Kraft und Frische zeugte, nicht von Alter und Verfall. Seine Augen waren schwarz, ruhig und unergründlich. Er war ein noch junger Mann, doch seine Züge waren so streng und ernst, daß er den Eindruck eines alttestamentarischen Gesetzgebers machte. Sein und Joiwinds Fühler umschlangen einander, und Maskull sah, wie sein Gesicht in einem Lächeln aufblühte, während sie ihn
anstrahlte. Dann schob sie ihn mit sanfter Gewalt in die Arme ihres Mannes und trat zurück, um lächelnd zuzusehen. Es war Maskull ziemlich peinlich, von einem Mann umarmt zu werden, doch er fügte sich darein; eine kühle, angenehme Mattigkeit durchzog seinen Körper. »Der Fremde ist also rotblütig?« Maskull war verdutzt, daß Panawe seine Sprache gebrauchte und die Stimme war auch außergewöhnlich. Sie war absolut ruhig, doch diese Ruhe schien eine Illusion zu sein und aus einer so raschen Folge von Gedanken und Gefühlen hervorzugehen, daß deren Bewegung nicht mehr wahrnehmbar war. Wie dies möglich war, wußte Maskull nicht. »Wie kommt es, daß Sie in einer Sprache sprechen, die Sie nie zuvor gehört haben?« fragte er. »Der Gedanke ist ein inhaltsreiches, kompliziertes Phänomen. Ich kann nicht sagen, ob ich wirklich Ihre Sprache spreche, durch einen Instinkt etwa, oder ob Sie selbst meine Gedanken, wenn ich sie ausspreche, in Ihre Sprache übersetzen.« »Sie sehen bereits, daß Panawe weiser ist als ich es bin«, sagte Joiwind fröhlich. »Wie ist Ihr Name?« fragte der Mann. »Maskull.« »Dieser Name muß eine Bedeutung haben. Ich verbinde ihn mit etwas – aber mit was?« »Versuche es zu entdecken«, sagte Joiwind. »Hat es in Ihrer Welt einen Mann gegeben, der dem Schöpfer des Universums etwas stahl, um seine Mitgeschöpfe damit zu bereichern?« »Es gibt einen solchen Mythos. Der Name des Helden war jedoch Prometheus.« »Nun, meine Gedanken scheinen Sie irgendwie mit dieser Handlung zu identifizieren – aber was es alles bedeutet, vermag ich nicht zu sagen, Maskull.« »Nehmen Sie es als ein gutes Omen, denn Panawe lügt niemals und spricht niemals gedankenlos.«
Panawe sagte: »Woher kommen Sie, Maskull?« »Von dem Planeten einer entfernten Sonne. Er wird Erde genannt.« »Warum sind Sie gekommen?« »Ich war der Niedrigkeit und Gemeinheit überdrüssig«, versetzte Maskull. Er vermied es, seine Mitreisenden zu erwähnen, damit Krags Name nicht ans Licht käme. »Das ist ein ehrenhaftes Motiv«, sagte Panawe. »Und es mag überdies wahr sein, obwohl Sie es als eine Ausflucht gebrauchten.« »Ja, es ist durchaus wahr«, bekräftigte Maskull. Er starrte Panawe erstaunt und irritiert an. Der sumpfige See erstreckte sich von ihrem Standort aus ungefähr einen Kilometer weit zu den Füßen der Berge. Das Wasser war dunkelgrün. Purpurfarbenes Röhricht mit gefiederten Rispen säumte das Ufer. Maskull vermutete, daß sie den See umgehen mußten; er sah kein Boot, mit dem Panawe gekommen sein konnte. Joiwind mußte seinen Gedanken gelesen haben, denn sie faßte seinen Arm und zog ihn mit sich. »Vielleicht wissen Sie nicht, daß der See uns tragen wird?« Panawe ging voran auf das Wasser; es war so schwer, daß es sein Gewicht trug. Joiwind folgte mit Maskull. Er begann herumzurutschen und auszugleiten, doch die Bewegung war erheiternd, und indem er Panawe beobachtete und imitierte, gelang es ihm bald, sich ohne Hilfe auf den Beinen zu halten… Danach fand er die Wanderung über das Wasser angenehm und erfrischend. Der See wurde tiefer, und seine Farbe veränderte sich zu einem tiefen Schwarzgrün. Die Felsen, Schluchten und Bäume am jenseitigen Ufer waren jetzt klar auszumachen, ebenso ein Wasserfall, der aus fast hundert Metern Höhe herabstürzte. Die Oberfläche des Sees wurde unruhig – so sehr, daß Maskull Schwierigkeiten hatte, sein Gleichgewicht zu halten. Schließlich ließ er sich fallen und begann, auf der Wasseroberfläche zu schwimmen. Joiwind wandte den Kopf nach ihm und lachte so fröhlich, daß alle ihre Zähne im Sonnenlicht blitzten. Schließlich gingen sie an einem Vorgebirge aus schwarzem Fels an
Land. Das Wasser in Maskulls Kleidern und Haaren verdunstete sehr rasch. Er kniff die Augen zusammen und spähte die steilen Hänge aufwärts, um die Aufstiegsroute auszumachen, doch einige seltsame Bewegungen von Panawe lenkten seine Aufmerksamkeit ab. Das Gesicht des Mannes verzog sich wie in einem Krampf, arbeitete heftig, und er begann umherzutaumeln. Dann griff er an seinen Mund und nahm etwas heraus, das wie ein bunter Kiesel aussah. Darauf stand er wieder ruhig da und betrachtete das Ding interessiert. Joiwind eilte zu ihm und besah den Stein ebenfalls. Nach längerer Inspektion ließ Panawe den Stein auf den Boden fallen und kümmerte sich nicht weiter darum. »Darf ich sehen?« fragte Maskull; und ohne auf Erlaubnis zu warten, hob er den Stein auf. Es war ein eiförmiger glatter Stein, von blaßgrüner Farbe, etwa wie Jade. Er hielt das eiförmige Ding in die Höhe und fragte: »Wo ist dieser Stein her?« Panawe wandte sich ab, aber Joiwind antwortete für ihn: »Es kam aus meinem Mann.« »Das dachte ich mir auch, aber ich konnte es nicht glauben. Was ist es?« »Ich glaube nicht, daß es einen Namen oder einen Verwendungszweck hat. Es ist – ein Überschuß von Schönheit.« »Schönheit?« Joiwind lächelte. »Würden Sie die Natur betrachten wie mein Mann, Maskull, vielleicht wäre alles erklärt.« Maskull dachte nach. »Auf Erden«, sagte er nach einer Pause, »nennt man Männer wie Panawe Künstler. Auch in Ihnen ist ein Überschuß von Schönheit, mit dem Sie die Welt beschenken. Der einzige Unterschied ist, daß die Hervorbringungen dieser Künstler menschlicher und verständlicher sind.« »Daraus kommt nichts als Eitelkeit«, sagte Panawe, und er nahm den Stein aus Maskulls Hand und warf ihn in den See. Der Steilhang, den sie nun zu ersteigen hatten, war mehrere hundert Meter hoch, und Maskull begann bald zu keuchen und zu
schwitzen, doch machte er sich mehr Sorgen um Joiwind als um sich selbst, denn sie war offensichtlich erschöpft. Aber sie lehnte alle Hilfe ab, die er ihr anbot, und sie war immer noch leichtfüßiger als ihr Mann. Panawe stapfte langsam und anscheinend gedankenverloren den schmalen Pfad aufwärts. Der Fels war fest und bröckelte nicht. Der Aufstieg hätte Maskull Freude gemacht, wäre nicht die mörderische Hitze gewesen, die von den Felsen zurückgestrahlt wurde. Sie raubte ihm fast den Verstand, und seine Kopfschmerzen nahmen zu. Als sie nach vielleicht einer Stunde den Kamm erreichten, sah Maskull, daß sie ein Plateau erstiegen hatten. Die Oberfläche war aus dunklem Gestein und fast frei von Vegetation. Sie erstreckte sich in beiden Richtungen, so weit das Auge reichte. Einen Kilometer vor ihnen erhob sich eine steile Hügelkette aus der Hochfläche. Die Höhe der Hügel war verschieden, und der tassenförmige Poolingdred überragte sie alle um etwa dreihundert Meter. Die oberen Hänge seiner konischen Gestalt waren mit einer Vegetation bedeckt, die von Lichtreflexen zu glitzern schien. Joiwind legte ihre Hand auf Maskulls Schulter und zeigte hinauf. »Hier haben Sie den höchsten Gipfel im ganzen Land… das heißt, bis Sie zum Ifdawn Märest kommen.« Beim Klang dieses fremdartigen Namens verspürte er eine unerwartete Anwandlung von wilder Energie und Ruhelosigkeit, die er sich nicht erklären konnte, aber das Gefühl verging rasch. Ohne Zeit zu verlieren, führte Panawe sie auf kaum sichtbarer Wegspur über die steinige Hochfläche und die Hänge hinauf. Die untere Hälfte des Wegs querte nackten Fels, der terrassenartig geschichtet und leicht zu ersteigen war. Danach nahm die Steigung zu, und sie begegneten Büschen und kleinen Bäumen. Die Vegetation wurde dichter und dichter, und als sie sich dem Gipfel näherten, erkannte er, daß große Bäume auf ihm wuchsen. Diese Büsche und Bäume hatten blasse, glatte Stämme und Äste, und die kleinen Zweige und Blätter waren glasig und halb durchsichtig. Sie vermochten die Lichtfülle von oben kaum
aufzuhalten, doch in dem Halbschatten, den sie erzeugten, war es trotzdem kühl. Die Formen der Blätter und der Bäume waren von fantastischer Vielfalt, und nachdem Maskull sie längere Zeit beobachtet hatte, gewann er den Eindruck, daß keine zwei Pflanzen der gleichen Art angehörten. »Willst du Maskull nicht aus seiner Schwierigkeit heraushelfen?« sagte Joiwind und zupfte ihren Mann am Arm. Er lächelte. »Wenn er mir vergeben wird, daß ich wieder in seine Gedanken eindringe. Aber die Schwierigkeit ist gering… Das Leben auf einem neuen Planeten, Maskull, ist notwendigerweise energisch und gesetzlos, und nicht ruhig und nachahmend. Die Natur ist noch immer im Fluß – noch nicht erstarrt –, und die Materie ist plastisch. So kommt es, daß nicht zwei Kreaturen ganz gleich sind.« »Nun, ich verstehe all das«, erwiderte Maskull, nachdem er aufmerksam zugehört hatte. »Aber was ich nicht begreife, ist dies: wenn die Lebewesen hier so energisch und gesetzlos nach geeigneten Formen suchen, wie ist es dann möglich, daß die menschlichen Wesen beinahe die gleiche Gestalt haben wie in meiner Welt?« »Das ist leicht zu erklären«, sagte Panawe. »Alle Lebewesen, die dem Former gleichen, müssen einander notwendigerweise ähneln.« »Das ist wunderbar«, sagte Maskull. »Dann ist die Bruderschaft des Menschen nicht eine von Idealisten erfundene Fabel, sondern eine Tatsache.« Joiwind sah ihn an und wechselte die Farbe. Panawe wandte sich streng und schweigend ab. Ein neues Phänomen erregte Maskulls Aufmerksamkeit. Die Blüten eines Busches sandten telepathische Signale aus, die er durch sein Breve klar verstehen konnte. Sie riefen stumm und in ständiger Wiederholung: »Zu mir! Zu mir!« Während er hinsah, segelte ein fliegender Wurm durch die Luft zu einer dieser Blüten und ließ sich auf ihr nieder, Nektar zu saugen, oder was immer sie enthielt. Der lautlose Ruf der Blume verstummte augenblicklich. Sie erreichten den Gipfel und blickten auf der anderen Seite hinab.
Baumbestandene Steilhänge umrahmten einen Kratersee. Die Bäume versperrten teilweise die Sicht, aber Maskull konnte sehen, daß der See fast kreisrund war und einen Durchmesser von vielleicht dreihundert Metern hatte. Der Wasserspiegel lag etwa dreißig Meter unter ihnen. Als er bemerkte, daß Panawe und seine Frau keine Anstalten machten, hinunterzusteigen, bat er sie, auf ihn zu warten, und kletterte zum Ufer hinunter. Das Wasser war völlig unbewegt und von einer seltenen Klarheit. Er ging ein Stück darauf hinaus, legte sich darauf nieder und spähte in die Tiefen. Es war unheimlich transparent… Er hatte das Gefühl, in eine unendliche Tiefe hinabzusehen, eine Tiefe, die keinen Grund hatte. Dunkle, schattenhafte Wesen bewegten sich dort unten, beinahe am Rande seines Wahrnehmungsbereichs. Dann schien ein Geräusch aus immenser Tiefe durch das Wasser heraufzudringen, sehr schwach und undeutlich. Es war wie der Rhythmus einer Trommel. Vier Schläge von gleicher Länge, aber die Betonung lag auf dem dritten. Das Geräusch dauerte längere Zeit an, dann verstummte es. Ihm schien, daß das Geräusch einer anderen Welt angehörte als der, in der er reiste. Die letztere war mystisch, traumhaft und unglaublich… Das Trommeln aber war wie ein sehr ferner Unterton der Wirklichkeit. Es ähnelte dem Ticken einer Uhr in einem Raum voller Stimmen; nur gelegentlich wurde es vom Ohr aufgenommen. Er kehrte zu Panawe und Joiwind zurück, sagte ihnen aber nichts von seinem Erlebnis. Sie umwanderten den Kraterrand und blickten auf der anderen Seite hinunter. Ähnliche Steilhänge wie jene, die aus der Wüste aufgestiegen waren, bildeten hier die Grenze einer ungeheuren moorigen Ebene, deren Ausmaße vom Auge nicht gemessen werden konnten. Es war festes Land, doch er konnte seine Farbe nicht ausmachen. Es sah aus, als sei es aus transparentem Glas, doch glitzerte es nicht im Sonnenlicht. Vielleicht entstand der glasige Effekt durch das Flimmern der heißen Luft, Maskull wußte es nicht. Es gab in dieser weiten Ebene keine unterscheidbaren Objekte oder Landmarken, nur einen Fluß in weiter Ferne und –
jenseits davon – eine ferne Linie dunkler Berge von seltsamen Formen. Statt gerundet, konisch oder bucklig zu sein, zeigten diese fernen Gipfel eine gewisse Ähnlichkeit mit Türmen und Zinnen, die durch tiefe Schluchten voneinander getrennt schienen. Der Himmel über den fernen Bergen war von einem lebhaften, intensiven Blau, das prächtig mit den abgestuften Blautönen des restlichen Himmels kontrastierte. Es schien leuchtender und strahlender als alles, was Maskull bisher gesehen hatte, und es war tatsächlich wie die Glut eines großartigen Sonnenuntergangs einer blauen Sonne. Maskull starrte angestrengt in die Ferne. Je länger er das Naturschauspiel beobachtete, desto ehrfürchtiger wurden seine Gefühle. »Was für ein Licht ist das?« Panawes Gesicht war starr wie eine Maske, strenger als gewöhnlich, und seine Frau hielt seinen Arm umklammert. »Es ist Alpain, unsere zweite Sonne«, antwortete er. »Jene Berge nennen wir die Ifdawn Märest… Nun lassen Sie uns zu unserer Unterkunft gehen.« »Ist es nur meine Einbildung, oder werde ich von diesem Licht wirklich beeinflußt und gequält?« fragte Maskull. »Nein, es ist nicht Einbildung, es ist real. Wie könnte es anders sein, wenn zwei Sonnen verschiedenartiger Natur Sie gleichzeitig anziehen? Sie können von Glück sagen, daß Sie Alpain selbst nicht sehen. Sie ist von hier aus nicht sichtbar. Sie müßten wenigstens bis Ifdawn gehen, um sie zu Gesicht zu bekommen.« »Warum sagen Sie, es sei ein Glück?« »Weil die von diesen einander entgegengesetzten Kräften verursachten Qualen vielleicht mehr sein würden als Sie ertragen könnten… Aber ich weiß es nicht.« Während sie die restliche Wegstrecke zurücklegten, war Maskull sehr nachdenklich. Er verstand nichts. Jeder Gegenstand, auf den sein Blick zufällig fiel, wurde augenblicklich zu einem Rätsel. Die Stille um den Berggipfel erschien ihm brütend, geheimnisvoll und –
abwartend. Panawe führte sie ein kleines Stück über den Berghang und zur Mündung einer Höhle. Diese Höhle war das Heim von Panawe und Joiwind. Im Innern war es dunkel. Der Gastgeber nahm eine Muschelschale, füllte sie mit Flüssigkeit aus einem Brunnen und bespritzte den sandigen Boden. Allmählich breitete sich ein grünliches, phosphoreszierendes Licht bis in die hintersten Winkel der Höhle aus und erhellte sie während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts. Es gab keine Möbel. Getrocknete Stauden, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Farnwedeln hatten, dienten als Lagerstätten. Kaum hatte sie die Höhle betreten, sank Joiwind erschöpft nieder. Ihr Mann bemühte sich mit ruhiger Fürsorge um ihr Wohlbefinden. Er wusch ihr Gesicht, gab ihr zu trinken, berührte sie mit seinem Fühler und bettete sie schließlich zum Schlafen auf ihr Lager. Maskull war bekümmert, als er die edle Frau so leiden sah, doch Panawe wollte davon nichts hören. »Richtig, dies ist eine sehr lange und harte Wanderung für sie gewesen, aber sie wird alle ihre anderen, zukünftigen Reisen leichter bewältigen. So ist die Natur des Opfers.« »Ich verstehe nicht, wie ich an einem Vormittag so weit gehen konnte«, sagte Maskull, »und sie ist doppelt so weit gegangen.« »In ihren Adern fließt statt Blut Liebe, und darum ist sie so stark.« »Wissen Sie, daß sie mir davon etwas gab?« »Andernfalls hätten Sie die Wanderung nicht antreten können.« »Ich werde das nie vergessen.« Die glühende Hitze des Tages draußen, die blendend helle Höhlenmündung, die kühle Abgeschlossenheit des Innern mit seinem blaßgrünen Leuchten – all das lud Maskull zum Schlafen ein. Aber seine Neugierde blieb einstweilen stärker. »Wird es Ihre Frau stören, wenn wir sprechen?« »Nein.« »Aber wollen Sie nicht lieber auch schlafen?« »Ich benötige wenig Schlaf. Auf jeden Fall ist es wichtiger, daß Sie etwas über Ihr neues Leben hören. Es ist nicht alles so unschuldig
und idyllisch wie dies. Wenn Sie hier leben wollen, sollten Sie über die Gefahren unterrichtet sein.« »Das dachte ich mir bereits, aber wie wollen wir es halten – soll ich Fragen stellen, oder wollen Sie mir sagen, was Sie für wichtig halten?« Panawe ließ sich auf seine Lagerstatt nieder, streckte die Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, nachdem er Maskull bedeutet hatte, sich zu ihm zu setzen. »Ich werde Ihnen einiges aus meinem Leben erzählen. Sie werden daraus erfahren, von welcher Art die Welt ist, auf die Sie gekommen sind.« Panawe schwieg eine Weile, als versuche er zu entscheiden, wo er anfangen sollte, dann begann er mit leiser, ruhiger Stimme zu erzählen. »Meine früheste Erinnerung ist, wie meine Eltern mit mir zu Broodviol gingen, dem weisesten Mann von Tormance. Ich war damals drei Jahre alt, was vielleicht fünfzehn von Ihren Jahren entspricht, aber wir entwickeln uns hier langsamer. Broodviol wohnte im großen Wald von Womflash. Wir wanderten drei Tage lang durch den Wald und schliefen nachts unter den Bäumen. Diese Bäume wurden größer, je tiefer wir in den Wald eindrangen, bis die Wipfel schließlich nicht mehr zu sehen waren. Die Stämme waren von dunkelroter Farbe. Mein Vater machte immer wieder halt, um nachzudenken. Wäre er nicht unterbrochen worden, so hätte er einen halben Tag im tiefen Nachdenken verbringen können, ohne seine Umgebung zu bemerken. Meine Mutter kam aus Poolingdred und war aus anderem Holz. Sie war schön, großzügig und freundlich – aber auch aktiv. Sie drängte ihn immer wieder, weiterzugehen. Dies führte zu vielen Streitgesprächen zwischen ihnen, was mich elend machte. Am vierten Tag durchwanderten wir einen Teil des Waldes, der an den See der Versunkenen grenzte. Dieser See ist voll von Stellen eines leichten Wassers, das das Gewicht eines Menschen nicht trägt, und da diese Stellen von dem übrigen Wasser nicht zu unterscheiden sind, ist es gefährlich, hinüberzugehen. Mein Vater
zeigte uns einen schwachen Umriß am Horizont und sagte, es sei Swaylones Insel. Manchmal gingen Menschen dorthin, aber niemand kehrte zurück. Am Abend des gleichen Tages fanden wir Broodviol; er stand in einer tiefen schlammigen Grube im Wald, umgeben von hohen Bäumen. Er war ein knorriger, runzliger, widerstandsfähiger alter Mann. Zu der Zeit betrug sein Alter einhundertzwanzig von unseren Jahren, das sind fast sechshundert von Ihren Jahren. Sein Körper war trilateral… Er hatte drei Beine, drei Arme und sechs Augen in gleichen Abständen rings um den Kopf verteilt. Dies gab ihm ein Aussehen großer Wachsamkeit und Weisheit. Er war in einer Art Trance. Später hörte ich diesen Ausspruch von ihm: ›Liegen ist Schlafen, Sitzen ist Träumen, Stehen ist Denken.‹ Mein Vater wurde angesteckt und versank in Meditation, aber meine Mutter rüttelte sie beide gründlich, daß sie wieder zu sich kamen. Broodviol starrte sie mißbilligend und finster an und verlangte zu wissen, was sie wollte. Da erfuhr ich zum erstenmal den Grund der Reise. Ich war ein Wunderkind… das heißt, ich war ohne Geschlecht. Meine Eltern waren deswegen beunruhigt und wünschten den weisesten aller Männer zu konsultieren. Der alte Broodviol glättete seine Miene und sagte: ›Dies wird vielleicht nicht so schwierig sein. Ich werde das Wunder erklären. Jeder Mann und jede Frau unter uns ist ein wandelnder Mörder. Ist er ein Mann, so hat er mit der Frau, die im gleichen Körper mit ihm geboren wurde, gekämpft und sie getötet. Ist es eine Frau, so hat sie den Mann getötet. Aber in diesem Kind dauert der Kampf noch an.‹ ›Wie sollen wir den Kampf beenden?‹ fragte meine Mutter. ›Laßt dem Kind seinen Willen, und es wird von dem Geschlecht sein, das ihm gefällt.‹ ›Du willst natürlich ein Mann sein, nicht wahr?‹ fragte mich meine Mutter ernst. ›Dann werde ich deine Tochter erschlagen, und das würde ein Verbrechen sein.‹ Etwas in meinem Ton machte Broodviol aufmerksam. ›Das war nicht selbstsüchtig, sondern großmütig gesprochen.
Darum muß der Mann in ihm es gesprochen haben, und ihr braucht euch nicht weiter zu beunruhigen. Bevor ihr zu Hause seid, wird das Kind ein Junge sein.‹ Mein Vater ging ein Stück fort. Meine Mutter beugte sich ungefähr zehn Minuten lang vor Broodviol, und er verharrte die ganze Zeit ohne eine Bewegung und blickte freundlich auf sie nieder. Später hörte ich, daß bald darauf Alpain für ein paar Stunden täglich in dieses Land kam. Broodviol wurde melancholisch und starb. Seine Prophezeiung trat ein – bevor wir die Heimat erreichten, wußte ich, was Scham bedeutet. Aber seit damals habe ich oft über seine Worte nachgegrübelt, in späteren Jahren, wenn ich versuchte, meine eigene Natur zu verstehen; und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß er, wiewohl der weiseste aller Männer, in diesem Fall nicht ganz richtig gesehen hatte. Zwischen mir und meiner Zwillingsschwester, eingeschlossen in einem Leib, hatte es nie einen Kampf gegeben, sondern eine instinktive Ehrfurcht vor dem Leben hinderte uns beide daran, um die Existenz zu kämpfen. Ihre Kraft war stärker, und sie opferte sich für mich – wenn auch nicht bewußt. Sobald ich dies verstanden hatte, legte ich ein Gelöbnis ab, niemals etwas Lebendes zu essen oder zu zerstören… und ich habe dieses Gelübde immer gehalten. Ich war noch kein ausgewachsener Mann, als mein Vater starb. Der Tod meiner Mutter folgte unmittelbar darauf, und ich haßte die Assoziationen des Landes, die vielen Erinnerungen, die mich peinigten. Darum beschloß ich, ins Land meiner Mutter zu reisen, wo, wie sie mir oft gesagt hatte, die Natur heilig und einsam sei. Eines heißen Morgens kam ich zum Damm des Formers. Er wird so genannt, weil der Former ihn einmal benützt haben soll. Er ist ein natürlicher Grat, zwanzig Meilen lang, der die Berge meiner Heimat mit dem Ifdawn Märest verbindet. Das Tal liegt in einer Tiefe von zweitausend Metern darunter; steile Wände und schreckliche Abgründe sind auf beiden Seiten. Der Gratrücken ist im allgemeinen nicht breiter als ein Fuß, und viele Grattürme müssen überklettert
oder umgangen werden. Der Grat führt in nordsüdlicher Richtung, und das Tal zu meiner Rechten lag in tiefen Schatten, während das Tal zu meiner linken Seite im Tau des frühen Morgens und im Sonnenschein funkelte. Ich wanderte ängstlich diesen gefährlichen Pfad entlang. Weit im Osten wurde das Tal von einer Hochebene abgeschlossen, die die Heilige Ebene genannt wird. Ich war niemals dort, aber ich habe zwei seltsame Dinge über ihre Bewohner gehört. Einmal sollen sie keine Frauen haben; zum anderen heißt es, daß sie zwar gern in andere Gebiete reisen, aber niemals Gewohnheiten der Leute annehmen, bei denen sie wohnen. Nach einiger Zeit wurde mir schwindlig, und ich lag lange auf dem Grat, hielt mich mit beiden Händen an den zwei Kanten fest und starrte auf den Stein, auf dem ich lag. Als dies verging, fühlte ich mich wie ein anderer Mensch und wurde fröhlich und übermütig. Als ich den Grat ungefähr zur Hälfte hinter mir hatte, sah ich, daß jemand mir entgegenkam. Er war noch weit entfernt, aber die bevorstehende Begegnung erfüllte mein Herz mit Furcht, denn ich sah nicht, wie wir einander vorbeigehen sollten. Wie auch immer, ich ging langsam weiter, und bald waren wir einander nahe genug, daß ich den anderen erkennen konnte. Es war Slofork, der sogenannte Zauberer. Ich war ihm bis dahin nie begegnet, aber ich erkannte ihn an den Besonderheiten seiner Gestalt. Er besaß eine sehr lange, rüsselähnliche Nase, die ein sehr nützliches Organ zu sein schien, aber nicht gerade zu seiner Schönheit beitrug. Man nannte ihn ›Zauberer‹, weil er eine ans Wunderbare grenzende Geschicklichkeit besaß, Glieder und Organe aufzupfropfen. Es heißt, daß er eines Abends sein eigenes Bein mit einem stumpfen Steinmesser langsam absägte und dann zwei Tage in Agonie verbrachte, während sein neues Bein wuchs. Er hatte nicht den Ruf eines in allen Dingen weisen Mannes, aber gelegentlich hatte er Einsichten, die anderen verwehrt blieben. Wir setzten uns auf den Grat und sahen einander an, ungefähr eine Körperlänge voneinander entfernt. ›Wer von uns geht über den anderen?‹ fragte Slofork. Er war ruhig
wie der sonnige Morgen, aber diese Ruhe erschien mir in meiner Jugend schrecklich und bedrohlich. Ich lächelte ihn an und sagte nichts, denn ich wollte die Erniedrigung vermeiden. So saßen wir einander viele Minuten freundlich gegenüber. ›Was ist größer als Vergnügen?‹ fragte er plötzlich. Ich war in einem Alter, wo man gern zeigt, daß man jeder Lage gewachsen ist, und so verbarg ich meine Überraschung und ging auf die Konversation ein, als ob wir uns nur zu diesem Zweck getroffen hätten. ›Der Schmerz‹, erwiderte ich. ›Denn der Schmerz vertreibt das Vergnügen‹ ›Was ist größer als der Schmerz?‹ Ich dachte nach. ›Die Liebe. Denn für unsere Liebe ertragen wir gerne Schmerzen.‹ ›Aber was ist größer als Liebe?‹ drängte er. ›Nichts, Slofork.‹ ›Und was ist Nichts?‹ ›Das mußt du mir sagen.‹ ›Ich will es dir sagen. Dies ist die Welt des Formers. Wer hier ein guter Mensch ist, der kennt Vergnügen, Schmerzen und Liebe und bekommt seine Belohnung. Aber es gibt eine andere Welt – nicht die des Formers –, und dort ist alles das unbekannt, und eine andere Ordnung regiert. Diese Welt nennen wir Nichts, aber sie ist nicht Nichts, sondern Etwas.‹ ›Ich habe gehört‹, sagte ich, ›daß du gut darin bist, Organe nachwachsen zu lassen?‹ ›Das genügt mir nicht. Jedes Organ erzählt mir die gleiche Geschichte. Ich will andere Geschichten hören.‹ ›Ist es wahr, was die Leute sagen, daß deine Weisheit abwechselnd steigt und sinkt?‹ ›Ganz recht‹, antwortete Slofork. ›Aber die Leute, von denen du es hast, fügten nicht hinzu, daß sie das Steigen immer irrtümlich für das Sinken hielten, die Flut für die Ebbe.‹ Meine Erfahrung ist‹, sagte ich altklug, ›daß Weisheit Elend ist.‹
›Vielleicht ist es so, junger Freund… Aber du hast das nie gelernt, und wirst es nie lernen. Für dich wird die Welt weiterhin ein edles, ehrfurchtgebietendes Gesicht tragen. Du wirst niemals über einen Mystizismus hinausgelangen. Aber sei in deiner eigenen Art und Weise glücklich.‹ Bevor ich begriff, was geschah, sprang er vom Grat, hinunter in den leeren Abgrund. Mit ständig wachsender Geschwindigkeit raste er in die Tiefe, die Arme und Beine ausgebreitet. Ich kreischte, warf mich auf den Felsgrund und schloß die Augen. Oft habe ich mich gefragt, welche von meinen schlecht bedachten, jugendlich übereilten Bemerkungen es war, die seinen plötzlichen Entschluß bewirkte, Selbstmord zu begehen. Was es auch gewesen sein mag, seit jenem Tag habe ich es mir zur Regel gemacht, niemals zu meinem eigenen Vergnügen zu sprechen, sondern nur um anderen zu helfen. Schließlich kam ich zum Ifdawn Märest. Vier Tage lang suchte ich angstvoll meinen Weg durch die Felslabyrinthe. Ich fürchtete den Tod, aber noch mehr schreckte mich die Möglichkeit, meine heilige Einstellung zum Leben zu verlieren. Als ich beinahe durch war und schon begann, mich zu beglückwünschen, stieß ich auf die dritte außerordentliche Persönlichkeit meiner Erfahrung – den schrecklichen Muremaker. Es geschah unter gräßlichen Umständen. An einem wolkigen und stürmischen Nachmittag sah ich einen lebendigen Menschen ohne sichtbaren Halt in der Luft aufgehängt. Er hing aufrecht vor einer Felswand. Zu seinen Füßen war ein Abgrund. Ich kletterte so nah heran, wie ich konnte, und er sah mich und machte eine schiefe Grimasse, wie jemand, der seine Erniedrigung ins Humoristische wenden möchte. Das Schauspiel verblüffte mich so, daß ich nicht einmal begreifen konnte, was geschehen war. ›Ich bin Muremaker‹, rief er mit krächzender Stimme, die mich erschreckte. ›Mein Leben lang habe ich andere gepeinigt… Nun werde ich gepeinigt. Nuclamp und ich überwarfen uns wegen einer Frau. Jetzt hält Nuclamp mich hier fest. Solange seine Willenskraft
vorhält, werde ich hier hängenbleiben; aber wenn er ermüdet – und das kann nicht mehr lange dauern – werde ich in die Tiefe stürzen.‹ Wäre es ein anderer Mann gewesen, ich hätte versucht, ihn zu retten. Aber dieses Ungeheuer war mir als eines bekannt, das sein ganzes Leben damit verbracht hatte, zu seinem Vergnügen andere zu quälen, zu morden und auszusaugen. Ich eilte fort und machte erst am Abend wieder halt. In Poolingdred traf ich Joiwind. Wir gingen und sprachen miteinander, und nach einem Monat fanden wir, daß wir einander zu sehr liebten, um wieder auseinanderzugehen.« Panawe schwieg. »Das ist eine faszinierende Geschichte«, bemerkte Maskull. »Nun beginne ich mich besser auszukeimen. Aber etwas überrascht mich.« »Was ist es?« »Wie ist es möglich, daß die Menschen hier weder Werkzeuge noch Künste kennen und keine Zivilisation haben und dennoch menschenfreundlich und hilfsbereit in ihren Gewohnheiten und weise in ihren Gedanken sind?« »Denken Sie, daß Liebe und Weisheit aus Werkzeugen entspringen? Aber ich sehe, wie Sie es meinen. In Ihrer Welt haben Sie weniger Sinnesorgane, und um den Nachteil auszugleichen, sind Sie gezwungen gewesen, Stein und Metall zu Hilfe zu nehmen. Das ist keineswegs ein Zeichen von Überlegenheit.« »Nein, das ist es sicherlich nicht«, sagte Maskull, »aber ich sehe, daß ich viel von dem, was ich gelernt habe, vergessen muß.« Sie sprachen noch eine Weile miteinander, dann legten auch sie sich schlafen. Joiwind öffnete die Augen, lächelte und schlummerte wieder ein.
8 Maskull erwachte vor den anderen. Er stand auf, reckte sich und ging hinaus ins Sonnenlicht. Branchspell war bereits im Sinken begriffen.
Er stieg zum Kraterrand empor und überblickte das Land, das zu den fernen Bergen von Ifdawn Märest hinüberreichte. Die Berge ragten großartig und bizarr in den Himmel. Das blaue Glühen war jetzt völlig verschwunden. Die ferne Gebirgskette beeindruckte ihn wie ein einfaches musikalisches Thema, dessen Noten in der Tonleiter weit auseinanderliegen. In diesen Augenblicken wurde in ihm der Entschluß geboren, jene dunstigen Fernen und ihre Gefahren zu erforschen. Er kehrte in die Höhle zurück, um seinen Gastgebern Lebewohl zu sagen. Joiwind blickte ihn mit ihren großen und aufrichtigen Augen prüfend an. »Ist dies Eigennutz, Maskull«, fragte sie, »oder zieht Sie etwas hinaus, das stärker ist als Sie selbst?« »Wir müssen vernünftig sein«, antwortete er lächelnd. »Ich kann mich nicht in Poolingdred niederlassen, bevor ich etwas über Ihre überraschende neue Welt in Erfahrung gebracht habe. Vergessen Sie nicht, von wie weit her ich gekommen bin… Aber sehr wahrscheinlich werde ich hierher zurückkommen.« »Wollen Sie mir etwas versprechen?« Maskull zögerte. »Bitten Sie mich nicht um etwas, das schwierig zu erfüllen ist, denn ich kenne meine Kräfte noch nicht gut genug.« »Es ist nicht schwierig, und ich wünsche es sehr. Versprechen Sie mir dies: Heben Sie niemals Ihre Hand gegen ein lebendes Wesen, sei es zum Zuschlagen, Pflücken oder Essen, ohne zuerst seiner Mutter zu gedenken, die für es gelitten hat.« »Vielleicht werde ich das lieber nicht versprechen«, sagte Maskull bedächtig. »Aber ich werde etwas mehr Greifbares machen. Ich werde niemals meine Hand gegen ein lebendes Wesen erheben, ohne zuerst an Sie zu denken, Joiwind.« Sie wurde ein wenig bleich. »Wenn Panawe weiß, daß ein solches Versprechen existiert, könnte er eifersüchtig sein.« Panawe legte seine Hand sanft auf ihren Arm. »So würdest du in der Gegenwart des Formers nicht sprechen«, sagte er.
»Nein. Vergib mir! Ich bin nicht ganz ich selbst… Vielleicht ist es Maskulls Blut in meinen Adern… Nun wollen wir Abschied nehmen. Laß uns beten, daß er nur ehrenhafte Taten vollbringen wird, wo immer er sein mag.« »Ich werde Maskull ein Stück weit begleiten«, sagte Panawe. »Das ist nicht nötig«, erwiderte Maskull. »Der Weg ist leicht zu finden.« »Aber Gespräche verkürzen ihn.« Maskull wandte sich zum Gehen. Joiwind hielt ihn am Arm zurück und sagte: »Sie werden meinetwegen nicht schlecht von anderen Frauen denken?« »Sie sind gesegnet«, antwortete er. Sie ging still ins Innere der Höhle, während Panawe und Maskull aus der Öffnung ins Freie traten. Auf der halben Höhe des Hanges stießen sie auf eine kleine Quelle mit farblosem, aber perlendem Wasser. Sobald Maskull seinen Durst gestillt hatte, fühlte er sich anders. Seine Umgebung war in ihrer Lebhaftigkeit und in ihren Farben so real, doch gleichzeitig so unwirklich in ihrer geheimnisvollen Fremdheit, daß er wie in einem Traum den Berg hinunterstieg. Als sie die Ebene erreichten, sah Maskull einen Wald großer Bäume vor sich, deren Formen außerordentlich fremdartig schienen. Die Blätter waren grünlich und halbtransparent, und wenn man aufblickte, war es, als sähe man durch ein Glasdach. Das Licht fiel weiß und grell und nur wenig grüngetönt durch das Laubdach, aber die Blätter hatten es der Hitze beraubt. Durch den Wald führte ein schmaler und sehr gerader Weg, so weit das Auge sehen konnte. Maskull hatte den Wunsch, mit seinem Reisegefährten zu sprechen, doch irgendwie war er unfähig, Worte zu finden. Dann und wann blickte Panawe ihn mit einem unergründlichen Lächeln an – ernst, doch freundlich und etwas feminin. Dann brach Panawe das Schweigen, aber seltsamerweise konnte Maskull nicht erkennen, ob er sang oder sprach. Von seinen Lippen kam ein langsames, musikalisches Rezitativ, genau wie ein bezauberndes Adagio von einem tiefen Saiteninstrument… mit
einem Unterschied: Statt der Wiederholung oder Variation eines oder zweier kurzer Themen, wie in der Musik, war Panawes Thema unbegrenzt – es kam niemals zu einem Ende, sondern ähnelte in Rhythmus und Melodie eher einer Konversation. Und es war auch in anderer Hinsicht kein Rezitativ, es war nicht deklamatorisch. Es war ein langer, ruhiger Strom aus lieblicher Emotion. Maskull lauschte voll Bewegung. Das Lied, wenn man es so nennen konnte, schien immer im Begriff, klar und verständlich zu werden – nicht mit der Verständlichkeit von Worten, sondern in der Art und Weise, wie man die Stimmungen und Gefühle eines anderen mitfühlend versteht; und Maskull fühlte, daß etwas Wichtiges ausgesprochen wurde, etwas, das alles erklären würde, was vorausgegangen war. Aber es wurde verschoben, und er kam nie zum Verstehen… Spät am Nachmittag kamen sie zu einer Lichtung, und dort stellte Panawe seinen Sprechgesang ein. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb in der Art eines Menschen stehen, der klarmachen will, daß er nicht weitergehen wird. »Wie heißt dieses Land?« fragte Maskull. »Es ist die Ebene von Lusion.« »Hatte diese Musik die Natur einer Verlockung? Wünschen Sie nicht, daß ich weitergehe?« »Ihre Arbeit liegt vor Ihnen und nicht hinter Ihnen.« »Was war es dann? Welche Arbeit meinen Sie?« »Es muß Ihnen Eindruck gemacht haben, Maskull.« »Ja, es kam mir wie eine Hymne an den Former vor.« Panawe zeigte keine Überraschung. »Oberall findet man die Werke des Formers.« Maskull nickte. »Ich werde jetzt weitergehen«, sagte er. »Wo kann ich heute abend schlafen?« »Sie werden einen breiten Fluß erreichen. Auf ihm können Sie morgen bis zum Fuß der Berge reisen; aber heute abend sollten Sie lieber am Ufer lagern.« »Dann leben Sie wohl, Panawe. Wollen Sie mir noch etwas sagen?«
»Nur dies, Maskull – wohin Sie auch gehen, helfen Sie, die Welt schön zu machen und nicht häßlich.« »Das ist mehr, als einer von uns unternehmen kann. Ich bin ein einfacher Mann und habe keine Ambitionen, das Leben zu verschönern… Aber sagen Sie Joiwind, daß ich versuchen werde, mich rein zu halten.« Sie trennten sich ziemlich kühl. Maskull stand, wo sie haltgemacht hatten, und sah Panawe nach, bis er außer Sichtweite war. Ihm wurde bewußt, daß etwas im Begriff war zu geschehen. Die Luft war atemlos. Der Sonnenschein des Spätnachmittags hüllte ihn in Wärme. Eine einzelne Wolke, ungeheuer hoch, glitt durch den Himmel. Er fühlte sich allein mit der Natur. Eine heilige Ruhe kam über ihn. Vergangenheit und Zukunft waren vergessen. Der Wald, die Sonne, der Tag – sie existierten nicht mehr für ihn. Er war sich seiner selbst nicht bewußt – er hatte keine Gedanken und keine Gefühle. Doch nie hatte das Leben für ihn solche Höhen erreicht. Ein Mann mit gekreuzten Armen stand auf dem Weg. Er war so gekleidet, daß seine Arme und Beine bloß waren, während sein Körper bedeckt war. Er war eher jung als alt. Maskull bemerkte, daß sein Antlitz keins von den besonderen Organen hatte, wie sie die Bewohner von Tormance auszeichneten. Der Mann hatte ein glattes Gesicht, und seine ganze Person schien überschüssige Lebenskraft auszustrahlen, wie das Flimmern von Luft an einem heißen Tag. Seine Augen hatten eine derartige Gewalt, daß Maskull ihnen nicht standhalten konnte. Er redete Maskull mit Namen an, in einer außergewöhnlichen Stimme, die einen doppelten Klang hatte. Der eigentliche Klang schien weit entfernt und unnahbar; der andere war ein persönlicher Unterton, in dem Schwingungen von Freundlichkeit und Mitleid spürbar waren. Maskull fühlte aufsteigende Freude, als er in der Gegenwart dieses Fremden stand. Er glaubte, daß ihm etwas Gutes geschehe. Er fand es schwierig, Worte herauszubringen, doch schließlich fragte er: »Warum vertrittst du mir den Weg?«
»Maskull, sieh mich gut an. Wer bin ich?« »Ich glaube, du bist der Former.« »Ich bin Surtur.« Maskull versuchte wieder, dem anderen in die Augen zu sehen, aber es war, als würde er erstochen. »Du weißt, daß dies meine Welt ist. Warum, glaubst du, habe ich dich hierhergebracht? Ich wünsche, daß du mir dienst.« Maskull konnte nicht länger sprechen. »Jene, die meine Welt mißachten«, fuhr der Fremde fort. »Jene, die ihren strengen, ewigen Rhythmus, ihre Schönheit und Erhabenheit zum Gespött machen… sie sollen nicht entkommen.« »Ich verspotte sie nicht.« »Stelle mir deine Fragen, und ich werde sie beantworten.« »Ich habe keine.« »Es ist notwendig, daß du mir dienst, Maskull. Verstehst du nicht? Du bist mein Diener und Helfer.« »Ich werde nicht fehlen.« »Dies ist um meinetwillen und nicht um deinetwillen.« Die Worte hatten kaum Surturs Mund verlassen, da sah Maskull ihn plötzlich in die Höhe springen. Und als er zum Himmel aufblickte, sah er, wie sein ganzes Gesichtsfeld von Surturs Gestalt ausgefüllt wurde – nicht von seiner Gestalt als konkrete Person, sondern von einem ungeheueren Wolkenbildnis, das finster auf ihn herabblickte. Dann verschwand die Erscheinung wie ein Licht, das ausgelöscht wird. Maskull stand bewegungslos mit hämmerndem Herzen. Er hörte ein fernes Fanfarensignal, einen Ton, der irgendwo weit vor ihm begann, dann mit gleichmäßig zunehmender Intensität auf ihn zukam, vorüberging und schließlich in der Ferne hinter ihm verklang, feierlich und ruhig, bis die Note mit der Totenstille des Waldes verschmolz. Es schien Maskull wie der Abschluß eines wunderbaren und wichtigen Kapitels. Gleichzeitig mit dem Vergehen dieses Klangs schien der Himmel sich mit der Schnelligkeit eines Blitzschlags zu einer blauen Kuppel
von unmeßbarer Höhe zu öffnen. Er atmete tief ein, streckte seine Glieder und blickte lächelnd um sich. Nach einer Weile setzte er seine Wanderschaft fort. Sein Geist war dunkel und verwirrt, aber eine Idee begann sich bereits in den Vordergrund zu drängen – riesig und formlos, wie das langsam sich abzeichnende Bild in der Seele eines schöpferischen Künstlers… Der überwältigende Gedanke, daß er ein Mann sei, den das Schicksal auserwählt hatte. Je mehr er über alles nachdachte, was ihm seit seiner Ankunft auf dieser neuen Welt widerfahren war – und schon vorher auf der Erde –, desto klarer und unabweisbarer wurde ihm, daß er nicht zu irgendwelchen persönlichen Zwecken hier sein konnte, sondern für ein höheres Ziel ausersehen sein mußte. Aber welches Ziel das war, konnte er sich nicht vorstellen. Endlich versank Branchspell im Westen hinter dem Wald, eine enorme Scheibe roten Feuers. Nun, da die Strahlen seine Augen nicht mehr blendeten, konnte er sehen, was für eine riesige Sonne es war. Der Pfad bog nach links und führte in zwei Kehren einen Hang hinunter. Maskull sah einen breiten Fluß aus klarem und dunklem Wasser vor sich. Er kam aus dem Norden und floß nach Süden. Der Waldpfad brachte Maskull unmittelbar ans Ufer. Er stand dort und betrachtete nachdenklich das rasch strömende, gurgelnde Wasser. Am anderen Ufer setzte sich der Wald fort. Weit im Süden war die Bergkuppe von Poolingdred auszumachen, und am nördlichen Horizont ragten die Berge des Ifdawn Märest auf – hoch, zerklüftet, schön und gefährlich. Sie waren nicht mehr weiter als fünfzehn Kilometer entfernt. Als er sie betrachtete, fühlte Maskull Unruhe und Erregung, und trotz seiner körperlichen Erschöpfung hatte er den Wunsch, seine Kräfte an etwas zu erproben. Dieses Verlangen identifizierte er mit den rot angestrahlten Felstürmen des Gebirges. Sie schienen eine magische Anziehungskraft auf ihn auszuüben. Er überlegte, ob es nicht möglich sein würde, noch an diesem Abend bis zum Fuß des Gebirges vorzustoßen, doch als er zum fernen Poolingdred
zurückblickte, erinnerte er sich an Joiwind und Panawe und wurde ruhiger. Er beschloß, an dieser Stelle zu übernachten und bei Tagesanbruch weiterzugehen. Er trank am Fluß, wusch sich und suchte sich einen Schlafplatz auf der Uferböschung. Inzwischen hatte seine Idee so starke Wurzeln in ihm geschlagen, daß er nicht an die möglichen Gefahren der Nacht dachte; er vertraute seinem guten Stern. Das Tageslicht verblaßte, unmerklich kam die lange Nacht, und Maskull schlief. Als er aufwachte, sah er einen roten Schein in der Finsternis. Er setzte sich auf und überlegte, wie spät es sein mochte. Der kleine rote Glutpunkt hatte seinen Ursprung irgendwo zwischen den Bäumen. Maskull stand auf und ging langsam auf die Lichtquelle zu. Nach ungefähr fünfzig Metern erreichte er sie und stolperte fast über die Gestalt einer, schlafenden Frau. Der Gegenstand, der die Strahlung aussandte, lag einige Meter entfernt am Boden. Er sah wie ein kleiner Edelstein aus, der Funken roten Lichts versprühte. Doch Maskull warf nur einen flüchtigen Blick hinüber. Die Frau war in das Fell eines Tieres gekleidet. Sie hatte große, glatte und wohlgeformte Glieder, mehr muskulös als fett. Ihr Fühler oder Magn war nicht dünn, sondern ein dritter Arm, der in einer Hand endete. Ihr Gesicht war energisch, kraftvoll und sehr schön. Aber er sah mit Überraschung, daß sie anstelle eines Stirnorgans ein drittes Auge besaß. Alle drei Augen waren geschlossen. Das matte rote Licht machte ihm die Bestimmung ihrer Hautfarbe unmöglich. Maskull beugte sich über sie und berührte sie sanft mit der Hand. Sie erwachte und blickte ruhig zu ihm auf, ohne Erschrecken oder Angst zu zeigen. Alle drei Augen starrten ihn an, doch die zwei unteren waren trüb und verschlafen – bloße Übermittler von Wahrnehmungen. Allein das mittlere, obere Auge drückte ihre innere Natur aus. Sein hochmütiger, unnachgiebiger Blick hatte dennoch etwas Lockendes und Verführerisches an sich. Maskull fühlte eine Herausforderung darin, und seine Haltung versteifte sich instinktiv.
Sie setzte sich auf. »Können Sie meine Sprache verstehen?« fragte er. »Andere konnten es.« »Warum bilden Sie sich ein, ich könne Ihre Gedanken nicht lesen? Sind sie so kompliziert?« Sie hatte eine volle, musikalische Stimme, deren gedehntem Klang er gern lauschte. »Nein, aber Sie haben kein Breve.« »Nun ja, aber ich habe das hier, und was ist besser?« Und sie zeigte auf das Auge in der Mitte ihrer Stirn. »Wie heißen Sie?« »Oceaxe.« »Und woher kommen Sie?« »Ifdawn.« Diese einsilbigen, fast verächtlichen Antworten begannen ihn zu irritieren, doch sie konnte sagen, was sie wollte, der bloße Klang ihrer Stimme war faszinierend. »Ich werde morgen hingehen«, bemerkte er. Sie lachte. Es war, als täte sie es gegen ihren Willen, doch sie sagte nichts. »Mein Marne ist Maskull«, fuhr er fort. »Ich bin ein Fremder – von einer anderen Welt.« »Ihre absurde Erscheinung macht es mir leicht, Ihnen das zu glauben.« »Vielleicht ist es am besten, wenn wir es gleich sagen«, sagte Maskull brüsk. »Wollen wir Freunde sein oder nicht?« Sie gähnte und reckte ihre Arme, ohne aufzustehen. »Warum sollten wir Freunde sein? Wenn ich Sie für einen Mann hielte, würde ich Sie vielleicht als Liebhaber akzeptieren.« »Wenn Sie das wollen, müssen Sie anderswo suchen.« »So sei es, Maskull! Und nun gehen Sie, und lassen Sie mich in Frieden.« Sie ließ ihren Kopf wieder auf den Boden zurücksinken, schloß aber nicht sofort ihre Augen. »Worauf warten Sie noch?« fragte sie.
»Was machen Sie hier?« forschte er. »Oh, wir kommen gelegentlich zum Schlafen hierher, denn wo ich herkomme, gibt es öfters Nächte für uns, die keinen Morgen haben.« »Wenn es in Ihrer Heimat so gefährlich ist und wenn man bedenkt, daß ich ein völlig Fremder bin, dann würde es nur höflich sein, mich zu warnen und über die möglichen Gefahren zu unterrichten.« »Es ist mir vollkommen gleichgültig, was aus Ihnen wird«, versetzte Oceaxe. »Kehren Sie am Morgen zurück?« drängte Maskull. »Wenn ich es wünsche.« »Dann werden wir miteinander gehen.« Sie richtete sich halb auf, auf einen Ellbogen gestützt. »Statt Pläne für andere Leute zu machen, würde ich an Ihrer Stelle etwas sehr Notwendiges tun.« »Bitte sagen Sie es mir.« »Nun, es gibt keinen Grund, warum ich sollte, aber ich werde es tun. Sollten Sie den Versuch machen, das Land ohne ein drittes Auge oder Sorb, wie wir es nennen, zu passieren, so würde das einem Selbstmord gleichkommen. Und auch dieser Magn ist nicht nur nutzlos, sondern gefährlich.« »Sie wissen wahrscheinlich, worüber Sie reden, Oceaxe. Aber was sollte ich nach Ihrer Meinung tun?« Sie zeigte nachlässig auf den strahlenden Stein in ihrer Nähe. »Das ist die Lösung. Wenn Sie diesen Stein eine Zeitlang auf Ihre Organe halten, dann wird er vielleicht die Veränderung bewirken, und die Natur wird während der Nacht den Rest tun… Aber ich kann nichts versprechen.« Oceaxe kehrte Maskull den Rücken zu und legte sich nieder, offensichtlich entschlossen, sich nicht mehr stören zu lassen. Nach kurzer Überlegung ging Maskull zu dem Stein und nahm ihn in die Hand. Es war ein rundlicher Stein von der Größe eines Hühnereis, strahlend, mit karmesinrotem Licht, als wäre er rotglühend, und er versprühte einen unaufhörlichen Schauer von winzigen, roten Funken.
Nachdem er zu dem Schluß gekommen war, daß Oceaxes Rat mit größter Wahrscheinlichkeit gut gemeint war, legte er den Stein zuerst auf seine eingerollten Fühler und dann an sein Breve oder Stirngewächs. Er fühlte ein scharfes Brennen, aber er hatte das Empfinden, daß es ein heilender Schmerz sei.
9 Maskulls zweiter Tag auf Tormance dämmerte. Branchspell hatte sich bereits über dem Horizont erhoben, als er erwachte. Seine erste bewußte Wahrnehmung war, daß seine Organe sich während der Nacht verändert hatten. Das fleischige Gewächs auf seiner Stirn war zu einem Sorb oder dritten Auge geworden; sein Brustfühler war angeschwollen und hatte sich zu einem dritten Arm entwickelt. Dieser Arm gab ihm sofort ein Gefühl von größerer körperlicher Sicherheit, aber mit dem Sorb mußte er experimentieren, bevor er seine Funktion ganz verstehen konnte. Als er im weißen Sonnenlicht dalag, jedes seiner drei Augen abwechselnd öffnete und schloß und dabei seine Sinneswahrnehmungen analysierte, fand er, daß die zwei unteren Augen seinem Verstehen dienten, das obere aber seinem Willen. Mit den unteren Augen sah er alle Dinge in klaren Details, aber ohne persönliches Interesse; mit dem Sorb konnte er sie nicht neutral und objektiv sehen – alles bezog seine Bedeutung oder Unwichtigkeit nur aus dem Nutzen, den es ihm bringen konnte. Ziemlich verwundert und im Ungewissen, wie diese Gabe sich für ihn auswirken würde, stand er auf und blickte umher. Er hatte außer Sichtweite von Oceaxe geschlafen und konnte sie nicht erblicken, doch bevor er sich aufmachte, um nachzusehen, ob sie noch da war, beschloß er, im Fluß zu baden. Es war ein strahlender Morgen. Die heiße weiße Sonne begann bereits zu stechen, doch ein kräftiger Wind milderte ihre Hitze, und
am Himmel zogen Wolken auf, die immer wieder willkommenen Schatten spendeten. Sie sahen wie Tiere aus und veränderten ständig ihre Form. Der Waldboden wie auch die Blätter und Zweige waren triefend naß vom Tau oder von nächtlichem Regen. Ein frischer süßlicher Duft von feuchter Erde und Natur lag in der Luft. Maskull war voll Unternehmungsgeist und Optimismus. Bevor er badete, betrachtete er die Berge des Ifdawn Märest. Er vermutete, daß sie zwischen zwei- und dreitausend Meter hoch sein mochten, und die luftigen, unregelmäßigen Türme und Zinnen erschienen ihm wie die Mauern einer magischen Stadt. Die Felswände zeigten im Morgenlicht verschiedene Farbtöne – Grau, Rostrot, gelblich und Schwarz. Als er sie beobachtete, begann sein Herz wie eine langsame, schwere Trommel zu schlagen… Ein Schwall von unartikulierten Hoffnungen, Inspirationen und Emotionen überflutete ihn. Es war mehr als die Eroberung einer neuen Welt, es war etwas anderes… Er badete und trank, und als er sich wieder ankleidete, kam Oceaxe herangeschlendert. Er konnte jetzt ihre Hautfarbe erkennen – sie schien in einem ständigen Wechsel von elfenbeinfarbenen, bräunlichen und blaßgrünen Tönen begriffen. Auch ihr Körperbau war eigenartig. Die Rundungen und der Bau ihrer Knochen waren eindeutig weiblich, doch schien alles von einem starken, wagemutigen und männlichen Willen überlagert. Dieser Eindruck wurde durch das gebieterische Auge in ihrer Stirn noch unterstrichen; sein kühner, dominierender Egoismus wurde von weiblicher Weichheit nur unvollkommen gemildert. Sie kam ans Ufer und musterte ihn von oben bis unten. »Nun sehen Sie mehr wie ein Mann aus«, sagte sie mit ihrer faszinierenden Stimme. »Wie Sie sehen, war das Experiment erfolgreich«, antwortete er lächelnd. »Hat eine Frau Ihnen dieses lächerliche Gewand gegeben?« sagte sie, während ihr kritischer Blick auf ihm ruhte.
»Das ist richtig, eine Frau gab es mir«, sagte er, nun nicht mehr lächelnd, »aber zu der Zeit sah ich nichts Lächerliches daran, und auch jetzt tue ich es nicht.« »Ich glaube, es würde mir besser stehen«, sagte sie. Gleichzeitig begann sie, sich des Tierfells zu entledigen, das ihr so gut stand, und bedeutete ihm, ihr das Gewand zu geben. Er gehorchte errötend, denn er begriff, daß der vorgeschlagene Austausch seinem Geschlecht in der Tat angemessen war. Er fand, daß er sich in der Tierhaut freier bewegen konnte. Oceaxe in ihrem drapierten Gewand erschien ihm nun auf gefährliche Weise weiblich. »Ich will nicht, daß Sie von anderen Frauen Geschenke annehmen«, bemerkte sie beiläufig. »Warum nicht? Was kann es Ihnen bedeuten?« »Ich habe heute nacht über Sie nachgedacht.« Sie sagte es zögernd mit einem Unterton, der zwischen Geringschätzung und Unsicherheit zu schwanken schien. Sie setzte sich auf den Stamm eines gefallenen Baums und blickte weg. »Und mit welchem Ergebnis?« Statt einer Antwort begann sie Borkenstücke abzureißen. Maskull sagte: »Gestern abend taten Sie so verächtlich.« »Gestern abend ist nicht heute. Mit dem Kopf über der Schulter durch die Welt?« Maskull schwieg. »Wenn Sie männliche Instinkte haben, wie ich vermute, werden Sie mir nicht lange widerstehen können.« Maskull sperrte die Augen auf. »Aber das ist absurd!« stammelte er. »Ich – ich gebe zu, daß Sie eine schöne Frau sind – aber wir können uns nicht einfach so den Instinkten hingeben.« Oceaxe seufzte und stand auf. »Es spielt keine Rolle. Ich kann warten.« »Ich entnehme dem, daß Sie die Absicht haben, die Reise in meiner Gesellschaft zu machen. Das freut mich. Aber es wäre besser, wenn Sie diese Anspielungen bleiben ließen.« »Finden Sie mich nicht schön?«
»Gewiß finde ich Sie schön, aber was hat das mit meinen Gefühlen zu tun? Lassen wir das, Oceaxe. Sie werden andere Männer finden.« Das brachte sie auf. »Ist Liebe wählerisch, Sie Dummkopf? Glauben Sie, ich hätte es nötig, nach Liebhabern zu jagen? Wartet zu Hause nicht Crimtyphon auf mich?« »Schon gut. Es tut mir leid, sollte ich Ihre Gefühle verletzt haben. Nun versuchen Sie mich nicht länger… denn es ist eine Versuchung. Ich bin nicht mein eigener Herr.« »Ist mein Vorschlag so verabscheuungswürdig? Warum erniedrigen Sie mich so?« Maskull verbarg die Hände hinter dem Rücken wie ein Schuljunge, der dem Lehrer eine Untat beichten muß. »Ich wiederhole, ich bin nicht mein eigener Herr.« »Dann sagen Sie mir, wer Ihr Herr ist.« »Gestern begegnete ich Surtur, und von nun an diene ich ihm.« »Haben Sie mit ihm gesprochen?« fragte sie neugierig. »Ja.« »Erzählen Sie mir, was er gesagt hat.« »Nein, das kann ich nicht – will ich nicht. Aber was immer er sagte, seine Schönheit war quälender als die Ihrige, Oceaxe, und darum kann ich Sie ansehen und kühl bleiben.« »Hat Surtur Ihnen verboten, Mann zu sein?« Maskull runzelte die Stirn. »Ist Liebe ein so männlicher Sport? Ich sollte meinen, sie habe etwas Effeminiertes.« »Das spielt keine Rolle. Sie werden nicht immer so jungenhaft sein… Aber stellen Sie meine Geduld nicht zu sehr auf die Probe.« »Reden wir über etwas anderes – und vor allem, lassen Sie uns aufbrechen.« Sie brach plötzlich in ein Gelächter aus, das so wohltönend und bezaubernd war, daß er sich entflammt fühlte und sie am liebsten in die Arme genommen hätte. »Oh, Maskull – was sind Sie für ein Dummkopf!« »In welcher Weise bin ich ein Dummkopf?« fragte er grollend – nicht über ihre Worte, sondern über seine eigene Schwäche.
»Sind es nicht ungezählte Paare von Liebenden gewesen, die diese Welt so gemacht haben, wie sie ist? Und Sie glauben, Sie könnten über alledem stehen. Sie versuchen, der Natur zu entfliehen, aber wo werden Sie ein Loch finden, in dem Sie sich verstecken können?« »Neben der Schönheit muß ich Ihnen nun eine zweite Eigenschaft zubilligen: Beharrlichkeit.« »Nun, vielleicht werden Sie an mir noch andere Eigenschaften entdecken… Aber jetzt, bevor wir gehen, sollten wir etwas essen.« »Essen?« fragte Maskull verwundert. »Essen Sie nicht? Gehört Nahrung für Sie in die gleiche Kategorie wie Liebe?« »Was für eine Nahrung ist es?« »Fische aus dem Fluß, natürlich.« Maskull erinnerte sich an das Versprechen, das er Joiwind gegeben hatte. Zugleich aber fühlte er sich hungrig. »Gibt es nichts Leichteres?« Sie sah ihn an und verzog verächtlich ihre Lippen. »Sie sind durch Poolingdred gekommen, nicht wahr? Die Leute dort sind alle gleich. Sie glauben, das Leben sei etwas zum Ansehen, nicht zum Leben. Wenn Sie nach Ifdawn kommen, werden Sie Ihre Ansichten ändern müssen.« »Gehen Sie Ihre Fische fangen«, erwiderte er, und er blickte stirnrunzelnd auf seine Hände. Oceaxe stieg die Böschung hinunter, kniete am Ufer nieder und spähte ins Wasser. Nicht lange, und ihr Blick wurde gespannt und konzentriert; sie tauchte blitzschnell die Hand ins Wasser und zog etwas heraus. Es war mehr Reptil als Fisch, mit seinen schuppigen Platten und Zähnen. Sie warf das Tier auf den Boden, und es begann herumzukriechen. Sie sah es an, und plötzlich schien ihr ganzer Wille in dem dritten Auge zusammengeballt. Das Tier sprang in die Luft und fiel tot zurück. Oceaxe suchte einen scharfkantigen Stein, mit dem sie die Schuppen und Innereien entfernte. Ihre Hände und das Gewand wurden mit Blut bespritzt, während sie arbeitete.
»Suchen Sie den Stein, Maskull«, sagte sie mit einem trägen Lächeln. »Sie hatten ihn gestern abend genommen.« Er suchte danach. Der Stein war schwierig auszumachen, denn seine Strahlen waren im Sonnenlicht stumpf und schwach, aber nach einiger Zeit fand er ihn. Oceaxe legte ihn in das ausgeweidete Tier und ließ den Körper am Boden liegen. »Während es kocht, werde ich das Blut abwaschen, das Sie so zu entsetzen scheint. Haben Sie noch nie Blut gesehen?« Maskull starrte sie verdutzt an. Ihr tatkräftiges, kühnes, selbstsicheres Handeln schien in einem unauflösbaren Widerspruch zu der faszinierenden und beunruhigenden Weiblichkeit ihres Körpers und ihrer Stimme zu stehen. Ein erschreckender Gedanke ging ihm durch den Sinn. »Ich hörte, unter den Bewohnern Ihres Landes gäbe es einen Willensakt, der ›Aufsaugen‹ genannt wird. Was ist das?« Sie hielt ihre roten, tropfenden Hände von sich, um das Gewand nicht noch mehr zu beschmutzen, und stieß ein köstliches, perlendes Lachen aus. »Sie halten mich für einen halben Mann?« »Beantworten Sie meine Frage.« »Ich bin durch und durch eine Frau, Maskull – bis ins Knochenmark. Aber das will nicht besagen, daß ich niemals Männer aufgesaugt hätte.« »Und das bedeutet…?« »Neue Saiten für meine Harfe, Maskull… Eine breitere Skala der Leidenschaften, ein stürmischeres Herz…« »Für Sie, ja… Aber für die anderen?« »Ich weiß es nicht. Die Opfer beschreiben ihre Erfahrungen nicht. Wahrscheinlich Unglück von irgendeiner Art… Wenn sie danach noch etwas wissen.« »Das ist eine schreckliche Sache!« sagte er entsetzt. »Man könnte meinen, Ifdawn sei ein Land, das von Teufeln bewohnt wird.« Oceaxe warf ihm ein höhnisches Lächeln zu und ging wieder ans Ufer. »Bessere Männer als Sie – besser in jedem Sinne des Worts –
gehen mit einem fremden Willen in ihren Köpfen herum. Sie mögen so moralisch sein wie Sie wollen, Maskull, die Tatsache bleibt, daß Tiere dazu da sind, gegessen zu werden. Und einfältige Naturen sind dazu da, aufgesaugt zu werden.« »Und Menschenrechte zählen nichts!« Sie hatte sich über das Wasser gebeugt, um ihre Arme und Hände zu waschen, aber nun blickte sie über die Schulter, um auf seine Bemerkung zu antworten. »Sie zählen. Aber wir betrachten einen Menschen nur so lange als menschlich, wie er fähig ist, sich unter den anderen zu behaupten.« Das Fleisch war bald gar, und sie frühstückten schweigend. Von Zeit zu Zeit warf Maskull seiner Gefährtin bekümmerte und zweifelnde Blicke zu. Das Fleisch schmeckte ekelerregend, und Maskull kam sich beinahe wie ein Kannibale vor; ob das an der fremdartigen Qualität der Nahrung oder an seiner langen Abstinenz lag, vermochte er nicht zu sagen. Er aß wenig, und als er aufstand, fühlte er sich befleckt und entweiht. »Ich will diesen Drudenstein begraben, wo ich ihn ein anderes Mal wiederfinden kann«, sagte Oceaxe, als sie gegessen hatte. »Beim nächsten Mal werde ich allerdings keinen Maskull bei mir haben, der bei jedem zweiten Wort ein schockiertes Gesicht macht… Danach werden wir den Fluß hinaufgehen.« Wenig später traten sie vom Ufer auf das fließende Wasser. Es strömte ihnen träge entgegen, aber statt sie zu behindern, hatte die Strömung den gegenteiligen Effekt – sie zwang sie zu vermehrten Anstrengungen, und sie kamen schneller voran. In dieser Art und Weise marschierten sie mehrere Kilometer flußaufwärts. Die Übung verbesserte Maskulls Blutkreislauf, und er begann die Dinge optimistischer zu sehen. Das nicht zu heiße Wetter, der kühlende Wind, die großartige Wolkenszenerie vor den Bergen, die stillen, glasigen Wälder – alles war beruhigend und zugleich faszinierend. Immer näher kamen sie den Höhen von Ifdawn. »Diese Berge haben außergewöhnliche Formen und Farben«, sagte er nach langem Schweigen. »Und die Linien sind alle gerade und
senkrecht… keine Abhänge oder Kurven.« Sie wandte den Kopf zur Seite und sah ihn an. »Das ist typisch für Ifdawn. Bei uns ist die Natur wie Hammerschläge. Nichts ist weich und abgestuft.« »Ich weiß nicht, wie ich mir das vorstellen soll.« »Überall werden Sie steile Wände und Schluchten finden. Die Bäume wachsen schnell. Männer und Frauen denken nicht zweimal, bevor sie handeln. Man kann meine Heimat einen Ort schneller Entscheidungen nennen.« Maskull nickte beeindruckt. »Ein frisches, wildes, primitives Land.« »Wie ist es in Ihrer Heimat?« fragte Oceaxe. »Ach, meine ist eine altersschwache Welt, wo die Natur hundert Jahre braucht, um das Land ein wenig zu verändern. Menschen und Tiere bewegen sich in Herden. Originalität ist eine vergessene Tugend.« »Gibt es Frauen dort?« »Selbstverständlich, und sie sehen nicht sehr viel anders aus als hier.« »Lieben sie?« Er lachte. »Nicht anders als hier.« »Wahrscheinlich sind sie schöner als ich?« »Nein, das glaube ich nicht«, sagte Maskull. Nach längerem Schweigen sagte Oceaxe plötzlich: »Was haben Sie in Ifdawn Märest zu tun?« Er zögerte mit seiner Antwort, dann sagte er in einem entschuldigenden Ton: »Können Sie sich vorstellen, daß es möglich ist, ein so großes Ziel vor sich zu haben, daß man es nicht als ein Ganzes sehen kann?« Sie warf ihm einen langen, forschenden Seitenblick zu. »Was für ein Ziel?« »Ein moralisches Ziel.« »Wollen Sie die Welt verbessern?« »Ich will nichts… Ich warte…«
»Warten Sie nicht zu lange, denn die Zeit wartet nicht – schon gar nicht in Ifdawn.« »Etwas wird geschehen«, sagte Maskull. Oceaxe lächelte wissend. »Sie haben also kein bestimmtes Ziel?« »Nein, und wenn Sie es mir erlauben, werde ich mit Ihnen nach Haus gehen.« »Sie sind ein komischer Mann!« sagte sie mit einem kurzen Auflachen. »Das ist es, was ich Ihnen die ganze Zeit angeboten habe. Natürlich werden Sie mit mir kommen. Was Crimtyphon angeht…« »Sie erwähnten den Namen bereits. Wer ist es?« »Ach, mein Liebhaber oder, wie Sie sagen würden, mein Ehemann.« »Das kompliziert die Sache«, sagte Maskull. »Es ändert gar nichts. Wir brauchen ihn bloß zu entfernen.« Maskull sagte erschrocken: »Ich glaube, wir mißverstehen einander. Denken Sie, ich würde einen Vertrag mit Ihnen schließen?« »Sie werden nichts gegen Ihren Willen tun. Aber Sie haben versprochen, mit mir nach Haus zu kommen.« »Sagen Sie, wie gedenken Sie Ihren Mann zu entfernen?« »Entweder Sie werden ihn töten, oder ich muß es tun.« Er blieb stehen und starrte sie lange an. »Sind Sie verrückt?« »Keineswegs«, erwiderte Oceaxe. »Es ist die traurige Wahrheit. Und wenn Sie Crimtyphon gesehen haben, werden Sie es begreifen.« »Ich weiß, daß ich auf einem fremden Planeten bin«, sagte Maskull langsam, »wo alle möglichen unerhörten Dinge geschehen können und wo die Gesetze der Moral anders sein mögen als in der Welt, von der ich komme. Trotzdem, soweit es mich betrifft, bleibt ein Mord ein Mord, und ich will nichts mehr mit einer Frau zu tun haben, die mich als ein Werkzeug gebrauchen möchte, um ihren Mann loszuwerden.« »Sie halten mich für böse?« fragte Oceaxe ungerührt. »Oder verrückt.« »Dann sollten Sie mich lieber verlassen, Maskull, nur…«
»Nur was?« »Sie wollen konsequent sein, nicht wahr? Verlassen Sie auch alle anderen verrückten und bösen Leute… Dann werden Sie es nämlich leichter finden, die übrigen zu bessern, denn das werden nicht viele sein.« Maskull sah stirnrunzelnd zu Boden, sagte aber nichts. »Nun?« fragte Oceaxe lächelnd. »Ich werde mit Ihnen kommen und Crimtyphon kennenlernen – wenn auch nur, um ihn zu warnen.« Oceaxe brach in heiteres Gelächter aus, aber Maskull wußte nicht, ob seine letzten Worte der Grund waren oder ob sie dabei an etwas anderes gedacht hatte. Der Fluß bog nach Westen und war nicht länger geeignet, sie auf ihrer Wanderung voranzubringen. Maskull starrte zweifelnd zu den gewaltigen Felsbastionen der Berge auf, die nun nahe vor ihnen aufragten. »Das wird ein mühsamer Aufstieg«, sagte er. »Rasten wir ein wenig hier«, erwiderte sie und zeigte auf eine flache Insel aus schwarzem Fels, die in der Mitte des Flusses zu sehen war. Sie gingen hinüber und setzten sich. Oceaxe wandte ihr Gesicht zu den Felsen gegenüber und stieß einen durchdringenden und seltsam modulierten Ruf aus. »Wozu tun Sie das?« Sie antwortete nicht. Nachdem sie eine Minute lang gewartet hatte, wiederholte sie den Ruf. Bald darauf sah Maskull, wie sich ein großer Vogel von den Felswänden auf der anderen Seite löste und gemessen herübersegelte. Zwei andere folgten ihm. Der Flug dieser Vögel war langsam und schwerfällig. »Was für Tiere sind das?« fragte er. Sie gab keine Antwort, sondern lächelte seltsam und blieb ruhig neben ihm sitzen. Bald konnte er die Farben und Formen der Tiere deutlicher erkennen. Sie waren keine Vögel, sondern Geschöpfe mit langen, echsenartigen Körpern und Beinen. Die Vorderbeine waren ungewöhnlich lang und trugen segelartige Hautflügel. Die Körper
waren von einem hellen Graublau, Beine und Bäuche gelblich. Sie flogen in einer irgendwie bedrohlich anmutenden Art und Weise direkt auf sie zu. Maskull konnte einen langen dünnen Stachel ausmachen, der aus jedem der Köpfe ragte. »Das sind Shrowks«, sagte Oceaxe endlich. »Wenn Sie wissen möchten, was sie vorhaben, will ich es Ihnen sagen: eine Mahlzeit aus uns machen. Zuerst werden sie uns mit ihrem Stachel durchbohren, und dann werden ihre Mäuler, die in Wirklichkeit Saugorgane sind, uns das Blut aussaugen… Und sie machen es gründlich; ein Shrowk gibt sich mit halben Sachen nicht zufrieden. Zähne haben sie keine, darum lassen sie das Fleisch liegen.« »Da Sie eine so bewundernswerte Kaltblütigkeit zeigen«, sagte Maskull trocken, »besteht vermutlich keine große Gefahr.« Nichtsdestoweniger wollte er instinktiv aufstehen, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben – doch es gelang ihm nicht. Eine Art Lähmung hielt ihn fest, wo er saß. »Wollten Sie eben aufstehen?« fragte Oceaxe. »Nun, ja, aber diese verdammten Reptilien scheinen mich mit ihrer Willenskraft auf dem Felsen festzunageln. Darf ich fragen, ob Sie ein bestimmtes Ziel im Auge hatten, als Sie sie aufweckten?« »Die Gefahr ist echt, Maskull. Statt zu reden und Fragen zu stellen, sollten Sie lieber sehen, was Sie mit Ihrem Willen ausrichten können.« »Unglücklicherweise scheine ich keinen Willen zu haben.« Oceaxe lachte krampfhaft, aber es war noch immer ein schönes und volltönendes Lachen. »Es ist offensichtlich, daß Sie kein sehr heroischer Beschützer sind, Maskull. Es scheint, daß ich den Mann spielen muß und Sie die Frau. Von Ihrem großen Körper hatte ich mehr erwartet… Mein Mann würde diese Angreifer zum Spaß in der Luft herumtanzen lassen, bevor er sie erledigte. Nun passen Sie auf. Zwei von den dreien werde ich töten; auf dem dritten werden wir nach Hause reiten. Welchen wollen wir behalten?« Die Shrowks setzten ihren schwerfälligen Flug fort. Als sie näher kamen, konnte Maskull sehen, daß sie von enormer Größe waren.
Sie erzeugten in ihm den gleichen Abscheu wie Insekten. Instinktiv verstand er, daß sie es nicht nötig hatten, schnell zu fliegen, weil sie mit ihrem Willen jagten. »Wählen Sie einen aus, der Ihnen gefällt«, sagte er. »Für mich sehen sie alle gleich widerwärtig aus.« »Dann werde ich das Leittier auswählen, weil es das kräftigste und energischste ist. Passen Sie auf.« Sie stand aufrecht, und ihr drittes Auge glühte plötzlich auf. Maskull fühlte etwas in seinem Gehirn brechen, und im gleichen Augenblick konnte er sich wieder frei bewegen. Die zwei Flugechsen hinter dem Leittier taumelten in der Luft und fielen dann wie Steine zu Boden. Maskull sah sie durch Wald und Unterholz krachen, am Boden aufschlagen und reglos liegenbleiben. Das Leittier kam noch immer auf sie zu, aber er glaubte zu sehen, daß die Art seines Fliegens sich geändert hatte; es war nicht länger bedrohlich, sondern zahm, wenn auch widerstrebend. Oceaxe ließ das Tier auf der kahlen kleinen Flußinsel landen. Wie ein mythischer Drache kam das seltsame Geschöpf herunter, faltete die Flügel an. Seine graublaue Haut war glänzend und lederartig; eine Mähne derben schwarzen Haares hing vom langen Hals. Der Kopf mit den großen Raubtieraugen, dem meterlangen Stachel und dem blutsaugenden kurzen Rüssel war furchterregend und wirkte auf Maskull grotesk und unnatürlich. Rücken und Schwanz trugen einen Kamm, der die Mitte zwischen Flossen und gepanzerten Zacken hielt. »Da ich steuern muß, werde ich zuerst aufsteigen«, sagte Oceaxe und tätschelte die breite Flanke des Ungeheuers. »Achten Sie darauf, daß Sie einen guten Sitz haben.« Sie raffte ihr Gewand, dann kletterte sie geschickt über das Vorderbein des Tiers und setzte sich rittlings auf seinen Rücken, wo der Hals endete. Ihre Hände packten die Mähne. Zwischen ihr und dem Rückenkamm war gerade noch Raum für Maskull. Er suchte sich an den beiden Flanken festzuhalten, und sein dritter, neuer Arm umschlang Oceaxes Hüfte, um zusätzliche Sicherheit zu finden.
Kaum hatte er es getan, fühlte er, daß er getäuscht worden war und daß dieser Ritt nur aus einem Grund geplant worden war – um sein Verlangen zu entfachen. Der dritte Arm war ein entwickelter Magn, und die Empfindungen von Liebe, die durch ihn übermittelt wurden, waren nicht länger rein und edel, sondern leidenschaftlich, brodelnd und quälend. Er preßte die Zähne zusammen und blieb still, doch Oceaxe hatte das Abenteuer nicht geplant, um über seine Gefühle im unklaren zu bleiben. Sie sah sich mit einem triumphierenden Lächeln nach ihm um und sagte: »Der Ritt wird einige Zeit dauern, also halten Sie sich gut fest!« Ihre Augen zwinkerten ihm zu, und ihre Stimme war weich und betörend, aber voll boshafter Befriedigung. Maskull grinste hilflos und sagte nichts. Er wagte seinen Arm nicht wegzunehmen. Der Shrowk entfaltete die Flügel, streckte den fünf oder sechs Meter langen Körper und stieß sich vom Boden auf. Langsam und mit heftigen, plumpen Flügelschlägen erhob er sich in die Luft, beschrieb einen Bogen über dem Fluß und hielt auf das Gebirge zu. Die Bewegung des Körpers war schwankend, schaukelnd und schwindelerregend. Maskull schloß die Augen, hielt sich an Oceaxe und dem breiten Nacken des Ungeheuers fest, so gut es ging, und hoffte, die Reise zu überleben. Sie stiegen höher und höher. Er öffnete die Augen und wagte einen Rundblick. Sie waren bereits in einer Höhe mit den Gipfeln der vordersten Gebirgskette, die er seit Tagen gesehen hatte. Nun kam ein wilder Archipel von Inseln mit zerklüfteten und gezackten Umrissen in Sicht, der aus dem Luftmeer emporstieg. Die Inseln waren Berggipfel, oder genauer gesagt, das Land war ein Hochplateau, überall zerfressen und erodiert von schmalen und anscheinend bodenlosen Spalten und Schluchten. Die oberen, sichtbaren Teile der ungezählten Flanken dieses zerrissenen Hochlands waren fast überall senkrecht abfallende Klippen aus nacktem Fels; aber die ebenen Oberflächen schienen von undurchdringlicher Vegetation bedeckt. Vom Rücken des fliegenden
Shrowks aus waren nur vereinzelte Bäume auszumachen, die den Wald überragten. Als Maskull die einzigartige Landschaft beobachtete, vergaß er Oceaxe und ihre Versuche, seine Leidenschaft zu wecken. Andere, seltsame Gefühle schoben sich in den Vordergrund. Der Morgen war hell und klar, die Sonne brannte herab, kleine grauweiße Wolken segelten über den Himmel, und das Land war wild und einsam und leuchtete in vielen Farben. Doch hatte er keine ästhetischen Empfindungen… Er fühlte nichts als einen intensiven Tatendrang. Wenn er etwas ansah, wollte er sich sofort damit beschäftigen. Auch fühlte er, daß die Atmosphäre dieses zerrissenen Hochlands nicht frei zu sein schien, sondern stickig… Anziehung und Abstoßung waren ihre Bestandteile. Abgesehen von dem Wunsch, eine persönliche Rolle in dem zu spielen, was um ihn her und unter ihm vorging, hatte die Szenerie keine Bedeutung für ihn. Seine Empfindungen beschäftigten ihn so, daß sein dritter Arm den Griff um Oceaxe lockerte, und sie wandte sich halb um und sah ihn prüfend an. Ob sie mit dem, was sie sah, zufrieden war oder nicht, sie gab ein leises, kehliges Lachen von sich. »Schon wieder abgekühlt, Maskull?« »Was wollen Sie?« fragte er geistesabwesend, den Blick in die Ferne gerichtet. »Es ist sonderbar, wie ich mich von alledem angezogen fühle.« »Sie wollen das Leben dort kennenlernen?« »Ich möchte landen.« »Oh, wir haben noch ein gutes Stück vor uns. Sie fühlen sich wirklich anders?« »Anders als was? Wovon reden Sie?« fragte Maskull, noch immer nicht bei der Sache. Oceaxe lachte wieder. »Es müßte seltsam zugehen, wenn wir nicht einen Mann aus Ihnen machen könnten, denn das Material ist ausgezeichnet.« Damit kehrte sie ihm wieder den Rücken zu. Die Inseln im Luftmeer unterschieden sich in noch einem Punkt
von Inseln im Wasser. Viele von ihnen hatten keine ebene Oberfläche, sondern waren wie Pultdeckel oder Reihen zerbrochener Terrassen geneigt. Der Shrowk war bisher in großer Höhe geflogen und hatte immer einen weiten Abstand zu den aufsteigenden Klippen gehalten; doch nun, als vor ihnen ein neuer Archipel von Tafelbergen aufragte, lenkte Oceaxe das Tier in einen Canyon, der aussah, als hätte man einen der abgeflachten Berggipfel mit einem Axthieb gespalten. Sowie sie die Mündung erreichten, waren sie in tiefem Schatten. Der Canyon war nicht breiter als einhundertfünfzig Meter, und auf beiden Seiten ragten die nackten Felswände viele hundert Meter über sie empor. Es war kühl, und als Maskull sich vorsichtig zur Seite beugte und versuchte, in den Grund der Schlucht zu spähen, sah er nichts als Schwärze. »Was ist am Grund?« fragte er. »Der Tod, wenn Sie nachsehen wollen.« »Das wissen wir… Ich meine, gibt es irgendeine Art von Leben dort unten?« »Ich habe nie etwas davon gehört«, sagte Oceaxe. »Aber natürlich ist alles möglich.« »Ich glaube, daß es auch dort Leben geben muß«, erwiderte er nachdenklich, mehr zu sich selbst. Das Echo ihres ironischen Lachens perlte von den düsteren Wänden. »Wollen wir hinuntergehen und nachsehen?« »Finden Sie das erheiternd?« »Nein, nicht das. Was ich erheiternd finde, ist der große Fremde mit dem Bart, der sich für alles so brennend interessiert, nur nicht für sich selbst.« Nun lachte auch Maskull. »Ich bin das einzige Ding auf Tormance, das mir nicht neu ist.« »Ja, aber ich bin auch neu für Sie.« Die Schlucht führte kilometerweit durch den Berg und verengte sich nur allmählich, die ganze Zeit stiegen sie langsam höher. »Jedenfalls habe ich noch nie zuvor etwas wie Ihre Stimme gehört«, sagte Maskull, der nun, da er nicht mehr viel zu beobachten
hatten, wieder gesprächsbereit war. »Was ist mit meiner Stimme los?« »Ob Sie sprechen oder lachen, Ihre Stimme ist das bei weitem lieblichste und seltsamste Instrument, dem ich je zugehört habe… und doch finde ich sie unpassend.« »Sie meinen, meine Natur spiegle sich nicht in meiner Stimme?« Er dachte noch über seine Antwort nach, als ihr Gespräch von einem ungeheuren und erschreckenden, aber nicht sehr lauten Geräusch unterbrochen wurde, das aus der Schlucht unter ihnen kam. Es war ein tiefes Poltern, Knirschen und Donnern. »Der Boden unter uns hebt sich«, sagte Oceaxe mit entsetzter Stimme. »Können wir entkommen?« Statt einer Antwort trieb sie den Shrowk steil aufwärts in einem so gefährlichen Winkel, daß sie sich nur noch mit Mühe festhalten konnten. Der Boden des Canyons von irgendeiner gewaltigen unterirdischen Kraft aufwärts gepreßt, kam wie ein gigantischer Erdrutsch in der falschen Richtung unter ihnen hoch. Breite Risse erschienen in den Felswänden rechts und links, und große und kleine Trümmer begannen zu fallen. Der Lärm steigerte sich und erfüllte die Luft mit Splittern, Knirschen, Bersten, Poltern, Dröhnen und Grollen. Als sie noch zwanzig oder dreißig Meter unter der Felskante waren und den Rand fast greifbar vor sich hatten, quoll unter ihnen eine unheimlich brodelnde, aufquellende dunkle See aus Geröll, zerbrochenem Gestein und Erde hoch. Die gesamte Schlucht wurde aufgefüllt, und gleichzeitig schienen die Felswände zu beiden Seiten näher aneinander zu rücken. Millionen von Tonnen Gestein und Schutt waren in Bewegung gekommen und wurden gewaltsam emporgepreßt. Gesteinstrümmer flogen hoch in die Luft, und der Shrowk, verzweifelt bemüht, dem Verhängnis zu entkommen, wurde von den aufquellenden Trümmermassen erfaßt und emporgetragen. Tier und Reiter erfuhren alle Schrecken eines Erdbebens – alles war Donner, Bewegung, Verwirrung, Panik und Staub. Der Höllenlärm verstummte so plötzlich, wie er eingesetzt hatte.
Trümmer und Felsbrocken polterten, dann wurde es still. Der Wind trieb die Staubwolken fort, und Maskull konnte sehen, daß ein dreißig Meter hoher Geröllrücken die Stelle der Schlucht eingenommen hatte. Es war, als habe der Berg seine Wunde selbst geheilt. Es war plötzlich ganz still, wie durch Magie – nicht ein Felsbrocken bewegte sich mehr. Oceaxe und Maskull rappelten sich auf und begannen ihre Körper nach Schnitten und Prellungen abzusuchen. Der Shrowk lag heftig atmend und schwitzend auf der Seite. Er blutete aus mehreren Wunden, wo ihn fliegende Steine verletzt hatten. »Das war eine ekelhafte Sache«, sagte Maskull, der mit Schrammen und blauen Flecken davongekommen war. Oceaxe stillte das Blut aus einer Platzwunde am Kinn mit dem Saum ihres Gewandes und nickte ihm zu. »Es hätte viel schlimmer ausgehen können… Ich meine, es ist schlimm genug, wenn der Boden aufsteigt, aber wenn er plötzlich absinkt, ist es absolut tödlich, und das kommt genausooft vor.« »Was bringt Sie dazu, in einem solchen Land zu leben?« fragte Maskull. »Ich weiß es nicht. Die Gewohnheit vielleicht. Ich habe oft daran gedacht, die Gegend zu verlassen.« »Ich glaube, man muß Ihnen manches nachsehen, weil Sie Ihr Leben an einem solchen Ort verbringen müssen, wo man nie sicher sein kann, ob man am nächsten Tag noch leben wird.« Sie lächelte. »Nach und nach werden Sie lernen«, sagte sie. Sie blickte den Shrowk konzentriert an, und das Tier erhob sich schwerfällig auf die Füße. »Steigen Sie wieder auf, Maskull!« befahl sie, während sie ihren Platz wieder einnahm. »Wir haben nicht allzuviel Zeit zu verlieren.« Er gehorchte, und sie nahmen ihren unterbrochenen Flug wieder auf, diesmal über die Berge und in vollem Sonnenlicht. Maskull starrte gedankenverloren über das Land hinaus. Der schwerfällige Shrowk schwankte wie ein Schiff auf stürmischer See auf einen fernen, etwas einzeln aufragenden Berg von auffallender Form zu.
Dieser Berg sah wie eine ungeheure natürliche Pyramide aus, erhob sich in gewaltigen Terrassen und endete in einer ausgedehnten ebenen Hochfläche, auf der etwas lag, das wie grünlicher Schnee aussah. »Was für ein Berg ist das?« fragte er. »Disscourn. Der höchste Punkt im Ifdawn Märest.« »Ist er unser Ziel?« »Warum sollten wir hingehen? Aber wenn Sie Weiterreisen wollen, könnte es sich lohnen, dem Gipfel einen Besuch abzustatten. Man überblickt von dort das ganze Land, vom See der Versunkenen und Swaylones Insel bis hinüber nach Poolingdred.« »Das möchte ich mir nicht entgehen lassen.« Sie wandte sich um und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Bleiben Sie bei mir, und eines Tages werden wir zusammen hingehen.« Er antwortete mit einem unverbindlichen Grunzen. Das Land zu ihren Füßen zeigte keine Anzeichen von menschlicher Existenz. Während Maskull unverdrossen nach Siedlungen Ausschau hielt, versank plötzlich nicht weit vor ihnen ein großes Stück Wald. Mehrere Hektar Bäume und Felsen sackten plötzlich mit donnerndem Getöse weg und stürzten in einen unsichtbaren Abgrund. Was eben noch festes Land gewesen war, war nun ein frischer Abgrund, aus dem Staubwolken aufbrodelten. Maskull starrte mit angehaltenem Atem hinunter. Er traute seinen Augen nicht. Schließlich murmelte er: »Das ist ja entsetzlich.« Oceaxe blieb unbewegt. »Unter diesen Umständen muß jedes Leben hier unmöglich sein«, fuhr er fort, als er sich ein wenig erholt hatte. »Man würde Nerven aus Stahl brauchen… Gibt es kein Mittel, Katastrophen wie diese vorauszusehen?« »Oh, ich glaube, wir würden nicht mehr am Leben sein, wenn es keine gäbe«, antwortete Oceaxe gleichmütig. »Wir haben eine gewisse Fertigkeit darin; doch passiert es trotzdem häufig, daß Leute überrascht werden.« »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich die Zeichen lehrten.«
»Wir werden vieles gemeinsam durchgehen müssen. Unter anderem auch die Frage, ob wir überhaupt in diesem Land Aufenthalt nehmen sollten… Aber zuerst wollen wir nach Haus.« »Wie weit ist es noch?« »Es ist direkt vor Ihnen«, sagte Oceaxe und deutete. »Sie können es sehen.« Er folgte der Richtung des Fingers, und nach ein paar Fragen sah er die Stelle, die sie meinte. Es war eine breite Halbinsel, ungefähr drei Kilometer entfernt. Auf drei Seiten erhob sie sich mit steilen Wänden aus dem Luftmeer, dessen Boden unsichtbar war; auf der vierten Seite hing sie mit einer schmalen Landzunge an einem größeren Massiv. Dichte Vegetation bedeckte die gesamte Oberfläche, und ein einziger mächtiger Baum, der in der Mitte der Halbinsel aufragte, stand wie ein Leuchtturm auf einem felsigen Kap; er hatte eine breite und prächtige Krone aus seegrünem Laub. »Ich frage mich, ob Crimtyphon da ist«, bemerkte Oceaxe. »Sehe ich zwei Gestalten, oder täusche ich mich?« »Ich sehe auch etwas«, sagte Maskull. Zehn Minuten später waren sie direkt über der Halbinsel, in einer Höhe von etwa zwanzig Metern. Der Shrowk verlangsamte seinen Flug und landete auf einer kleinen Lichtung am Rande des Festlands, genau dort, wo die Landenge begann. Oceaxe und Maskull kletterten herunter. »Was fangen wir mit dem Ungetüm an?« fragte Oceaxe. Ohne einen Vorschlag ihres Begleiters abzuwarten, tätschelte sie das scheußliche Gesicht des Tiers mit der Hand und sagte in aufmunterndem Ton: »Flieg nach Hause! Vielleicht brauche ich dich ein anderes Mal wieder.« Der Shrowk stieß ein dumpfes Grunzen aus, erhob sich auf seinen Hinterbeinen, und nachdem er einen Anlauf von einigen Metern genommen hatte, erhob er sich mit unbeholfen klatschenden Schwingen in die Luft und paddelte in der Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Sie sahen ihm nach, bis er außer Sicht war, dann ging Oceaxe auf den Isthmus hinaus, Maskull folgte ihr.
Branchspells weißes Licht schlug mit gnadenloser Gewalt auf sie herab. Der Himmel war wolkenlos geworden, und der Wind hatte sich ganz gelegt. Farne, Sträucher und Gräser verschiedener Art und von lebhaften Farben wucherten dicht auf dem kalkigen Boden. Alles sah urtümlich und ungebändigt aus. Endlich war Maskull in den unheimlichen und lockenden Bereichen des Ifdawn Märest, das so seltsame Gefühle in ihm geweckt hatte, als er es aus der Ferne sah… Und nun empfand er weder Neugierde noch Stolz oder Ehrfurcht, sondern wünschte nur, menschlichen Wesen zu begegnen. Es verlangte ihn danach, seine Willenskraft an seinen Mitmenschen zu erproben, und alles andere erschien ihm im Vergleich damit von geringer Bedeutung. Auf der Halbinsel war alles kühler und angenehmer Schatten. Ihre Fläche mochte drei oder vier Hektar ausmachen. Im Herzen des Dickichts aus Bäumen und Unterholz war eine Lichtung. Vielleicht ließen die Wurzeln des Riesenbaums, der in der Mitte wuchs, geringeren Bäumen und Büschen keinen Raum. Unweit vom mächtigen Stamm sprudelte eine kleine Quelle, deren Wasser rötlich und eisenhaltig war. Die Abgründe auf allen Seiten, überhangen von Dornbüschen und blühenden Rankengewächsen, verliehen dem Ort eine Atmosphäre wilder und ursprünglicher Abgeschlossenheit – ein mythologischer Gott mochte hier gewohnt haben… Maskulls ruheloser Blick wanderte weiter und fiel auf die zwei Männer zu Füßen des großen Baums. Einer ruhte wie ein Teilnehmer an einem altgriechischen oder römischen Gelage zurückgelehnt auf einem mit Blumen gesprenkelten Lager aus Moospolstern. Er ruhte auf einem Arm und aß genießerisch eine Art Pflaume. Ein kleiner Haufen dieser Pflaumen lag neben ihm auf dem Moos. Die weit überhängenden Äste des riesigen Baums schützten ihn und den größten Teil der Lichtung vor der Sonnenhitze. Die kleine, jungenhafte Gestalt des Mannes steckte in einem kaum bearbeiteten Tierfell, das seine Arme und Beine nackt ließ. Maskull konnte seinem Gesicht nicht ansehen, ob er ein halbwüchsiger Junge oder ein erwachsener Mann war. Die
Züge waren glatt, weich und kindlich, ihr Ausdruck von engelhafter Ruhe; aber sein violettes drittes Auge in der Mitte der Stirn war finster und erwachsen. Seine Haut hatte die Farbe vergilbten Elfenbeins, und sein langes, gelocktes Haar paßte zu seinem Sorb – es war violett. Der zweite Mann stand aufrecht vor dem anderen, ein paar Schritte von ihm entfernt. Er war kleinwüchsig und muskulös, mit einem breiten, bärtigen und ziemlich gewöhnlichen Gesicht, doch hatte seine Erscheinung etwas Schreckliches. Seine Züge waren von einem tiefverwurzelten Ausdruck von Schmerz, Verzweiflung und Schrecken entstellt. Oceaxe schlenderte über die Lichtung auf die beiden Männer zu. »Wir wurden von einer Hebung überrascht«, bemerkte sie achtlos, mit einem Blick zu dem Jungen. Ihr Benehmen war so, als habe sie die anderen kaum eine Viertelstunde alleingelassen. Der Halbwüchsige blickte sie an, sagte aber nichts. »Wie geht es deinem Pflanzenmann?« Der Tonfall ihrer Stimme hatte etwas Gespanntes und Gekünsteltes, blieb aber dennoch wohlklingend und angenehm. Während sie auf die Antwort wartete, setzte sie sich ins Gras, die Beine anmutig gekreuzt, und breitete das Gewand um sich aus. Maskull blieb mit verschränkten Armen hinter ihr stehen. Alle schwiegen. »Warum antwortest du deiner Herrin nicht, Sature?« sagte der Junge auf der Mooscouch plötzlich in die Stille. Seine Stimme klang ruhig, aber gefährlich. Die Miene des Angeredeten blieb unverändert, und er antwortete mit erstickter Stimme: »Es geht sehr gut voran, Oceaxe. An meinen Füßen sind bereits Knospen. Morgen hoffe ich Wurzeln zu schlagen.« Maskull fühlte einen Sturm in sich aufziehen. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß diese Worte von dem Jungen diktiert worden waren, obwohl Sature sie ausgesprochen hatte. »Was er sagt, ist wahr«, bemerkte der Junge. »Morgen werden die
Wurzeln in den Boden eindringen, und in ein paar Tagen sollten sie fest verankert sein. Dann werde ich an die Arbeit gehen, um seine Arme zu Ästen und seine Finger zu Blättern zu machen. Es wird etwas länger dauern, seinen Kopf in eine Baumkrone zu verwandeln, doch ich hoffe trotzdem – ich glaube sogar, ich kann es versprechen –, daß wir beide, Oceaxe, innerhalb eines Monats von diesem neuen und bemerkenswerten Baum Früchte pflücken und genießen werden.« Er blickte zu Maskull und schloß: »Ich liebe diese natürlichen Experimente. Sie faszinieren mich.« Und er streckte die Hand nach der nächsten Pflaume aus. »Dies muß ein Scherz sein«, sagte Maskull, und unwillkürlich tat er einen Schritt vorwärts. Der Junge blickte ihn heiter an. Er antwortete nicht, doch Maskull hatte das Gefühl, von einer eisernen Hand an der Kehle zurückgestoßen zu werden. »Die Morgenarbeit ist jetzt beendet, Sature. Komm nach Blodsombre wieder. Nach dem heutigen Abend wirst du für immer hierbleiben, nehme ich an, also solltest du dir einen Platz für deine Wurzeln aussuchen und ihn roden. Vergiß niemals, wie frisch und freundlich diese Pflanzen dir jetzt auch erscheinen mögen, in Zukunft werden sie deine tödlichsten Rivalen und Feinde sein. Du magst jetzt gehen.« Der Mann humpelte unter Schmerzen davon, ging über den Isthmus und verwand. Oceaxe gähnte. Maskull stemmte sich vorwärts wie gegen eine unsichtbare Wand. »Soll das ein Scherz sein, oder bist du ein Teufel?« »Ich bin Crimtyphon. Ich scherze niemals. Für diesen Vergleich werde ich mir eine neue Bestrafung für dich ausdenken.« Das Duell der Willenskräfte begann. Oceaxe stand auf, reckte ihre schönen Glieder, lächelte und schickte sich an, das gnadenlose Ringen zwischen ihrem alten und ihrem neuen Liebhaber zu beobachten. Auch Crimtyphon lächelte; er streckte seine Hand nach den Pflaumen aus, aß aber nicht. Maskulls Selbstbeherrschung brach zusammen, und er stürzte sich auf den Jungen, rote Wut vor Augen. Sein Bart zuckte, und sein Gesicht war dunkelrot. Als er erkannte,
mit wem er es zu tun hatte, versiegte Crimtyphons Lächeln, er sprang vom Lager auf und glühte Maskull mit einem finsteren und bösen Blick aus seinem Sorb an. Maskull wankte. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, richtete sie auf ein Ziel und setzte seinen Vormarsch fort. Der Junge kreischte auf und rannte hinter seine Couch aus Moos, versuchte zu entkommen. Dann erlahmte sein Widerstand unerwartet, und Maskull stolperte vorwärts, als der unsichtbare Druck unvermittelt nachließ. Rasch hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden und sprang mit einem Satz über das Mooslager seinen Gegner an. Er stürzte mit seiner ganzen Masse auf ihn und riß ihn nieder. Ohne zu überlegen, packte er den kleinen Kopf mit seinen kräftigen Händen und drehte ihn einmal ganz herum, so daß das Genick brach. Crimtyphon starb sofort. Maskull stand auf und starrte auf den Leichnam unter dem Baum, und ein Ausdruck ungläubiger Bestürzung war in seinen Augen, als er die Veränderung sah, die im Gesicht des Toten stattgefunden hatte. Crimtyphons glattes Jungengesicht war im Augenblick des Todes zu einer vulgären, grinsenden Maske zerfallen, die nichts ausdrückte. Maskull brauchte sein Gedächtnis nicht lange zu durchforschen, um sich zu erinnern, wo er diesen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen hatte. Diese grinsende Maske war fast identisch mit dem Gesicht der Erscheinung bei der Seance, nachdem Krag mit ihr kurzen Prozeß gemacht hatte.
10 Oceaxe setzte sich unbekümmert auf das Mooslager und begann die Pflaumen zu essen. »Sehen Sie, Sie mußten ihn töten, Maskull«, sagte sie spöttisch. Er verließ den Toten und kam zu ihr, noch immer rot im Gesicht und immer noch schnaufend. »Das ist keine Sache, über die man
spaßen sollte. Ganz besonders Sie sollten den Mund halten.« »Warum?« »Weil er Ihr Mann war.« »Sie meinen, ich sollte Kummer zeigen… Wenn ich keinen fühle?« »Ganz egal, Sie sollten…« Oceaxe lächelte. »Ihrem Verhalten nach könnte man meinen, Sie beschuldigten mich irgendeines Verbrechens.« Maskull schnaufte zornig. »Was, Sie leben mit Niedertracht und Bosheit – in den Armen eines morbiden Ungeheuers, und dann…« »Ach, jetzt verstehe ich«, sagte sie in einem völlig sachlichen Ton. »Das freut mich.« »Nun, Maskull«, meinte sie nach kurzer Pause, »und wer hat Ihnen das Recht gegeben, über mein Verhalten zu richten? Bin ich nicht meine eigene Herrin?« Er sah sie angewidert an, sagte aber nichts. Eine lange Pause entstand. »Ich liebte ihn nie«, sagte Oceaxe schließlich, die Augen niedergeschlagen. »Das macht es nur noch schlimmer.« »Was soll das alles heißen – was wollen Sie?« »Von Ihnen nichts – absolut nichts… Dem Himmel sei Dank!« Sie stieß ein hartes Lachen aus. »Sie kamen mit Ihren ausländischen Vorurteilen hierher und erwarten, daß wir alle danach handeln.« »Was für Vorurteile?« »Nur weil Crimtyphons Zeitvertreib Ihnen fremd ist, ermorden Sie ihn – und am liebsten würden Sie auch mich ermorden.« »Zeitvertreib? Diese diabolische Grausamkeit?« »Ach, jetzt werden Sie sentimental!« sagte Oceaxe verächtlich. »Warum müssen Sie solch Aufhebens um diesen Mann machen? Leben ist Leben, überall, und eine Form ist so gut wie die andere… Er sollte nur zu einem Baum gemacht werden, wie Millionen von anderen Bäumen sein. Wenn Sie das Leben ertragen können, warum sollte er es nicht ertragen können?«
»Und das ist Ihre Moral?« Oceaxe begann ärgerlich zu werden. »Sie sind derjenige, der komische Ideen hat. Sie faseln von der Schönheit von Blumen und Bäumen – Sie halten sie für göttlich. Aber wenn es darum geht, selbst diese göttliche, frische, reine Lieblichkeit anzunehmen, mit Ihrer eigenen Person, dann wird es sofort zu einer grausamen und bösen Erniedrigung. Ich glaube, hier liegt der Widerspruch.« »Oceaxe, Sie sind ein schönes, herzloses wildes Tier, nicht mehr… Wenn Sie nicht eine Frau wären…« Sie schürzte spöttisch die Lippen. »Nun, lassen Sie mich hören, was geschehen würde, wenn ich keine Frau wäre.« Maskull starrte sie finster an und schwieg. »Es spielt keine Rolle«, knurrte er schließlich. »Ich kann Sie nicht berühren – obwohl zwischen Ihnen und Ihrem jugendlichen Ehemann wahrscheinlich nicht der geringste Unterschied ist. Das haben Sie meinen ausländischen >Vorurteilen‹ zu verdanken. Leben Sie wohl!« Er wandte sich zum Gehen. Oceaxe blickte ihn durch ihre langen Wimpern spöttisch an. »Wohin wollen Sie, Maskull?« »Das ist unwichtig, denn wohin immer ich gehe, es muß eine Veränderung zum Besseren sein…« »Warten Sie einen Moment. Ich möchte nur dies sagen: Blodsombre hat gerade angefangen, und Sie würden gut daran tun, bis zum Nachmittag hierzubleiben. Wir können diesen Körper rasch beseitigen, und da Sie mich so sehr verabscheuen, ist es nicht einmal notwendig, daß wir miteinander sprechen oder einander sehen… Es ist hier genug Platz.« »Ich möchte nicht dieselbe Luft atmen.« »Sie sind wirklich ein eigenartiger Mensch!« Sie saß aufrecht und bewegungslos auf den Moospolstern wie eine schöne Statue. Nach einem Moment fügte sie hinzu: »Und was ist mit Ihrem wundervollen Gespräch mit Surtur und all den ungetanen Dingen, die Sie sich vorgenommen hatten?« »Sie sind nicht diejenige, mit der ich darüber sprechen werde…
Aber wenn ich schon hierbleiben muß, können Sie mir wenigstens etwas verraten: was hat der Gesichtsausdruck dieses Leichnams zu bedeuten?« »Ist das wieder ein Verbrechen, Maskull? Alle Toten sehen so aus. Sollten sie anders aussehen?« »Einmal hörte ich, wie jemand es ›das Gesicht des Kristallmanns‹ nannte.« »Und warum nicht? Wir sind alle Töchter und Söhne des Kristallmannes. Es ist zweifellos die Familienähnlichkeit.« »Man sagte mir auch, daß Surtur und der Kristallmann ein und dasselbe Wesen seien.« »Sie haben weise und wahrheitsliebende Bekanntschaften.« »Wie könnte es dann Surtur gewesen sein, den ich sah?« sagte Maskull mehr zu sich selbst als zu ihr. »Diese Erscheinung war etwas völlig anderes.« Sie vergaß ihr spöttisches Benehmen, kam zu ihm und zog sanft an seinem Arm. »Sehen Sie, wir müssen reden. Setzen Sie sich neben mich, und stellen Sie mir Ihre Fragen. Ich bin nicht übermäßig klug, aber ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.« Maskull ließ sich mit sanfter Gewalt zu dem Mooslager ziehen, wo er sich setzte. Sie beugte sich vertraulich zu ihm und brachte es fertig, daß ihr Atem seinen Nacken kitzelte. »Sind Sie nicht hier, das Böse zum Guten zu wenden, Maskull? Was für eine Rolle spielt es dann, wer Sie geschickt hat?« »Was können Sie über Gut und Böse wissen?« sagte Maskull verdrießlich. »Unterweisen Sie nur die Eingeweihten?« »Wer bin ich, daß ich jemanden unterweisen könnte? Wie auch immer, Sie haben ganz recht, ich möchte tun, was ich kann – nicht weil ich qualifiziert wäre, sondern weil ich hier bin.« »Sie sind ein Riese, sowohl im Körper als auch im Geist«, flüsterte Oceaxe schmeichelnd. »Was Sie tun wollen, das können Sie.« »Ist das Ihre aufrichtige Meinung, oder schmeicheln Sie mir aus Gründen, die mit Ihren… äh… Erwartungen zusammenhängen?«
Sie seufzte. »Sehen Sie nicht, wie Sie die Konversation erschweren? Lassen Sie uns über Ihre Arbeit sprechen, nicht über uns.« Maskull bemerkte ein seltsames blaues Licht am nördlichen Himmel. Es war von Alpain, aber Alpain selbst war hinter den Bergen. Als er es beobachtete, ging eine sonderbare Welle von Selbstverleugnung durch ihn. Er fühlte sich beunruhigt und unsicher. Er blickte zu Oceaxe, und zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß er unnötig barsch und brutal zu ihr gewesen war. Er hatte vergessen, daß sie ein wehrlose Frau war. »Wollen Sie nicht bleiben?« fragte sie unvermittelt, ganz offen und ehrlich. »Ja, ich glaube, ich werde bleiben«, erwiderte er langsam. »Und noch etwas, Oceaxe… Sollte ich Ihren Charakter falsch beurteilt haben, so vergeben Sie mir bitte. Ich bin ein aufbrausender, cholerischer Mann.« »Es gibt genug gutmütige Männer. Harte Püffe sind gute Medizin für böse Herzen… Und mit dem, was Sie sagten, beurteilten Sie meinen Charakter schon richtig. Aber jede Frau hat mehr als einen Charakter; wissen Sie das nicht?« Während der Pause, die folgte, hörten sie das Knacken von Zweigen und sahen sich erschrocken um. Eine Frau kam langsam über den Isthmus, der ihre Halbinsel mit dem Festland verband. »Tydomin«, murmelte Oceaxe verwirrt und ängstlich. Sofort entfernte sie sich ein wenig von Maskull und stand auf. Die Frau, die sich näherte, war von mittlerer Größe, sehr schmächtig und anmutig. Sie war nicht mehr ganz jung, und ihr Gesicht spiegelte die Haltung einer Frau, die sich in der Welt auskennt. Es war sehr blaß, und unter der ruhigen Gefaßtheit der Züge lauerte etwas, das Maskull nicht bestimmen konnte, aber als eine Gefahr empfand. Wenn es auch kein schönes Gesicht war, so ging doch etwas Anziehendes davon aus. Ihr Haar war locker gekämmt und jungenhaft, und sie hatte es so geschnitten, daß der Hals freiblieb. Es war von einer seltenen, indigofarbenen Tönung.
Ihre Kleidung bestand aus einem Umhang und einer Art Kniehose, beides aus den blaugrünen Platten irgendeines Reptils zusammengenäht. Ihre kleinen elfenbeinfarbenen Brüste waren entblößt. Ihr drittes Auge blickte schwarz und traurig und nachdenklich. Ohne Oceaxe und Maskull anzusehen, ging sie still an ihnen vorbei und zu Crimtyphons Leichnam. Neben dem Toten blieb sie stehen, verschränkte die Arme und blickte auf ihn herab. Oceaxe zog Maskull ein wenig zur Seite und wisperte: »Es ist Crimtyphons andere Frau, die unter dem Gipfel von Disscourn lebt. Sie ist eine sehr gefährliche Frau. Seien Sie vorsichtig, was Sie sagen. Wenn sie etwas von Ihnen verlangt, schlagen Sie es ihr rundweg ab.« »Die arme Seele sieht harmlos genug aus.« »Ja, das tut sie – aber die arme Seele ist durchaus in der Lage, selbst Krag mit Haut und Haaren zu schlucken… Nun spielen Sie den Mann.« Das Gemurmel schien Tydomins Aufmerksamkeit zu wecken, denn sie wandte nun den Kopf und sah herüber. »Wer hat ihn getötet?« fragte sie. Ihre Stimme war so weich, leise und ätherisch, daß Maskull die Worte kaum verstehen konnte. Doch der Sinn war ihm sofort klar. Oceaxe flüsterte: »Sagen Sie kein Wort, überlassen Sie alles mir.« Im nächsten Moment schwang sie herum und trat Tydomin entgegen. Nachdem sie die andere einen Moment herausfordernd angestarrt hatte, sagte sie laut: »Ich habe ihn getötet.« Tydomins Frage klang in Maskulls Schädel nach, und es war keine Frage, daß er seine Tat offen eingestehen mußte, was immer die Konsequenzen sein mochten. Er faßte Oceaxe bei den Schultern, schob sie hinter sich und sagte ruhig: »Ich war es, der Crimtyphon tötete.« Oceaxe blickte hochmütig und ängstlich zugleich. »Maskull sagt das, um mich zu schützen, wie er denkt. Ich bedarf keines Schutzes, Maskull. Ich tötete ihn, Tydomin.«
»Ich glaube dir, Oceaxe. Du hast ihn ermordet. Nicht mit deiner eigenen Kraft, denn du brachtest für den Zweck diesen Mann mit.« Maskull tat ein paar Schritte auf Tydomin zu und sagte: »Es ist von geringer Bedeutung, wer ihn tötete, denn meiner Meinung nach ist er besser tot als lebendig. Wie auch immer, ich habe es getan. Oceaxe hatte nichts damit zu tun.« Tydomin schien ihn nicht zu hören; sie blickte sinnend an ihm vorbei zu Oceaxe. »Als du ihn ermordetest, kam dir nicht der Gedanke, daß ich hierherkommen und es entdecken könnte?« »Ich habe nicht ein einziges Mal an dich gedacht«, entgegnete Oceaxe mit einem zornigen Auflachen. »Bildest du dir wirklich ein, daß ich dein Bild mit mir herumtrage, wo immer ich gehe?« »Würde jemand deinen Liebhaber hier ermorden, was würdest du tun?« »Verlogene Heuchlerin!« spuckte Oceaxe. »Du hast Crimtyphon nie geliebt. Du haßtest mich immer, und nun glaubst du, es sei eine ausgezeichnete Gelegenheit, mit mir abzurechnen, jetzt, da Crimtyphon tot ist… Wir beide wissen, daß er einen Fußschemel aus dir gemacht hätte, wenn ich ihn darum gebeten hätte, er verehrte mich, aber er lachte über dich. Er fand dich häßlich.« Tydomin warf Maskull ein schnelles, freundliches Lächeln zu. »Ist es wirklich nötig, daß Sie alles das hören?« Er fand, daß sie recht hatte, und so ging er wortlos außer Hörweite. Tydomin schritt auf Oceaxe zu. »Weil meine Schönheit verblaßt und ich nicht länger jung bin, brauchte ich ihn vielleicht um so mehr.« »Nun, er ist tot, und es ist aus«, fauchte Oceaxe. »Was wirst du jetzt tun, Tydomin?« Die andere Frau lächelte matt und irgendwie mitleiderregend. »Es bleibt nichts zu tun, außer den Toten zu betrauern. Du wirst mir diesen letzten Dienst nicht verweigern?« »Willst du hierbleiben?« fragte Oceaxe mißtrauisch. »Ja, liebe Oceaxe, und ich möchte allein sein.« »Was soll dann aus uns werden?«
»Ich dachte, daß du und dein Liebhaber – wie ist sein Name?« »Maskull.« »Ich dachte, daß ihr zwei vielleicht nach Disscourn gehen würdet, um Blodsombre in meinem Heim zu verbringen.« Oceaxe wandte den Kopf und rief laut zu Maskull hinüber: »Wollen Sie jetzt mit mir nach Disscourn kommen?« »Wenn Sie wollen«, rief Maskull zurück. »Geh zuerst, Oceaxe. Ich muß deinen Freund über Crimtyphons Tod befragen. Ich werde ihn nicht behalten.« »Warum fragst du nicht mich?« wollte Oceaxe wissen. Sie starrte die andere kampfbereit und mißtrauisch an. Tydomin warf ihr den Schatten eines Lächelns zu. »Wir kennen einander zu gut.« »Keine faulen Tricks!« sagte Oceaxe und wandte sich zum Gehen. »Träumst du?« sagte Tydomin. »Dort ist der Weg – es sei denn, du willst über den Klippenrand gehen.« Der Weg, den Oceaxe gewählt hatte, führte über den Isthmus zum Hauptmassiv. Die Richtung, die Tydomin ihr nun vorschlug, führte über den Rand des Abgrunds in leeren Raum. »Allmächtiger Former! Ich muß verrückt sein!« rief Oceaxe lachend. Und gehorsam folgte sie dem Fingerzeig der anderen. Sie ging schnurgerade auf den Rand des Abgrunds zu, der vierzig oder fünfzig Schritte entfernt war. Maskull zupfte nervös an seinem Bart und fragte sich, was sie bezweckte. Tydomin blieb mit ausgestrecktem Finger stehen und beobachtete sie. Ohne zu zögern, ohne ihren Schritt ein einziges Mal zu verlangsamen, wanderte Oceaxe weiter… und als sie den Rand der Felsklippen erreicht hatte, tat sie noch einen Schritt. Maskull sah, wie sie die Arme hochwarf, als sie ins Leere trat. Sie verschwand, und im gleichen Augenblick gellte ein entsetzlicher Schrei durch die Stille. Die Desillusionierung war einen Augenblick zu spät über sie gekommen. Maskull überwand seine Erstarrung, rannte zur Absturzstelle, warf sich auf den Boden und blickte vorsichtig in die Tiefe. Oceaxe war verschwunden.
Mehrere Minuten lang starrte er wild in den bodenlosen Abgrund, als ob irgendein Wunder geschehen könnte, und dann begann er nervös zu schluchzen. Tydomin kam heran, und er stand auf. Das Blut schoß ihm ins Gesicht und verließ es wieder. Minuten vergingen, bevor er etwas sagen konnte, und auch dann brachte er die Worte keuchend und nur unter Schwierigkeiten heraus. »Dafür sollen Sie bezahlen, Tydomin. Aber zuerst möchte ich hören, warum Sie es getan haben.« »Hatte ich nicht einen guten Grund?« sagte sie. Ihre traurigen Augen begegneten seinem drohenden, erbitterten Blick, und nach einem Moment schaute sie zu Boden. »War es reine Bosheit?« »Es war um Crimtyphons willen.« »Sie hatte mit diesem Tod nichts zu tun. Ich sagte es Ihnen.« »Sie sind loyal zu ihr, und ich bin loyal zu ihm.« »Loyal? Sie haben einen schrecklichen Fehler gemacht. Oceaxe war nicht meine Geliebte. Ich tötete Crimtyphon aus einem ganz anderen Grund. Sie hatte keinen Anteil daran.« »War sie nicht Ihre Geliebte?« fragte Tydomin. »Sie haben einen schrecklichen Fehler gemacht«, wiederholte Maskull. »Ich tötete ihn, weil er ein wildes Tier war. Sie war an seinem Tod so unschuldig wie Sie es sind.« Tydomins Züge nahmen einen harten, gespannten Ausdruck an. »Also trifft Sie die Schuld an beiden Todesfällen.« Eine furchtbare Stille entstand zwischen ihnen. »Warum konnten Sie mir nicht glauben?« fragte Maskull, der blaß geworden war und schwitzte. »Wer gab Ihnen das Recht, Crimtyphon zu töten?« fragte Tydomin streng. Er sagte nichts; vielleicht hörte er ihre Frage nicht. Sie seufzte und begann sich unruhig zu bewegen. »Da Sie ihn ermordeten, müssen Sie mir helfen, ihn zu begraben.« »Was ist zu tun?« murmelte er. »Dies ist ein scheußliches Verbrechen.« »Sie sind ein abscheulicher Mann… Warum sind Sie gekommen,
all dies zu tun? Was sind wir Ihnen?« »Unglücklicherweise haben Sie recht.« Wieder folgte eine Pause. »Es hat keinen Sinn, herumzustehen«, sagte Tydomin. »Es ist nichts mehr zu machen. Sie müssen mit mir kommen.« »Mit Ihnen kommen? Wohin?« »Nach Disscourn. Auf der anderen Seite davon gibt es einen brennenden See. Er hatte immer den Wunsch, nach dem Tod dort hineingeworfen zu werden. Wir können das nach Blodsombre tun. In der Zwischenzeit müssen wir ihn heimbringen.« »Sie sind eine grausame Frau. Warum sollte er beerdigt werden, wenn dieses arme Mädchen unbegraben bleiben muß?« »Sie wissen, daß das unmöglich ist«, erwiderte Tydomin ruhig. Maskull stand unschlüssig da und blickte umher. »Wir müssen etwas tun«, fuhr sie fort. »Ich werde gehen. Wollen Sie allein hierbleiben?« »Nein, ich könnte hier nicht bleiben – und warum sollte ich es wollen?… Soll ich den Toten tragen?« »Er kann sich nicht selbst tragen, und Sie haben ihn ermordet… vielleicht wird es Ihr Gewissen erleichtern, wenn Sie ihn tragen.« »Gewissen erleichtern?« murmelte Maskull einfältig. »Für Selbstvorwürfe gibt es nur eine Linderung, und das sind freiwillig auf sich genommene Schmerzen.« »Und Sie haben kein schlechtes Gewissen?« fragte er, und seine Augen fixierten sie mit finsterem Blick. Sie ließ sich nicht beirren und sagte in einem leisen, doch schneidenden Ton: »Diese Verbrechen sind die Ihren, Maskull. Versuchen Sie nicht, sich von der Schuld reinzuwaschen.« Sie gingen zu Crimtyphons Leichnam, und Maskull hob ihn auf die Schultern. Der Junge wog schwerer, als er gedacht hatte. Tydomin rührte keine Hand, während er die grausige Last auf seine Schultern verteilte. Sie wanderte über den Isthmus zurück, gefolgt von Maskull. Der Pfad ging durch Sonnenschein und Schatten, aber es war viel heißer
geworden, und Branchspell glühte aus einem wolkenlosen Himmel. Bald fand Maskull die Hitze unerträglich; Schweißbäche rannen ihm übers Gesicht und den Rücken, und der Leichnam schien schwerer und schwerer zu werden. Tydomin ging immer vor ihm her. Seine Augen stierten unverwandt auf ihre weißen Waden; er kam nicht ein einziges Mal auf den Gedanken, nach rechts oder links zu sehen. Er keuchte und schwitzte, schwitzte und keuchte, und nach einer Viertelstunde ließ er seine Last einfach von den Schultern auf den Boden rutschen und richtete sich auf. Er krächzte Tydomins Namen. Sie sah sich um. »Kommen Sie her«, sagte er mit einem verlegenen Lachen. »Warum sollte ich diesen Leichnam tragen… und warum sollte ich Ihnen überhaupt folgen? Mich überrascht nur, daß ich nicht eher auf den Gedanken gekommen bin.« Sie kam sofort zu ihm zurück. »Ich nehme an, daß Sie ermüdet sind, Maskull. Setzen wir uns ein wenig. Vielleicht haben Sie heute schon einen weiten Weg hinter sich?« »Oh, es ist nicht Müdigkeit oder Erschöpfung, sondern eine plötzliche Erleuchtung durch Vernunft. Können Sie mir irgendeinen Grund nennen, warum ich als Ihr Träger arbeiten sollte?« Er lachte wieder, laut und mit einem hysterischen Oberton, doch dann setzte er sich nichtsdestoweniger neben sie ins Gras. Tydomin sah ihn nicht an, noch antwortete sie. Ihr Kopf war halb vorwärts gebeugt, und sie sah nach Norden, wo Alpains Licht noch immer glühte. Maskull folgte ihrer Blickrichtung, und auch er beobachtete das strahlende Blau einige Minuten lang schweigend. »Warum sagen Sie nichts?« fragte er schließlich. »Was sagt Ihnen dieses Licht, Maskull?« »Ich spreche nicht von diesem Licht.« »Sagt es Ihnen überhaupt nichts?« »Vielleicht, vielleicht nicht. Was macht es schon?« »Denken Sie dabei nicht an Opfer?« Maskull wurde wieder verdrießlich. »Was für Opfer? Was meinen Sie?«
»Ist es Ihnen noch nicht in den Kopf gegangen«, sagte Tydomin in ihrer präzisen, harten Genauigkeit der Aussprache, während sie auf ihre Füße blickte, »daß dieses Abenteuer nicht leicht ein gutes Ende für Sie nehmen wird, wenn Sie nicht auf irgendeine Weise Opfer bringen?« Er antwortete nicht, und sie sagte nichts mehr. Nach einigen Minuten stand Maskull von selbst auf, nahm Crimtyphons Leichnam und warf ihn unehrerbietig und beinahe zornig wieder über die Schulter. »Wie weit müssen wir noch gehen?« fragte er verdrießlich. »Eine Stunde.« »Gehen Sie voraus.« »Aber dies ist nicht das Opfer, das ich meine«, sagte Tydomin, als sie sich wieder auf den Weg machten. Bald erreichten sie schwieriges Gelände und mußten verwitterte Felsen erklettern und umgestürzte Baumstämme als Brücken benutzen. Es schien ein oft begangener Pfad zu sein. Immer wieder öffneten sich rechts oder links Ausblicke in die dunklen, scheinbar bodenlosen Abgründe. Hier oben auf der Hochfläche gab es grelles Licht und heißen Sonnenschein, chaotische Vegetation mit ungezählten Insekten, Reptilien und kleinen Vögeln. Dort unten schien es nichts zu geben. Kein Geräusch drang herauf. Zu Maskulls Verdruß waren die Insekten größer als diejenigen, die er von der Erde kannte, und dabei nicht weniger angriffslustig. Einige von ihnen erreichten enorme Größen. Einmal stießen sie auf ein monströses Insekt, groß wie ein Schäferhund, das mitten auf ihrem Pfad saß und nicht weichen wollte. Es hatte harte Schalen, Kiefer wie Krummdolche und mehrere dickbehaarte, ungemein kräftig aussehende Beine. Sein unerwarteter Anblick verhalf Maskull zu einem neuerlichen Schweißausbruch, aber Tydomin warf dem Tier nur einen drohenden Blick zu, und es sauste mit Flugzeuggebrumm davon. »Was habe ich außer meinem Leben zu bieten?« sagte Maskull unvermittelt, als der Gedanke einschlug. »Und was würde es nützen? Es kann dieses arme Mädchen nicht in die Welt zurückbringen.«
»Ein Opfer wird nicht auf seine Nützlichkeit hin untersucht. Es ist eine Strafe, die gezahlt werden muß.« »Ich weiß das.« »Die Frage ist, ob Sie sich weiterhin des Lebens erfreuen können, nach allem, was geschehen ist.« Sie ging etwas langsamer, daß Maskull sie einholen konnte. »Vielleicht bilden Sie sich ein, ich sei nicht Manns genug… Sie denken das, weil ich tatenlos zusah, wie die arme Oceaxe für mich starb…« »Sie starb wirklich für Sie«, sagte Tydomin. »Ich fürchte, Sie werden einen zweiten Fehler machen«, erwiderte Maskull. »Ich liebte Oceaxe nicht, und ich bin nicht in das Leben verliebt.« »Ihr Leben wird nicht benötigt.« »Dann verstehe ich nicht, was Sie wollen oder wovon Sie sprechen.« »Es ist nicht an mir, ein Opfer von Ihnen zu verlangen, Maskull. Das wäre Willfährigkeit von Ihnen, aber kein Opfer. Sie müssen warten, bis Sie fühlen, daß es nichts anderes mehr für Sie zu tun gibt.« »Das klingt alles sehr geheimnisvoll.« Das Gespräch endete, als von vorn ein ungeheueres Krachen, Bersten und Brüllen aus dem Dickicht drang, begleitet von heftigen Vibrationen des Bodens unter ihren Füßen. Sie blickten erschrocken auf und sahen gerade noch, wie eine weite Fläche Waldland keine zweihundert Schritte vor ihnen wie von einem Strudel in die Tiefe gesogen wurde. Zwei oder drei Hektar Bäume, Pflanzen, Felsen und Erdboden mit all ihren wimmelnden tierischen Bewohnern versanken vor ihren Augen, als habe ein mächtiger Magier ihnen ein Kunststück zeigen wollen. Der neue Abgrund war wie mit einem Messer herausgeschnitten. Jenseits der rauchenden Tiefe brannte die blaue Glut von Alpain dicht über dem Horizont. »Jetzt werden wir einen Umweg machen müssen«, sagte Tydomin. Maskull fühlte, wie seine Knie zitterten, und unwillkürlich faßte er
die Frau mit seiner dritten Hand. »Wollen Sie wissen, was ich eben fühlte?« sagte er aufgeregt. »Als ich diesen Erdrutsch sah, kam mir in den Sinn, was ich über den Weltuntergang gehört hatte. Es schien, als ob ich ein Augenzeuge davon wäre und als ob die Welt wirklich unterginge… Wo das Land war, haben wir nun diesen leeren, schrecklichen Abgrund – mit anderen Worten, nichts –, und mir scheint, daß unser Leben den gleichen Gesetzen unterliegen wird. Wo etwas gewesen ist, wird nichts sein… Und dieser furchtbare blaue Glutschein auf der anderen Seite ist wie das Auge des Schicksals. Es klagt uns an und verlangt Rechenschaft über das, was wir aus unserem Leben gemacht haben, dem Leben, das nicht mehr ist… Gleichzeitig ist das Leben großartig und voll Freude. Die Freude besteht darin, daß es in unserer Macht ist, freiwillig zu geben, was uns später durch Gewalt genommen werden wird…« Tydomin musterte ihn aufmerksam. »Dann haben Sie das Gefühl, daß Ihr Leben wertlos sei, und Sie machen es dem Erstbesten zum Geschenk, der danach fragt?« »Nein, es geht darüber hinaus. Ich glaube, das einzige lohnende Ziel im Leben ist, so großmütig zu sein, daß das Schicksal selbst über uns verblüfft ist. Verstehen Sie mich. Es ist nicht Zynismus oder Bitterkeit oder Verzweiflung, sondern Heroismus… Es ist schwierig zu erklären.« »Nun sollen Sie hören, welches Opfer ich von Ihnen erwarte. Maskull. Es ist ein schweres Opfer, aber das ist offenbar, was Sie wünschen.« Maskull nickte. »Das ist so. In meiner gegenwärtigen Stimmung kann das Opfer nicht zu groß sein.« »Dann, wenn es Ihr Ernst ist, überlassen Sie mir Ihren Körper. Nun, da Crimtyphon tot ist, bin ich es müde, eine Frau zu sein.« »Ich verstehe nicht.« »Dann hören Sie. Ich möchte in Ihrem Körper eine neue Existenz beginnen. Ich möchte ein Mann sein. Ich sehe, daß es sich nicht lohnt, eine Frau zu sein… Ich möchte meinen eigenen Körper Crimtyphon widmen. Ich werde seinen und meinen Körper
zusammenbinden und sie gemeinsam in den brennenden See werfen… Das ist das Opfer, das ich von Ihnen erwarte. Wie ich sagte, es ist kein kleines.« »Sie verlangen also meinen Tod. Obwohl mir nicht ganz klar ist, wie Sie dann von meinem Körper Gebrauch machen können.« »Nein, ich verlange nicht Ihren Tod. Sie werden weiterleben.« »Wie sollte das ohne einen Körper möglich sein?« Tydomin sah ihn ernst an. »Es gibt viele solche Wesen, selbst in Ihrer Welt. Dort nennen Sie sie Geister, Erscheinungen, Phantome und so weiter, aber in Wirklichkeit sind sie lebende Willenskräfte, der materiellen Körper beraubt. Sie möchten handeln und an den Freuden der Menschen teilnehmen, sind aber unfähig, es zu tun. Sind Sie vornehm genug gesonnen, einen solchen Zustand zu akzeptieren?« »Wenn es möglich ist, akzeptiere ich es«, antwortete Maskull gefaßt. »Nicht trotz der Schwere dieses Schicksals, sondern weil es so ist. Aber wie sollte es möglich sein?« »In unserer Welt ist vieles möglich, wovon Sie keine Vorstellung haben… Aber lassen Sie uns warten, bis wir heimkommen. Ich werde Sie nicht bei Ihrem Wort nehmen, denn wenn es nicht ein freiwillig dargebrachtes Opfer ist, will ich nichts davon wissen.« »Ich bin keiner, der leichtfertig redet. Wenn Sie dieses Wunder vollbringen können, haben Sie meine Zustimmung, ein für allemal.« »Dann werden wir es einstweilen damit bewenden lassen«, sagte Tydomin traurig. Sie setzten ihren Weg fort. Anfangs schien Tydomin in Sorge, daß sie sich verirren könnten, weil der richtige Pfad mit dem Einsturz der Landoberfläche verschwunden war, aber nach einem langen Umweg gelangten sie schließlich auf die andere Seite des neugebildeten Abgrunds. Ein wenig später stießen sie in einem dichten Gehölz am Fuß einer isolierten kleinen Felsspitze auf einen Mann. Er stand an einen Baum gelehnt und ruhte sich aus, und Maskull sah auf den ersten Blick, daß er erschöpft, erhitzt und in einer bedrängten Lage war. Er war noch jung, und sein bartloses Gesicht trug einen
Ausdruck von ungewöhnlicher Aufrichtigkeit. Sein Körper war kräftig, und er machte den Eindruck eines widerstandsfähigen, hart arbeitenden jungen Mannes. Sein Haar war dicht, kurz und flachsblond. Er besaß weder ein drittes Auge noch einen dritten Arm, schien also nicht aus der Gegend zu stammen. Seine Stirn war jedoch von einem scheinbar willkürlichen Sortiment von kleineren Augen entstellt. Maskull zählte insgesamt acht von verschiedener Größe und Form. Sie kamen paarweise vor, und wann immer ein Paar in Gebrauch war, entwickelte es einen besonderen lebhaften Glanz, während die anderen stumpf und trüb blieben, bis sie an die Reihe kamen. Diese außerordentliche Batterie von Augen, abwechselnd lebendig und tot, gab dem jungen Mann den Anschein einer alarmierenden geistigen Aktivität. Er trug nichts als eine Art Lendenschurz aus Tierhaut. Maskull hatte den Eindruck, daß das Gesicht irgendeine Saite in seiner Erinnerung anklingen ließ, obwohl er den jungen Mann bestimmt noch nie gesehen hatte. Tydomin bedeutete ihm, den Leichnam auf den Boden zu legen, und sie traten zu dem jungen Mann in den Schatten. »Befragen Sie ihn, Maskull«, sagte sie ziemlich gleichgültig, wobei sie eine geringschätzig wirkende Kopfbewegung zu dem Fremden machte. Maskull seufzte und nickte dem Fremden zu, dann sagte er: »Wie ist Ihr Name, und woher kommen Sie?« Der andere musterte ihn eine Weile, zuerst mit einem Augenpaar, dann mit einem zweiten, schließlich mit einem dritten. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Tydomin, die ihn noch länger beschäftigte. Schließlich antwortete er in einer trockenen, männlich tiefen, aber nervösen Stimme: »Ich bin Digrung. Ich komme von Matterplay.« Seine Gesichtsfarbe wechselte ständig zwischen verschiedenen matten Farbschattierungen, und Maskull erkannte plötzlich, an wen der junge Mann ihn erinnerte – an Joiwind. »Sind Sie vielleicht unterwegs nach Poolingdred, Digrung?« fragte er interessiert. »Ja, Poolingdred ist mein Ziel – wenn ich meinen Weg aus diesem verfluchten Land finden kann.«
»Dann sind Sie möglicherweise mit Joiwind bekannt, die in Poolingdred wohnt?« »Sie ist meine Schwester. Ich will zu ihr. Kennen Sie sie?« »Ich begegnete ihr erst gestern.« »Wie ist Ihr Name?« »Maskull.« »Ich werde ihr sagen, daß ich Sie getroffen habe. Dies wird unsere erste Zusammenkunft seit vier Jahren sein. Ist sie wohlauf und glücklich?« »Beides, soweit ich es beurteilen konnte. Kennen Sie Panawe?« »Ihren Mann – ja… Aber von wo kommen Sie? Ich habe noch nie einen wie Sie gesehen.« »Aus einer anderen Welt. Wo ist Matterplay?« »Es ist die Gegend, die Sie erreichen, wenn Sie am See der Versunkenen vorbeikommen.« »Wie ist es dort? Wie leben Sie? Die gleichen Morde und jähen Todesfälle wie hier?« »Sind Sie krank?« fragte Digrung. »Wer ist diese Frau, und warum folgen Sie ihr wie ein Sklave? Für mich sieht sie wie eine Wahnsinnige aus. Und was ist das für ein Leichnam – warum schleppen Sie ihn durch die Gegend?« Tydomin lächelte. »Ich hörte über Matterplay sagen, daß, wenn man dort eine Antwort sät, sofort eine reiche Ernte von Fragen sprießt. Aber warum machen Sie diesen unprovozierten Angriff auf mich, Digrung?« »Ich greife Sie nicht an, Frau, aber ich kenne Sie… Ich sehe in Ihr Inneres, und ich sehe Wahnsinn. Das würde uns nichts ausmachen, aber es gefällt mir nicht, einen Mann von Intelligenz zu sehen, der sich wie Maskull in den Maschen Ihres schmutzigen Netzes verfangen hat.« »Ich vermute, daß selbst ihr klugen Leute aus Matterplay gelegentlich Charaktere falsch beurteilt. Wie auch immer, es macht mir nichts aus. Ihre Meinung bedeutet mir nichts, Digrung. Beantworten Sie ruhig seine Fragen, Maskull. Nicht um seinetwillen
– aber Ihre Freundin wird sicher neugierig werden, wenn sie hört, daß Sie mit einem toten Mann auf den Schultern gesehen wurden.« Maskull erschrak. »Sagen Sie Ihrer Schwester nichts, Digrung. Erwähnen Sie meinen Namen überhaupt nicht. Ich möchte nicht, daß Sie von diesem Zusammentreffen erfährt.« »Warum nicht?« »Ich möchte es nicht – ist das nicht genug?« Digrung blickte ihn steinern an. »Gedanken und Worte«, sagte er, »die nicht mit den wirklichen Ereignissen übereinstimmen, werden in Matterplay als schändlich und verwerflich angesehen.« »Ich verlange nicht, daß Sie lügen, Digrung. Ich will nur, daß Sie nichts sagen.« »Die Wahrheit verbergen ist eine besondere Art der Lüge. Ich kann Ihrem Wunsch nicht nachkommen. Ich muß Joiwind alles sagen, soweit ich es weiß.« »Der Tote ist mein Mann«, sagte Tydomin, »und Maskull ermordete ihn. Nun werden Sie verstehen, warum er wünscht, daß Sie den Mund halten.« »Ich dachte mir, daß etwas daran faul ist«, sagte Digrung. »Es spielt keine Rolle – ich kann Tatsachen nicht verfälschen. Joiwind muß es wissen.« »Sie weigern sich, auf die Gefühle Ihrer Schwester Rücksicht zu nehmen?« sagte Maskull, der bleich geworden war. »Gefühle, die auf Illusionen beruhen und beim Zusammentreffen mit der Wirklichkeit welken und sterben, sind nicht wert, in Betracht gezogen zu werden. Aber Joiwinds Gefühle sind nicht von der Art.« »Wenn Sie sich weigern zu tun, um was ich Sie bitte, dann kehren Sie wenigstens heim, ohne sie zu sehen; Ihre Schwester wird an dem Wiedersehen sehr wenig Freude haben, wenn sie Ihre Nachrichten hört.« Digrung beäugte ihn mit plötzlich erwachtem Mißtrauen. »Was für seltsame Beziehungen sind das, die zwischen Ihnen und meiner Schwester bestehen?« Maskull starrte bestürzt zurück und hob abwehrend die Hände.
»Guter Gott! Sie zweifeln doch nicht an Ihrer eigenen Schwester… Dieser reine Engel!« Tydomin faßte ihn am Arm. »Ich kenne Joiwind nicht, aber wer immer sie ist und wie immer sie ist, ich weiß dies – zu ihrem Freund kann sie sich eher beglückwünschen als zu ihrem Bruder… Nun, Maskull, wenn Ihnen wirklich an Joiwinds Glück liegt, werden Sie etwas unternehmen müssen.« »Das denke ich auch. Digrung, ich werde Sie am Weiterreisen hindern.« »Wenn Sie einen zweiten Mord vorhaben, dann fangen Sie an. Groß genug sind Sie.« Maskull errötete, sah sich nach Tydomin um und lachte. »Auf dieser Reise scheine ich eine Fährte von Leichen hinter mir zu lassen.« »Warum eine weitere Leiche?« sagte Tydomin. »Es ist nicht nötig, ihn zu töten.« »Besten Dank«, sagte Digrung trocken. »Trotzdem, irgendein Verbrechen liegt in der Luft – ich kann es fühlen.« »Was muß ich nun tun?« fragte Maskull. »Es ist nicht meine Sache, und um die Wahrheit zu sagen, ich bin wenig interessiert… ich an Ihrer Stelle würde jedenfalls nicht lange zögern, Maskull. Verstehen Sie nicht diese Geschöpfe auszusaugen, die ihren schwachen, doch hartnäckigen Willen gegen den Ihren setzen?« »Das wäre ein schlimmeres Verbrechen«, sagte Maskull. »Wer weiß? Er wird leben, aber er wird keine Geschichten erzählen.« Digrung lachte, aber es klang nicht mehr so selbstsicher. »Ich hatte also recht«, sagte er. »Das Ungeheuer ist ans Licht gekommen.« Maskull legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Sie haben die Wahl, Digrung, und wir scherzen nicht… Tun Sie, was ich von Ihnen verlange.« »Sie sind tief gesunken, Maskull. Aber Sie gehen im Traum, und ich kann nicht zu Ihnen sprechen – was Sie betrifft, Frau, so muß die
Sünde wie ein angenehmes Bad für Sie sein…« »Es gibt seltsame Bande zwischen Maskull und mir; aber Sie sind ein Fremder, ein Ausländer. Sie sind mir gleichgültig.« »Nichtsdestoweniger werde ich mich nicht durch Einschüchterung von meinen Plänen abbringen lassen, die legitim und richtig sind.« »Tun Sie, was Ihnen gefällt«, sagte Tydomin. »Wenn Sie sich ein Unglück zuziehen, werden Ihre Gedanken kaum mit den wirklichen Gedanken der Welt übereingestimmt haben, womit Sie sich brüsten… Es ist nicht meine Angelegenheit.« »Ich werde weitergehen und nicht zurück«, erklärte Digrung zornig und entschlossen. Tydomin warf Maskull ein schnelles, böses Lächeln zu. »Sie sind Zeuge, daß ich versucht habe, diesen jungen Mann zu überreden. Nun müssen Sie zu einer raschen Entscheidung kommen, was wichtiger ist, Digrungs oder Joiwinds Glück. Digrung wird Ihnen nicht erlauben, beide zu erhalten.« »Meine Entscheidung ist schon gefallen. Digrung, ich gebe Ihnen eine letzte Chance, es sich anders zu überlegen.« »Solange es in meiner Macht steht, werde ich weitergehen. Und ich werde meine Schwester vor ihren verbrecherischen Freunden warnen. Das ist meine Pflicht.« Maskull ging wieder auf ihn zu, doch diesmal mit gewalttätiger Absicht. Von irgendeinem neuen und schrecklichen Instinkt in seinen Handlungen instruiert, packte er den jungen Mann mit allen drei Armen und preßte ihn an sich. Sofort überschwemmte ihn ein Gefühl von wilder, süßer Freude, und er verstand die triumphierende Begeisterung, das Hochgefühl, das durch das ›Aussaugen‹ bewirkt wurde. Es stillte den Hunger des Willens, genauso wie Nahrung den Hunger des Körpers stillt. Digrung erwies sich als schwach – seine Gegenwehr war gering. Langsam und gleichmäßig ging seine Persönlichkeit in Maskulls über, der sich stark und gesättigt fühlte. Nach und nach wurde das Opfer blasser und schlaffer, bis Maskull einen Leichnam in seinen Armen hielt. Er ließ ihn fallen und stand zitternd… Er hatte sein
zweites Verbrechen begangen. Er fühlte keinen sofortigen Unterschied in der Seele, aber… Tydomin schenkte ihm ein trauriges Lächeln, wie Wintersonnenschein. Er erwartete, daß sie etwas sage, doch sie schwieg. Statt eines Kommentars bedeutete sie ihm, er solle Crimtyphons Leichnam aufheben. Als er gehorchte, fragte er sich, warum Digrungs totes Gesicht nicht zur Schreckensmaske des Kristallmanns verzerrt war. »Warum hat er sich nicht verändert?« murmelte er zu sich selbst. Tydomin hörte es. Sie stieß Digrung leicht mit dem Fuß an und sagte: »Er ist nicht tot, darum. Er ist ein lebender Toter. Der Ausdruck, den Sie meinen, stellt sich erst bei Ihrem Tod ein.« »Ist das dann mein wahrer Charakter?« Sie lachte wieder. »Sie kamen hierher, eine fremde Welt zu verändern, und nun scheint es, daß Sie selbst verändert wurden. Ja, es gibt keinen Zweifel daran, Maskull. Sie brauchen nicht dazustehen und zu gaffen. Sie gehören dem Former wie wir anderen. Sie sind kein König oder Gott.« »Seit wann habe ich ihm gehört?« »Ist das wichtig? Vielleicht, seit Sie das erste Mal die Luft von Tormance atmeten. Oder vielleicht seit fünf Minuten.« Ohne seine Reaktion abzuwarten, setzte sie die Wanderung fort. Maskull folgte mit seiner Last, schwitzend und von widerstreitenden Empfindungen beunruhigt. Je länger sie gingen, desto mehr veränderte sich die Landschaft. Die Gipfel wurden höher und die Abstände zwischen ihnen größer. Die Schluchten und Täler begannen sich mit dichten weißen Wolken zu füllen, die wie eine wattige, geheimnisvolle See die Füße der hohen Berge umspülten. Die Glut Alpains verbarg sich hinter der gewaltigen Masse Disscourns, der nun dunkel vor ihnen aufragte. Der grünliche Schnee, den Maskull auf dem Gipfelplateau der gigantischen Pyramide gesehen zu haben glaubte, war inzwischen weggetaut, oder er war kein Schnee gewesen. Die schwärzlichen, bräunlichen und grauen Töne der gewaltigen Felsabstürze leuchteten
mit schrecklicher Klarheit und Brillanz im Mittagslicht. Bald waren Tydomin und Maskull unmittelbar unter der mächtig aufragenden Masse des Bergs, der nicht viel mehr als einen Kilometer entfernt war. Es sah nicht schwierig aus, die Hänge zum Gipfelplateau zu ersteigen, aber Maskull wußte nicht, auf welcher Seite des Bergs ihr Ziel lag. Zahlreiche Schluchten und Steilrinnen durchzogen die Bergflanke von oben bis unten. Hier und da schäumten blaßgrüne Wasserfälle herunter, glasigen dünnen Fäden gleich. Die Hänge waren steinig und kahl; nur Gras und niedrige Stauden hielten sich hier. Geröllhalden, Blöcke und verwitterte Schroffen, die wie spitze, kariöse Zähne aufragten, vervollständigten das Bild. Schließlich zeigte Tydomin auf ein kleines schwarzes Loch nahe dem Fuß des Berges, das wie eine Höhle aussah. »Dort wohne ich.« »Sie leben allein hier?« »Ja.« »Es ist eine sonderbare Wahl für eine Frau Ihres Alters – Sie sehen noch sehr gut aus.« »Das Leben einer Frau ist mit dreißig vorbei«, erwiderte sie seufzend. »Und ich bin viel älter als das… Vor zehn Jahren wäre ich diejenige gewesen, die dort drüben lebte, und nicht Oceaxe. Dann wäre all das nicht geschehen.« Eine Viertelstunde später standen sie im Höhleneingang. Er war drei Meter hoch, und das Innere war undurchdringliches Schwarz. »Legen Sie den Leichnam so in den Eingang, daß die Sonne ihn nicht erreicht«, befahl Tydomin. Er tat es. Als er sich aufrichtete, sah er sich ihrem scharfen, prüfenden Blick ausgesetzt. »Stehen Sie noch immer zu Ihrem Entschluß, Maskull?« »Warum sollte ich nicht? Mein Gehirn ist nicht aus Federn.« »Dann folgen Sie mir.« Sie gingen tiefer in die Höhle hinein. In diesem Moment erbebte der gewachsene Fels unter ihren Füßen, und ein gewaltiges Krachen und Poltern wie von einem schweren Gewitter direkt über ihren Köpfen ließ Maskulls Herz einen Schlag lang aussetzen; dann
begann es schwer und schmerzhaft zu hämmern. Eine Lawine von Felsblöcken, Geröll und Staub schoß von oben am Höhleneingang vorbei. Wären sie eine Minute später gekommen, hätten sie dort draußen ihr Ende unter den Felstrümmern gefunden. Tydomin blickte nicht einmal auf. Sie nahm ihn bei der Hand und ging tiefer in die Höhle. Die Temperatur nahm ab, wurde unangenehm kalt. Nach dem ersten Knick verschwand das Licht von der Außenwelt, und die Dunkelheit wurde absolut. Maskull stolperte immer wieder auf dem unebenen Grund, doch sie ließ ihn nicht los und führte ihn weiter. Die Höhle schien von beträchtlicher Länge zu sein. Nach einer Weile hatte er den Eindruck, daß die Atmosphäre sich veränderte; irgendwie verleitete ihn das zu der Vorstellung, daß sie in eine größere Höhlenkammer gekommen seien. Tydomin blieb stehen und zwang ihn mit sanftem, aber unnachgiebigem Druck nieder. Seine tastenden Hände fanden Stein, und als er ihn befühlte, entdeckte er, daß es eine Art Steinplatte war, die den übrigen Boden um vielleicht einen Fuß überragte. Sie sagte ihm, er solle sich niederlegen. »Ist die Zeit gekommen?« fragte Maskull. »Ja.« Er legte sich auf die Steinbank und wartete in der Dunkelheit, ohne eine Vorstellung von dem zu haben, was geschehen würde. Er fühlte, wie ihre Hand die seine ergriff. Gleich darauf verlor sein Körper alles Gefühl; er war nicht länger imstande, seine Arme und Beine oder die inneren Organe zu fühlen. Sein Verstand blieb aktiv und wachsam. Nichts Besonderes schien stattzufinden. Dann wurde es Licht in der Höhle, so als breche der Morgen an. Er konnte nichts sehen, aber die Netzhäute seiner Augen waren gereizt. Er bildete sich ein, Musik zu hören, aber als er ihr lauschen wollte, hörte sie auf. Das Licht wurde stärker, die Luft wärmer, und er hörte das Durcheinander entfernter Stimmen. Plötzlich gab Tydomin seiner Hand einen enormen Druck, den er trotz der Taubheit seiner Glieder fühlen konnte. Jemand schrie irgendwo, und dann flammte das Licht auf, und er sah alles deutlich.
Er lag auf einer hölzernen Pritsche oder Couch in einem elektrisch beleuchteten und fremdartig dekorierten Raum. Seine Hand wurde gedrückt, aber nicht von Tydomin, sondern von einem Mann, der die Kleider der Zivilisation trug und dessen Gesicht ihm bekannt war, wenn er auch nicht zu sagen wußte, wann und unter welchen Umständen er es schon gesehen hatte. Andere Leute standen im Hintergrund – auch sie waren ihm in einer unbestimmten Art und Weise vertraut. Er setzte sich auf und begann zu lächeln, ohne einen besonderen Grund; und dann stand er auf. Alle schienen ihn mit besorgten Gefühlen zu beobachten – er fragte sich, warum. Bei genauerem Hinsehen bestätigte sich, was er vermutet hatte: es waren alles Bekannte von ihm. Besonders zwei kannte er gut – den Mann am anderen Ende des Raums, der ruhelos auf und ab ging, das Gesicht ernst und geistesabwesend, und diesen anderen Mann, den großen, bärtigen – der er selbst war. Ja, er sah sich selbst an. Aber es war, als werde ein Mann in mittleren Jahren plötzlich mit einer Fotografie konfrontiert, die ihn als einen ernsten, idealistischen jungen Burschen zeigt. Sein anderes Selbst sprach zu ihm. Er hörte das Geräusch, konnte aber den Sinn nicht verstehen. Dann wurde plötzlich die Tür aufgerissen, und ein kleines, stämmig gebautes und vulgär aussehendes Individuum stapfte herein. Es begann sich allen Versammelten gegenüber in einer außergewöhnlichen Art und Weise zu benehmen, und kam dann direkt auf ihn zu. Er sagte etwas, aber seine Worte waren unverständlich. Darauf kam ein Ausdruck mörderischer Wut in die Züge des Neuankömmlings, und er packte seinen Hals mit haarigen Händen. Maskull fühlte seine Knochen brechen, unerträgliche Schmerzen rasten durch alle Nerven seines Körpers, und er hatte den Tod vor Augen. Er stöhnte und sank hilflos zu Boden. Der Raum und die Menschen darin verschwanden – das Licht ging aus. Wieder fand er sich in der Finsternis der Höhle. Diesmal schien er auf dem nackten Felsboden zu liegen, aber Tydomin war noch immer bei ihm und hielt seine Hand. Er litt grausame körperliche
Qualen, aber sie waren nur ein Hintergrund für die verzweifelte Angst, die seinen Geist erfüllte. Tydomin sagte in einem sanft-tadelnden Ton: »Warum sind Sie schon zurück? Ich hatte noch nicht die Zeit. Sie müssen zurückkehren.« Er packte sie und zog sich mühsam auf die Füße. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, als füge er ihr Schmerzen zu. »Was soll das heißen? Was machen Sie, Maskull?« »Krag…«, begann Maskull, aber die Anstrengung des Sprechens strangulierte ihn so, daß er abbrechen mußte. »Krag? Was ist mit Krag? Sagen Sie mir schnell, was geschehen ist. Lassen Sie meinen Arm los.« Er packte ihren Arm noch fester. »Ja, ich habe Krag gesehen. Ich bin wach.« »Oh!… Sie sind wach – wach…« »Und Sie müssen sterben«, sagte Maskull mit tonloser Stimme. »Aber warum? Was ist geschehen?« »Sie müssen sterben, und ich muß Sie töten… Weil ich wach bin und aus keinem anderen Grund. Sie blutbefleckte Verbrecherin!« Eine Weile ging Tydomins Atem hastig und keuchend. Dann schien sie langsam ihre Selbstbeherrschung wieder zu erlangen. »Sicherlich werden Sie mir nicht in dieser schwarzen Höhle Gewalt antun?« »Nein, die Sonne soll es sehen, denn es ist kein Mord. Aber seien Sie versichert, daß Sie sterben müssen – Sie müssen Ihre furchtbaren Verbrechen sühnen.« »Das sagten Sie bereits, und ich sehe, daß Sie die Macht haben. Sie sind mir entkommen… Es ist sehr merkwürdig. Nun, Maskull, lassen Sie uns denn hinausgehen. Ich fürchte mich nicht… Aber töten Sie mich höflich, denn auch ich bin höflich zu Ihnen gewesen. Um etwas anderes bitte ich nicht.«
11 Als sie wieder den Höhleneingang erreichten, war Blodsombre angebrochen. Zu ihren Füßen fiel das Gelände steil ab und leitete zu einer langen Kette von Gebirgsinseln über, die aus dem Wolkenmeer ragten. Hinter ihnen stiegen die Steilhänge Disscourns in den glühenden Himmel. Maskulls Augen waren rot, ein einfältiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Noch immer hielt er die Frau am Arm gepackt. Sie unternahm keinen Versuch, wegzulaufen oder zu sprechen. Sie schien gefaßt, freundlich und bereitwilligNachdem er lange Zeit stumm in die Ferne geblickt hatte, wandte er sich zu ihr. »Wo ist der feurige See, von dem Sie sprachen?« »Auf der anderen Seite des Bergs. Aber warum fragen Sie?« »Es ist gerade gut, wenn wir ein Stück zu gehen haben. Es wird mich ruhiger machen. Sie sollen begreifen, daß das, was geschehen wird, kein Mord, sondern eine Exekution ist.« »Der Geschmack wird der gleiche sein«, sagte Tydomin. »Wenn ich dieses Land verlassen haben werde, möchte ich nicht mit dem Gefühl gehen, daß ich einen Dämon hinter mir zurückgelassen habe, der frei umhergeht. Das würde anderen gegenüber nicht fair sein. Wir werden also zum See gehen, wo Sie ein leichter und schneller Tod erwartet.« Sie zuckte die Achseln. »Wir müssen warten, bis Blodsombre vorüber ist.« »Ist dies eine Zeit, um auf Bequemlichkeiten Rücksicht zu nehmen? So heiß es jetzt auch ist, am Abend werden wir es beide kühl haben… Wir müssen sofort aufbrechen.« »Gewiß, Sie sind der Herr, Maskull… Darf ich nicht Crimtyphon tragen?« Maskull blickte sie einen Moment lang forschend an, dann sagte er: »Ich neide keinem sein Begräbnis.« Mühsam hob sie den Körper auf ihre schmalen Schultern, und sie traten ins Sonnenlicht hinaus. Die Hitze traf sie wie ein Schlag auf
den Kopf. Maskull trat zur Seite, um sie vorangehen zu lassen, aber kein Mitleid kam in sein Herz. Er dachte an das Unrecht, das die Frau ihm angetan hatte. Der Weg führte an der Südseite der gewaltigen Pyramide entlang. Es war ein schmaler, unebener Pfad, der Geröllhalden, Schluchten und Wasserrinnen überquerte. Sie konnten das Wasser sehen, es aber nicht erreichen. Es gab keinen Schatten. Blasen bildeten sich auf ihrer Haut, wo sie ungeschützt den Sonnenstrahlen preisgegeben war, und alle Feuchtigkeit in ihren Körpern schien zu verdunsten… Maskull vergaß seine eigene Qual in seiner teuflischen Freude über Tydomins Tortur. »Singen Sie mir ein Lied!« rief er nach einiger Zeit. »Ein charakteristisches; ich möchte unterhalten sein.« Sie wandte den Kopf und warf ihm einen langen Blick zu, in dem Stolz und Erschöpfung miteinander rangen. Dann, ohne einen Einwand oder eine Bitte vorzubringen, begann sie zu singen. Ihre Stimme war tief und leise. Das Lied war so ungewöhnlich, daß er seine Augen reiben mußte, um sich zu vergewissern, daß er wachte. Die Melodie und der langsame Text begannen ihn in schreckliche Erregung zu versetzen; dennoch schienen die Worte reiner Unsinn zu sein – wenn ihre Bedeutung nicht zu tief für ihn war. Es war, als sprächen sie direkt sein Unbewußtes an. »Wo, im Namen aller unheiligen Dinge, haben Sie dieses Lied her?« Tydomin zeigte ein mattes, kränkliches Lächeln, während der Leichnam über ihrer linken Schulter zuckte und schwankte. Sie hielt ihn nur mit einem Arm. »Es ist schade, daß wir uns nicht als Freunde begegnen konnten, Maskull«, sagte sie. »Ich hätte Ihnen eine Seite von Tormance zeigen können, die Sie nun wahrscheinlich niemals sehen werden. Die wilde, verrückte Seite. Aber nun ist es zu spät, und es ist auch nicht wichtig.« Der Weg umging eine Bergschulter, und sie kamen auf die Westflanke. »Welches ist der schnellste Weg aus diesem elenden Land?« fragte Maskull.
»Am einfachsten ist es, über die heilige Ebene zu gehen.« »Werden wir sie von irgendwo aus sehen?« »Ja, aber es ist weit von hier.« »Sind Sie schon einmal dort gewesen?« »Ich bin eine Frau, mir ist das Betreten untersagt.« »Richtig, ich hörte etwas dergleichen.« »Stellen Sie mir keine Fragen mehr«, sagte Tydomin, die sichtlich schwächer wurde. An einer kleinen Quelle machten sie halt. Maskull trank selbst, und dann gab er der Frau aus seiner hohlen Hand zu trinken, so daß sie ihre Last nicht abzulegen brauchte. Das Wasser wirkte Wunder – es schien alle Zellen seines Körpers zu füllen, als ob sie die trockenen Poren eines Schwammes wären, die Flüssigkeit aufsaugten. Tydomin gewann ihr Selbstbewußtsein zurück. Ungefähr eine Dreiviertelstunde später gelangten sie auf die Nordseite des Berges, und ein völlig neues Panorama bot sich ihren Augen. Hundert Meter unter ihnen brach der Steilhang, den sie querten, abrupt in einen Canyon ab. Die Luft darüber war von einem grünlichen Dunst erfüllt, der in Hitzewellen flimmerte. »Der See ist darunter«, sagte Tydomin. Maskull blieb stehen und sah sich um. Jenseits des Canyons, der bei näherem Hinsehen Teil eines Kraters zu sein schien, fiel das Land gleichmäßig ab. Hinter ihnen führte ein schmaler Pfad mit ungezählten Kehren durch das Felsengewirr zum Gipfel der mächtigen Pyramide. Weit im Nordosten hob ein langer Tafelberg seinen Rücken weit über das umgebende Land. Dort war die heilige Ebene… und Maskull faßte den Entschluß, daß dies sein Ziel sein solle. Tydomin war unterdessen langsam den Hang hinabgestiegen und ließ nun Crimtyphons Körper am Abbruchrand des Kraters zu Boden gleiten. Maskull ging ihr nach, erreichte sie und spähte vorsichtig in die Tiefe, um einen Blick auf den feurigen See zu werfen. Ein Schwall stickend heißer Luft wehte ihn an, sie stank nach Schwefel, und er bekam einen Hustenanfall. Doch erst als er den Kratersee aus
geschmolzener Lava gesehen hatte, der nicht sehr tief unter ihm brodelte, trat er vom Rand zurück. Durch die fauchenden und zischenden Geräusche entweichender Gase drang ein leises Trommeln herauf, immer vier Schläge, von denen der dritte betont wurde. Er lauschte angestrengt, und als er es tat, beschleunigte sich sein Herzschlag, und die schwarzen Sorgen hoben sich von seiner Seele. Die ganze Welt und ihre Ereignisse schienen in diesem Moment unecht und ohne Bedeutung… Er kehrte zu Tydomin zurück, die mit ihrem toten Mann sprach. Dabei spähte sie wie flehentlich in sein gräßlich verzerrtes Gesicht und streichelte sein violettes Haar. Als sie Maskull neben sich stehen sah, küßte sie hastig die welken Lippen und stand auf. Sie hob den Leichnam mit allen drei Armen, wankte mit ihm an den Rand des Abgrunds und ließ ihn nach einem Moment des Zögerns fallen. Maskull konnte keinen Aufschlag hören… Das war Crimtyphons Begräbnis. »Nun bin ich bereit, Maskull.« Er antwortete nicht, sondern starrte an ihr vorbei. Nicht weit hinter ihr stand eine andere Gestalt, aufrecht, mit traurigem Blick. Es war Joiwind. Ihr Gesicht war bleich, und ihre Augen blickten ihn anklagend an. Maskull wußte, daß es ein Phantom war, und daß die wirkliche Joiwind viele Kilometer entfernt in Poolingdred war. »Drehen Sie sich um, Tydomin«, sagte er, »und sagen Sie mir, was Sie hinter sich sehen.« Sie blickte sich um. »Ich sehe nichts.« »Aber ich sehe Joiwind.« Während er sprach, verschwand die Erscheinung. »Ich schenke Ihnen das Leben, Tydomin. Sie wünschte es.« Die Frau legte ihre Finger an ihr Gesicht und starrte in den Abgrund hinab. »Ich erwartete kaum, daß ich mein Leben jemals einer anderen Frau verdanken würde, aber so sei es denn… Was geschah wirklich mit Ihnen, als Sie in meiner Höhle lagen?« »Ich sah Krag.« »Ja, irgendein Wunder muß geschehen sein«, sagte sie und
erschauerte plötzlich. »Kommen Sie, lassen Sie uns von diesem schrecklichen Ort fortgehen. Ich werde niemals hierher zurückkehren.« »Ja«, sagte Maskull, »es riecht hier nach Tod und Sterben. Aber wohin sollen wir gehen – was sollen wir tun? Führen Sie mich zur heiligen Ebene… Ich muß fort aus diesem höllischen Land.« Tydomin stieß ein bitteres kleines Lachen aus und sagte: »Statt allein zu sein, werde ich lieber mit Ihnen gehen – aber wenn ich die heilige Ebene betrete, werden sie mich töten.« »Bringen Sie mich wenigstens auf den Weg. Ich möchte hinkommen, bevor es Nacht wird. Ist das möglich?« »Wenn Sie bereit sind, ein Risiko mit der Natur auf sich zu nehmen. Und warum sollten Sie es nicht tun? Ihr Glück dauert an… Aber eines Tages wird es nicht mehr mit Ihnen sein – Ihr Glück.« »Gehen wir«, sagte Maskull. »Das Glück, das ich bisher gehabt habe, ist nichts, womit ich prahlen könnte.« Blodsombre war vorüber, als sie aufbrachen. Es war früher Nachmittag, doch die Hitze schien erstickender als je zuvor. Sie sprachen kaum, beide hingen ihren Gedanken nach. In allen anderen Richtungen sank das Terrain ab, aber wo die heilige Ebene lag, ging es gleichmäßig und allmählich aufwärts. Ihr dunkles, fernes Plateau beherrschte die Landschaft, und nachdem sie eine Stunde gegangen waren, schienen sie ihrem Ziel nicht näher gekommen zu sein. Die Luft war drückend, kein Hauch regte sich. Dann weckte ein Gegenstand, offensichtlich das Werk von Menschen, Maskulls Aufmerksamkeit. Es war ein schlanker Baumstamm, noch in der Borke, der in den steinigen Grund eingegraben worden war. Vom oberen Ende standen drei Äste in verschiedene Richtungen ab. Sie waren von Zweigen und Blättern befreit und näher kommend sah er, daß sie künstlich am Stamm befestigt worden waren, in gleichen Abständen voneinander. Als er das Ding betrachtete, schien plötzlich ein Hochgefühl von Zuversicht und Selbstsicherheit über ihn zu kommen, doch es war so momentan, daß er nichts daraus schließen konnte.
»Was könnte das sein, Tydomin?« »Es ist Hators Dreizack.« »Und was ist sein Zweck?« »Es ist ein Wegweiser zur heiligen Ebene.« »Aber wer oder was ist Hator?« »Hator war der Besiedler der heiligen Ebene vor vielen Tausenden von Jahren. Er legte die Prinzipien fest und formulierte die Regeln, nach denen sie alle leben, und dieses Ding, das Dreizack genannt wird, ist sein Symbol. Als ich ein kleines Kind war, erzählte mein Vater mir die Legenden, aber ich habe die meisten vergessen.« Maskull ging um den Wegweiser herum und untersuchte ihn. Als er zu Tydomin zurückkehrte, sagte er: »Beeinflußt das Zeichen Sie in irgendeiner Weise?« »Warum sollte es?« sagte sie mit geringschätziger Kopfbewegung. »Ich bin nur eine Frau, und dies sind Geheimnisse der Männer.« »Ich hatte eben plötzlich einen Anflug von Freude«, sagte Maskull, »aber vielleicht irre ich mich.« Sie wanderten weiter. Allmählich wandelte sich der Charakter der Landschaft. Die zerklüfteten Steilwände, die Canyons und Schluchten blieben zurück, die Landschaft bildete wieder ein zusammenhängendes Ganzes. Keine Spuren deuteten auf vergangene Landeinstürze oder Aufwerfungen hin. Die besondere Natur des Ifdawn Märest schien einer anderen Ordnung der Dinge Platz zu machen. Allmählich bedeckte sich der Himmel. Ein feiner Nebel begann die Landschaft mit dünnen Schleiern einzuhüllen, und die Sonne wurde nach und nach zu einer ungeheuren kupfernen Scheibe, die man ansehen konnte, ohne geblendet zu sein. Ein Wind kam auf und blies ihnen kühl und feucht entgegen. Nach einer weiteren Stunde hatte der Himmel sich so bezogen, daß die Sonne nicht mehr zu sehen war. Weit voraus, vor dem Hintergrund des sich zunehmend verfinsternden Himmels, tauchten mehrere Windhosen wie gewaltige Rüssel aus der Wolkendecke herab und zogen langsam über das Land, beängstigend schnell kreisend und von einem
furchterregenden, dumpf heulenden Geräusch begleitet. Tydomin blieb stehen und beobachtete die Erscheinungen. Plötzlich sagte sie: »Da geht einer, der sich nicht zu fürchten scheint.« Sie hob den Arm und zeigte nach vorn, und Maskull sah einen Mann, der langsam und ruhig zwischen ihnen und den Windhosen seinen Weg ging. Er hatte Maskull und Tydomin den Rücken zugekehrt und schien die gleiche Richtung zu haben wie sie. Es war etwas Ungewöhnliches an ihm – Maskull fand, daß seine Gestalt außerordentlich deutlich und klar zu sehen war wie in Vergrößerung. »Er scheint sich um die Gefahr nicht zu kümmern«, bemerkte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er die Windhosen nicht sieht. Oder kennt er die Gefahr nicht? Dann sollte man ihn warnen.« »Er, der immer darauf aus ist, andere zu belehren, wird nichts lernen«, versetzte die Frau. Sie legte eine Hand auf Maskulls Arm, um ihn zurückzuhalten, und fuhr fort, die Ereignisse zu beobachten. Eine der Windhosen schien direkt auf den Mann zuzuwandern, und er blieb stehen und wandte sich eilends um, als ob er erst jetzt die Nähe dieser tödlichen Rüssel bemerkt hätte. Dann reckte er sich und hob beide Arme hoch über den Kopf. Maskull hatte den Eindruck, daß er die Fäuste schüttelte und die wandernden Säulen anrief. Während sie zusahen, veränderte die Windhose ihren Kurs und strich in fünfzig Meter Entfernung an dem Mann vorbei. Gleichzeitig entluden sich Blitze in der Wolkendecke, und man hörte eine Serie von ohrenbetäubenden Explosionen, gefolgt von einem lang anhaltenden Grollen. Die Windhosen wanderten ab, einige von ihnen lösten sich auf. Der Fremde stand da, unverletzt. Er ließ die Arme sinken und blickte den Himmelserscheinungen nach. Einen Augenblick später gewahrte er die beiden, blieb stehen und wartete auf sie. Die eigenartige Klarheit der Luft, die seine Person selbst aus weiter Entfernung so deutlich erkennbar machte, wurde noch auffallender, als sie sich ihm näherten; sein Körper schien aus einer Substanz zu sein, die schwerer und dichter war als menschliches Fleisch.
Tydomin war verblüfft. »Er muß ein Mann von der heiligen Ebene sein. Ich habe noch nie einen wie ihn gesehen… Dies ist ein besonderer Tag für mich.« »Er muß ein Mann von großer Bedeutung sein«, murmelte Maskull. Sie erreichten den Fremden. Er war groß, kräftig und bärtig, und war in ein Hemd und Hosen aus Leder gekleidet. Eine grünliche Ablagerung bedeckte wie Rauhreif sein Gesicht und seine Glieder, die sich jedoch in Feuchtigkeit aufzulösen begann und in Rinnsalen herablief. Seine Haut, die darunter zum Vorschein kam, war von eisengrauer Farbe. Er hatte keinen dritten Arm oder Fühler. Sein Gesicht war hart und zerklüftet, und sein stark ausgebildetes Kinn ließ den Bart fast waagrecht abstehen. Auf seiner Stirn war kein Sorb, sondern zwei flache Membranen, die verkümmerte Augen zu sein schienen. Diese Membranen hatten selbst keinen Ausdruck, aber in irgendeiner Weise schienen sie den finster blickenden Augen darunter zusätzliche Kraft zu verleihen. Als sein Blick auf Maskull ruhte, war diesem zumute, als ob sein Gehirn gründlich abgetastet und befühlt würde. Der Mann schien von mittlerem Alter zu sein. Die Deutlichkeit seiner Erscheinung ging über jedes natürliche Maß hinaus. Neben ihm wirkte jeder Gegenstand in der Umgebung vage und verschwommen. Tydomins Gestalt erschien plötzlich substanzlos, skizzenhaft und ohne Bedeutung, und Maskull begriff, daß es sich bei ihm nicht anders verhielt… Ein eigenartiges prickelndes Brennen begann seine Adern zu durchströmen, und er wandte sich zu Tydomin. »Wenn dieser Mann zur heiligen Ebene geht, werde ich mich ihm anschließen. Wir können uns jetzt trennen. Zweifellos werden Sie froh darüber sein.« »Auch Tydomin soll mitkommen.« Die Worte wurden in einer rauh klingenden, ausländischen Sprache hervorgestoßen, doch waren sie Maskull so verständlich, als wären sie in Englisch gesprochen worden. »Sie kennen meinen Namen, also wissen Sie auch, daß ich eine
Frau bin«, sagte Tydomin. »Es wäre mein Tod, wenn ich mit Ihnen ginge.« »Das ist das alte Gesetz; ich bin der Träger und Verkünder des neuen Gesetzes.« »Ist es so? Aber wird Ihr neues Gesetz anerkannt?« »Die alte Haut platzt auf, die neue Haut hat sich unter ihr gebildet. Der Augenblick der Häutung ist gekommen.« Düstere Wolken jagten in breiter Front heran. Die Windstöße wurden heftiger und peitschten grünlichen Schnee in ihre Gesichter, als sie beisammenstanden. Es wurde rasch kälter. Maskull bemerkte es kaum. »Wie ist Ihr Name?« fragte er mit klopfendem Herzen. »Mein Name, Maskull, ist Spadevil. Sie, ein Reisender im dunklen Ozean des Raums, sollen mein erster Zeuge und Gefolgsmann werden. Sie, Tydomin, sollen meine zweite Zeugin und Anhängerin sein.« »Wie sollen wir Ihre Gefolgsleute sein, wenn wir das neue Gesetz nicht kennen? Wie lautet es?« »Was nützt es dem Ohr zu hören, solange das Auge nicht sieht? Kommt beide zu mir!« Tydomin trat ohne Zögern auf ihn zu. Spadevil drückte seine Hand auf ihr drittes Auge und ließ sie minutenlang dort, während er seine Augen schloß. Als er die Hand wegnahm, bemerkte Maskull, daß ihr drittes Auge sich zu einer doppelten Membran verändert hatte, die der des Fremden glich. Tydomin sah benommen aus. Sie starrte eine Weile umher, als müsse sie sich an etwas Neues gewöhnen. Dann kamen ihr plötzlich Tränen in die Augen, sie ergriff Spadevils Hand, beugte sich darüber und bedeckte sie mit Küssen. »Meine Vergangenheit ist schlecht gewesen«, murmelte sie. »Viele haben Leid von mir empfangen, und niemand Gutes. Ich habe getötet und Schlimmeres getan… Nun kann ich all das abwerfen und lachen. Nichts kann mich jetzt verwunden… Oh, Maskull, Sie und ich, wir sind Dummköpfe gewesen!«
»Bereuen Sie Ihre Verbrechen nicht?« fragte Maskull. »Lassen wir die Vergangenheit, wo sie ist«, sagte Spadevil. »Sie kann nicht neu gestaltet werden. Allein die Zukunft ist unser. Sie beginnt in dieser Minute frisch und sauber… Warum zögern Sie noch, Maskull…. Fürchten Sie sich?« »Wie nennt man diese Organe, und welche Funktion haben sie?« »Sie sind Sonden, und sie sind die Tore, die sich in eine neue Welt öffnen.« Maskull zögerte nicht länger und erlaubte dem Fremden, sein drittes Auge zu bedecken. Als die eiserne Hand noch gegen seine Stirn drückte, floß das neue Gesetz in sein Bewußtsein wie ein Strom reinen Wassers, der bis dahin von den Barrieren seines Willens zurückgehalten worden war. Das Gesetz hieß Pflicht.
12 Maskull fand, daß seine neuen Organe keine eigenen unabhängigen Funktionen hatten, sondern seine anderen Sinne nur veränderten und intensivierten. Wenn er seine Augen, Ohren oder die Nase gebrauchte, so waren seine Wahrnehmungen der Objekte die gleichen, doch sein Urteil über sie war ein anderes. Zuvor hatten alle äußeren Dinge für ihn existiert; nun existierte er für sie. Je nachdem, ob sie seinen Zwecken gedient und in Harmonie mit seiner Natur existiert hatten oder nicht, hatte er sie als angenehm oder lästig empfunden. Jetzt hatten solche Begriffe praktisch keine Bedeutung mehr. Die zwei anderen beobachteten ihn, während er sich mit dieser neuen Einstellung bekannt machte. Als seine erste Verwirrung vorüber war, lächelte er ihnen zu. »Sie hatten ganz recht, Tydomin«, sagte er munter. »Wir sind Dummköpfe gewesen. Die ganze Zeit dem Licht so nahe, und wir
merkten es nicht. Immer in der Vergangenheit oder Zukunft vergraben, ignorierten wir die Gegenwart… Und nun zeigt sich, daß wir außerhalb der Gegenwart überhaupt kein Leben haben.« »Danken Sie Spadevil dafür«, antwortete sie. Maskull sah die große, dunkle Gestalt des Mannes an, der geistesabwesend in die Ferne starrte. »Spadevil«, sagte er, »nun werde ich Ihnen folgen bis zum Ende. Weniger kann ich nicht tun.« Das strenge Gesicht gab keine Bewegung zu erkennen – kein Muskel entspannte sich. »Passen Sie auf, daß Sie Ihre Gabe nicht verlieren«, sagte er barsch. Tydomin sagte: »Sie versprachen, daß ich mit Ihnen zur heiligen Ebene gehen könne.« »Hängen Sie sich an die Wahrheit, nicht an mich. Denn ich mag vor Ihnen sterben, aber die Wahrheit wird Sie bis zu Ihrem Tod begleiten. Doch jetzt wollen wir gehen, alle drei gemeinsam.« Er drehte sich um und begann vornübergebeugt gegen das Schneetreiben anzustapfen. Er machte lange Schritte, und Tydomin war gezwungen, im Laufschritt zu eilen, um nicht zurückzubleiben. Die drei wanderten nebeneinander, Spadevil in der Mitte. Schneetreiben und Dunst waren so dicht, daß es unmöglich war, hundert Schritte weit zu sehen. Der grünlichweiße Schnee bedeckte bereits das Gras; der schneidende kalte Wind fegte ihn in Wolken heran. »Spadevil, sind Sie ein Mensch, oder sind Sie mehr?« fragte Maskull. »Wer nicht mehr als ein Mensch ist, der ist nichts.« »Von wo sind Sie heute gekommen?« fragte Maskull. »Von der Meditation, Maskull. Die Wahrheit kann aus keiner anderen Mutter geboren werden. Ich habe meditiert und nachgedacht und verworfen; und ich habe wieder meditiert und nachgedacht. Nun, nach vielen Monaten der Abwesenheit, erstrahlt mir die Wahrheit endlich in ihrem einfachen Glanz.« »Ich sehe ihren Glanz«, sagte Maskull. »Aber wieviel schuldet er
dem alten Hator?« »Das Wissen hat seine Jahreszeiten. Die Blüte war für Hator, die Frucht ist für mich. Auch Hator war ein Denker – aber heute denken seine Anhänger nicht mehr. Auf der heiligen Ebene ist alles eisige Selbstsucht, ein lebendiger Tod. Sie hassen das Vergnügen und die Freude, und dieser Haß ist ihnen das einzige Vergnügen und die einzige Freude.« »Aber in welcher Weise sind Sie von Hators Lehren abgefallen?« »Für ihn in seiner natürlichen Reinheit war die ganze Welt eine Falle, eine Leimrute. Da er wußte, daß das Vergnügen überall war, ein verschlagener, spöttischer Feind, der in jedem Winkel an der Straße des Lebens lauert, um die nackte Größe der Seele mit seinem süßen Stachel zu töten, schützte er sich mit dem Schild des Schmerzes. Dies tun auch seine Anhänger, aber sie tun es nicht um der Seele willen, sondern aus Eitelkeit und Stolz.« »Was bedeutet der Dreizack?« »Der Stamm, Maskull, symbolisiert den Haß auf Sinnenfreude. Die erste Gabelung ist Befreiung von der Süßigkeit der Welt. Die zweite Gabelung ist Macht über jene, die noch immer in den Netzen der Illusion zappeln. Die dritte Gabelung ist die gesunde Glut des Menschen, der in eiskaltes Wasser steigt.« »Aus welchem Land kam Hator?« »Das ist nicht überliefert. Er lebte eine Weile in Ifdawn. Es gibt viele Legenden über ihn, die seinen Aufenthalt dort betreffen.« »Wir haben einen langen Weg vor uns«, sagte Tydomin. »Erzählen Sie uns einige von diesen Legenden, Spadevil.« Das Schneetreiben hatte aufgehört, die Wolken begannen sich zu lichten. Allmählich kam Branchspell wieder zum Vorschein, ein blasses Phantom hinter ziehenden Wolken. Immer noch fegte eiskalter Wind über die Ebene. »In jenen Tagen«, sagte Spadevil, »gab es in Ifdawn eine Berginsel, die durch weite Täler von dem Land ringsum getrennt war. Ein schönes Mädchen, das der Zauberei mächtig war, machte eine Brücke, über die Männer und Frauen zu ihrer Insel gelangen
konnten. Nachdem sie Hator durch eine falsche Erzählung auf diesen Felsen gelockt hatte, stieß sie die Brücke mit dem Fuß, bis sie in die Tiefe stürzte. ›Du und ich, Hator, sind nun hier vereint, und es gibt keine Möglichkeit, uns zu trennen. Ich möchte sehen, wie lange der berühmte Mann der Kälte den Augen und dem Lächeln eines Mädchens widerstehen kann.‹ Hator sagte kein Wort, darauf nicht und auch den Rest des Tages nicht. Bis Sonnenuntergang stand er wie ein Baum und dachte an andere Dinge. Dann wurde das Mädchen leidenschaftlich und schüttelte die Locken. Es sah ihn an und berührte seinen Arm; aber er sah sie nicht. Sie sah ihn so an, daß die Seele in ihren Augen war, und dann stürzte sie tot zu Boden. Hator erwachte aus seinen Gedanken und sah sie zu seinen Füßen liegen, noch warm, aber ein Leichnam. Er verließ die Berginsel; aber wie, ist nicht überliefert.« Tydomin erstarrte. »Auch Sie haben Ihre böse Frau kennengelernt, aber Ihre Methode ist eine vornehmere.« »Bemitleiden Sie nicht andere Frauen«, sagte Spadevil, »sondern lieben Sie das Rechte. Hator hatte auch einmal ein Gespräch mit dem Former.« »Mit dem Schöpfer der Welt?« sagte Maskull gedankenvoll. »Mit dem Schöpfer der Sinnenfreude. Es wird berichtet, wie der Former seine Welt verteidigte und Hator zu zwingen suchte, Lieblichkeit und Freude anzuerkennen. Hator, der alle seine großartigen Reden mit wenigen knappen, eisenharten Worten beantwortete, zeigte, wie diese Freude und Schönheit nur ein anderer Name für die Bestialität von Seelen war, die in Luxus und Vollkommenheit schwelgten. Der Former lächelte darauf und sagte: ›Wie kommt es, daß deine Weisheit größer ist, als die des Meisters aller Weisheit?‹ Hator sagte: ›Meine Weisheit kommt nicht von dir noch von deiner Welt, sondern von jener anderen Welt, die du, Former, vergebens zu imitieren suchtest.‹ Der Former erwiderte: ›Was tust du dann in meiner Welt?‹ Hator sagte: ›Ich bin fälschlich hier, und darum unterliege ich deinen falschen Freuden und Genüssen. Aber ich hülle mich in Schmerzen – nicht weil es gut ist,
sondern weil ich mich von dir fernzuhalten wünsche. Denn Schmerz ist nicht etwas, das von dir kommt, auch gehört er nicht zu der anderen Welt, aber er ist der Schatten, den deine falschen Freuden werfen.‹ Dann sagte der Former: ›Welches ist diese andere Welt, von der du sagst: Dies ist so – dies ist nicht so? Wie kommt es, daß du allein von allen meinen Geschöpfen davon weißt?‹ Aber Hator spuckte ihm vor die Füße und sagte: ›Du lügst, Former. Alle wissen davon. Du allein verbirgst sie mit deinen hübschen Spielzeugen vor unseren Augen.‹ Der Former fragte: ›Was bin ich dann?‹ Und Hator antwortete: ›Du bist der Träumer von unmöglichen Träumen.‹ Und dann geht die Geschichte damit zu Ende, daß der Former fortging, verdrießlich über das, was gesagt worden war.« »Auf welche andere Welt bezog sich Hator?« fragte Maskull. »Eine, wo Größe regiert, Maskull, gerade so wie hier die Sinnenfreude regiert.« »Ob Größe oder Sinnenfreude, es macht keinen Unterschied«, sagte Maskull. »Der individuelle Geist, der lebt und leben möchte, ist schlecht und von Natur aus korrupt.« »Hüte du dich vor deinem Stolz!« versetzte Spadevil. »Mache keine Gesetze für das Universum und für alle Zeiten, sondern für dich und für dieses kleine, fehlerhafte Leben, das du lebst.« »In welcher Gestalt kam der Tod zu diesem harten, unbezwingbaren Mann?« fragte Tydomin. »Er lebte und wurde alt, und bis zu seiner letzten Stunde ging er aufrecht und war frei. Als er schließlich sah, daß der Tod nicht länger abgewehrt werden konnte, beschloß er, sich selbst zu töten. Er sammelte seine Freunde um sich; nicht aus Eitelkeit, sondern daß sie sehen mochten, wozu die menschliche Seele in ihrem andauernden Kampf mit dem wollüstigen Körper imstande ist. Aufrecht stehend und ohne Stütze starb er, indem er den Atem anhielt.« Lange gingen sie schweigend nebeneinander. Der eisige Wind fegte ihnen entgegen und kühlte sie aus, und es war, als frören ihre Gedanken ein. Als Branchspell endlich wieder voll herauskam und Wärme
herabstrahlte, wenn auch mit verminderter Energie, wurden Maskulls Lebensgeister und damit auch seine Neugierde wieder munter. »Ihre Landsleute sind also krank von Eitelkeit und Eigenliebe, Spadevil?« »Die Menschen anderer Länder«, sagte Spadevil, »sind die Sklaven des Vergnügens und der Lust, und sie wissen es. Aber die Menschen meines Landes sind ebensolche Sklaven, ohne es zu wissen.« »Liegt nicht etwas Edles darin, in Selbstquälerei zu frohlocken?« »Wer sich selbst studiert, ist schon unedel. Nur durch die Verachtung der Seele und des Körpers kann ein Mensch in das wahre Leben eintreten.« »Aus welchem Grund weisen Ihre Landsleute Frauen zurück?« »Weil eine Frau idealistische Liebe hat und nicht für sich selbst leben kann. Liebe zu einem anderen ist Genuß und Sinnenfreude für den Geliebten und daher schädlich für ihn.« »Ein Wald von falschen Ideen wartet auf Ihre Axt«, sagte Maskull. »Aber werden Sie es erlauben?« »Spadevil weiß, Maskull«, sagte Tydomin, »daß es heute oder morgen sein mag, daß es aber unaufhaltsam ist, weil die Liebe aus keinem Land ferngehalten werden kann, auch nicht von den Schülern Hators.« »Hütet euch vor Liebe – hütet euch vor Gefühl!« rief Spadevil wie ein Prediger aus. »Liebe ist die Schwester von Sinnenfreude und Genußsucht. Denkt nicht daran, anderen zu gefallen, sondern ihr zu dienen.« »Vergeben Sie mir, Spadevil, wenn ich immer noch weiblich bin.« »Das Rechte kennt kein Geschlecht. Solange Sie sich erinnern, daß Sie eine Frau sind, Tydomin, solange werden Sie nicht in den Zustand der göttlichen Seelenruhe eintreten.« »Aber wo es keine Frauen gibt, gibt es keine Kinder«, sagte Maskull. »Wie kamen all diese Generationen von Hator-Anhängern zustande?« »Leben zeugt Leidenschaft, Leidenschaft zeugt Leiden, Leiden zeugt das Verlangen nach Befreiung vom Leiden. Aus allen Teilen
der Welt drängen Männer zur heiligen Ebene, um die Wunden ihrer Seelen dort zu heilen.« »Der Haß auf die Sinnenfreude ist eine einfache Formel, die alle verstehen können«, sagte Maskull. »Welche einfache Formel können Sie an ihrer Stelle anbieten?« »Eisernen Gehorsam zur Pflicht«, antwortete Spadevil. »Und wenn sie fragen: ›Wie verträgt sich das mit dem Haß auf Sinnenfreude?‹ was wird Ihre Erklärung sein?« »Haß ist Leidenschaft, und alle Leidenschaft entspringt den dunklen Feuern des Selbst. Haßt nicht die Sinnenfreude und das Vergnügen, aber laßt sie links liegen, gelassen und ohne Beunruhigung. So werde ich sagen.« »Was ist das Kriterium für Vergnügen und Sinnenfreude? Wie können wir sie erkennen, um sie zu meiden?« »Folgen Sie streng der Pflicht und solche Fragen werden nicht entstehen.« Später am Nachmittag legte Tydomin schüchtern ihre Hand auf Spadevils Arm. »Furchtbare Zweifel bedrängen mich«, sagte sie. »Diese Expedition könnte schlimm enden. Ich habe eine Vision von Ihnen gesehen, Spadevil, und ich lag tot und blutbedeckt, aber Maskull war nicht da.« »Die Fackel mag unseren Händen entfallen, aber sie wird nicht erlöschen, und andere werden sie aufheben.« »Geben Sie mir ein Zeichen, daß Sie nicht wie andere Männer sind – damit ich weiß, daß unser Blut nicht umsonst vergossen wird.« Spadevil musterte sie streng. »Ich bin kein Magier. Ich überrede nicht die Sinne, sondern die Seele. Ruft Ihre Pflicht Sie zur heiligen Ebene, Tydomin? Dann gehen Sie hin. Ruft Ihre Pflicht Sie nicht dorthin? Dann gehen Sie keinen Schritt weiter. Ist es nicht einfach? Welche Zeichen sind nötig?« »Sah ich nicht, wie Sie diese Windhosen verjagten? Kein gewöhnlicher Mensch hätte das tun können.« »Wer will wissen, was ein Mensch tun kann? Dieser Mensch kann
dieses tun, jener Mensch kann jenes tun. Aber was alle Menschen tun können, ist ihre Pflicht; und um die Augen der Menschen für diese Wahrheit zu öffnen, muß ich zur heiligen Ebene gehen und mein Leben opfern, sollte es notwendig sein. Wollen Sie mich begleiten?« »Ja«, sagte Tydomin, »ich werde Ihnen bis zum Ende folgen. Es ist um so notwendiger, als ich mit meinen Bemerkungen immer wieder Ihren Unwillen errege, was zeigt, daß ich meine Lektion noch nicht richtig gelernt habe.« »Seien Sie nicht demütig, denn Demut ist nur Selbstverurteilung, und während wir an das Selbst denken, vernachlässigen wir eine notwendige Handlung, die wir in unserem Geist planen oder formen könnten.« Doch Tydomin blieb besorgt und voll Unbehagen. »Warum war Maskull nicht in dem Bild?« fragte sie. »Sie verweilen bei dieser Vorahnung, weil Sie sich einbilden, sie sei tragisch. Es gibt nichts Tragisches am Tod, Tydomin, ebensowenig wie im Leben. Es gibt nur Recht und Unrecht. Was aus rechten oder unrechten Handlungen erwächst, spielt keine Rolle. Wir sind keine Götter, die eine Welt konstruieren, sondern einfache Männer und Frauen, die ihre unmittelbare Pflicht erfüllen. Wir mögen sterben – so haben Sie es in Ihrer Vision gesehen; aber die Wahrheit wird weiterleben.« »Spadevil, warum haben Sie die heilige Ebene erwählt, um dort mit der Arbeit zu beginnen?« fragte Maskull. »Von diesen Menschen mit ihren fixen Ideen ist wohl am wenigsten zu erwarten, daß sie einem neuen Licht folgen werden.« »Wo ein schlechter Baum gedeiht, wird ein guter Baum Früchte tragen. Aber wo überhaupt kein Baum zu finden ist, wird nichts wachsen.« »Ich verstehe Sie«, sagte Maskull. »Vielleicht erwartet uns hier der Märtyrertod, aber anderswo würden wir Männern ähneln, die den Kühen und Schafen predigen.« Kurz vor Sonnenuntergang standen sie am Fuß des hohen Plateaus.
Eine schwindelerregende Treppe von mehr als tausend Stufen unterschiedlicher Höhe und Breite war aus den dunklen Felswänden gehauen und wand sich unter Ausnutzung natürlicher Felsvorsprünge luftig empor. Branchspell, endlich hellstrahlend, aber im Begriff unterzugehen, erfüllte den wolkigen Himmel mit heftigen, düsteren Farben, unter denen es Kombinationen gab, die Maskull neu waren. Der Kreis des Horizonts war so gigantisch, daß das Auge sich in unwirklich klaren Fernen verlieren konnte, bevor es die im Dunst verschwimmende Linie des Horizonts fand. Hier wurde Maskull ebenso eindringlich wie unmittelbar deutlich, daß er auf einem fremden Planeten war. Aber das Wissen erregte ihn nicht, noch hob es ihn in eine Stimmung euphorischen Schauders. Er war sich nur moralischer Ideen und Probleme bewußt. Zurückblickend sah er die leicht gewellte Ebene mit ihrer spärlichen Vegetation, die bis hinüber zur gewaltigen Pyramide Disscourns reichte. Sie alle standen und blickten schweigend in die Landschaft hinaus. Schließlich wandte sich Spadevil zu seinen Gefährten um. »Welches ist das größte Wunder in dieser ganzen wundervollen Szenerie?« fragte er. »Machen Sie uns damit bekannt«, sagte Maskull. »Alles, was Sie sehen, ist aus Genuß und Vergnügen geboren und bewegt sich von Vergnügen zu Vergnügen. Nirgendwo ist das Rechte zu finden. Es ist die Welt des Formers.« »Es gibt ein weiteres Wunder«, sagte Tydomin, und sie zeigte zum Himmel hinauf. Eine kleine Wolke, so niedrig, daß sie nicht mehr als vielleicht zweihundert Meter über ihnen war, segelte vor der dunklen Felswand dahin. Sie hatte genau die Form einer offenen menschlichen Hand, mit abwärts gerichteten Fingern. Die Sonne färbte sie scharlachrot; und eine oder zwei winzige Wolkenfetzen unter den Fingern sahen wie fallende Blutstropfen aus. »Wer kann nun noch bezweifeln, daß unser Tod nahe bevorsteht?« sagte Tydomin. »Ich bin heute zweimal dem Tod nahe gewesen. Das erstemal war ich bereit, doch jetzt bin ich noch mehr bereit, denn ich
werde Seite an Seite mit dem Mann sterben, der mir mein erstes Glück gegeben hat.« »Denken Sie nicht an den Tod, sondern an die rechte Beharrlichkeit«, antwortete Spadevil. »Ich bin nicht hier, um vor den üblen Vorzeichen des Formers zu zittern; ich bin hier, ihm Menschen zu entreißen.« Ohne weiteren Aufenthalt führte er sie nun die Steintreppe hinauf. Tydomin verharrte einen Augenblick lang bewegungslos und schaute ihm nach, ein Licht fanatischer Verehrung in den Augen. Dann folgte sie ihm als zweite. Maskull ging am Schluß. Er war von der langen Wanderung schmutzig, ungekämmt und sehr müde; aber seine Seele war in Frieden. Während sie langsam und in ruhigem Rhythmus die endlos scheinende Treppe erstiegen, sah es aus, als höbe die Sonne sich wieder höher in den Himmel. Ihr Licht färbte ihre Körper rötlich und golden. Nach langem Aufstieg erreichten sie die Plateaufläche. Sie erstreckte sich vor ihnen, so weit das Auge reichte, eine öde Wüste aus weißem Sand, hier und da von großen, zerklüfteten Massen schwarzer Felsen unterbrochen. Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne röteten weite Flächen des Sandes. Die ungeheure Ausdehnung des Himmels war ausgefüllt mit unheilverkündend geformten Wolken und wilden Farben. Der eisig über die Wüste fegende Wind warf ihnen feine Sandpartikel schmerzhaft gegen die Gesichter. »Wohin bringen Sie uns jetzt?« fragte Maskull. »Er, der die alte Weisheit bewacht, muß diese Weisheit mir übergeben, damit ich sie verändere. Was er sagt, werden andere sagen. Ich gehe Maugier suchen.« »Und wo wollen Sie ihn suchen in diesem leeren Land?« Spadevil zeigte nach Norden, ohne einen Augenblick zu zögern. »Es ist nicht so weit«, sagte er. »Er hat die Gewohnheit, in jener Gegend zu bleiben, wo das Plateau der heiligen Ebene den Wald von Womflash überragt. Vielleicht wird er dort sein, aber ich weiß es nicht gewiß.« Maskull blickte zu Tydomin. Ihre eingesunkenen Wangen und die
dunklen Ringe unter den Augen verrieten den Grad ihrer Erschöpfung. »Die Frau ist müde, Spadevil«, sagte er. Sie lächelte. »Es ist nur ein weiterer Schritt in das Land des Todes. Ich kann es schaffen. Geben Sie mir Ihren Arm, Maskull.« Sie legte ihren Arm in seine angewinkelte Linke, und so gestützt, ging sie an seiner Seite weiter. »Die Sonne ist untergegangen«, sagte Maskull. »Werden wir hinkommen, bevor es dunkel ist?« »Fürchten Sie nichts; der Schmerz der Erschöpfung verzehrt das Böse in Ihrer Natur. Der Weg, den Sie gehen, kann nicht unbegangen bleiben. Wir werden zur rechten Zeit eintreffen.« Die Sonne war hinter fernen, unbekannten Gebirgsketten verschwunden. Der Himmel flammte in unwirklichen Farben. Der Wind wurde kälter. Sie passierten einige abflußlose Tümpel farblosen Regenwassers, an deren Ufern jemand Fruchtbäume gepflanzt hatte. Maskull aß einige von den Früchten. Sie waren hart, bitter und adstringierend; er konnte den Geschmack nicht aus dem Mund bringen, aber er fühlte sich gestärkt und erfrischt. Nirgendwo sonst waren Bäume oder Büsche zu sehen. Keine Tiere erschienen, weder Vögel noch Insekten. Es war ein trostloses und verlassenes Land. Zwei oder drei Kilometer weiter näherten sie sich wieder dem Plateaurand. Weit unten, zu ihren Füßen, begann der große Wald von Womflash. Aber das Tageslicht war dort unten längst vergangen; Maskulls Augen blickten in eine vage Dunkelheit hinunter, in der keine Einzelheiten mehr zu erkennen waren. Er glaubte das ferne Rauschen des Windes in ungezählten Baumwipfeln zu hören. Im rasch sinkenden Licht trafen sie plötzlich auf einen Mann. Er stand auf einem Bein in einem Wassertümpel. Felsblöcke hatten ihn vor ihren Augen verborgen. Das Wasser reichte ihm kaum bis ans Knie. Neben seiner Hand steckte ein Dreizack im Schlamm, der demjenigen ähnelte, den Maskull diesseits des Disscourn gesehen hatte. Doch war dieser viel kleiner als der Wegweiser.
Sie machten am Rand des Teichs halt und warteten. Der Mann erblickte sie, setzte sein anderes Bein ins Wasser, zog seinen Dreizack heraus und watete zu ihnen ans Ufer. »Dies ist nicht Maulger, sondern Catice«, sagte Spadevil. »Maulger ist tot«, sagte Catice. Er sprach wie Spadevil, aber mit einem noch rauheren Akzent, der von Maskulls Ohren als schmerzhaft empfunden wurde. Catice war ein großer und kraftvoller Mann, den das Alter gebeugt hatte. Er trug nichts als einen Lendenschurz. Sein Rumpf war lang und schwer, mit faltiger Haut, während seine Beine in der Proportion zu kurz aussahen. Sein Gesicht war bartlos und gelblich, durchzogen von tiefen Furchen, in denen alter Schmutz saß. Sein schwarzes Haar war ungekämmt und spärlich. Statt der Doppelmembrane von Spadevil besaß er nur eine einzige, und die saß in der Mitte seiner Stirn. Spadevils dunkle, solide Gestalt hob sich von denen seiner Begleiter ab wie eine Wirklichkeit zwischen Träumen. »Ist der Dreizack an dich weitergegeben worden?« fragte er. »Ja. Warum hast du diese Frau auf die heilige Ebene gebracht?« »Ich habe noch etwas anderes mitgebracht. Ich habe den neuen Glauben gebracht.« Catice stand starr, und seine Augen schauten beunruhigt von einem zum andern. »Sag, was es ist.« »Soll ich mit vielen Worten sprechen oder mit wenigen?« »Wenn du sagen willst, was nicht ist, so werden viele Worte nicht hinreichen. Wenn du aber sagen willst, was ist, so werden wenige Worte genug sein.« Spadevil blickte finster. »Das Vergnügen zu hassen, bringt Stolz mit sich. Stolz ist ein Vergnügen. Um das Vergnügen abzutöten, müssen wir uns der Pflicht zuwenden. Wenn der Geist das richtige Handeln plant, hat er keine Zeit, an das Vergnügen zu denken.« »Ist das alles?« fragte Catice. »Die Wahrheit ist einfach, selbst für den einfachsten Mann.« »Zerstörst du Hator und alle seine Generationen mit einem
einzigen Wort?« »Ich zerstöre den Irrtum und verkünde das Gesetz.« Eine lange Stille folgte. »Meine Sonde ist doppelt«, sagte Spadevil. »Erlaube mir, deine zu verdoppeln, und du wirst sehen, wie ich sehe.« »Komm du hierher, du großer Mann!« sagte Catice zu Maskull. Maskull trat einen Schritt näher. »Folgst du Spadevil in seinem neuen Glauben?« »Bis in den Tod«, antwortete Maskull. Catice hob einen Stein auf. »Mit diesem Stein lösche ich eine deiner beiden Sonden aus. Wenn du nur eine hast, wirst du mit mir sehen, und du wirst dich an Spadevil erinnern. Wähle du dann den überlegenen Glauben, und ich werde deiner Wahl folgen.« »Ertragen Sie diesen geringen Schmerz, Maskull«, sagte Spadevil. »Um des Heils der zukünftigen Menschheit willen.« »Der Schmerz bedeutet mir nichts«, sagte Maskull, »doch ich fürchte das Resultat.« »Erlauben Sie mir, obwohl ich nur eine Frau bin, seinen Platz einzunehmen, Catice«, sagte Tydomin und streckte ihre Hand nach ihm aus. Er schlug heftig mit dem Stein danach und riß sie vom Handgelenk bis zum Daumen auf; das Blut floß dunkel und rann von ihren Fingerspitzen. »Was bringt diese Frau hierher?« sagte er rauh. »Wie gedenkt sie die Lebensregeln für die Söhne Hators zu gestalten?« Sie biß auf die Unterlippe und trat zurück. »Nun, Maskull, tun Sie es!« »Wenn er mich darum ersucht, muß ich es tun«, sagte Maskull. »Aber wer weiß, was daraus werden wird?« Spadevil sagte: »Von allen Abkömmlingen Hators ist Catice der großherzigste und aufrichtigste. Er wird mit den Füßen auf meiner Wahrheit trampeln und glauben, ich sei ein vom Former entsandter Dämon, der das Werk dieses Landes zerstören soll. Aber ein Samenkorn wird entkommen und mein Blut und das Ihre, Tydomin, wird es nähren. Dann werden die Menschen wissen, daß mein
zerstörendes Übel in Wahrheit ihr höchstes Gut ist. Aber keiner von uns hier wird leben und das sehen.« Maskull ging nun auf Catice zu und bot ihm seinen Kopf. Catice hob seine Hand, und nachdem er den scharfkantigen Stein einen Moment stoßbereit gehalten hatte, schlug er ihm mit Gewandtheit und Kraft in die linke Sonde. Maskull brüllte vor Schmerz auf. Blut strömte über sein Gesicht, und die Funktion des Organs war zerstört. Keiner sagte ein Wort, während er schwankend und gekrümmt auf und ab ging und versuchte, den Blutfluß zu stillen. Erst als er sich aufgerichtet hatte, die Rechte mit einem Gewandfetzen auf die Wunde gepreßt, nahm Tydomin das Wort. »Was fühlen Sie jetzt, Maskull? Was sehen Sie?« Ihre Stimme klang besorgt und ängstlich. Er blieb stehen und starrte sie lange an. »Ich sehe jetzt klar«, sagte er langsam. »Was bedeutet das?« Er wischte wieder Blut von der Stirn. Er sah besorgt und bekümmert aus. »Von nun an werde ich mit meiner Natur kämpfen und mich weigern, Vergnügen zu empfinden, solange ich lebe. Und ich rate Ihnen, das gleiche zu tun.« Spadevil blickte ihn streng an und fragte: »Verleugnen Sie meine Lehre?« Maskull erwiderte den Blick ohne Furcht. Spadevils sonderbare Klarheit der Gestalt war von ihm gewichen; Maskull wußte, daß das finsterblickende Gesicht des anderen nur die täuschende Fassade eines schwachen und verwirrten Intellekts war. »Sie ist falsch.« »Ist es falsch, sich für einen anderen aufzuopfern?« fragte Tydomin. »Ich kann noch nicht argumentieren«, sagte Maskull. »In diesem Moment erscheint mir die Welt mit ihrer Süßigkeit eine Art Leichenhaus zu sein. Ich fühle eine Abscheu für alles darin, mich selbst eingeschlossen. Mehr weiß ich nicht.« »Gibt es keine Pflicht?« fragte Spadevil erregt und mit rauh krächzender Stimme.
»Sie scheint mir nur ein Umhang zu sein, unter dem wir das Vergnügen anderer Leute teilen.« Tydomin zupfte Spadevil am Arm. »Maskull hat Sie betrogen, wie er so viele andere betrogen hat. Lassen Sie uns gehen.« Doch er rührte sich nicht von der Stelle. »Sie haben sich schnell geändert, Maskull«, sagte er düster. Maskull wandte sich zu Catice, ohne ihm zu antworten. »Warum fahren die Menschen fort, in dieser schändlichen Welt zu leben, wenn sie sich töten können?« »Schmerz ist die Atemluft von Surturs Kindern. Zu welcher anderen Luft willst du entkommen?« »Surturs Kinder? Ist Surtur nicht der Former?« »Es ist die größte aller Lügen. Es ist des Formers Meisterstück.« »Antworten Sie, Maskull!« drängte Spadevil. »Verwerfen Sie das rechte Handeln?« »Lassen Sie mich in Ruhe. Gehen Sie zurück! Ich denke nicht an Sie und Ihre Ideen. Ich wünsche Ihnen nichts Schlechtes.« Es wurde rasch dunkel. Lange Stille folgte seinen Worten. Catice warf den Stein fort und hob seinen Stab auf. »Die Frau muß umkehren«, sagte er. »Sie ist überredet worden, hierherzukommen, sie tat es nicht freiwillig. Du, Spadevil, mußt sterben – Abtrünniger der du bist!« Tydomin sagte leise: »Er hat keine Macht, dies zu erzwingen. Wollen Sie zulassen, daß die Wahrheit in den Dreck getreten wird, Spadevil?« »Sie wird mit meinem Tod nicht untergehen, sondern durch meine Anstrengungen, dem Tod zu entgehen. Catice, ich nehme dein Urteil an.« Tydomin lächelte erschöpft. »Was mich betrifft, so bin ich zu müde, um heute noch weiterzugehen, also werde ich mit ihm sterben.« Catice sagte zu Maskull: »Beweise deine Aufrichtigkeit. Töte diesen Mann und seine Mätresse, wie die Gesetzes Hators es verlangen.«
»Das kann ich nicht. Ich bin in Freundschaft mit ihnen gereist.« »Sie haben die Pflicht geleugnet; und nun müssen Sie Ihre Pflicht tun«, sagte Spadevil, gelassen seinen Bart streichend. »Welches Gesetz Sie auch immer anerkennen, Sie müssen ihm gehorchen, ohne sich nach links oder rechts zu wenden. Ihr Gesetz befiehlt, daß wir gesteinigt werden müssen; und bald wird es ganz dunkel sein.« »Besitzen Sie nicht einmal dieses Maß an Mannhaftigkeit?« fragte Tydomin. Maskull seufzte tief. »Sie sind mein Zeuge, Catice, daß es mir aufgezwungen wurde.« »Hator sieht zu, und er billigt es«, erwiderte Catice. Maskull ging langsam zu den Felsblöcken neben dem Teich. Er blickte suchend umher und wählte zwei große Brocken aus, die schwersten, die er tragen zu können glaubte. Mit diesen kam er zurückgewankt. Er ließ sie auf den Boden fallen und stand da, während er verschnaufte. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: »Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Gibt es keine Alternative? Schlafen Sie heute nacht hier, Spadevil, und gehen Sie am Morgen zurück, woher Sie gekommen sind. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun.« Spadevils ironisches Lächeln wurde von der Dunkelheit verschluckt. »Soll ich noch ein weiteres Jahr meditieren und nachdenken, Maskull, und danach mit anderen Wahrheiten hierherkommen? Kommen Sie, verschwenden Sie keine Zeit, aber nehmen Sie den schwereren Stein für mich, denn ich bin kräftiger als Tydomin.« Maskull hob einen der Felsbrocken über den Kopf und trat vier Schritte zurück. Spadevil stand ihm gegenüber, aufrecht, und wartete ruhig. Der schwere Brocken flog durch die Luft. Sein Flug war wie ein dunkler Schatten. Er traf Spadevil voll ins Gesicht, zermalmte es und brach ihm den Hals. Er starb sofort. Tydomin wandte entsetzt den Blick ab. »Tun Sie es schnell, Maskull, und lassen Sie ihn nicht auf mich
warten!« schrie sie. Keuchend hob er den zweiten Felsbrocken hoch. Sie stellte sich vor Spadevils Leichnam, kalt und mit verschlossenem Gesicht. Der Stein traf sie zwischen Brust und Kinn, und sie stürzte. Maskull ging zu ihr, kniete nieder und hielt ihren Kopf in den Armen. So hauchte sie ihr Leben aus. Er legte sie nieder und kauerte eine Weile reglos, während er aufmerksam in das Gesicht der Toten spähte. Die Verwandlung von dem vergeistigten, heroischen Ausdruck zu der vulgären, grinsenden Maske des Kristallmanns kam wie ein Blitz; doch er sah sie. Er stand auf, packte Catice am Arm und zog ihn zu den Toten. »Ist dies das wahre Gesicht des Formers?« »Es ist der Former, wie er sich dem darbietet, der alle Illusionen abgelegt hat.« »Wie ist es zur Existenz dieser scheußlichen Welt gekommen?« Catice antwortete nicht. »Wer ist Surtur?« »Du wirst ihm morgen näherkommen; aber nicht hier.« »Ich wate durch zuviel Blut«, sagte Maskull. »Nichts Gutes kann daraus erwachsen.« »Fürchte nicht Veränderung und Zerstörung; dagegen fürchte Gelächter und Freude.« Maskull dachte nach. »Sagen Sie mir, Catice. Wenn ich mich entschieden hätte, Spadevil zu folgen, würden Sie wirklich seinen Glauben angenommen haben?« »Er hatte eine große Seele«, erwiderte Catice. »Ich sehe, daß der Stolz unserer Männer nur ein weiterer Auswuchs von Vergnügen ist. Morgen werde auch ich die heilige Ebene verlassen, um über all dies zu meditieren.« Maskull schauderte. »Dann waren diese zwei Tötungen nicht eine Notwendigkeit, sondern ein Verbrechen!« »Er hat seinen Teil getan, und von nun an würde die Frau nur seine Ideen mit ihrer weichlichen Liebe und Loyalität herabgezogen haben. Bedauere nichts, Fremder, aber geh sofort aus dem Land.«
»Heute nacht? Wohin soll ich gehen?« »Nach Womflash, wo du die tiefsten Geister finden wirst. Ich werde dich auf den Weg bringen.« Der Alte schob seinen Arm unter den Maskulls, und sie gingen in die Nacht. Einen Kilometer oder mehr wanderten sie am Rand des Abgrunds entlang. Der Wind pfiff und wehte ihnen Staub und Sandkörner in die Gesichter. Durch die Risse in den Wolken wurden Sterne sichtbar, schwach und kalt glitzernd. Maskull sah keine vertrauten Sternbilder. Er fragte sich, ob die Sonne der Erde sichtbar sein mochte, und wenn es sich so verhielt, welcher von den Sternen sie war. Sie gelangten zum oberen Ende einer zweiten in den Fels geschlagenen Treppe, die durch die Steilwände abwärts führte. Sie ähnelte sehr der anderen, über die er heraufgekommen war; aber diese führte hinab in den Wald von Womflash. »Das ist dein Weg«, sagte Catice. »Und ich werde nicht weiter mit dir gehen.« Maskull hielt ihn zurück. »Sagen Sie mir nur dies, bevor wir uns trennen – warum erscheint uns Vergnügen so schändlich?« »Weil wir im Rausch des Vergnügens unsere Heimat vergessen.« »Und das ist…?« »Muspel«, antwortete Catice. Mit dieser Auskunft machte er sich los, kehrte Maskull den Rücken und verschwand in der Dunkelheit. Maskull tappte die Treppe hinunter, so gut er konnte. Er war müde und ermattet, doch er verachtete seine Schwäche und seine Schmerzen. Während einer nicht enden wollenden Zeitspanne ließ er sich langsam von Stufe zu Stufe hinunter, und allmählich, als er sich dem Fuß der Felswand näherte, wurde das Rauschen und Seufzen des Windes in den Baumwipfeln lauter. Die Luft wurde warm, der schneidende Wind wurde unmerklich zu einer lauen Brise. Undurchdringliche Schwärze war um ihn. Endlich erreichte er ebenen Boden. Als er mechanisch weiterging, begann er über Wurzeln zu stolpern und prallte gegen Stämme.
Nachdem dies einige Male geschehen war, beschloß er, in dieser Nacht nicht weiterzugehen. Er scharrte trockenes Laub für ein Lager zusammen und ließ sich darauf fallen. Beinahe augenblicklich versank er in tiefen und traumlosen Schlaf.
13 Er erwachte zu seinem dritten Tag auf Tormance. Seine Glieder schmerzten. Er lag auf der Seite und starrte stumpfsinnig in seine Umgebung. Der Wald war wie Nacht, jene Periode der Nacht, wenn die graue Dämmerung anbricht und die Bäume und Äste zu erraten sind, aber noch nicht klar gesehen werden können. Zwei oder drei erstaunliche Schattengestalten, breit wie Häuser, ragten in die Dämmerung. Er merkte nicht, daß sie Bäume waren, bis er sich auf den Rücken wälzte und ihren Gestalten mit seinem Blick aufwärts folgte. Weit oben, so hoch, daß er die Höhe nicht zu schätzen wagte, sah er ihre Wipfel vor einem winzigen Flecken blauen Himmels im Sonnenlicht schimmern. Nebelschwaden zogen über den Waldboden, hingen wie ausgebreitete Schleier zwischen den gewaltigen Stämmen und behinderten die Sicht. Das Laub unter ihm war feucht und vermodert, und allenthalben fielen schwere Tropfen aus der Höhe auf den Waldboden herab. Hin und wieder wurde er von ihnen getroffen. Er blieb liegen und versuchte, die Ereignisse des vorangegangenen Tages zu rekonstruieren. Sein Gehirn war lethargisch und verwirrt. Irgend etwas Entsetzliches war geschehen. Aber was es war, konnte er lange Zeit nicht zusammenbringen… Dann stand ihm plötzlich jene gräßliche Szene auf dem dunklen Plateau vor Augen – Spadevils zermalmtes und blutiges Gesicht und Tydomins im Blut erstickendes Röcheln… Ihn schauderte, und er erbrach sich. Der moralische Imperativ, der diese brutalen Morde diktiert hatte,
war während der Nacht von ihm gewichen, und nun begriff er, was er getan hatte… Den ganzen vergangenen Tag lang schien er unter einem Bann nach dem anderen gestanden zu haben, deren Zauber seinen Geist umnachtet hatten. Zuerst hatte Oceaxe ihn versklavt, dann Tydomin, dann Spadevil, und zuletzt Catice. Sie hatten ihn zu Gewalt und Bluttaten gezwungen, und er hatte es nicht gewußt, sondern geglaubt, daß er als ein freier und vernünftiger Fremdling reise… Welchem Zweck diente diese Alptraumwanderung – und würde es auch in Zukunft so bleiben? Die Stille des Waldes war so intensiv, daß er außer dem Pochen des Bluts in seinen Schläfen und dem Fallen der Tropfen auf den Waldboden kein Geräusch hörte. Als er seine Stirnwunde befühlte, entdeckte er, daß seine verbliebene Sonde verschwunden war und daß er im Besitz von drei Augen war. Das dritte Auge war in der Mitte seiner Stirn, wo der alte Sorb gewesen war. Er konnte nicht erraten, wozu dieses Auge gut war. Seinen dritten Arm hatte er behalten, aber er war ohne Gefühl. Nun zerbrach er sich lange Zeit den Kopf mit unfruchtbaren Versuchen, sich des Namens zu entsinnen, den Catice zuletzt ausgesprochen hatte. Endlich resignierte er und stand mit der Absicht auf, seine Wanderung fortzusetzen. Er hatte kein Wasser, sich zu waschen, und keine Mahlzeit zu bereiten. Der Wald war überwältigend. Der nächste Baum schien einen Umfang von mindestens dreißig Metern zu haben. Andere, schemenhaft aus dem trüben Zwielicht ragende Stämme sahen genauso groß aus. Aber was der Szenerie ihren Aspekt von immenser Größe gab, waren die weiten Räume, die einen Baum vom nächsten trennten. Es war wie eine gigantische übernatürliche Halle in einem Leben nach dem Tode. Die untersten Äste waren fünfzig Meter oder mehr vom Boden entfernt. Es gab kein Unterholz; eine dicke, federnde Schicht der toten, feuchten Blätter bedeckte den Boden, und das war alles. Er blickte umher, um eine Orientierung zu finden, doch die Klippen des Hochplateaus, über die er herabgestiegen war, waren nicht zu sehen. Der Wald bot
in allen Richtungen den gleichen Anblick, und er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Er wurde ängstlich und begann laut mit sich selbst zu reden. Er legte den Kopf in den Nacken, starrte nach oben und versuchte, nach der Richtung des Sonnenlichts die Orientierung zu finden, aber es war unmöglich. Während er dort stand, ängstlich und zögernd, hörte er die Trommeln. Die rhythmischen Schläge kamen aus einiger Entfernung, und es hörte sich an, als marschiere der unsichtbare Trommler durch den Wald und entferne sich dabei von ihm. »Surtur!« murmelte er unwillkürlich. Dann wunderte er sich, daß er den Namen gesagt hatte. Dieses mysteriöse Wesen war nicht in seinen Gedanken gewesen, noch gab es irgendeine denkbare Verbindung zwischen ihm und dem Trommeln. Er begann zu überlegen, doch unterdessen entfernten die Geräusche sich weiter. Er begann mechanisch in die gleiche Richtung zu gehen. Die Trommelschläge hatten eine Eigenheit – obgleich sie in dieser Umgebung etwas Mystisches und Unwirkliches hatten, war nichts Furchterregendes in ihnen; im Gegenteil, sie gemahnten Maskull an einen Ort und ein Leben, mit dem er völlig vertraut war. Wieder verursachten sie, daß ihm all seine anderen Sinneseindrücke falsch erschienen. Die Geräusche waren intermittierend. Sie pflegten eine Minute oder fünf Minuten anzudauern, und dann für vielleicht eine Viertelstunde aufzuhören. Maskull folgte ihnen, so gut er konnte. Obwohl er vom tiefen Laub behindert wurde, schritt er energisch aus, um die Quelle des Geräuschs einzuholen, doch die Distanz schien immer die gleiche zu bleiben, so sehr er auch eilen mochte. Allmählich begann sich der Waldboden abzusenken. Es war ein sehr sanftes Gefälle – vielleicht ein halber Meter auf zehn Schritte. Doch an manchen Stellen war es steiler, und anderswo ging es längere Zeit eben dahin. Dann kamen ausgedehnte Sümpfe, durch die Maskull platschen mußte, und die sein Vorankommen sehr behinderten. Es war ihm gleichgültig, wie naß er wurde – wenn er nur diesen Trommler einholte. Kilometer um Kilometer legte er
zurück, doch es schien sich nichts geändert zu haben. Die Trommelschläge erklangen so fern, wie sie am Anfang gewesen waren. Das düstere Zwielicht des Waldes begann ihn zu bedrücken. Er war müde und verzagt. Seit einer geraumen Weile hatte er die Trommelschläge nicht mehr gehört und war halb geneigt, die Verfolgung aufzugeben. Als er um einen gewaltigen, säulenartigen Baumstamm kam, prallte er beinahe gegen einen Mann, der hinter der Rundung stand. Er hatte sich mit einer Hand gegen den Stamm gestützt und schien auszuruhen. Seine andere Hand lag an einem Stab. Maskull blieb stehen und starrte ihn an. Der andere war nackt und von hünenhafter Gestalt. Er überragte Maskull um Haupteslänge. Sein Gesicht und Körper waren schwach phosphoreszierend, und seine Augen – drei an der Zahl – waren blaßgrün und leuchtend wie kleine Lampen. Seine Haut war haarlos, doch auf seinem Kopf türmte sich schwarzes Haar in dicken, schwarzen Flechten, die wie bei einer Frau aufgesteckt waren. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck absoluter Ruhe, doch dicht unter der Oberfläche schien eine furchtbare, geballte Energie zu liegen. Nachdem Maskull sich gefaßt hatte, redete er den Fremden an. »Ist das Trommeln von Ihnen gekommen?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Wie ist Ihr Name?« Der Hüne öffnete den Mund und antwortete mit einer angestrengten, halb quietschenden, halb krächzenden Stimme. Maskull entnahm ihr, daß der Name ›Dreamsinter‹ lautete. »Was ist das für ein Getrommel?« »Surtur«, sagte Dreamsinter. »Ist es ratsam für mich, ihm zu folgen?« »Warum?« »Vielleicht will er es. Er brachte mich von der Erde hierher.« Dreamsinter legte seine großen Hände auf Maskulls Schultern, zog den Kopf ein und spähte vorwärtsgebeugt in Maskulls Gesicht.
»Nicht Sie, aber Nightspore.« Dies war das erstemal seit seiner Ankunft auf dem Planeten, daß Maskull Nightspores Namen hörte. Er war so verdutzt, daß ihm im Moment keine weiteren Fragen einfielen. »Essen Sie dies«, sagte Dreamsinter. »Dann werden wir das Geräusch zusammen jagen.« Er hob etwas auf und gab es Maskull. Er konnte es nicht deutlich sehen, aber es fühlte sich wie eine harte, runde Nuß an, von der Größe einer Faust. »Ich kann sie nicht aufschlagen.« Dreamsinter nahm sie zwischen die Hände und brach sie in Stücke. Nun aß Maskull etwas von dem breiig-fleischigen Innern der Frucht, das äußerst unangenehm schmeckte. »Was tue ich hier in Tormance?« fragte er. »Sie kamen, Muspel-Feuer zu stehlen, um den Menschen ein tieferes Leben zu geben – ohne jemals zu überlegen, ob Ihre Seele diesen Feuerbrand würde ertragen können.« Maskull konnte die hervorgepreßten Worte kaum verstehen. »Muspel… Das ist der Name, an den ich mich zu erinnern versuchte, seit ich aufwachte.« Dreamsinter legte den Kopf auf die Seite und schien angestrengt zu lauschen. Er bedeutete Maskull mit der Hand, still zu sein. »Ist es das Trommeln?« »Schsch! Still, sie kommen.« Der vertraute Trommelrhythmus war wieder hörbar, und diesmal wurde er von den Tritten marschierender Füße begleitet. Maskull sah drei Männer im Gänsemarsch durch den Wald näherkommen. Jeder war vom anderen nur durch einen engen Zwischenraum getrennt. Sie kamen in einem schnellen Schritt und blickten weder nach links oder nach rechts. Sie waren nackt. Ihre Gestalten leuchteten in einem blassen, übernatürlichen Licht vor dem finsteren Hintergrund des Waldes – grün und geisterhaft. Als sie ungefähr sieben Meter entfernt auf gleicher Höhe mit ihm waren, erkannte er auch, wer sie waren. Der erste Mann war er selbst – Maskull. Der zweite war Krag. Der dritte Mann war Nightspore. Ihre
Gesichter waren grimmig, entschlossen und starr. Die Quelle des Getrommels war nicht zu entdecken. Das Geräusch schien von irgendeinem Punkt vor ihnen zu kommen. Maskull und Dreamsinter setzten sich in Bewegung, um mit den schnell gehenden Männern Schritt zu halten. Als sie es taten, begann eine leise Musik zu erklingen. Ihr Rhythmus paßte zu den Trommelschlägen, aber anders als diese schien sie nicht von einem bestimmten Punkt auszugehen. Sie ähnelte der subjektiven Musik, wie man sie in Träumen hört, die den Träumer überallhin begleitet, gleichsam als eine natürliche Atmosphäre, die all seine Erlebnisse emotionalisiert. Diese Musik schien von einem unirdischen Orchester auszugehen und war aufwühlend, pathetisch und tragisch. Maskull marschierte und lauschte; und als er lauschte, wurde sie lauter und stürmischer. Aber der Pulsschlag der Trommel durchdrang alle anderen Klänge wie das stille Schlagen der Wirklichkeit. Seine emotionale Entrückung vertiefte sich. Er hätte nicht sagen können, ob Minuten oder Stunden vergingen. Die geisterhafte Prozession marschierte weiter, ein kleines Stück voraus und auf einem Pfad, der parallel zu seinem und Dreamsinters Weg verlief. Die Musik pulsierte heftig. Krag hob den Arm und hatte plötzlich ein langes, mörderisch aussehendes Messer in der Hand. Er sprang vorwärts, hob es über den Rücken des Maskull-Phantoms und stieß zweimal zu. Beim zweiten Stich ließ er das Messer in der Wunde. Der geisterhafte Körper Maskulls warf die Arme hoch und brach tot zusammen. Krag rannte davon und verschwand im Wald. Nightspore marschierte allein weiter, ernst und unbewegt. Die Musik erhob sich zum Crescendo. Der ganze trübe, gigantische Wald heulte, donnerte und brüllte von ihren Klängen. Sie kamen von allen Seiten, von oben, vom Boden unter ihren Füßen, und die Musik war so großartig leidenschaftlich, daß Maskull fühlte, wie seine Seele sich aus ihrer körperlichen Hülle löste. Er fuhr fort, Nightspore zu folgen. Eine seltsame Helligkeit begann vor ihnen aufzuglühen. Es war kein Tageslicht, sondern eine
Strahlung, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte und wie er sie niemals für möglich gehalten hätte. Nightspore bewegte sich gerade darauf zu. Maskull fühlte seine Brust bersten. Das Licht flammte höher. Die schrecklichen Harmonien der Musik folgten einander wie die Wellen eines wilden, magischen Ozeans… Sein Körper war unfähig, solche Erschütterungen zu ertragen, und auf einmal stürzte er in einer todesähnlichen Ohnmacht nieder.
14 Der Morgen verging. Nach langer Zeit machte Maskull einige krampfhafte Bewegungen und öffnete die Augen. Er setzte sich auf und blinzelte. Dann starrte er umher. Im Wald war alles still. Das seltsame Licht war verschwunden, die Musik hatte aufgehört, Dreamsinter war nirgendwo zu sehen. Er befingerte seinen Bart, der klumpig war von Tydomins geronnenem Blut, und verfiel in tiefes Nachdenken. ›Nach Panawes und Catices Worten beherbergt dieser Wald weise Männer‹, dachte er. ›Vielleicht war Dreamsinter einer von ihnen. Vielleicht war diese Vision, die ich gerade sah, eine Probe seiner Weisheit. Sie sah beinahe wie eine Antwort auf meine Frage aus… Ich hätte nicht Fragen über mich selbst stellen sollen, sondern über Surtur. Dann hätte ich eine andere Antwort erhalten und etwas lernen können… Ich hätte ihn sehen können.‹ Er verharrte eine Weile in stummer Apathie. ›Aber ich konnte diesem schrecklichen Licht nicht standhalten‹, dachte er weiter. ›Es zersprengte meinen Körper. Vielleicht war es eine Warnung von ihm… Auch von ihm. Also existiert Surtur wirklich, und meine Reise hat einen Sinn… Aber warum bin ich hier, und was kann ich tun? Wo ist Surtur? Wo kann ich ihn finden?‹ Er starrte mit wildem Blick suchend umher. ›Was meinte Dreamsinter mit seinem ,Nicht du, sondern
Nightspore’? Bin ich eine sekundäre Figur? Wird er als wichtig angesehen und ich als unwichtig? Wo ist Nightspore, und was macht er? Soll ich warten, bis seine Zeit kommt und bis es ihm gefällt… Kann ich nichts hervorbringen?‹ Er saß aufrecht, mit ausgestreckten Beinen, die Hände im Schoß, und starrte ins dämmrige Zwielicht des Waldes. ›Ich muß mir klarmachen, daß dies eine seltsame Reise ist‹, sagte er sich, ›und daß die seltsamsten Dinge dabei geschehen. Es hat keinen Sinn, Pläne zu machen, denn ich kann keine zwei Schritte voraussehen – alles ist unbekannt. Aber eins ist evident… nur die wildeste Kühnheit wird mir durchhelfen, und ich muß dem alles andere unterordnen… Darum, wenn Surtur sich wieder zeigen sollte, werde ich auf ihn zugehen, und wenn es meinen Tod bedeutet.‹ Durch die dunklen, stillen Weiten des Waldes waren wieder die Trommelschläge zu hören. Das Geräusch war weit entfernt und sehr schwach. Es war wie ein letztes fernes Donnergrollen nach einem schweren Gewitter. Maskull lauschte, ohne aufzustehen. Das Trommeln verwehte in der Stille und kehrte nicht wieder. Maskull lächelte und sagte laut: »Danke, Surtur! Ich nehme das Omen an.« Als er aufstehen wollte, fand er, daß die welke, runzlige Haut, die sein dritter Arm gewesen war, bei jeder Bewegung seines Körpers lästig hin und her baumelte. Er machte mit den Fingernägeln beider Hände Perforationen hinein, so nahe an seiner Brust wie möglich, dann drehte er das Anhängsel vorsichtig ab. In dieser Welt raschen Wachstums und Absterbens würde der verbliebene Stumpf bald verschwinden. Danach erhob er sich und spähte in den Wald hinein. Das Terrain zeigte ein deutliches Gefalle, und ohne länger darüber nachzudenken, schlug er wieder die Richtung ein, die ihn weiter abwärts führte, keinen Augenblick daran zweifelnd, daß sie ihn ans Ziel bringen würde. Als er weiterwanderte, wurde seine Stimmung verdrießlich und pessimistisch – er war müde, schmutzig und hungrig; überdies war ihm klar, daß die Wanderung keine kurze sein würde. Doch er war entschlossen, nicht wieder zu rasten, bevor der
ganze Wald hinter ihm lag. Hoch über ihm, wo die Kronen der Bäume ein zusammenhängendes, dichtes Dach bildeten, gab es immer wieder winzige Flecken von Blau, wo der Himmel sichtbar war; bis auf diesen Anhaltspunkt hatte er keinerlei Hinweis auf die Tageszeit. Er stapfte mißmutig viele Kilometer durch feuchtes, schlüpfriges Gelände hangabwärts, mußte oft durch Sümpfe und morastige Strecken. Als die Dämmerung ein wenig lichter zu werden schien, vermutete er, daß offenes Land nicht mehr weit sein konnte. Der Wald wurde deutlicher erkennbar, und nun sah Maskull seine Majestät besser. Die Baumstämme waren wie runde Türme, und so weit waren die Abstände, daß man, stand man in der Mitte, sich in einem natürlichen Amphitheater wähnte. Er konnte die Farbe der Borke nicht bestimmen. Alles, was er sah, verblüffte ihn, aber seine Bewunderung war knurrend und widerwillig… Der Unterschied in der Helligkeit zwischen dem Wald hinter ihm und dem Wald vor ihm wurde nun so deutlich, daß das Ende nicht mehr fern sein konnte, und als er zurückblickte, sah er, daß er einen Schatten hatte. Die Stämme nahmen eine rötliche Färbung an. Er beschleunigte seinen Schritt. Als die Minuten verstrichen, wurde die Helligkeit vor ihm leuchtender und lebhafter; sie hatte einen blauen Farbton. Er bildete sich auch ein, daß er Brandungsgeräusche hörte. Je näher er dem Waldrand kam, desto prächtiger präsentierte der Wald sich in seinen Farben. Die Stämme der Bäume waren von einem tiefen, dunklen Rot; ihr Laub wies alle Schattierungen von Grün und Gelb auf, und die toten Blätter auf dem Boden bildeten einen gesprenkelten Teppich aus braunen, roten, gelben und anderen Farbtönen, die er nicht benennen konnte. Zur gleichen Zeit entdeckte er die Verwendbarkeit seines dritten Auges. Indem es seiner Sicht einen dritten Winkel hinzufügte, trat jeder Gegenstand, den er ansah, plastischer hervor. Die Welt sah weniger flach und eindimensional und mehr realistisch und bedeutsam aus. Er fühlte sich von seiner Umgebung stärker angezogen und schien irgendwie seinen Egoismus zu verlieren und frei und nachdenklich zu werden.
Er kam durch die letzten Ausläufer des Waldes und sah ins volle Tageslicht. Weniger als vierhundert Meter trennten ihn von den äußersten Bäumen, und er beschleunigte seinen Schritt, unfähig, seine Neugierde zu bezähmen. Die Brandungsgeräusche wurden lauter. Es war ein eigenartiges, rhythmisches Rauschen und Zischen, das nur von Wellen herrühren konnte, die sich an einem Strandufer brachen, aber dennoch war es anders als am Meer. Nicht lange, und er sah einen weiten Horizont von Wasser und tanzenden Wellen, und er wußte, daß er am Ufer des Sees der Versunkenen stehen mußte. Er verlangsamte seinen Schritt wieder, nun ganz damit beschäftigt, die neue Szenerie mit seinen Blicken zu erforschen. Ein warmer, frischer und süßer Wind wehte ihn an. Als er unter den Bäumen des Waldrands hinaustrat und die weiten Sandflächen des Ufers vor sich sah, lehnte er sich an einen gewaltigen Baum und genoß den Anblick. Der Strand, auf der einen Seite von den anrollenden, schaumgekrönten Wellen begrenzt, auf der anderen Seite von der grünen Wand des Waldes, zog sich in einer geraden Linie nach Osten und Westen hin, hier und da von den Einmündungen kleiner Bäche unterbrochen. Alles andere war See und Himmel – er hatte den Eindruck, am Ufer eines Ozeans zu stehen. Der Halbkreis des Horizonts war so ungeheuer, daß es ihm nicht schwerfiel, sich die Welt als eine Scheibe vorzustellen, wo die Sichtweite nur von der Schärfe seiner Augen bestimmt wurde. Das Wasser erinnerte Maskull an einen immensen flüssigen Opal. Auf der Grundfarbe eines großartigen, satten Smaragdgrüns blitzten rote, gelbe und blaue Lichter, schossen auf und verschwanden. Bei näherem Hinsehen bemerkte er rasch fließende Strömungen wie Flüsse im See, die parallel zum Strand oder seewärts strömten; sie waren von einem dunkleren Grün mit starken Beimischungen von Blau. Wo das Wasser auf den Strand lief, brachen sich die Wellen in grünweißem Gischt, und kristallklare Wasserzungen leckten den weißen Sand. Etwas zu seiner Rechten und ungefähr dreißig Kilometer entfernt erhoben sich die Umrisse einer langen, niedrigen Insel aus dem See,
ein dunkler, unregelmäßiger Strich ohne erkennbare Einzelheiten. Das mußte Swaylones Insel sein. Maskull interessierte sich weniger dafür als für den blauen Sonnenuntergang, der hinter seinem Rücken glühte. Alpain stand unter dem Horizont, aber der gesamte Nordhimmel erstrahlte in seinem Widerschein. Branchspell näherte sich dem Zenit und war weiß und überwältigend, der Tag war wolkenlos und furchtbar heiß; aber wo die blaue Sonne versunken war, schien ein düsterer Schatten über der Welt zu hängen. Maskull hatte ein Gefühl von Auflösung – als ob zwei chemisch verschiedene Kräfte gleichzeitig auf die Zellen seines Körpers einwirkten. Da schon der Widerschein Alpains ihn so beeinflußte, glaubte er, daß er niemals imstande sein würde, sich dieser Sonne selbst auszusetzen und weiterzuleben… Doch es mochte sein, daß eine Modifikation seines Körpers ihn eines Tages dazu befähigen würde. Das Wasser lockte ihn. Er beschloß zu baden, verließ den Schatten des Waldrands und ging über den weißen Sand. In dem Augenblick, als er aus der Schattenlinie der Waldbäume trat, schlugen die blendenden Strahlen der Sonne so wild auf ihn herab, daß er taumelte und sich minutenlang elend fühlte. Als er über den Strand wankte, sah er, daß es Partien gab, die violett gefärbt waren, und andere, die die Farbe von Orangen hatten. Die orangefarbenen Stellen waren beinahe heiß genug, um Fleisch darauf zu braten, aber die violetten Stellen waren wie das Feuer selbst. Er trat nichtsahnend auf einen solchen Flecken und sprang augenblicklich mit einem erschrockenen Aufschrei in die Luft. Das Wasser war warm wie in einer Badewanne. Es wollte sein Gewicht nicht tragen, also beschloß er zu schwimmen. Doch zuerst entledigte er sich seines Tierfells, wusch es gründlich mit Sand und Wasser und legte es zum Trocknen in die Sonne. Dann rieb er sich selbst ab so gut er konnte, und wusch seine Haare und seinen Bart aus. Danach watete er weit hinaus, bis das Wasser seine Brust erreichte, und begann langsam zu schwimmen. Es war kein Vergnügen. Das Wasser war überall von ungleichmäßiger Dichte. An manchen Stellen konnte er schwimmen,
an anderen konnte er sich kaum vor dem Ertrinken retten, und an wieder anderen war es ihm überhaupt nicht möglich, unter die Oberfläche zu gelangen. Es gab keine äußeren Zeichen, die anzeigten, was das Wasser voraus für ihn bereithielt… Die ganze Sache schien ihm höchst gefährlich. Er kehrte zum Strand zurück und fühlte sich sauber und gekräftigt. Eine Weile ging er am Strand auf und ab, trocknete sich im heißen Sonnenschein und blickte umher. Er war ein nackter Fremder in einer gewaltigen, fremdartigen, mystischen Welt, und wohin er sich auch wandte, funkelten ihn unbekannte und drohende Mächte an. Die gigantische weiße Sonne Branchspell mit ihrer sengenden Hitze, der schreckliche Körper und Seele verändernde Alpain, der schöne, tödliche, verräterische See, die dunkle und unheimliche Insel dort draußen, der finstere, den Geist erdrückende Wald, aus dem er eben entkommen war – welche Hilfsquellen hatte er, ein schwacher, unwissender Reisender von einem winzigen Planeten auf der anderen Seite des Raums, sich all diesen mächtigen Kräften entgegenzustellen und der völligen Vernichtung zu entgehen?… Dann lächelte er und murmelte: »Ich bin schon zwei Tage hier und lebe noch immer. Ich habe Glück – und damit kann man das Universum im Gleichgewicht halten… aber was ist Glück? Ein verbaler Ausdruck oder ein Ding?« Als er seine Tierhaut anlegte, die inzwischen getrocknet war, kam ihm die Antwort in den Sinn, und seine vorübergehende Heiterkeit machte wiederkehrendem Ernst Platz. ›Surtur brachte mich hierher‹, dachte er, ›und Surtur wacht über mich. Das ist mein sogenanntes Glück… Aber was ist Surtur in dieser Welt? Wie kann er mich gegen die blinden und unberechenbaren Kräfte der Natur schützen? Ist er stärker als die Natur?‹ So hungrig er auf Essen war, noch mehr hungerte ihn nach menschlicher Gesellschaft, denn er wünschte über alle diese Dinge Klarheit zu gewinnen. Er fragte sich, in welche Richtung er gehen sollte. Es gab nur zwei Richtungen: entweder nach Osten oder nach Westen das Ufer entlang. Der nächste Bach mündete im Osten,
ungefähr einen Kilometer von seinem Standort entfernt. Er ging darauf zu. Der Waldrand stand wie eine grüngoldene und enorm hohe Mauer. Maskull wanderte im Schatten der Bäume, aber meistens blickte er hinaus zum Wasser, denn das Licht und die Bewegung der Wellen zogen seinen Blick unwiderstehlich an. Die vermeintliche Bacheinmündung erwies sich beim Näherkommen als eine Bucht des Sees, breit und von flachen Böschungen gesäumt. Ihr stilles, dunkelgrünes Wasser schob sich landeinwärts bis in den Wald vor. Die Bäume auf beiden Seiten breiteten ihre mächtigen Äste über dem Wasser aus, so daß es ganz in Schatten lag. Maskull folgte dem Ufer bis zu einer Landzunge, hinter der der glatte Spiegel eines kleinen, vom Wald umstandenen Sees erschien. Auf einem lehmigen Uferstreifen des Verbindungskanals saß ein Mann mit den Füßen im Wasser. Er trug eine derbe, rohe Tierhaut, die Arme und Beine frei ließ, und er war kurz, stämmig und dick, mit säulenförmigen Beinen und unverhältnismäßig langen und mächtigen Armen, die in außergewöhnlich großen Händen endeten. Er war schon älter, hatte ein einfaches, ausdrucksarmes Gesicht, das walnußbraun und voller Runzeln war. Gesicht und Kopf waren haarlos, und seine Haut war vom Wetter gegerbt. Er schien ein Bauer oder Fischer zu sein; in seinem Gesicht war keine Spur von Feingefühl oder Mitgefühl für andere. Er besaß drei Augen, von denen eins jadegrün und zwei blau waren. Vor ihm schwamm ein primitives Floß im Wasser, das er am Ufer vertäut hatte. Es bestand aus Ästen und Zweigen, die unbeholfen zusammengebunden waren. Maskull sprach ihn an. »Sind Sie einer von den weisen Männern, die in diesem Wald leben?« Der Mann blickte auf und antwortete in einer barschen, heiseren Stimme, die keinerlei Überraschung verriet: »Ich bin Fischer. Ich weiß nichts über Weisheit.« »Mein Name ist Maskull.« »Ich bin Polecrab. Was bist du?«
»Ein Wanderer«, sagte Maskull. »Wenn du ein Fischer bist, solltest du Fische haben. Ich bin am Verhungern.« Polecrab grunzte und ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Es gibt Fisch genug. Mein Abendessen liegt schon draußen im Sand und wird gebraten. Es ist nicht schwierig, etwas mehr zu besorgen.« Maskull fand diese Mitteilung erfreulich. Er lächelte. »Aber wie lang wird es dauern?« fragte er. Der Mann klatschte in die Hände, hob die Füße aus dem Wasser und stand auf. Gleich darauf kam ein seltsames kleines Tier zum Vorschein, lief zu ihm und setzte sich vor seine Füße. Es hob den Kopf und blickte mit großen Augen zärtlich zu ihm auf wie ein Hund. Es war etwa einen halben Meter lang und erinnerte an einen Fischotter oder einen kleinen Seehund, hatte aber sechs Beine, die in kräftigen Krallenfüßen endeten. »Arg, geh fischen«, sagte Polecrab heiser. Das Tier wandte sich mit einer eleganten, gleitenden Bewegung um und tauchte ins Wasser. Es schwamm schnell und anmutig zur Mitte des Verbindungskanals und tauchte dann unter die Oberfläche. Lange blieb es unsichtbar. »Eine einfache Methode«, bemerkte Maskull. »Aber wozu ist das Floß da?« »Um auf den See hinauszufahren. Die besten Fische sind draußen.« »Dieser Arg scheint ein sehr intelligentes Tier zu sein.« Polecrab grunzte. »Ich habe fast hundert von ihnen auf Fischfang dressiert. Die Großköpfe lernen am besten, aber sie sind langsame Schwimmer. Die Schmalköpfe schwimmen wie Aale, aber es ist schwierig, ihnen was beizubringen. Nun habe ich damit angefangen, die beiden Sorten zu kreuzen – er ist einer von ihnen.« »Lebst du allein hier?« »Nein, ich habe eine Frau und drei Jungen. Meine Frau schläft irgendwo, aber wo die Jungen sind, weiß nur der Former.« Maskull begann sich bei diesem einfachen Menschen sehr zu Hause zu fühlen. Er betrachtete das primitive Floß und sagte: »Das
ist ein verrücktes Ding. Wenn du damit weit in den See hinausfährst, hast du mehr Mut als ich.« »Ich war damit schon bis Matterplay«, sagte Polecrab. Der Arg kam wieder an die Oberfläche und schwamm zum Ufer, aber diesmal langsam und unbeholfen, als ob er ein schweres Gewicht zu befördern hätte. Als er zu Füßen seines Herrn landete, sahen sie, daß jedes Beinpaar einen Fisch hielt. Polecrab nahm sie ihm ab und streichelte den Kopf des Tiers. Dann schnitt er den Fischen mit einem scharfkantigen Stein die Köpfe und Schwänze ab, die er dem Arg vorwarf. Während das Tier zu fressen begann, nickte Polecrab Maskull zu und trug die Fische zum offenen Strand, wo er sie aufschnitt, die Eingeweide entfernte und in einem Flecken violetten Sandes ein flaches Loch grub. In dieses legte er die drei vorbereiteten Fische und bedeckte sie mit dem Sand. Dann ging er ein kleines Stück weiter und grub seine eigene Mahlzeit aus. Maskull lief das Wasser im Munde zusammen, als er den köstlichen Duft des gedämpften Fischs in seine Nase bekam, aber seine Essenszeit war noch nicht gekommen. Polecrab, der sich mit den gekochten Fischen in seinen Händen zum Gehen wandte, sagte: »Dies sind meine, nicht deine. Wenn deine gar sind, kannst du zurückkommen und dich zu mir setzen, vorausgesetzt, du willst Gesellschaft.« »Wie lange wird es dauern, bis die Fische gar sind?« »Etwa zwanzig Minuten«, erwiderte der Fischer über die Schulter. Maskull zog sich in den Schatten des Waldrands zurück und wartete. Als die angegebene Zeit verstrichen sein mochte, grub er seine Mahlzeit mit einem Stein aus und versengte sich trotzdem die Finger, obwohl der Sand nur an der Oberfläche so brennendheiß war. Dann wischte er sorgfältig den Sand ab und ging mit seiner Mahlzeit zurück zu Polecrab. In der warmen stillen Luft und im angenehmen Schatten des Kanalufers aßen sie genießerisch und schweigend. Er war noch vor Polecrab fertig, der wie ein Mann aß, für den Zeit keine Bedeutung hat. Dann saß er und betrachtete das dunkelgrüne,
stille Wasser und wartete, bis Polecrab fertig war. Als der Fischer gegessen hatte, stand er auf und nickte Maskull zu. »Komm und trink«, sagte er mit seiner heiseren, rauhen Stimme. Maskull schaute ihn fragend an. Der Mann führte ihn ein kleines Stück in den Wald zu einem bestimmten Baum. Ein Loch war in Brusthöhe in den Stamm gebohrt und mit einem Holzstöpsel verschlossen. Polecrab entfernte den Stöpsel und legte den Mund an die Öffnung, wo er zu saugen begann. Maskull, der ihn beobachtete, bildete sich ein, daß ein neuer Glanz in Polecrabs Augen kam. Polecrab trank lange, und als Maskull an die Reihe kam, fand er den Baumsaft im Geschmack ein wenig wie Kokosmilch, aber berauschend. Es war jedoch eine neue Art von Rausch, denn weder sein Wille noch seine Emotionen wurden angeregt, nur sein Intellekt – und auch der nur in einer bestimmten Art und Weise. Seine Gedanken und Vorstellungen wurden nicht gelockert und befreit, sondern arbeiteten und schwollen im Gegenteil schmerzhaft an, bis sie die volle Schönheit der Ausdruckskraft erreichten, die dann in seinem Bewußtsein aufflammte, zerplatzte und verschwand. Danach begann der Prozeß von neuem. Aber es gab nicht einen Augenblick, wo er nicht völlig kühl und Herr seiner Sinne gewesen wäre. Als jeder zweimal getrunken hatte, steckte Polecrab den Stöpsel in die Öffnung, und sie kehrten an ihren Uferplatz zurück. »Ist es schon Blodsombre?« fragte Maskull, satt und zufrieden auf dem Boden liegend. Polecrab nahm seine ursprüngliche sitzende Position wieder ein und steckte die Füße ins Wasser. »Fängt gerade an«, antwortete er heiser. »Dann muß ich hier haltmachen, bis es vorbei ist… Wollen wir uns unterhalten?« »Können wir machen«, sagte der Fischer ohne Enthusiasmus. Maskull blickte ihn durch halbgeschlossene Lider an und fragte sich, ob Polecrab wirklich der einfache, unwissende Fischer war, der zu sein er vorgab. Er glaubte ein Licht von Weisheit in den Augen des Mannes auszumachen.
»Hast du viele Reisen gemacht, Polecrab?« »Nicht was du Reisen nennen würdest.« »Du sagst, du seist in Matterplay gewesen – was für ein Land ist das?« »Ich weiß es nicht. Ich war nur dort, um Feuersteine zu sammeln.« »Welche Länder liegen jenseits davon?« »Threal kommt als nächstes, wenn du nach Norden gehst. Man sagt, es sei ein Land von Mystikern… Ich weiß es nicht.« »Mystikern?« »Das hörte ich jedenfalls… Noch weiter nördlich liegt Lichstorm.« »Wie ist es dort?« »Es gibt dort Berge… Und es muß eine sehr gefährliche Gegend sein, besonders für einen vollblütigen Mann wie dich… Nimm dich in acht.« »Das ist mir ziemlich voreilig, Polecrab. Woher weißt du, daß ich dorthin gehe?« »Da du von Süden gekommen bist, nehme ich an, daß du nach Norden willst.« »Nun, das ist richtig«, sagte Maskull und starrte ihn mit erwachendem Mißtrauen an. »Aber woher weißt du, daß ich aus dem Süden gekommen bin?« »Nun, vielleicht kommst du von anderswo… Aber du hast was von Ifdawn an dir.« »Was?« »Einen tragischen Blick«, sagte Polecrab. Er sah Maskull nicht an, sondern starrte unverwandt ins Wasser. »Was liegt jenseits von Lichstorm?« fragte Maskull nach einer Weile. »Barey, wo du zwei Sonnen statt einer hast – aber außer dieser einen Sache weiß ich nichts darüber… dann kommt der Ozean…« »Und was ist auf der anderen Seite des Ozeans?« »Das mußt du selber herausfinden, denn soviel ich weiß, ist noch nie jemand hinübergefahren und wieder zurückgekommen.« »Wie kommt es, daß ihr so wenig für Abenteuer übrig habt? Ich
scheine der einzige zu sein, der aus Neugierde reist, um Land und Leute kennenzulernen.« »Wie meinst du das?« »Nun – du weißt nicht, daß ich überhaupt nicht von diesem Planeten bin, Polecrab. Ich bin von einer anderen Welt gekommen.« »Und was suchst du hier?« »Ich kam mit Krag und Nightspore hierher – um Surtur zu folgen. Ich muß bei der Ankunft ohnmächtig geworden sein. Als ich zu mir kam, war es Nacht, und die anderen waren verschwunden. Seitdem durchwandere ich das Land aufs Geratewohl.« Polecrab kratzte sich bedächtig die Nase. »Und du hast Surtur noch nicht gefunden?« »Ich habe sein Trommeln häufig gehört. Heute morgen im Wald kam ich ziemlich nahe… Und vor zwei Tagen sah ich eine Vision – ein Wesen in Menschengestalt, das sich Surtur nannte.« »Nun, vielleicht war es Surtur.« »Nein, das ist unmöglich«, antwortete Maskull nachdenklich. »Es war der Kristallmann… Und das sage ich nicht, weil ich es vermutete– ich weiß es.« »Wie?« »Weil dies die Welt des Kristallmanns ist, und Surturs Welt ist etwas völlig anderes.« »Das ist komisch, dann«, sagte Polecrab. »Seit ich aus diesem Wald gekommen bin«, sagte Maskull, mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber, »ist eine Veränderung über mich gekommen, und ich sehe die Dinge anders. Hier sieht alles viel fester und realer aus als in anderen Orten… So sehr, daß es nicht die geringsten Zweifel an der Existenz all dieser Dinge hier gibt. Es sieht nicht nur wirklich aus, es ist wirklich – und darauf würde ich mein Leben setzen. Gleichzeitig aber ist es bei aller Realität falsch…« »Wie ein Traum?« »Nein, ganz und gar nicht wie ein Traum, und gerade das ist es, was ich erklären möchte. Deine Welt hier – und vielleicht ist es auch
meine, was das angeht – vermittelt mir nicht den leisesten Eindruck eines Traums, einer Illusion oder etwas dergleichen. Ich weiß, alles ist in diesem Moment wirklich hier, und es ist genauso, wie wir es sehen, du und ich, und doch ist es falsch. Es ist falsch in diesem Sinne, Polecrab: Seite an Seite mit ihr existiert eine andere Welt, und diese andere Welt ist die richtige, und diese ist falsch und trügerisch bis zum Kern… und so scheint mir, daß Wirklichkeit und Falschheit zwei Worte für die gleiche Sache sind.« Polecrab spuckte ins Wasser und sah zu, wie seine Spucke sich langsam auf der Oberfläche verteilte. »Vielleicht gibt es so eine andere Welt«, sagte er. »Aber kam dir diese Vision auch wirklich und zugleich falsch vor?« »Sehr wirklich, aber damals nicht falsch, dann ich verstand sie noch nicht. Aber gerade weil sie wirklich war, konnte es nicht Surtur sein, der keine Verbindung mit der Realität hat.« »Kamen dir diese Trommelschläge wirklich vor?« »Ich hörte sie mit meinen Ohren, und so kamen sie mir wirklich vor… Dennoch waren sie irgendwie anders, und sie kamen gewiß von Surtur. Wenn ich sie nicht richtig hörte, lag es an mir und nicht an ihm.« Polecrab nickte langsam. »Wenn Surtur in dieser Art und Weise zu dir spricht, scheint es, daß er dir etwas sagen will.« »Natürlich. Aber, Polecrab, was ist deine Meinung – ruft er mich in das Leben nach dem Tod?« Der alte Mann reckte sich unbehaglich. »Ich bin nur ein Fischer«, sagte er nach einer längeren Pause. »Ich lebe davon, daß ich töte, und das tun alle. Dieses Leben scheint mir ganz falsch zu sein. Also ist vielleicht Leben jeder Art falsch, und Surturs Welt ist überhaupt nicht Leben, sondern was anderes.« »Ja, aber wird der Tod mich hinführen, was immer es ist?« »Frag die Toten«, sagte Polecrab, »und nicht einen Lebendigen.« »Im Wald hörte ich Musik und sah ein Licht, das nicht zu dieser Welt gehört haben konnte«, fuhr Maskull fort. »Die Musik und das Licht waren zu stark für meine Sinne, und ich muß lange bewußtlos
gewesen sein. Auch hatte ich eine Vision, in der ich mich selbst getötet sah, während Nightspore allein auf das Licht zuging.« Polecrab stieß sein Grunzen aus. »Ich sehe, du hast genug, worüber du dir den Kopf zerbrechen kannst.« »So stark ist mein Gefühl von der Unwahrhaftigkeit dieses gegenwärtigen Lebens«, sagte Maskull nach einer Pause, »daß es soweit kommen mag, daß ich meinem Leben selbst ein Ende mache.« Der Fischer blieb ruhig und unbewegt. Maskull wälzte sich herum, daß er auf dem Bauch lag, stützte sein Gesicht in die Hände und starrte ihn an. »Was denkst du, Polecrab? Ist es einem lebenden Menschen möglich, einen genaueren Blick in diese andere Welt zu werfen, als ich es getan habe?« »Ich bin ein unwissender Mann, Fremder, also kann ich dazu nichts sagen. Vielleicht gibt es viele wie du, die es gern wissen würden.« »Wo? Ich würde gern mit ihnen zusammenkommen!« »Glaubst du, du seist aus einem Holz geschnitzt, und der Rest der Menschheit aus einem anderen?« »So anmaßend bin ich nicht… Ich könnte mir denken, daß alle Menschen ihre Hände nach Muspel ausstrecken, in den meisten Fällen, ohne sich dessen bewußt zu sein.« »In die falsche Richtung«, sagte Polecrab. Maskull schaute ihn verdutzt an. »Wieso?« »Ich spreche nicht aus eigener Weisheit«, sagte Polecrab, »denn ich habe keine. Aber ich habe mich gerade erinnert, was Broodviol mir einmal erzählte, als ich ein junger Mann war und er ein alter. Er sagte, der Kristallmann versuche alle Dinge in eins zu verwandeln, und wohin seine Gestalten auch gingen, um ihm zu entkommen, sie fänden sich am Ende immer wieder dem Kristallmann gegenüber und würden in neue Kristalle verwandelt. Er sagte mir auch, daß dieses Wandern von Phantomgestalten dem unbewußten Verlangen entspringe, Surtur zu finden, es führe aber in die falsche Richtung, weil Surturs Welt nicht auf dieser Seite von der einen liege, die der
Beginn des Lebens war, sondern auf der anderen Seite; und um hinzukommen, müßten wir durch die eine zurückgehen. Aber dies könne nur geschehen, indem wir unserem Selbst entsagten und uns mit der Welt des Kristallmanns wieder vereinigten, und wenn dies geschehen sei, so sei damit erst ein Schritt getan; obwohl es viele kluge Männer gebe, die sich einbildeten, es sei die ganze Reise… Das ist ungefähr, was Broodviol sagte, soweit ich mich erinnern kann, aber ich war damals ein junger und unwissender Mann, und es kann sein, daß ich Worte ausgelassen habe, die die Bedeutung besser erklären würden.« Maskull, der aufmerksam gelauscht hatte, nickte nachdenklich. »Es ist klar genug«, sagte er. »Aber was meinte er mit unserer Wiedervereinigung mit der Welt des Kristallmanns? Wenn sie falsch ist, sollen wir uns auch falsch machen?« »Ich stellte ihm diese Frage nicht, und du kannst sie genausogut beantworten wie ich.« »Er muß gemeint haben, daß jeder von uns in einer falschen, eigenen Privatwelt lebt, einer Welt von Träumen und Gelüsten und verzerrten Wahrnehmungen… Indem wir die große Welt umarmen, verlieren wir nichts von Wahrheit und Realität.« Polecrab zog die Füße aus dem Wasser, stand auf, gähnte und reckte die Arme. »Ich habe dir gesagt, was ich weiß«, sagte er in einem mürrischen Ton. »Nun laß mich schlafen gehen.« Maskull sah zu, wie der alte Mann sich mit steifen Bewegungen niederlegte und die Augen schloß. Während er sich noch räkelte, um eine bequeme Ruhelage zu finden, wurden hinter den beiden Männern Schritte laut, die aus der Richtung des Waldes kamen. Maskull wandte den Kopf und sah eine Frau herankommen. Er vermutete sofort, daß es Polecrabs Frau sei. Er setzte sich auf, doch der Fischer rührte sich nicht. Die Frau kam und stand vor ihnen und blickte auf sie herab. Sie trug ein Fellkleid wie ihr Mann, das jedoch länger war und ihre Beine bis zu den Waden bedeckte. Sie war noch jung, schlank und
hielt sich sehr aufrecht. Ihre Haut war gebräunt, und sie sah kräftig aus, aber nicht bauernhaft derb. Alles an ihr zeugte von Verfeinerung. Ihr Gesicht hatte für eine gewöhnliche Frau zuviel Energie des Ausdrucks, und sie war nicht schön. Ihre drei großen Augen blitzten unter einer großen aufgetürmten Masse feinen blonden Haares, das achtlos aufgesteckt war, so daß ihr einige Strähnen über die Schultern fielen. Sie hatte eine ziemlich dünne Stimme, aber voll von Lichtern und Schatten, und irgendwie schien eine verborgene Leidenschaftlichkeit mitzuklingen. »Verzeiht, daß ich eurem Gespräch gelauscht habe«, sagte sie. »Ich ruhte hinter diesem Baum da und hörte alles.« Maskull stand langsam auf. »Ich bin Maskull«, stellte er sich vor. »Sie ist meine Frau«, sagte Polecrab, ohne die Augen zu öffnen, »und ihr Name ist Gleameil. Setz dich wieder, Fremder – und du auch, Frau, da du schon hier bist.« Beide gehorchten. »Ich hörte alles«, wiederholte Gleameil. »Aber was ich nicht hörte, war, wohin du von hier aus gehen willst, Maskull.« »Ich weiß es nicht.« »Paß auf, ich weiß etwas. Es gibt nur einen Ort für dich, wohin du gehen kannst, und das ist Swaylones Insel. Ich werde dich selbst hinüberfahren, bevor die Sonne untergeht.« »Was soll ich dort? Was werde ich dort finden?« »Er kann gehen, wenn er will«, warf der alte Mann mit heiserer Stimme ein, »aber ich erlaube nicht, daß du mitgehst, Frau. Ich werde ihn selbst übersetzen.« »Nein, du hast mich immer vertröstet«, sagte Gleameil mit Nachdruck. »Diesmal will ich hinüber. Nachts, wenn Teargeld scheint und ich hier am Ufer sitze und Earthrids Musik lausche, die schwach über das Wasser weht, quält es mich. Ich kann es nicht mehr ertragen… Schon lange habe ich mich entschlossen, zur Insel zu gehen und nachzusehen, was es mit dieser Musik auf sich hat. Wenn es etwas Schlechtes ist, wenn es mich umbringt – nun…«
»Was habe ich mit dem Mann und seiner Musik zu tun, Gleameil?« fragte Maskull. »Ich glaube, die Musik wird deine Fragen besser beantworten können, als Polecrab es getan hat… Und möglicherweise in einer Art, die dich überraschen wird.« »Was für eine Musik kann es sein, deren Klang all diese Meilen über das Wasser weht?« »Eine besondere Art von Musik, hörten wir. Nicht angenehm, sondern schmerzhaft. Und der Mann, der Earthrids Instrument spielen kann, sei imstande, die verblüffendsten Formen und Gestalten zu beschwören, heißt es, die keine Phantome seien, sondern echt.« »Das mag so sein«, grollte Polecrab. »Aber ich war bei Tageslicht auf der Insel, und was fand ich dort? Menschliche Gebeine, neue und alte. Die sind alle von Earthrids Opfern… Darum sollst du nicht gehen, Frau.« »Aber wird diese Musik heute nacht erklingen?« fragte Maskull. »Ja«, erwiderte Gleameil, die ihn unverwandt ansah. »Wenn Teargeld aufsteigt, der unser Mond ist.« »Wenn Earthrid Menschen umbringt, dann sollte sein eigener Tod fällig sein. In jedem Fall würde ich diese Klänge gerne einmal hören. Aber was dein Anerbieten betrifft, mich überzusetzen, Gleameil – Frauen sterben auf Tormance zu leicht. Erst heute habe ich das Blut einer Frau von mir abgewaschen.« Gleameil lachte, sagte aber nichts. »Nun geh schlafen«, sagte Polecrab. »Wenn die Zeit kommt, werde ich dich selbst übersetzen.« Er schloß die Augen. Auch Maskull legte sich wieder nieder und versuchte zu schlafen; doch Gleameil blieb aufrecht und mit untergeschlagenen Beinen sitzen. Nach einigen Minuten fragte sie leise: »Wer war diese Frau, Maskull?« Er tat, als schliefe er.
15 Als er erwachte, war es nicht mehr so hell, und er vermutete, daß es später Nachmittag sein mußte. Polecrab und seine Frau waren beide auf den Beinen, und eine Fischmahlzeit war gekocht und wartete auf ihn. »Ist nun entschieden, wer mit mir gehen wird?« fragte er, bevor er sich setzte. »Ich gehe«, sagte Gleameil. »Ist es dir recht, Polecrab?« Der Fischer knurrte nur ein wenig und bedeutete ihnen, das Essen nicht zu vergessen. Er selbst nahm noch einen Mundvoll, bevor er antwortete. »Etwas Übermächtiges zieht sie dorthin, und ich kann sie nicht zurückhalten. Ich glaube nicht, daß ich dich jemals wiedersehen werde, Frau, aber die Jungen sind jetzt fast alt genug, um sich selbst durchzuschlagen.« »Sieh die Dinge nicht so schwarz«, erwiderte Gleameil streng. »Ich werde zurückkommen, und alles wird wieder gut sein. Es ist nur für eine Nacht.« Maskull blickte unbehaglich von der Frau zu dem Alten und zurück, dann raffte er sich auf und sagte: »Laßt mich allein fahren. Es würde mir leid tun, wenn etwas geschähe. Ich würde mir Vorwürfe machen.« Gleameil schüttelte den Kopf. »Du darfst dies nicht als eine Weiberlaune ansehen«, sagte sie. »Selbst wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich diese Musik bald hören müssen. Mich hungert danach.« »Hast du keine solchen Gefühle, Polecrab?« »Nein. Eine Frau ist ein feinfühliges Geschöpf, und es gibt in der Natur Anziehungskräfte, die zu fein sind, als daß ein Mann wie ich davon berührt würde. Nimm sie mit dir, weil sie es sich in den Kopf
gesetzt hat. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht wird Earthrids Musik deine Fragen beantworten, und vielleicht auch die ihren.« »Welche Fragen hast du, Gleameil?« Die Frau warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu. »Eine Frage, die Musik als Antwort verlangt, kann nicht in Worte gefaßt werden.« »Wenn du morgen früh nicht zurück bist«, bemerkte ihr Mann, »werde ich wissen, daß du tot bist.« Die Mahlzeit wurde in gespanntem Schweigen beendet. Polecrab wischte sich den Mund und zog das Gehäuse einer Seeschnecke aus seinem Tragbeutel. »Willst du dich von den Jungen verabschieden? Soll ich sie rufen?« Nachdem sie einen Moment überlegt hatte, nickte sie. »Ja… ja, ich will sie sehen.« Er setzte das Schneckengehäuse an den Mund und blies; ein lauter, traurig klagender Ton erfüllte die Luft. Einige Minuten später näherten sich Schritte, und die Jungen kamen aus dem Wald. Maskull betrachtete neugierig die ersten Kinder, die er auf Tormance sah. Der älteste Junge trug den Jüngsten auf dem Rücken, während der dritte einige Schritte hinterhertrottete. Das Kind wurde auf den Boden gelassen, und alle drei stellten sich vor Maskull auf und starrten ihn mit großen Augen an. Polecrab schaute gleichmütig zu, aber Gleameil wandte ihre Augen nach dem ersten Blick von den Kindern ab, einen gequälten Ausdruck im Gesicht. Maskull schätzte die Jungen auf neun, sieben und fünf Jahre, nach Erdzeit. Der Älteste war groß und schlank, mit sehnigen Armen und Beinen. Er war wie seine Brüder nackt, und alle sahen sie gesund und gebräunt aus. Die Züge des Ältesten deuteten auf eine wilde und kühne Natur hin, und seine Augen waren wie grüne Feuer. Der zweite versprach ein breitschultriger, kraftvoller Mann zu werden. Sein Kopf war groß und schwer, mit einer breiten Stirn und festem Kinn. Seine Augen waren für ein Kind beinahe zu düster und durchdringend.
»Dieser«, sagte Polecrab und zupfte den Jungen am Ohr, »wird vielleicht eines Tages ein zweiter Broodviol.« »Wer war das?« fragte der Junge, und er beugte sich aufmerksam vor, die Antwort zu hören. »Ein großer alter Mann von wunderbarer Weisheit. Er wurde weise, weil er sich entschlossen hatte, niemals Fragen zu stellen, sondern alles selbst herauszubringen.« »Hätte ich diese Frage nicht gestellt, so hättest du mir nichts über ihn erzählt.« »Das hätte auch nichts ausgemacht«, erwiderte der Vater. Das jüngste Kind war blasser und schmächtiger als seine Brüder. Sein Gesicht war rund und ruhig und noch von kleinkindhafter Ausdruckslosigkeit, doch hatte es die Besonderheit, daß es alle paar Minuten ohne erkennbaren Grund die Stirn runzelte und sehr verwundert dreinsah. Dann schienen die goldbraunen Augen des Jungen Geheimnisse zu enthalten, die mit einem Kind seines Alters schwierig in Verbindung zu bringen waren. »Er macht mir Kopfzerbrechen«, sagte Polecrab. »Er hat eine verschwiegene Seele, und er interessiert sich für nichts. Aber vielleicht wird er der Bedeutendste von allen.« Maskull nahm den Jungen mit beiden Händen und hob ihn in die Höhe. Er schaute lächelnd in das kleine Gesicht, dann setzte er ihn wieder ab. Der Junge verzog keine Miene. »Was hältst du von ihm?« fragte der Fischer. »Es liegt mir auf der Zunge, aber ich bringe es nicht ganz zusammen. Laß mich noch einmal trinken, dann werde ich es haben.« »Dann geh und trink.« Maskull ging zu dem Baum, zog den Stöpsel heraus, trank und kehrte zurück. »In späteren Zeitaltern«, sagte er bedächtig, »wird er eine große und erhabene Tradition verkörpern… Als ein Seher vielleicht, oder sogar als eine Gottheit… Gib gut auf ihn acht.« Der älteste Junge blickte verächtlich. »Ich will nicht so was sein.
Lieber möchte ich wie dieser große Kerl sein.« Und er zeigte auf Maskull. Maskull lachte und bleckte seine weißen Zähne durch den Bart. »Danke für das Kompliment, alter Krieger!« sagte er. »Er ist groß und stark«, fuhr der Junge fort, »und kann es leicht mit anderen Männern aufnehmen… Kannst du mich mit einem Arm hochheben?« Maskull tat es. Der Junge bewunderte ihn. »Genug!« sagte Polecrab ungeduldig. »Ich habe euch Jungen hergerufen, damit ihr euch von eurer Mutter verabschiedet. Sie geht mit diesem Mann fort. Ich glaube, sie wird nicht zurückkehren, aber wir wissen es nicht.« Das Gesicht des Zweitältesten wurde plötzlich dunkelrot. »Geht sie, weil sie es selbst so will?« forschte er. »Ja«, antwortete der Vater. »Dann ist sie schlecht.« Er stieß die Worte mit soviel Gewalt und Emphase hervor, daß sie wie Peitschenschläge klangen. Der Fischer gab ihm eins hinter die Ohren. »Redest du so von deiner Mutter?« Der Junge verzog das Gesicht vor Schmerz, rührte sich aber nicht von der Stelle und schwieg trotzig. Zum erstenmal tat das jüngste Kind den Mund auf und sagte: »Meine Mutter wird nicht wiederkommen, aber sie wird tanzend sterben.« Polecrab und seine Frau sahen einander an. »Wohin gehst du, Mutter?« fragte der Älteste. Gleameil bückte sich und küßte ihn. »Zur Insel.« »Nun, wenn du bis morgen früh nicht zurückgekommen bist, werde ich gehen und dich suchen.« Maskulls Unbehagen wuchs. »Dies scheint eine Reise für einen Mann zu sein«, sagte er. »Ich glaube, es würde besser sein, wenn du nicht fahren würdest, Gleameil.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde mich nicht davon abbringen lassen.«
Er strich sich verwundert den Bart und wußte nicht, was er sagen sollte. Schließlich meinte er lahm: »Ist es Zeit, aufzubrechen?« »Wir haben noch vier Stunden bis Sonnenuntergang, und die werden wir brauchen.« Maskull seufzte. »Ich werde zum Strand gehen und dort auf das Floß warten. Du wirst dich verabschieden wollen, Gleameil.« Er wandte sich zu Polecrab und ergriff die Hand des Alten. »Leb wohl, Fischer!« »Du hast mich für meine Antworten gut entlohnt«, sagte der alte Mann mit knurriger Ironie. »Aber es ist nicht deine Schuld, und in der Welt des Formers geschehen die schlimmsten Dinge.« Der älteste Junge kam zu Maskull und blickte stirnrunzelnd zu ihm auf. »Leb wohl, großer Mann!« sagte er. »Aber beschütze meine Mutter gut, so gut du kannst, oder ich werde dir folgen und dich töten.« Maskull wanderte langsam das Ufer entlang, bis er den Strand und die kleine Bucht vor sich hatte. Der strahlende Sonnenschein und die funkelnden, blitzenden Lichtreflexe auf den Wellen fegten alle Melancholie aus seinem Geist. Er ging bis auf den Strand und setzte sich dort in die Sonne. Die Strahlung Alpains war längst verschwunden. Er ließ sich den warmen, erfrischenden Wind ins Gesicht blasen, lauschte dem Zischen der auslaufenden Wellen auf dem Sand und starrte über den See hinaus zur dunklen Linie von Swaylones Insel. »Was für eine Musik kann das sein, die eine Frau und Mutter von denen losreißt, die sie am meisten liebt? Es klingt nach unheiliger Magie. Wird sie mir sagen, was ich wissen will? Kann sie es?« sagte er laut. Nach einer Weile wurde er sich einer Bewegung hinter sich bewußt, und wie er sich umwandte, sah er das Floß über die Bucht kommen. Polecrab stand aufrecht darauf und trieb es mit einer langen Stange vorwärts. Er stakte das Floß an Maskull vorbei, ohne ihn anzusehen oder zu grüßen, und durchstieß bald die Brandungswellen.
Während Maskull sich noch über dieses seltsame Verhalten Gedanken machte, kamen Gleameil und die Jungen in Sicht. Sie schlenderten langsam das Ufer des Verbindungskanals entlang. Der Älteste hielt ihre Hand und redete, die zwei anderen gingen hinter ihr. Sie war ruhig und lächelte, machte aber einen geistesabwesenden Eindruck. »Was macht dein Mann mit dem Floß?« fragte Maskull, als sie ihn erreichten. »Er bringt es in Position, und dann werden wir hinauswaten und hinaufklettern«, antwortete sie mit leiser Stimme. »Aber wie werden wir die Insel erreichen, ohne Ruder oder Segel?« »Siehst du nicht diese Strömung, die vom Land wegführt? Siehst du, er treibt das Floß hin. Sie wird uns direkt zur Insel führen.« »Aber wie wirst du zurückkommen?« »Es gibt einen Weg; aber wir brauchen heute nicht daran zu denken.« »Warum kann ich nicht auch mitkommen?« fragte der älteste Junge.« »Weil das Floß keine drei tragen wird. Maskull ist ein schwerer Mann.« »Das macht nichts«, sagte der Junge. »Ich weiß, wo es Holz für ein zweites Floß gibt. Sobald ihr fort seid, werde ich mit der Arbeit anfangen.« Polecrab hatte sein zerbrechliches Fahrzeug unterdessen zu der Stelle manövriert, die er für günstig hielt – wenige Meter von der Strömung entfernt, die an der Stelle eine scharfe Biegung machte. Er rief seiner Frau und Maskull einige Worte herüber. Gleameil küßte ihre Kinder und umarmte sie, und Maskull sah Tränen in ihren Augen. Der älteste Junge biß sich auf die Unterlippe, daß sie blutete, und auch seine Augen waren naß; aber die jüngeren Kinder starrten sie mit großen Augen an und zeigten keine Regung. Gleameil ging ins Wasser hinaus, und Maskull folgte ihr. Das Wasser reichte ihnen bis an die Knie, dann stieg es bis zu den
Hüften, aber inzwischen waren sie schon nahe am Floß. Polecrab ließ sich ins Wasser und half seiner Frau hinauf. Als sie oben war, beugte sie sich nieder und küßte ihn. Kein Wort wurde gewechselt. Maskull kletterte auf der anderen Seite an Bord, dann setzte er sich auf den Vorderteil des Fahrzeugs. Die Frau saß mit gekreuzten Beinen im Heck und ergriff die Stange. Polecrab ließ sie in die Strömung, während Gleameil mit der Stange arbeitete, bis das Floß in der Mitte des Strömungskanals war. Sofort begann es sich rasch vom Land zu entfernen. Die Jungen winkten vom Ufer. Gleameil winkte zurück. Doch Maskull kehrte dem Land den Rücken zu und blickte hinaus auf den See. Polecrab watete zum Strand zurück. Eine Stunde lang blieb Maskull reglos wie eine Statue sitzen. Das einzige Geräusch, das er hören konnte, war das Plätschern der Wellen am Floß und manchmal ein Gurgeln der Strömung, die sich seltsam glatt ihren Weg durch die unruhige Seeoberfläche bahnte. Die Luft war frisch und rein, und die Hitze von Branchspell, jetzt tief im Westen, war erträglich geworden. Das Erlebnis der Seefahrt und die Farben hatten längst alle Traurigkeit und Sorge aus seinem Herzen genommen. Doch fühlte er einen solchen Groll gegen die Frau, die selbstsüchtig ihre Familie im Stich gelassen hatte, die ihr lieb und teuer sein sollte, daß er es nicht über sich brachte, ein Gespräch zu beginnen. Aber als er über und hinter den nun größer gewordenen Umrissen der dunklen Insel eine lange Kette hoher, ferner Berge erblickte, die lachsrosa im Licht der Abendsonne glühten, zwang ihn seine Neugierde, das Schweigen mit einer Frage zu durchbrechen. »Das ist Lichstorm«, sagte Gleameil. Maskull stellte keine weiteren Fragen; aber als er sich zu ihr umgewandt hatte, war sein Blick an der rasch zurückweichenden grünen Mauer des Waldes hängengeblieben, und er starrte noch lange hinüber. Sie waren ungefähr zehn Kilometer vom Land entfernt, und nun konnte er die gewaltige Höhe der Bäume besser einschätzen. In weiter Ferne sah er das Tafelland der heiligen Ebene
über den Wäldern aufragen; und er bildete sich sogar ein, daß er Disscourn sehen konnte, war aber nicht ganz sicher. »Nun, da wir allein sind«, sagte Gleameil, den Kopf abwendend und über die Seite des Floßes ins Wasser blickend, »sag mir deinen Eindruck von Polecrab.« Maskull schwieg lange, bis er die richtige Antwort fand. »Er schien mir wie ein wolkenumhüllter Berg zu sein. Du siehst die unteren Hänge und glaubst, das sei alles. Aber dann, hoch oben, weit über den Wolken, siehst du plötzlich mehr von ihm – und selbst dann ist es noch nicht der Gipfel.« »Du bist ein guter Menschenkenner und hast eine gute Beobachtungsgabe«, bemerkte Gleameil. »Nun sag, was ich bin.« »Anstelle eines menschlichen Herzens hast du eine wilde Harfe, und das ist alles, was ich über dich weiß.« »Was war das, was du über zwei Welten zu meinem Mann sagtest?« »Du hast es gehört.« »Ja, ich hörte es, und auch ich bin mir zweier Welten bewußt. Mein Mann und meine Jungen sind wirklich für mich, und ich liebe sie sehr. Aber es gibt eine andere Welt für mich, wie es auch eine für dich gibt, Maskull, und sie läßt meine wirkliche Welt falsch und vulgär erscheinen.« »Vielleicht suchen wir das gleiche. Aber kann es recht sein, unser Selbst auf Kosten anderer Menschen zu befriedigen?« »Nein, das ist nicht recht. Es ist unrecht und niedrig… Aber in jener anderen Welt haben diese Worte keinerlei Bedeutung.« »Es ist nutzlos, solche Dinge zu diskutieren«, sagte Maskull nach kurzem Schweigen. »Wir haben jetzt keine andere Wahl mehr und müssen gehen, wohin die Strömung uns trägt. Darum wäre es besser, wir würden über das sprechen, was uns auf der Insel erwartet.« »Ich weiß es nicht – alles was ich weiß, ist, daß wir Earthrid dort finden werden.« »Wer ist Earthrid, und warum wird die Insel Swaylones Insel genannt?«
»Es heißt, Earthrid sei von Threal gekommen, doch sonst weiß ich nichts über ihn. Mit Swaylone ist es anders; wenn du willst, erzähle ich dir seine Legende.« »Bitte«, sagte Maskull. »In alter Zeit«, begann Gleameil, »als die Meere heiß waren und Wolken schwer über der Erde hingen und das Leben reich an Verwandlungen war, kam Swaylone zu dieser Insel, auf die nie zuvor ein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte, und begann seine Musik zu spielen – die erste Musik auf Tormance. Nachts, wenn der Mond schien, pflegten die Menschen sich an diesem Ufer hinter uns zu versammeln und den fernen süßen Klängen zu lauschen, die über den See herüberwehten. Eines Nachts kam der Former (den du Kristallmann nennst) zusammen mit Krag des Weges. Sie lauschten eine Weile der Musik, und der Former sagte: ›Hast du jemals schönere Klänge gehört? Dies ist meine Welt und meine Musik.‹ Krag stampfte mit dem Fuß auf und lachte geringschätzig. ›Du mußt dir schon Besseres ausdenken, wenn du willst, daß ich es bewundere. Laß uns übersetzen und diesen Pfuscher am Werk sehen.‹ Der Former willigte ein, und sie setzten zur Insel über. Swaylone aber konnte sie nicht sehen. Der Former stand hinter ihm und hauchte Gedanken in seine Seele, so daß seine Musik zehnmal lieblicher wurde, und die Menschen, die an diesem Strand lauschten, wurden krank und verrückt vor Wonne. ›Kann irgendeine Musik schöner sein?‹ fragte der Former. Krag grinste und sagte: ›Du bist natürlich effeminiert. Nun laß mich versuchen.‹ Dann trat er hinter Swaylone und schoß ihm ein paar wilde, häßliche Dissonanzen in den Kopf. Sein Instrument zerbrach beim Spielen und seitdem hat es nie wieder richtig gespielt. Seit jener Zeit konnte Swaylone nur noch verzerrte, gebrochene Musik hervorbringen; doch sie sprach die Menschen mehr an als die andere Musik. Während seiner Lebenszeit setzten viele Menschen zur Insel über, um den erstaunlichen Klängen aus der Nähe zu lauschen, aber keiner konnte sie ertragen; alle starben. Nach Swaylones Tod trat ein anderer Musiker an seine Stelle, und so ist das Licht von Fackel zu Fackel weitergegeben worden, bis heute,
wo Earthrid es trägt.« »Eine interessante Legende«, bemerkte Maskull. »Aber wer ist Krag?« »Als die Welt geboren wurde, heißt es, sei Krag mit ihr geboren worden – ein Geist aus jenen Überresten von Muspel, die der Former nicht umgestalten konnte. Danach ist mit der Welt alles schiefgegangen, denn er folgt dem Former wie ein Hund überallhin, und was der Former tut, verdirbt er. Zur Liebe gesellt er den Tod; zum Sex die Scham; zum Intellekt den Wahnsinn; zur Tugend die Grausamkeit; und zur äußeren Schönheit die blutigen Innereien. Dies sind Krags Handlungen, also nennen die Liebenden der Welt ihn ›den Teufel‹. Aber dabei verstehen die Leute nicht, daß die Welt ohne ihn ihre Schönheit verlieren würde.« »Krag und Schönheit!« sagte Maskull mit einem zynischen Lächeln. »Ja, die gleiche Schönheit, die wir jetzt entdecken wollen. Die Schönheit, um derentwillen ich meinen Mann, meine Kinder und das Glück aufgegeben habe… Dachtest du, Schönheit sei etwas Angenehmes?« »Gewiß.« »Diese angenehme Schönheit ist eine geschmacklose Verbindung, die der Former zuwege gebracht hat. Um Schönheit in ihrer schrecklichen Reinheit zu sehen, mußt du das Angenehme davon abreißen.« »Glaubst du, ich wäre unterwegs, Schönheit zu suchen, Gleameil? Eine solche Idee liegt mir fern.« Sie antwortete nicht auf seine Bemerkung. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, um zu hören, ob sie wieder sprechen würde, kehrte er ihr den Rücken zu. Es wurde nicht mehr gesprochen, bis sie die Insel erreichten. Die Luft war kühl und feucht geworden, als sie sich dem Ufer näherten. Branchspell berührte bereits den Westhorizont. Die Insel hatte eine Länge von etwa sechs oder sieben Kilometern. Im
Vordergrund sah Maskull einen breiten Sandstreifen, dahinter niedrige dunkle Felsen und hinter diesen eine kahle Wildnis aus steinigen Hügeln, die keinerlei Vegetation zu tragen schienen. Die Strömung trug sie bis auf hundert Schritte an den Strand heran, bevor sie umbog und der Küstenlinie folgte. Gleameil sprang über Brod und begann an Land zu schwimmen. Maskull folgte ihrem Beispiel, und das verlassene Floß wurde von der Strömung weitergetragen. Bald fühlten sie Grund unter den Füßen und konnten den Rest der Strecke waten. Als sie trockenen Boden erreichten, war die Sonne untergegangen. Gleameil marschierte zielstrebig auf die Hügel zu, und Maskull, nachdem er einen letzten Blick auf die fernen, niedrigen Umrisse des Waldes zu Füßen der Berge geworfen hatte, folgte ihr. Die niedrigen Felsbänke waren rasch erklettert, und auch danach blieb der Anstieg einfach und bequem. Als sie ein Stück ins Hügelland vorgedrungen waren, sahen sie zur Linken etwas Weißes durch die Dämmerung leuchten. »Du brauchst nicht hinzugehen«, sagte die Frau. »Es kann nur eins von diesen Skeletten sein, von denen Polecrab geredet hat – und sieh mal, dort drüben liegt noch eins!« »Tatsächlich. Das bringt Licht in die Sache«, sagte Maskull lächelnd. »Es ist nichts Komisches daran, für die Schönheit gestorben zu sein«, sagte Gleameil mit einem tadelnden Seitenblick. Und als sie im Verlauf ihrer Wanderung die ungezählten menschlichen Gebeine sahen, die überall herumgestreut lagen, als ob sie über einen umgepflügten Friedhof gingen, stimmte er ihr zu und versank in eine Stimmung düsterer Melancholie. Es war noch Licht am Himmel, als sie den höchsten Punkt erreichten und die andere Seite der Insel überblicken konnten. Die Fläche des Sees erstreckte sich viele Kilometer weit, und das Wasser schien sich in nichts von dem zu unterscheiden, das sie auf der anderen Seite gesehen hatten, aber seine lebhaften Farben wurden rasch stumpf und dunkel.
»Dort ist Matterplay«, sagte die Frau und zeigte zu einem flachen Landstreifen am Horizont, der noch weiter entfernt zu sein schien als Womflash. Nicht weit von der Stelle, wo sie standen, sahen sie einen kleinen, kreisrunden See, umgeben von einem Kranz kleiner Hügel. Sein Durchmesser betrug nicht mehr als einige hundert Meter. Die Farben des Sonnenuntergangs spiegelten sich in seinem ruhigen Wasser. »Das muß Irontick sein«, bemerkte Gleameil. »Was ist das?« »Ich hörte, daß es das Instrument sei, auf dem Earthrid spielt.« »Dann sind wir unserem Ziel nahe«, sagte er. »Laß uns gehen und die Gegend untersuchen.« Als sie sich dem kleinen See näherten, sahen sie am anderen Ufer einen Mann liegen, der zu schlafen schien. »Wenn das nicht unser Mann ist, wer sollte es sonst sein?« sagte Maskull. »Laß uns das Wasser überqueren, wenn es uns trägt, damit wir Zeit sparen.« Er übernahm die Führung und eilte im Laufschritt den an den See grenzenden Hang hinab. Gleameil folgte ihm mit größerer Würde, die Augen unverwandt auf den ruhenden Mann gerichtet, als sei sie von dem Anblick fasziniert. Als Maskull den Rand des Wassers erreichte, prüfte er es mit einem Fuß, um zu sehen, ob es sein Gewicht tragen würde. Etwas Ungewöhnliches in seinem Aussehen ließ ihn daran zweifeln. Es war ein zu ruhiger, dunkler und wunderbar reflektierender Wasserspiegel. Als er herausfand, daß das Wasser doch trug und weiter nichts geschah, wenn er seinen Fuß auf die Oberfläche setzte, trat er auch mit dem anderen Fuß auf das Wasser. Augenblicklich erhielt er einen starken Schlag, der wie ein elektrischer Strom seinen Körper durchzuckte und ihn zurück aufs Ufer schleuderte. Er rappelte sich auf, klopfte sich die Erde aus dem Haar und von seinen Kleidern und begann, um den See herumzugehen. Gleameil hatte sich zu ihm gesellt, und sie kamen gemeinsam bei dem Mann an. Der Fremde schlief oder tat, als ob er schliefe, und Maskull stieß
ihn mit dem Fuß an. Er wachte auf und blinzelte sie an. Sein Gesicht war blaß, schwächlich und geistesabwesend, und es hatte einen unangenehmen Ausdruck. Schwarzes Haar wuchs spärlich auf seinem Kopf und an seinem Kinn. Statt eines dritten Auges trug seine Stirn ein kreisrundes Organ mit komplizierten Wülsten und Vertiefungen, das eher wie ein Ohr aussah. Er strömte einen widerlichen Geruch aus. Maskull schätzte sein Alter auf fünfunddreißig oder vierzig Jahre. »Wachen Sie auf, Mann«, sagte Maskull barsch, »und sagen Sie uns, ob Sie Earthrid sind.« »Wie spät ist es?« fragte der Mann zurück. »Dauert es noch lang, bis der Mond aufgeht?« Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte er sich auf und wandte sich halb von ihnen ab. Dann begann er mit seiner Hand lockere Erde zusammenzuscharren und in den Mund zu stecken. Er kaute und schluckte sie halbherzig. »Wie können Sie nur diesen Schmutz essen?« fragte Maskull entsetzt und angewidert. »Reg dich nicht auf, Maskull«, sagte Gleameil und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Es ist Earthrid – der Mann, der uns helfen soll.« »Er hat es nicht gesagt.« »Ich bin Earthrid«, sagte der andere mit schwacher und vom Kauen undeutlicher Stimme, die Maskull nichtsdestoweniger autoritär erschien. »Was wollen Sie hier? Gehen Sie fort, so schnell Sie können, denn sobald der Mond aufgeht, wird es zu spät sein.« »Sie brauchen es nicht zu erklären«, sagte Maskull. »Wir kennen Ihren Ruf, und wir sind gekommen, Ihre Musik zu hören. Aber wozu dient dieses Organ an Ihrer Stirn?« Earthrids finsterer Blick wanderte von Maskull zu Gleameil und wieder zurück. »Das ist für den Rhythmus, der Geräusch erst zu Musik macht. Doch nun stehen Sie nicht herum und reden Sie nicht lange, sondern gehen Sie. Es bereitet mir kein Vergnügen, die Insel mit Leichen zu bedecken. Sie verpesten die Luft, und sonst tun sie nichts.«
Die Dunkelheit senkte sich rasch über die Landschaft. »Sie nehmen den Mund ziemlich voll, und nicht nur mit Erde«, sagte Maskull kühl. »Aber nachdem wir Sie spielen gehört haben, werde ich vielleicht selbst eine Melodie versuchen.« »Sie? Sind Sie Musiker? Wissen Sie überhaupt, was Musik ist?« Eine Flamme tanzte in Gleameils Augen. »Maskull glaubt, die Musik schlummerte nur im Instrument«, sagte sie. »Aber sie ist in der Seele des Meisters.« »Ja«, sagte Earthrid, »aber das ist nicht alles. Ich will Ihnen sagen, was es ist. In Threal, wo ich geboren und aufgewachsen bin, lernen wir das Mysterium der Drei in der Natur. Diese Welt, die ausgebreitet vor uns liegt, hat drei Richtungen. Länge ist die Linie, die das, was ist, von dem, was nicht ist, trennt. Breite ist die Oberfläche, die uns zeigt, in welcher Art und Weise ein Ding von dem, was ist, mit einem anderen Ding lebt. Tiefe ist der Pfad, der von dem, was ist, zu unserem eigenen Körper führt. In der Musik ist es nicht anders. Der Ton ist die Existenz, ohne die nichts sein kann. Symmetrie und Zahlenverhältnisse sind die Art und Weise, in der Töne miteinander existieren. Emotion ist die Bewegung unserer Seele zu der wundervollen Welt, die geschaffen wird. Nun, wenn Menschen Musik machen, sind sie es gewohnt, schöne Töne zu bauen, weil diese Vergnügen und angenehme Empfindungen auslösen. Darum beruht ihre Musikwelt auf Genuß; ihre Symmetrie ist regelmäßig und bezaubernd, ihre Gefühle sind süß, lieblich und schwermütig… Aber meine Musik beruht auf schmerzhaften Tönen; und so ist ihre Symmetrie wild, und schwierig zu entdecken; ihre Emotion ist bitter und schrecklich.« »Wenn ich nicht erwartet hätte, daß Ihre Musik besonders originell ist, wäre ich nicht gekommen«, sagte Maskull. »Doch erklären Sie mir, warum müssen rauhe oder, wie Sie sagen, schmerzhafte Töne eine besonders komplizierte Symmetrie haben? Und warum müssen sie beim Zuhörer notwendigerweise tiefere Empfindungen verursachen?« »Genuß mag harmonisieren. Schmerzen entstehen durch
Zusammenprall; und in der Ordnung der Zusammenstöße liegt die Symmetrie. Die Emotionen folgen der Musik, die rauh und ernst ist.« »Sie mögen es Musik nennen«, bemerkte Maskull nachdenklich, »aber für mich ähnelt sie mehr dem tatsächlichen Leben.« »Wenn des Formers Pläne nach seinen Wünschen verwirklicht worden wären, würde das Leben wie diese harmonische Art von Musik sein. Wer sucht, kann Spuren von dieser Absicht in der Natur finden. Aber wie sich herausgestellt hat, ähnelt das wirkliche Leben meiner Musik, und meine ist darum die wahre Musik.« »Werden wir lebende Gestalten sehen?« fragte Gleameil. »Ich weiß nicht, in welcher Stimmung ich sein werde«, erwiderte Earthrid. »Aber wenn ich geendet haben werde, kann dieser Mann hier seine Melodie versuchen und an Gestalten hervorbringen, was ihm gefällt – vorausgesetzt, er hat das Zeug dazu.« »Der Schock dieser Musik kann uns töten, heißt es«, sagte Gleameil gespannt und mit leiser Stimme. »Und die Skelette, die wir unterwegs gesehen haben, bezeugen, daß die Geschichten wahr sind. Aber wenn wir sterben müssen, werden wir sterben, während wir Schönheit sehen.« Earthrid betrachtete sie mit würdevoller Miene. »Niemand, weder Sie noch irgendeine andere Person, kann die Gedanken ertragen, die ich in meine Musik lege. Trotzdem, Sie können es nennen, wie Sie wollen… Vielleicht bedurfte es einer Frau, daß es ›Schönheit‹ genannt wurde. Aber wenn dies Schönheit ist, was ist Häßlichkeit?« »Das kann ich dir sagen, Meister«, erwiderte Gleameil lächelnd. »Häßlichkeit ist das alte, schale Leben, während deine Musik jede Nacht frisch aus dem Mutterleib der Natur entsteht.« Earthrid starrte sie an, ohne zu antworten. Nach einer langen Pause sagte er: »Teargeld geht auf. Und nun sollen Sie sehen – wenn auch nicht für lang.« Als die Worte seinen Mund verließen, blickten Maskull und Gleameil zum dunklen Osthimmel und sahen dort den Vollmond über den Hügeln stehen. Sie beobachteten ihn schweigend, und bald stieg er höher in den Himmel. Er war größer als der Erdmond und
schien näher zu sein. Die im Schatten liegenden Teile seiner Oberfläche zeigten sich wie in einem kräftigen Relief, aber irgendwie machte er auf Maskull nicht den Eindruck einer toten Welt. Branchspell beschien die ganze Scheibe, doch Alpain nur ein Teil von ihr. Der breite Sektor, der allein Branchspells Strahlen reflektierte, war weiß und brillant; aber der von beiden Sonnen angestrahlte Teil leuchtete in grünlichen Tönen, die dennoch kalt und freudlos wirkten. Wenn er dieses kombinierte Licht betrachtete, erfuhr er das gleiche Gefühl von Auflösung, das der Abglanz von Alpain immer in ihm verursacht hatte; aber nun war das Gefühl nicht physikalischer Natur, sondern nur ästhetisch. Der Mond erschien ihm nicht romantisch, sondern beunruhigend und mystisch. Earthrid stand auf und verharrte eine Minute lang ohne Bewegung. Sein Gesicht, hell im Mondlicht, schien eine Veränderung durchgemacht zu haben. Es hatte seinen schlaffen, schwachen, unangenehmen Ausdruck verloren, und eine Art von Erhabenheit angenommen, in die sich listige Selbstzufriedenheit mischte. Er klatschte zwei oder dreimal in die Hände und wanderte meditierend auf und ab. Maskull und Gleameil standen beieinander und beobachteten ihn. Dann setzte er sich am Seeufer nieder, neigte sich zur Seite und legte die rechte Hand flach auf den Boden. Gleichzeitig streckte er das reichte Bein aus, so daß der Fuß in Verbindung mit dem Wasser war. Während Maskull ihn und den See anstarrte, fühlte er ein Stechen in seiner Herzgegend, als ob er von einem Degen durchbohrt worden wäre. Er konnte sich nur mit Mühe auf den Füßen halten, und als er ein Nachlassen des Schmerzes zu fühlen glaubte, sah er, daß sich auf dem Wasser eine Fontäne gebildet hatte, die nun wieder zusammenfiel. Im nächsten Moment wurde er von einem heftigen Schlag in den Mund niedergeworfen, der von einer unsichtbaren Hand geführt wurde. Er rappelte sich auf und bemerkte, daß sich eine zweite Fontäne gebildet hatte. Kaum war er wieder auf den Beinen, als ein unerträglicher Schmerz durch sein Gehirn zuckte. In
seiner Agonie stolperte er und fiel wieder; diesmal auf den Arm, den Krag verwundet hatte. All sein anderes Mißgeschick war angesichts der Schmerzen vergessen, die ihn nun halb betäubten. Doch es dauerte nur einen Moment, und dann überkam ihn mit plötzlicher Erleichterung die Erkenntnis, daß Earthrids rauhe Musik ihre Macht über ihn verloren hatte. Der Musikant lag noch immer ausgestreckt in der gleichen Position. Aus dem See, dessen vormals stiller Wasserspiegel nun in heftiger Bewegung war, stiegen in rascher Folge dicke Fontänen. Gleameil lag auf der Erde und rührte sich nicht. Ihre Haltung war häßlich und ohne Anmut, und Maskull vermutete, daß sie tot war. Als er sie erreichte und sich über sie beugte, entdeckte er, daß seine Vermutung zutraf. In welcher geistigen Verfassung sie im Augenblick ihres Todes gewesen war, wußte er nicht, denn ihr Gesicht trug das vulgäre Grinsen des Kristallmanns. Die ganze Tragödie hatte keine fünf Minuten gedauert. Er ging hinüber zu Earthrid und zerrte ihn mit Gewalt von seinem Platz. »Sie haben nicht übertrieben, Musikant«, sagte er. »Gleameil ist tot.« Earthrid versuchte sich loszureißen und schüttelte den Kopf, wie um eine Benommenheit loszuwerden. »Ich warnte sie«, erwiderte er, sich aufsetzend. »Habe ich sie nicht aufgefordert, fortzugehen? Aber sie starb sehr schnell. Sie wartete nicht auf die Schönheit, von der sie gesprochen hatte. Sie hörte nichts von der Leidenschaft, nicht einmal vom Rhythmus. Auch Sie haben nichts von alledem gehört.« Maskull blickte ärgerlich auf ihn herab, sagte aber nichts. »Sie hätten mich nicht unterbrechen sollen«, fuhr Earthrid fort. »Wenn ich spiele, ist nichts anderes von Wichtigkeit. Ich hätte den Faden meiner Eingebung verlieren können. Glücklicherweise vergesse ich niemals… Ich werde von vorn anfangen.« »Wenn die Musik in Anwesenheit der Toten weitergehen soll, dann spiele ich als nächster«, sagte Maskull.
Der Mann blickte überrascht auf. »Das kann nicht sein.« »Es muß sein«, sagte Maskull mit Entschiedenheit. »Ich ziehe das Spielen dem Zuhören vor. Ein weiterer Grund ist, daß Sie viele Nächte dazu haben, ich aber nur diese.« Earthrid öffnete und ballte die Fäuste und begann blaß zu werden. »Mit Ihrem Leichtsinn werden Sie uns noch beide töten… Irontick gehört mir, und bevor Sie gelernt haben werden, wie darauf gespielt werden muß, würden Sie das Instrument nur zerbrechen.« »Nun, dann werde ich es eben zerbrechen; aber ich werde es versuchen.« Der Musikant sprang auf und stellte sich Maskull entgegen. »Wollen Sie es mir mit Gewalt nehmen?« »Bleiben Sie ruhig! Sie werden die gleiche Wahl haben, die Sie uns geboten haben. Ich gebe Ihnen Zeit, anderswohin zu gehen.« »Wie könnte das mir und meiner Arbeit dienlich sein, wenn Sie mir mein Instrument verderben? Sie wissen nicht, was Sie tun.« »Gehen Sie oder bleiben Sie!« versetzte Maskull. »Ich gebe Ihnen Zeit, bis der Wasserspiegel sich wieder geglättet haben wird. Danach beginne ich zu spielen.« Earthrid schluckte und schluckte. Er blickte auf den See und zurück zu Maskull. »Schwören Sie es?« »Sie wissen besser als ich, wie lang das dauern wird; aber bis dahin sind Sie sicher.« Earthrid warf ihm einen gehässigen Blick zu, zögerte einen Moment unschlüssig, ob er Maskull Widerstand leisten oder ihn gewähren lassen solle. Dann wandte er sich um und begann, den nächsten Hügel zu ersteigen. Auf halbem Weg blickte er besorgt über die Schulter, als wolle er sehen, was geschehe. Nach einer weiteren Minute war er über den Kamm verschwunden. Einige Minuten später, als das Wasser wieder ruhig war, setzte Maskull sich ans Ufer und imitierte Earthrids Haltung. Er wußte weder, wie er seine Musik hervorbringen sollte, noch hatte er eine Ahnung, was dabei herauskommen würde. Aber kühne Projekte gingen ihm durch den Kopf, und er beschloß, seine Willenskraft
einzusetzen, um körperhafte Gestalten zu schaffen – und vor allem eine Gestalt, die Gestalt Surturs. Bevor er den Fuß auf das Wasser setzte, überlegte er ein wenig. Diese Sache mußte gut durchdacht werden. ›Was Themen in der gewöhnlichen Musik sind‹, dachte er, ›das sind in dieser Musik Gestalten und Formen. Der Komponist findet sein Thema nicht, indem er einzelne Noten auswählt – das ganze Thema flammt durch Inspiration in seinem Geist auf. So muß es auch mit den Gestalten sein. Wenn ich anfange zu spielen und wenn meine Vorstellungen etwas taugen, dann werden die Ideen aus meinem Unbewußten auf diesen See übergehen, von wo sie dann in die Dimensionen der Realität widergespiegelt werden. So muß es aussehen.‹ In dem Augenblick, da sein Fuß das Wasser berührte, fühlte er seine Gedanken abfließen. Er wußte nicht, was sie waren, aber der bloße Akt des Fließens schuf ein Gefühl von Beherrschung des Prozesses, das ihn in Begeisterung versetzte. Hinzu kam die Neugierde zu erfahren, als was die Gestalten sich erweisen würden. Aus dem See stiegen Fontänen in zunehmender Zahl, aber er verspürte keinerlei Schmerz. Seine Gedanken, die jetzt Musik sein mußten, gingen nicht in einem stetigen, ununterbrochenen Strom von ihm aus, sondern in heftigen, beinahe unkontrollierten Ergüssen, die auf ruhige Intervalle folgten. Wenn diese Ergüsse kamen, brach der ganze See in Eruptionen von Fontänen aus. Er begriff, daß die Ideen, die von ihm ausgingen, nicht in seinem Intellekt entstanden, sondern ihren Ursprung in den Tiefen seines Willens hatten. Er konnte nicht entscheiden, welchen Charakter sie haben sollten, aber er war imstande, sie herauszuzwingen oder zurückzuhalten, indem er es durch bewußte Willensakte beförderte oder verhinderte. Anfangs veränderte sich nichts um ihn her. Dann wurde der Mond trüber, und eine seltsame neue Strahlung begann die Landschaft zu illuminieren. Sie nahm so unmerklich zu, daß einige Zeit verging, bis er in ihr das Muspel-Licht wiedererkannte, das er im Wald von
Womflash gesehen hatte. Er konnte diesem Licht keine Farbe geben, auch keinen Namen, aber es erfüllte ihn mit einer ernsten und heiligen Ehrfurcht. Er mobilisierte seine Willensreserven, und die Fontänen über der Wasserfläche verdichteten sich zu einem Wald, und viele von ihnen waren sieben bis acht Meter hoch. Teargeld sah schwach und blaß aus; die Strahlung wurde intensiv, aber ihr Licht warf keine Schatten. Der Wind erhob sich, doch wo Maskull saß, blieb es ruhig. Nicht lange, und die Luft war von einem Pfeifen und Sausen erfüllt, das einem Sturm alle Ehre machte. Maskull sah keine Gestalten und verdoppelte seine Anstrengungen. Seine Ideen ergossen sich nun mit solcher Gewalt aus seinem Unbewußten, daß seine Seele in einen Taumel von wilden Trotz und Begeisterung geriet. Doch noch immer blieb ihm ihre Natur verborgen. Dann schoß eine mächtige Fontäne aufwärts, und im gleichen Moment begannen die Hügel zu bersten. Gewaltige Massen lockerer Erde und Gesteinstrümmer eruptierten aus ihrem Innern, und während des nächsten Intervalls sah er, daß die Landschaft sich verändert hatte. Noch immer nahm das geheimnisvolle Licht an Intensität zu. Der Mond verschwand völlig. Der Lärm des unsichtbaren Sturms war schrecklich, doch Maskull spielte mitten im Aufruhr der Naturgewalten weiter und versuchte Ideen herauszuzwingen, die Gestalt annehmen würden. Spalten öffneten sich in den Hängen der Hügel. Das Wasser aus den zusammenfallenden Fontänen begann den Kessel des Sees mit Gischtwolken zu erfüllen; aber wo er war, blieb es trocken. Die Strahlung wurde schrecklich. Sie war überall, doch Maskull bildete sich ein, daß sie in einer bestimmten Himmelsrichtung am hellsten und stärksten war. Er dachte, daß sich dort etwas konzentrierte, um schließlich feste Gestalt anzunehmen, und er mobilisierte alle Reserven an Willenskraft, die er noch hatte, in einer letzten, übermächtigen Anstrengung… Im gleichen Augenblick schien der Grund des Sees abzusinken, und sein Wasser versickerte. Das Instrument war zerbrochen. Das Muspel-Licht verschwand. Der Mond schien wieder, doch
Maskull konnte ihn nicht sehen. Nach diesem unirdischen Glanz wähnte er sich in völliger Dunkelheit. Das Heulen des Windes hörte auf, und es wurde totenstill. Seine Gedanken hörten auf, zum See abzufließen, und sein Fuß berührte nicht länger Wasser, sondern stand auf trockenem Grund. Die jähe Veränderung hatte ihn so betäubt, daß er zunächst weder denken noch fühlen konnte. Während er so dalag, benommen und ohne einen klaren Gedanken, ereignete sich in den neugeöffneten Tiefen unter dem See eine ungeheure Explosion. Das hinabstürzende Wasser war auf feurige Lava gestoßen. Maskull wurde in die Luft geschleudert, viele Meter hoch, und stürzte schwer zu Boden. Er verlor das Bewußtsein… Als er wieder zu sich kam, sah er wieder. Teargeld hing glänzend am schwarzen Himmel. Er lag am Hang eines Hügels über dem ehemaligen See. An seiner Stelle war jetzt ein Krater, dessen Boden in der Finsternis unergründlich war. Die Hügel ringsum waren zerrissen und zerklüftet, als ob Artillerie-Trommelfeuer darauf gelegen hätte. Gewitterwolken hingen tief über dem Süden und Westen der Insel, und Blitze zuckten unaufhörlich aus ihnen auf die Erde nieder, begleitet von beängstigenden krachenden Donnerschlägen. Maskull erhob sich wankend und probierte seine Glieder aus. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er nicht verletzt war, untersuchte er den Krater aus der Nähe, dann machte er sich auf den mühsamen Weg zum nördlichen Ufer. Als er den Kamm über dem See erreichte, sah er, daß die Landschaft vor ihm sanft zur etwa drei Kilometer entfernten Küste abfiel. Überall waren Spuren seiner groben Arbeit zu sehen. Die ganze Insel war wie von einem gewaltigen Erdbeben verändert worden; man sah rauchende Spalten und Krateröffnungen, Felsbänke, die sich frisch aus dem Erdinnern gehoben hatten, breite Kanäle eingestürzter Erdoberfläche und Geröllmassen, die von Verschiebungen bewegt worden waren. Er kam zu der Reihe niedriger Felsen, die den Strand begrenzten, und fand, daß auch
diese von Hebungen und Senkungen des Terrains zum Teil zerbrochen und umgestürzt waren. Er kletterte hinunter auf den Strand und überblickte die mondbeschienene, bewegte Wasserfläche und fragte sich, wie er von dieser Insel seines Fehlschlags entkommen könne. Dann, als er den Strand entlangwanderte, fand er Earthrids Körper. Er lag auf dem Rücken, und beide Beine waren abgerissen; er konnte sie nirgendwo sehen. Earthrids Zähne waren im Fleisch seines rechten Unterarms vergraben und zeigten an, daß der Mann in unerträglichen Todesqualen gestorben war. Seine Haut schien im Mondschein grünlich zu schimmern, sie war von dunkleren Verfärbungen gefleckt; der Körper war von Wunden übersät. Der Sand um ihn war dunkel von Blut, das längst versickert war. Maskull ließ den Leichnam hinter sich und wanderte in Schrecken und Bestürzung lange ziellos den Strand entlang. Schließlich setzte er sich auf einen Felsblock und wartete auf den Morgen.
16 Um Mitternacht, als der Mond Teargeld tief im Süden stand und alles in silbriges, beinahe taghelles Licht tauchte, sah Maskull einen mächtigen Baum im Wasser treiben, nicht weit draußen. Er schien aufrecht zu schwimmen, und seine Krone ragte ungefähr zehn Meter aus dem Wasser. Die Frische seiner Blätter und die aufrechte Haltung deuteten darauf hin, daß er mit dem ganzen Wurzelstock im Wasser schwamm. Er trieb langsam die Küste entlang und nickte in den Wellen, die ihn fortbewegten. Maskull betrachtete ihn einige Minuten lang ohne Neugierde, bis ihm dämmerte, daß dies eine gute Möglichkeit sein könnte, von der Insel fortzukommen. Ohne lange über die möglichen Gefahren nachzudenken, schwamm er hinaus, ergriff den untersten Ast und zog sich daran empor. Er blickte nach oben und sah, daß der Stamm bis zum Wipfel fast
die gleiche Stärke hatte und oben in einer knopfartigen Verwachsung endete, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem menschlichen Kopf hatte. Er arbeitete sich weiter hinauf zu diesem Knopf, durch eine Menge von Zweigen, die mit zähem, schlüpfrigen Algen bedeckt waren. Als er die Krone erreichte, fand er, daß es sich tatsächlich um eine Art Kopf handelte, denn es gab Membranen wie rudimentäre Augen ringsum, die auf eine niedrige intelligente Daseinsform hinwiesen. In diesem Moment stieß der Baum auf Grund, obwohl er noch ein gutes Stück vom Ufer entfernt war, und begann schwerfällig zu stoßen und zu taumeln. Um sich festzuhalten, streckte Maskull die Hand aus und bedeckte dabei zufällig eine der Membranen. Der Baum schwenkte wie durch einen Willensakt vom Land weg und nahm Kurs auf das freie Wasser. Als die Bewegungen sich beruhigt hatten, nahm Maskull seine Hand wieder weg, und der Baum trieb abermals auf die Insel zu. Maskull dachte ein wenig nach, und dann begann er mit den augenähnlichen Membranen zu experimentieren… Es war, wie er vermutet hatte – diese Augen wurden vom Licht des Mondes stimuliert, und die Richtung, aus der das Licht kam, bestimmte die Reiseroute des Baums. Ein trotziges Lächeln trat auf sein Gesicht, als er daran dachte, daß es möglich sein müsse, dieses mächtige Pflanzentier über den See bis nach Matterplay zu steuern, und er verlor keine Zeit, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Er riß einige von den langen, zähen Blättern ab, und bedeckte alle Membranen bis auf diejenigen, die nach Norden zeigten. Sofort drehte der Baum ab und schwamm auf den See hinaus, direkt nach Norden. Er legte jedoch nicht mehr als vielleicht einen Kilometer in der Stunde zurück, während Matterplay nach Maskulls Schätzung vierzig Kilometer entfernt sein mußte. Die Wellen rauschten und plätscherten am Stamm und in den unteren Ästen, doch Maskull ruhte hoch und trocken in einer Astgabel und war mit seinem Los zufrieden, wenn er sich auch zunehmend Sorgen wegen des langsamen Vorankommens machte. Nach etwa einer Stunde sichtete er eine rasche Strömung, die in
nordwestlicher Richtung lief, und das brachte ihn auf eine weitere Idee. Er begann wieder mit dem Auf- und Abdecken der Membranen, und bald war es ihm gelungen, seinen Baum in die Strömung zu steuern. Sobald sie sicher in der Mitte des Strömungskanals dahinglitten, verschloß er alle Membranen mit Blättern, und von da an blieb das Steuer allein der Strömung vorbehalten. Maskull sicherte sich zwischen den Ästen, so gut er konnte, und schlief den Rest der Nacht. Als er wieder erwachte, war die Insel außer Sicht. Teargeld war im Begriff, am westlichen Horizont zu versinken. Der Osthimmel war hell von den Farben des nahenden Tages. Die Luft war kühl und frisch, und das Licht über dem See war schön und geheimnisvoll. Voraus lag Land – wahrscheinlich Matterplay –, eine lange dunkle Linie von niedrigen Felsklippen, vielleicht zwei Kilometer entfernt. Die Strömung führte nicht länger auf das Ufer zu, sondern verlief parallel zur Küste. Maskull manövrierte den Baum aus der Strömung und begann, ihn landwärts treiben zu lassen. Eine halbe Stunde danach flammte der Osthimmel jäh in heftigen Farbtönen auf, und der Rand Branchspells hob sich glühend über die Wasserfläche. Der Mond war untergegangen. Langsam näherte sich der Baum dem Ufer. Im Landschaftsbild war es wie Swaylones Insel – die gleichen breiten Strande, niedrigen Felsklippen und unbedeutenden rundlichen Hügel landeinwärts, das gleiche Fehlen von Vegetation. Im Licht des frühen Morgens sah die Küste jedoch romantisch aus. Maskull, hohläugig und hungrig, hatte nicht viel Sinn für die Schönheiten der Morgenstimmung, und als der Baum auf Grund stieß, kletterte er rasch durch die Äste abwärts und ließ sich ins Wasser fallen. Als er an Land kam, hatte sich die riesige Sonne bereits vom Horizont gelöst. Er wanderte eine weite Strecke in östlicher Richtung den Strand entlang, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Er dachte, daß er weitergehen würde, bis er zu einer Bach- oder Flußmündung käme, um dann dem Wasserlauf nach Norden zu folgen. Das strahlende Licht des Morgens munterte ihn auf und begann, die
bedrückenden Erinnerungen an die Nacht zurückzudrängen. Nachdem er mehrere Kilometer dem Ufer gefolgt war, stieß er auf einen breiten Fluß, der aus einem Felsdurchbruch in der Mauer der Klippen in den See strömte. Sein Wasser war von einem schönen, durchsichtigen Grün, durchsetzt von winzigen Luftbläschen. Es sah so kühl, sauerstoffreich und verlockend aus, daß Maskull sich am Ufer niederlegte und sein Gesicht eintauchte, um ausgiebig zu trinken. Als er danach aufstand, begannen seine Augen ihm Streiche zu spielen – seine Sicht wurde abwechselnd verschwommen und klar… Es mochte reine Fantasie gewesen sein, aber er bildete sich ein, daß Digrung neben ihm ginge… Er folgte dem Wasserlauf flußaufwärts durch die Schlucht in den Klippen, und dann sah er zum erstenmal das eigentliche Land Matterplay… Vor seinen Augen breitete sich ein Tal aus, wie ein Juwel, das in nackten Fels eingebettet war. Das Hügelland war kahl und schien leblos, aber dieses vom Fluß durchströmte Tal in seiner Mitte war so fruchtbar, daß es ihm wie ein Paradies erschien. Es folgte dem Flußlauf durch die Hügel aufwärts, und alles, was er von seinem Standort aus sehen konnte, war das breite untere Ende. Hier war der Talboden ungefähr tausend Meter breit, und der Fluß, der es in schönen Mäandern durchzog, weitete sich stellenweise zu einer Breite von dreißig Metern, war dann aber so seicht, daß er kaum bis zu den Knien reichen konnte, wenn man ihn durchwatete. Die Hänge der Hügel waren nicht höher als vierzig oder fünfzig Meter, und ihr Gefalle war überall sanft. Kleine Bäume mit hellen, in der Sonne glänzenden Blättern überwucherten sie von oben bis unten. Der Talboden selbst war wie der Garten eines Magiers. Bäume mit dicht ineinander gewachsenen Ästen, Sträucher und parasitische Kletterpflanzen kämpften allenthalben um einen Platz am Licht. Die Formen waren fremdartig und manchmal grotesk, aber im Zusammenklang wahrten sie eine natürliche Harmonie, wie sie nur in einer von Menschenhand unberührten Landschaft entstehen konnte. Alle möglichen Kombinationen der fünf Grundfarben von Tormance schienen vertreten zu sein, und das Resultat war für
Maskull eine Art von Farbensymphonie, die manchmal die Grenze zum Chaotischen überschritt. So üppig war die Vegetation, daß er bald seine Versuche, sich einen Weg zu bahnen, aufgab und das Flußbett als Straße benutzte. Der Kontakt des Wassers verhalf ihm zu einem seltsam prickelnden Gefühl im ganzen Körper, das einem milden elektrischen Schlag nicht unähnlich war. Es gab keine Vögel, aber Maskull beobachtete mehrmals ungewöhnlich aussehende kleine Flugechsen, die das Tal überquerten. Schwärme von Insekten umkreisten ihn als potentielle Beute, doch schließlich stellte sich heraus, daß sein Blut ihnen nicht zu schmecken schien, denn außer einigen Probestichen blieb er unbehelligt. Das Unterholz und die Flußufer wurden von ziemlich abstoßenden Tieren bevölkert, die Tausendfüßler, Skorpionen, Schlangen und ähnlichem Gewürm ähnelten, doch auch sie machten keinen Versuch, ihre zum Teil verderbenbringend aussehenden Waffen an seinen bloßen Beinen und Füßen auszuprobieren, wenn er in ihre Nähe kam… Bald jedoch wurde er mitten im Flußbett mit einem scheußlichen Ungeheuer von der Größe eines Ponys konfrontiert, dessen Form – wenn es überhaupt einem irdischen Lebewesen ähnelte – an einen Taschenkrebs erinnerte. Maskull blieb stehen, und sie starrten einander an. Das Tier mit bösartigen, kleinen schwarzen Augen, Maskull kühl und wachsam. Während er wartete und beobachtete, geschah Seltsames mit ihm. Das Bild vor seinen Augen verschwamm wieder. Aber als es nach einer Weile verging und er wieder klar sehen konnte, hatte sich der Charakter seiner Sicht verändert. Er blickte durch den Körper des Tiers hindurch und konnte alle seine inneren Organe unterscheiden. Die äußere Kruste und die harten Gewebe waren jedoch trüb und halbdurchsichtig; durch sie hob sich ein leuchtendes Netzwerk von blutroten Venen und Arterien in erschreckender Deutlichkeit ab. Die harten Schalenteile verblaßten, und das Blutsystem allein blieb übrig. Sogar die fleischigen Körperteile verschwanden. Das nackte Blut allein blieb sichtbar, und Maskull konnte verfolgen, wie es hierhin und dorthin floß, einem feurigen, flüssigen Skelett von der
Gestalt des Ungeheuers gleich. Dann begann sich auch dieses Blut zu verändern. Statt eines kontinuierlichen flüssigen Stroms nahm Maskull nun eine Auflösung in Millionen individueller Punkte wahr, aus denen es zusammengesetzt schien. Die rote Farbe war eine Illusion gewesen, verursacht von der raschen Bewegung der Punkte. Er sah jetzt deutlich, daß sie in ihrer pulsierenden Helligkeit winzigen Sonnen ähnelten. Sie schienen wie Sternenströme im Weltraum. Ein Strom wanderte zu einem festen Punkt im Zentrum, während der andere davon ausging. Maskull identifizierte den ersteren Strom als die Venen des Tiers, den letzteren als die Arterien, und den festen Punkt als das Herz. Während er in selbstvergessener Verblüffung das Ding anstarrte, erlosch das Netzwerk der Sternenströme plötzlich wie eine ausgeblasene Kerzenflamme. Wo das Krustentier gestanden hatte, war nichts mehr, doch durch dieses ›Nichts‹ konnte er die Landschaft und das jenseitige Flußufer nicht erkennen. Etwas stand dort, daß das Licht aufhielt, obwohl es weder Gestalt, Farbe noch Substanz besaß… Und nun begann das Tier, das mit den Augen nicht länger wahrgenommen werden konnte, sich durch Emotionen bemerkbar zu machen. Ein köstliches, frühlingshaftes Gefühl von steigenden Säften, von beschleunigtem Pulsschlag – von Liebe, Abenteuer, Geheimnis, Schönheit, Weiblichkeit – ergriff von seinem Wesen Besitz, und seltsam genug identifizierte er es mit dem Ungeheuer. Warum dieses unsichtbare Monstrum ihn veranlassen sollte, sich jung, sexuell aktiv und kühn zu fühlen, fragte er sich nicht, denn er war mit dem Effekt vollauf beschäftigt… Aber es war, als ob Fleisch, Knochen und Blut abgeschüttelt worden wären und er dem nackten Leben selbst von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde, einer Lebenssubstanz, die langsam in seinen eigenen Körper eindrang. Die Empfindungen verblichen, es entstand eine Pause, und dann materialisierte sich das Skelett aus den Sternenströmen wieder aus dem Nichts. Es veränderte sich zu dem roten Blutkreislauf. Die fleischigen und die harten Teile des Körpers kamen wieder zum
Vorschein, deutlicher und deutlicher, und gleichzeitig verblaßte das Netzwerk des Blutkreislaufs. Bald waren die inneren Teile von der Kruste eingeschlossen und völlig verborgen, und das Tier stand Maskull in seiner alten bedrohlichen Häßlichkeit gegenüber, hart, bräunlichgrün und konkret. Irgend etwas an ihm schien dem Krustentier schließlich zu mißfallen, und es bewegte sich auf seinen sechs Beinen seitwärts gleitend mit abstoßenden, immer wieder ruckartig verhaltenden Bewegungen zum anderen Ufer hinüber. Maskulls Apathie verließ ihn nach diesem Abenteuer. Er begann, nervös zu werden und sich unbehaglich zu fühlen. Er stellte sich vor, daß er im Begriff sei, die Dinge durch Digrungs Augen zu sehen, und daß unmittelbar vor ihm unbekannte Gefahren lauerten… Als seine Augen das nächste Mal verschwommen zu sehen begannen, kämpfte er mit seinem Willen dagegen an, und seine Sicht wurde wieder klarer. Das Tal stieg allmählich zum Hügelland an. Es verengte sich beträchtlich, und die bewaldeten Hänge zu beiden Seiten wurden steiler und höher. Der Flußlauf wurde zusammengedrängt, bis er nur noch sechs oder sieben Meter breit war, aber nun war er tiefer – und lebendig in seiner Bewegung, seinem Brausen und Studeln. Die elektrisierende Wirkung des Wassers wurde deutlicher und machte sich allmählich unangenehm bemerkbar; aber es gab keinen anderen Weg. Mit seinem betäubenden Durcheinander von Geräuschen ungezählter Lebewesen ähnelte das kleine Tal einer riesigen Empfangs- und Konversationshalle der Natur. Das Leben war noch überschäumender und vielgestaltiger als zuvor; jeder Quadratmeter Raum war ein Gewirr miteinander ringender tierischer und pflanzlicher Willenskräfte. Für einen Naturforscher wäre es ein Alptraum gewesen, denn kaum zwei Formen glichen einander, und alle waren ebenso fantastisch wie individuell. Es sah so aus, als ob die Natur so rasch neue Lebensformen hervorbrächte, daß nicht genug Raum für alle war. Doch es war nicht wie auf der Erde, wo Hunderte oder Tausende von Samen verstreut
werden, damit ein Samenkorn aufgeht. Hier schienen die jungen Formen zu überleben, während die alten ihnen Platz machen und untergehen mußten; wohin er auch sah, überall welkten und starben sie; und es geschah ohne irgendeinen eindeutig ersichtlichen Grund – sie wurden einfach vom nachdrängenden neuen Leben erdrückt und getötet. Manche Lebensformen antworteten auf diese Herausforderung mit einer geradezu unheimlichen Anpassungsfähigkeit. Maskull bekam eine Probe davon, als er eine Frucht von der Form und der Größe einer Orange auf dem Boden liegen sah. Er hob sie auf und wollte sie öffnen, um das weiche Fruchtfleisch zu essen; doch im Innern war ein voll ausgebildeter junger Baum, gerade im Begriff, seine Schale zu sprengen. Maskull warf ihn in den Fluß, der kleine Baum wurde von der Strömung mitgenommen und kam wieder auf ihn zu, aber als er auf gleicher Höhe mit Maskull war, trieb er schon nicht mehr wie ein totes Stück Holz, sondern schwamm gegen den Strom. Maskull fischte den Keimling heraus und entdeckte, daß er in der kurzen Zeit sechs rudimentäre Beine hervorgebracht hatte. Plötzlich fühlte sich Maskull deprimiert. Er dachte, daß die unsichtbare Macht – ob man sie Natur, Leben, Wille oder Gott nennen wollte –, die so darauf versessen schien, diese Welt so schnell wie möglich zu erobern und zu besetzen, keine sehr hohen Ziele haben könne und nicht viel wert sei. Wie jemand diesen makabren und mörderischen Kampf um die physische Existenz als eine erhebende und bedeutende Manifestation göttlichen Willens betrachten konnte, ging über sein Verstehen hinaus… Die Atmosphäre begann ihn zu ersticken, er sehnte sich nach freier Luft und Raum. Mühevoll arbeitete er sich durch fast undurchdringliches Unterholz den Steilhang hinauf aus dem Tal. Als er oben ankam, schlug Branchspells weiße Glut mit solch brutaler Intensität auf ihn herab, und er begriff, daß es hier keinen Aufenthalt geben konnte. Er blickte umher, um festzustellen, wo er war. Er hatte vom Seeufer ungefähr fünfzehn Kilometer Luftlinie zurückgelegt. Die kahlen Hügel wellten sich, allmählich auslaufend,
zur weiten Wasserfläche hinab; der See glitzerte in der Ferne, und am Horizont waren die Umrisse von Swaylones Insel auszumachen. Im Norden stieg das Land weiterhin allmählich an, so weit er sehen konnte. Jenseits des Hügellands, in einer Entfernung von noch einmal fünfzehn oder zwanzig Kilometern, war ein Kamm von schwarzen, bizarr geformten Felsen völlig anderen Charakters zu sehen; dies war vermutlich Threal. Weit hinter diesen Felsgebilden standen die Gipfel von Lichstorm am Horizont, vielleicht fünfzig oder sogar hundert Kilometer entfernt. Maskull konnte in der klaren Luft sehen, daß die meisten von ihnen mit grünlichem Schnee bedeckt waren, der im Sonnenlicht glitzerte. Diese Berge waren atemberaubend hoch und von stolzer und unheimlicher Gestalt. Die meisten Gipfel hatten konische oder trapezförmige Umrisse, aber einige schienen aus dem Gleichgewicht geraten zu sein und bildeten gigantische Überhänge in unmöglichen Winkeln. Ein Land wie dieses versprach etwas Neues, dachte er… Außergewöhnliche Bewohner. Der Gedanke, dorthin zu gehen, nahm in seinem Geist Gestalt an, und er beschloß, nicht länger in dieser Gegend zu verweilen und sich sofort auf die Wanderschaft zu machen. Es waren weniger die Berge selbst, die ihn anzogen, als das Land jenseits von ihnen und die Aussicht, dort die blaue Sonne zu Gesicht zu bekommen, die er für das Wunder aller Wunder hielt, die Tormance zu bieten hatte. Die direkte Route führte über die Hügel, aber sie kam wegen der mörderischen Hitze, der Schattenlosigkeit und des ständigen Auf und Ab nicht in Betracht. Maskull vermutete jedoch, daß das Tal ihn nicht weit von seiner Richtung abbringen würde, und beschloß, einstweilen ihm zu folgen, so wenig es ihm in dem heißen Dschungel behagte. Wieder zum Fluß abgestiegen, folgte er den Windungen des Tals durch Sonnenlicht und Schatten weiter. Der Wasserlauf wurde schmaler, das Vorankommen zunehmend schwieriger. Von beiden Seiten drängten die Hügel mit felsdurchsetzten Hängen heran, bis sie kaum noch hundert Meter trennten, während der Boden der Talsohle
mit großen und kleinen Felsblöcken übersät war. Die Lebensformen gediehen hier nicht mehr in der überwältigenden Vielfalt des unteren Tals, dafür nahmen sie an Eigenartigkeit zu. Reine Pflanzen und reine Tiere verschwanden nach und nach, und ihre Stelle wurde von Kreaturen eingenommen, die von beiden etwas zu haben schienen. Sie hatten Glieder, Gesichter, Willen und Intelligenz, aber sie verbrachten den größeren Teil ihrer Zeit im Boden verwurzelt an einer Stelle, und sie nährten sich nur von Luft, Wasser und den mineralischen Stoffen des Erdbodens. Dann hatte er ein erstaunliches Erlebnis. Plötzlich erschien vor ihm ein großes und voll entwickeltes Pflanzentier wie aus dem Nichts mitten in der Luft. Er traute seinen Augen nicht und starrte das Geschöpf lange Zeit in grenzenloser Verblüffung an. Das Lebewesen kümmerte sich nicht im geringsten um seine Anwesenheit und bewegte sich vor ihm, als ob es sein ganzes Leben an der Stelle verbracht hatte. Maskull arbeitete sich schließlich weiter die Schlucht hinauf, ohne das Rätsel gelöst zu haben, als das gleiche Phänomen wiederkehrte, lautlos und ohne Ankündigung. Er konnte nicht länger daran zweifeln, daß er Wunder sah – daß die Natur ihre Geschöpfe in die Welt warf, ohne sich des Mittels der Elternschaft zu bedienen… Keine andere und überzeugendere Lösung des Problems wollte sich seinem Verstand darbieten. Auch der Bach hatte seinen Charakter verändert. Eine schwach zitternde Strahlung drang aus seinem grünen Wasser, als entwiche irgendeine darin gefangengehaltene Kraft in die Luft. Maskull war seit längerer Zeit nicht ins Wasser gegangen; nun stieg er wieder hinein, um seine Qualität zu untersuchen. Es war, als ströme neues Leben von seinen Füßen aufwärts in seinen Körper. Das Gefühl war ihm neu, doch er wußte instinktiv, was es war. Die vom Bach ausgehende Energie drang weder in freundlicher noch in feindlicher Absicht in seinen Körper ein, sondern weil er zufällig die direkte Bahn zum eigentlichen Ziel versperrte. Doch obgleich die Strahlung keine feindseligen Absichten hatte, würde sie sich wahrscheinlich als unangenehmer Reisegefährte erweisen… Maskull war sich der
Gefahr bewußt, daß ihre Einwirkung auf seinen Körper irgendwelche physikalischen Transformationen hervorzubringen drohte, es sei denn, er konnte etwas dagegen tun. Er kletterte aus dem Wasser, lehnte sich an einen Felsen, spannte die Muskeln und stählte sich gegen die drohende Veränderung. Im gleichen Augenblick verschwamm die Schlucht wieder vor seinen Augen, und während er dagegen ankämpfte, entsprossen vor seiner Stirn überall neue Augen. Er befühlte sie mit der Hand und zählte sechs, die hinzugekommen waren. Die Gefahr war vorüber, und Maskull lachte und beglückwünschte sich, so leicht davongekommen zu sein. Dann überlegte er, wozu die neuen Organe dienen mochten, und ob sie eine gute oder eine schlechte Ausstattung waren. Er hatte noch nicht ein Dutzend Schritte flußaufwärts getan, als er es erfuhr. Gerade als er im Begriff war, von einem Felsblock herunterzuspringen, veränderte sich plötzlich seine Sicht, und er hielt inne. Er nahm zwei Welten gleichzeitig wahr. Mit seinen eigenen Augen sah er die Schlucht wie zuvor, mit ihren Felsen, dem Bach, den Tierpflanzen, dem Sonnenschein und dem Schatten, aber mit seinen neuerworbenen Augen sah er es anders. Alle Details der Talschlucht waren sichtbar, aber das Licht schien gedämpft, und alles wirkte blaß und farblos. Die Sonne wurde von Wolkenmassen verdunkelt, die den ganzen Himmel erfüllten, und diese Wolken waren in heftiger und beinahe lebendig anmutender Bewegung. Vom Bach gingen grüne Funken aus, die er, wenn er sie aufmerksam beobachtete, einzeln voneinander unterscheiden konnte. Sie schossen aufwärts zu den Wolken, doch in dem Moment, in dem sie in die Wolkendecke eindrangen, schien ein fürchterlicher Kampf zu beginnen. Die Funken versuchten, in die obere Atmosphäre zu entkommen, während die Wolken sich um sie konzentrierten und ihnen den Weg versperrten, wohin sie sich auch wandten. Es war, als bemühten sie sich, ein so dichtes und enges Gefängnis für die Strahlungspartikel zu schaffen, daß jede weitere Bewegung unmöglich wurde. Soweit Maskull ausmachen konnte, gelang es den meisten Funken
schließlich, ihren Weg durch die Wolken zu bahnen, wenn auch nur nach verzweifelten Anstrengungen; doch ein Funke, den er beobachtete, wurde gefangen und konnte trotz seiner wütenden Sprünge und blitzschnellen Ausfälle in alle Richtungen – als ob es eine lebendige, wilde Kreatur wäre, die man in einem Netz gefangen hat – nirgendwo eine Öffnung finden. Die Dämpfe fuhren fort, sich ringsum zu verdichten, bis sie den schwarzen, komprimierten Wolkenmassen ähnelten, die man vor einem schweren Gewitter sehen kann. Dann gab der grüne Funke, der im Innern noch immer sichtbar war, seine Anstrengung auf und blieb eine Zeitlang völlig ruhig. Die Wolkenform konsolidierte sich weiter und wurde beinahe rund. Als sie schwerer und dichter wurde, begann sie langsam in die Talschlucht abzusinken, und als Maskull sie aus der Nähe sah, nur noch wenige Meter über dem Boden, hörte ihre Bewegung völlig auf, und es trat eine Pause ein, die wenigstens zwei Minuten dauerte. Dann zog die immer noch große Wolke sich plötzlich zusammen, wurde klein, bildete Formen und Farben aus und begann nach kaum einer Minute auf Beinen umherzugehen und sich als Pflanzentier auf der Suche nach Nahrung im Boden zu verwurzeln. Das abschließende Stadium das Phänomens konnte er mit seinen normalen Augen beobachten. Sie zeigten ihm, wie das Geschöpf scheinbar wie durch ein Wunder aus dem Nichts entstand. Maskull war erschüttert. Sein Zynismus fiel von ihm ab und machte Neugierde und Ehrfurcht Platz. ›Das war genau wie die Geburt eines Gedankens‹, sagte er sich. ›Aber wer war der Denker? Irgendein großer lebendiger Geist ist hier an der Arbeit. Er hat Intelligenz, denn all seine Formen sind verschieden, und er hat Charakter, denn alle gehören dem gleichen allgemeinen Typus an… Wenn ich mich nicht irre und wenn es die Kraft ist, die Former oder Kristallmann genannt wird, dann habe ich genug gesehen, um den Wunsch zu haben, mehr über ihn zu erfahren… Es würde lächerlich sein, zu anderen Rätseln überzugehen, bevor ich dieses gelöst habe.‹ Eine Stimme rief ihn von hinten an, und als er sich umwandte, sah er eine menschliche Gestalt, die in einiger Entfernung
schluchtabwärts auf ihn zugeeilt kam. Sie sah mehr wie ein Mann als eine Frau aus. Der Fremde war ziemlich groß, doch schlank und schmächtig, und trug ein dunkles, kuttenähnliches Kleidungsstück, das vom Hals bis unter die Knie reichte. Ein Turban war um seinen Kopf gewickelt. Maskull wartete auf ihn, und als der Fremde näher kam, ging er ihm ein kleines Stück entgegen. Dann erlebte er eine weitere Überraschung, denn diese Person, wiewohl offensichtlich ein menschliches Wesen, war weder Mann noch Frau, noch etwas zwischen den beiden, sondern unverkennbar von einem dritten Geschlecht, das bemerkenswert anzusehen und schwierig zu verstehen war. Um den sexuellen Eindruck wiederzugeben, der von des Fremden körperlichen Erscheinung in Maskulls Geist erzeugt wurde, wäre es nötig, ein neues Pronomen zu prägen, denn keines im irdischen Gebrauch war anwendbar. Maskull fand sich anfangs unfähig zu begreifen, warum die körperlichen Besonderheiten dieses Wesens von ihm ganz selbstverständlich mit dem Geschlecht und nicht mit der Rasse in Verbindung gebracht wurden, und doch gab es keinen Zweifel an der Tatsache selbst. Körper, Gesicht und Augen waren weder männlich noch weiblich, sondern etwas völlig anderes. Wie jemand einen Mann auf den ersten Blick von einer Frau unterscheiden kann, weil es irgendwelche undefinierbare Unterschiede des Ausdrucks und der Atmosphäre gibt, die losgelöst von den körperlichen Verschiedenheiten existieren, so war der Fremde in seiner Erscheinung von beiden unterschieden. Als Maskull in diese fremdartigen, seltsam archaisch anmutenden Augen starrte, hatte er ein intuitives Gefühl, daß diese Person kein anderer als der Former selbst war. Die ganze Erscheinung drückte einen besonderen Charakter aus… Maskull entschied, daß es Liebe war… Aber was für Liebe, Liebe für wen? Es wurde ihm klar, daß das Ziel dieser Liebe nicht die Erhaltung der Rasse war, sondern die Unsterblichkeit des Individuums auf Erden. Keine Kinder wurden durch den Akt erzeugt; das Menschenwesen, das Liebhaber und Geliebte ersetzt, war selbst das ewige Kind. All das wurde von der Erscheinung
dieses außergewöhnlichen Wesens ausgedrückt, das aus einem anderen Zeitalter zu stammen schien, als der Schöpfungsvorgang noch ein anderer gewesen war… Von all den sonderbaren und unheimlichen Persönlichkeiten, die er bisher in Tormance kennengelernt hatte, kam ihm diese als die bei weitem fremdartigste vor – das heißt die ihm in der geistigen Struktur am weitesten entfernte. Er hatte das Gefühl, auch wenn sie hundert Jahre lang miteinander leben müßten, könnten sie dennoch niemals Gefährten sein. Maskull löste sich aus seinen Gedanken und betrachtete den Neuankömmling eingehender, um mit seinem Intellekt zu verstehen, was seine Intuition ihm an Wunderbarem berichtet hatte. Der Mensch hatte breite Schultern und starke Knochen und war ohne weibliche Brüste, und insofern ähnelte er einem Mann. Aber die Knochen waren so flach und rechtwinklig, daß sein Fleisch etwas von einem Kristall hatte, denn statt gerundeter Oberflächen zeigte es ebene. Der Körper sah aus, als ob er von den Zeitaltern nicht zu glatter und gerundeter Regelmäßigkeit abgeschliffen worden wäre, sondern als wäre er mit seinen Winkeln und Facetten und Ecken das Resultat einer einzigen, plötzlichen Eingebung. Auch das Gesicht war unregelmäßig und in viele kleine Facetten gebrochen. Mit seinen rassischen Vorurteilen fand Maskull wenig Schönheit darin, doch das Gesicht war schön, wenn es auch keinem männlichen oder weiblichen Typ angehörte, denn es hatte die drei unabdingbaren Bestandteile von Schönheit – Charakter, Intelligenz und Ruhe. Die Haut war kupferfarben und wie von innen erleuchtet. Das Gesicht war bartlos, und das Haupthaar fiel bis zu den Knöcheln herab. Das Wesen besaß nur zwei Augen. Der vordere Teil des Turbans ragte indes so weit heraus, daß er offensichtlich irgendein Organ verbarg. Maskull fand es unmöglich, das Alter des Fremden zu bestimmen. Die Gestalt wirkte lebhaft, kräftig und gesund, die Haut war frisch, die Augen zeigten Wachsamkeit und Kraft. Alles das ließ auf ein jugendliches Lebensalter schließen. Je länger Maskull jedoch das Gesicht seines Gegenüber betrachtete, desto stärker wurde ein
Eindruck von unglaublichem Alter. Schließlich redete er den Fremden an, obwohl es genauso war, als spräche er mit einem Traumgebilde. »Welchem Geschlecht gehören Sie an?« fragte er. Die Stimme, in der die Antwort kam, war weder männlich noch weiblich, sondern suggerierte Maskull den Klang eines mystischen Waldhorns, das aus weiter Ferne gehört wird. »Heutzutage gibt es Männer und Frauen, doch in den alten Zeiten war die Welt von Phaens bevölkert. Ich glaube, ich bin der einzige Überlebende all jener Wesen, die damals durch Facenys Geist gingen.« »Faceny?« »Der jetzt fälschlicherweise Former oder Kristallmann genannt wird. Die oberflächlichen Namen, die von einer Rasse von oberflächlichen Kreaturen erfunden wurden.« »Wie ist Ihr Name?« »Leehallfae.« »Was?« »Leehallfae. Und der Ihre ist Maskull. Ich lese in Ihrem Geist, daß Sie gerade wundervolle Abenteuer erlebt haben. Sie scheinen einzigartiges Glück zu haben. Wenn es lange genug vorhält, kann ich vielleicht Gebrauch davon machen.« »Glauben Sie, daß mein Glück zu Ihrem Vorteil existiert? Aber lassen wir das jetzt. Es ist Ihr Geschlecht, das mich interessiert. Wie befriedigen Sie Ihr Verlangen?« Leehallfae zeigte auf das verborgene Organ unter dem Turban. »Mit ihm sammle ich Lebensenergie von den Strömen, die in den hundert Tälern Matterplays fließen. Die Ströme entspringen Faceny. Mein ganzes Leben ist dem Versuch gewidmet, Faceny selbst zu finden. Ich habe so lange gesucht, daß Sie mich für einen Lügner halten würden, wenn ich Ihnen sagte, wie viele Jahre es sind.« Maskull sagte: »Im Ifdawn Märest begegnete ich einem, der aus Matterplay zu sein behauptete – einem jungen Mann, der sich Digrung nannte… Ich saugte ihn auf.«
»Es ist nicht möglich, daß Sie mir dies aus Eitelkeit sagen.« »Es war ein fürchterliches Verbrechen. Was wird daraus erwachsen?« Leehallfae zeigte ein seltsam runzliges Lächeln. »In Matterplay wird er sich in Ihnen regen, denn er riecht die Luft. Sie haben bereits seine Augen… Ich kannte ihn… Nehmen Sie sich in acht, oder etwas Erschreckendes könnte geschehen. Bleiben Sie aus dem Wasser.« »Dies scheint ein schreckliches Tal zu sein, in dem alles geschehen kann.« »Quälen Sie sich nicht wegen Digrung. Die Täler gehören von Rechts wegen den Phaens – die Menschen hier sind Eindringlinge. Es ist eine gute Tat, sie zu entfernen.« Maskull nickte nachdenklich. »Ich sehe, daß ich vorsichtig sein muß… Was meinten Sie, als Sie sagten, ich könne Ihnen mit meinem Glück helfen?« »Ihr Glück ist rasch im Schwinden begriffen, aber es mag noch immer stark genug sein, um mir zu dienen. Gemeinsam werden wir Threal suchen.« »Threal suchen? Wieso, ist es so schwer zu finden?« »Ich sagte Ihnen, daß ich mein ganzes Leben mit der Suche verbracht habe.« »Mit der Suche nach Faceny, sagten Sie, Leehallfae.« Der Fremde blickte ihn aus seinen uralten Augen an und lächelte wieder. »Dieser Wasserlauf, Maskull, hat wie jeder andere Lebensstrom in Matterplay seine Quelle in Faceny. Aber da alle diese Wasserläufe im Threal entspringen, ist es dort, wo wir Faceny suchen müssen.« »Aber was hindert Sie daran, Threal zu finden? Sicherlich ist es eine wohlbekannte Gegend?« »Threal liegt unter der Erdoberfläche. Verbindungen mit der Oberwelt gibt es nur wenige, und wo sie liegen, konnte mir keiner von den vielen sagen, die ich im Laufe meines Lebens danach fragte. Ich habe die Täler und die Hügel durchkämmt… Bis zu den Toren von Lichstorm bin ich gegangen. Ich bin alt, so alt, daß Ihre betagten
Männer neben mir wie neugeborene Säuglinge erscheinen würden, aber ich bin so weit von Threal, wie ich es als ein grüner Junge war, der unter seinesgleichen lebte.« »Dann hatten Sie so viel Pech wie ich Glück hatte. Aber was gewinnen Sie, wenn Sie Faceny gefunden haben?« Leehallfae blickte ihn schweigend an. Das Lächeln verlor sich aus seinem Gesicht, das nun einen Ausdruck so unirdischen Schmerzes und Kummers zeigte, daß Maskull nicht weiter drängte. Leehallfae wurde von dem Kummer und dem Schmerz eines Liebhabers verzehrt, der sich auf ewig von seiner Geliebten getrennt weiß, während ihre Spuren unauslöschbar gegenwärtig bleiben. Dieses tragische Lebensgefühl verlieh seinen Zügen in diesem Augenblick eine ernste, vergeistigte Schönheit, die weit über irgendeine Schönheit von Frau oder Mann hinausging. »Nun, wir werden gemeinsam auf die Suche gehen«, sagte Maskull. »Vielleicht werden wir etwas finden. Und selbst wenn wir nichts finden sollten, werde ich nicht bedauern, meine Zeit in Gesprächen mit einer so einzigartigen Persönlichkeit zugebracht zu haben.« Der Phaen nickte. »Aber ich sollte Sie warnen, Maskull. Sie und ich stammen aus verschiedenen Schöpfungen. Der Körper eines Phaen enthält das Ganze des Lebens, derjenige eines Mannes nur die Hälfte davon – die andere Hälfte ist in der Frau. Faceny mag zu stark sein, als daß Ihr Körper es ertragen könnte. Fühlen Sie das nicht?« »Meine Gefühle sind stumpf. Ich muß meine Vorkehrungen treffen, so gut ich kann, und den Rest dem Wagnis überlassen.« Er bückte sich, ergriff das dünne und zerschlissene Gewand des Phaen und riß einen breiten Streifen herunter, den er sich um den Kopf wickelte. »Ich habe Ihren Rat nicht vergessen, Leehallfae. Ich möchte meine Wanderung nicht gern als Maskull beginnen und als Digrung beenden.« Der Phaen antwortete mit einem schiefen Lächeln, und sie begannen, weiter flußabwärts zu wandern. Das Vorwärtskommen war schwierig; oft mußten sie von Block zu Block springen, und
gelegentlich stellten sich ihnen Felsbänke in den Weg, die sie am Rande des herabstürzenden Wassers erklettern mußten. Lange Zeit sprachen sie nicht mehr. Maskull befolgte den Rat seines Gefährten, das Wasser zu meiden, so gründlich wie möglich, doch hier und da war er gezwungen, den Fuß hineinzusetzen oder sich bespritzen zu lassen. Als ihm dies das zweite oder dritte Mal passierte, fühlte er einen jähen, stechenden Schmerz im Arm, dort, wo Krag ihn verwundet hatte… Gleich darauf wurden seine Augen fröhlich, seine Ängste schwanden, und er begann vorsätzlich in dem Wasserlauf herumzuplatschen. Leehallfae rieb sich das Kinn und beobachtete ihn mit verkniffenen Augen, versuchte zu verstehen, was geschehen war. »Spricht Ihr Glück zu Ihnen, Maskull, oder was ist los?« »Hören Sie, Sie sind eine Person mit weit zurückreichender Erfahrung und sollten es wissen, wenn überhaupt jemand es weiß. Was ist Muspel?« Leehallfaes Gesicht blieb leer. »Ich kenne das Wort nicht.« »Es ist eine andere Welt oder so etwas.« »Das kann nicht sein. Es gibt nur diese eine Welt – Facenys.« »Ich bin froh, daß ich Sie getroffen habe, Leehallfae, denn dieses Tal und alles, was damit zusammenhängt, bedarf der Erklärung. An dieser Stelle zum Beispiel sind kaum irgendwelche organischen Lebensformen übrig – warum sind sie alle verschwunden? Sie nennen diesen Bach einen ›Lebensstrom‹, doch je näher wir seiner Quelle kommen, desto weniger Leben bringt er hervor. Ein paar Kilometer bachabwärts hatten wir diese spontanen Pflanzentiere, die aus dem Nichts erschienen, während am Unterlauf, wo das Wasser sich in den See ergießt, Pflanzen und Tiere in drangvoller Enge um jeden Meter Lebensraum kämpfen. Nun, wenn alles dies in irgendeiner mysteriösen Weise mit Ihrem Faceny in Zusammenhang steht, dann drängt sich die Vermutung auf, daß er eine äußerst paradoxe Natur sein muß.« »Alles hängt zusammen«, sagte Leehallfae. »Der Strom ist Leben und gibt die ganze Zeit Lebensfunken ab. Wenn diese Funken von
Materie eingefangen und festgehalten werden, so werden sie zu lebenden Formen. Je näher der Strom seiner Quelle ist, desto ungebärdiger und kraftvoller ist sein Leben. Sie werden selbst sehen, daß es überhaupt keine lebenden Formen mehr gibt, wenn wir den Ursprung erreichen. Das heißt, daß es keine Materie gibt, die hart und zäh genug ist, die energiereichen Funken einzufangen und festzuhalten, die dort anzutreffen sind. Weiter stromabwärts sind die meisten Funken noch kräftig genug, um in die obere Atmosphäre zu entweichen, aber verschiedene werden festgehalten, wenn sie in dichte Wolkendecken geraten, und das sind diejenigen, die plötzlich zu Gestalten werden. Ich selbst bin von dieser Natur. Noch weiter stromabwärts, in der Nähe des Sees, hat der Strom den größten Teil seiner Lebenskraft verloren, und die Funken sind langsam und träge. Sie breiten sich aus, statt in die Luft zu steigen. Dort gibt es kaum eine Art von Materie, die nicht imstande wäre, diese schwächlichen Funken einzufangen und festzuhalten, und sie werden dort in großen Mengen eingefangen; das erklärt die ungezählten verschiedenen Lebensformen, die man dort sieht. Aber nicht nur das – die Funken werden von einem Körper zu einem anderen weitergegeben und wandern so weiter, bis sie schließlich zerfallen. Am Ende des Prozesses haben wir den See der Versunkenen selbst. Dort gewinnt das degenerierte und geschwächte Leben der Ströme von Matterplay den ganzen See als neuen Körper. Doch die Kräfte sind bereits so schwach, daß sie keine Gestalten mehr hervorbringen können.« »Die langsame Entwicklung von Männern und Frauen ist in Ihrem Fall also der Schwächlichkeit des Lebenskeimes zuzuschreiben?« »Genau. Er kann nicht in einer Gestalt und auf einmal verwirklichen, was sein Ziel ist. Und nun können Sie sehen, wie unvergleichlich überlegen demgegenüber die Phaen sind, die spontan aus den energiegeladenen Funken der Lebensströme entspringen.« »Aber woher kommt die Materie, die diese Funken festhält?« »Wenn Leben stirbt, wird es Materie. Die Materie selbst zerfällt und stirbt, aber an ihre Stelle tritt ständig neue Materie in anderer Form.«
»Aber wenn das Leben von Faceny kommt, wie kann es überhaupt sterben?« »Leben – das sind die Gedanken von Faceny, und sobald diese Gedanken sein Gehirn verlassen haben, sind sie nichts – bloße Asche.« »Dies ist eine freudlose Philosophie«, sagte Maskull. »Aber wer ist Faceny dann, und warum denkt er überhaupt?« Viele feine Runzeln bildeten ein Netzwerk um seine Augen, als Leehallfae lächelte. »Das kann ich auch erklären. Faceny ist von dieser Natur: er wendet dem Nichts in allen Richtungen das Gesicht zu. Er hat keinen Rücken und keine Seiten, sondern alles ist Gesicht; und dieses Gesicht ist seine Gestalt. Es muß notwendigerweise so sein, denn zwischen ihm und dem Nichts kann nichts anderes existieren. Sein Gesicht besteht aus Augen, denn in alle Ewigkeit betrachtet er das Nichts. Er bezieht seine Inspirationen daraus; in keiner anderen Weise könnte er er selbst sein… Aus dem gleichen Grund lieben Phaens und selbst Menschen einsame Orte und leere Weiten, denn in jedem ist ein wenig von Faceny…« »Das klingt wahr«, sagte Maskull. »Die Gedanken fließen unaufhörlich von Facenys Gesicht rückwärts. Da sein Gesicht aber auf allen Seiten ist, fließen sie in sein Inneres. So strömt ein Sog von Gedanken beständig vom Nichts ins Innere von Faceny, das die Welt ist. Die Gedanken werden Formen und bevölkern die Welt. Diese äußere Welt, die wir um uns sehen, ist darum gar nicht außen, wie es scheint, sondern innen. Das sichtbare Universum ist wie ein gigantischer Magen, und die wirkliche Außenseite der Welt werden wir niemals sehen.« Maskull grübelte eine Weile darüber nach. »Leehallfae, ich sehe nicht, was Sie persönlich zu erhoffen haben, da Sie nicht mehr als ein verworfener, sterbender Gedanke sind.« »Haben Sie niemals eine Frau geliebt?« fragte der Phaen und beobachtete Maskull mit starrem Blick. »Vielleicht habe ich.« »Als Sie liebten, hatten Sie keine Augenblicke ekstatischer
Erhöhung?« »Das ist die gleiche Frage mit anderen Worten.« »In solchen Augenblicken näherten Sie sich Faceny. Nun, wenn Sie sich noch mehr hätten nähern können, würden Sie es nicht getan haben?« »Ich würde es getan haben, ungeachtet der möglichen Konsequenzen.« »Selbst wenn Sie persönlich nichts zu erhoffen gehabt hätten?« »Aber ich hätte gerade dies zu erhoffen gehabt.« Leehallfae wanderte schweigend weiter. »Ein Mann ist nur die Hälfte des Lebens«, sagte er plötzlich, »und eine Frau ist die andere Hälfte des Lebens. Aber ein Phaen ist die Gänze des Lebens. Zwischen Ihrer Liebe und der meinen gibt es keinen Vergleich. Wenn das Leben in Hälften gespalten wird, geht etwas verloren, etwas, das nur dem Ganzen innewohnt. Wenn selbst Ihr träges Blut zu Faceny hingezogen wird, ohne zu fragen, was daraus werden wird, wie wird es dann erst mit mir sein?« »Ich stelle die Aufrichtigkeit Ihrer Leidenschaft nicht in Frage«, erwiderte Maskull, »aber es ist ein Jammer, daß Sie keinen Weg sehen, sie in die nächste Welt weiterzutragen.« Leehallfae lächelte in einem Anflug von unerklärlichen Emotionen. »Menschen denken, was ihnen gefällt, aber Phaens sind so gemacht, daß sie die Welt nur sehen können, wie sie wirklich ist.« Das beendete das Gespräch. Die Sonne war in den Dom des Himmels gestiegen, und sie schienen sich nun dem Ende des Tals zu nähern. Die seitlichen Hänge hatten sich noch enger und steiler zusammengedrängt, und bis auf Strecken, wo Branchspell, direkt hinter ihnen war, wanderten sie die ganze Zeit in tiefen Schatten. Dennoch war es heiß und anstrengend. Alles Leben hatte aufgehört. Die Felswände, der steinige Grund und die Blöcke aller Größen, die die gesamte Breite der oberen Schlucht füllten, boten ein schönes, bizarr phantastisches Bild. Sie waren aus einem schneeweißen, kristallinen Kalkstein, der von Adern bläulichen Quarzes durchzogen war. Der Wasserlauf war
nicht länger grün, sondern klar und farblos und funkelnd wie Kristall. Sein Murmeln und Plätschern war musikalisch, und insgesamt sah es sehr romantisch und bezaubernd aus, doch Leehallfae schien etwas anderes darin zu finden – seine Züge nahmen einen immer verschlosseneren und gequälteren Ausdruck an. Etwa eine halbe Stunde, nachdem alle anderen Lebensformen verschwunden waren, fiel ein weiteres Pflanzentier aus dem Raum und materialisierte sich vor ihren Augen. Es war so groß wie Maskull selbst und hatte ein kraftvolles und gesundes Aussehen, wie es zu einem Geschöpf paßte, das gerade die Prägeanstalt der Natur verlassen hat. Es begann umherzugehen, doch kaum hatte es einige Schritte getan, als es geräuschlos zerplatzte. Nichts blieb von ihm – der ganze Körper verschwand augenblicklich in demselben unsichtbaren Dunst, aus dem es entstanden war. »Das ist ein Beweis für die Richtigkeit dessen, was Sie sagten«, kommentierte Maskull, nachdem er seinen Schrecken verwunden hatte. »Ja«, antwortete Leehallfae, »wir sind jetzt in der Region der stärksten Energie.« »Da Sie in diesem Punkt recht haben, muß ich auch alles andere glauben, was Sie mir sagten.« Als er die Worte aussprach, umrundeten sie einen vorgeschobenen Felspfeiler und sahen sich unvermittelt dem Ende des Tals gegenüber. Direkt vor ihnen ragten hundert Meter hohe Felsklippen aus weißem, marmorähnlichem Gestein zum Himmel auf. Ein Weiterkommen schien unmöglich. »Als Gegenleistung für meine Weisheit«, sagte Leehallfae, »werden Sie mir nun Ihr Glück leihen.« Sie gingen bis zum Fuß der Felswand, und Maskull betrachtete sie nachdenklich. Der Fels war gegliedert und griffig, und es mußte möglich sein, ihn zu erklettern, aber der Aufstieg würde sehr schwierig werden. Der winzige Quell sprudelte aus einer Öffnung im Felsen, nur eineinhalb Meter über dem Boden. Abgesehen von den
hellen, musikalischen Geräuschen des kleinen Quellwassers herrschte Totenstille. Der Boden der Schlucht lag im Schatten, doch in halber Höhe wurden die Felswände vom Sonnenlicht angestrahlt. »Was soll ich tun?« fragte Maskull. »Alles ist jetzt in Ihren Händen, und ich habe keine Vorschläge zu machen. Wie ich sagte, es ist nun Ihr Glück, das uns helfen muß.« Maskull spähte auf der Suche nach einer Aufstiegsroute die Felswände hinauf. »Wir sollten lieber den Nachmittag abwarten, Leehallfae. Wahrscheinlich werden wir hinaufklettern müssen, aber jetzt ist es zu heiß, und außerdem bin ich müde. Ich werde ein paar Stunden schlafen. Danach werden wir weitersehen.« Leehallfae schien verdrossen, erhob jedoch keinen Widerspruch.
17 Maskull erwachte erst lange nach Blodsombre. Leehallfae stand an seiner Seite und blickte auf ihn herab. Er schien die ganze Zeit wach gewesen zu sein. Maskull setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Wie spät ist es?« fragte er. »Der Tag vergeht«, war die unbestimmte Antwort. Maskull erhob sich gähnend und blickte die Felswand hinauf. »Nun werde ich da hinaufsteigen müssen. Es ist nicht nötig, daß wir beide unsere Hälse riskieren, warten Sie also hier, und wenn ich oben etwas finde, werde ich Sie rufen.« »Außer kahlen Hügeln ist dort oben nichts«, sagte Leehallfae mit einem Lächeln. »Ich bin oft dort gewesen. Denken Sie an etwas Besonderes?« »Höhen bringen mir oft Inspirationen. Setzen Sie sich einstweilen und warten Sie ab.« Erfrischt von seinem Schlaf ging er sofort die Felswand an und
nahm die ersten acht oder zehn Meter in einem Ansturm. Dann wurde es schwieriger, und der Aufstieg verlangte größere Umsieht und Intelligenz. Es gab nicht allzu viele Griffe und Tritte, und er mußte jeden Schritt gründlich überlegen. Andererseits war es fester, gesunder Fels, und er war kein Neuling in den Bergen. Als er höher kam, geriet er in die sonnige Zone, wo Branchspell voll auf den Fels schien, dessen glitzernde Weiße ihn blendete. Nach vielen Zweifeln und Pausen näherte er sich dem oberen Ende der Wand. Er schwitzte und keuchte vor Anstrengung und fühlte sich schwindlig. Um einen Felsensims zu erreichen, zog er sich an zwei hervorstehenden Felsen hoch, die so günstig lagen, daß er mit jeder Hand einen fassen konnte, während er mit den Beinen dazwischen hochkletterte. Plötzlich löste sich der linke Felsvorsprung, brach mit anderen Brocken aus der Wand und krachte mit unheimlichem Gepolter in die Tiefe, gefolgt von kleineren Steinen und Geriesel. Maskull hielt sich mit zitternden Knien, wo er stand, aber es dauerte lange, bevor er es wagte, hinunterzublicken. Zuerst konnte er Leehallfae nicht ausmachen. Dann erblickte er Beine und Hinterteil am Fuß der Felswand. Er schloß aus der Haltung, daß der Phaen seinen Kopf in eine Höhle gesteckt hatte und etwas untersuchte und wartete, daß er wieder erscheine. Kurz darauf zog Leehallfae Kopf und Oberkörper aus der Höhlung, trat ein paar Schritte zurück, blickte zu Maskull auf und rief mit einer trompetenhaften Stimme: »Der Eingang ist hier.« »Ich komme runter«, brüllte Maskull. »Warten Sie auf mich!« Er kletterte rasch hinab – ohne allzu große Vorsicht, denn er glaubte in dieser Entdeckung sein ›Glück‹ wiederzuerkennen –, und innerhalb von zwanzig Minuten stand er neben Leehallfae. »Was ist passiert?« »Der Felsbrocken, den Sie lösten, traf den hier gerade über dem Spalt, den Sie da sehen. Er riß ihn aus seiner Einbettung. Sehen Sie – es ist Raum genug für uns, daß wir durchkriechen können!« »Regen Sie sich nicht auf«, sagte Maskull. »Es ist ein bemerkenswerter Zufall, aber wir haben viel Zeit, und vielleicht ist
es nicht mehr als eine gewöhnliche Höhle… Lassen Sie mich sehen.« Er spähte in die Öffnung, die groß genug war, einen Mann auf allen vieren durchzulassen. Im Kontrast zu dem Tageslicht draußen war es drin dunkel, doch ein besonderer Lichtschein erfüllte das Höhleninnere, und Maskull konnte gut genug sehen. Ein Felsstollen führte geradewegs ins Innere des Hügels. Der Wasserlauf floß nicht am Boden dieses Tunnels entlang, wie Maskull erwartet hatte, sondern entsprang als Quelle neben dem Eingang. »Nun, Leehallfae, das ist wirklich eine Entdeckung. Aber haben Sie auch bemerkt, daß Ihr Wasserlauf sich hier von uns trennt?« Als er sich umwandte, die Antwort des anderen zu hören, bemerkte er, daß sein Gefährte am ganzen Leib zitterte. »Wieso, was ist los?« Leehallfae preßte eine Hand an sein Herz. »Der Wasserlauf verläßt uns, aber das, was ihn zu dem macht, was er ist, bleibt bei uns. Faceny ist dort.« »Sicherlich erwarten Sie nicht, ihn persönlich zu sehen? Warum zittern Sie so?« »Vielleicht wird es nach allem zuviel für mich sein.« »Warum? Wie wirkt es auf Sie?« Der Phaen nahm ihn bei den Schultern und hielt ihn auf Armeslänge von sich, während er ihn mit unsicheren Augen ansah. »Facenys Gedanken sind dunkel. Ich bin sein Liebstes, Sie sind nur ein Liebhaber von Frauen, und doch gewährt er Ihnen, was er mir verweigert.« »Was gewährt er mir?« »Ihn zu sehen und weiterzuleben. Ich werde sterben. Aber das ist unwesentlich. Morgen werden wir beide tot sein.« Maskull befreite sich ungeduldig von den Händen des anderen. »Ihre Empfindungen mögen in Ihrem eigenen Fall zuverlässig sein, aber woher wissen Sie, daß ich sterben werde?« »Das Leben flammt in Ihnen auf«, erwiderte Leehallfae kopfschüttelnd, »aber nachdem es seinen Höhepunkt erreicht hat –
vielleicht heute abend – wird es rasch in sich zusammensinken, und morgen werden Sie sterben. Was mich betrifft, so werde ich, wenn ich Threal betrete, nicht wieder herauskommen. Aus diesem Loch schlägt mir Todesgeruch entgegen.« »Sie reden wie ein Mann, der Angst hat. Ich rieche nichts.« »Ich habe keine Angst«, sagte Leehallfae halbwegs ruhig, »aber wenn man so lange gelebt hat wie ich, ist das Sterben eine sehr ernsthafte Angelegenheit, denn mit jedem Jahr verwurzelt man sich fester im Leben.« »Entscheiden Sie sich, was Sie tun wollen«, sagte Maskull mit einem Anflug von Ungeduld und Geringschätzung. »Ich werde sofort hineingehen.« Der Phaen warf einen nachdenklichen Blick in die Runde, starrte zurück die Schlucht hinab und ging dann ohne ein weiteres Wort zur Öffnung. Er räumte lockere Felsbrocken heraus und stieg durch. Maskull folgte ihm. In dem Moment, als sie die plätschernde Quelle überschritten und in den Stollen eindrangen, veränderte sich die Atmosphäre. Ohne schal, muffig oder unangenehm zu werden, wurde sie kalt, klar und legte irgendwie Nüchternheit und Grabesgedanken nahe. Hinter der ersten Biegung des Stollens verschwand das Tageslicht. Danach konnte Maskull nicht sagen, woher das Licht kam. Die Luft selbst mußte leuchtend sein, denn obwohl der Lichtschein dem einer hellen Mondnacht auf Erden ähnelte, warfen weder er noch Leehallfae Schatten. Eine weitere Besonderheit des Lichts war, daß die Stollenwände und ihre eigenen Körper farblos erschienen. Alles war schwarz und weiß, wie eine lunare Landschaft. Dies verstärkte die düsteren Grabesempfindungen, die von der Atmosphäre geschaffen wurden. Nach ungefähr zehn Minuten begann der Gang weiterzuwerden. Das Höhlendach war hoch über ihren Köpfen, und sechs Männer hätten Seite an Seite gehen können. Leehallfae wurde zusehends schwächer. Er schleppte sich langsam und wie unter Schmerzen weiter und ließ den Kopf hängen. Maskull hielt ihn am Arm zurück.
»So können Sie nicht weitergehen. Kommen Sie, ich werde Sie zurückbringen.« Leehallfae lächelte mühsam und taumelte. »Ich sterbe.« »Reden Sie nicht so. Es ist nur ein vorübergehendes Unwohlsein. Ich werde Sie hinausführen, und im Tageslicht wird Ihnen gleich besser sein.« »Nein, helfen Sie mir weiter. Ich möchte Faceny sehen.« »Man muß den Kranken ihren Willen lassen«, murmelte Maskull. Er hob Leehallfae mit beiden Armen auf und trug ihn wie ein Kind weiter, bis der Tunnel nach ungefähr hundert Metern endete. Maskull sah sich einer Welt gegenüber, die anders war als alles, was ihm je vor Augen gekommen war. »Legen Sie mich nieder!« befahl Leehallfae mit schwacher Stimme. »Hier will ich sterben.« Maskull gehorchte und legte ihn auf den felsigen Grund. Der Phaen stützte sich mit Mühe auf einen Arm, hob seinen Oberkörper ein wenig und starrte mit glasig werdenden Augen auf die mystische Landschaft. Auch Maskull starrte, und was er sah, war eine weite, gewellte Ebene, beleuchtet wie vom Mond – aber natürlich gab es keinen Mond, und es gab keine Schatten. In der Ferne machte er fließende Gewässer aus. An ihren Ufern standen Bäume von besonderer Art; sie waren im Boden verwurzelt, doch auch die Äste waren Luftwurzeln, die sich in den Boden senkten, und sie hatten auch keine Blätter. Andere Pflanzen waren nicht zu sehen. Der Boden war weicher, poröser Felsen, der eine entfernte Ähnlichkeit mit Bimsstein hatte. In allen Richtungen ging das Licht nach einem oder zwei Kilometern in Dunkelheit über. Hinter ihnen erstreckte sich zu beiden Seiten eine gewaltige Felswand, zerklüftet und durch vorgelagerte Bastionen und Türme gegliedert. Das Dach dieser riesigen Unterwelt war nicht zu sehen. Hier und dort erhoben sich phantastisch verwitterte Säulen aus nacktem Fels in das trübe Zwielicht, die zweifellos als Stützpfeiler dienten. Es gab keine Farben – jedes Detail der Landschaft war schwarz, weiß oder grau.
Die Szenerie erschien so still, so feierlich und religiös, daß all seine Gefühle sich legten, bis er absolut ruhig war. Leehallfae fiel plötzlich zurück. Maskull kniete nieder und sah hilflos zu, wie das letzte Aufflackern der Lebensgeister erlosch, einer Kerze gleich, die in schlechter Luft erstickt. Der Tod kam… Er schloß ihm die Augen. Unmittelbar darauf erschien das schreckliche, gemeine Grinsen des Kristallmanns auf den Zügen des toten Phaen. Während Maskull noch kniete, wurde ihm bewußt, daß jemand neben ihm stand. Er blickte schnell auf und sah einen Mann, doch erhob er sich nicht sofort. »Wieder ein Phaen tot«, sagte der Neuankömmling mit ernster, tonloser Stimme. Maskull stand auf. Der Mann war klein und untersetzt, aber abgemagert. Kein Zusatzorgan entstellte seine Stirn. Er war von mittlerem Alter. Seine Züge wirkten energisch und ziemlich derb – doch schien es Maskull, als habe ein reines und hartes Leben einiges zu ihrer Verfeinerung bewirkt. Seine lebhaften Augen hatten einen nervösen, etwas überraschten Ausdruck; irgendein nicht zu beantwortendes Problem stand offenbar im Vordergrund seines Denkens. Sein Gesicht war bartlos, das Haar auf seinem Kopf kurzgeschoren, die Stirn breit. Er trug ein schwarzes, ärmelloses Gewand und einen langen Stab in der Hand. Seine ganze Erscheinung strahlte Reinheit und nüchterne Kargheit aus, die auf Maskull vertrauenerweckend und anziehend wirkten. Er fuhr fort, leidenschaftslos zu Maskull zu sprechen, und während er es tat, strich seine Hand immer wieder nachdenklich über Wangen und Kinn. »Sie alle finden ihren Weg hierher, um zu sterben. Sie kommen von Matterplay. Dort leben sie, bis sie ein unglaubliches Alter erreicht haben. Zum Teil deshalb und zum Teil wegen ihres spontanen Ursprungs betrachten sie sich als die bevorzugten Kinder Facenys. Aber wenn sie auf der Suche nach ihm hierherkommen, sterben sie sofort.«
»Ich glaube, dieser ist der letzte seiner Rasse. Aber zu wem spreche ich?« »Ich bin Corpang. Wer sind Sie, woher kommen Sie, und was tun Sie hier?« »Mein Name ist Maskull. Meine Heimat ist in einem anderen Teil des Universums. Was mein Hiersein betrifft – ich begleitete Leehallfae, diesen Phaen aus Matterplay, hierher.« »Aber ein Mensch begleitet einen Phaen nicht aus bloßer Freundschaft. Was wollen Sie in Threal?« »Dann ist dies hier Threal?« »Ja.« Maskull schwieg. Corpang musterte ihn neugierig. Nach einer Weile sagte er: »Sind Sie unwissend oder nur schweigsam, Maskull?« »Ich kam her, um Fragen zu stellen, und nicht, um welche zu beantworten.« Die Stille begann Maskull zu bedrücken. Keine Brise regte sich, und nicht ein Geräusch drang durch die Luft. Sie sprachen mit gesenkten, halblauten Stimmen, als ob sie in einer Kathedrale wären. »Dann wollen Sie meine Gesellschaft, oder nicht?« fragte Corpang. »Ja, wenn Sie sich mit meiner Eigenheit abfinden können, die darin besteht, daß ich nicht gern über mich spreche.« »Aber Sie müssen mir wenigstens sagen, wohin Sie gehen wollen.« »Ich möchte sehen, was es hier zu sehen gibt, und dann nach Lichstorm weiterziehen.« »Ich kann Sie durch Threal führen, wenn das alles ist, was Sie wollen. Kommen Sie, gehen wir.« »Zuerst müssen wir unsere Pflicht tun und den Toten begraben, wenn möglich.« »Drehen Sie sich um«, sagte Corpang. Maskull sah sich um. Leehallfaes Körper war verschwunden. »Was hat das zu bedeuten… Was ist geschehen?« »Der Körper ist dorthin zurückgekehrt, von wo er kam. Hier gab es keinen Platz für ihn, also ist er verschwunden. Eine Beerdigung wird
nicht nötig sein.« »War der Phaen dann eine Illusion?« »Keineswegs.« »Nun, dann erklären Sie mir rasch, was geschehen ist. Ich scheine langsam verrückt zu werden.« »Es ist nichts Unverständliches daran, wie Sie feststellen werden, wenn Sie ruhig zuhören. Der Phaen gehörte mit Körper und Seele der Außenwelt an – Facenys Welt. Diese Unterwelt ist nicht Facenys Welt, sondern Thires, und Facenys Geschöpfe können ihre Atmosphäre nicht atmen. Da dies nicht nur für ganze Körper gilt, sondern auch für die kleinsten Bestandteile von Körpern, hat sich der Phaen in Nichts aufgelöst.« »Aber gehören Sie und ich nicht auch der äußeren Welt an?« »Wir gehören allen drei Welten an.« »Welchen drei Welten… Wie meinen Sie das?« »Es gibt drei Welten«, sagte Corpang. »Die erste ist Facenys Welt, die zweite ist Amfuses, die dritte ist Thires. Von ihm hat Threal seinen Namen bekommen.« »Aber dies ist bloße Nomenklatur. In welchem Sinne gibt es drei Welten?« Corpang strich sich über die Stirn. »Wir können alles dies im Gehen diskutieren. Das Stillstehen ist eine Qual für mich.« Maskull starrte wieder auf die Stelle, wo Leehallfaes Körper gelegen hatte, noch völlig verwirrt von dessen Verschwinden. Er konnte sich aus irgendeinem Grund kaum von dem Platz losreißen, so geheimnisvoll war er. Erst als Corpang ihm ein zweites Mal zurief, entschloß er sich, ihm zu folgen. Sie verließen die Felswand und gingen geradewegs hinaus über die Ebene, auf die nächsten Bäume zu. Das gedämpfte Licht, die Schattenlosigkeit, die enormen Felssäulen, die sich grauweiß aus dem schwärzlichen Grund erhoben, die phantastischen Bäume, das Nichtvorhandensein eines Himmels, die Totenstille, das Wissen, daß er unter der Erde war – die Kombination all dieser Eindrücke und Empfindungen prädisponierten Maskull zum Mystizismus, und er
machte sich mit einiger Besorgnis auf Corpangs Erklärung des Landes und seiner Wunder gefaßt. Er begann bereits zu begreifen, daß die Wirklichkeit der Außenwelt und die Wirklichkeit dieser Welt zwei völlig verschiedene Dinge waren. »In welchem Sinne gibt es drei Welten?« fragte er noch einmal. Corpang stieß das Ende seines Stabs auf den Grund. »Zunächst einmal, Maskull, welches ist das Motiv Ihrer Frage? Wenn es bloße intellektuelle Neugierde ist, dann sagen Sie es mir, denn mit schrecklichen und ernsten Dingen spielt man nicht.« »Nein, das ist es nicht«, sagte Maskull langsam. »Ich bin kein Gelehrter, noch ist dies für mich eine Urlaubsreise.« »Liegt nicht eine Blutschuld auf Ihrer Seele?« fragte Corpang, der ihn aufmerksam und mißtrauisch musterte. Maskull errötete heftig, aber im toten Licht dieser Unterwelt ließ es sein Gesicht nur dunkler erscheinen. »Unglücklicherweise ist es so, und es ist keine geringe Schuld.« Der andere sagte nichts. »Und so sehen Sie«, fuhr Maskull mit verlegenem Auflachen fort, »bin ich in der besten Verfassung, Ihre Instruktionen zu empfangen.« Corpang schwieg noch immer. Nachdem er weitere zwanzig oder dreißig Schritte zurückgelegt hatte, sagte er endlich: »Unter Ihren Verbrechen sehe ich einen Menschen. Darum und weil wir gehalten sind, einander zu helfen, werde ich Sie jetzt nicht verlassen, obwohl ich nur ungern mit einem Mörder gehe… Nun zu Ihrer Frage. Was immer ein Mensch mit seinen Augen sieht, Maskull, sieht er in dreierlei Weise – Länge, Breite, Tiefe. Länge ist Existenz, Breite ist Beziehung, Tiefe ist Gefühl.« »Etwas Ähnliches erzählte mir Earthrid, der Musikant, der aus Threal kam.« »Ich kenne ihn nicht. Was sagte er Ihnen noch?« »Er fuhr fort, diesen Satz auf die Musik anzuwenden. Bitte fahren Sie fort und verzeihen Sie die Unterbrechung.« »Diese drei Wahrnehmungsformen sind die drei Welten. Existenz ist Facenys Welt, Beziehung ist Amfuses Welt, Gefühl ist Thires
Welt.« »Können wir nicht zu den Tatsachen kommen?« sagte Maskull stirnrunzelnd. »Ich verstehe dadurch nicht besser als zuvor, was Sie mit drei Welten meinen.« »Es gibt keine anderen Tatsachen als diejenigen, die ich Ihnen nenne. Die erste Welt ist sichtbare, greifbare Natur. Sie wurde von Faceny aus dem Nichts geschaffen, und darum nennen wir sie Existenz.« »Das verstehe ich.« »Die zweite Welt ist Liebe – womit ich nicht Lust meine. Ohne Liebe würde jedes Individuum völlig egozentrisch sein, unfähig, auf andere einzugehen und mit Rücksicht auf andere zu handeln. Ohne Liebe würde es keine Sympathie geben – nicht einmal Haß, Wut oder Vergeltung würden möglich sein. Diese sind allesamt unvollkommene und verzerrte Formen reiner Liebe. Amfuses Welt der Liebe oder Beziehung durchdringt darum Facenys Welt der Natur.« »Welche Gründe haben Sie für die Annahme, daß diese sogenannte zweite Welt nicht in der ersten enthalten ist?« »Sie sind gegensätzlich. Ein natürlicher Mensch lebt für sich selbst, allenfalls für seine Kinder. Jemand, der die Menschen liebt, lebt für andere.« »Mag sein. Es klingt ziemlich mystisch. Aber sprechen Sie weiter – wer ist Thire?« »Länge und Breite ohne Tiefe ergibt Fläche. Leben und Liebe zusammen ohne Gefühl bringen seichte, oberflächliche Naturen hervor. Gefühl ist das Bedürfnis der Menschen, die Hände zu ihrem Schöpfer zu erheben.« »Sie meinen in Gebet und Verehrung?« »In Verehrung und Intimität mit Thire. Dieses Gefühl ist weder in der ersten noch in der zweiten Welt zu finden, darum ist es eine dritte Welt. So wie Tiefe die Grenze zwischen Objekt und Subjekt ist, ist Gefühl die Grenze zwischen Thire und dem Menschen.« »Aber was ist Thire selbst?«
»Thire ist die Nachwelt.« »Ich verstehe noch immer nicht«, sagte Maskull. »Glauben Sie an drei verschiedene Götter, oder ist dies bloß eine besondere Art, einen Gott zu sehen?« »Es gibt drei Götter, denn sie stehen einander antagonistisch gegenüber… Dennoch sind sie irgendwie vereint.« Maskull dachte eine Weile nach. Er sagte: »Wie sind Sie zu diesen Schlußfolgerungen gelangt?« »Keine anderen sind in Threal möglich, Maskull.« »Warum in Threal… Was ist hier so besonders?« »Ich werde es Ihnen zeigen.« Sie gingen schweigend weiter, während Maskull das Gesagte zu verdauen suchte. Als sie nach fast zwei Kilometern zu den ersten Bäumen kamen, die an den Ufern eines kleinen Baches mit durchsichtigem Wasser wuchsen, blieb Corpang stehen. »Diese Bandage um Ihre Stirn ist längst überflüssig«, bemerkte er. Maskull entfernte sie. Er fand, daß seine Stirn glatt und frei von zusätzlichen Organen war. Seit seiner Ankunft auf Tormance war sie nicht mehr so gewesen. »Wie ist das geschehen? Und wie ist es möglich, daß Sie es wußten?« »Es waren Facenys Organe. Sie sind verschwunden, genauso wie der Körper des Phaen verschwand.« Maskull betastete und rieb sich die Stirn. »Ohne sie fühle ich mich menschlicher. Aber warum ist der Rest meines Körpers nicht betroffen?« »Weil sein lebendiger Wille das Element von Thire enthält.« »Warum halten wir hier?« Corpang brach die Spitze von einer der Luftwurzeln eines Baums und reichte sie ihm. »Essen Sie dies, Maskull.« »Als Nahrung oder etwas anderes?« »Als Nahrung für Leib und Seele.« Maskull biß in die Wurzel. Sie war weiß und hart; sie enthielt weißlichen Saft und hatte keinen Geschmack, aber nachdem er sie
gegessen hatte, erfuhr seine Wahrnehmung eine Veränderung. Die Landschaft, ohne ihr Licht oder ihre Umrisse zu verändern, erschien ihm jetzt strenger und heiliger als zuvor. Und als er Corpang ansah, beeindruckte ihn ein neuer Aspekt von Erhabenheit, der ihm zuvor entgangen war, wenn auch der überraschte Ausdruck in seinen Augen geblieben war. »Verbringen Sie Ihre ganze Zeit hier, Corpang?« »Gelegentlich gehe ich hinauf, aber nicht oft.« »Was bindet Sie an diese düstere Welt?« »Die Suche nach Thire.« »Dann ist es also immer noch eine Suche?« »Lassen Sie uns weitergehen.« Als sie ihre Wanderung über die trübe, langsam ansteigende Ebene wieder aufnahmen, wurde der Charakter ihres Gesprächs noch ernster als vorher. »Obwohl ich nicht hier geboren wurde«, sagte Corpang, »lebe ich hier seit fünfundzwanzig Jahren, und während all dieser Zeit bin ich Thire nähergekommen, wie ich hoffe. Aber es ist eine Besonderheit daran – die ersten Stadien sind fruchtbringender und vielversprechender als die späteren. Je länger ein Mensch Thire sucht, desto mehr scheint er sich von ihm zu entfernen. Am Anfang ist er kenntlich und fühlbar, manchmal als Gestalt, zuweilen als Stimme, gelegentlich auch als eine überwältigende Emotion. Später ist alles in der Seele trocken, dunkel und rauh. Dann könnte man meinen, daß Thire eine Million Meilen entfernt sei. »Wie erklären Sie das?« »Wenn alles am dunkelsten ist, mag Thire am nächsten sein, Maskull.« »Aber dies beunruhigt Sie?« »Ich verbringe meine Tage in Qualen.« »Aber Sie bleiben beharrlich? Diese trockene Dunkelheit, wie Sie es nennen, kann nicht der endgültige Zustand sein?« »Meine Fragen werden Antwort finden.« Nach längerem Schweigen fragte Maskull: »Was wollen Sie mir
zeigen?« »Die Landschaft wird bald unwegsamer. Ich führe Sie zu den drei Gestalten, die von einer früheren Menschenrasse gemacht und aufgerichtet wurden. Dort werden wir beten.« »Und was dann?« »Wenn Sie redlich sind, werden Sie Dinge sehen, die Sie nicht leicht vergessen werden.« Sie waren in einer Art Trogtal zwischen zwei parallelen, sanft ansteigenden Kämmen. Das Trogtal vertiefte sich nun, während die Hänge zu beiden Seiten steiler wurden. Es war ein ansteigendes Tal, das immer wieder Windungen machte und den Blick auf die übrige Landschaft versperrte. Sie kamen zu einer kleinen Quelle, die aus dem Boden sprudelte. Sie bildete ein plätscherndes kleines Rinnsal, das sich von allen anderen Wasserläufen dadurch unterschied, daß es talaufwärts statt talabwärts floß. Nicht lange, und weitere kleine Rinnsale und Quellbäche mündeten ein, so daß es schließlich ein wasserreicher Bach wurde. Maskull beobachtete ihn wieder und wieder mit Stirnrunzeln. »Die Natur hat hier andere Gesetze, wie es scheint.« »Nichts kann hier existieren, was nicht ein Gemisch von den drei Welten ist.« »Doch das Wasser fließt irgendwohin.« »Ich kann es nicht erklären, aber es gibt drei Willen darin.« »Gibt es nicht so etwas wie reine Thire-Materie?« »Thire kann ohne Amfuse nicht existieren, und Amfuse kann ohne Faceny nicht existieren.« Maskull dachte einige Minuten darüber nach. »Das muß so sein«, sagte er schließlich. »Ohne Leben kann es keine Liebe geben, und ohne Liebe kann es keine religiösen Gefühle geben.« Die Hänge waren zu schroffen Steilwänden geworden, während das Talbecken ständig schmaler wurde. Kein Lebewesen war zu sehen. Alles wirkte unnatürlich und war von düsterer Feierlichkeit. Maskull sagte: »Ich komme mir wie ein Toter vor, der in der Unterwelt wandert.«
»Ich weiß noch immer nicht, was Sie hier tun«, antwortete Corpang. »Warum sollte ich weiter ein Geheimnis daraus machen… Ich kam, Surtur zu suchen.« »Diesen Namen habe ich gehört – aber unter welchen Umständen?« »Sie vergessen?« Corpang ging weiter, den Blick auf dem steinigen Boden, offensichtlich beunruhigt. »Wer ist Surtur?« Maskull schüttelte den Kopf und sagte nichts. Das Tal verengte sich bald darauf so sehr, daß die beiden Männer, mit ausgestreckten Armen nebeneinander stehend und die Fingerspitzen in der Mitte zusammengelegt, mit den freien Händen die Felswände zu beiden Seiten hätten berühren können. Die Schlucht drohte in einer Sackgasse zu enden, aber gerade als sie am hoffnungslosesten aussah und Maskull und Corpang sich auf allen Seiten von aufragenden Felswänden umstellt sahen, entließ sie eine zuvor nicht wahrgenommene Biegung in ein anderes Tal. Sie kamen durch einen schmalen Riß in der natürlichen Mauer und befanden sich nun in einem gewaltigen, natürlichen Korridor, der rechtwinklig zu dem Weg verlief, den sie gekommen waren; beide Enden verloren sich nach einigen hundert Metern in der Dunkelheit. Genau in der Mitte dieses Korridors verlief ein Abgrund mit senkrechten Wänden; seine Breite wechselte zwischen zehn und dreißig Metern, aber seine Sohle war nicht auszumachen. Auf beiden Seiten des Abgrunds blieben Felsplattformen oder Stufen, deren Breite durchschnittlich sieben bis zehn Meter betragen mochte; auch diese Terrassen erstreckten sich in beiden Richtungen bis zur Grenze der Sichtbarkeit. Maskull und Corpang waren auf eine dieser Terrassen hinausgetreten. Die Terrasse gegenüber war ungefähr einen Meter höher als diejenige, auf der sie standen. Die Felswände, die im Rücken der Terrassen unersteigbar aufragten, verloren sich im düsteren Zwielicht der Höhe. Maskull sah, daß der Bach, der ihre Schlucht, durch die sie
gekommen waren, in die Felsen gesägt hatte, geradeaus weiterfloß, dann aber, statt als ein Wasserfall in den Abgrund zu stürzen, diesen wie eine flüssige Brücke überspannte und durch einen Riß in der Felswand auf der anderen Seite verschwand. Was Maskull jedoch noch fremdartiger und bemerkenswerter als dieses unnatürliche Phänomen zu sein schien, war die Schattenlosigkeit, die hier noch auffälliger war als auf der Ebene. Sie ließ den Ort wie eine Halle von Phantomen erscheinen. Corpang bog nach links und wanderte die Terrasse entlang, ohne stehenzubleiben. Nach einer Viertelstunde verbreiterte sich der Abgrund auf nahezu sechzig Meter. Auf der Terrasse gegenüber ragten drei große Felsen auf; sie erinnerten an drei aufrecht stehende Riesen, die bewegungslos Seite an Seite am Rand des Abgrunds standen. Näherkommend sah Maskull, daß sie Statuen waren. Jede mochte etwa zehn Meter hoch sein, und die künstlerische und technische Bearbeitung war von derber, primitiver Art. Die Statuen stellten nackte Männer dar, doch waren die Glieder und Rümpfe sehr grob und mehr andeutungsweise ausgemeißelt worden. Allein den Gesichtern hatte man mehr Sorgfalt zugewandt, doch selbst diese Gesichter sahen schablonenhaft starr und ausdrucksarm aus. Diese Skulpturen waren offensichtlich die Arbeit primitiver Bildhauer ohne Kulturtradition. Sie standen aufrecht, mit geschlossenen Knien und gerade herabhängenden Armen. Alle drei sahen genau gleich aus. Als sie sich ihnen direkt gegenüber befanden, machte Corpang halt. »Ist dies eine Darstellung Ihrer drei Wesen?« fragte Maskull, der angesichts der Dimensionen dieser Statuen und ihrer Umgebung eine Anwandlung von ehrfürchtiger Bewunderung verspürte. »Stellen Sie keine Fragen, sondern knien Sie nieder«, erwiderte Corpang. Er fiel auf die Knie, doch Maskull blieb stehen. Corpang bedeckte die Augen mit einer Hand und betete stumm. Nach einigen Minuten war eine deutliche Abnahme der Helligkeit auszumachen. Nun kniete Maskull auch nieder, aber er hielt die Augen offen.
Es wurde dunkler und dunkler, bis alles in schwärzeste Nacht getaucht schien. Er hatte mit einemmal keine Sinneswahrnehmungen mehr… Er war allein mit seinem eigenen Geist. Dann kam einer von den drei Kolossen allmählich wieder in Sicht. Aber er hatte aufgehört, eine Statue zu sein – er war eine lebendige Person. Aus der Schwärze des Raums tauchten ein gigantischer Kopf und Oberkörper auf, beleuchtet von einem mystischen rosa Glühen wie ein Berggipfel, der von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne getroffen wird. Als das Licht kräftiger wurde, sah Maskull, daß der Körper des Giganten durchscheinend war und das Glühen aus dem Innern kam. Die Beine und Arme der Erscheinung waren in Nebelschleier gehüllt. Es dauerte nicht lange, und die Gesichtszüge wurden deutlich sichtbar. Es waren die eines bartlosen jungen Mannes von zwanzig Jahren. Er vereinigte die Schönheit eines Mädchens mit der wagemutigen Kraft eines Knaben; ein spöttisches, rätselhaftes Lächeln umspielte die Lippen. Maskull fühlte die schmerzliche und geheimnisvolle Faszination eines Mannes, der in schneeloser Winternacht aus tiefem Schlaf fährt und die dunklen, fein abgestuften Farben der frühen Morgendämmerung sieht. Die Vision lächelte, schwieg und blickte über ihn hinweg. Schauer überrieselten ihn, und als er die mystische Riesengestalt anblickte, überwältigte ihn ein Sturm von Gefühlen, den er nicht länger ertragen konnte und er in Tränen ausbrach. Als er wieder aufblickte, war das Bild fast verschwunden, und einige Augenblicke später sah er sich abermals in völliger Dunkelheit. Bald danach erschien eine zweite Statue. Auch sie hatte sich in eine lebendige Gestalt verwandelt, doch war es Maskull nicht möglich, die Details ihres Gesichts und Körpers zu sehen, denn sie strahlte blendendes Licht aus. Dieses Licht, das als blaßgoldener Glanz begonnen hatte, endete als eine flammende goldene Glut, die die ganze unterirdische Landschaft illuminierte. Die Felsterrassen, die Wände, er selbst und Corpang auf den Knien, die zwei anderen
Statuen – alles erschien wie im Sonnenlicht, und die Schatten waren schwarz und scharf. Das Licht trug Wärme mit sich, doch es war Wärme besonderer Art. Maskull fühlte kein Ansteigen der Temperatur, doch schien er in femininem Gefühlsüberschwang dahinzuschmelzen. Seine männliche Härte, Arroganz und Nüchternheit verblaßten unmerklich; seine Persönlichkeit schien sich aufzulösen. Was zurückblieb, war nicht Freiheit des Geistes oder Sorglosigkeit, sondern ein leidenschaftlicher und beinahe quälender Zustand von Mitleid und Schmerz. Er verspürte ein unwiderstehliches Verlangen zu dienen. All dies wurde durch die wärmende Strahlung der Statue bewirkt und war nicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtet. Er blickte furchtsam umher und sah Corpang. Er legte seine Hand auf dessen Schulter und rüttelte ihn aus der Versunkenheit seines Gebets. »Sie müssen wissen, was ich fühle, Corpang.« Corpang lächelte süßlich, sagte aber nichts. »Meine eigenen Angelegenheiten kümmern mich nicht mehr. Wie kann ich Ihnen helfen?« »Desto besser für Sie, Maskull, wenn Sie so rasch auf die unsichtbaren Welten reagieren.« Sobald er gesprochen hatte, begann die Gestalt zu verschwinden, und das Licht erstarb über der Landschaft. Maskulls Gefühlsaufwallung verebbte langsam, doch erst als er wieder in völliger Dunkelheit war, gelang es ihm, Herr seiner selbst zu werden. Dann schämte er sich seiner jungenhaften Schaustellung von Enthusiasmus und dachte trübselig, daß sein Charakter einiges zu wünschen übrig lassen müsse. Er stand auf. In diesem Moment seines Aufstehens erklang die Stimme eines Mannes, nicht einen Meter von seinem Ohr entfernt. Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber er konnte mit Sicherheit sagen, daß es nicht Corpangs Stimme war. Während er lauschte, ging ein Zittern durch seinen Körper, das er nicht kontrollieren konnte. »Maskull, du mußt sterben«, sagte der unsichtbare Sprecher. »Wer spricht da?«
»Du hast nur noch wenige Stunden zu leben. Vergeude die Zeit nicht mit Belanglosigkeiten.« Maskull konnte kein Wort mehr herausbringen. »Du hast das Leben verachtet«, fuhr die leise Stimme fort. »Glaubst du wirklich, daß diese mächtige Welt keine Bedeutung habe und daß das Leben ein Scherz sei?« »Was soll ich tun?« »Bereue deine Morde, begehe keine weiteren, achte und ehre…« Die Stimme erstarb. Maskull wartete stumm, daß sie fortfahre, doch alles blieb still, und der Sprecher schien fortgegangen zu sein. Übernatürlicher Schrecken ergriff Maskull; er wurde von einer Art Katalepsie befallen. In diesem Moment sah er das blasse Leuchten einer der Statuen verblassen. Er hatte sie zuvor nicht leuchten sehen. Wenige Minuten später kehrte das normale Licht zurück. Corpang erhob sich und schüttelte ihn aus seiner Trance. Er blickte umher, sah aber keine dritte Person. »Wessen Statue war die letzte?« fragte Maskull. »Thires.« »Hörten Sie mich sprechen?« »Ich hörte Ihre Stimme, aber keine andere.« »Man hat mir eben meinen baldigen Tod prophezeit, also nehme ich an, daß ich tatsächlich nicht mehr lang zu leben habe. Leehallfae sagte das gleiche voraus.« Corpang schüttelte den Kopf. »Welchen Wert messen Sie dem Leben bei?« fragte er. »Sehr geringen. Trotzdem ist es eine furchtbare Sache.« »Ihr Tod?« »Nein, diese Warnung.« Sie sprachen nicht weiter. Tiefe Stille lag über der Schlucht. Keiner der beiden Männer schien zu wissen, was nun zu tun sei oder wohin sie gehen sollten. Dann hörten beide das Geräusch von Trommeln. Es war langsam, feierlich und eindrucksvoll, weit entfernt und nicht laut, aber vor dem Hintergrund der absoluten Stille sehr deutlich. Es
schien von irgendeinem Punkt zur Linken zu kommen, den sie nicht sehen konnten, der aber auf derselben Felsterrasse sein mußte. Maskulls Herz pochte schneller. »Was kann dieses Geräusch sein?« fragte Corpang, der angestrengt ins Halbdunkel spähte. »Es ist Surtur.« »Noch einmal, wer ist Surtur?« Maskull packte ihn am Arm und drückte ihn so fest, daß Corpang verstummte. In der Richtung des Trommelns war eine seltsame Strahlung in der Luft. Ihre Intensität nahm zu und erfüllte allmählich die ganze Szene. Die Dinge erschienen nicht länger in Thires Licht, sondern in diesem neuen. Es warf keine Schatten. Corpang stand hochaufgerichtet, und seine Nasenflügel bebten, als wittere er etwas. »Was für ein Feuer ist das?« »Es ist Muspel-Licht.« Sie wandten beide instinktiv die Köpfe und blickten zu den drei Statuen. In der neuen Beleuchtung hatten sie sich verändert. Das Gesicht jeder Statue trug die gemeine und scheußliche Maske des Kristallmanns. Corpang stieß einen entsetzten Schrei aus und bedeckte die Augen mit den Händen. Als er seinen Schrecken überwunden hatte, murmelte er: »Was kann das bedeuten?« »Es muß bedeuten, daß das Leben schlecht ist, und der Schöpfer des Lebens auch, ob er nun eine Person ist oder drei.« Corpang sah wieder hinüber wie ein Mann, der sich an einen zutiefst schockierenden Anblick zu gewöhnen sucht. »Können wir dies glauben?« »Sie müssen«, erwiderte Maskull. »Sie haben immer dem Höchsten gedient, und das sollten Sie auch in Zukunft tun… Es hat sich nur herausgestellt, daß Thire nicht der Höchste ist.« Grobschlächtige Wut ließ Corpangs Gesicht anschwellen. »Das Leben ist wirklich schlecht… Ein Leben lang habe ich Thire gesucht, und nun finde ich dies.« »Sie haben keinen Anlaß, sich Selbstvorwürfe zu machen. Der Kristallmann hatte eine Ewigkeit, in der er seine Schlauheit üben
konnte, darum ist es kein Wunder, wenn unsereiner nicht klar sehen kann, selbst mit den besten Absichten. Was wollen Sie tun?« »Das Trommeln scheint sich zu entfernen. Werden Sie ihm folgen, Maskull?« »Ja.« »Aber wohin wird es uns führen?« »Vielleicht ganz aus Threal hinaus.« »Es hört sich wirklicher an als die Wirklichkeit«, sagte Corpang. »Sagen Sie mir, wer ist Surtur?« »Surturs Welt, oder Muspel, ist, wie man uns sagt, das Original, von dem diese Welt nur eine verzerrte Kopie ist. Der Kristallmann ist das Leben, aber Surtur ist anders als Leben.« »Woher wissen Sie dies?« »Es hat sich irgendwie zusammengefügt… Aus Inspiration, aus Erfahrung, aus Gesprächen mit den weisen Männern Ihres Planeten. Mit jeder Stunde wird es wahrer für mich und nimmt deutlichere Konturen an.« Corpang wandte sich halb um, so daß er den drei Statuen gegenüberstand. Seine Haltung straffte sich; Energie und harte Entschlossenheit zeichneten sein Gesicht. »Ich glaube Ihnen, Maskull. Ein besserer Beweis als das ist nicht nötig. Thire ist nicht der Höchste… In einem gewissen Sinn ist er sogar der Niedrigste. Nur ein durch und durch schlechter und niedriger Charakter konnte sich zu solchen Täuschungen erniedrigen… Ich gehe mit Ihnen – aber spielen Sie nicht den Verräter. Diese Zeichen mögen für Sie und nicht für mich sein, und wenn Sie mich verlassen…« »Ich mache keine Versprechungen. Ich ersuche Sie nicht, mit mir zu kommen. Wenn Sie es vorziehen, in Ihrer kleinen Welt zu bleiben, oder wenn Sie irgendwelche Zweifel daran haben, sollten Sie lieber nicht mitkommen.« »Sprechen Sie nicht so. Ich werde niemals vergessen, was für einen Dienst Sie mir erwiesen haben. Kommen Sie, wir wollen uns beeilen oder wir verlieren das Geräusch.«
Corpang setzte sich in Bewegung und schritt eifriger aus als Maskull. Sie gingen eilig in die Richtung, aus der von ferne immer noch das Trommeln erklang. Der Weg führte sie zwei Kilometer weit auf der Terrasse entlang, ohne die Ebene zu verändern. Die geheimnisvolle Strahlung ließ allmählich nach und wurde vom normalen Licht Threals ersetzt. Die rhythmischen Trommelschläge dauerten an, aber noch immer waren sie weit vor ihnen; es schien Maskull und Corpang unmöglich, die Distanz zu verringern. »Was für ein Mensch sind Sie?« fragte Corpang plötzlich, während sie dahinmarschierten. »In welcher Hinsicht?« »Wie kommt es, daß Sie mit dem Unsichtbaren auf so vertrautem Fuß stehen? Wie ist es möglich, daß ich diese Erfahrungen niemals machte, bevor ich Ihnen begegnete, trotz meiner niemals endenden Gebete und Selbstkasteiungen? In welcher Weise sind Sie mir überlegen?« »Ich habe einen einfachen und unvoreingenommenen Geist«, antwortete Maskull. »Das mag der Grund sein, warum ich manchmal Dinge höre, die Ihnen bisher entgangen sein mögen.« Die Felsterrasse begann anzusteigen. Nach weiteren zwei Kilometern waren sie hoch über der Terrasse auf der anderen Seite der Schlucht. Wenig später bog der Weg scharf nach rechts, und sie überquerten den Abgrund und die andere Terrasse wie auf einer Brücke, kamen auf die Gipfel der gegenüberliegenden Klippen und traten auf eine Hochfläche. Doch schon nach kurzer Zeit standen sie wieder vor unersteigbaren Felswänden. Sie folgten dem Trommelklang am Fuß dieser Wände entlang, aber als sie die Öffnung einer großen Höhle passierten, kam das Geräusch aus ihren Tiefen, und sie betraten die Höhlenmündung. »Diese Höhle führt zur Oberwelt«, bemerkte Corpang. »Ich bin gelegentlich durch diese Passage hinaufgegangen.« »Dann ist es zweifellos Surturs Wille, daß wir zur Oberwelt zurückkehren. Ich muß zugeben, daß ich es nicht bedauern werde, wieder Sonnenlicht zu sehen.«
»Können Sie die Zeit finden, an Sonnenlicht zu denken?« fragte Corpang. »Ich liebe die Sonne, und vielleicht fehlt mir etwas vom Glaubenseifer und Geist eines Zeloten.« »Trotzdem werden Sie vor mir dort sein.« »Seien Sie nicht verbittert«, sagte Maskull. »Ich will Ihnen noch was sagen. Muspel kann nicht durch Wollen herbeigezwungen werden, aus dem einfachen Grund, weil Muspel den Willen nicht betrifft. Wollen ist eine Eigenheit dieser Welt.« »Wozu dient dann Ihre Reise?« »Es ist eine Sache, zu einem Ziel zu gehen und sich unterwegs Zeit zu lassen, und es ist eine ganz andere Sache, dorthin zu rennen, so schnell man kann.« »Vielleicht bin ich doch nicht so leicht zu täuschen, wie Sie denken«, sagte Corpang. Das Licht leuchtete auch in der Höhle und erhellte ihren Weg. Bald verengte die Höhle sich zu einem unterirdischen Felsspalt, der steil aufwärts führte. Nach kurzer Zeit machte der Neigungswinkel fünfundvierzig Grad aus, und sie mußten klettern. Der Felsspalt wurde so eng, daß Maskull an Alpträume seiner Kindheit erinnert wurde. Bald darauf sahen sie Tageslicht. Maskull kletterte zuerst in die Welt der Farben und des weiten Himmels hinauf und stand blinzelnd auf einem steilen Hang, schmutzig und aus zahlreichen Kratzwunden blutend, gebadet im hellen Licht der Nachmittagssonne. Corpang folgte ihm auf den Fersen. Er mußte seine Augen minutenlang mit beiden Händen beschirmen, so ungewohnt waren ihm Branchspells blendende Strahlen. »Die Trommelschläge haben aufgehört«, sagte er aufgeregt. »Sie können nicht die ganze Zeit Musik erwarten«, antwortete Maskull trocken. »Wir dürfen nicht zuviel verlangen.« »Aber nun haben wir keinen Führer. Wir sind nicht besser daran als zuvor.« »Nun, Tormance ist ein großer Planet. Aber ich habe eine
unfehlbare Regel. Da ich aus dem Süden gekommen bin, gehe ich immer nach Norden.« »Das wird uns nach Lichstorm bringen.« Maskull blickte auf die Felsen und Schutthalden ringsum. »Ich sah diese Felsen von Matterplay aus. Die Berge scheinen von hier genauso weit entfernt zu sein wie von dort aus, und der Tag ist bald vorüber. Wie weit ist Lichstorm von hier?« Corpang überblickte das Land bis zu den fernen Gebirgszügen. »Ich weiß es nicht, aber wenn kein Wunder geschieht, werden wir heute abend nicht hinkommen.« »Ich habe das Gefühl«, sagte Maskull, »daß wir nicht nur heute abend dort sein werden, sondern daß der heutige Abend der wichtigste in meinem Leben sein wird.« Und er setzte sich nieder, um auszuruhen.
18 Während Maskull saß, wanderte Corpang ruhelos auf und ab, schwenkte seine Arme und blickte unruhig umher. Er hatte seinen Stab verloren. Unterdrückte Ungeduld rötete sein Gesicht, dessen natürliche Grobschlächtigkeit dadurch betont wurde. Schließlich machte er vor Maskull halt und blickte auf ihn herab. »Was haben Sie vor?« Maskull blickte auf und machte eine müßige Handbewegung zu den Bergen. »Da wir nicht marschieren können, müssen wir warten.« »Worauf?« »Ich weiß nicht… Aber wie ist das möglich? Diese Gipfel haben ihre Farbe geändert, von rot zu grün.« »Ja, der Lich-Wind bläst in unserer Richtung.« »Der Lich-Wind?« »Es ist die Atmosphäre von Lichstorm. Sie bleibt immer in den Bergen hängen, aber wenn der Wind aus dem Norden bläst, kommt
sie bis Threal.« »Dann ist sie eine Art Nebel?« »Eine besondere Art, denn es heißt, sie errege die sexuellen Leidenschaften.« »Also sollen wir unseren Trieben folgen«, sagte Maskull lächelnd. »Vielleicht werden Sie es nicht so lustig finden«, erwiderte Corpang grimmig. »Aber sagen Sie mir – diese Gipfel dort, wie können sie ihr Gleichgewicht wahren?« Corpang blickte zu den fernen, überhängenden Bergen, die rasch im Dunst des frühen Abends untergingen. »Die Leidenschaft hindert sie daran, einzustürzen.« Maskull lachte; er verspürte eine seltsame Beunruhigung. »Was für eine Leidenschaft?« fragte er. »Zwischen Felsen und Felsen? Oder was?« »Es ist komisch, aber wahr.« »Wir werden uns das genauer ansehen. Jenseits der Berge liegt Barey, nicht wahr?« »Ja.« »Und dahinter liegt der Ozean. Aber was für ein Ozean, wie wird er genannt?« »Das erfahren nur diejenigen, die an seinem Ufer sterben.« »Ist das Geheimnis so kostbar, Corpang?« Branchspell näherte sich dem Westhorizont; es blieben vielleicht noch zwei Stunden Tageslicht. Die Luft um sie her begann graublau und trüb zu werden. Es war ein feiner Dunst, weder feucht noch kalt. Die Bergketten von Lichstorm erschienen jetzt nur noch wie verwischte Schemen am Horizont. Der Abend hatte eine elektrische und prickelnde Atmosphäre, die Maskull in unerklärliche Erregung versetzte. Er fühlte eine Art emotionaler Entzündung, als ob ein geringer äußerer Anlaß ausreichen könnte, seine Selbstbeherrschung zu zerstören. Corpang stand stumm vor ihm, den Mund eisenhart und fest geschlossen. Maskull nickte zu einem hohen Haufen von Felstrümmern in der
Nähe. »Das scheint ein guter Aussichtspunkt zu sein. Vielleicht werden wir von der Höhe aus etwas sehen.« Ohne die Meinung seines Gefährten abzuwarten, begann er hinaufzuklettern, und nach wenigen Minuten stand er auf dem Gipfel. Corpang trat neben ihn. Von ihrem Aussichtspunkt sahen sie das ganze Land, wie es sich langsam zum See hin absenkte, der wie ein bleigrauer Streifen unter dem dunstigen Abendhorizont lag. Maskulls Aufmerksamkeit wurde jedoch von einem kleinen Gegenstand angezogen, der wie ein Boot geformt war und sich in einer Entfernung von ungefähr drei Kilometern rasch auf sie zu bewegte. Als das Ding näher kam, bemerkte Maskull, daß es einen oder zwei Meter über dem Boden schwebte. »Was sagen Sie dazu?« fragte er verdutzt. Corpang schüttelte den Kopf und sagte nichts. Innerhalb von zwei Minuten hatte das Flugobjekt, was immer es war, die Entfernung halbiert. Es ähnelte mehr und mehr einem Boot, aber sein Flug war erratisch, ruckartig und mit zahlreichen Kursänderungen, nicht glatt und gleichmäßig; sein Bug tanzte ständig aufwärts und abwärts und von einer Seite zur anderen. Nun machte Maskull einen Mann aus, der im Heck saß, und mittschiffs lag etwas, das wie ein großes totes Tier aussah. Als die Flugmaschine näher kam, bemerkte er dichten blauen Dunst darunter und dahinter wie von den Abgasen eines Motors, aber er hörte kein Geräusch. »Das muß sein, worauf wir gewartet haben, Corpang. Aber was in aller Welt bewegt es durch die Luft?« Weil er befürchtete, der Lenker des Fahrzeugs werde sie nicht bemerken, stieg er auf den höchsten Felsblock, brüllte laut und fuchtelte wild mit den Armen. Das Flugobjekt, das nur noch etwa hundert Schritte entfernt war, veränderte seinen Kurs ein wenig und hielt nun genau auf sie zu. Es gab keinen Zweifel, daß der Steuermann sie gesehen hatte. Das Boot verringerte seine Geschwindigkeit, bis es im
Fußgängertempo dahinglitt, doch die Unregelmäßigkeiten seiner Bewegung dauerten an. Es war ziemlich sonderbar geformt. Ungefähr sieben Meter lang, liefen seine glatten Seiten vom eineinhalb Meter breiten, gerade abgeschnittenen Bug, allmählich zum spitzen Heck zu. Der flache Boden war keine drei Meter über dem Grund. Das seltsame Vehikel war offen und trug nur einen lebenden Insassen; das andere Objekt, das sie von weitem ausgemacht hatten, war tatsächlich der Kadaver eines Tiers und hatte ungefähr die Größe eines stattlichen Schafbocks. Der bläuliche Rauch, den das Boot hinter sich ließ, schien von der glitzernden Spitze eines kurzen, aufrecht stehenden Pfostens auszugehen, der im Heck befestigt war. Als das Boot bis auf wenige Schritte herangekommen war und sie verwundert von oben darauf hinabstarrten, zog der Mann diesen Pfosten heraus und bedeckte die strahlend funkelnde Spitze mit einer Kappe. Darauf hörte die Vorwärtsbewegung auf, und das Boot begann wie steuerlos zu treiben, blieb aber wie in der Luft aufgehängt. Schließlich berührte die Breitseite die Felsen, auf denen Maskull und Corpang standen. Der Steuermann stieg heraus und kletterte zu ihnen herauf. Maskull streckte ihm die Hand entgegen, aber der Fremde mißachtete die Geste geringschätzig. Er war ein junger Mann von mittlerer Größe, der ein enganliegendes Pelzkleid trug. Seine Beine und Arme sahen völlig normal aus, doch war sein Rumpf unverhältnismäßig lang, und er hatte die breiteste und tiefste Brust, die Maskull je gesehen hatte. Sein haarloses Gesicht war häßlich, mit vorstehenden Zähnen, einem spitzen Kinn und hatte einen gehässig grinsenden Ausdruck. Die Augen standen etwas schräg unter einer fliehenden Stirn, die ein wie verstümmelt aussehendes Organ trug – ein eklig aussehender Fleischlappen, der an ein Geschwür erinnerte. Das Haar des jungen Mannes war kurzgeschoren und schütter. Er stand längere Zeit da und musterte die beiden Gefährten durch halbgeschlossene Lider, während er sein unverschämtes Grinsen nicht einen Moment einstellte. Maskull war begierig, ein Gespräch in Gang zu bringen, wollte aber nicht als erster sprechen. Corpang
stand verdrießlich ein wenig abseits. »Wer sind Sie?« verlangte der Luftschiff er schließlich zu wissen. Seine Stimme war extrem laut und hatte einen höchst unangenehm schnarrenden Klang. Maskull fühlte sich an Luft erinnert, die unter Druck durch eine enge Öffnung gepreßt wird. »Ich bin Maskull, mein Freund ist Corpang. Er kommt von Threal, aber woher ich komme, fragen Sie mich lieber nicht.« »Ich bin Haunte, aus Sarclash.« »Wo mag das sein?« »Vor einer halben Stunde hätte ich es Ihnen zeigen können, aber inzwischen ist es zu dunkel geworden. Es ist ein Berg in Lichstorm.« »Kehren Sie jetzt nach dort zurück?« »Ja.« »Und wie lange wird die Reise mit diesem Boot dauern?« »Zwei – drei Stunden.« »Wird es uns auch tragen?« »Was, Sie wollen auch nach Lichstorm? Was können Sie dort wollen?« »Mir die Gegend ansehen«, erwiderte Maskull mit einem Augenzwinkern. »Aber in erster Linie möchte ich dort etwas essen. Ich kann mich nicht erinnern, heute schon etwas gegessen zu haben. Sie scheinen auf der Jagd gewesen zu sein, also wird es uns an Nahrung nicht mangeln.« Haunte beäugte ihn forschend. »Ihnen mangelt es ganz gewiß nicht an Unverschämtheit. Wie auch immer, ich bin selbst ein Mann dieser Art, und es ist die Art, die ich vorziehe. Ihr Freund würde wahrscheinlich lieber verhungern, als einen Fremden um eine Mahlzeit zu bitten. Er sieht aus wie eine verstörte Kröte, die jemand aus einem dunklen Loch ans Licht gezerrt hat.« Maskull nahm Corpangs Arm und hinderte ihn mit leichten Druck an einer aufbrausenden Antwort. Dann sagte er schnell: »Wo haben Sie gejagt, Haunte?« »In Matterplay. Ich hatte Pech. Dies ist alles, was ich finden konnte.«
»Wie ist Lichstorm?« »Es gibt dort Männer, und es gibt dort Frauen, aber keine Frauenmänner wie Sie.« »Was verstehen Sie unter Frauenmännern?« »Personen gemischten Geschlechts wie Sie. In Lichstorm sind die Geschlechter rein«, sagte er stolz. »Ich habe mich eigentlich immer als einen Mann betrachtet.« »Wahrscheinlich haben Sie das; aber die Testfrage ist, hassen und fürchten Sie Frauen?« »Wieso, hassen und fürchten Sie die Frauen?« Haunte grinste schief und zeigte seine vorstehenden Zähne. »In Lichstorm ist vieles anders… Also, Sie wollen sich die Gegend ansehen?« »Nach dem, was Sie sagen, bin ich beispielsweise neugierig, Ihre Frauen zu sehen.« »Dann werde ich Sie mit Sullenbode bekannt machen.« Nach dieser Bemerkung schwieg er eine Weile, bevor er unvermittelt ein gewaltiges dröhnendes Lachen ausstieß, das seinen Brustkasten erschütterte. »Lassen Sie uns an dem Scherz teilnehmen«, sagte Maskull. »Oh, Sie werden ihn noch verstehen.« »Wenn Sie sich über mich lustig machen wollen, könnte ich die Regeln der Höflichkeit vergessen.« Haunte lachte wieder. »Ich werde nicht derjenige sein, der sich über Sie lustig macht oder Ihnen Streiche spielt… Sullenbode wird mir sehr dankbar sein. Wenn ich selbst sie nicht so oft besuche, wie sie es gerne hätte, versuche ich immer, ihr in anderer Weise dienlich zu sein… Nun, Sie werden Ihre Bootsfahrt haben.« Maskull rieb sich zweifelnd die Nase. »Wenn die Geschlechter in Ihrem Land einander hassen, ist es, weil die Leidenschaft schwächer ist oder stärker?« »In anderen Gegenden der Welt gibt es weiche Leidenschaft, aber in Lichstorm gibt es harte Leidenschaft.« »Aber was verstehen Sie unter harter Leidenschaft?«
»Wo die Männer durch Schmerz zu den Frauen gerufen werden, und nicht vom Vergnügen.« »Ich hoffe das zu verstehen, bevor ich Ihr Land wieder verlassen werde.« »Ja«, antwortete Haunte mit einem spöttischen Grinsen. »Es wäre ein Jammer, die Chance zu vergeben, wenn Sie schon einmal nach Lichstorm kommen.« Nun war Corpang an der Reihe, Maskull am Arm zu packen. »Diese Reise wird ein schlechtes Ende nehmen.« »Wieso?« »Vor einer Weile noch war Ihr Ziel Muspel; nun sind es Frauen.« »Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Maskull unwillig. »Lassen wir dem Glück die Zügel schießen. Was brachte dieses Boot hier her?« »Was hat dieses Gerede über Muspel zu bedeuten?« wollte Haunte wissen. Corpang packte ihn derb bei der Schulter und starrte ihm bohrend in die Augen. »Was wissen Sie?« »Nicht viel, aber vielleicht etwas. Fragen Sie mich beim Abendessen. Jetzt ist es höchste Zeit, daß wir uns aufmachen. Das Navigieren zwischen den Bergen bei Nacht ist kein Kinderspiel, das kann ich Ihnen sagen.« »Ich werde es nicht vergessen«, sagte Corpang. Maskull nickte zum Boot hinunter. »Sollen wir einsteigen?« »Langsam, mein Freund. Es ist nur aus Rohr und Häuten.« »Zuerst könnten Sie mir erklären, wie es Ihnen gelungen ist, die Gesetze der Schwerkraft zu überlisten.« Haunte lächelte sarkastisch. »Ein Geheimnis ins Ohr gesagt, Maskull. Alle Gesetze sind weiblich. Ein echter Mann ist ein Gesetzloser… Außerhalb des Gesetzes.« »Ich verstehe nicht.« »Der gewaltige Körper der Erde stößt unaufhörlich weibliche Partikel aus, und die männlichen Teile von Felsen und lebendigen Körpern versuchen ebenso unablässig, sie zu erreichen. Das ist Schwerkraft.«
»Wie bringen Sie es dann fertig, mit Ihrem Boot in der Luft herumzukreuzen?« »Meine zwei männlichen Steine tun die Arbeit. Derjenige unter dem Boot hindert es daran, zu Boden zu fallen; derjenige im Heck schließt es gegen feste Gegenstände achtern ab. Der einzige Teil des Boots, der angezogen wird, ist der Bug, denn das ist der einzige Teil, auf den das Licht der männlichen Steine nicht fällt. Also bewegt sich das Boot in dieser Richtung.« »Und was sind diese wundersamen männlichen Steine?« »Sie sind wirklich männliche Steine. Nichts Weibliches ist in ihnen. Die ganze Zeit entsenden sie Schauer männlicher Funken. Diese Funken verschlingen alle weiblichen Partikel, die sich von der Erde erheben. Keine weiblichen Partikel bleiben übrig, die männlichen Teile des Boots anzuziehen, und so werden sie nicht in diese Richtung gezogen.« Maskull dachte darüber nach. »Mit Ihrem Jagen und Bootsbau und Ihrer Wissenschaft scheinen Sie ein sehr geschickter Bursche zu sein, Haunte… Aber die Sonne sinkt, und wir sollten lieber starten.« »Dann gehen Sie zuerst hinunter und wälzen Sie diesen Kadaver weiter nach vorn. Dann können Sie und Ihr mißmutiger Freund mittschiffs sitzen.« Maskull folgte der Aufforderung und kletterte über die Blöcke hinunter. Dann stieg er vorsichtig ins Boot und erlebte eine Überraschung. In dem Moment, in dem er auf dem zerbrechlichen Boden des Boots stand, eine Hand immer noch am Felsen, verschwand nicht nur sein Gewicht vollkommen, als schwebe er in irgendeinem schweren Medium wie Salzwasser, sondern der Felsen, an dem er sich hielt, zog ihn wie ein Magnet an, und er hatte Mühe, seine Hand davon zu lösen. Nach dem ersten Schock akzeptierte er die neue Ordnung der Dinge und machte sich daran, den Tierkadaver nach vorn zu wälzen. Das es im Boot keine Schwere gab, ließ sich dies ohne große Mühe bewerkstelligen. Corpang war inzwischen heruntergekommen. Die
erstaunliche physikalische Veränderung hatte nicht die Kraft, seine gesetzte Haltung, die auf moralischen Idealen gründete, zu beeinträchtigen. Haunte kam als letzter an Bord; er packte den Pfosten, der den oberen männlichen Stein hielt, nahm die Kappe ab und richtete ihn auf. Maskull hatte nun Gelegenheit, das mysteriöse Licht aus der Nähe zu betrachten, das den Kräften der Natur entgegenwirkte und so nicht nur als ein Aufzug, sondern auch als eine motivierende Kraft agierte. Der rote Schein der gewaltigen Sonne verdunkelte die schwachen Strahlen, und es sah nicht eindrucksvoller aus als ein brillanter, blauweißer Edelstein, doch seine Kraft ließ sich an dem sichtbaren, bläulichen Dunst ermessen, den es ringsum verbreitete. Das Steuern wurde mittels eines Verschlusses bewerkstelligt, der durch eine Schnur mit der Spitze des Pfostens verbunden war und so manipuliert werden konnte, daß jedes Segment der Strahlung des männlichen Steins nach Belieben abgeschirmt werden konnte. Kaum hatte Haunte den Pfosten aufgerichtet, da löste sich das Boot lautlos von den Felsen und glitt langsam in die Richtung der Berge davon. Branchspell sank unter den Horizont. Die zunehmende Dämmerung und der Dunst, der aus den Tälern stieg, löschten alles aus, was außerhalb eines Radius von wenigen Kilometern war. Die Luft wurde kühl und frisch. Bald blieben die Felsmassen zurück, und sie überflogen eine wellige, ansteigende Ebene, die von tief eingegrabenen Flußtälern zerklüftet war. Haunte nahm den Verschluß ganz weg, und das Boot beschleunigte auf volle Geschwindigkeit. »Sie sagten, die Navigation zwischen den Bergen sei bei Nacht schwierig«, sagte Maskull. »Ich hätte gedacht, sie sei unmöglich.« Haunte grunzte. »Ohne Risiko geht es nicht ab, und schätzen Sie sich glücklich, wenn Sie mit nichts Schlimmerem als einem aufgeschlagenen Schädel davonkommen. Aber eins kann ich Ihnen versichern – wenn Sie mich weiterhin mit Ihrem Geplapper stören, werden wir nicht bis zu den Bergen kommen.« Von da an blieb Maskull still.
Die Dämmerung vertiefte sich, die Schatten der Nacht wurden dichter. Es gab wenig zu sehen, aber viel zu fühlen. Die Bewegungen des Boots, ausgelöst von dem niemals endenden Ringen zwischen den männlichen Steinen und der Schwerkraft, erinnerten an das heftige Stampfen und Schaukeln eines kleinen Boots auf stürmischer See. Die beiden Passagiere begannen sich unwohl zu fühlen. Haunte, der seinen Sitz im Heck eingenommen hatte, betrachtete sie mit sardonischem Lächeln. Die Dunkelheit sank rasch über das Land. Ungefähr neunzig Minuten nach dem Beginn der Reise erreichten sie die Vorberge von Lichstorm. Das Boot begann mit dem Terrain zu steigen, behielt aber seinen Abstand zum Boden, soweit Maskull sehen konnte. Der letzte Rest Tageslicht war längst aus dem Himmel verschwunden, und es war finstere Nacht. Unter und hinter dem Boot sowie zu beiden Seiten wurde die Landschaft jedoch von den nun hellen bläulichweißen Strahlen der beiden männlichen Steine erhellt. Voraus, wo diese Strahlen nicht schienen, ließ Haunte sich vom Widerschein des Lichts auf Felsen und Bäumen leiten, aber auch von bestimmten, schwach phosphoreszierenden Moosen und Flechten, die weite Teile der Felsen und die meisten Baumstämme bedeckten. Der Mond und die Sterne waren nicht zu sehen. Maskull folgerte daraus, daß eine Wolkendecke aufgezogen war oder Hochnebel zwischen den Bergen hing. Einige Male hatte er Schwierigkeiten mit dem Atmen und dachte, daß sie in einer Nebelbank steckten, aber es war eine seltsame Art von Nebel, denn er verdoppelte die Intensität allen Lichts vor ihnen. Wann immer dies geschah, fühlte sich Maskull von alptraumhaften Gefühlen und Eindrücken überwältigt und durchlebte Minuten unvernünftiger Furcht und unbegründeter Schrecken. Nun glitten sie hoch über das breite Tal hinweg, das die Vorberge von der zentralen Kette trennte. Das Boot begann einen Aufstieg von einigen tausend Metern, und als die Felswände und Schluchten nahe waren, mußte Haunte vorsichtig mit dem Hecklicht manövrieren, um
Kollisionen zu vermeiden. Maskull beobachtete seine geschickten und behutsamen Bewegungen nicht ohne Bewunderung. Eine lange Zeit verstrich. Es wurde viel kälter; die Luft war feucht. Der Nebel begann sich als Reif an ihnen festzusetzen, doch Maskull schwitzte vor Angst und bemerkte es kaum. Er fürchtete nicht die Gefahr, in der sie waren, sondern die Wolkenbänke, die sie immer wieder einhüllten und ihn in unerklärliche Panik versetzten. Sie überflogen die erste Gipfelkette, und dann, immer noch steigend, tiefe Schluchten und Abgründe, die in der Dunkelheit verborgen lagen. Plötzlich und völlig unerwartet brach der Mond durch die Wolken. In der oberen Atmosphäre waren große Wolkenmassen zu sehen, die träge um die Gipfel zogen, vielfach von Rissen unterbrochen, durch die der Mond schien. Zu ihrer Linken zeigte sich für wenige Sekunden ein gigantischer Gipfel, glitzernd mit grünlichem Eis, und wurde wieder von wattigen Wolkenmassen verschluckt. Der Rest der Welt war von Wolken und Dunst verhüllt. Dann verschwand auch der Mond wieder… Maskull hatte genug gesehen, um sich nach dem Ende der Luftreise zu sehnen. Bald darauf illuminierte das Licht von den männlichen Steinen eine senkrechte Felswand. Sie war glatt und glitzerte feucht. Oben, unten und auf beiden Seiten verlor sie sich in der Nacht. Nachdem das Boot eine Strecke daran entlanggeglitten war, sahen sie ein vorspringendes Felsband. Es war ungefähr drei Meter breit und nicht sehr lang. Grüner Schnee bedeckte es fußhoch. Unmittelbar dahinter wurde eine schwarze Spalte sichtbar, die wie eine Höhlenmündung aussah. Haunte landete das Boot geschickt auf dieser Plattform. Er stand auf, erhob den Stab, der das Kiellicht trug, und senkte den anderen; dann entfernte er beide männlichen Steine, die er in den Händen behielt. Das lebhafte, funkelnde blauweiße Licht zeigte sein Gesicht als eine verdrießlich dreinblickende Reliefmaske. »Steigen wir hier aus?« fragte Maskull. »Ja. Hier bin ich zu Hause.« »Dank für das erfolgreiche Ende einer gefährlichen Reise.«
»Ja, es war diesmal ziemlich schwierig.« Corpang stieg aus dem Boot auf den schneebedeckten Felssims. Er lächelte. »Es gab keine Gefahr, denn unser Schicksal liegt anderswo. Sie sind nur ein Fährmann, Haunte.« »Ist es so?« versetzte Haunte mit einem unangenehmen Lachen. »Ich dachte, ich beförderte Menschen, nicht Götter.« »Wo sind wir?« fragte Maskull. Während er sprach, stieg er aus dem Boot, doch Haunte blieb an Bord. »Dies ist Sarclash – der zweithöchste Berg im Land.« »Welches ist dann der höchste?« »Adage. Zwischen Sarclash und Adage gibt es einen langen Grat, der stellenweise sehr schwierig ist. Ungefähr in der Mitte des Kamms, der diesen Grat trägt, am niedrigsten Punkt, liegt der Paß von Mornstab, der die Verbindung nach Barey herstellt. Nun wissen Sie Bescheid.« »Lebt die Frau Sullenbode hier in der Nähe?« »Nahe genug«, grinste Haunte. Er sprang aus dem Boot, ging an den anderen vorbei und in die Höhle. Maskull folgte, und Corpang bildete den Schluß. Ein paar Steinstufen führten zu einem Eingang, der mit dem Fell eines großen Tiers verhängt war. Ihr Gastgeber stieß diesen Vorhang im Durchgehen beiseite, ohne sich die Mühe zu machen, ihn für seine Gäste offenzuhalten. Maskull sagte nichts, aber er packte den Fellvorhang mit der Faust und riß ihn aus seiner Befestigung und warf ihn auf den Boden. Haunte blickte auf das abgerissene Tierfell, dann starrte er Maskull mit seinem unangenehmen Lächeln lange in die Augen, aber keiner sagte etwas. Der Raum, in dem sie sich nun befanden, war eine große, längliche Höhle im gewachsenen Fels. Sie hatte zwei Eingänge: derjenige, durch den sie eingetreten waren, und einen weiteren von geringerer Größe, der dem anderen genau gegenüberlag. Die Höhle war ungemütlich und schmucklos; ein feuchtkalter Luftzug durchwehte sie. Viele Felle von wilden Tieren
lagen verstreut auf dem Boden, und an einer Leine entlang der Wand hingen Stücke von sonnengetrocknetem Fleisch. In einer Ecke lehnten prallgefüllte Weinschläuche. Überall gab es Tiergehörne, Hauer und Knochen. An einer Wand lehnten zwei kurze Jagdspeere mit schönen, sauber gearbeiteten Spitzen aus Bergkristall. Haunte legte die zwei männlichen Steine in der Nähe der hinteren Tür auf den Boden; ihr Licht erhellte die ganze Höhle. Dann ging er hinüber zu dem Fleisch, wählte ein großes Stück aus und begann es gierig zu verzehren. »Sind wir zu der Mahlzeit eingeladen?« fragte Maskull. Haunte zeigte auf die hängenden Fleischstücke und die Schläuche, ohne ein Wort zu sagen oder in seinem Kauen innezuhalten. Maskull ging hinüber, hob einen der Schläuche und wandte den Kopf zu Haunte um. »Gibt es einen Becher oder eine Tasse?« fragte er. Haunte deutete schweigend auf einen tönernen Trinkbecher, der am Boden lag. Maskull hob ihn auf, löste die Verschnürung am Hals der Tierhaut, hielt den Schlauch unter seinem Arm und füllte den Becher. Als er ihn an die Lippen setzte, entdeckte er, daß es Schnaps war. Er stürzte den hochprozentigen Fusel hinunter, und als das Brennen verging und die Wärme sich vom Magen ausgehend durch den Körper verbreitete, fühlte er sich viel besser. Er füllte den Becher auf und bot ihn Corpang an. Dieser nahm einen Schluck und gab den Becher wortlos zurück. Er weigerte sich, noch einmal zu trinken, solange sie in der Höhle waren. Maskull leerte den Becher ein zweites Mal und begann sich schon beinah zu Hause zu fühlen. Er nahm ein doppelt faustgroßes Stück Fleisch von der Leine und setzte sich auf ein paar weiche Felle, um in Ruhe zu essen. Das Fleisch war trocken, zäh und von Sehnen durchzogen, aber er glaubte nie etwas Wohlschmeckenderes gegessen zu haben. Die Mahlzeit verlief in völliger Stille. Corpang aß nur wenig und legte sich danach auf den Fellen nieder. Nachdem er sich mit einem weiteren Fell zugedeckt hatte, lag er still, doch seine wachsamen
Augen beobachteten alle Bewegungen der beiden anderen. Haunte hatte noch nichts getrunken. Schließlich beendete auch Maskull seine Mahlzeit. Er leerte den Becher ein drittes Mal, seufzte zufrieden und ergriff das Wort. »Nun erzählen Sie uns mehr über Ihre Frauen, Haunte.« Haunte brachte einen zweiten Trinkbecher zum Vorschein, öffnete den Verschluß eines anderen Schlauchs mit den Zähnen und füllte und trank dann Becher um Becher in rascher Folge in sich hinein, während er mit gekreuzten Beinen Maskull gegenübersaß. »Nun?« fragte Maskull. »Gibt es etwas gegen die Frauen dieses Landes einzuwenden?« »Sie sind tödlich.« »Tödlich? Inwiefern können sie tödlich sein?« »Sie werden sie kennenlernen. Ich habe Sie im Boot beobachtet, Maskull. Manchmal war Ihnen nicht ganz wohl, wie?« »Ich leugne es nicht. Ich hatte öfters ein Gefühl, als ob ich mit einem Alptraum ränge. Wie ist das zu erklären?« »Die weibliche Atmosphäre von Lichstorm. Sexuelle Leidenschaft.« »Ich fühlte keine Leidenschaft.« »Es war Leidenschaft – das erste Stadium. Leute wie Sie werden von der Natur in die Ehe hineingekitzelt, aber uns quält sie. Warten Sie, bis Sie hinauskommen. Sie werden eine Wiederkehr dieser Empfindungen erleben – bloß zehnmal schlimmer. Das Zeug, das Sie getrunken haben, wird dafür sorgen… Wie, glauben Sie, wird alles enden?« »Wenn ich es wüßte, brauchte ich Sie nicht zu fragen.« Haunte lachte laut. »Sullenbode.« »Sie meinen, es wird damit enden, daß ich Sullenbode aufsuche, wer immer sie ist?« »Aber was wird dabei herauskommen, Maskull? Was wird sie Ihnen schenken? Süße, weißarmige, weibliche Wollust?« Maskull trank kühl einen weiteren Becher leer. »Und warum sollte sie einem durchreisenden Fremden überhaupt etwas schenken?«
»Nun, tatsächlich muß sie es nicht. Nein, was sie Ihnen geben wird und was Sie von ihr annehmen werden, weil Sie nicht anders können, ist… Angst, Wahnsinn, möglicherweise Tod.« »Vielleicht reden Sie vernünftig, aber es kommt mir wie Geschwafel vor. Warum sollte ich Wahnsinn und Tod hinnehmen?« »Weil Ihre Leidenschaft Sie dazu zwingen wird.« »Wie ist es mit Ihnen?« fragte Maskull. »Oh, ich habe meine männlichen Steine, ich bin immun.« »Ist das alles, was Sie davor bewahrt, wie andere Männer zu sein?« »Ja, aber versuchen Sie keine Tricks, Maskull.« Maskull trank gleichmäßig weiter und sagte eine Zeitlang nichts. »Männer und Frauen stehen einander also feindlich gegenüber, und Liebe ist unbekannt?« sagte er nach längerer Pause. »Dieses magische Wort… Soll ich Ihnen sagen, was Liebe ist, Maskull? Liebe zwischen Mann und Frau ist unmöglich. Wenn Maskull eine Frau liebt, so sind es Maskulls weibliche Vorfahren, die Sie lieben. Aber hier in diesem Land sind die Männer reine Männer. Sie haben nichts von der weiblichen Seite aufgenommen.« »Woher kommen die männlichen Steine?« »Oh, sie sind nicht allzu selten. Irgendwo muß es rauhe Mengen von dem Zeug geben. Es ist alles, was die Welt daran hindert, eine rein weibliche Welt zu sein. Sie würde eine einzige große Masse von drückender Süße sein, ohne individuelle Formen.« »Ist diese Süße für Männer so quälend, wie Sie sagen?« »Das Leben eines absoluten Mannes ist wild und hart. Es ist ein exzessives Leben, das gefährlich für den Körper ist. Wie könnte es anders als quälend sein?« Corpang setzte sich plötzlich auf und sagte zu Haunte: »Ich erinnere Sie an Ihr Versprechen, mir zu sagen, was Sie über Muspel wissen.« Haunte betrachtete ihn mit boshaftem Lächeln. »Hah! Der unterirdische Mann ist zum Leben erwacht.« »Ja, erzählen Sie uns«, warf Maskull ein. Haunte trank und lachte leise vor sich hin. »Nun, die Geschichte ist kurz, und es lohnt sich
kaum, sie zu erzählen, aber da Sie interessiert sind… Vor fünf Jahren kam ein Fremder hierher, der dem Muspel-Licht nachforschte. Sein Name war Lodd. Er kam aus dem Osten. Eines schönen Sommermorgens kam er zu mir, vor diese Höhle. Wenn Sie mich fragen, wie er ausgesehen hat – einen zweiten Mann wie ihn kann ich mir nicht vorstellen. Er sah so stolz, so vornehm und überlegen aus, daß mir mein eigenes Blut im Vergleich wie Schmutz vorkam… Sie können sich vorstellen, daß ich dieses Gefühl nicht bei jedem habe… Nun, rückblickend denke ich, daß er nicht so sehr überlegen als vielmehr anders war. Ich war so beeindruckt, daß ich aufstand und stehend mit ihm sprach. Er wollte die Richtung des Bergs Adage wissen. Dann sagte er: ›Es heißt, manchmal werde dort Muspel-Licht gesehen. Was wissen Sie davon?‹ Ich sagte ihm die Wahrheit – daß ich nichts darüber wisse, und dann fuhr er fort: ›Nun, ich werde den Berg Adage besteigen, und sagen Sie denen, die nach mir kommen und das gleiche suchen, sie täten gut daran, mir zu folgen.‹ Das war die ganze Konversation. Er machte sich auf den Weg, und ich habe ihn seither weder gesehen noch etwas von ihm gehört.« »Waren Sie nicht so neugierig, ihm zu folgen?« »Nein, in dem Augenblick, da er mir den Rücken zukehrte, schien all mein Interesse an dem Mann plötzlich zu verschwinden.« »Wahrscheinlich, weil er Ihnen nutzlos war.« Corpang warf Maskull einen Blick zu. »Unser Weg ist uns vorgezeichnet.« »So scheint es«, sagte Maskull gleichgültig. Das Gespräch kam eine Zeitlang zum Erliegen. Schließlich wurde die Stille für Maskull bedrückend, und er wurde unruhig. »Wie nennen Sie Ihre Hautfarbe, Haunte, wie ich sie bei Tageslicht sah? Ich konnte keinen Namen dafür finden.« »Dolm«, sagte Haunte. »Eine Mischung von Blau und Ulfire«, erklärte Corpang. »Nun weiß ich es. Diese Farben sind für einen Fremden verwirrend.«
»Welche Farben haben Sie in Ihrer Welt?« fragte Corpang. »Nur drei Primärfarben, aber hier scheinen Sie fünf zu haben, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie es dazu kommt.« »Hier gibt es zwei Serien von je drei Grundfarben«, sagte Corpang, »aber weil eine der Farben – blau – in beiden Serien identisch ist, gibt es insgesamt fünf Grundfarben.« »Warum zwei Serien?« »Weil sie von den zwei Sonnen produziert werden. Branchspell erzeugt blau, gelb und rot; Alpain erzeugt ulfire, blau und jale.« »Es ist bemerkenswert, daß mir diese Erklärung noch nie eingefallen ist.« »Sie haben hier eine weitere Illustration der notwendigen Trinität der Natur. Blau ist Existenz. Es ist Dunkelheit, durch Licht gesehen; ein Kontrastieren von Existenz und Nichts. Gelb ist Beziehung. In gelbem Licht sehen wir die Beziehungen von Objekten am deutlichsten. Rot ist Gefühl. Wenn wir rot sehen, sind wir auf unsere persönlichen Gefühle zurückgeworfen… Was die Farben Alpains betrifft, so steht blau in der Mitte und ist darum nicht Existenz, sondern Beziehung. Ulfire ist Existenz; also muß es eine andere Art von Existenz sein.« Haunte gähnte. »In Ihrem unterirdischen Loch gibt es großartige Philosophen.« Maskull stand auf und blickte umher. »Wohin führte diese andere Tür?« »Sie sollten einmal nachsehen«, sagte Haunte. Maskull nahm ihn beim Wort und wanderte durch die Höhle. Er hob den Vorhang und verschwand in der Dunkelheit dahinter. Haunte sprang auf und eilte ihm nach. Auch Corpang kroch aus seinen Fellen und stand auf. Er ging zu den unberührten Weinschläuchen, löste die Umschnürungen und goß den Alkohol auf den Boden. Als nächstes nahm er die Jagdspeere und brach die Spitzen ab. Bevor er Zeit fand, zu seinem Lager zurückzukehren, kamen Haunte und Maskull wieder herein. Der rasche Blick des Gastgebers sah sofort, was geschehen war. Er
lächelte, und gleichzeitig erbleichte er. »Sie sind nicht müßig gewesen, Freund.« Corpang starrte Haunte mit finsterer Entschlossenheit an. »Ich hielt es für richtig, Ihnen die Zähne zu ziehen.« Maskull lachte auf. »Die Kröte ist nicht umsonst ans Licht gekommen, Haunte. Wer hätte es erwartet?« Nachdem er Corpang länger als eine Minute angestarrt hatte, stieß Haunte plötzlich einen seltsamen Schrei aus, wie ein böser Geist, und warf sich auf ihn. Die zwei Männer begannen wie Wildkatzen zu ringen. Sie waren so oft auf dem Boden wie auf den Beinen, und Maskull konnte nicht sehen, wer die Oberhand gewann. Er machte keinen Versuch, sie zu trennen. Ein Gedanke ging ihm durch den Sinn, und er ergriff die beiden männlichen Steine und rannte mit ihnen durch den rückwärtigen Ausgang. Nachdem er eine kurze Strecke durch einen niedrigen Gang gelaufen war, kam er auf eine kleine Plattform hinaus, die wie ein Schwalbennest über einem anderen Abgrund hing. Ein schmaler Sims, mit grünlichweißem Schnee bedeckt, folgte dem Verlauf der Felswände nach rechts; es war der einzige Weg, der von der Plattform weiterführte. Maskull warf die Steine in den Abgrund. Obwohl sie sich in seinen Händen hart und schwer angefühlt hatten, sanken sie nur langsam abwärts, mehr wie Federn denn wie Steine, und sie zogen lange Rauchfahnen hinter sich her. Während Maskull ihnen immer noch nachsah, kam Haunte aus der Höhle gestürzt, gefolgt von Corpang. Er packte aufgeregt Maskulls Arm. »In Krags Namen, was haben Sie getan?« Maskull lachte. »Sie sind über Bord gegangen«, erwiderte er heiter. »Sie verdammter Idiot!« Hauntes Gesicht wechselte die Farbe mit jedem Atemzug. Dann wurde er plötzlich ruhig, wie durch eine gewaltsame Willensanstrengung. »Wissen Sie, daß dies mein Tod ist?« »Haben Sie nicht in dieser letzten Stunde Ihr Bestes getan, mich
für Sullenbode reif zu machen? Nun, regen Sie sich nicht auf, und nehmen Sie an dem Vergnügen teil!« »Sie sagen es im Scherz, aber es ist die elende Wahrheit.« Hauntes spöttische Bosheit war völlig verschwunden. Er sah wie ein kranker Mann aus… Doch irgendwie war sein Gesicht dadurch edler geworden. »Sie würden mir sehr leid tun, Haunte, wenn das nicht zur Folge hätte, daß ich mich selbst ebenso bemitleiden müßte. Wir sind jetzt alle drei in der gleichen Lage – was Ihnen noch nicht aufgegangen zu sein scheint.« »Aber warum überhaupt dies alles?« fragte Corpang ruhig. »Können Sie nicht Selbstbeherrschung üben, bis Sie die Gefahr hinter sich haben?« Haunte blickte ihn wild an. »Nein. Die Phantome dringen bereits auf mich ein.« Er setzte sich unruhig und verdrießlich auf einen Felsvorsprung, doch im nächsten Moment war er wieder auf den Beinen. »Ich kann nicht warten«, sagte er wie zu sich selbst, »das Spiel hat angefangen…« Bald darauf begannen sie in stillschweigender Übereinkunft auf dem Sims weiterzugehen, Haunte voran. Es war ein schmaler, ansteigender und vom Schnee schlüpfriger Pfad, der äußerste Vorsicht verlangte. Glücklicherweise war der Mond wieder herausgekommen und leuchtete ihnen. Als sie ungefähr einen Kilometer zurückgelegt hatten, begann Maskull, der an zweiter Stelle ging, zu wanken, hielt sich an der Felswand fest und setzte sich schließlich. »Der Schnaps wirkt. Meine alten Empfindungen kehren wieder, nur schlimmer.« Haunte wandte den Kopf und blickte kurz zurück. »Dann sind Sie verloren«, sagte er, bevor er weiterging. Maskull, obwohl er sich seiner Gefährten und der Situation voll bewußt war, bildete sich ein, er werde von einem schwarzen, formlosen, übernatürlichen Wesen bedrängt, das ihn festzuhalten
suchte. Schrecken erfüllte ihn, er zitterte heftig, konnte jedoch kein Glied bewegen. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und rannen über Nase und Kinn. Der erwachende Alptraum dauerte lange, aber während dieses Zeitraums kam und ging er in beinahe regelmäßigen Intervallen. In einem Moment schien die Vision im Begriff sich aufzulösen; im nächsten nahm sie beinahe Gestalt an – was, wie er ahnte, sein Tod sein würde. Plötzlich verschwand sie völlig… Er war frei. Eine frische Frühlingsbrise fächelte sein Gesicht, er hörte den süßen, einsamen Gesang eines Vogels, und es schien ihm, als sei in seiner Seele ein Gedicht entstanden. Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine solche herzzerreißende Freude erlebt… Beinahe augenblicklich verschwand auch dies. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und schwankte mit dem Oberkörper hin und her. »Sie sind ganz weiß geworden«, sagte Corpang. »Was ist geschehen?« »Ich gelangte durch Qual zur Liebe«, erwiderte Maskull einfach. Er stand auf. Haunte blickte ihn düster an. »Wollen Sie dieses Geschehen nicht beschreiben?« Maskull antwortete langsam und nachdenklich: »Als ich in Matterplay war, sah ich, wie schwere Wolken sich entluden und zu Lebewesen wurden. In der gleichen Weise schienen sich eben meine schwarzen, chaotischen Ängste zu konsolidieren und als eine neue Art von Freude zu verschmelzen. Die Freude wäre ohne den vorausgegangenen Alptraum nicht möglich gewesen. Es ist nicht zufällig; die Natur will es so. Die Wahrheit ist mir eben aufgegangen… Ihr Männer von Lichstorm geht nicht weit genug. Ihr bleibt bei den Alpträumen und Qualen stehen, ohne zu bemerken, daß sie Geburtswehen sind.« »Wenn dies wahr ist, sind Sie ein großer Pionier«, murmelte Haunte sarkastisch. »Wodurch unterscheidet sich dieses Gefühl von gewöhnlicher Liebe?« fragte Corpang. »Es war alles, was Liebe ist«, sagte Maskull, »multipliziert mit
Wildheit.« Corpang befingerte nachdenklich sein Kinn. »Die Männer von Lichstorm werden dieses Stadium allerdings niemals erreichen, denn sie sind zu maskulin.« Haunte erbleichte. »Warum sollten wir allein leiden?« »Die Natur ist launenhaft und grausam und verhält sich nicht nach den Regeln der Gerechtigkeit… Folgen Sie uns, Haunte, und Sie werden alledem entkommen.« »Ich werde sehen«, murmelte Haunte. »Vielleicht wird es gehen.« »Ist es weit zu dieser Sullenbode?« fragte Maskull. »Nein.« »Was wird heute abend geschehen?« sagte Maskull mehr zu sich selbst, doch Haunte antwortete ihm. »Erwarten Sie nichts Angenehmes, trotz allem, was Sie gerade erlebt haben. Sie ist keine Frau, sondern eine Masse aus reinem Sex. Ihre Leidenschaft wird Sie zwar in menschliche Gestalt bringen, aber nur für einen Moment. Wäre die Veränderung von Dauer, so würden Sie ihr eine Seele geschenkt haben.« »Vielleicht könnte die Veränderung dauerhaft gemacht werden.« »Um das zu tun, ist es nicht genug, sie zu begehren; Sullenbode müßte auch Sie begehren. Aber warum sollte sie?« »Nichts fällt stets so aus, wie man es erwartet«, sagte Maskull kopfschüttelnd. »Wir sollten lieber weitergehen.« Sie setzten die Wanderung fort. Der Pfad stieg weiter an, doch als sie einen massigen Felspfeiler umgangen hatten, verließ Haunte das schmaler werdende Band und begann in einer Steilrinne aufwärtszuklettern. Hier waren sie gezwungen, Hände und Füße zu gebrauchen. Am oberen Rand der Felswände erwartete Maskull eine Überraschung. Er sah sich am Rande eines Plateaus, das trocken und mit Krummholz und Bäumen bewachsen war. Schnee lag in vereinzelten Dolinen. Haunte wandte sich nach links. »Sind wir am Ziel?« fragte Maskull. »Ja; und in fünf Minuten werden Sie Sullenbode sehen.«
Sie folgten einem schmalen, kaum ausgetretenen Pfad. Phosphoreszierende Gewächse glühten matt aus dem Halbdunkel. Voraus kam ein großer Baum mit flechtenbewachsenen und schwach leuchtenden Ästen in Sicht. Er trug eine Vielzahl von roten Früchten, die wie winzige Laternen an den Zweigen hingen, doch kaum Blätter. Unter diesem Baum saß Sullenbode. Sie hatte die Beine gekreuzt und schlief, Kopf und Schultern an den Stamm gelehnt. Sie war in ein einziges Kleidungsstück aus einem großen Tierfell gehüllt, das wie ein Umhang um ihre Schultern lag und über den Knien endete. Ihre Arme ruhten im Schoß, und in einer Hand hielt sie eine halbgegessene Frucht. Maskull blieb vor ihr stehen und betrachtete sie interessiert. Er fand, daß er noch nie eine Frau gesehen hatte, die auch nur halb so weiblich gewesen war. Ihr Fleisch sah so weich und zart aus, daß es beinahe zu schmelzen schien. Die Sinnesorgane und Gesichtszüge waren so unentwickelt, daß sie kaum menschlich aussahen; nur die Lippen waren voll, schmollend und ausdrucksstark. In ihrer Fülle schienen diese Lippen wie ein Spritzer lebhaften Willens auf dem Hintergrund trägen, schlummernden Protoplasmas. Ihr Haar war ungekämmt. Seine Farbe war nicht auszumachen. Es war lang und wirr, und sie hatte es wohl aus Bequemlichkeit hinten in ihr Kleidungsstück gesteckt. Corpang betrachtete die Frau ruhig und verdrießlich, aber die beiden anderen waren sichtlich erregt. Maskulls Herz hämmerte. Haunte zog ihn am Arm und sagte: »Mein Kopf fühlt sich an, als würde er mir von den Schultern gerissen.« »Was kann das bedeuten?« »Dennoch, es ist eine schreckliche Freude darin«, fügte Haunte mit einem kranken Lächeln hinzu. Maskull trat vor und legte seine Hand auf die Schulter der Frau. Sie erwachte ohne Erschrecken, blickte zu ihnen auf, lächelte und aß weiter von ihrer Frucht. Maskull hatte nicht den Eindruck, daß sie genug Intelligenz besaß, um zu sprechen. Dann warf Haunte sich plötzlich auf die Knie und begann gierig ihre Lippen zu küssen.
Sie stieß ihn nicht von sich, sondern ließ ihn gewähren. Während der Dauer des Kusses bemerkte Maskull schockiert, daß ihr Gesicht sich veränderte. Die Züge traten aus ihrer vagen Ungeformtheit hervor, und ein finsterer Ausdruck nahm seinen Platz ein. Sie stieß Haunte weg, stand auf und starrte unter zusammengezogenen Brauen die drei Männer an, einen nach dem anderen. Maskull kam zuletzt; sein Gesicht studierte sie unverhältnismäßig lange, aber nichts verriet, was sie dabei dachte. Unterdessen machte Haunte sich wieder an sie heran, aufgeplustert wie ein balzender Truthahn und blöde grinsend. Sie ertrug seine Umarmung, aber als seine Lippen das zweitemal die ihren berührten, taumelte er mit einem erschrockenen Aufschrei zurück, als ob er mit einem elektrischen Kontakt in Berührung gekommen wäre. Er fiel auf den Rücken, sein Kopf schlug auf eine Steinplatte, und er blieb reglos liegen, offenbar ohnmächtig. Corpang eilte zu ihm und kniete nieder, um ihm zu helfen. Aber als er sah, was geschehen war, ließ er Haunte liegen und wandte sich zu Maskull. »Maskull, kommen Sie schnell!« Die Farbe verlor sich zunehmend aus Hauntes Gesicht, als Maskull sich über ihn beugte. Der junge Mann war tot. Als Maskull ihn aufheben wollte, sah er, daß Hauntes Hinterkopf von oben bis unten gespalten war und dunkles Blut verströmte. »Das kann nicht beim Sturz geschehen sein«, sagte Maskull. »Nein, Sullenbode hat es getan.« Maskull wandte den Kopf der Frau zu. Sie hatte ihre sitzende Haltung zu Füßen des Baums wieder eingenommen. Der momentane Eindruck von Willensstärke und Intelligenz war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie lächelte wieder.
19
Sullenbodes nackte Haut schimmerte weiß durch die Dunkelheit, aber die bekleideten Teile ihres Körpers waren unsichtbar. Maskull beobachtete ihr vernunftloses, lächelndes Gesicht und schauderte. Seltsame Gefühle und Empfindungen durchliefen seinen Körper. Corpang sagte: »Sie sieht wie ein todbringender böser Geist aus.« »Es war, als hätte ihn der Blitz getroffen.« »Haunte war verrückt vor Leidenschaft.« »Ich fühle es auch«, sagte Maskull. »Mein Körper ist wie voll von Steinen, die gegeneinander knirschen.« »Das hatte ich befürchtet.« »Es scheint, als ob auch ich sie küssen muß.« Corpang hielt ihn am Arm zurück. »Haben Sie alle Männlichkeit und Selbstbeherrschung verloren?« fragte er. Aber Maskull riß sich ungeduldig los. Er zupfte nervös an seinem Bart und starrte Sullenbode an. Sein Gesicht zuckte. Nachdem er minutenlang so gestanden hatte, trat er vorwärts, beugte sich über die Frau, hob ihr Kinn mit der Rechten und küßte sie. Ein kalter und jäher Schmerz durchzuckte seinen Leib wie ein Messerstich. Er dachte, daß es der Tod sei, und verlor das Bewußtsein. Als seine Sinne wiederkehrten, hielt Sullenbode ihn mit einer Hand auf Armeslänge an der Schulter fest und blickte ihm forschend ins Gesicht. Zuerst erkannte er sie nicht; es war nicht die Frau, die er geküßt hatte, sondern eine andere. Dann wurde ihm allmählich klar, daß ihr Gesicht identisch mit dem war, das Haunte mit seiner Umarmung ins Leben gerufen hatte. Eine große Ruhe kam über ihn; seine unguten Gefühle waren verschwunden. Sullenbode war in eine lebendige Seele verwandelt. Ihre Haut war fest, ihre Züge waren stark, in ihren Augen blitzte Selbstsicherheit. Sie war groß und schlank, aber träge in all ihren Bewegungen und Gesten. Ihr Gesicht war nicht schön. Es war lang und blaß, und der Mund kreuzte die untere Hälfte wie eine blutige Wunde. Die Lippen waren so sinnlich wie zuvor, ihre Brauen kräftig und dunkel. Nichts Vulgäres war an ihr – als Maskull sie betrachtete, kam ihm
unwillkürlich das Attribut ›königlich‹ in den Sinn. Sie schien nicht älter als fünfundzwanzig zu sein. Da wurde sie anscheinend seiner Betrachtung überdrüssig, gab ihm einen kleinen Stoß und ließ ihren Arm sinken. Gleichzeitig dehnten sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln. »Wem habe ich für dieses Geschenk des Lebens zu danken?« Ihre Stimme war wohlklingend, wenn auch fremdartig. Maskull fühlte sich wie in einem Traum. »Mein Name ist Maskull.« »Hör mich an, Maskull. Viele Männer haben mich in die Welt gezerrt, aber sie konnten mich nicht dort halten, denn ich wünschte es nicht. Aber nun hast du mich für alle Zeit hineingezogen, im Guten wie im Bösen.« Maskull deutete auf den Leichnam Hauntes und sagte: »Was hast du dazu zu sagen?« »Wer war er?« »Haunte.« »Also das war Haunte. Die Neuigkeit wird sich rasch im Land verbreiten. Er war ein berühmter Mann.« »Es ist grauenhaft. Ich wehre mich gegen den Gedanken, daß du ihn vorsätzlich getötet hast.« »Wir Frauen haben schreckliche Macht, aber sie ist unser einziger Schutz. Wir wollen diese Besuche nicht; wir verabscheuen sie.« »Ich hätte auch sterben können.« »Ihr kamt miteinander?« »Wir kamen zu dritt. Corpang steht noch immer dort.« Maskull machte eine Kopfbewegung in die Dunkelheit. »Ich sehe ihn. Was willst du von mir, Corpang?« »Nichts.« »Dann geh und laß mich mit Maskull allein.« »Nicht nötig, Corpang«, sagte Maskull. »Ich komme mit Ihnen.« »Dann ist dies nicht jenes Lustgefühl und Vergnügen?« fragte Corpang mit leiser Stimme. »Nein, das Gefühl ist nicht wiedergekehrt.«
Sullenbode ergriff ihn am Arm und hielt ihn fest. »Von welchen Gefühlen und welchem Vergnügen sprichst du?« »Es war ein Vorgefühl von Liebe, das ich vorhin hatte.« »Aber wie fühlst du dich jetzt?« »Ruhig und frei.« Sullenbodes Gesicht schien wie eine bleiche Maske, hinter der sich die träge, schwellende See elementarer Leidenschaften verbarg. »Ich weiß nicht, wie es enden wird, Maskull, aber wir werden immer zusammenhalten. Wohin gehst du?« fragte sie. »Nach Adage«, sagte Corpang, der von der Leiche Hauntes herüberkam. »Aber warum?« »Wir folgen den Spuren Lodds, der vor drei Jahren dorthin zog, das Muspel-Licht zu finden.« »Was für ein Licht ist das?« »Es ist das Licht einer anderen Welt.« »Dann ist es ein großes Ziel. Aber können Frauen dieses Licht nicht sehen?« »Unter einer Bedingung«, sagte Corpang. »Sie müssen ihr Geschlecht vergessen. Frauenschaft und Liebe gehören zum Leben, während Muspel über dem Leben steht.« »Ich gebe euch alle anderen Männer«, sagte Sullenbode. »Aber Maskull ist mein.« »Nein. Ich bin nicht hier, um Maskull zu einer Geliebten zu verhelfen, sondern um ihn an die Existenz edlerer Dinge zu erinnern.« »Du bist ein guter Mann. Aber ihr zwei allein werdet niemals die Straße nach Adage finden.« »Kennst du sie?« Statt zu antworten, packte die Frau wieder Maskulls Arm, den sie losgelassen hatte. »Was ist Liebe… Die Liebe, die Corpang verachtet?« Maskull blickte sie zweifelnd und aufmerksam an, als sie fortfuhr: »Liebe ist das, was um des Geliebten willen bereit ist, zu
verschwinden und nichts zu werden.« Corpang zog die Brauen hoch und wandte den Blick von der Frau zu Maskull. »Eine großmütige Geliebte. Das ist mir neu.« Maskull schob ihn mit einer Hand beiseite und sagte zu Sullenbode: »Denkst du an ein Opfer?« Sie blickte ihre Füße an und lächelte. »Was liegt daran, welches meine Gedanken sind?… Sag mir, wollt ihr sofort gehen, oder rastet ihr zuerst? Der Weg nach Adage ist steinig und beschwerlich.« »Wie denkst du darüber?« fragte Maskull. Sie zuckte die Achseln. »Ich werde euch ein Stück weit führen. Wenn wir den Kamm zwischen Sarclash und Adage erreichen, werde ich umkehren.« »Und dann?« »Dann, wenn der Mond scheint, werdet ihr vielleicht vor Tagesanbruch eintreffen, aber wenn es dunkel ist, wird das kaum der Fall sein.« »Das ist nicht, was ich meinte. Was wird aus dir, wenn wir uns getrennt haben werden?« »Ich werde irgendwohin zurückkehren… Vielleicht hierher.« Maskull betrachtete sie nachdenklich, dann fragte er: »Wirst du in den… alten Zustand zurückfallen?« »Nein, Maskull, dem Himmel sei Dank.« »Wie wirst du dann leben?« Sullenbode blickte ruhig zu ihm auf, und Maskull sah ihre Augen aufflammen. Dann sagte sie: »Und wer sagt, daß ich weiterleben sollte?« Maskull zwinkerte sie verdutzt an. Augenblicke vergingen, bevor er sagen konnte: »Ihr Frauen seid ein opferbereites Geschlecht. Du weißt, daß ich dich nicht so zurücklassen kann.« Ihre Augen begegneten einander. Keiner wich dem Blick des anderen aus, und keiner fühlte Verlegenheit. »Du wirst immer ein großzügiger Mann sein, Maskull. Nun laß uns gehen… Corpang ist ein aufrichtiger, redlicher Mann, und das
wenigste, das wir anderen – die nicht so aufrichtig und redlich sind – tun können, ist, ihn seinem Ziel näherzubringen. Wir dürfen nicht fragen, ob es sich lohnt, die Ziele redlicher Menschen zu erreichen.« »Wenn es gut genug für Maskull ist«, sagte Corpang, »wird es auch für mich gut genug sein.« »Nun, kein Gefäß kann mehr aufnehmen, als das ihm bestimmte Maß.« Corpang schaute sie an und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Während deines tiefen Schlafs scheinst du Weisheit gesammelt zu haben.« »Ja, Corpang, ich habe viele Männer gekannt und viele Köpfe erforscht.« Als sie aufbrachen, dachte Maskull an Haunte. »Können wir diesen armen Kerl nicht begraben?« »Morgen um diese Zeit werden wir selbst ein Begräbnis brauchen. Aber ich schließe Corpang nicht mit ein.« »Wir haben kein Werkzeug, also müssen wir ihn liegen lassen. Du hast ihn getötet, aber ich bin der wahre Mörder. Ich stahl sein schützendes Licht.« »Das Leben, das du mir gegeben hast, wird diesen Tod sicherlich ausgleichen.« Sie brachen auf. Das Terrain stieg allmählich an, und nach einer Viertelstunde wurde die Vegetation dürftiger, während der Schnee mehr und mehr wurde. Dann ging die Hochfläche unmerklich in einen Berghang über, den sie weglos queren mußten. Der Schnee schimmerte in der Dunkelheit, flechtenbewachsene Blöcke leuchteten matt; alles andere war dunkel. Ziehende Nebel hüllten sie ein, aber Maskull hatte nun keine Alpträume mehr. Ein kalter, reiner Wind blies ihnen gleichmäßig entgegen. Sie wanderten im Gänsemarsch, Sullenbode an der Spitze; ihre Bewegungen waren langsam und faszinierend. Corpang ging am Schluß. Seine strengen Augen sahen nichts als ein verlockendes Mädchen und einen verliebten, nicht mehr berechenbaren Mann. Lange Zeit querten sie den rauhen und felsigen Hang, während sie langsam aber stetig Höhe gewannen. Die Neigung wurde so steil, daß ein Fehltritt fatale
Folgen haben mußte. Schließlich erreichten sie die Kammhöhe und sahen sich auf einem breiten, ebenen Rücken. Die Frau blieb stehen und verkündete: »Wir sind auf dem Kamm.« Als Maskull und Corpang sie einholten und ebenfalls stehenblieben, brach der Mond durch die Wolken und beleuchtete das Land. Maskull stockte der Atem. Die wilde und einsame Schönheit der Aussicht traf ihn gänzlich unerwartet. Teargeld stand hoch im Himmel und etwas zu ihrer Linken, so daß sein Licht von hinten auf sie herabschien. Vor ihnen lag der mächtige und breite Bergrücken, der zu Adage hinüberführte. Der Gipfel des Adage selbst war unsichtbar. Der Rücken war nirgends weniger als zweihundert Schritte breit und mit grünlichem Schnee bedeckt, am manchen Stellen völlig, während anderswo die nackten Felsen wie schwarze Zähne herausragten. Von dort aus, wo sie standen, konnten sie die seitlichen Abstürze des Verbindungsgrats nicht sehen, ebenso blieb ihnen der Blick in die Täler zu beiden Seiten verwehrt. Auf der rechten Seite, die Norden sein mußte, war die Landschaft verwischt und undeutlich. Dort gab es keine Gipfel; es war das ferne Tiefland von Barey. Aber auf der linken Seite erschien ein ganzer Wald von mächtigen Türmen und Gipfeln, in mehreren Reihen gestaffelt, so weit das Auge im Mondlicht sehen konnte. Alle glitzerten in Eis und Schnee, und viele zeigten die grotesken Überhänge, die für das Lichstorm-Gebirge charakteristisch waren, und jeder zeigte eine andere Form. Die Täler waren mit Nebeln angefüllt. Sarclash entpuppte sich als ein mächtiges Bergmassiv mit hufeisenförmigen Gratausläufern, die nach Westen gerichtet waren und ein Tal umschlossen. Sie standen auf dem nach Norden abzweigenden Grat. Der Gipfel von Sarclash war unsichtbar. Im Südwesten erhoben sich zahlreiche Berggipfel. Einige andere Berge, die von ungewöhnlicher Höhe sein mußten, ragten über die Südseite des Hufeisens. Maskull wandte sich um, Sullenbode eine Frage zu stellen, aber als er sie zum erstenmal im Mondlicht sah, vergaß er, was er fragen
wollte. Der Mund schien nicht länger ihre Züge zu beherrschen, und das Gesicht, blaß wie Elfenbein und lieblich geformt, war mit einemmal beinahe schön. Ihr Haar schimmerte dunkelbraun, ihre Augen funkelten schwarz im Mondlicht. Ihr Anblick erregte und beunruhigte Maskull; sie ähnelte mehr einer Geistererscheinung als einer Frau. »Was verwundert dich?« fragte sie lächelnd. »Nichts. Aber ich hätte dich gern bei Sonnenlicht gesehen.« »Vielleicht wirst du das nie tun können.« »Dein Leben muß sehr einsam sein.« Ihre dunkel schimmernden Augen musterten ihn herausfordernd. »Warum fürchtest du dich, über deine Gefühle zu sprechen, Maskull?« »Die Dinge scheinen sich vor mir zu erleuchten wie ein Sonnenaufgang, aber was das bedeutet, kann ich nicht sagen.« Sullenbode lachte hell auf. »Ganz bestimmt bedeutet es nicht den Anbrach der Nacht.« Corpang, der unverwandt den Kamm entlang gestarrt hatte, schaltete sich unvermittelt ein. »Der Weg ist jetzt klar, Maskull. Wenn Sie es wünschen, werde ich allein weitergehen.« »Nein, wir werden zusammen gehen. Und Sullenbode wird uns begleiten.« »Ein kleines Stück«, sagte die Frau, »aber nicht bis Adage, um meine Kräfte mit unsichtbaren Mächten zu messen. Dieses Licht ist nichts für mich. Ich weiß der Liebe zu entsagen, aber ich werde sie niemals verraten.« »Wer weiß, was wir auf Adage finden werden, oder was geschehen wird. Corpang ist so unwissend wie ich selbst.« Corpang sah ihn an und sagte: »Maskull, Sie sind sich sehr wohl bewußt, daß Sie sich diesem schrecklichen Feuer niemals in der Gesellschaft einer schönen Frau nähern können.« Maskull lachte unbehaglich. »Was Corpang nicht sagt, Sullenbode, ist, daß ich mit Muspel-Licht weit mehr Erfahrung habe als er, und daß er, hätte er mich nicht zufällig getroffen, noch immer in Threal
sein und seine Gebete aufsagen würde.« »Dennoch, was er sagt, muß wahr sein«, erwiderte sie, von einem zum anderen blickend. »Und deshalb ist es mir nicht erlaubt…« »Solange ich mit Ihnen bin«, sagte Corpang, »werde ich Sie vorwärtsdrängen, Maskull, und nicht rückwärts.« »Wir brauchen nicht zu streiten«, sagte Maskull mit erzwungenem Lächeln. »Ich bin sicher, daß sich alles zur Zufriedenheit regeln läßt.« Sullenbode begann mit dem Fuß in den lockeren Schnee zu stoßen und sah den auf stiebenden Wolken nach, wie sie vom Wind fortgetrieben wurden. »In meinem Schlaf habe ich noch eine Weisheit empfangen, Corpang.« »Dann sag sie mir.« »Menschen, die nach Gesetzen und Regeln leben, sind Parasiten. Andere verbrauchten ihre Kräfte, um diese Gesetze aus dem Nichts ans Licht des Tages zu bringen, die Gesetzesfürchtigen dagegen leben nur ihrer Bequemlichkeit – sie haben nichts für sich erobert.« »Einigen ist es gegeben, Entdeckungen zu machen, und anderen ist es gegeben, zu erhalten und zu vervollkommnen. Du kannst mich nicht dafür verurteilen, daß ich Maskull Gutes wünsche.« »Nein, aber ein Kind kann nicht ein Gewitter lenken.« Sie setzten sich wieder in Bewegung und wanderten auf dem Grat entlang. Sie hielten sich in der Mitte des breiten Rückens und gingen nun nebeneinander, Sullenbode in der Mitte. Der Kamm führte sanft abwärts und war vergleichsweise eben. Der Gefrierpunkt schien hier höher zu sein als auf der Erde, denn der knöcheltiefe Schnee, durch den sie wanderten, fühlte sich ihren nackten Füßen beinahe warm an. Maskulls Sohlen waren inzwischen wie zähes, gegerbtes Leder. Helles Mondlicht warf ihre verkürzten Schatten scharf umrissen auf den grünlich glitzernden Schnee. Maskull, der rechts von Sullenbode ging, beobachtete die majestätischen Ketten der fernen Gipfel. »Du kannst nicht von dieser Welt sein«, sagte die Frau. »Männer deines Schlags sind hier nicht zu finden.« »Nein, ich bin von der Erde gekommen.«
»Ist diese Erde größer als unsere Welt?« »Kleiner, glaube ich. Klein und übervölkert von Menschen. Ohne Disziplin und rigorose Gesetze würde bei so vielen Menschen Chaos und Verwirrung herrschen, und darum sind die Gesetze von eiserner Härte. Da das Abenteuer unmöglich sein würde, ohne gegen diese Gesetze zu verstoßen, gibt es unter den Erdbewohnern keinen Abenteuergeist mehr. Alles ist gesichert, geordnet und banal.« »Hassen die Männer dort die Frauen, und die Frauen die Männer?« »Nein, die Geschlechter begegnen sich dort in beiderseitiger Freiheit. Die Begegnung der Geschlechter ist süß, obgleich sie von Schamgefühl begleitet wird. Es gibt keinen Haß im allgemeinen, es sei denn zwischen einigen wenigen exzentrischen Personen.« »Das klingt schön. Aber nun sag mir – warum bist du hierhergekommen?« »Um neue Erfahrungen zu machen, vielleicht. Die alten interessierten mich nicht länger.« »Wie lange bist du schon in dieser Welt?« »Dies ist das Ende meines vierten Tages.« »Dann sag mir, was du in diesen vier Tagen gesehen und getan hast. Du kannst nicht untätig gewesen sein.« »Großes Mißgeschick ist mir zugestoßen.« Er berichtete mit kurzen Worten über seine Erlebnisse seit dem Augenblick seines Erwachens in der roten Wüste. Sullenbode lauschte, nickte dann und wann. Nur zweimal unterbrach sie ihn. Nach seiner Beschreibung von Tydomins Tod sagte sie nachdenklich: »Keine Frau sollte sich von Tydomins Opferbereitschaft übertreffen lassen. Für diese eine Handlung liebe ich sie beinahe, obwohl sie Schlechtes über dich gebracht hat.« Und als er von Gleameil erzählt hatte, bemerkte sie: »Dieses großherzige Mädchen bewundere ich am meisten. Sie hörte auf ihre innere Stimme und auf nichts sonst. Wer von uns ist schon dafür stark genug?« Als er seine Erzählung beendet hatte, sagte Sullenbode: »Fällt dir nicht auf, Maskull, daß diese Frauen, denen du begegnetest, bei
weitem edler gewesen sind als die Männer?« »Ich erkenne es. Wir Männer opfern uns selbst häufig, aber nur für eine Sache, die uns bedeutend erscheint. Für euch Frauen ist beinahe jeder Grund recht. Ihr liebt das Opfer um seiner selbst willen, und das ist so, weil ihr von Natur aus edel seid.« Sie warf ihm ein so stolzes und gleichzeitig so liebliches Lächeln zu, daß er kein Wort mehr herausbrachte. Nachdem sie lange Zeit schweigend nebeneinander gegangen waren, sagte er: »Nun verstehst du, was für ein Mensch ich bin. Viel Brutalität, noch mehr Schwäche, kaum Mitleid für irgend jemand… oh, es ist eine höllische Reise gewesen!« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: »Mir gefällt das Abenteuerliche und Aufregende daran. Ich würde es nicht anders haben wollen.« »Gib dir keine Mühe«, sagte Maskull. »Es ist unmöglich, über meine Verbrechen Gutes zu sagen.« »Mir kommst du wie ein einsamer Riese vor, der nach etwas sucht – und selbst nicht weiß, was. Das Größte, vielleicht, was das Leben zu bieten hat. Du hast jedenfalls keinen Grund, zu Frauen aufzublicken.« »Danke, Sullenbode«, erwiderte er mit einem bekümmerten Lächeln. Sie sagte: »Wenn du vorübergehst, wirfst du jeden aus der Bahn. Du gehst weiter und blickst weder nach rechts noch nach links.« »Gib acht, daß du nicht auch aus der Bahn geworfen wirst«, sagte Corpang ernst. »Maskull soll mit mir tun, was immer ihm gefällt. Und was immer er tut, ich werde ihm dafür dankbar sein… Du, Corpang, hast einen Beutel voll lockerem Staub anstelle eines Herzens. Jemand hat dir Liebe beschrieben. Du hast gehört, daß es eine kleine, selbstsüchtige Freude sei, eine flüchtige Lust und ein schales Vergnügen. Das ist es nicht… Liebe ist wild und zart, ist grausam und blutig und aufopferungsvoll… Wie solltest du es wissen!« »Selbstsucht hat zu viele Verkleidungen.«
»Wenn eine Frau alles aufgibt, was kann daran selbstsüchtig sein?« »Liebe will besitzen. Kann es größere Selbstsucht geben als das Verlangen, eine andere Person zu besitzen? Täusche dich nicht selbst. Handle entschieden, oder das Schicksal wird zu schnell für dich sein.« Sullenbode betrachtete Corpang lange und aufmerksam, bevor sie sagte: »Meinst du den Tod? Meinen und Maskulls?« »Sie gehen zu weit, Corpang«, sagte Maskull ärgerlich. »Ich akzeptiere Sie nicht als Deuter unseres Schicksals.« »Wenn Ihnen ein aufrichtiger Rat unerwünscht ist, lassen Sie mich vorausgehen.« Maskull sagte nichts, aber die Frau hielt ihn zurück. »Ich möchte, daß du bei uns bleibst.« »Warum?« »Ich glaube, du weißt, wovon du redest, Corpang. Ich möchte Maskull nicht in Gefahr bringen… Bald werde ich euch verlassen.« »Das wird das Beste sein«, sagte Corpang. »Ich werde das entscheiden«, fuhr Maskull ärgerlich auf. »Sullenbode, ob du weitergehst oder umkehrst, ich bleibe bei dir. Mein Entschluß steht fest.« Trotz ihres Bemühens, es zu verbergen, trat ein Ausdruck großer Freude auf ihr Gesicht. »Warum machst du so ein finsteres Gesicht, Maskull?« fragte sie ihn. Er gab keine Antwort, sondern ging nachdenklich und mit zusammengezogenen Brauen weiter. Nach einer Weile blieb er plötzlich stehen. »Warte, Sullenbode!« Die anderen blieben gleichfalls stehen. Corpang blickte ihn besorgt und überrascht an, aber die Frau lächelte. Maskull beugte sich wortlos über ihr Gesicht und küßte sie auf den Mund. Dann ließ er sie los und wandte sich zu Corpang um. »Wie interpretieren Sie in Ihrer großen Weisheit diesen Kuß?« »Es bedarf keiner großen Weisheit, um Küsse zu interpretieren, Maskull.«
»Wagen Sie es nicht, sich zwischen uns zu drängen«, sagte Maskull. »Sullenbode gehört mir.« »Dann sage ich nichts mehr; aber Sie sind dem Schicksal verfallen.« Von diesem Moment an sprach er kein Wort mehr zu den beiden. Ein neuer Glanz erschien in den Augen der Frau. »Nun hat sich alles geändert, Maskull. Wohin wirst du mich führen?« »Wähle du.« »Der Mann, den ich liebe, muß seine Reise beenden. Ich will es nicht anders. Du sollst nicht niedriger stehen als Corpang.« »Wohin du gehst, werde auch ich gehen.« »Und ich – solange deine Liebe andauert, werde ich dich begleiten; selbst bis Adage.« »Bezweifelst du ihre Dauer?« »Ich möchte nicht daran zweifeln, aber ich muß dir sagen, was ich dir bisher verschwieg. Das Ende deiner Liebe ist das Ende meines Lebens. Wenn du mich nicht länger liebst, muß ich sterben.« »Und warum?« fragte Maskull erstaunt und beunruhigt. »Das ist die Verantwortung, die du eingingst, als du mich zum erstenmal küßtest. Ich hatte nicht die Absicht, es dir zu sagen.« »Willst du damit behaupten, daß du gestorben wärst, wenn ich allein weitergegangen wäre?« »Ich habe kein anderes Leben als das, das du mir gibst.« Er blickte sie bekümmert an, ohne den Versuch zu machen, eine Antwort zu finden; dann legte er langsam seine Arme um ihren Körper. Während dieser Umarmung wurde er sehr blaß, aber Sullenbode wurde weiß wie Kalk. Einige Minuten später setzten sie ihre Wanderung nach Adage fort. Seit sie Sullenbode getroffen hatten, lagen drei Stunden Wanderung hinter ihnen. Teargeld stand höher im Himmel und war dem Süden näher. Sie waren einige hundert Meter abgestiegen, und der Weg wurde schlechter. Die dünne Schneeauflage verschwand und machte feuchtem, lehmig-schlammigem Boden Platz. Der breite Rücken des Grats bestand nun aus vielen kleinen Grasbuckeln und
morastigen Löchern dazwischen. Sie begannen auszugleiten und zu fallen und beschmierten sich mit Dreck. Die Unterhaltung endete. Sullenbode ging voraus, und die Männer folgten ihr. Das grünliche Licht des hellen Monds, das auf die ungezählten verschneiten Gipfel schien, verwandelte die Gebirgslandschaft in eine Zauberwelt. Der nächste Berg erhob sich ungefähr sechs Kilometer südlich von ihnen hochaufragend auf der anderen Seite des Tals. Es war ein massiger, unersteigbar aussehender Koloß aus schwarzem Fels, so steil, daß der Schnee auf seinen Flanken keinen Halt fand. Er endete in einem gewaltigen, kühn emporgereckten Felshorn, das noch lange ihr wichtigster Orientierungspunkt blieb. Der Grat verbreiterte sich noch mehr und wurde allmählich immer beschwerlicher und mit Feuchtigkeit gesättigt. Die Humusschicht an der Oberfläche war aufgeweicht und schwammig und ruhte auf undurchlässigem Fels; das Gehen, zuerst nur unangenehm, wurde schwierig und schließlich gefährlich. Bald konnte keiner mehr festen Boden von Morast und Sumpflöchern unterscheiden. Sullenbode versank bis über die Hüften in einer schlammigen Grube mit einer schwimmenden Vegetationsschicht an der Oberfläche. Maskull zog sie heraus, und nach diesem Zwischenfall übernahm er selbst die Führung. Als nächster kam Corpang in Schwierigkeiten. Im Alleingang einen neuen Pfad suchend, verschwand er bis zu den Schultern in einem Sumpfloch und entging nur knapp einem qualvollen Tod. Nachdem Maskull ihm unter Lebensgefahr herausgeholfen hatte, setzten sie ihre mühsame Wanderung fort; aber bald wurde es noch schlimmer. Die kleinen Hügel zwischen den sumpfigen Stellen, die festen Boden versprachen, wurden immer seltener und lagen immer weiter auseinander. Auf den ebenen Flächen mußte jeder Schritt vorsichtig geprüft werden, bevor das Gewicht verlagert wurde, und auch so brachen sie noch oft durch die dünne Pflanzendecke, daß sie zuletzt nicht mehr menschlichen Wesen ähnelten, sondern wie unheimliche, von schwarzem Schlamm triefende Dämonen einer stygischen Unterwelt aussahen. Die schwierigste Arbeit fiel dabei Maskull zu. Er übernahm nicht nur die
ermüdende Aufgabe, den Weg zu bahnen, sondern mußte seinen Gefährten ständig aus ihren Schwierigkeiten heraushelfen. Ohne ihn wären sie nicht durchgekommen. Nach einer besonders schlimmen Strecke verschnauften sie auf einer trockenen kleinen Anhöhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Corpang zeigte Anzeichen von Erschöpfung, und Sullenbode war schweigsam, lustlos und deprimiert. Maskull beobachtete seine Begleiter zweifelnd, dann fragte er Sullenbode: »Geht es noch lange so weiter?« »Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie. »Wir können nicht mehr weit vom Mornstab-Paß sein. Danach müssen wir wieder steigen, aber ich bin sicher, daß der Weg besser sein wird.« »Warst du schon einmal hier?« »Ich war einmal beim Paß, aber damals war es nicht so schlimm.« »Du bist übermüdet, Sullenbode.« »Was ist dabei?« erwiderte sie mit einem matten Lächeln. »Wenn man einen furchterregenden Liebhaber hat, muß man den Preis zahlen.« »Wir werden heute nacht nicht mehr ans Ziel kommen, also laß uns beim nächsten Obdach, das wir finden, halt machen und ausruhen.« »Ich überlasse es dir.« Er stapfte vor ihnen auf und ab, während sie saßen. »Bedauerst du etwas?« fragte er plötzlich. »Nein, Maskull, nichts. Ich bedaure nichts.« »Deine Gefühle sind unverändert?« »Liebe kann nicht umkehren – sie kann nur weitergehen.« »Ja, ewig weiter. So ist es.« »Nein, so meinte ich es nicht. Es gibt einen Gipfel. Aber wenn der Gipfelpunkt erreicht ist, muß Liebe, wenn sie noch immer aufsteigen will, zu Aufopferung werden.« »Das ist ein furchtbarer Glaube«, sagte er leise. »Fordert er den Menschen nicht zuviel ab?« »Vielleicht ist meine Natur anders… Ich bin müde, ich weiß nicht, was ich fühle.«
Ein paar Minuten später waren sie wieder auf den Beinen, und die Reise begann von neuem. Innerhalb einer halben Stunde hatten sie den Mornstab-Paß erreicht. Der Boden auf der Paßhöhe war steinig und relativ trocken; das steilere, von Schutt und Schrofen durchsetzte Gelände nördlich des Passes ließ die Feuchtigkeit ablaufen und erleichterte das Vorankommen. Sullenbode führte sie zum Rand des breiten Gratrückens, um ihnen das Land zu zeigen. Das Gebirge fiel in gewaltigen zerklüfteten Terrassen aus Erde und Fels zum Tiefland von Barey ab. Sie waren mit Krummholz und niedriger Vegetation überwuchert. Nachdem Maskull das Terrain eine Weile betrachtet hatte, kam er zu dem Schluß, daß es möglich sein mußte, von diesem Paß ins Tiefland abzusteigen, wenn auch ziemlich schwierig. Tiefliegende Nebel- und Dunstschichten verbargen Barey vor neugierigen Augen. Die Luft war völlig ruhig, in der Ferne rauschte ein unsichtbarer Wasserfall. Maskull und Sullenbode setzten sich auf einen Felsblock, wo sie das offene Land im Norden überblicken konnten. Der Mond stand hoch im Himmel und direkt hinter ihnen. Es war beinahe so hell wie an einem Erdentag. »Diese Nacht ist wie das Leben«, sagte Sullenbode nach einer Weile. »Wieso?« »So großartig und lieblich über uns und um uns, und so mühsam und schmutzig unter den Füßen.« Maskull seufzte. »Armes Mädchen, du bist unglücklich.« »Und du – bist du glücklich?« Er dachte eine Weile darüber nach, dann antwortete er: »Nein. Nein, ich bin nicht glücklich. Liebe ist nicht Glück.« »Was ist sie, Maskull?« »Ruhelosigkeit… Unvergessene Tränen… Gedanken, die zu groß für unsere Seele sind…« »Ja«, sagte Sullenbode. Nach einer Weile fragte sie: »Warum wurden wir erschaffen? Nur
um ein paar Jahre zu leben und dann zu verschwinden?« »Man sagt uns, daß wir wieder leben werden.« »Wirklich, Maskull?« »Vielleicht in Muspel«, fügte er gedankenvoll hinzu. »Was für ein Leben wird das sein?« »Sicherlich werden wir einander dort wiederbegegnen. Liebe ist ein zu wunderbares und geheimnisvolles Ding, um unerfüllt zu bleiben.« Sie erschauerte leicht und wandte sich von ihm ab. »Dieser Traum ist unwahr. Liebe wird hier vollendet.« »Wie kann das sein, wenn sie früher oder später brutal vom Schicksal ausgetilgt wird?« »Sie wird durch Angst vollendet, durch Sorge… Ach, warum muß es immer Freude für uns sein? Können wir nicht leiden? Können wir nicht für immer und ewig fortfahren zu leiden? Maskull, bevor die Liebe nicht unseren Geist endgültig und unrettbar erdrückt, wissen wir nichts von ihr.« Maskull sah sie beunruhigt an. »Kann die Erinnerung an Liebe mehr wert sein als ihre Wirklichkeit?« »Du verstehst nicht… Diese Schmerzen sind kostbarer als alles andere.« Sie ergriff impulsiv seine Hände. »Oh, wenn du nur in meine Gedanken sehen könntest, Maskull! Du würdest seltsame Dinge sehen… Ich kann es nicht erklären, es ist alles verwirrt, selbst für mich… Diese Liebe ist ganz anders als alles, was ich erwartet hatte.« Er seufzte. »Liebe ist ein starkes Getränk. Vielleicht ist es zu stark für Menschen. Und ich glaube, daß es unsere Vernunft in mehr als nur einer Weise durcheinanderbringt.« Sie ließ seine Hände los, und dann saßen sie Seite an Seite und starrten zu Boden, ohne etwas zu sehen. »Es ist nicht wichtig«, sagte Sullenbode schließlich lächelnd und stand auf. »Bald wird es zu Ende sein, so oder so. Komm, laß uns gehen.« Auch Maskull erhob sich von dem Felsblock. »Wo ist Corpang?«
fragte er. Sie blickten beide den Bergrücken entlang in Richtung auf Adage. An dem Punkt, wo sie standen, war er beinahe zwei Kilometer breit. Der größte Teil seiner Oberfläche war nach Süden geneigt, so daß sie wie auf einer schiefen Ebene standen, die der ganzen Landschaft den Anschein einer Schlagseite gab. Nach Westen zu blieb das Terrain weiterhin eben, aber nach ungefähr tausend Metern stieg der breite Rücken zu einem hohen und steilen, grasüberwachsenen Hügel an, der ein wenig an eine enorme Knospe kurz vor dem Aufbrechen erinnerte. Dieser Hügel versperrte den Blick auf den weiteren Verlauf des Verbindungsgrats. Auf der Kuppe sah Maskull eine lange Reihe von großen Steinpfeilern, die vor dem Hintergrund des dunklen Himmels hell im Mondlicht glänzten. Er zählte dreißig von diesen Pfosten, und die Regelmäßigkeit ihrer Abstände ließ keinen Zweifel daran, daß sie von Menschen errichtet worden waren. Viele standen senkrecht, doch andere hatten sich geneigt, so daß die Säulenreihe den Eindruck hohen Alters erweckte. Maskull endeckte Corpang auf der Grasflanke des Hügels, nicht mehr weit von der Kuppe entfernt. »Er kann es nicht erwarten«, sagte Maskull, der den Aufstieg mit einem zynischen Lächeln verfolgte. »Für Corpang werden sich die Himmel nicht öffnen«, erwiderte Sullenbode. »Er brauchte sich nicht so zu beeilen… Was hältst du von diesen Säulen?« »Sie könnten der Eingang zu irgendeinem Tempel sein. Wer kann sie dort aufgestellt haben?« Sie antwortete nicht. Sie sahen beide zu, wie Corpangs kleine Gestalt die Hügelkuppe erreichte und zwischen der Pfeilerreihe verschwand. Maskull wandte sich wieder zu Sullenbode. »Nun sind wir zwei allein in einer einsamen Welt.« Sie sah ihn unverwandt an. »Unsere letzte Nacht auf dieser Erde muß großartig sein. Ich bin bereit weiterzugehen.« »Ich glaube nicht, daß du weitergehen solltest. Es wird besser sein, von der Paßhöhe ein wenig abzusteigen und einen Unterschlupf zu
suchen.« Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. »Wir werden unsere armseligen Körper heute nacht nicht studieren. Ich möchte, daß du nach Adage gehst. Maskull.« »Dann laß uns zuerst ausruhen, denn es muß ein langer und anstrengender Aufstieg sein, und wer weiß, welchen Schwierigkeiten und Härten wir noch begegnen werden.« Sie entfernte sich ein paar Schritte, wandte sich nach ihm um und streckte ihm die Hand entgegen. »Komm, Maskull!« Als sie die Hälfte der Entfernung zurückgelegt hatten, die sie vom Fuß der Erhebung trennte, hörte Maskull die Trommelschläge. Sie kamen von der anderen Seite des Hügels und waren laut, scharf und hörten sich beinahe an wie Explosionen. Er blickte Sullenbode an, doch sie schien nichts zu hören. Eine Minute später wurde der ganze Himmel hinter und über der langen Reihe von Steinpfeilern von einer seltsamen Strahlung erhellt. Das Mondlicht verblaßte; die Pfeiler standen schwarz vor einem Hintergrund aus Feuer. Es war das Licht von Muspel. Als die Minuten vergingen, wurde es zunehmend lebhafter und gewann eine furchterregende Intensität. Es war farblos und ähnelte nichts – es war übernatürlich und unbeschreiblich. Ein Hochgefühl erfüllte Maskull. Er stand unbeweglich, atmete tief, die Augen weit geöffnet. Sullenbode berührte behutsam seinen Arm. »Was siehst du, Maskull?« »Muspel-Licht.« »Ich sehe nichts.« Das Licht schoß zum Himmel auf, bis Maskull kaum noch wußte, wo er war. Es strahlte in einer wilderen und seltsameren Glut als je zuvor. Er vergaß Sullenbodes Existenz. Die Trommelschläge wurden betäubend laut. Jeder Schlag war wie Donner, der durch den Himmel krachte und die Luft zittern machte. Bald verschmolzen die krachenden Schläge, und ein anhaltendes, brüllendes Donnern erschütterte die Welt. Aber der Rhythmus blieb darin spürbar – die vier Schläge, mit der Betonung auf dem dritten Schlag, pulsierten
noch immer durch die Atmosphäre, doch nun vor einem Hintergrund nicht von Stille, sondern von hallendem Donner… Maskulls Herz schlug wird. Sein Körper war wie ein Gefängnis. Es verlangte ihn, diesen Kerker abzuwerfen, emporzufliegen und Teil des erhabenen Universums zu werden, das sich vor seinen Augen zu entschleiern begann… Plötzlich war Sullenbode vor ihm, warf ihre Arme um ihn und küßte ihn leidenschaftlich, wieder und wieder. Er reagierte nicht; er war sich ihres Tuns nicht bewußt. Sie ließ ihn los und ging, weinend und mit gesenktem Kopf. Einige Minuten später begann die Strahlung zu verblassen. Der Donner verhallte. Das Mondlicht setzte sich wieder durch und beleuchtete die steinernen Pfeiler und den Hügel… Nach kurzer Zeit war das übernatürliche Licht vollkommen verschwunden, aber die Trommelschläge waren noch immer schwach hörbar, ein gedämpfter Rhythmus von der anderen Seite des Hügels. Maskull fuhr erschreckt zusammen und starrte umher, als habe man ihn plötzlich aus dem Schlaf geweckt. Er sah Sullenbode ein paar hundert Meter entfernt in Richtung Mornstab-Paß fortgehen. Ein Stich ging ihm durchs Herz. Er rannte ihr nach, rief ihren Namen… Sie blieb nicht stehen, sah sich nicht um. Als er die Entfernung zwischen ihnen halbiert hatte, sah er sie plötzlich straucheln und fallen. Sie stand nicht wieder auf, sondern blieb reglos liegen, wo sie gefallen war. Er stürzte zu ihr und beugte sich über sie… Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Sie war tot. Unter einem Überzug aus getrocknetem Schlamm trug ihr Gesicht das vulgäre, grausige Grinsen des Kristallmanns, doch Maskull sah nichts davon. Nie war sie ihm so schön erschienen wie in diesem Moment. Lange kniete er neben ihr. Er weinte… Aber zwischen den Anfällen von krampfhaftem Schluchzen hob er von Zeit zu Zeit den Kopf und lauschte den fernen Trommelschlägen. Eine Stunde verging – zwei Stunden. Teargeld stand nun im Südwesten. Maskull hob Sullenbodes Leichnam auf die Schultern
und ging zurück zum Paß. Er machte sich nichts mehr aus Muspel. Er suchte Wasser, den Leichnam seiner Geliebten zu waschen, und Erde, ihn zu begraben. Als er den Felsblock erreichte, auf dem sie beieinander gesessen hatten, lehnte er das tote Mädchen so an den Stein, daß ihre gebrochenen Augen über Barey hinausblickten, und setzte sich eine Zeitlang neben sie. Darauf setzte er seinen Abstieg fort.
20 Der Tag war bereits angebrochen, aber der Sonnenaufgang ließ noch auf sich warten, als Maskull aus seinem unruhigen Schlaf erwachte. Er richtete sich auf und gähnte. Die Luft war kühl und rein. Tief unter ihm, in weiter Ferne, sang ein Vogel; der Gesang bestand aus nur zwei Tönen, doch er war so klagend und herzzerreißend, daß Maskull kaum wußte, wie er ihn ertragen sollte. Der Osthimmel wurde von einem feinen Grün überhaucht, das in der Nähe des Horizonts von einer langen, dünnen, schokoladenfarbenen Wolkenbank durchzogen wurde. Die Atmosphäre war graublau, diesig und geheimnisvoll. Weder Sarclash noch Adage waren zu sehen. Die sattelförmige Senke des Passes war hundertfünfzig Meter über ihm; dieses Stück war er noch in der Nacht abgestiegen. Die Bergflanke unter ihm fiel steil talwärts ab, durchsetzt von Felsterrassen und Schrofen. Das oberste Ende des Tals, durch das er nach Barey hinauswandern konnte, lang ungefähr achthundert Meter unter ihm. Zu beiden Seiten des Passes verloren sich die steilen Bergflanken in den Wolken, und Maskull hatte das Gefühl, zwischen Himmel und Erde aufgehängt zu sein. Nicht weit von ihm markierte ein Flecken aufgebrochener brauner Erde Sullenbodes Grab. Er hatte sie im Mondlicht mit Hilfe eines
langen flachen Steins, den er als Spaten benutzt hatte, beerdigt. Ein wenig weiter talwärts plätscherte ein Quellwasser durch eine verborgene Rinne. Dort hatte er in der letzten Nacht den Körper der Toten und sich selbst gewaschen. Er stand auf, reckte sich und blickte umher. Lange Zeit ruhte sein Blick auf dem Grab. Das Halbdunkel wurde unmerklich zu hellem Tag; die Sonne, noch unsichtbar hinter den Bergketten, beschien das dunstverhangene Tiefland von Barey und färbte die Gipfel rosa; bald mußte sie über die Kämme steigen. Die Wolken hoben sich und trieben auseinander, und nach und nach begannen die mächtigen Berge hinter ihm aus dem Dunst zu treten… Die Umrisse von Sarclash wurden sichtbar, und dann sah Maskull hoch über sich den eisgrünen Kamm des gigantischen Adage selbst…. Er sah das alles in müder Apathie. Seine Wünsche und sein Verlangen waren für immer von ihm gewichen… Er wünschte nirgendwohin zu gehen, und er wünschte nichts zu tun. Sollte er nach Barey gehen? Mit steifen Schritten stapfte er den Hang abwärts zu einem Teich, den er von oben gesehen hatte. Dort wollte er sich den Schlaf aus den Augen waschen und sich erfrischen, bevor er sich auf den Weg machte. Am Ufer des Tümpels, die Augen auf das Wasser gerichtet, saß Krag. Maskull traute seinen Augen nicht. Der Mann trug ein Hemd und Kniehosen aus Tierhaut. Sein Gesicht war hart, gelblich und häßlich. Er wandte den Kopf und sah Maskull an, ohne zu lächeln oder aufzustehen. »Wo in Dreiteufelsnamen kommen Sie her, Krag?« »Die Hauptsache ist, ich bin hier.« »Wo ist Nightspore?« »Nicht weit.« »Es kommt mir wie hundert Jahre vor, seit ich Sie zuletzt gesehen habe. Warum haben Sie und Nightspore mich in einer so niederträchtigen Art und Weise im Stich gelassen?« »Sie waren stark genug, um allein durchzukommen.«
»So stellte es sich heraus, aber wie sollten Sie es vorher gewußt haben?… Wie dem auch sei, Sie haben die Zeit gut gewählt. Es scheint, daß ich heute sterbe.« Krags Blick verfinsterte sich. »Sie werden heute morgen sterben.« »Wenn es sein muß, werde ich sterben. Aber woher haben Sie es gehört? Wer hat es Ihnen gesagt?« »Sie sind reif dafür. Sie haben die ganze Skala durchlaufen. Was gibt es sonst noch, für das zu leben sich lohnte?« »Nichts«, sagte Maskull mit einem kurzen Auflachen. »Ich bin durchaus bereit. Ich habe in allem versagt. Ich fragte mich nur, wie Sie es wissen konnten… Und nun sind Sie also gekommen, mich wiederzusehen. Wohin gehen wir?« »Durch Barey.« »Und was ist mit Nightspore?« Krag stand auf. »Wir werden nicht auf ihn warten. Er wird so früh wie wir dort sein.« »Wo?« »An unserem Ziel… Kommen Sie! Die Sonne geht auf.« Als sie Seite an Seite über den Hang abstiegen, sprang Branchsprell flammenspeiend in den Himmel. Die Zartheit der Dämmerung verschwand und wich dem vulgären Tag. Sie kamen an Bäumen und Pflanzen vorbei, deren Blätter wie im Schlaf eingerollt waren. Maskull machte seinen Gefährten darauf aufmerksam. »Wie kommt es, daß sie sich im Sonnenschein nicht öffnen?« »Branchspell nehmen sie nicht wahr. Dies ist für sie eine zweite Nacht. Ihr Tag ist Alpain.« »Wie lange wird es dauern, bis Alpain aufgeht?« »Noch eine gute Weile.« »Glauben Sie, daß ich dann noch leben und es sehen werde?« »Wollen Sie?« »Es gab eine Zeit, wo ich viel dafür gegeben hätte, aber jetzt ist es mir gleichgültig.« »Bleiben Sie bei dieser Einstellung, und es wird Ihnen gutgehen. Ein für allemal, es gibt auf Tormance nichts, das zu sehen sich
lohnte.« Nach ein paar Minuten sagte Maskull: »Warum sind wir dann hierhergekommen?« »Um Surtur zu folgen.« »Richtig. Aber wo ist er?« »Vielleicht näher als Sie denken.« »Wissen Sie, daß er hier für einen Gott gehalten wird, Krag? Es gibt auch ein übernatürliches Feuer, das irgendwie mit ihm im Zusammenhang steht, wie ich vermute… Warum machen Sie nicht Schluß mit der Geheimniskrämerei? Wer und was ist Surtur?« »Beunruhigen Sie sich deswegen nicht. Sie werden es nie erfahren.« »Wissen Sie es?« »Ich weiß es«, knurrte Krag. Maskull spähte in sein Gesicht. »Der Teufel wird hierzulande Krag genannt«, sagte er. »Solange Lust und Vergnügen verehrt werden, wird Krag immer der Teufel sein.« Er faßte Krag am Arm. »Wir sind hier unter uns, Krag. Sagen Sie mir von Mann zu Mann: Was soll ich von Ihnen halten?« »Halten Sie sich an Ihre Sinne. Der wahre Teufel ist der Kristallmann.« Sie stiegen langsam weiter abwärts. Die Sonne wurde unerträglich heiß. Unter ihnen und weit in der Ferne sah Maskull Land, das mit Wasserflächen durchsetzt war. Barey schien eine Seenlandschaft zu sein. »Was haben Sie und Nightspore während der letzten vier Tage getan, Krag? Was ist aus dem Torpedo geworden?« »Sie bewegen sich ungefähr auf der gleichen geistigen Ebene wie ein Mann, der einen nagelneuen Palast sieht und fragt, was aus dem Gerüst geworden ist.« »Was für einen Palast haben Sie denn gebaut?« »Wir sind nicht müßig gewesen«, sagte Krag. »Während Sie mordeten und liebten, hatten wir unsere Arbeit.« »Und wie haben Sie von meinem Tun und Lassen erfahren?«
»Oh, Sie sind ein offenes Buch. Jetzt haben Sie ein todwundes Herz wegen einer Frau, die Sie ganze sechs Stunden lang kannten.« Maskull wurde bleich. »Höhnen Sie nur, Krag! Selbst wenn Sie sechshundert Jahre lang mit einer Frau leben und sie dann sterben sehen würden, bliebe Ihr ledernes Herz unberührt. Sie haben nicht einmal die Empfindungen eines Insekts.« Krag grinste. »Man sehe nur, wie das Kind sein Spielzeug verteidigt!« sagte er. Maskull blieb stehen. »Was wollen Sie von mir, und warum brachten Sie mich hierher?« »Es hat keinen Zweck, stehenzubleiben – nicht mal um des theatralischen Effekts willen«, sagte Krag, faßte ihn am Arm und zog ihn weiter. »Die Entfernung muß zurückgelegt werden, gleichgültig, wie oft wir stehenbleiben.« Als Krag ihn berührte, fühlte Maskull einen schrecklichen stechenden Schmerz durch sein Herz gehen. »Ich kann Sie nicht weiter als einen Menschen betrachten, Krag. Sie sind mehr als ein Mensch… Ob im Guten oder im Bösen, kann ich nicht sagen.« Krags Gesicht blieb unbewegt. Er antwortete nicht auf Maskulls Bemerkung, doch nach einer Pause sagte er: »Sie haben also versucht, auf eigene Faust Surtur zu finden – soweit Ihnen das Morden und Lieben Zeit dazu ließen.« »Was war dieses Trommeln?« fragte Maskull. »Sie brauchten nicht so wichtig zu tun. Wir wissen, daß Sie Ihr Ohr an der Tür und Ihr Auge am Schlüsselloch hatten. Aber die Musik spielte nicht für Sie, mein Freund.« Maskull lächelte bitter. »Ich lausche jedenfalls nicht mehr an Türen. Ich habe mit dem Leben abgeschlossen. Von nun an gehöre ich niemandem und nichts mehr.« »Mutige Worte, mutige Worte! Wir werden sehen. Vielleicht wird der Kristallmann noch einen Versuch mit Ihnen machen. Es ist immer noch Zeit für einen weiteren.«
»Ich verstehe Sie nicht.« »Sie glauben, Sie seien gründlich desillusioniert, nicht wahr? Nun, das könnte sich als die letzte und größte Illusion von allen erweisen.« Das Gespräch endete. Eine Stunde später erreichten sie den Fuß des Berghangs. Branchspell stieg höher und höher in den nun wolkenlosen Himmel. Die Hitze war erdrückend. Der mächtige Bergrücken hinter ihnen strahlte in den kräftigen Farben des Morgens. Adage, noch ein paar tausend Meter höher, war ein einsamer Koloß am Ende des Kamms. Vor ihnen lag eine kühle und bezaubernde Wildnis von kleinen Seen und Wäldern. Das Wasser der Seen war dunkelgrün; die Wälder schliefen und warteten auf Alpains Auf gang. »Sind wir jetzt in Barey?« fragte Maskull. »Ja… Und da ist einer der Eingeborenen.« In seinen Augen glomm ein häßliches Licht, als er die Worte sprach, aber Maskull sah es nicht. Ein Mann lehnte im Schatten an einem der ersten Bäume und wartete anscheinend, daß sie näherkämen. Er war klein, dunkel und bartlos, und Maskull hielt ihn für etwa dreißig oder vierzig. Er trug ein dunkelblaues, loses Gewand und dazu einen breitkrempigen Schlapphut. Sein Gesicht, ohne Entstellungen durch irgendwelche besonderen Organe, war blaß, ernst und feierlich, doch in einer unbestimmbaren Art und Weise angenehm. Bevor ein Wort gesprochen wurde, ergiff er Maskulls Hand und drückte sie herzlich, und im gleichen Moment warf er Krag stirnrunzelnd einen fragenden Blick zu. Krag antwortete mit einem herausfordernden Grinsen. Die Stimme des Fremden war ein vibrierender Bariton, doch es war zugleich etwas seltsam Weibliches in ihrer Modulation. »Ich habe seit Sonnenaufgang hier auf Sie gewartet«, sagte er. »Willkommen in Barey, Maskull! Hoffen wir, daß Sie Ihre Sorgen hier vergessen werden, Sie schwergeprüfter Mann.« Maskull starrte ihn verblüfft aber erfreut an. »Wieso erwarteten Sie
mich, und woher kennen Sie meinen Namen?« Der Fremde lächelte, wodurch sein Gesicht sehr hübsch aussah. »Ich bin Gangnet. Ich weiß viel.« »Haben Sie nicht auch für mich eine Begrüßung übrig… Gangnet?« fragte Krag und schob seine abstoßenden Züge nahe vor das Gesicht des anderen. »Ich kenne Sie, Krag. Es gibt nur wenige Orte, wo Sie willkommen sind.« »Und ich kenne Sie, Gangnet – Sie Mannfrau… Nun, wir sind hier zusammen, und Sie müssen eben daraus machen, was Sie können. Wir gehen hinunter zum Ozean.« Das Lächeln verlor sich aus Gangnets Gesicht. »Ich kann Sie nicht fortjagen, Krag – aber ich kann Sie zum unwillkommenen Dritten machen.« Krag warf den Kopf zurück und stieß ein lautes heiseres Lachen aus. »Dieses Geschäft ist mir ganz recht. Solange ich die Substanz habe, mögen Sie den Schatten haben, möge er Ihnen von Nutzen sein.« »Da nun alles so zufriedenstellend geregelt ist«, sagte Maskull mit einem harten Lächeln, »erlauben Sie mir zu sagen, daß ich im Moment überhaupt keine Gesellschaft wünsche… Sie nehmen zuviel als ausgemacht an, Krag. Schon einmal haben Sie den falschen Freund gespielt… Ich nehme an, ich bin ein freier Mann?« »Um ein freier Mann zu sein, mein Lieber, muß man ein Universum für sich allein haben«, sagte Krag spöttisch. »Was sagen Sie, Gangnet… Ist dies eine freie Welt?« »Freiheit von Hunger, Schmerz und Häßlichkeit sollte jedermann Privileg sein«, versetzte Gangnet ruhig. »Maskull bewegt sich durchaus im Rahmen seiner Rechte, und wenn Sie bereit sind, ihn in Ruhe zu lassen, werde ich das gleiche tun.« »Maskull kann die Miene wechseln, so oft es ihm gefällt, aber so leicht wird er mich nicht los. Seien Sie in diesem Punkt nachgiebig, Maskull.« »Es macht nichts«, murmelte Maskull. »Von mir aus können alle
Beteiligten an der Prozession teilnehmen. In ein paar Stunden werde ich sowieso endgültig frei sein, wenn es wahr ist, was Sie sagen.« »Ich werde vorausgehen«, sagte Gangnet. »Sie kennen dieses Land natürlich nicht, Maskull. Wenn wir ein paar Kilometer von hier ins Flachland hinauskommen, werden wir zu Wasser reisen können, aber zunächst müssen wir gehen, fürchte ich.« »Ja, fürchten Sie!« warf Krag mit schriller Stimme ein. »Sie ewiger Faulenzer!« Maskull blickte verdutzt von einem zum anderen. Zwischen den zwei Männern schien eine tief verwurzelte Feindseligkeit zu herrschen, die auf eine intime frühere Bekanntschaft schließen ließ. Sie gingen durch einen Wald, und nach einer knappen halben Stunde kamen sie an die Ufer eines langen, schmalen Sees. Die Bäume waren niedrig und dünn; ihre lanzettförmigen Blätter waren eingerollt. Es gab kein Unterholz; sie gingen auf reiner brauner Erde. In der Ferne hörte man das Rauschen eines Wasserfalls. Sie gingen im Schatten, aber die Luft war angenehm warm. Es gab keine Insekten, die sie belästigten. Der See sah kühl und poetisch aus. Gangnet drückte freundschaftlich Maskulls Arm. »Wäre die Aufgabe, Sie von Ihrer Welt herüberzubringen, mir zugefallen, so würde ich Sie hierher gebracht haben, Maskull, und nicht zur roten Wüste. Dann wären Ihnen die dunklen Stellen dieser Welt entgangen, und Tormance wäre Ihnen schön erschienen.« »Und was dann, Gangnet? Die dunklen Stellen würden trotzdem existiert haben.« »Sie hätten sie später sehen können. Es ist ein großer Unterschied, ob man Dunkelheit durch das Licht sieht, oder Helligkeit durch die Schatten.« »Ein klarer Blick ist das Beste. Tormance ist eine häßliche Welt, eine böse Welt, und ich ziehe es vor, sie so zu kennen, wie sie wirklich ist.« »Der Teufel machte sie häßlich und böse, nicht der Kristallmann. Was Sie ringsum sehen, sind die Gedanken des Kristallmanns. Er ist nichts als Schönheit und Freude… Selbst Krag würde nicht die
Frechheit besitzen, das zu leugnen.« »Es ist sehr nett hier«, sagte Krag, boshaft umherblickend. »Man möchte nur ein Kissen, eine Wasserpfeife und ein halbes Dutzend Huris, um es vollkommen zu machen.« »Letzte Nacht, als ich mich im Mondlicht durch den Schlamm kämpfte«, sagte Maskull, »dachte ich, die Welt sei schön…« »Arme Sullenbode!« sagte Gangnet seufzend. »Was? Sie kannten sie?« »Ich kenne sie durch Sie… Durch Ihre Trauer um eine edle Frau zeigen Sie Ihren eigenen Edelmut… Ich halte alle Frauen für edel.« »Es mag Millionen von edlen Frauen geben, aber es gibt nur eine Sullenbode.« »Wenn Sullenbode existieren kann«, sagte Gangnet, »kann diese Welt kein schlechter Ort sein.« »Reden wir von was anderem… Die Welt ist hart und grausam und ich bin dankbar, sie zu verlassen.« »In einem Punkt sind Sie beide jedoch einer Meinung«, sagte Krag mit seinem unangenehmen Lächeln. »Vergnügen ist gut, und das Aufhören des Vergnügens ist schlecht.« Gangnet blickte in kalt an. »Wir kennen Ihre Theorien, Krag. Sie sind sehr von ihnen eingenommen, aber es sind nichtsdestoweniger unbrauchbare Theorien. Ohne Vergnügen könnte die Welt nicht weiterbestehen.« »So denkt wenigstens Gangnet!« höhnte Krag. Der Wald endete, und sie befanden sich am Rand eines kleinen Felsabsturzes. An dessen Fuß, ungefähr zwanzig Meter tiefer, setzte sich die Wald- und Seenlandschaft fort. Der Abfluß des Sees, an dessen Ufer sie entlanggegangen waren, stürzte in zwei schönen, gischtenden Wasserfällen über die Klippen hinab. Die Felsen waren von Erosion zerfressen, und die Männer fanden es leicht, zur tieferen Ebene abzusteigen. Am Fuß der Klippe drangen sie wieder in den Wald ein. Er war nun viel dichter, und sie hatten auf allen Seiten nichts als Bäume um sich. Nach einer Weile führte Gangnet sie zu einem kleinen klaren
Bach, dessen Lauf sie folgten. »Mir ist der Gedanke gekommen«, sagte Maskull zu Gangnet, »daß Alpain mein Tod sein mag. Ist das so?« »Diese Bäume fürchten Alpain nicht, warum also sollten Sie Alpain fürchten? Es ist eine wundervolle, lebensspendende Sonne.« »Der Grund meiner Frage ist… Ich habe Alpains Nachglühen gesehen, und es erzeugte so heftige Empfindungen in mir, daß ein wenig mehr schon zuviel gewesen wäre.« »Weil die Kräfte ausgeglichen waren. Wenn Sie Alpain selbst sehen, wird diese Sonne unangefochten herrschen, und es wird keinen Kampf von Willenskräften in Ihnen geben.« »Und das, ich sage es Ihnen gleich, Maskull«, meinte Krag grinsend, »ist des Kristallmanns Trumpfkarte.« »Wie soll ich das verstehen?« »Sie werden sehen. Sie werden der Welt so eifrig entsagen, daß Sie den Wunsch haben werden, in ihr zu bleiben, bloß um diese Empfindung zu genießen.« Gangnet lächelte. »Sie sehen, Krag ist schwer zufriedenzustellen. Sie dürfen weder genießen noch entsagen… Was werden Sie tun?« Maskull wandte sich an Krag. »Es ist sehr komisch, aber ich verstehe Ihren Glauben auch jetzt noch nicht… Empfehlen Sie mir Selbstmord?« Krag schien mit jeder Minute talgiger und abstoßender zu werden. »Weil man aufgehört hat. Sie zu streicheln?« sagte er lachend und zeigte seine verfärbten Zähne. »Wer immer Sie sind, und was immer Sie wollen«, sagte Maskull, »Sie scheinen sehr selbstsicher zu sein.« »Ja, Ihnen würde es gefallen, wenn ich wie ein dummer Junge erröten und stammeln würde, nicht wahr? Das würde eine ausgezeichnete Methode sein, Lügen zu entlarven.« Gangnet blickte zum Fuß eines der Bäume. Er bückte sich und hob drei Gegenstände auf, die Eiern ähnelten. »Kann man sie essen?« fragte Maskull, als er die Gabe annahm. »Ja, essen Sie… Sie müssen hungrig sein. Ich selbst will keine,
und Krag würde es nur beleidigen, wenn ich ihm eine Gaumenfreude anböte.« Maskull schlug die Enden von zwei Eiern auf und schluckte den flüssigen Inhalt. Sie schmeckten ziemlich alkoholisch. Krag nahm ihm das verbliebene Ei aus der Hand und schleuderte es gegen einen Stamm, wo es zerbrach und schleimig herablief. »Ich warte nicht ab, bis Sie mich fragen, Gangnet… Sagen Sie, gibt es einen schmutzigeren Anblick, als ein zerstörtes Vergnügen?« Gangnet antwortete nicht und nahm Maskulls Arm. Nachdem sie zwei Stunden durch Wälder und an Seen entlang gewandert waren, veränderte sich die Landschaft. Der bis dahin ebene Boden zeigte nunmehr ein gleichmäßiges Gefalle, als ob eine Scholle an einem Ende abgesunken wäre. Der so entstandene Hang trug einen dichten Wald, der sich deutlich von dem unterschied, den sie bis dahin durchwandert hatten. Die Blätter der Bäume waren im Schlaf eingerollt, aber die Zweige waren so dicht und zahlreich, daß sie die Sonnenstrahlen auch so abgehalten hätten, wären sie nicht durchscheinend gewesen. So wurde der ganze Wald von einen gedämpften Licht durchflutet, das die Farbe der Zweige hatte und alles in einen weichen, lieblichen rosa Schein tauchte. Die Beleuchtung war so fröhlich, daß Maskulls Stimmung augenblicklich besser wurde, obwohl er es nicht wollte. Er riß sich zusammen, seufzte und wurde wieder nachdenklich. »Welch ein Ort für sehnsüchtige Augen und elfenbeinfarbene Hälse, Maskull!« spottete Krag. »Warum ist Sullenbode nicht hier?« Maskull packte ihn wütend und warf ihn gegen den nächsten Baum. Krag fiel auf die Knie, stand schnell wieder auf und brach in wieherndes Gelächter aus; der Angriff schien ihn nicht im geringsten aus der Fassung gebracht zu haben. »Trotzdem, war es wahr oder unwahr, was ich sagte?« Maskull starrte ihn erbittert an. »Sie scheinen sich als ein notwendiges Übel zu betrachten. Ich bin nicht verpflichtet, weiter mit Ihnen zu gehen. Ich glaube, wir sollten uns trennen.« Krag wandte sich in einer grotesken Karikatur von Betroffenheit
und Ernst an Gangnet. »Was sagen Sie… Trennen wir uns, wann es Maskull gefällt, oder wann es mir gefällt?« »Bleiben Sie ruhig, Maskull«, sagte Gangnet, Krag den Rücken zukehrend. »Ich kenne den Mann besser als Sie ihn kennen. Nun, da er sich an Sie gehängt hat, gibt es nur eine Möglichkeit, ihn loszuwerden: indem Sie ihn ignorieren. Strafen Sie ihn durch Geringschätzung. Sagen Sie nichts zu ihm, beantworten Sie seine Fragen nicht. Wenn Sie sich weigern, seine Existenz zur Kenntnis zu nehmen, ist er so gut wie nicht hier.« »Ich beginne, dieses Theaters überdrüssig zu werden«, sagte Maskull. »Es scheint, als müßte ich meinen Morden einen weiteren hinzufügen, bevor ich am Ziel sein werde.« Krag tat, als schnüffle er. »Ich rieche Mord«, rief er aus. »Aber wessen?« »Tun Sie, wie ich sage, Maskull. Worte mit ihm wechseln, heißt nur Öl ins Feuer gießen.« »Ich werde nichts mehr sagen, zu niemandem… Wann werden wir aus diesem verfluchten Wald herauskommen?« »Es ist noch ein gutes Stück, aber sobald wir draußen sind, können wir zu Wasser Weiterreisen, und Sie werden ausruhen können.« »Und bequem über Ihre Leiden nachbrüten«, fügte Krag hinzu. Keiner der drei Männer sagte etwas, bis sie aus dem Wald kamen. In weniger als einer Stunde waren sie durch. Vor ihnen erstreckte sich eine flache, offene Landschaft, so weit das Auge reichte. Der größere Teil dieses Landes schien aus Wasserflächen zu bestehen. Bewaldete Landzungen und Halbinseln gliederten eine Kette von großen, unübersichtlichen Seen. Der See, an dessen Ufer sie standen, war von Wald umgeben und kaum fünfhundert Meter breit. Das Wasser an den Ufern war seicht und mit Binsen und Schilf dicht bewachsen; aber ein wenig weiter draußen, schon zehn Meter vom Ufer entfernt, sah man eine deutlich erkennbare Strömung. Angesichts dieser Strömung war es schwierig zu bestimmen, ob es ein See oder ein Fluß war. Da und dort trieben schwimmende Inseln.
»Ist es hier, wo wir uns einschiffen werden?« fragte Maskull. »Ja, hier«, antwortete Gangnet. »Aber wie?« »Eine von diesen schwimmenden Inseln wird uns als Fahrzeug dienen. Wir brauchen sie bloß in die Strömung zu bewegen.« Maskull runzelte die Stirn. »Wohin wird sie uns tragen?« »Kommen Sie, vorwärts, vorwärts!« sagte Krag mit häßlichem Lachen. »Der Vormittag vergeht, und Sie müssen sterben, bevor es Mittag ist. Wir fahren zum Ozean.« »Wenn Sie schon allwissend sind, Krag… Welcher Art wird mein Tod sein?« sagte Maskull. »Gangnet wird Sie ermorden.« »Sie lügen!« sagte Gangnet empört. »Ich wünsche Maskull nichts als Gutes.« »Auf alle Fälle wird er die Ursache Ihres Todes sein… Aber was tut es? Die Hauptsache ist, Sie werden diese wertlose Welt verlassen… Nun, Gangnet, ich sehe, Sie sind so träge wie immer. Ich nehme an, ich muß die Arbeit tun.« Er stapfte ins Wasser und begann sich platschend durch den Schilfgürtel und das flache Wasser zu arbeiten. Als er die nächste der schwimmenden Inseln erreichte, stand ihm das Wasser bis an den Bauch. Die Insel hatte eine längliche Form und war ungefähr fünf Meter lang. Sie bestand aus leichtem braunen Torf und schien an der Oberfläche frei von lebender Vegetation zu sein. Krag stieß sie vor sich her zur Strömung, anscheinend ohne sich dabei anstrengen zu müssen. Als die Strömung an dem Floß zu zerren begann, wateten die beiden anderen zu ihm hinaus, und alle kletterten an Bord. Die Reise begann. Die Strömung war nicht schneller als ein Fußgänger. Die Sonne brannte gnadenlos auf ihre Köpfe herab, und es gab keinen Schatten. Maskull ließ sich am Rand der schwimmenden Insel nieder und schöpfte von Zeit zu Zeit mit der hohlen Hand Wasser, das er sich auf den Kopf schüttete. Gangnet hatte sich in seiner Nähe niedergesetzt, während Krag mit kurzen, schnellen Schritten auf und ab ging, wie ein Tier in einem Käfig. Der
See weitete sich allmählich, und auch die Breite der Strömung nahm zu, bis sie auf einem breiten, trägen Fluß dahinglitten. Plötzlich beugte Krag sich zur Seite und ergriff Gangnets Hut. Nachdem er ihn in seiner haarigen Faust zusammengedrückt hatte, warf er ihn weit hinaus ins Wasser. »Warum müssen Sie sich wie ein Weib kleiden?« fragte er mit rauhem Auflachen. »Zeigen Sie Maskull Ihr Gesicht, vielleicht hat er es schon irgendwo gesehen.« Gangnet erinnerte Maskull in der Tat an jemanden, doch wußte er nicht zu sagen, an wen. Sein dunkles Haar fiel ihm in Locken bis in den Nacken, seine Stirn war breit und edel geformt. An dem ganzen Mann war eine ernste Aufrichtigkeit, die auf Maskulls Gefühle seltsam anziehend wirkte. »Lassen Sie Maskull urteilen«, sagte er mit Würde, »ob ich etwas habe, dessen ich mich schämen müßte.« »In diesem Kopf können nur gute Gedanken sein«, murmelte Maskull, nachdem er ihn lange angestarrt hatte. »Eine ausgezeichnete Einschätzung. Gangnet ist der König der Poeten… Aber was geschieht, wenn Poeten versuchen, praktische Unternehmungen auszuführen?« »Was für Unternehmungen?« fragte Maskull. »Erzählen Sie Maskull, was Sie machen, Gangnet.« »Es gibt grundsätzlich zwei Arten von praktischer Tätigkeit«, erwiderte Gangnet ruhig. »Die eine ist aufbauend, die andere zerstörend.« »Nein, es gibt eine dritte Art. Man kann stehlen… Und nicht einmal wissen, daß man stiehlt. Man kann den Geldbeutel nehmen und das Geld liegen lassen.« Maskull hob die Augenbrauen. »Von wo kennen Sie einander?« »Heute besuche ich Gangnet, Maskull, aber Gangnet hat auch mich schon besucht.« »Wo?« »In meinem Heim – wo immer das ist. Gangnet ist ein gewöhnlicher Dieb.«
»Sie sprechen in Rätseln, und ich verstehe Sie nicht. Ich kenne keinen von Ihnen, aber es ist klar, daß Sie, Krag, ein Hanswurst sind, wenn Gangnet ein Poet ist… Muß es sein, daß Sie sprechen? Ich möchte, daß Sie den Mund halten.« Krag lachte, sagte aber nichts mehr. Bald darauf legte er sich nieder und schlief rasch ein. Nach ein paar Minuten begann er unangenehm zu schnarchen. Maskull blickte wieder und wieder zu dem gelblichen, abstoßenden Gesicht hinüber, angewidert und fasziniert zugleich. Zwei Stunden vergingen. Das Land zu beiden Seiten war nun weiter als einen Kilometer entfernt. Voraus war überhaupt kein Land zu sehen. Ein feuchter Dunst, der sich über Wald und Wasser gebildet hatte, machte die Luft diesig und verbarg die Berge von Lichstorm. Der Himmel vor ihnen begann sich am Horizont seltsam zu verfärben. Er war von einem intensiven, strahlenden Blaujale. Die gesamte nördliche Atmosphäre hatte sich wie mit zartem Schleier von Ulfire und Grün überzogen. Maskull begann unruhig zu werden. »Alpain wird gleich aufgehen, Gangnet.« Gangnet lächelte gedankenvoll. »Sie machen sich Sorgen?« »Es ist so feierlich… Beinahe tragisch. Dennoch erinnert es mich an die Erde. Das Leben ist nicht länger wichtig, aber dies ist wichtig.« »Dieses Tageslicht ist neben jenem Tageslicht Nacht. Innerhalb einer halben Stunde werden Sie wie ein Mann sein, der aus einem dunklen Wald in den offenen Tag hinaustritt. Dann werden Sie sich fragen, wie Sie so lange blind gewesen sein konnten.« Gangnet und Maskull beobachteten den Aufgang der Sonne. Der ganze Nordhimmel bis hinauf zum Zenit war nun von außerordentlichen Farben durchglüht. Wenn der wesentliche Charakterzug einer normalen Morgendämmerung das Geheimnis eines junges Tages ist, so war der hervorstechende Charakterzug dieser Dämmerung ihre Wildheit. Sie rührte unmittelbar ans Herz. Maskull fühlte kein Verlangen, den Sonnenaufgang festzuhalten, zu
verewigen oder zu verinnerlichen. Statt dessen bewegte und quälte er ihn, wie die Eröffnungsakte einer übernatürlichen Symphonie. Als er in den Süden zurückblickte, hatte Branschspells Tag seinen grellen Schein verloren, und er konnte in die ungeheure weiße Sonne blicken, ohne geblendet zu sein… Instinktiv wandte er sich wieder dem Norden zu, wie man sich von der Dunkelheit ab- und dem Licht zuwendet. »Wenn das, was Sie mir zuvor zeigten, die Gedanken des Kristallmanns waren, Gangnet, dann müssen dies seine Gefühle sein. Was ich jetzt fühle, muß er vor mir gefühlt haben.« »Er ist ganz Gefühl, Maskull; verstehen Sie das nicht?« Maskull sagte nichts; er starrte fasziniert auf das Schauspiel über dem Horizont. Sein Gesicht war hart und unbeweglich wie Granit, aber in seinen Augen standen Tränen. Der Himmel flammte tiefer und tiefer auf… Es war offenbar, daß Alpain im Begriff war, sich über die Wasseroberfläche zu erheben. Das Land war inzwischen weiter zurückgewichen; von drei Seiten waren sie nun von Wasser umgeben. Hinter ihnen verdichtete sich der Dunst und verbarg das Land vor ihren Blicken. Krag schlief noch immer – ein häßliches, schnarchendes Monstrum. Maskull blickte ins Wasser und bemerkte, daß es seine dunkelgrüne Farbe verloren hatte und nun von bläulicher Transparenz war. »Sind wir schon auf dem Ozean, Gangnet?« »Ja.« »Dann bleibt außer meinem Tod nichts mehr.« »Denken Sie nicht an den Tod, sondern an das Leben.« »Es wird heller und strahlender… Und gleichzeitig düsterer. Krag scheint sich aufzulösen…« »Da ist Alpain!« sagte Gangnet und berührte seinen Arm. Die glühende Scheibe der blauen Sonne erhob sich majestätisch aus dem Meer. Maskull verschlug es die Sprache. Er fühlte mehr als er sah, und seine Gefühle waren unaussprechlich. Seine Seele schien zu stark für seinen Körper… Die riesige blaue Scheibe erhob sich
rasch aus dem Wasser, wie ein schreckliches Auge… das ihn beobachtete… Dann löste sie sich vom Horizont, und Alpains Tag begann. »Was fühlen Sie?« sagte Gangnet, der ihn immer noch am Arm festhielt. Maskulls chaotische Gefühle nahmen plötzlich wie die Glassplitter in einem Kaleidoskop Gestalt an, und eine wundervolle Idee durchströmte sein ganzes Wesen, begleitet von überwältigender Freude. »Was ich fühle, Gangnet? Daß ich nichts bin!« »Nein, Sie sind nichts.« Der Dunst erhob sich um sie her und schloß sie ein. Außer den zwei Sonnen und der See ringsum war nichts sichtbar. Die Schatten, die Alpain warf, waren nicht schwarz, sondern bestanden aus weißem Tageslicht. »Dann kann mich nichts verletzen«, sagte Maskull lächelnd. Auch Gangnet lächelte. »Wie könnte es?« »Ich habe meinen Willen verloren… Mir ist zumute, als sei irgendein übler und gefährlicher Tumor herausgeschnitten worden, so rein und frei fühle ich mich.« »Verstehen Sie jetzt das Leben, Maskull?« Gangnets Gesicht war von einer außerordentlichen vergeistigten Schönheit erleuchtet… Er sah aus, als sei er vom Himmel herabgestiegen. »Ich verstehe nichts, außer, daß ich kein Selbst mehr habe… Aber dies ist Leben.« »Läßt Gagnet sich über seine berühmte blaue Sonne aus?« sagte eine spöttische Stimme über ihnen. Aufblickend bemerkten sie, daß Krag aufgestanden war. Sie erhoben sich beide. Der dichter werdende Dunst begann Alpains Scheibe zu verdunkeln, so daß sie sich von Blau zu einem lebhaften Jale veränderte. »Was wollen Sie von uns, Krag?« fragte Maskull schlicht und mit Würde. Krag blickte ihn sekundenlang mit undurchdringlichem Gesicht an.
Das Wasser plätscherte leise um ihre schwimmende Insel. »Begreifen Sie nicht, Maskull, daß Ihr Tod gekommen ist?« Maskull antwortete nicht. Krag trat näher und legte ihm einen Arm leicht auf die Schulter, und plötzlich fühlte Maskull sich krank und schwach. Er sank am Rand der Insel zu Boden. Sein Herz schlug schwer und unregelmäßig… Die Schläge erinnerten ihn an das Trommeln. Er blickte auf das sich kräuselnde Wasser und es schien ihm, als könne er durchblicken und tief unten ein seltsames Feuer sehen… Das Wasser verschwand. Die beiden Sonnen wurden ausgelöscht. Die Insel verwandelte sich in eine Wolke, und Maskull schwebte allein mit ihr durch die Atmosphäre… Tief unter ihm war alles Feuer… Das Feuer von Muspel. Das Licht stieg höher und höher, bis es die ganze Welt erfüllte… Maskull schwebte auf eine ungeheure senkrechte Felswand zu, die weder Gipfel noch Fuß zu haben schien. Auf halber Höhe schwebte Krag, einen riesigen Hammer in den Händen, mit dem er einer blutroten Stelle in der schwarzen Wand fürchterliche Schläge versetzte. Die rhythmischen, hallenden Geräusche waren schrecklich. Bald erkannte Maskull, daß diese Geräusche die vertrauten Trommelschläge waren. »Was tun Sie da, Krag?« fragte er. Krag unterbrach seine Arbeit und wandte sich um. »Ich schlage auf Ihr Herz, Maskull«, war seine Antwort, und er grinste. Die schwarze Felswand und Krag verschwanden. Maskull sah Gangnet in der Luft zappeln… Aber es war nicht Gangnet… Es war der Kristallmann. Er schien verzweifelt bemüht, dem Muspel-Feuer zu entfliehen, das ihn umgab und beleckte, wohin er sich auch wandte. Er kreischte… Das Feuer erfaßte ihn. Sein Kreischen wurde gräßlich. Maskull sah flüchtig ein vulgäres, sabberndes Gesicht… Und dann verschwand auch das. Er schlug die Augen auf. Die schwimmende Insel wurde noch immer schwach von Alpain beleuchtet. Krag stand an seiner Seite, aber Gangnet war nicht mehr da.
»Wie wird dieser Ozean genannt?« fragte Maskull. Er brachte die Worte nur mit Anstrengung hervor. »Surturs Ozean.« Maskull nickte und schwieg eine Zeitlang. Er ließ sein Gesicht auf dem Arm ruhen. »Wo ist Nightspore?« fragte er plötzlich. Krag beugte sich mit ernster Miene über ihn. »Sie sind Nightspore.« Der Sterbende schloß die Augen und lächelte. Als er sie einige Augenblicke später mit einer Anstrengung abermals öffnete, murmelte er: »Wer sind Sie?« Krag wahrte sein düsteres Schweigen. Nicht lange danach ging ein fürchterlicher Schmerz durch Maskulls Herz, und er starb augenblicklich. Krag wandte den Kopf. »Die Nacht ist schließlich doch zu Ende gegangen, Nightspore. Der Tag ist da.« Nightspore blickte lang und in tiefem Ernst Maskulls Körper an. »Warum war all dies notwendig?« »Fragen Sie den Kristallmann«, erwiderte Krag. »Seine Welt ist kein Scherz. Er hat einen starken Griff… Aber ich habe einen stärkeren. Maskull war sein, aber Nightspore ist mein.«
21 Der Nebel verdichtete sich so, daß die zwei Sonnen völlig verschwanden und alles schwarz wie die Nacht wurde. Nightspore konnte seinen Gefährten nicht länger sehen. Sanft leckte das Wasser an den Flanken des natürlichen Floßes. »Sie sagen, die Nacht sei vorüber«, sagte Nightspore, »aber die Nacht ist noch immer um uns. Bin ich tot oder lebe ich?« »Sie sind noch in der Welt des Kristallmanns, doch gehören Sie ihr nicht mehr an. Wir nähern uns Muspel.«
Nightspore fühlte ein starkes, lautloses Vibrieren der Luft, ein rhythmisches Pulsieren. »Da ist das Trommeln«, rief er aus. »Verstehen Sie es, oder haben Sie vergessen?« »Ich verstehe es halb, aber ich bin ganz verwirrt.« »Es ist offensichtlich, daß der Kristallmann seine Klauen tief in Sie geschlagen hat«, sagte Krag. »Das Geräusch kommt von Muspel, aber der Rhythmus entsteht dadurch, daß es durch die Atmosphäre der Welt des Kristallmanns reist. Seine Natur ist Rhythmus, wie er es zu nennen beliebt… Oder stumpfe, tödliche Wiederholung, wie ich es nennen möchte.« »Ich erinnere mich«, sagte Nightspore. Das pochende Pulsieren wurde hörbar; nun hörte es sich wie ferner Trommelklang an. Ein kleiner Flecken seltsamen Lichts in weiter Ferne, begann die schwimmende Insel und die glasige See ringsum schwach zu illuminieren. »Entkommen alle Menschen aus dieser gräßlichen Welt… Oder nur ich und einige wenige wie ich?« fragte Nightspore. »Wenn alle entkämen, müßte ich nicht schwitzen, mein Freund… Uns erwarten harte Arbeit und Ängste und das Risiko des absoluten Todes.« Nightspore fühlte eine Aufwallung von Verzweiflung. »Bin ich dann noch nicht am Ende?« »Wenn Sie es wünschen. Sie sind durchgekommen. Aber werden Sie es wünschen?« Das Trommeln wurde laut und schmerzhaft. Das Licht wurde zu einer mysteriösen Helligkeit in einer ungeheuren Wand aus Nacht. Es erhellte Krags grimmige, wie aus Fels gemeißelte Züge. »Ich kann der Wiedergeburt nicht ins Gesicht sehen«, sagte Nightspore. »Die Schrecken des Todes sind nichts dagegen.« »Sie werden wählen.« »Ich kann nichts tun. Der Kristallmann ist zu mächtig. Ich entkam kaum mit meiner eigenen Seele. »Sie sind noch immer dumm und mit den Vorstellungen der Erde
behaftet. Sie können nicht geradeaus sehen«, sagte Krag. Nightspore antwortete nicht, sondern versuchte sich an etwas zu erinnern. Das Wasser um sie her war so still, farblos und transparent, daß sie kaum von flüsssiger Materie getragen zu sein schienen. Maskulls Leichnam war verschwunden. Die Trommelschläge waren jetzt wie das Dröhnen von Stahlplatten. Der Lichtschein wurde größer; er brannte wild und grausam. Die Dunkelheit darüber, darunter und zu beiden Seiten begann die Form einer schwarzen Felswand anzunehmen, die keine Grenzen hatte. »Ist das wirklich eine Wand, was wir da vor uns haben?« »Sie werden es bald herausfinden. Was Sie sehen, ist Muspel, und dieses Licht ist das Tor, durch das Sie eintreten müssen.« Nightspores Herz pochte heftig. »Soll ich mich erinnern?« murmelte er. »Ja, Sie sollen sich erinnern.« »Begleiten Sie mich, Krag, oder ich werde verloren sein.« »Es gibt dort drin nichts für mich zu tun. Ich werde draußen auf Sie warten.« »Sie kehren zum Kampf zurück?« fragte Nightspore. »Ja.« »Ich wage es nicht.« Der donnernde Lärm der rhythmischen Schläge traf seinen Kopf gleich wirklichen Hieben. Das Licht wurde so grell, daß er nicht länger hineinsehen konnte. Es hatte die erschreckende Unregelmäßigkeit einer ununterbrochenen Folge von Blitzen, aber es besaß darüber hinaus die Eigenart, daß es irgendwie nicht wirkliches Licht war, sondern Emotion als Licht gesehen. Sie näherten sich dem Tor in der Wand aus Finsternis. Das glasige Wasser reichte ganz heran und berührte mit seiner Oberfläche beinahe die Schwelle. Sie konnten nicht mehr sprechen; der Lärm war zu betäubend. Nach wenigen Minuten waren sie vor dem Tor angelangt. Nightspore kehrte dem Licht den Rücken zu und verbarg sein Gesicht in den Händen, doch selbst so wurde er geblendet. Seine
Empfindungen waren so erregt und leidenschaftlich, daß er das Gefühl hatte, sein Körper vergrößere sich. Bei jedem der fürchterlichen Trommelschläge erbebte er. Der Eingang hatte keine Tür. Krag sprang auf die Steinschwelle und zog Nightspore nach. Einmal durch das Tor, verblaßte das Licht, und die rhythmischen Schläge verstummten. Nightspore ließ seine Hände sinken, alles war dunkel und still wie eine Gruft. Aber die Luft war angefüllt mit einer grimmigen, verzehrenden Leidenschaft, die für Licht und Geräusch war, was das Licht selbst für dunkle undurchsichtige Farbe ist. Nightspore preßte seine Hand ans Herz. »Ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann«, sagte er zu Krag. Er fühlte ihn bei weitem deutlicher und lebhafter, als wenn er in der Lage gewesen wäre, ihn zu sehen. »Gehen Sie hinein und verlieren Sie keine Zeit… Die Zeit hier ist wertvoller als auf Erden… Wir dürfen die Minuten nicht vergeuden. Es sind schreckliche und tragische Angelegenheiten zu regeln, die nicht auf uns warten werden… Gehen Sie sofort hinein. Bleiben Sie nicht stehen, was auch kommen mag.« »Wohin soll ich gehen?« stieß Nightspore hervor. »Ich habe alles vergessen.« »Gehen Sie, gehen Sie! Es gibt nur einen Weg. Sie können ihn nicht verfehlen.« »Warum wollen Sie, daß ich hineingehe, wenn ich wieder herauskommen soll?« »Damit Ihre Wunden geheilt werden.« Mit diesen Worten sprang Krag auf die schwimmende Insel zurück. Nightspore machte eine impulsive Bewegung, als wolle er ihm folgen, besann sich aber und blieb stehen, wo er war. Krag war völlig unsichtbar; draußen war alles in schwarze Nacht gehüllt. Gleichzeitig mit Krags Verschwinden schoß ein Gefühl wie der Klang von tausend Fanfaren in Nightspore auf. Vor seinen Füßen war das untere Ende einer steilen, engen Steintreppe. Einen anderen Weg gab es nicht.
Er setzte seinen Fuß auf die unterste Stufe und spähte nach oben. Er sah nichts, doch als er die Treppe erstieg, war jeder Zoll des Wegs unbequem, aber in seiner Exaltation erschien sie ihm wie eine Himmelsleiter. Nach einem Dutzend Stufen blieb er stehen, um zu verschnaufen. Jede Stufe war zunehmend schwieriger zu ersteigen; er hatte ein Gefühl, als trüge er einen schweren Mann auf seinen Schultern. Das Gefühl schlug in seiner Erinnerung eine vertraute Seite an. Er stieg weiter, und zehn Stufen höher kam er zu einem Fenster, das hoch in die Wand eingelassen war. Er kletterte in die Fensterleibung und blickte durch. Das Fenster war aus einer Art Glas, aber er konnte nichts sehen. Von der Außenwelt spürte er jedoch eine Beunruhigung der Atmosphäre, die von seinen Sinnen wahrgenommen wurde und das Blut in seinen Adern gefrieren machte. In einem Moment ähnelte es einem tiefen, spöttisch-vulgären Lachen, das von den Enden der Welt herüberwehte; im nächsten Moment war es wie eine rhythmische Vibration der Luft, wie das stille, unaufhörliche Pulsieren irgendeiner mächtigen Maschine. Die zwei Empfindungen waren identisch und doch verschieden. Sie schienen in der gleichen Art und Weise wie Körper und Seele miteinander verwandt zu sein. Nachdem er sie eine Weile hatte auf sich einwirken lassen, stieg Nightspore von der Fensterleibung herab auf die Treppe, um seinen Aufstieg fortzusetzen. Er war sehr nachdenklich geworden. Der Aufstieg wurde noch mühsamer, und er war gezwungen, nach jeder dritten oder vierten Stufe stehenzubleiben und sich auszuruhen. Als er in dieser mühsamen Weise weitere zwanzig Stufen hinter sich gebracht hatte, kam er zu einem zweiten Fenster. Wieder sah er nichts. Auch die Beunruhigung der Luft, die wie ein fernes Lachen auf ihn gewirkt hatte, war vergangen; aber das atmosphärische Pulsieren war hier doppelt so deutlich wie zuvor, und auch sein Rhythmus hatte sich verdoppelt. Es gab zwei verschiedene Pulsationen, die einander überlagerten und ein körperliches Unbehagen hervorriefen, das Nightspore entnervte.
Er verbrachte wenig Zeit an diesem Fenster, denn er fühlte, daß er im Begriff war, eine große Entdeckung zu machen, und daß etwas bei weitem Wichtigeres ihn höher oben erwartete. Er mühte sich weiter. Der Aufstieg erschöpfte ihn so, daß er sich häufig setzen mußte, niedergedrückt von seinem eigenen Gewicht. Trotzdem erreichte er schließlich das dritte Fenster. Er kletterte in die Leibung. Seine Gefühle übersetzten sich nun in ein Gesicht, und der Anblick machte ihn erbleichen. Eine gigantische, leuchtende Kugel hing im Himmel und füllte ihn fast ganz aus. Diese Kugel bestand zur Gänze aus zwei Arten von aktiven Wesen. Eine Myriade von winzigen grünen Korpuskeln, deren Größe zwischen sehr klein und beinahe unsichtbar variierte. Sie waren nicht eigentlich grün, doch irgendwie sah er sie so. Sie strebten alle in eine Richtung – zu ihm, zu Muspel, aber sie waren zu schwächlich und winzig, um voranzukommen. Ihre Bemühungen erzeugten den Rhythmus, den er zuvor gefühlt hatte, doch dieser Rhythmus war nicht den Korpuskeln selbst inhärent, sondern eine Folge der Schwierigkeiten, denen sie begegneten. Und um diese Atome von Leben und Licht waren weit größere Wirbel aus weißem Licht geschlungen, die hierhin und dorthin wanderten und die grünen Korpuskeln mitnahmen, wie es ihnen gefiel. Ihre wirbelnden Bewegungen wurden von dem zweiten Rhythmus begleitet. Es schien Nightspore, als ob die grünen Atome nicht nur gegen ihren Willen herumgewirbelt wurden, sondern dadurch Schmach und Erniedrigung litten. Die größeren waren ruhiger als die ganz kleinen, einige wenige waren fast stationär, und eine Korpuskel kam sogar in der angestrebten Richtung voran. Nightspore kehrte dem Fenster den Rücken, vergrub sein Gesicht in den Händen und durchsuchte die trüben Winkel seines Gedächtnisses nach einer Erklärung für das, was er gerade gesehen hatte. Es war noch ungeordnet, aber Schrecken und Wut begannen von ihm Besitz zu ergreifen. Auf seinem Weg hinauf zum nächsten Fenster schienen unsichtbare Finger sein Herz zusammenzupressen und es hierhin und dorthin zu zerren; doch er dachte nicht an Umkehr. Seine Stimmung
war so grimmig, daß er sich nicht einmal eine Pause gönnte. Seine körperliche Erschöpfung war so groß, daß er nach Erreichen des nächsten Fensters minutenlang überhaupt nichts sehen konnte. Die ganze Welt schien sich wie rasend um ihn zu drehen. Als er schließlich wieder sehen konnte, erblickte er die gleiche Kugel wie zuvor, doch nun war alles darauf verändert. Es war eine Welt aus Felsen, Wasser, Pflanzen, Tieren und Menschen. Er umfaßte die ganze Welt mit einem Blick, doch zugleich war alles so vergrößert, daß er mit demselben Blick die kleinsten Einzelheiten des Lebens unterscheiden konnte. Im Innern jedes Individuums, jeder Gruppe von Individuen und jeder Pflanze sah er deutlich das Vorhandensein der grünen Korpuskeln. Aber je nach dem Entwicklungsstand der Lebensform waren sie winzig und vereinzelt, sozusagen fragmentarisch, oder häufiger und Vergleichsweise groß. In machen Menschen war das grüne, eingekerkerte Leben so winzig, daß es kaum sichtbar war und von dem der Pflanzen und Tiere übertroffen wurde; in anderen Männern und Frauen dagegen war es hundertmal stärker. Doch groß oder klein, es spielte eine wichtige Rolle in jedem Individuum. Es schien, als wären die weißen Lichtwirbel, die das Wesen der Individuen ausmachten und durch die einhüllenden Körper klar sichtbar waren, begeistert von der Existenz und wünschten nichts, als sich ihrer zu erfreuen, während die grünen Korpuskeln in einem Zustand ewiger Unzufriedenheit wären, doch blind und in Unwissenheit, welchen Weg sie zu ihrer Befreiung einschlagen sollten. Ständig veränderten sie ihre Gestalt, wie um experimentierend einen neuen Pfad zu bahnen. Wann immer aus Altem Neues hervorging, war es das Werk der grünen Korpuskeln, die nach Muspel zu entkommen suchten, aber sofort auf Widerstand stießen. Diese Funken lebendigen, feurigen Geistes waren hoffnungslos in einem Brei aus weicher Genußsucht gefangen. Sie wurden korrumpiert und verweichlicht, aufgesaugt in die einhüllenden Formen… Nightspore verspürte eine ekelerregende Scham in seiner Seele, als er das Schauspiel beobachtete. Seine leidenschaftliche Erregung war längst vergangen. Er biß auf
die Lippen und verstand, warum Krag unten auf ihn wartete. Langsam wie ein alter Mann stieg er zum fünften Fenster hinauf. Der auf ihm lastende Druck ließ keinen Augenblick nach, und immer wieder war er zu Ruhepausen gezwungen, bevor er seine Anstrengungen erneuern konnte. Als er durch das Fenster sah, wurde er von einem neuen Anblick überrascht. Die Kugel war immer noch da, aber zwischen ihr und der Muspel-Welt, in der er stand, nahm er einen trüben, ungeheuren Schatten ohne erkennbare Gestalt wahr, der ein Aroma von widerwärtiger Süße verbreitete. Nightspore verstand, daß es der Kristallmann war. Eine Flut grellen Lichts – doch es war nicht Licht, sondern Leidenschaft – strömte unaufhörlich von Muspel zu dem Schatten und durch ihn hindurch. Wenn sie jedoch auf der anderen Seite, auf der Seite der Kugel, zum Vorschein kam, hatte das Licht seinen Charakter verändert. Es wurde wie durch ein Prisma in die zwei Lebensformen zerlegt, die er zuvor gesehen hatte – die grünen Korpuskel und die weißen Wirbel. Was vor einem Moment noch feuriger Geist gewesen war, war nun eine Abscheu erregende Masse von kriechenden, sich windenden Individuen, und jeder Wirbel von genußsüchtigem Willen hatte als Kern einem fragmentarischen Funken von lebendigem grünen Feuer… Nightspore erinnerte sich an Starkness, und es durchzuckte ihn mit der Gewißheit der Wahrheit, daß die grünen Funken die Rückstrahlen waren, während die Wirbel die Vorwärtsstrahlen von Muspel verkörperten. Die ersteren versuchten verzweifelt, zu ihrem Ursprungsort zurückzukehren, wurden aber von der rohen Gewalt der letzteren überwältigt, die nur bleiben wollten, wo sie waren. Die individuellen Wirbel bekämpften und verdrängten und verschlangen einander sogar. Dies schuf Schmerzen, doch welche Schmerzen sie auch fühlten, immer war es Genuß und Vergnügen, was sie suchten. Zuweilen waren die grünen Funken stark genug, um für kurze Zeit eine Bewegung in Richtung auf Muspel einzuleiten; die Wirbel akzeptierten dann die Bewegung, nicht nur ohne Zögern, sondern mit Bereitwilligkeit und Stolz, als ob es ihre eigene Initiative gewesen
wäre – aber sie sahen nie über den Schatten hinaus, sie glaubten, daß sie zu ihm reisten. Sobald die direkte Bewegung sie dann ermüdete, da sie ihrer wirbelnden Natur widersprach, fielen sie wieder in ihren sinnlosen Reigen des Kämpfens, Tötens, Tanzens und Liebens zurück. Nightspore hatte eine Vorahnung, daß das sechste Fenster das letzte sein würde. Nichts hätte ihn daran hindern können, zu ihm hinaufzusteigen, denn er vermutete, daß dort die Natur des Kristallmanns selbst manifest würde. Jeder Schritt aufwärts war wie ein Kampf auf Leben und Tod. Die Stufen zogen ihn nieder, der Druck wurde so stark, daß Blut aus seiner Nase und aus seinen Ohren drang. Der Pulsschlag hämmerte in seinem Schädel wie eine eiserne Glocke. Als er sich ein Dutzend Stufen hinaufgekämpft hatte, fand er sich plötzlich oben; die Treppe endete in einer kleinen, kahlen Kammer aus kaltem Stein, die ein einziges Fenster besaß. Auf der anderen Seite der Kammer führte eine weitere kurze Treppe durch eine Falltür weiter nach oben, anscheinend zum Dach des Gebäudes. Bevor er diese Treppe erstieg, eilte Nightspore zum Fenster und starrte hinaus. Die Schattengestalt des Kristallmanns hatte sich ihm genähert und erfüllte den ganzen Himmel, aber es war kein Schatten von Dunkelheit, sondern ein heller Schatten. Er hatte weder Konturen noch Farbe, dennoch suggerierte er die zarten Töne des frühen Morgens. Das ganze Phänomen war so nebelhaft, daß die Kugel durch dieses hindurch noch immer klar zu sehen war; in der Ausdehnung war der Schatten dennoch deutlich. Der von ihm ausgehende süßliche Geruch war penetrant, abscheulich und schrecklich… Er schien von einem verdorbenen, widerwärtigen Schleim auszugehen, unsagbar vulgär und ungebildet. Der geistige Strom von Muspel erstrahlte in komplexer Mannigfaltigkeit. Er war nicht unterhalb der Individualität, sondern darüber. Er war nicht das eine oder das viele, sondern etwas anderes, das weit über beide hinausreichte. Er durchdrang den Körper des Kristallmanns – wenn dieser helle Nebel überhaupt ein Körper
genannt werden konnte –, und der Durchgang bereitete diesem das vollkommenste Vergnügen, den höchsten Genuß. Der Muspel-Strom war die Nahrung des Kristallmanns… Auf der anderen Seite erreichte der Strom die Kugel in gebrochenem Zustand. Ein Teil von ihm kam im wesentlichen unverändert wieder zum Vorschein und überschüttete die Kugel mit einem Schauer aus Millionen von grünen Korpuskeln. Bei der Durchdringung des Kristallmanns waren sie dank ihrer Winzigkeit der Absorption entgangen. Der andere Teil des Stroms war nicht entkommen. Sein Feuer war verdunkelt, seine Bande waren aufgelöst, und nachdem die abscheuliche Süße des Wirts ihn verdorben und verweichlicht hatte, zerbrach er in Individuen, die die Wirbel lebenden Willens waren. Nightspore schauderte… Er begriff endlich, warum die ganze Welt des Willens zu ewiger Qual verdammt war, damit ein einziges Wesen Freude empfinden konnte. Dann begann er die letzte Treppenflucht zu ersteigen, die zum Dachgeschoß hinaufführte… Denn er entsann sich unbestimmt, daß jetzt nur noch dies übrigblieb. Nach fünf Stufen wurde er ohnmächtig, doch als er wieder zu sich kam, mühte er sich beharrlich weiter, als ob nichts geschehen wäre. Als sein Kopf über der Falltür war und die freie Luft atmete, hatte er das gleiche körperliche Gefühl wie ein Taucher, der die Wasseroberfläche erreicht. Er zog sich durch die Öffnung aufwärts, und dann stand er erwartungsvoll auf dem Steinboden des Dachgeschosses und blickte umher, überzeugt, daß er einen Blick auf Muspel werfen werde. Doch da war nichts. Er stand auf der Plattform eines Turms, nicht weiter als fünf Meter von der Brüstung entfernt. Überall um ihn war Dunkelheit. Er setzte sich enttäuscht auf die Steine, und ein bedrückendes Vorgefühl überkam ihn. Auf einmal, ohne irgend etwas zu sehen oder zu hören, hatte er den bestimmten Eindruck, daß die Dunkelheit ringsum auf ihn herabgrinste… Dann verstand er, daß er völlig von der Welt des
Kristallmanns umgeben war, und daß Muspel aus ihm selbst und dem steinernen Turm bestand, auf dem er saß. Feuer flammte in seinem Herzen… Millionen und Abermillionen von grotesken und vulgären, lächerlichen, süßlichen Individuen – früher einmal Geist – schrien aus ihrer Entwürdigung und Qual um Erlösung zu Muspel auf… Und zur Beantwortung dieses Schreis gab es nur ihn selbst und Krag, der unten wartete und Surtur… Aber wo war Surtur? Die Wahrheit zwang ihm ihre kalte und brutale Wirklichkeit auf. Muspel war kein allmächtiges Universum, das aus reiner Gleichgültigkeit die parallele Existenz einer weiteren, falschen Welt duldete, die kein Recht hatte zu existieren. Muspel kämpfte um sein Leben, gegen alles, was schändlich und abscheulich war – gegen Sünde, die als ewige Schönheit verkleidet ging, gegen Niedrigkeit, die sich als Natürlichkeit gab, gegen den Teufel in der Maske Gottes… Nun verstand er alles. Der moralische Kampf war kein Scheingefecht, kein Walhall, wo die Krieger einander bei Tag in Stücke hauen und bei Nacht miteinander zechen; sondern ein grimmiges und tödliches Ringen, in dem Schlimmeres als der Tod – nämlich geistiger Tod – unausweichlich die Besiegten von Muspel erwartete… Wie konnte er sich aus diesem schrecklichen Kampf heraushalten? In diesen qualvollen Augenblicken wurden alle Gedanken an das Selbst, wurde alle Korruption und Schlechtigkeit seines Lebens auf Erden aus Nightspores Seele gebrannt… Und vielleicht nicht zum erstenmal. Nachdem er lange Zeit unbeweglich auf den Steinplatten gesessen hatte, machte er sich zum Abstieg bereit. Plötzlich wehte ein seltsamer, klagender Ruf über das Angesicht der Welt. Er begann in herzzerreißendem Jammer und endete mit einer Note so niedrigen und unflätigen Spotts, daß Nightspore nicht einen Augenblick an seiner Herkunft zweifelte. Es war die Stimme des Kristallmanns. Krag erwartete ihn auf der schwimmenden Insel. Er warf Nightspore einen strengen Blick zu. »Haben Sie alles gesehen?«
»Der Kampf ist hoffnungslos«, murmelte Nightspore. »Sagte ich nicht, daß ich der Stärkere bin?« »Sie mögen der Stärkere sein, aber er ist der Mächtigere.« »Ich bin der Stärkere und der Mächtigere. Das Reich des Kristallmanns ist nur ein Schatten auf Muspels Gesicht. Aber nichts wird bewirkt werden ohne die blutigsten Schläge… Was wollen Sie tun?« Nightspore sah ihn seltsam an. »Sind Sie nicht Surtur, Krag?« »Ja.« »Ja«, sagte Nightspore langsam und ohne Überraschung. »Aber welches ist Ihr Name auf Erden?« »Er ist Schmerz.« »Auch das muß ich gewußt haben.« Er schwieg eine Weile; dann trat er ruhig auf das Floß. Krag stieß ab, und sie glitten in die Dunkelheit hinaus.
Nachwort
Der Arkturische Schatten Eine Ergänzung zu Miltons Satan
Das seltsame, mystische Talent David Lindsays ist bis heute relativ unbekannt geblieben, und doch sind Charakter wie Qualität seines Werks außerordentlich eindrucksvoll. Sein zweites Buch, The Haunted Woman (Methuen 1922), ist trotz des unpassenden Titels in seiner unverwechselbaren magischen Grundstimmung so einzigartig wie sein späteres Meisterwerk The Ancient Mariner. Ähnliches gilt für sein erstes, Die Reise zum Arcturus (A Voyage to Arcturus, Methuen 1920), obgleich die Einzigartigkeit dieses Werks nicht auf einer magischen Eigenschaft im fantastischen Sinne beruht: es ist magisch in einer umfassenderen Bedeutung, die sich der Beschreibung entzieht, und seine Wirkung auf den Geist – oder die Nerven, je nach dem Temperament des Lesers – ist von seiner Art, wie man sie bei kaum einem anderen Autor findet.1 1
Keine Übertreibung. Ein Leser beschreibt sie als einen ›Zustand übersinnlichen Schreckens‹.
Diese Wirkung, was immer die Ursache oder die besondere unterbewußte Energie gewesen sein mag, die an ihrem Zustandekommen beteiligt war, ist überaus beunruhigend. Des Lesers Intellekt ist tief betroffen, sein Vorstellungsvermögen entsetzt. Die Geschichte ist eine Allegorie, ihre Charaktere sind bloße Abstraktionen und Typen, die Umgebung ist fantastisch, die Atmosphäre verdünnt; dennoch ist die Illusion vollkommen, wird die ungeheuerliche Idee überzeugend offenbart – doch keineswegs durch irgendeine künstlerische Wucht des Ausdrucks, denn die Diktion ist schlicht bis zur Kunstlosigkeit. Die Reise zum Arcturus ist, oberflächlich betrachtet, jene Art von
Extravaganz, die von Jules Verne hätte geschrieben werden können, wenn er die Fähigkeit besessen hätte, statt wissenschaftlicher oder mechanischer Neuheiten solche der Metaphysik zu erfinden. Tatsächlich ist es eine erstaunliche ontologische Fabel; eine metaphysische Pilgerfahrt zu und in einem imaginären Ultima Thule, bewohnt von sinnbildlichen Wesen, mit einer Nomenklatur, die so künstlich ist wie diejenige Blakes. Im Gegensatz zu Blakes Nomenklatur ist diese jedoch eher aus dem Nordischen als aus dem Hebräischen abgeleitet; eine Nomenklatur, die mit der rauhen Strenge der Philosophie dieses Buchs im Einklang ist. Ihr düsterer Ernst ist in der Tat arktisch zu nennen. In dieser Philosophie ist Vergnügen – ungeachtet der Natur oder Qualität des Vergnügens – buchstäblich des Teufels. Selbst Schönheit ist vom Übel, eine verderbliche Zauberin, die die Seele verwirrt und von ihrem wahren Ziel ablenkt, das Erhabenheit ist. Kristallmann, der arkturische Teufel, verhüllt seine essentielle Abscheulichkeit mit einer bezaubernden Schaustellung aller Künste und Reize, und selbst seine furchtbare Schattengestalt suggeriert noch die ›zarten Farbtöne des frühen Morgens‹. Während Satan in Miltons Paradise Lost seine majestätische Gestalt hinter dem Aussehen einer Kröte verbirgt und durch den Speer Ithuriels demaskiert wird, zeigt der feinsinnige Kristallmann, der im selbstischen Ich seiner Opfer gegenwärtig ist, sein wahres Gesicht durch sie, wenn ihre Gesichter im Tod sein Grinsen vulgärer Niedrigkeit annehmen. Der Kristallmann erhält seine eigene Existenz und produziert – nicht erschafft – das Universum, indem er seine Schattengestalt vor die Strahlen ›Muspels‹ drängt, des göttlichen Lichts, das die gleiche unaussprechliche Essenz wie die ›Sonne jenseits der Sonne‹ der Mystiker ist, oder die übermäßig blendende weiße Strahlung, die im Kult Laotses eine Rolle spielt. Das Ergebnis ist, daß die feine Strahlung wie von einem Prisma gebrochen wird. Ein Teil, der keine Veränderung erfährt, aber winzig ist, wird innerhalb jeder Kreatur in dem anderen Teil gefangen und entspricht in diesem Sinne Sir
Thomas Brownes ›Stück von Göttlichkeit im Menschen‹ oder Matthew Arnolds ›Nicht wir selbst, das Rechtschaffenheit bewirkt‹. Der andere Teil jedoch ist vom Kristallmann pervertiert worden, ein Organ verweichlichten Vergnügens und genießerischer Lust, das die individuellen Seelen zurückhält, die andernfalls in Richtung auf Muspel fortschreiten würden, der Quelle der göttlichen Partikel2. 2
Professor Denis Saurat stellt in seiner großartigen metaphysischen Untersuchung The Three Conventions (Stanley Nutt 1935) eine Verbindung zwischen dem Vergnügen und dem Bösen her. Das Böse wird darin einer Akkumulation von Wünschen und Trieben zugeschrieben, die lustbetont sind und unterdrückt werden müssen, weil das Individuum bestrebt ist, Schmerzen oder die Lasten der Verantwortung zu vermeiden; eine Art von psychologischer Geburtenverhütung.
So versieht der Kristallmann das Amt Satans in der hebräischen Wortbedeutung als Trenner und Entzweier. In seiner sekundären Rolle als Erzeuger von Schönheit bricht er die göttliche Strahlung in Farben und Formen, so wie ein farbenprächtiger Sonnenuntergang von Verunreinigungen der Atmosphäre erzeugt wird; oder, um die Miltonsche Analogie zu gebrauchen, wie Satans ›ursprüngliche Helligkeit‹ nach seinem Abfall und Sturz zu düsterem Glanz und tragisch-romantischem Zauber wurde, die ihn zum Vorbild für romantische Schurken in der Literatur machten. In Miltons Paradise Lost ist die Erbsünde Stolz, Ehrgeiz; in Die Reise zum Arcturus ist es Vergnügen, Genußsucht. Tatsächlich ergeben Ehrgeiz und Genußsucht die einander ergänzenden Pole des Selbst (so entsagt z. B. ein ehrgeiziger Diktator dem Lebensgenuß, während ein liederlicher Genießer den Ehrgeiz fahren läßt) und lassen sich direkt von den zwei Urinstinkten ableiten, dem Überlebenstrieb und dem Fortpflanzungstrieb; Urinstinkte, die nicht nur von so elementaren Bewegungen wie den zentripetalen und zentrifugalen Kräften repräsentiert werden, sondern auch in der Kunst wiedererscheinen, wie Coleridges Bemerkungen über Shakespeare und Milton illustrieren:
»Während Shakespeare vorwärtsstürmend in alle Formen menschlichen Charakters und menschlicher Leidenschaften eindringt… zieht Milton alle Formen und Dinge an sich, in die Einheit seines eigenen Ideals.«
Der Kristallmann und Miltons Satan – oder Miltons Comus und Satan, was das angeht – sind so nahe verwandt wie Venus und Mars. So verlockt Satan charakteristischerweise die Eva, indem er an ihre Eitelkeit appelliert, aber die ersten Wirkungen der verbotenen Frucht sind Empfindungen der Sinnenfreude und des Vergnügens: »… erhitzt wie vom Wein, von Scherzen und Munterkeit.«
Die ontologischen Implikationen des Werks sind, wie es in einer solchen metaphysischen Allegorie notwendigerweise der Fall sein muß, in mancher Hinsicht paradox. So ist Muspel in seinem Aspekt als Gottheit nicht allmächtig, sondern kämpft um sein Leben gegen alles, was schändlich und schrecklich ist; dennoch ist der Kristallmann als die Verkörperung des Bösen ›nur ein Schatten auf dem Gesicht Muspels‹. Dies muß bedeuten, daß, obwohl der Kristallmann nur eine phänomenale Existenz hat, auch Muspel, dessen Leben mit dem Leben der Seelen und Geschöpfe so eng verbunden ist, in irgendeiner Weise an den verderblichen Wirkungen des ›Schattens‹ teilhat, der die göttliche Strahlung gebrochen hat. Der ›Schatten‹ hat keine Substanz, seine Wirkungen sind nichtsdestoweniger fürchterlich; so daß Krag – ein schreckliches Wesen, das den erlösenden Schmerz verkörpert – sagen kann: »Nichts wird ohne die blutigsten Schläge bewirkt.« Auch ist dieser ›Schatten‹ von Muspel selbst erschaffen worden, denn es gibt nichts anderes, das ihn hätte erschaffen können, obwohl das Böse in Muspel nicht existent ist. Als Ausweg aus der Verlegenheit könnte man folgern, daß der ›Schatten‹ analog der Natur eines Sonnenfleckens beschaffen ist: nicht eigentlich eine dunkle Stelle, sondern eher die Wirkung exzessiver Strahlungsenergie.
Durch einen solchen Vergleich würde der ›Schatten‹ jedoch nicht selbst die Manifestation des Bösen sein, was in der Personifikation des Kristallmanns eindeutig der Fall ist. Nur seine Wirkungen – Verhinderung der Sublimierung in den erschaffenen Seelen durch Benebelung der Sinne mit Schönheit und lustbetonten Freuden – würden böse in diesem arkturischen Sinne sein, in dem Schönheit und Sinnenfreude der Läuterung entgegenstehen, ähnlich wie in der buddhistischen Lehre das sinnliche Verlangen dem Nirwana oder der Glückseligkeit entgegensteht. Tatsächlich geht die Ähnlichkeit der arkturischen mit der buddhistischen Theologie weiter, das das Lustprinzip nach der einen und das ›Verlangen‹ nach der anderen die Ursache und erhaltende Kraft unserer irdischen Existenz ist. Das Lustprinzip in seiner Ausformung als schöpferische Freude spiegelt sich wiederum in der hinduistischen Vorstellung von Brahma als dem ›des Besitzes sich erfreuenden Weltenschleuderer‹ und Schöpfergott. Für Coleridge war ›Freude‹ das schöpferische Prinzip – jedenfalls in der Dichtkunst –, die er ›Schönheit schaffende Kraft‹ nannte. Für Blake waren die Sinne ›das einzige Ventil der Seele in diesem Zeitalters und Freude (in der Allegorie gibt es keine Unterscheidung zwischen Freude und Vergnügen)‹ war sein ›Bogen aus brennendem Gold‹, mit ›Pfeilen von Verlangen‹; während Milton in seinem ›Tetrachordon‹ schreibt: »Gott selbst verbirgt uns nicht seine eigene Erbauung… Ich war… seine tägliche Freude, spielte immer vor ihm. Und für ihn ist Weisheit in der Tat wie ein hoher Turm aus Freude.«
Im gleichen Abschnitt identifiziert Milton auch Weisheit und Freude mit Willen und Willen mit ausführender Gewalt. Der arkturische Seher würde kommentieren, daß alle diese Dinge überhaupt nichts bedeuteten, oder daß sie, verglichen mit Läuterung und Sublimierung, heillos albern seien; und jeder, der die Bedeutung des Begriffs wirklich verstehe, werde ihm zustimmen. Milton selbst, in der Stimmung, in der er Paradise Regained schrieb, würde ihm zweifellos zugestimmt haben; desgleichen Blake in jeder Stimmung.
Der Hauptpunkt ist, was man als die Sünde bezeichnen könnte, sich mit dem Zweitbesten zufriedenzugeben, oder – unter einem anderen Aspekt – mit weniger als dem Ganzen. In der Schatzkammer, wo alles ihm gehört, rafft der Mensch in seinen individuellen Verkörperungen ein paar minderwertige Besitztümer an sich und drückt sie sich an den Busen. Doch die arkturische Verdammung von Freude und Schönheit würde selbst die lieblichen Erfahrungen der Kindheit mit einschließen; und hier kann man nicht umhin, abweichender Meinung zu sein: denn obwohl die ›infernalische Schlange‹ ins Paradies eingebrochen sein mag, bleibt es in sich selbst unverdorben und unvergiftet wie der Himmel. Ich habe mich in diesen Betrachtungen mehr mit dem intellektuellen als mit dem imaginativ-schöpferischen Element in Die Reise zum Arcturus beschäftigt, und dies vornehmlich wegen der interessanten Anregungen und Vorstellungen über das Mysterium des Bösen. Ich schließe mit einigen weiteren Bemerkungen zu dieser Idee. Daß Muspel, obgleich Gottheit, unfähig war, einen ›Schatten‹ auszutilgen, der in mancher Hinsicht eine Realität war, ist ein Paradox, das zum Teil bereits erforscht worden ist. Das verwandte Paradox, daß der ›Schatten‹ auf dem Angesicht von Muspel war, womit eine äußere Form der Gottheit impliziert wird, die gleichwohl unendlich ist, findet eine seltsame Entsprechung bei Milton, der in analoger Paradoxie antwortete: »Grenzenlos des Meeres Tiefe, denn ich bin, Der füllt Unendlichkeit, nicht duldet leer den Raum, Wiewohl ich unumschrieben mich zur Ruh’ begebe, Nicht zeige meine Stärke, die frei ist, Zu handeln oder nicht…« E. H. Visiak
SCIENCE FICTION CLASSICS Maskull hob einen der Felsbrocken über den Kopf und trat vier Schritte zurück. Spadevil stand ihm gegenüber, aufrecht, und wartete ruhig. Der schwere Brocken flog durch die Luft. Sein Flug war wie ein dunkler Schatten. Er traf Spadevil voll ins Gesicht, zermalmte es und brach ihm den Hals. Er starb sofort. Tydomin wandte entsetzt den Blick ab. »Tun Sie es schnell, Maskull, und lassen Sie ihn nicht auf mich warten!« schrie sie. Keuchend hob er den zweiten Felsbrocken hoch. Sie stellte sich vor Spadevils Leichnam, kalt und mit verschlossenem Gesicht. Der Stein traf sie zwischen Brust und Kinn, und sie stürzte. Maskull ging zu ihr, kniete nieder und hielt ihren Kopf in den Armen. So hauchte sie ihr Leben aus. Er legte sie nieder und kauerte eine Weile reglos, während er aufmerksam in das Gesicht der Toten spähte. Die Verwandlung von dem vergeistigten, heroischen Ausdruck zu der vulgären, grinsenden Maske des Kristallmanns kam wie der Blitz; doch er sah sie. Er stand auf, packte Catice am Arm und zog ihn zu den Toten. »Ist dies das wahre Gesicht des Formers?« »Es ist der Former, wie er sich dem darbietet, der alle Illusionen abgelegt hat.« »Wie ist es zur Existenz dieser scheußlichen Welt gekommen?« Catice antwortete nicht. »Ich wate durch zuviel Blut«, sagte Maskull. »Nichts Gutes kann daraus erwachsen.« Das Buch David Lindsays – 1920 erschienen – wurde seit Jahrzehnten in Sammlerkreisen zu horrenden Preisen gehandelt. Es freut uns deshalb besonders, den Roman unseren Lesern und Freunden klassischer Fantasy in einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe anbieten zu können. EIN HEYNE-BUCH