FRANZ KÖHLER
Die Reise zum Kältepol
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Reisereportage Fotos: Franz...
79 downloads
742 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
FRANZ KÖHLER
Die Reise zum Kältepol
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Reisereportage Fotos: Franz Köhler und Archiv des Autors
1.—70. Tausend © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) - Berlin, 1977 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 LSV: 7002 Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Karl Fischer Korrektor: Ilse Fähndrich Hersteller: Michael Haase Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin DDR 0,50 M
Immer dann, wenn im Moskauer Fernsehen die Wettervorhersage für die gesamte Sowjetunion erschien, die Temperaturen von der Ostseeküste bis zum Stillen Ozean und vom Nordmeer bis zur turkmenischen Sandwüste angesagt wurden, dann zog mich ein Ort an, von dem die niedrigsten Temperaturen gemeldet wurden: Oimjakon; drei Monate lang herrschen dort Temperaturen zwischen 50 und 60 Grad minus — dort, am Kältepol. Ich beschloß, ihn mir anzusehen. Als Auslandskorrespondent einer angesehenen DDR-Zeitschrift äußerte ich meinen Wunsch, der mir auch bald erfüllt wurde. Sieben Stunden braucht unsere TU-104 A von Moskau bis Irkutsk. Von dort aus fliegen wir mit einer An-10 noch vier Stunden bis nach Jakutsk. Als unsere kleine Gruppe das Flugzeug verläßt, schleudert uns ein Schneesturm Eiskristalle ins Gesicht. In der linken Hand die Reisetasche, die rechte schützend vorm Gesicht, so stapfen wir durch den Schnee in stockdunkler Nacht auf jene gelblichen Flecken zu, die sich beim Näherkommen als starke Lampen erweisen. Auf meiner Armbanduhr, die ich bereits nach der Landungszeit in Jakutsk vorgestellt hatte, ist es 03.00 Uhr.
Nach meiner Berechnung beträgt der Zeitunterschied zwischen Moskau und Jakutsk sieben Stunden. Aber die Uhren auf dem Flugplatz irritieren mich: Da ist es 20.00 Uhr! Es dauert eine Weile, ehe mir einfällt, daß man sich auf allen Flugplätzen der Aeroflot nach Moskauer Zeit richtet. Also ist es doch 03.00 Uhr. Uns allen ist es aber im Augenblick völlig egal, was da welche Uhr anzeigt; wir sind zum Umfallen müde. Mit einem Wolga werden wir ins Hotel gebracht, wo man uns einen kleinen Imbiß reicht. Noch ahnen wir nicht, daß uns die „verrückte Zeit" in den nächsten Tagen viel zu schaffen machen wird. Ich bemerke es erst am Morgen: Als ich geweckt werde, bin ich todmüde und finde nur schwer aus den Federn; dabei ist es hier schon 10.00 Uhr. Das Frühstück will mir nicht schmecken (wer ißt schon mitten in der Nacht!). An den Gesichtern meiner Kollegen sehe ich: Ihnen geht es auch nicht anders. Nur unser jakutischer Betreuer ißt mit sichtlichem Wohlbehagen. Zum Mittagessen um 14.00 Uhr ist mir eher nach Frühstück zumute. Quickmunter aber bin ich, als ich gegen 22.00 Uhr zu Bett gehe. Ich kann stundenlang nicht einschlafen. Es dauert fünf Tage, bis ich mich einigermaßen an die neue Zeit gewöhnt habe und voll aufnahmefähig bin. Doch schon am ersten Morgen werde ich daran erinnert, wo ich mich befinde: beim Öffnen des Dreifachfensters, das das Zimmer zuverlässig
gegen die Kälte abschirmt. Ein harter, eiskalter Windstoß reißt mir den Fensterflügel fast aus den Händen. Tief muß ich Luft holen, verhalte aber im nächsten Moment den Atem — so kalt ist es. Zwischen November und März sind hier 50 Grad minus „normal". Sogleich erinnere ich mich, daß die Jakutische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik die größte ASSR ist, dreißigmal größer als die DDR. Mit der Sowjetmacht kam auch die Technik hierher; Industrie hielt Einzug in das Land der Jäger und Hirten. Diamantenfelder wurden entdeckt, riesige Goldfunde gemacht, und mit dem Abbau großer Kohlenflöze wurde begonnen. Durch die Jakutische ASSR führt die längste Straße der Welt: vom Ochotskischen Meer bis an die Lenamündung, ins Nördliche Eismeer. Das Kraftfahrzeug ist zu einem gewohnten Anblick geworden, und Flugzeuge haben hier die Funktion unseres zwischenstädtischen Schnellverkehrs der Reichsbahn übernommen. Das Flugliniennetz der Jakutischen Republik ist fast so umfangreich wie die Auslandsstrecken der Aeroflot. Städte baut man auf Stelzen in den Dauerfrostboden. Im eisigen Erdreich lagern große Schätze an Kohle und Erz. Mit der Technik kamen auch ihre Beherrscher, und die Sowjetmacht lehrte die jakutischen Jäger und ewenkischen Hirten, die Scheu vor der Technik zu
verlieren. Weder Nationalität noch Stammesprivileg sind hier ausschlaggebend, sondern nur der Nachweis, was einer kann: das Diplom, der Facharbeiterbrief, die persönliche Leistung im beruflichen Leben. Dreifach golden ist dieses Land. An erster Stelle steht das weiche „Gold": die zauberhaften, schmiegsamen und schmückenden Pelze, die herrlichen Häute von Zobel und Ziesel, die wärmenden Felle der Nutria und Nerze, der Hermeline und Biber, der Eichhörnchen und Marder. Zu Zeiten des Zaren brachten jakutische Pelze und Felle die meisten Devisen, wurden die Häute unter den Händen der Händler zu gleißendem Gold. An zweiter Stelle steht das echte Gold. Von Lagerstätten dieses wertvollen Edelmetalls hörte man in Jakutien zum erstenmal 1923, als der Jäger Tarabukin an dem Flüßchen Nesametnoje eine reiche Fundstätte entdeckte. Heute steht dort die Stadt Aldan, Zentrum der Goldgewinnung. Weitere Entdeckungen folgten, und so wurde Jakutien zu einem der größten Goldproduzenten der Welt. Vom schwarzen „Gold", von den riesigen Kohlevorkommen im Süden Jakutiens, schreibt gegenwärtig die Weltpresse. Geologen schätzen diese Vorkommen auf etwa 3,5 Trillionen Tonnen. Lagerstätten mit insgesamt 700 Millionen Tonnen sind schon unter heutigen Bedingungen leicht zugänglich und bereits teilweise erschlossen.
Die Leninstraße von Jakutsk
Die Jahresförderung an Kohle ist von 4000 Tonnen im Jahre 1928 auf 1,7 Millionen Tonnen im Jahre 1971 gestiegen. Im Südjakutischen Kohlenbecken lagern Vorräte verkokbarer Kohle sogar unmittelbar neben Eisenerzlagerstätten großen Ausmaßes. Hier könnte — nach dem Donbass und dem Kusbass — die dritte metallurgische Basis der UdSSR entstehen. Vorverhandlungen zwischen der Sowjetunion und Japan laufen bereits über eine eventuelle Beteiligung des Inselreichs an der Erschließung dieses Gebiets. Während unseres Aufenthalts in der Stadt besuchen wir auch den Rektor der Staatlichen Jakutischen Universität.
In einem schönen, alten Holzhaus in der Hauptstraße werde ich empfangen. Ein untersetzter Mittfünfziger mit graumeliertem Haar begrüßt mich: Rektor Innokenti Popow. In der zwanglosen, informativen Unterhaltung erfahre ich, daß es vor der Revolution nur 85 Industriearbeiter in Jakutien gegeben hat. „Heute", so sagt der Rektor, „arbeiten Tausende hier. Allein unsere Kohlengruben produzieren jährlich fast zwei Millionen Tonnen bester Steinkohle. Wir sind der größte Diamantenproduzent der Union. Wir fördern große Mengen Gold. Jeder dritte aus der Sowjetunion exportierte Pelz kommt aus Jakutien. Bis neunzehnhundertdreißig gab es hier nur sechs Städte; heute sind es siebenundfünfzig! Wir Jakuten und die anderen kleinen Völker des Nordens, die Ewenken, die Ewenen, Jukagiren und Tschuktschen, sind Sowjetbürger. Aus der ganzen Union kommen Arbeiter zu uns." Das ist vorerst gar nicht so einfach. Das Klima ist hart, der Winter lang. Wer im Norden arbeiten will, muß manches entbehren. Dafür werden hohe Zuschläge gezahlt. Und diese finanziellen Mittel investiert der Sowjetstaat; denn die Jakutische ASSR wäre allein überhaupt nicht in der Lage, den Anschluß an die moderne industrielle Entwicklung zu bekommen. Innokenti Popow erzählt weiter: „An unserer Universität — sie ist erst zehn Jahre alt — studieren
heute viertausend Direkt- und dreitausend Fernbeziehungsweise Abendstudenten. Sie gehören vierundzwanzig Nationalitäten an." „Und alle sind Menschen des Nordens?" „Nein, aber viele Studenten sind Kinder und Enkel der ersten und zweiten Pioniergeneration, die vor dreißig, vierzig Jahren aus allen Teilen der Union kamen, den Norden zu erschließen. Unsere wichtigste Aufgabe ist die Ausbildung der ständig hier wohnenden Jugendlichen für solche Berufe, die im rauhen Norden gebraucht werden. Achtzig Prozent unserer Studenten sind Jakuten oder Angehörige anderer in unserer Republik lebenden Völkerschaften. Nur zwanzig Prozent besitzen die russische oder eine andere Nationalität. Dabei machen diese rund die Hälfte der heutigen Bevölkerung Jakutiens aus. Aber in unserer Stadt darf nur derjenige studieren, der mindestens drei Jahre im Norden gelebt hat. Einhundert Studienplätze an verschiedenen Universitäten und Instituten der Sowjetunion sind jährlich für Studenten aus unserer Republik reserviert. Bei uns halten viele Gastdozenten -Kapazitäten auf den verschiedensten Gebieten -Vorlesungen." Einer meiner Begleiter fragt: „Und wie steht es mit dem Stipendium?" Der Rektor lächelt und nimmt mit der rechten Hand seine Brille von den Augen, legt sie auf den Tisch. Da, ich sehe es erst jetzt, kommt ein Armstumpf
Junge jakutische Tänzerinnen aus dem linken Jackettärmel und schiebt die Brille hin und her. Ich frage mich, wo er invalid geworden ist, im Krieg, im Arbeitsprozeß, durch einen Verkehrsunfall? Doch da antwortet der Rektor auf die Frage meines Kollegen. „Schon die Schüler der Grundschule spüren die Hilfe der Union: Die Kinder der einsam in der Taiga lebenden jakutischen Jäger und Hirten wohnen in Internaten des Sowchosezentrums. Für Essen, Kleidung und Unterkunft ist für sie bis zum
Abschluß der zehnten Klasse gesorgt. Nun, und danach studierende oder beginnen eine Lehre." Während ich auf den Armstumpf blicke, erfahren wir, daß die Fluktuation der Bevölkerung Jakutiens sehr beträchtlich ist. Deshalb versucht man, die Menschen mit überaus großzügigen materiellen Vergünstigungen in der ASSR zu halten. Rektor Popow sieht das wichtigste Anliegen der Universität darin, die Angehörigen der Völkerschaften des Nordens zu befähigen, technische Prozesse selbst zu meistern, die Wirtschaft der Republik zu lenken und die Gesellschaft zu leiten. „Natürlich", so bringt Innokenti Popow zum Ausdruck, „müssen wir dabei gleichzeitig auch solche Arbeits- und Lebensbedingungen hier im Norden schaffen, die denen in den vom Klima bevorzugten Republiken ähneln. Um die Kader zu halten, müssen wir besonders die jungen Leute dazu befähigen, die gesellschaftlichen Prozesse hier im hohen Norden zu meistern." „Genosse Popow, werden Sie immer im hohen Norden bleiben?" frage ich den Mann, dessen Gesicht ich schon die ganze Zeit über eingehend betrachte. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, welcher Nationalität er wohl angehört. Für einen Russen sind seine Augen zu schmal, für einen Jakuten fehlen ihm die breiten Backenknochen... „Nun, was glauben Sie, was ich wohl bin?"
Erschrocken blicke ich auf. Kann der Mann vor mir Gedanken lesen? Doch schon erzählt Popow weiter. „Sehen Sie, mein Vater war Russe, meine Mutter Jakutin. Beide habe ich leider nicht gekannt, sie wurden von Koltschakbanditen erschossen: Ich wuchs in verschiedenen Familien und in Heimen auf. Eine Zeitlang konnte ich nur russisch sprechen, dann wieder nur jakutisch. Heut natürlich beides." Lächelnd setzt er hinzu: „Auch eine Lösung der Nationalitätenfrage." „Und wie wird ein Waisenkind Rektor?" Popows Gelassenheit, die Heiterkeit, die er ausstrahlt, wenn er spricht, seine Gesten, knapp, aber ausdrucksvoll — all das erstirbt in diesem Augenblick: Der Stumpf seines linken Armes, der bisher spielerisch die Brille auf der Tischplatte bewegte, verkriecht sich in die geöffnete Rechte. Verhalten und etwas stockend sagt der Rektor: „Ich spielte einige Musikinstrumente; Klavier, Balalaika, Flöte. Die Musik war mein ein und alles, bis zu jenem Tag..." Er hält im Sprechen inne. Der Armstumpf zuckt aus der rechten Hand hervor. „Neunzehnhundert-zweiundvierzig. Zwischen Moskau und Smolensk. Es war der bitterste. Tag meines Lebens." Und nach einer Pause: „Ich begann zu lernen, zu studieren, besuchte später die Parteihochschule, wurde Dozent und schließlich vor sieben Jahren Rektor -dieser Universität. Doch nie habe ich aufgehört, meine Heimat zu lieben."
Das also ist Innokenti Popow, Wissenschaftler und, wie ich erst später erfahren sollte, Staatsfunktionär: Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der Jakutischen ASSR. Auf dem Weg von der Universität zum Hotel sehe ich mich ein wenig in der Stadt um, denke über die Worte Popows nach, erinnere mich an interessante Informationen über diese ASSR, in der der eisige Frost dem ganzen Leben seinen Stempel aufdrückt. Die Vegetationsperiode ist kurz, nur drei Monate. Den Rest des Jahres beherrscht strenger Frost das Land. Wenn in Berlin die Rosen blühen, ist in Jakutsk Winter. Feiern wir zu Hause Weihnachten, Neujahr, Fasching, dann ist in Jakutien Winter, die lange Polarnacht des Nordens. Ist es in der DDR Ostern—Jakutien ist immer noch vom Eis umklammert. Drei Monate Frost um minus 60 Grad sind hier nichts Außergewöhnliches. Die eisige Kälte dringt tief in den Boden, verändert seine Struktur. Selbst im Sommer taut nur die oberste Schicht. Darunter liegt Dauerfrostboden — und das auf fast der Hälfte des Territoriums der UdSSR. In Jakutien reicht die Frostschicht 1,5 Kilometer tief, sind Sand- und Tonböden, mit Eiskristallen durchsetzt, fest wie Zement: ein ausgezeichneter Baugrund. Baut man aber ein Haus darauf, dann taut der Untergrund. Das Bodenvolumen verringert sich, Fundamente sacken weg. Die Wissenschaft muß einen Ausweg suchen!
Im ständig gefrorenen Erdreich liegen wertvolle Schätze: Gold und Diamanten,.,Kohle und Erze. Sie müssen gehoben werden. Der durch das Eis gleichsam zementierte Boden wird dabei zum Hindernis. Die Wissenschaft muß einen Ausweg finden! Der Frostboden hält viele Tücken bereit. Wasserleitungen und die Kanalisation verlegt man normalerweise unter die Erde, damit sie im Winter nicht einfrieren. In den Gebieten mit Dauerfrostboden ist aber das Erdreich ständig gefroren. Die Bodenschicht, die bei uns schützt, schützt dort nicht, sondern wirkt wie eine Tiefkühltruhe. Auf übliche Art verlegte Wasserleitungen frieren ein. Wieder muß die Wissenschaft helfen! Ein Kraftwerk wird gebaut, die Staumauer auf Fels gegründet. Der Stausee bedeckt weite Gebiete mit seinem Wasser. Das aber wärmt! Der gefrorene Boden unter dem See taut auf, das Wasser kann Versickern, die Uferlinien können sich verändern, Gefahr ist möglich. Wieder muß die Wissenschaft einen Ausweg suchen! Mit der Lösung dieser Probleme befaßt sich das Institut für Dauerfrostbodenforschung in Jakutsk. An einem der nächsten Tage besuche ich dieses Institut. Zwölf Meter unter der Erde sitzt, gebeugt über ein Mikroskop, eine junge, blonde Frau. Wir stellen uns vor. Ich wundere mich, denn ihr Deutsch ist fehlerfrei. Doch nach den ersten vier
Sätzen fallen mir jenes rollende R, jene dunklen Vokale auf, wie sie die Leute in Bautzen und Löbau sprechen. Und tatsächlich — sie spricht Oberlausitzer Dialekt! Wie aber kommt eine Oberlausitzerin hierher, 11000 Kilometer östlich der DDR? Dr. Christine Siegert klärt mich lächelnd auf. Sie stammt aus einem Dorf bei Zittau, hat in Berlin studiert, in Moskau promoviert. Hier hat sie einen sowjetischen Studienkollegen geheiratet, und als dieser nach Jakutien gegangen ist, ans Institut der Akademie der Wissenschaften, ist sie ihm in den hohen Norden gefolgt. Nun sitzt sie, eingemummt in eine dicke Wattejacke, am Mikroskop dieses unterirdischen Laboratoriums. Die Wände sind reiner Sand, in dem Eiskristalle glitzern, die Türen dick mit Reif beschlagen. Hinter dem Arbeitsplatz liegen in einem Regal kleine Eiswürfel, glasklar die einen, milchig trüb bis grauviolett die anderen. „Viele tausend Jahre alt sind manche Stücke", erklärt mir Frau Dr. Siegert. „Manche erst ein halbes Jahr. Die alten stammen aus vielen Teilen des Landes, aus unterschiedlichen Tiefen ständig gefrorenen Bodens, die jüngsten aus dem Flußbett der Lena." Christine Siegert untersucht deren Festigkeit, prüft die Struktur der Kristalle und die mechanischen Eigenschaften des Eises. Sie erklärt: „Im Flußeis der Lena, entnommen bei minus
fünfzig Grad, findet man die Kristalle senkrecht geordnet; das Eis ist dreimal fester als das unterirdische ewige Eis. Für die Bauwirtschaft hier ist es besonders wichtig zu wissen, welche Eigenschaften die verschiedenen Eisarten aufweisen. Ewiges Eis ist spröde, trägt nicht; gefrorene Sande und Tone dagegen sind hart wie Zement..." Tägliche Gewohnheit bringt es mit sich, daß sie unversehens russisch mit mir spricht, als wir eine Holztreppe hinaufsteigen, um in ihr sonniges, mit Grünpflanzen geschmücktes Arbeitszimmer zu gelangen. Als wir es merken, müssen wir lachen. Kaum sind wir in dem schmucken Arbeitszimmer, da erfahre ich Näheres über die Arbeit an diesem Institut. Unten im Schacht habe ich Geräte stehen sehen, in denen Eiswürfel hohen mechanischen Drücken ausgesetzt werden. Hier oben finde ich außer den Mikroskopen noch Tabellen, Reagenzgläser verschiedener Größe und viele mir unbekannte Geräte. Ich bitte Frau Dr. Siegert, mir einiges zu erklären. „Wenn möglich, ohne Formeln und große Berechnungen." „Eigentlich geht das nicht ganz ohne Formeln und so, aber ich will versuchen, es in einfacher Form begreiflich zu machen." Frau Siegert lächelt. „Ich will ja auch nichts nachmachen, nur annähernd verstehen."
„Beginnen wir mit dem Einfachsten. Man weiß, daß sich Fundamente verschieben, wenn man Häuser auf Dauerfrostböden baut. Deshalb stellt man ganze Städte auf Stelzen: Betonpfähle werden tief in das Erdreich gerammt; einen Meter über der Oberfläche wird eine Plattform gegossen und darauf das Haus gesetzt. Der Boden taut selbst im Hochsommer nicht weiter als drei Meter auf. Die Betonpfähle reichen aber tief ins Erdreich und halten das Gebäude wie auf gewachsenem Fels. Die oberste Schicht des Bodens kann tauen und frieren — das ist jetzt ohne Belang. Sie sehen, ganz einfach ist alles." „Ganz einfach, ja. Aber man muß erst einmal darauf kommen!" „Und man muß es berechnen." „Wie aber werden aus diesem Dauerfrostboden die Naturschätze geborgen?" „Das ist auch wieder ganz einfach. Wir nutzen dazu die Sonnenenergie." „Bitte?" Ich denke an riesige Hohlspiegel, die gegen die Sonne gerichtet sind, an Anlagen, in denen Sonnenwärme gespeichert und in Strom umgewandelt wird. Während ich in Gedanken komplizierte Sonnenenergiespeicher sehe, erläutert Dr. Siegert: „Ja, mit der Sonne. Beseitigt man nämlich den Schnee und die oberste Bodenschicht — mit Bulldozern zum Beispiel —, wird das darunter liegende Erdreich erwärmt und taut. Diese
aufgetaute Schicht wird mit Großgeräten abgetragen und durchsucht — zum Beispiel nach Diamanten. Inzwischen taut die Sonne die nächste Schicht auf. Wieder Bulldozer, wieder Sonne, Bulldozer, Sonne... Es ist alles ganz einfach." Dr. Siegert lacht hell auf und meint abschließend: „Aber man muß alles genau berechnen, und das ist nicht ganz so einfach." Drei Tage darauf erfahre ich im Meteorologischen Institut Oimjakon, 800 Kilometer nordöstlich von Jakutsk, daß die Menge der hier eingestrahlten Sonnenenergie die gleiche ist wie die in Moskau — nur in einem völlig anderen Klima. „Und wie verlegt man hier Wasserleitungen, wie macht man das mit der Kanalisation von Städten bei diesen extrem niedrigen Temperaturen?" „In kleinen Ortschaften bringt man Fernheizungsrohre und Wasserleitungen dicht nebeneinander an, etwa einen halben Meter über der Erde, isoliert beides zusammen und verhindert so das Einfrieren des Wassers. Das sieht zwar nicht schön aus, hält aber die Kosten in erträglichen Grenzen. In großen Orten baut man Schächte unter der Erde, gemeinsam für Heizung, Trinkwasser und Kanalisation. Das sind Tunnel, Gewölbe wie für eine U-Bahn. Auch fast so teuer. Eine andere Lösung gibt es noch nicht. Aber auch sie ist nicht brauchbar, wenn man für Orte abseits von Flüssen Trinkwasser benötigt. Bohrt man Brunnen, so
gefriert das Wasser in den Steigrohren. Bisher führte man oft Heizkabel in die Bohrung ein. Jetzt projektieren wir im Institut Rohre und Pumpen für Strömungsgeschwindigkeiten, bei denen die Reibung so viel Wärme erzeugt, daß sie das Einfrieren verhindert." An einem der nächsten Abende sind wir bei Christine und ihrem Mann zu Gast. Das Institut, einige Kilometer von der Stadt am Waldrand gelegen, hat für seine Mitarbeiter Zweifamilienhäuser und einen großen Wohnblock bauen lassen. Die Zweizimmerwohnung ist noch recht spärlich ausgestattet, die Möbel aus der DDR sind erst unterwegs. Noch führt keine Eisenbahn nach Jakutsk, der Weg über das Polarmeer ist weit, und die Lena ist monatelang dick mit Eis bedeckt. Die Schiffahrt ruht ein halbes Jahr. Doch bei dem angeregten Gespräch ist die Sitzgelegenheit von nebensächlicher Bedeutung. Der Tisch ist reich und liebevoll gedeckt: leckere Vorspeisen nach russischer Art, dann eine Brühe mit Eierflöckchen nach deutschem Rezept und schließlich Stroganina, eine Delikatesse der jakutischen Küche. Wohnungsnachbar und Arbeitskollege Majesi Iwanow, Geomorphologe von Beruf und Angler aus Leidenschaft, holt aus seinem Vorratskeller im Eis einen prächtigen Fisch, eingefrostet bei minus 55 Grad Celsius. Von diesem Fisch werden nun in feierlicher Zeremonie
— die ganze Gesellschaft sieht bewundernd zu — mit einem großen Messer feine Späne „abgehobelt"! Das appetitlich rosarote Fleisch ringelt sich tatsächlich wie Hobelspäne. Schnell noch einen Augenblick hinaus vors Fenster, damit es knackhart gefriert, und dann läßt man die Stückchen auf der Zunge zergehen. Köstlich! Es schmeckt — fast wie Speiseeis mit zartem Fischgeschmack. Doch Stroganina will nicht beschrieben, Stroganina will gegessen, will genossen sein. Zwar behauptet Majesi, der es als Jakute wohl wissen muß, es sei nicht so ganz das Richtige. Die fünfzehn Grad minus an diesem Aprilabend reichten nicht aus; eine richtige Stroganina brauche mindestens dreißig Grad Frost. Doch das stört uns wenig. Uns schmeckt es herrlich. Zwischendurch gleitet der Blick durchs Zimmer. Auf niedrigen Tischen stapeln sich Bücher zu Bergen: ein Band Weltgeschichte; Shukows Memoiren in russischer Sprache, Hauffs Märchen in deutscher; ein Jahrgang der Zeitschrift „Bildende Kunst". Und immer wieder Fachbücher in beiden Sprachen. Im Nebenraum, einfach auf dem Teppich, ein Stapel Schallplatten — Felix Mendelssohn Bartholdy. Rondo capriccioso Nummer 14, die Ringparabel aus dem „Nathan" mit Eduard von Winterstein... „Wie ertragen Sie die Kälte?" fragen wir die Hausfrau. „Im Sommer haben wir zwei, drei Monate lang Temperaturen bis dreißig Grad plus. Dann gehen wir baden; direkt am Institut ist ein kleiner See, und die Lena hat einen herrlichen Strand im Sommer. Aber
auch der Winter läßt sich ertragen. Es ist hier meist windstill, und oft leuchtet ein herrlich blauer Himmel. Nur unter fünfzig Grad minus wird es ungemütlich. Aber ich habe dann immer das Wort meines Freiberger Professors im Ohr: ,Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unzweckmäßige Kleidung.'" Um zweckmäßige Bekleidung bemühen wir uns am nächsten Tag. Unsere Begleiter vom Gebietskomitee
Vordem Start nach Ust-Nera. Der Autor vor einer Mi-8 der KPdSU helfen uns dabei. Mein „dicker" Wintermantel und meine hohen „gefütterten" Schuhe ringen den Freunden nur ein nachsichtiges Lächeln ab. „Wenn Sie zum Kältepol wollen, dann müssen Sie sich schon richtig anziehen", meint Dmitrijew.
Im Ausrüstungslager der Geologischen Verwaltung gibt man mir am frühen Morgen einen knielangen Schafpelz und ein Paar Filzstiefel, jene Walenki, die ohne besondere Sohle und Verschnürungen aus einem Stück gearbeitet sind. Ein paar Stunden später besteigen wir eine der guten alten IL-14, die sich auch bei den schwierigsten Flugbedingungen im hohen Norden bewährt haben. Schon während dieses Fluges merken wir, daß es nun ernst wird. Statt der gewohnten tiefen Polstersessel, die quer zur Flugrichtung angeordnet sind, sitzen wir auf einer harten Klappbank, die sich an der Wand der Kabine entlangzieht. Der Mittelraum ist vollgepfropft mit Zeitungen, Paketen und Bündeln. Auf der Startbahn läßt der Pilot die Motoren noch einmal auf volle Touren kommen, der Bordfunker steckt seinen Kopf aus dem Cockpit zu uns herein und ruft uns etwas zu. Der Motorenlärm verschluckt seine Worte, doch aus seinen Gesten wird klar: Wir sollen uns anschnallen. Und während wir uns noch die Gurte anlegen, rumpelt die Maschine los, kommt nach kurzer Rollstrecke frei. Vier Stunden fliegen wir in nordöstlicher Richtung. Dann haben wir unser Ziel, Ust-Nera, erreicht. Der l. Sekretär des Rayonkomitees der KPdSU, Igor Dmitrijew, begrüßt uns. „Herzlich willkommen am Kältepol!"
„Wieso? Ist denn hier der Kältepol? Ich denke in Oimjakon?" frage ich. Die Antwort klingt überzeugend. ,,Der Kältepol ist natürlich nicht ein Punkt, sondern ein Gebiet, eben unser Rayon. Bis vor zwanzig Jahren war Oimjakon Rayonzentrum. Jetzt ist es Ust-Nera: Wir haben achttausend Einwohner, Oimjakon hat nur dreieinhalbtausend." Hier, am Kältepol, wurden 1956 im breiten Tal der Indigirka, umgeben von 2000 Meter hoch aufragenden, mit schroffen Felszacken gekrönten kahlen Kuppeln, die ersten Steinhäuser gebaut. Ein Wärmekraftwerk liefert die Energie, die schwarzen Qualmwolken aus seinen häßlichen Metallschornsteinen lagern bei Windstille oft tagelang über dem Ort. Filteranlagen konnte man sich hier noch nicht leisten. Es war schon so schwer genug, mitten in der Taiga einen Ort und alles, was dazu gehört, auf ewigen Frostboden zu bauen. Alles mußte von weit her herangeschafft werden. Selbst die Kohle für das Heizkraftwerk kommt über 400 Kilometer mit dem LKW. Inzwischen ist Ust-Nera eine blühende Siedlung geworden. Das Sportzentrum mit Schwimmhalle war allein schon eine Revolution in einem Land, in dem die Flüsse kaum wärmer als 4 bis 6 Grad werden, wo man also früher überhaupt nicht schwimmen konnte. Was das für eine Revolution auch im Denken und in den Lebensgewohnheiten
auslöste, vermag wohl nur der voll zu erfassen, der schon längere Zeit hier lebt. Am Ortsausgang steht eine Fernsehübertragungsstation. Bis vor kurzem hatte man hier noch kein Fernsehen. Die UdSSR investiert in dringendere Projekte. Deshalb beschlossen die Kumpel der Goldfelder an der Indigirka, die Kraftfahrer der längsten Straße der Welt und die Heizer vom Kraftwerk Ust-Nera, eine Fernsehübertragungsstation aus eigener Kraft zu errichten. Zwei Millionen Rubel hat die Station gekostet. Die Betriebe gaben das Geld, die Kumpel leisteten Aufbauschichten, und die Zentrale schickte die Geräte. Nun kann man auch hier über das Satellitensystem Orbita die Sendungen des Moskauer Fernsehens verfolgen. Für die Funktionstüchtigkeit der Station sind Semjon Kapitonow und Walen Klarow, Absolventen der Technischen Fachschule in Jakutsk, verantwortlich. Ich frage Semjon Kapitonow: „Was machen Sie, wenn draußen minus fünfzig Grad herrschen?" „Dasselbe wie bei dreißig Grad Hitze in den Monaten des leider so kurzen Sommers." Sein Kollege ergänzt: „Allerdings ist es etwas schwieriger bei fünfundfünfzig Grad minus." Semjon meint: „Dann wird das Fett in den Achslagern der Elektromotoren steif, die den Antennenspiegel bewegen. Nicht immer können
wir genau die Richtung halten. Aber bis fünfzig Grad Kälte ist alles normal." In diesem Augenblick verschwindet auf dem Kontrollschirm das Bild der Übertragung eines internationalen Eishockeyspiels. Nur noch grauschwarze Fläche, die vom grellen Flackern unterbrochen wird. An diesem Sonntag bricht um 18.34 Uhr die Leitung zusammen. Aufgeregt eilen die beiden Techniker an Knöpfe und Schalter. Ein eifriges Untersuchen beginnt Was ist los? Verdammt, gerade jetzt, wo es um die letzten Spielminuten geht! Ganz Jakutien hängt an der Röhre, das Spiel ist spannend, und nun? Nach ein paar Sekunden ist die Ursache entdeckt: Moskau hat eine Störung. Kontrollanruf über die Direktleitung des Orbitasystems zur Nachbarstation Magadan, 2000 Kilometer von hier entfernt. Valeri Klarow setzt das Testbild ein. Auf den Monitoren immer noch Flimmern und Flackern, in den Lautsprechern Rauschen. Magadan bestätigt die Störung des Moskauer Fernsehzentrums. Endlich: Das Bild kommt plötzlich, doch kein Ton! Wieder beginnt ein eifriges Schalten. Nach sieben Minuten ist alles wie vorher, nur — das Hockeyspiel ist zu Ende. Die beiden Techniker brummein verwünschende Worte ob der Störung. 11000 Kilometer Luftlinie sind es bis nach Moskau, über den Satelliten noch viel mehr.
Fernsehübertragungsstation am Kältepol Die Freizeit der beiden Techniker gehört dem Lernen und, wen wundert es, der Jagd. Als sich die Aufregung wegen der Störung etwas gelegt hat, frage ich sie: „Was jagt man denn hier in den Weiten der Taiga?" Semjon lacht. „Nun, was schon? Was einem vor die Flinte kommt. Und was man jeweils schießen darf." Waleri meint: „Mal ist es ein Schneehuhn, mal ein Silberfuchs. Auch Elchen sind wir schon aufs Fell gerückt."
Diese Frage stelle ich am Abend auch unserem Gastgeber Igor Dmitrijew, nicht ahnend, daß mir diese Frage ein unvergeßliches Erlebnis bringen würde. Igor Dmitrijew holt ziemlich weit aus. „Die Jakuten, die Tschuktschen, die Ewenen und Ewenken waren seit altersher nomadisierende Völker. Sie lebten ausschließlich von der Jagd, aßen fast nur Fleisch." Ich muß wohl doch ein wenig zweifelnd geblickt haben, denn Igor Dmitrijew fügt bekräftigend hinzu: „Vergessen Sie nicht die riesigen Entfernungen und das extreme Klima. Nein, nein, die Völker des hohen Nordens lebten tatsächlich fast nur von Fleisch. Sie aßen zweimal am Tag. Einmal bei Tagesanbruch und das zweitemal am Nachmittag. Auch das ergab sich aus ihrem Nomadendasein. Trieben sie ihre Rentierherden von Weideplatz zu Weideplatz, schleppten sie ja ihre Jurten und nur wenig Hausgerät mit sich. Es war praktisch unmöglich, einer Mahlzeit wegen die Herde anzuhalten, die Gerätschaften ab- und auszupacken und ein Mittagessen zuzubereiten. Deshalb beließen sie es bei zwei Mahlzeiten am Tag, aßen aber dann unvorstellbare Mengen Fleisch. Was die Jagd unserer Tage betrifft, so kann Nikolai Winokurow, den Sie ja schon kennen, am besten Auskunft geben. Schließlich ist er der Leiter der Jagdverwaltung von Jakutien." Dmitrijew blickt
ermunternd auf einen älteren Genossen in unserer Runde, dessen ausgeprägt jakutischen Gesichtszüge mir schon die ganze Zeit über aufgefallen sind. Ohne sich lange bitten zu lassen, zückt Winokurow sein Notizbuch. „Jakutien ist unter der Sowjetmacht zu einer Republik des .weichen' Goldes geworden. Zwanzig Prozent aller in der UdSSR produzierten Pelze kommen aus unserer Republik. Das wertvollste Pelztier ist das Eichhörnchen. In den letzten Jahren haben wir weit über eine Million Stück an den Staat verkauft. In der jüngsten Zeit hatten wir einige ausgedehnte Waldbrände, da sind die Bestände des kleinen Tieres zurückgegangen. Wir liefern jetzt etwa die Hälfte, hoffen aber, daß sich schon nächstes Jahr die Zahl erhöhen wird. Dann haben wir hier viele Hermeline, Zobel, weiße Füchse, Rot-, Silber- und Blaufüchse. Hasen gibt es wie Sand am Meer, viele Bisamratten, wilde Rentiere, Elche und Bären. Der weitaus größte Teil unserer Pelze geht in den Export. Im letzten Fünfjahrplan haben wir für zweiundvierzig Millionen Rubel Pelze an den Staat geliefert; in diesem Jahr werden es achtundvierzig Millionen Rubel werden." Während ich mir diese Zahlen notiere, frage ich: „Da muß es hier ja unwahrscheinlich viele Berufsjäger geben?" „Ja und nein", meint Nikolai Winokurow. „Die Zahl der Berufsjäger geht ständig zurück.
Neunzehnhundertfünf gab es in Jakutien neunzehntausend Jäger. Vierzig Jahre später waren es nur noch elftausend. Neunzehnhundertsechsundsechzig gab es gerade noch viertausendsechshundert. Heute sind es knapp viertausend, die beruflich jagen gehen. Das ist eine Folge der Industrialisierung. Ein ganzes Leben in der Taigaeinsamkeit zu verbringen, das nehmen nicht viele auf sich." „Wie erklärt sich dann aber, daß die Zahl der erbeuteten Pelze von Jahr zu Jahr größer wird?" „Nun, nur die Hälfte aller Pelze wird auf der Jagd erbeutet. Die anderen stammen aus den Farmen der Kolchosen und Staatsgüter. Immer mehr Pelztiere werden gezüchtet, und außerdem vergrößern sich ständig die Jagdgemeinschaften. Viele junge Leute nehmen in der Jagdsaison ihren Urlaub. Sie schließen mit den Genossenschaften oder Staatsgütern Verträge über die Lieferung von Pelzen, Fellen und Tieren ab. Von den Jagdgemeinschaften bekommen sie Gebiete zugewiesen, die etwa vierhundert Quadratkilometer umfassen." Ich muß über die Größe dieser Jagdgebiete staunen. So groß ist in der DDR ein Landkreis, und in dieses Kreisgebiet teilen sich bei uns 150 Weidmänner! Ich erfahre weiter, daß die Jagdgründe oft Hunderte von Kilometern von der Wohnung des Jägers entfernt liegen. Und so bringt man sie mit
Hubschraubern dorthin. Sie leben dann meist einen Monat allein in einer selbstgebauten Hütte. Deshalb nehmen nur kerngesunde Personen die Strapazen auf sich. „Ein dritten Grund für unser ständig wachsendes Pelzauf kommen", nimmt Winokurow seinen Gedanken wieder auf, „das sind die moderneren Jagdmethoden. Waffen und Munition sind besser als vor dreißig Jahren, besonders deren Reichweite und Treffsicherheit. Statt des Fallenfangs hat man sich auf den Fang mit Netzen umgestellt." Lange unterhalten wir uns noch über die Jagd in Jakutien. Am Ende unseres lebhaften Gesprächs, gewürzt mit zünftigem Jägerlatein, bieten mir die Genossen an, auf Jagd zu gehen. Das Herz schlägt mir bis zum Halse. Ob ich darauf eingehe? Zu Hause geh ich ja gern auf die Jagd; aber... „Na, wollen Sie es nicht mal versuchen?" Igor Dimitrijew lächelt mich aufmunternd an. „Haben Sie Lust, einen Elch zu erlegen?" „Was für eine Frage! Gern, sehr gern." Vor Aufregung gerate ich ins Stottern. Einen Elch schießen, und das dazu am Kältepol! Ich kann es noch gar nicht glauben. Doch meine Gastgeber sind längst dabei, die organisatorischen Dinge zu besprechen. In drei Tagen soll es losgehen, vernehme ich. Und bis dahin werde ich noch allerhand erleben.
Das „weiche Gold" Jakutiens: Pelze und Felle. Hier werden sie für den Abtransport in die Erfassungsstelle sortiert „Und morgen wollen Sie sicherlich Usti-Nera kennenlernen. Vielleicht auch unsere Kraftfahrersiedlung in Artyk?" In Gedanken schon bei dem Elch, blicke ich etwas zerstreut, beteure, daß das sicher sehr interessant sein werde, und ahne nicht, daß ich in Artyk einen Mann kennenlernen werde, der zu den
bemerkenswertesten Menschen gehört, denen ich im Laufe meines fünfjährigen Aufenthalts in der Sowjetunion begegnet bin. Die Kraftfahrersiedlung, so stellt es sich am nächsten Morgen heraus, ist „gleich nebenan", nur drei Stunden Autofahrt. Unterwegs halten wir aber noch am Stadtrand von Ust-Nera. Man will mir noch eine besondere Attraktion zeigen: Treibhäuser in der kältesten Gegend der Erde! Nur wenige hundert Meter von einer Fernsehübertragungsstation stehen drei Glashäuser am Fuße eines Berges. Begeistert spricht Iwan Lischafei, der Sowchosdirektor, von seinen Versuchen, Tomaten und Gurken zu ziehen; während er uns durch die Gänge der insgesamt 600 Quadratmeter großen Treibhäuser führt. „Siebenundzwanzig Kilogramm Gurken haben wir im vergangenen Jahr vom Quadratmeter geerntet, dieses Jahr hoffen wir, auf dreißig zu kommen. Zweihundertachtzig Dezitonnen Tomaten sind bei uns gewachsen. Wissen Sie, was das bedeutet? Wir konnten unseren Kindern frisches Gemüse geben!" 76 Tage lang erreicht kein Sonnenstrahl die Siedlung. Die hohen Berge werfen ihre Schatten bis auf den gegenüberliegenden Hang. Vom 16. November bis zum 27. Januar blickt die Sonne kein einziges Mal in das Tal der Indigirka. Zwei Monate davor und zwei danach ist die gelbe Scheibe nur
kurze Zeit zu sehen, zu kurz, als daß sie wärmen könnte. Heute, am 5. April, wurden 35 Grad minus gemessen. Am Tage klettert da? Thermometer immerhin auf 16 Grad minus. Aber hinter den Scheiben der Treibhäuser streben Gurkenpflanzen in die Höhe! „Als ich vor zehn Jahren an mein Wohnhaus einen gläsernen Anbau errichtete und ihn mit einem einfachen Kanonenofen beheizte, lachten mich alle Leute aus. Als ich dann sogar Kohl im Freiland zog, haben mich manche überhaupt nicht mehr ernst nehmen wollen. ,Hier ist noch nie Gemüse gewachsen', meinten sie und spotteten, der Lischafei Iwan wolle die Natur vergewaltigen", erinnerte sich der Direktor des Staatsgutes. „Erst als ich die Spötter zu einer Krautsuppe einlud, hatte ich sie überzeugt, und einige bauten sich auch ein Treibhaus. Und heute? Haben Sie sich schon einmal in unserer Siedlung umgeschaut?" Ich bestätigte, daß ich fast an jedem Haus einen verglasten Anbau gesehen habe. „Ja, heute hat fast jeder seine Gurken und Tomaten. Und diese Treibhäuser hier haben wir für die Schule und die Sowchosküche gebaut, und im Freiland haben wir über viertausend Dezitonnen Kraut geerntet." Das freilich will mir wie ein Wunder erscheinen, denn die Vegetationsperiode beträgt hier nur drei Monate. Ich erfahre, daß man in Jakutsk resistentes
Pflanzgut gezogen hat. Die jungen Pflanzen werden in den Treibhäusern gezogen und später ins freie Land gesetzt. Und trotzdem ist es für mich immer wieder faszinierend zu hören, daß durch die gesellschaftlichen Verhältnisse auch hier im hohen Norden das Leben menschlicher geworden ist. Nach diesem interessanten Besuch geht die Fahrt weiter nach Artyk. Artyk — der Name bedeutet „Anfang eines großen Weges" und wurde von einem Nebenfluß der Indigirka entlehnt —, so hieß ein Ort, schon lange bevor der andere entstand: die Kraftfahrersiedlung. Ihr fahren wir jetzt entgegen. Das neue Artyk trägt den alten Namen zu Recht. Von hier aus starten die schweren Fahrzeuge zu ihren • Fahrten auf der längsten Trasse der Welt. Kein Schienenweg durchschneidet die hohen Berge. Autos erklimmen die Pässe, schleichen durch steinschlaggefährdete Schluchten. Flugzeuge, so liest man es oft, würden in diesem unwegsamen Land die Versorgung garantieren. Aber das stimmt nur teilweise. Nicht überall kann ein Flugzeug landen, und Hubschrauber sind viel zu teuer. Selbst die kleinsten Siedlungen brauchen nicht nur zentner-, sondern tonnenweise Versorgungsgüter: Brennstoff, Diesel, Maschinen, Werkzeuge, Schmiermittel und Kohle, sogar für die Kohlengruben! Bevor hier nämlich die Kohle abgebaut werden kann, muß der Abraum weg,.
Autotrasse auf dem Eis der Jana
müssen Maschinen, Menschen, Werkstätten her, man muß essen, heizen, wohnen All das, was man dazu braucht, kommt über Tausende von Kilometern in die Taiga. Und das schafft man nicht über den Luftweg, sondern zu einem großen Teil nur mit dem Auto. Über die Trasse, mit den Männern von Artyk. Da quälen sich in einer dunklen Märznacht zwei LKWs über den Topolinsker Paß. Dann verläuft die Trasse in Kehren bergab. Links Felswand, rechts gähnender Abgrund, 300 Meter steil abfallende Schlucht. Plötzlich wird der vordere Wagen schneller, fängt an zu schlingern, taumelt von einer
Straßenseite zur anderen, läßt die Räder mahlen, beschreibt auf der schmalen Straße Stemmbögen wie ein Skifahrer am Hang. Jäh wird es dem anderen Fahrer klar: Der Vordermann kann nicht bremsen! Der schafft höchstens noch zwei Kurven. Immer rasender wird seine Fahrt. Da wagt der zweite das Äußerste: gibt Gas, braust haarscharf zwischen schwindelndem Abgrund und schlingerndem Wagen hindurch, setzt sich vor den vor ihm fahrenden LKW, verringert das Tempo, läßt den anderen auffahren und bringt ihn so zum Halten. Tage danach sucht eine Jakutsker Zeitung nach dem Namen des zweiten Fahrers. Der erste will sich bei ihm bedanken, die Regierung will ihn auszeichnen. Der Fahrer des ersten Wagens vom Fuhrpark lakutsk weiß nur eins: Der andere war ein Genosse aus Artyk. Man sucht ihn noch heute. — Vor zwei Jahren im April fahren Alexander Gretschko, Nikolai Kisin und Pjotr Jefremow von Magadan zu einer Siedlung am Oberlauf der Delinja. Die Strecke führt wie üblich über Eis. Auf der Heimfahrt überrascht sie ein Wärmeeinbruch. An der Mündung der Delinja in den Tompo sehen sie mit Schrecken, daß das Eis geborsten und der Rückweg versperrt ist. Auch dem Eis der Delinja ist nicht mehr zu trauen. An eine Weiterfahrt ist also gar nicht zu denken. Bis zur nächsten Siedlung sind es mehr als 150 Kilometer - ohne Weg und Steg. Ringsum
schweigende Taiga. Nach zwei Tagen bocken sie die Wagen auf, montieren die Reifen ab, bauen aus Schläuchen und Stangen ein Floß, zerstören das Eis unter sich und fahren, gegen Eisschollen kämpfend, flußabwärts. In der Zentrale erfährt man erst Tage danach vom Wärmeeinbruch auf der Delinja. Die Suche nach den Verschollenen beginnt, Stunden später holt sie ein Hubschrauber vom treibenden Floß. Die Autos aber können erst Monate später geborgen werden. , Nicht immer läuft alles so gut ab. Zwölf Kilometer von Ust-Nera entfernt, am belebtesten Abschnitt der Trasse, hat ein Fahrer Panne, Reifenwechsel hinten rechts. Nichts Besonderes. Wagenheber unter das Auto, den Wagen hochgebockt, Schrauben gelockert. Der Reifen klemmt noch. Der Fahrer scharrt mit beiden Händen den ihn behindernden Schnee unter dem Reifen hervor. Da sackt der Wagenheber ein, und die Reifen pressen ihm beide Arme auf das Eis der Straße. Das Thermometer zeigt 50 Grad unter Null. Alle zehn Minuten kommt ein Auto vorbei, alle zehn Minuten schreit ein Mensch um Hilfe, schreit um sein Leben. Die schweren Motore übertönen jeden Laut. Die anderen sehen: Da wechselt einer die Reifen; wenn er uns brauchte, würde er winken. Also Gas!
Hier kreuzt die Trasse den Polarkreis Diese Geschichte wurde mir zweimal erzählt, und zweimal ging sie anders aus. Das erstemal kam nach zwei Stunden zufällig ein Bekannter vorbei, der den Wagen kannte und seinem Kollegen etwas mitteilen wollte. Er brachte mit der Nachricht die Rettung. In der zweiten Fassung kam der Bekannte erst am nächsten Morgen... Ob die zweite eine Übertreibung oder die erste eine mildere, für den Ausländer bestimmte Variante war, danach habe ich nicht gefragt. Aber nach Nikolai Glebow erkundigte ich mich. Von ihm sagt mir der Direktor des Fuhrparks Artyk: „Glebow, einer unserer besten Fernfahrer,
hat am einunddreißigsten März bereits seinen Halbjahresplan erfüllt." Mein erster Gedanke ist: Da kann der Plan nicht stimmen. Doch der Direktor beweist mir an Hand von Tabellen und Zahlen, daß er stimmt. 50000 Tonnenkilometer Leistung im Monat hat ein Fahrer im Durchschnitt zu erbringen. Abweichungen nach oben oder unten werden vom Wagentyp bestimmt und von der Länge der Strecke. Auf dem geschotterten Streckenabschnitt liegt der Norm eine Stundengeschwindigkeit von 30 Kilometern zugrunde. Für alle übrigen Abschnitte und die Trassen auf dem Eis der Flüsse gelten 18 Stundenkilometer als Norm. Alle 150 bis 200 Kilometer gibt es Streckenposten, die dafür zu sorgen haben, daß ein Fahrer nicht länger als acht Stunden ohne längere Ruhepause fährt. Sozialistische Fürsorge und Versicherungsschutz des Staates garantieren, daß Arbeitskraft und Gesundheit der Kraftfahrer erhalten bleiben. Hier fährt man nicht um den „Lohn der Angst". Trotzdem fordert die Arbeit den ganzen Mann. Von Artyk bis zum Eismeer dauert die Tour hin und zurück 25 bis 30 Tage. Eine Strecke — ein Monat. Jede Strecke ein Monat ohne Frau und Kinder, 30 mal 24 Stunden das Dröhnen von Motoren, denn die laufen die ganze Nacht, dürfen ab minus 30 Grad nicht abgestellt werden. „Wer den Plan schafft", sagt der Direktor, „verdient
nicht schlecht. So um sechshundert Rubel im Monat." „Und wieviel verdient Nikolai Glebow?" „Im Durchschnitt elfhundert." „Im Monat?" „Im Monat." „Rubel?" „Rubel." „Den Mann will ich sehen!" 25 Grad Kälte herrschen an diesem Apriltag in Artyk. Nikolai Glebow bastelt im Freien an seinem Wagen. Hemd und offene Jacke darüber, auf dem Kopf eine graue Mütze aus Stoff. Wir anderen sind in Pelze gehüllt. Kurze Begrüßung. „Sie haben den Halbjahresplan im März schon erfüllt, wie ist das möglich?" „Man muß etwas können, man muß sich ranhalten und muß gesund sein. Das ist das Wichtigste." Eine ruhige, sichere Stimme hat Nikolai Glebow, ruhig und sicher wie seine ganze Erscheinung. Daß ein Ausländer ihn ausfragt, beeindruckt ihn gar nicht. Vor zehn Jahren kam er aus Tula hierher. Drei Jahre später — das Geld stimmte — ging er zurück zu leichterer Arbeit an einem Ort mit milderem Klima. Doch der Norden ließ ihn nicht los. Zwei Jahre später war er wieder in Artyk — und wurde einer der Besten. Sein Kommentar: „Wer hier erst einmal drei Jahre durchgehalten hat, kommt wieder."
Seine Tochter geht jetzt in die 8. Klasse. „Was soll sie werden?" „Ärztin. Als Kleinkind spielte sie schon Puppendoktor. Und da kann sie mich pflegen, wenn ich alt bin." Wie nur schafft der Mann seinen Plan in der halben Zeit? Wie verdient er seine 1100 Rubel? Schon fürchte ich, es nicht zu erfahren, da meint er lächelnd: „Kommen Sie doch heute abend bei mir vorbei; ich wohne da drüben." Ich blicke in die gewiesene Richtung. Da stehen vier Typenhäuser aus Holz. Am Abend, es herrschen 30 Grad Kälte, besuche ich ihn. Vier Familien je Haus, je Familie drei Zimmer. So gut wohnt man nicht überall. Nikolai Glebow kommt uns mit aufgekrempelten Ärmeln entgegen, bleibt stehen und beginnt ein Schwätzchen. Wir bedeuten ihm, doch lieber ins Haus zu gehen, er werde sich erkälten. Auch uns ist nicht warm. Nikolai Glebow tut, als sei Sommer. Posiert er? Will er uns zeigen, was er aushält, der Bär? Nachmittags hatte sich unser Fotograf bereits mit ihm gestritten. „Hier sind minus fünfundzwanzig Grad Mitte April. Kein Leser glaubt mir das, wenn er Sie in der Stoffmütze sieht. Hier, nehmen Sie meine Schapka fürs Foto!" Nikolai Glebow lehnt ab. „Eine Pelzmütze? Nie! Selbst bei sechzig Grad behalte ich meine auf!" Und dann rückt er seine Mütze zurecht. Seufzend macht unser Kolja seine Fotos.
Was nun? „Der ist immer so", sagt achselzuckend einer unserer Begleiter und drängt endlich alle ins Haus. „Wie ist er immer?" „Na, so! Der hat keinen Nerv für die Kälte. Vergangenes Jahr sackte sein Wagen auf einem Eisaufbruch ein..." „Was ist ein Eisaufbruch?" „Unter dem Eis der Flüsse verschiebt sich oft das Geröll, das Wasser staut sich, bricht das Eis auf und ergießt sich über die Trasse. Dann gefriert wieder die oberste Schicht. Zwischen ihr und dem dickeren tragenden Eis strömt weiter das Wasser. Fährt man darüber, bricht die oberste Eisschicht ein. Der Wagen sackt ein, zwei Meter, bis auf die dicke, tragende Schicht. — Das passierte auch Glebow. Bei minus dreiundfünfzig Grad. Ich fuhr hundert Meter hinter ihm. Als ich heran war, hatte er die Trosse schon ausgerollt und sprang — ich dachte, ich sehe nicht recht! — bei dieser Hundekälte ins Wasser und machte das Abschleppseil fest. Als wir ihn herauszerrten, war sein Watteanzug steif wie ein Asbestanzug. Wir schleppten das Auto heraus. Zwei Stunden später saß er wieder am Lenkrad; nicht einmal einen Schnupfen hatte er bekommen. Der hat keinen Nerv für die Kälte. Der ist immer so!" Die Auskunft des Direktors ist sachlicher. „Jeden Winter brechen einige Wagen ein. Wenn sie nicht sofort geborgen werden, frieren sie uns fest und
sind erst im Frühjahr zu retten. Oft schwemmt sie das Hochwasser fort. Die Fahrer arbeiten in der Zwischenzeit hier, in der Werkstatt. Acht Stunden in der geheizten Halle — da verdient man kaum die Hafte von dem, was man hinter dem Lenkrad erarbeitet. Und die Kilometer fehlen am Plansoll." In der zentralgeheizten Wohnung empfängt uns ein mit Leckerbissen beladener Tisch. Sogar Apfelsinen gibt es — und das im Frühjahr in der Taiga, auf dem Abendbrottisch eines Kraftfahrers! Nikolai stellt vor: „Hier, das ist Jura, er ist Chauffeur! In vierunddreißig Stunden von Magadan bis nach Artyk; tausend Kilometer und acht hohe Pässe, Schneetreiben dazu. Vor zehn Minuten traf er hier ein." „Chauffeur — das ist hier ein Titel. Autofahren kann jeder", meint Nikolai, „aber ein Chauffeur sein, das will schon etwas heißen, hier, bei uns!" Während ich Jura die Hand drücke, erinnere ich mich eines Sattelschleppers, der vor dem Haus geparkt hat. Man sieht dem Chauffeur die Strapazen noch an: Für Dreiviertel der Strecke brauchte Jura dreizehn Stunden, für das letzte Viertel über zwanzig. Eine Stunde später tanzt er hier in dem Zimmer. Nikolai sagt: „Wer von der Trasse kommt, weiß etwas zu berichten." Und es kommen viele in die Wohnung Nikolais.
Einer meint: „Pjotr traf ich am Oltschanskipaß, alles charoscho." Ein zweiter sagt: „Jewgeni hat Federbruch; sein Wagen steht an der Neramündung. Muß warten, der Ärmste." Ein dritter berichtet, daß Iwan und Boris jetzt in Tiksi seien. „In zwei Wochen müßten sie hier sein." Alle haben etwas zu erzählen. An diese sachlichen Informationen schließen sich dann abenteuerliche Berichte an, die Anlaß für einen Erfahrungsaustausch sind und zu hitzigen Gesprächen führen. Die vierhundert Fahrer kennen sich; die Trasse hat ihre „eigene Post". Die Direktion des Fuhrparks bevorzugt Sprechfunk. Der Dispatcher weiß genau, welcher Chauffeur wo steckt und ob er Schwierigkeiten hat. Ich sitze auf dem Sofa. Neben mir der Direktor für Technik, Marat Kladow. Er sagt: „Bei fünfzig Grad Kälte wird Eisen spröde, Holz brüchig, und Gummi platzt wie Glas. Fällt einem beim Reifenwechsel das Reserverad vom Wagendach auf die Straße, splittert der Gummi in tausend Stücke. Machen die Fahrer mal zwei Stunden Rast, müssen sie anschließend zehn Kilometer Schritt fahren, damit die Reifen wieder elastisch werden. Die Brücken über die Flüsse sind den Winter über gesperrt; das Material bricht bei der geringsten Belastung. Der Winter bringt hier schon Probleme." Darauf Nikolai: „Das stimmt, drei Monate bin ich hier ausgebildet worden, wie jeder, bevor er zum
erstenmal auf die Strecke geht. Den Wagen kannte ich in- und auswendig. Am vierten Tag sah ich mitten in der Einsamkeit links von der Trasse ein Licht. Ein Fahrzeug steckte im Schnee, nur fünfzig Meter seitwärts von der Spur. Ich fuhr hin und wollte es herausziehen, aber da saß ich selbst fest. Zwei Wochen mußte ich warten. Bei fünfzig Grad minus, mitten im Busch." „Und wovon haben Sie gelebt?" frage ich. „Na, Konserven muß man schon mitnehmen, wenn man auf Tour geht." Maßstäbe sind das! Fast hätte ich es vergessen: Von Artyk bis Tiksi ist es etwa so weit wie von London nach Kairo. Doch die Trasse führt übers Eis, und die Straßen sind höchstens geschottert. „Warum fahren Sie hier, Nikolai Glebow?" „Das weiß ich selbst nicht. Manchmal, bei Panne und eisigem Frost, wenn im Dunkeln die Finger am Motor festkleben, denke ich: Was soll das alles, was treibst du dich hier herum? Du hast ein Haus, eine Wohnung. Die Familie ist gesund, die Tochter lernt gut. Dein Sparkassenbuch reicht dir bis an dein Ende. Fahr in den Süden! Ich weiß nicht, ich glaube, die Arbeit hier macht einfach Freude!" Ein wenig später zieht mich Jura am Ärmel und grinst Glebow an. „Der Nikolai ist wirklich ein Könner! Vor vierzehn Tagen brachte er einen Bulldozer von vierunddreißig Tonnen Gewicht auf seinem Wagen hierher. Er fährt aber nur einen Zwanzigtonner. Trotzdem hat er es geschafft. Die
Federn hat er verstärkt, ein paar Säcke mit Schlacke im Wagen gehabt und damit jedes Loch in der Trasse planiert. In Magadan benutzt man für solche Transporte Spezialfahrzeuge. Wir haben leider noch keine. Doch der Bulldozer wurde gebraucht. Nikolai machte es so!" „Wie: so?" „Na, eben so. Das kann nur er." Plötzlich steht dieser fünfunddreißigjährige Hüne, der eben erst von Magadan gekommen ist, auf und spricht mit der Würde eines alten russischen Bauern: „Meine Hochachtung! Und wenn ich fünf Jahre neben ihm sitzen würde und er mir alles erklärte — das könnte ich nie!" Er verneigt sich vor Glebow. Die anderen sind still geworden und blicken auf den Gastgeber. Glebow ist die Ruhe in Person, ziert sich nicht, weiß, was er kann, weiß, was er will. Am nächsten Morgen sind wir wieder in Ust-Nera und bitten Igor Dmitrijew, uns noch ein wenig mehr von seinem Rayon zu erzählen. „Ich sagte Ihnen ja schon, daß bis neunzehnhundertvierundfünfzig Oimjakon Rayonzentrum war. Die Siedlung bestand vor der Revolution aus etwa zwanzig Jurten, einer Holzkirche und einer Vierklassenschule, die von etwa zwanzig Kindern besucht wurde. Das war zugleich die einzige Schule im gesamten Gebiet. Heute gibt es hier zwölf Schulen, davon drei Zehnklassenschulen mit Internaten für die Kinder der Jäger, Hirten und
Geologen, die oft einhundertfünfzig Kilometer und mehr von den Siedlungen entfernt wohnen." Mir ist bekannt, daß noch vor fünfzig Jahren die Post mit Pferden vom Ufer der Indigirka nach Jakutsk ging; 45 Tage brauchte man bis in die damalige Gouvernementhauptstadt, drei bis vier Monate bis nach Moskau. Heute kann man am Kiosk in Ust-Nera Zeitungen kaufen, die am selben Tage in Jakutsk gedruckt worden sind. Die Zeitungen aus Moskau sind vom Vortage — und auch das nur bedingt; denn wir sind ja hier Moskau um acht Stunden voraus. „Unsere Siedlung UstNera", so schildert Igor Dmitrijew weiter, „ist erst neunzehnhundertvierundvierzig entstanden, als Geologen hier Gold entdeckten und drei Hütten bauten. Zu unserem Rayon, in dem insgesamt zweiundzwanzigtausend Einwohner leben, gehören zwölf Siedlungen, mit denen wir im Winter mit Straßen und im Sommer durch Flugzeuge und Hubschrauber verbunden sind. Unsere größten Betriebe sind fünf Goldbergwerke und zwei Staatsgüter." „Wie groß ist eigentlich der Rayon?" frage ich und erfahre, daß er 95200 Quadratkilometer groß ist. Überrascht bemerke ich: „Nur ein wenig kleiner als meine Republik. Als Kältepol ist mir das nun aber doch ein wenig zu groß!" Jetzt will ich es aber genau wissen. „Wo steht denn die meteorologische Station, die immer die niedrigsten Werte meldet?" „In Oimjakon." „Kann man dahin?" „Natürlich!"
Frau Sabolotzkaja mit unserem Hubschrauberpiloten Valeri Bessarab
„Wie weit ist es denn?" „Nicht weit. Etwas über zwei Stunden." „Könnten wir da nicht gleich losfahren?" Igor Dmitrijew schmunzelt. „Nein, fahren können Sie nicht. Da kämen Sie heute nicht mehr hin. Der Hubschrauber braucht ja zwei Stunden, und der ist erst morgen für Sie bestellt." Ich weiß nicht, worüber ich mehr perplex bin. Darüber, daß ich mit dem Hubschrauber auch noch zur Jagd fliegen kann, oder daß eine Entfernung von zwei Flugstunden als „nicht weit" bezeichnet wird. Am nächsten Morgen, 07.00 Uhr, steht eine Mi-4 für uns bereit. Der Kommandant, Valeri Bessarab, startet, kaum daß wir Platz genommen haben.
Wie ich in der Unterhaltung erfahre, ist Valeri Bessarab ein leidenschaftlicher Pelztierjäger. Inzwischen hat die Maschine an Höhe gewonnen. Unter uns eisige Gebirgslandschaft. Bergkette um Bergkette überfliegen wir, soweit das Auge reicht. In zwei Stunden Flug sehen wir nur eine einzige Autospur: die Trasse auf dem Eis eines Flusses, und nur vier Baracken eines Goldgräberlagers. Wenn man diese unendliche Einsamkeit erlebt hat, kann man erahnen, welche Lebensverhältnisse vor wenigen Jahrzehnten hier geherrscht haben, kann man begreifen, was Lenin meinte, als er von „der ungeheuren Zurückgebliebenheit" sprach, die im Riesenreich des Zaren zu Beginn dieses Jahrhunderts herrschte. Selbst ein so elementares Ereignis wie die Oktoberrevolution und selbst eine so überwältigende Kraft wie die Arbeiterklasse brauchten Zeit, um mit der Macht auch die Kultur in diese entlegenen Gebiete zu bringen. Große Schwierigkeiten waren zu überwinden, um überhaupt erst einmal in diese Gebiete zu gelangen; man traf auch auf Unwissen, Aberglauben, Böswilligkeit, auf den Widerstand ausbeuterischer Elemente und oft genug noch auf die Hierarchie der alten Gentilordnung. Je abgelegener die Gegend war, desto fester waren die Stammesbindungen der Nomaden. Noch viele Jahre nach der Oktoberrevolution versuchten einzelne Stammesälteste, ihre Sippen dem Einfluß der Behörden zu
entziehen. Von dem letzten derartigen Fall hörte ich aus berufenem Munde in der Universität Jakutsk: 1950 hatte man in dem riesigen menschenleeren Gebiet am Mittellauf der Kolyma eine bis dahin noch gar nicht erfaßte Gruppe von Jägern und Hirten entdeckt. Von Jakutsk aus brach eine Abordnung von Funktionären, Ärzten und Lehrern der Jakutischen ASSR auf, um diese — wie sich später herausstellte — ewenische Sippe mit der Zivilisation bekannt zu machen. Nach langer beschwerlicher Reise trafen die Abgesandten an dem genannten Standort ein und fanden — niemand vor. Der Stammesälteste hatte seine Leute samt Rentierherden über die Grenze Jakutiens in das zur Russischen Föderation gehörende Gebiet Magadan geführt. Dort aber — Ordnung muß sein — waren die Vollmachten der jakutischen Abordnung ungültig. Bald darauf brach eine ähnliche Gruppe von Magadan auf. Das Ergebnis war das gleiche: Die Sippe war auf das Gebiet der Jakutischen ASSR ausgewichen. So ging das bis 1952, bis eine aus Vertretern beider Territorialverwaltungen zusammengesetzte Brigade die Sippe stellte, Verhandlungen aufnahm und den Stammesältesten zum Vorsitzenden des Dorfsowjets wählen ließ. So wurde ein ständiger Kontakt mit der Sippe hergestellt, die sich nun nach und nach an die neuen Lebensbedingungen gewöhnte. Was aus
mitteleuropäischer Sicht wie eine unglaubwürdige Geschichte, wie ein Kompromiß anmutet, ist in Wahrheit eine sehr sorgsam den örtlichen Bedingungen angepaßte Nationalitätenpolitik im Leninschen Sinne. Der Stammesälteste akzeptierte den Dorfsowjet als Institution, und damit war die Grundlage dafür geschaffen, daß nach und nach all das folgen konnte, was zu einem richtigen Dorfsowjet gehört: der Lehrer, der Konsum, der Agronom und der Arzt, der auch dieser ewenischen Gruppe schließlich beibrachte, daß ein Holzfußboden im Zelt gesünder ist als nur Felle. Die letzten zwanzig Jahre mit ihrem Tempo haben freilich mehr verändert als hundert Jahre zuvor. Hubschrauber und Elektroenergie und vor allem der selbstlose Einsatz von Fachkräften aus den zentralen Gebieten des Landes haben den Jakuten geholfen, einen Entwicklungszeitraum von Jahrhunderten in wenigen Jahren zu durchmessen, haben nomadisierende Stämme seßhaft gemacht, Analphabeten in Bücherliebhaber verwandelt. Moderne Transportmittel, die die abgelegenen Siedlungen einander näher rücken ließen, spielten dabei eine entscheidende Rolle. Der Bordfunker des Hubschraubers unterbricht meine Gedanken. Er bedeutet mir, durch das linke Bullauge zu schauen. Da zieht der Pilot die Maschine in eine enge Linkskurve. Ich werde fast an die kleine Scheibe geworfen, durch die ich etwa hundert Meter unter uns
einen Elch aufgeregt durch den meterhohen Schnee stapfen sehe. Kaum behindert durch den lichten Lärchenwald, versucht er, aus der Nähe des lärmenden Hubschraubers zu fliehen. Jetzt ist er meinem Blickfeld entschwunden. Aber durch den Rundkurs des Hubschraubers sehe ich ihn nach Sekunden wieder. Als er unsere olivgrüne Riesenlibelle plötzlich wieder vor sich sieht, macht er mit einer Behendigkeit, die ich diesem großen Tier nie zugetraut hätte, kehrt und bricht sich trabend Bahn durch Schnee und Unterholz. Das Spiel wiederholt sich zwei-, dreimal, bis wir etwa vierzig Meter über dem Elch schweben. Wieder steigt der Hubschrauber steil nach oben und geht auf geraden Kurs. „Ein weibliches Tier", ruft mir der Bordfunker ins Ohr. „Die dürfen jetzt nicht geschossen werden. Wir suchen weiter." Von nun an wende ich den Blick nicht mehr von der Luke. Doch wieder ist nichts zu sehen als schweigende, unberührte Einsamkeit. Nach ein paar Minuten legt sich unsere Maschine wieder in eine enge Kurve. „Da ist einer", schreit mir der Bordfunker zu. „Den werden Sie schießen!" Du hast gut reden, denke ich bei mir. Den Elch von oben sehen und von unten schießen, das sind wohl zwei grundverschiedene Dinge. Ich denke daran, wie lange ein Jäger bei uns ansitzen muß, bis ihm ein Hirsch auf Schußentfernung vor die Flinte läuft. Doch dann überstürzen sich die Dinge:
In meiner Aufregung habe ich gar nicht beachtet, wie wir immer tiefer gegangen sind, und erst als der Hubschrauber sanft aufsetzt, merke ich, daß wir gelandet sind. Der Bordfunker, ich muß ihn wohl besser Jagdinstrukteur nennen, reißt die Tür auf, drückt mir einen Karabiner in die eine Hand, zwei Patronenstreifen in die andere, weist nach einem kleinen Hügel und schreit mir ins Ohr: „Lauf über diesen Hügel in die Senke. Stell dich hinter einen Baum. Wir treiben dir den Elch zu." Er gibt mir einen kameradschaftlichen Schubs. Ich springe hinaus. Der Schnee reicht mir bis zum Oberschenkel. In größter Eile strebe ich vom Hubschrauber fort. Kaum bin ich ein Dutzend Meter weg, heulen die Motoren auf. Die Rotoren jagen den Schnee nach allen Seiten. Schon hebt der Hubschrauber ab, steigt in weitem Bogen in den klarblauen Himmel, wird schnell kleiner, entschwindet. Zugleich fühle ich die Stille der Taiga fast körperlich. Eigenartig zu wissen, daß man auf Dutzende von Kilometern der einzige Mensch ist. Für einen Moment durchzuckt mich der Gedanke: Ob sie dich wohl wiederfinden? Unsinnig zwar, aber diese unendliche Weite, diese vollkommene Einsamkeit sind für einen Mitteleuropäer einfach erdrückend. Ich strebe dem Hügel zu. Nach ein paar Metern bin ich schweißgebadet; bei jedem Schritt versinke ich bis über die Knie im Schnee, der dicke Pelz
behindert mich überdies, und die Waffe muß ich ständig vor dem Schnee schützen. Als ich hangaufwärts stapfe, geht es schon etwas leichter, und oben auf der Kuppe halte ich erstmal Ausschau. Ich blicke in eine schmale Senke, in der armstarke Lärchen stehen. Halb rutschend, halb laufend, suche ich mir auf halber Höhe des Hanges einen etwas dickeren Stamm und postiere mich dahinter. Noch immer vermag ich mir nicht vorzustellen, was passieren wird. Aber wenn ein Elch kommt, so wird er schon nicht zu übersehen sein; schließlich ist so ein Tier größer als eine ausgewachsene Milchkuh. Während ich der Dinge harre, die auf mich zukommen werden, mache ich den Armeekarabiner schußfertig. Das fällt mir nicht schwer, denn den Typ kenne ich noch von meinem Dienst in den bewaffneten Organen der DDR. Allein in der Taiga warte ich auf meinen Elch. Da höre ich schon den Hubschrauber. Kaum 15 Meter über mir wendet er und fliegt wieder in die Richtung, aus der er gerade gekommen ist — nur in einem größeren Bogen. Aha, denke ich, jetzt treiben sie dir den Elch zu. Das Manöver wiederholt sich ein paarmal. Plötzlich sehe ich 150 Meter von mir entfernt, wie eine graue Masse von halb rechts auf mich zukommt. Ich stehe wie angewurzelt, wage kaum zu atmen, und mein Herz schlägt bis zum Hals. Wenn jetzt nur nicht noch
einmal der Hubschrauber kommt und den langsam trottenden Elch in eine andere Richtung scheucht, denke ich höchst überflüssig, denn die erfahrene Besatzung macht das sicher nicht zum erstenmal. Als das Elen auf etwa achtzig Meter heran ist, lege ich die Waffe an, ziele kurz und drücke ab. Ein dutzendfaches Echo überrascht mich. Der Elch jedoch reagiert überhaupt nicht darauf und trottet weiter auf mich zu. Ich schieße zum zweitenmal. Diesmal verharrt das Tier, ändert aber etwas die Richtung und stapft weiter. Nun sehe ich es in seiner ganzen Breite. Der dritte Schuß bricht. Verdammt! Ich scheine wieder nicht getroffen zu haben! Aufgeregt bin ich jetzt und schieße noch zweimal. Dabei achte ich gar nicht darauf, daß sich das Tier langsam nach links entfernt. Schon ist es aus der Schußposition; zwischen den vielen kleinen Lärchen ist der Elch nur noch schlecht zu erkennen. Wieder gehe ich in Anschlag, drücke ab. Klick! Die Waffe ist leer. Nervös fingere ich in der Tasche meines Pelzes nach dem zweiten Ladestreifen. Als ich ihn endlich habe, fällt er mir in den Schnee. Schnell hebe ich ihn auf und drücke die Patronen ins Magazin. Und nun klemmt der Streifen auch noch! „Schnell, schnell", murmle ich, „der Elch, wartet nicht." Dann ist alles wieder in Ordnung, und ich suche Das Tier. Schon will ich verzweifeln, weil ich in der Senke das Grau des Elens nicht ausmachen
kann, da erkenne ich das Tier, das durch die vielen Stämme fast gänzlich verdeckt wird. Da steht mein Elch, ohne sich zu rühren. Habe ich ihn getroffen? Sichert er nur? Zu wenig weiß ich vom Verhalten eines Elches. Ich muß ein paar Meter nach links, um ihn besser ins Blickfeld zu bekommen. Der Elch steht noch immer. Auf einmal bricht das Tier zusammen. Ich lasse mich vor Freude in den Schnee fallen und merke, daß die letzten Minuten sehr anstrengend waren. Dann stapfe ich dorthin, wo der Elch liegt. Ich habe kaum die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht, da höre ich den Hubschrauber, sehe, wie er unweit des Elches aufsetzt. Als ich heran bin, untersuchen meine Begleiter bereits das Tier. Dann gratulieren sie mir. „Vier Treffer", sagt Valeri Bessarab anerkennend. „Drei davon liegen so gut, daß jeder für sich genügt hätte, ihn zur Strecke zu bringen." Ich, erleichtert, freue mich. Wir sind aber erstaunt darüber, daß der Elch dennoch so weit laufen konnte. Während Valeri Bessarab mit seinem Cockpitkollegen eine Startschneise für die Mi-4 schlagen, brechen der Bordfunker und ich das Tier auf und schlagen es aus der Decke. Ein wenig später brutzeln bereits handtellergroße Fleischstücke über einem kleinen Feuer. Meine Begleiter holen aus ihren Rucksäcken zwei Wodkaflaschen. Nun steht einem zünftigen Jagdschmaus nichts mehr im Wege.
Doch bevor wir die Becher zum Munde führen, spritzt jeder ein paar Tropfen Wodka ins Feuer und wirft ein Stückchen Fleisch hinterher: Diese Waidgabe erhält der Beschützer der Taiga, eine Gestalt aus der jakutischen Mythologie, seit alters her immer dann, wenn ein Stück Großwild erlegt worden ist. Ihm werden auch nach der Sitte der erste Bissen und der erste Schluck dargebracht, wenn man auf einem neuen Jagdplatz angekommen ist. Eine halbe Stunde nach dem Mahl unterhalten wir uns noch über das Jagdbrauchtum. Der Wodka hat uns in gute Stimmung gebracht. Selbst die beiden Hubschrauberpiloten sind in bester Laune, obwohl sie nicht einen Tropfen Alkohol getrunken haben. Nach dem ,priwal' und dem ,prasdnik' löschen wir das Feuer, laden die besten Stücke des Fleisches in den Hubschrauber. Leider müssen wir fast die Hälfte des Erlegten und das Fell zurücklassen, denn unser Hubschrauber ist bis an die Grenze seiner Tragfähigkeit belastet. Valeri Bessarab steuert den Helikopter durch die frisch geschlagene Startschneise schräg in die Höhe. Nach ein paar Sekunden schweben wir wieder hoch über der Taiga — Richtung Kältepol, meinem eigentlichen Ziel. Eine Viertelstunde fliegen wir so dahin, dann steuert der Pilot eine Schleife. Durch das Bullauge sehe ich unter mir eine Rentierherde. Die Maschine verliert an Höhe, dann fliegt sie etwa 200 Meter
hoch einen Kreis. Ich kann ein Zelt ausmachen. Ein Mann tritt aus dem Zelt. Der Bordfunker meint, daß es sich bei der Herde um die vom Staatsgut Tomptor handelt und der Hirt Pjotr Sabolotzki heißt. Wir landen. Der Hirt kommt auf die Maschine zu. Sein Gesicht von gelblicher Hautfarbe ist zerfurcht, seine Augen blicken uns klug und freundlich an. Als ich ihm die Hand entgegenstrecke, sehe ich, daß die Hände des Hirten sehr viele Schrunden und Striemen aufweisen. Er selbst ist schweigsam; in der Taiga gilt nicht die Rede, sondern die Tat. Der Kommandant und seine Begleiter laden ein Teil des Fleisches aus. „Für euch, Pjotr. Vor anderthalb Stunden geschossen. Dabei weist er auf mich, lächelt. Pjotr Sabolotzki gratuliert mir, indem er eine Verbeugung andeutet. Dann geht es weiter. Eine Stunde fliegt unsere Maschine noch über die schweigsame Taiga. Plötzlich tauchen drei, vier Ställe auf, einige Wohnhäuser. Wieder landen wir. Als wir aus dem Helikopter klettern, kommt ein Mann auf uns zu. „Willkommen am Kältepol!" Valeri Bessarab stellt uns vor. Ich erfahre, daß der Mann Arseni Semjonow heißt und der Direktor des Tomptorer Staatsgutes ist. Nach der kurzen, aber herzlichen Begrüßung frage ich: „Das hier ist also der Kältepol?"
Der Rentierhirt Pjotr Sabolotzki „Wir haben hier zwei meteorologische Stationen." Der Direktor lächelt. „Wieso zwei? Und welche ist die am Kältepol?" „Am besten, Sie erkundigen sich selbst danach", meint unser Gastgeber humorvoll. „Drüben, ein paar hundert Meter von hier." Ein Geländewagen bringt uns dorthin. Man erklärt uns, daß es sich bei dieser Anlage um eine aerologische Station handele, die die obersten
Schichten der Atmosphäre erforsche. Dreimal am Tage würden Sonden aufgelassen, die sommers bis zu 50 Kilometer und winters bis zu 25 Kilometer hochstiegen und in dieser Höhe Druck, Feuchtigkeit und Temperaturen messen. Wir haben Glück, denn gerade wird ein Ballon zum Aufstieg vorbereitet. Die jakutische Ingenieurin Jelisaweta Sawerowna füllt einen Trägerballon mit Gas. Immer dicker wird das Ungetüm, das birnenförmig aussieht. An einer Schnur, die auch den Ballon verschließt, wird ein Kästchen befestigt, in dem die Meßgeräte untergebracht sind. Punkt 09.00 Uhr startet die Sonde. Das Kästchen pendelt an der 1,5 Meter langen Schnur unter dem Ballon hin und her. Je höher er steigt, desto ruhiger werden die Schwingungen. Schließlich entschwinden Ballon und Sonde im Blau des Winterhimmels unseren Blicken. Jetzt erst hat die Leiterin der Station Zeit für uns und bittet uns auf einen Tee in ihr Arbeitszimmer. „Das also ist die Wetterstation am Kältepunkt der Erde?" frage ich sie auf dem Weg zum Stationsgebäude. „Wir sind keine Wetterstation, sondern eine aerologische Station. Wir befinden uns auch nicht direkt am Kältepol; der ist achthundert Kilometer von hier entfernt, in Werchojansk. Hier bei uns können wir zwar die tiefsten Temperaturen vermerken, aber wir messen sie nicht, sondern lassen sie uns täglich von der meteorologischen Station am Flugplatz geben." Nach einer kleinen Plauderei gehen wir dann
hinüber zum Flugplatz. Nach den bisher unterschiedlichsten Auskünften will ich nun von den „Wetterfröschen" hier wissen, wo nach ihrer Meinung wohl der Kältepol liegt. Wjatscheslaw Tschernjawski, ein fünfunddreißigjähriger Russe aus der Moldauischen SSR, der seit sieben Jahren die Station leitet, meint: „Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Sie sind hier tatsächlich in der meteorologischen Station am Kältepol der Erde." Er lächelt. „Wir haben die tiefsten Temperaturen aufzuweisen, weil wir uns in einem Hochtal befinden, das von riesigen Gletschern umgeben ist." „Wieviel Grad betrug die tiefste Temperatur, die hier gemessen wurde?" frage ich ihn. „Minus achtundsiebzig Grad Celsius im Winter neunzehnhundertfünfunddreißig." „Und in diesem Jahr?" Der Leiter greift zu einem Notizbuch, läßt sich eine Kladde mit vielen Zahlen geben, blättert und vergleicht. „Ja, der kälteste Tag in diesem Jahr war hier der neunundzwanzigste Januar. Da hatten wir zweiundsechzig Komma sechs Grad unter Null. Die Durchschnittstemperatur für diesen Monat ist minus dreiundfünfzig Komma drei." „Und wie kalt ist es heute?" . „Am heutigen zwölften April sind es..." Tschernjawski blickt kurz in die Kladde. „Hm, heut, um zehn Uhr hatten wir achtundzwanzig Komma acht minus.
Das ist sehr warm. Vor zehn Tagen haben wir noch fünfundvierzig Komma sechs Grad unter Null gemessen." „Wie geben Sie Ihre Meßergebnisse an die Zentrale weiter?" „Über Funk an unsere Netzstation in Chandyga. Sie erhält die Ergebnisse von zehn meteorologischen Stationen und gibt sie nach Irkutsk durch. Von dort gehen sie an die Wetterzentrale in Moskau. Sehen Sie also in Ihrer Moskauer Wohnung am Fernsehgerät die Werte von Oimjakon, dann sind es die, die wir hier zwei Stunden vorher gemessen haben." „Wieso ,Oimjakon'?" Ich bin sichtlich verwundert. „Wir sind doch hier in Tomptor und nicht in Oimjakon?" „Die Station am Kältepol war bis vor knapp dreißig Jahren in Oimjakon, dreißig Kilometer von hier entfernt. Als man den Flugplatz baute, hat man sie hierher verlegt, den alten Namen aber beibehalten." „Also kommen die Wettermeldungen aus Oimjakon in Wirklichkeit von Tomptor!" „Sie haben recht." Als wir dann auf den Flugplatz gehen, blicke ich mich nach dem Gebäude um; tatsächlich, es trägt die Aufschrift „Oimjakon". Wie kompliziert das mit der Lokalisierung des Kältepols ist, erfahre ich bald darauf in Moskau. Ein sowjetischer Meteorologe sagt zu mir: „Den
Kältepol der Erde finden Sie überhaupt nicht in Jakutien. Der richtige, das heißt der Ort, wo tatsächlich die niedrigsten Temperaturen herrschen, liegt in der Antarktis. Die Bezeichnung .Kältepol der Erde' für Oimjakon ist veraltet. Besser wäre es, man bezeichnete diese Stelle mit ,Kältepol der nördlichen Halbkugel' oder .Kältepol des Nordens'." Ich bin nicht nur um diese Erfahrung reicher geworden, sondern habe ein Volk kennengelernt, das riesige Schätze, die für den Aufbau des Kommunismus notwendig sind, behütet, hebt und allen Menschen des sozialistischen Bruderbundes zukommen läßt.