Trunkenheit Kulturen des Rausches
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2008
Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik
Herausgegeben von
Gerd Labroisse Gerhard P. Knapp Norbert Otto Eke
Wissenschaftlicher Beirat:
Christopher Balme (Ludwig-Maximilians-Universität München) Lutz Danneberg (Humboldt-Universität zu Berlin) Martha B. Helfer (Rutgers University New Brunswick) Lothar Köhn (Westf. Wilhelms-Universität Münster) Ian Wallace (University of Bath)
Trunkenheit Kulturen des Rausches
Herausgegeben von
Thomas Strässle und Simon Zumsteg
Amsterdam - New York, NY 2008
Die 1972 gegründete Reihe erscheint seit 1977 in zwangloser Folge in der Form von Thema-Bänden mit jeweils verantwortlichem Herausgeber. Reihen-Herausgeber: Prof. Dr. Gerd Labroisse Sylter Str. 13A, 14199 Berlin, Deutschland Tel./Fax: (49)30 89724235 E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Gerhard P. Knapp University of Utah Dept. of Languages and Literature, 255 S. Central Campus Dr. Rm. 1400 Salt Lake City, UT 84112, USA Tel.: (1)801 581 7561, Fax (1)801 581 7581 (dienstl.) bzw. Tel./Fax: (1)801 474 0869 (privat) E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Norbert Otto Eke Universität Paderborn Fakultät für Kulturwissenschaften, Warburger Str. 100, D - 33098 Paderborn, Deutschland, E-Mail:
[email protected]
Cover: Paul Klee: Rausch (1939, 341 [Y 1]; Aquarell und Ölfarbe auf Jute, 65 x 80 cm). Standort: Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. © 2007, ProLitteris, Zürich All titles in the Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik (from 1999 onwards) are available online: See www.rodopi.nl Electronic access is included in print subscriptions. The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN: 978-90-420-2323-9 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2008 Printed in The Netherlands
Inhaltsverzeichnis Thomas Strässle und Simon Zumsteg: Einleitung
7
I. ABSOLUTE TRUNKENHEIT – TRUNKENHEIT DES ABSOLUTEN Jean-Luc Nancy: Wirbel
13
II. KONZEPTIONEN DES DIONYSISCHEN Karl Heinz Bohrer: Heißer und kalter Dionysos. Das Schillern einer Metapher Nietzsches Dieter Mersch: Ästhetik des Rausches und der Differenz. Produktionsästhetik nach Nietzsche Peter Fuchs: Dionysos im System. Anmerkungen zu ‘trunkener’ Sozialität
19 35 51
III. ÄSTHETIKEN DES RAUSCHES Wolfgang Proß: Masse und Rausch. William Hogarth und Charles Dickens Richard Klein: Rausch und Zeit in Wagners Ring
75 101
IV. EKSTASEN DES REDENS Barbara Naumann: Emphase. Madame de Staëls Improvisation und die Trunkenheit der Rede Magnus Wieland: Teuflische Trinker: Satan, Sokrates, Sechsflaschenmann Eckhard Schumacher: Die Kunst der Trunkenheit. Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie
129 153 175
V. LIEBESTRUNKENHEITEN Mireille Schnyder: Die Angst vor der Ernüchterung. Liebestrunkenheit zwischen Magie und Rhetorik in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône 193
Sonja Osterwalder: “Alcohol is like love”. Chandler, Marlowe und The Long Good-bye
205
VI. POETIKEN DER TROCKENEN TRUNKENHEIT Dirk Niefanger: In “Plutons Hof-Capelle”. Tabakrausch in Sigmund von Birkens Die Truckene Trunkenheit (1658) Simon Zumsteg: Schallen und Rauchen. Zur poetologischen Funktion der ‘trockenen Trunkenheit’ in Hermann Burgers Brenner-Romanen
225 241
Thomas Strässle und Simon Zumsteg
Einleitung “Erhabenes Wunder der Welt! Mein Geist erhebt sich in heiliger Trunkenheit, wenn ich deine unermeßliche Pracht anstaune! Du erweckest mit deiner stummen Unendlichkeit Gedanken auf Gedanken und lässest das bewundernde Gemüt nimmer in Ruhe kommen”.1 Als Wilhelm Heinrich Wackenroder vor der Peterskirche im Vatikan steht, gerät er unvermutet in einen anderen Zustand: Überwältigt vom Anblick des erhabenen Bauwerks “erhebt sich” sein Geist und eilt ruhelos von Gedanke zu Gedanke. Es ist ein seliger Taumel des Phantasierens, ein Überschwang des Denkens, der von seinem Gemüt Besitz ergreift: “heilige Trunkenheit”. In äußerster Verdichtung führt diese Passage aus den Phantasien über die Kunst vor, was für die Trunkenheit allgemein gelten kann: daß sie ein Zustand anderer Ordnung ist – exaltiert und ekstatisch, exzentrisch und exzeptionell, exzessiv und enthusiastisch. In ihr ist vorübergehend außer Kraft gesetzt, was ansonsten gilt. Es ist der Austritt aus einer Ordnung und der Übertritt in eine andere, wodurch sich die Trunkenheit ebenso kennzeichnet wie auszeichnet – kurz: die Figur der Transgression. Vergleicht man die Ordnung der Trunkenheit mit jener der Nüchternheit, die der Trunkene verläßt, in die er aber unweigerlich wieder zurückfallen muß, so unterscheiden sie sich insbesondere in einem Punkt: In der Trunkenheit geht jene Kontrolle verloren, auf die die Nüchternheit sich so viel einbildet. Der Trunkene vermag nicht zu beherrschen, was ihn ergriffen hat. Vielmehr wird er davon getrieben und getragen, und “nimmer” wird er, wie Wackenroder schreibt, “in Ruhe kommen”, solange er nicht wieder nüchtern geworden ist. Diese eigengesetzliche Unruhe verleiht der Ordnung der Trunkenheit ihr generatives Prinzip: Sie ist vom Trunkenen weder vorgängig festlegbar, noch ist sie durch ihn steuerbar, er verfügt nicht über sie, sondern sie entwickelt sich aus sich selbst heraus, indem sie immerzu “Gedanken auf Gedanken” oder Wort auf Wort oder Empfindung auf Empfindung folgen läßt. Gemessen am Muster der Nüchternheit – und nur daran – ist die Trunkenheit entschieden unordentlich. Mehr noch: In ihrer absoluten Ausprägung ist sie gar ein Zustand jenseits der Möglichkeit von Ordnung. Absolute Trunkenheit als völlige Entdifferenzierung hebt die Voraussetzung jeder Ordnung selbst, nämlich das Prinzip der Differenz, aus den Angeln und weist insofern auch Verwandtschaften mit der Vorstellung des (Ur-)Einen auf. 1 Wilhelm Heinrich Wackenroder/Ludwig Tieck: Phantasien über die Kunst (1799). Hg. von Wolfgang Nehring. Stuttgart: Reclam 1983. S. 36.
8 Wenn Wackenroder seine Trunkenheit angesichts der Peterskirche als “heilig” apostrophiert, so schließt er damit an eine religiöse, im engeren Sinn mystische Prägung des Begriffs an: an die “geistliche Trunkenheit”, eine Form religiöser Entzückung und Entrückung.2 Dadurch hebt er die Trunkenheit aber nicht nur in die Sphäre romantischer Kunstreligion hinauf, sondern zugleich aus dem alltagssprachlichen Wortgebrauch heraus. Denn meist wird die Trunkenheit – schon um 1800 und noch heute – zunächst mit “Betrunkenheit” gleichgesetzt: mit einem Rauschzustand, der vornehmlich durch Alkohol herbeigeführt wird. Auch das Grimmsche Wörterbuch paraphrasiert die Vokabel an erster Stelle mit “‘rausch, berauschtheit’ nach alkoholgenusz”.3 Freilich wird in der alkoholischen Trunkenheit das Moment des Kontrollverlusts nur allzu offensichtlich: Der Betrunkene verliert nicht nur die Gewalt über seinen Körper, indem er schwankt, sondern auch über die Sprache, indem er lallt – und damit das geregelte Maß der Wörter in einen Sprachfluß auflöst. Darin verlieren die Wörter ihre feste Gestalt, und doch entsteht umgekehrt aus dem verflüssigten Sprachmaterial zumindest auch ein neuer Klang, ein neuer Rhythmus. Dieser Kontrollverlust kann aber natürlich nicht nur produktive, sondern auch destruktive Wirkungen zeitigen. Die mit dem Exzeß einhergehende Enthemmung birgt, zumal für die soziale Gemeinschaft, immer auch die Gefahr der Entfesselung unzensurierter Kräfte, die in den Ausbruch von Gewalt münden – sei dies nun auf der individuellen Ebene oder auf der kollektiven der Masse.4 Daß der alltagssprachliche Gebrauch der Vokabel “Trunkenheit” indes bei weitem zu kurz greift, beklagt schon Goethe im Saki Nameh, dem Schenkenbuch aus dem West-östlichen Divan, in dem zwar tüchtig gezecht, aber eben auch ausgiebig geschwatzt und gedichtet, geliebt und gestritten wird. Eines der Gedichte mahnt zu Beginn gerade die (polemische) Verengung des Begriffs auf den Alkoholrausch an: Sie haben wegen der Trunkenheit Vielfältig uns verklagt, Und haben von der Trunkenheit Lange nicht genug gesagt.5 2
Vgl. z.B. Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann (1675). Kritische Ausgabe. Hg. von Louise Gnädinger. Stuttgart: Reclam 1984. S. 161 [IV. 57]. 3 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig: Hirzel 1854–1960. Bd. 22 (1952). Sp. 1398. 4 Zur Brutalität der Trunkenheit vgl. z.B. Michel de Montaigne: Die Essais (1608). Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz. Stuttgart: Reclam 1999. S. 166f. [II. 2]. 5 Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan (1819). In: Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Hendrik Birus, Dieter Borchmeyer u.a. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985–1999. 1. Abt. Bd. 3/1 (1994). S. 107. V. 1–4 (Bibliothek deutscher Klassiker 113).
9 Das Gedicht kontert die “vielfältigen Verklagungen” wegen zu hohen Alkoholkonsums damit, daß es den Begriff der “Trunkenheit” auffächert und ihn so aus seiner polemischen Vereindeutigung herausnimmt, ohne jedoch den Aspekt der “Betrunkenheit” aus seinem semantischen Spektrum zu löschen: Der Text spricht im Anschluß von “Lieb’, Lied und Weines Trunkenheit” (V. 17) ebenso wie von “nüchterne[r] Trunkenheit” (V. 15) oder von “göttlichste[r] Betrunkenheit” (V. 19).6 Doch hat selbst Goethe damit “lange nicht genug gesagt”. Der Begriff der “Trunkenheit” ist noch umfassender: So entstand in Übertragung der alkoholischen Trunkenheit auf ein erst in der Frühen Neuzeit in Europa aufgetauchtes Genußmittel die Wendung von der “trockenen Trunkenheit”, die sich beim “Tabaktrinken” einstellt. Beide Formen der Trunkenheit – alkoholische und tabaccistische – gelten je nach Sichtweise als Laster oder, gerade in literarischen Texten, als Zustände der Inspiration. Keiner moralischen Bewertung ausgesetzt dagegen sehen sich all jene Formen von Trunkenheit, die auch ohne Einnahme stofflicher Stimulantien herbeigeführt werden können: Zustände gesteigerter bis überbordender Empfindsamkeit wie beispielsweise nebst der “Liebestrunkenheit” auch die “Glückstrunkenheit” oder die “Freudentrunkenheit”. Allesamt sind sie Modi des ‘Außer-sich-Seins’, Überschreitungen einer emotionalen ‘Normalität’. Die “Schlaftrunkenheit” schließlich belegt vielleicht am deutlichsten die These zweier konkurrierender Ordnungen: Wer “schlaftrunken” durch den Tag geht, gehört eigentlich der Nacht. So vielfältig der Begriff “Trunkenheit” lesbar ist, so vielschichtig sind auch seine Beziehungen zu einem weiten Begriffsfeld, die er über die Momente des Transgressiven, des Ephemeren und des Autopoietischen unterhält. Hierzu gehören namentlich “Rausch” und “Ekstase”, aber auch Begriffe wie das “Dionysische”, die “Trance”, der “Taumel” oder “Schwindel”. Auch wenn jeder dieser Ausdrücke seine eigene Begriffsgeschichte und sein eigenes Spektrum an Konnotationen aufweist: Gemeinsam ist ihnen – ebenso wie der Trunkenheit in all ihren genannten Formen –, daß sie auf einen (Bewußtseins-)Zustand verweisen, in dem interimistisch ein Modus der ‘Normalität’ überschritten ist, und zwar dadurch, daß eine kontemplative, reflexive oder emotionale Distanz zugunsten einer Steigerung der Intensität eingezogen wird. Um diese Grundfigur und auf diesem Begriffsfeld kreisen die Beiträge, die der vorliegende Band versammelt. Unser Dank gilt den Reihen-Herausgebern der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik und Marieke Schilling vom Rodopi-Verlag für die sorgfältige Betreuung dieser Publikation sowie allen Autorinnen und Autoren, daß sie uns ihre Originalbeiträge zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Paris und Zürich, im Mai 2007 6
Ebd. S. 108.
I ABSOLUTE TRUNKENHEIT – TRUNKENHEIT DES ABSOLUTEN
Jean-Luc Nancy
Wirbel Das Absolute ist immer schon bei uns und will bei uns sein. Immer schon? Wieso? Und bei, ganz nah, wo denn genau? Bei uns? Bei wem denn? Und will es? Warum? Wozu? Und wie soll denn das Absolute wollen? Wie könnte es nicht an sich bleiben? Absolut sein heißt doch, an und in sich getrennt, zurückgezogen zu bleiben? Heißt bleiben, nicht bei sein. Heißt denn das Absolute nicht, was es heißt? Ist das möglich? Ist das denkbar? Darf es sein?
Pourquoi pas ? L’absolu c’est le séparé, le distinct. Non seulement le délié ou le détaché – solutum –, mais le complètement à part – ab –, le retiré et replié en soi, accompli pour soi, le parfait – perfectum, achevé, complet, totalement effectué en et pour soi. Tournant sur soi infiniment, vertigineusement revenant sur son centre et ainsi, très exactement ainsi venant près de moi, tourbillonnant autour et au plus près de ma lourde immobilité. Mir wirbelt der Kopf. Heißt es, das Absolute sei im Wirbel, bei mir? Oder sei vielleicht der Wirbel selbst? Vielleicht die Trunkenheit und der Wein, vielleicht in Wein aufgelöst, das Dissolutum des Absolutum? L’absolu veut être auprès de nous. Il le veut, il le désire. Il y est déjà, il y est de toujours, et il le désire encore. Etant près il désire s’approcher. Le proche est désir d’être proche, n’est donc pas proche sans approcher encore. Sans fin. L’absolu est ce désir, ce vertige de désir infini. Il est le tournoiement, l’étourdissement, l’éblouissement du désir tendu vers la plus proche proximité, vers l’extrémité, vers l’excès du proche qui dans son excès s’échappe au plus près que près, infiniment près donc toujours infinitésimalement loin. Toujours plus parfaitement près. Perfekt, parfait, plein, intègre, inconditionnel. Ne dépendant de rien, n’ayant aucune dépendance. Parfaitement plein de lui-même, saturé, gorgé, soûl. Selbstbesoffen. Sujet grisé de soi. Soûl provient de satis, assez. Satura c’est matière abondante – mélange de légumes et de fruits et mélange de mètres et de genres, genre mêlé, satire, miscellanée, sujet tout mêlé de soi, emmêlé en soi, conscience engorgée, inconscience intempérante, incontinente. Saturation détachée de tout et se moquant de tout mais visitant tout, interpellant toutes et tous, partout intruse et partout chez elle, me prenant par le
12 bras, par la taille, m’embrassant, m’enlaçant. Absolu mélange de l’absolu, mêlée du séparé avec le détaché, confusion des distinctions. A chaque pas elle m’accompagne et me côtoie, me frôle et m’enveloppe, plénitude accomplie qui d’un côté me laisse en manque d’elle et blessé, mutilé, moi-même séparé de sa séparation parfaite – mais par ma séparation même (moi seul, chancelant, amputé, égaré) je participe à la sienne et suis pénétré d’elle : et la voici chez moi, la voici moi, moi-même séparé, absolument ! – Et d’un autre côté (mais c’est le même, je crois, c’est le même que je vois double) elle me comble, me rapportant à elle, m’approchant d’elle qui s’approche de moi, faisant de moi rien d’autre que le désir d’elle, son désir d’être avec moi et mon désir d’être près d’elle, notre désir comme approche au plus proche et vertige de l’infiniment près. Dérivée du proche : plus il approche, plus il s’éloigne de ce dont la proximité porte promesse : de l’auprès lui-même, du bei, de ce “chez”, ce “au domicile, à la maison, au foyer, dans l’intimité, dans la propriété, dans l’appartenance, dans la dépendance et la familiarité”. Bei, behören, gehören : appartenir, relever de, être propre à. L’absolu nous appartient, il nous est propre, il habite chez nous, il est de notre domesticité, de notre juridiction, de notre for intérieur. Et il le veut. Et c’est son vouloir, c’est son désir qui nous appartient. Comment ne serais-je pas à chaque instant traversé de ce désir – non seulement le vœu d’être détaché, d’être absous de tout lien et soûl de mon détachement, comblé de déliaison, mais le désir lui-même comme détachement, comme absolution et dissolution des attaches, comme ivresse de l’infini ? Comment l’infini ne serait-il pas ivre, et comment pourrais-je ne pas m’enivrer ? Rausch, Geräusch, bruissement, grondement du vent de l’esprit. Ivresse, ebrietas, coupe vidée et sens inondés. Ruissellement de rasades hasardeuses. Boisson, Getränke, trinken, getrunken, bu, betrunken, pris de boisson. Pris, pénétré, noyé dans l’emportement aérien ou liquide, dans le débordement de l’accompli, dans le trop-plein du plein. Comment la plénitude pourrait-elle ne pas se déborder ? Comment la perfection ne pas passer outre le parfait ? Quand on dit que la coupe est pleine, c’est que déjà elle déborde. Le français vulgaire dit “être plein” pour “être ivre”. On dit aussi “être bourré”. Le détaché, ab-solutum, le délié, l’indépendant est dans ma dépendance. Voilà de quoi nous nous enivrons l’un l’autre. Dépend de moi l’indépendant. Ne dépend donc pas, mais moi plutôt dépend de cette indépendance que son infinie proximité m’approprie comme à moi plus propre qu’aucune propriété possible.
13 Propriété impossible, propriété de l’impossible. Je le possède, il me possède. Le délié me lie, son lien me délie. Je suis absolu, absous, détaché, dénoué, délivré de mes fautes, de mes péchés, de mes attaches et de mes taches. Ego te absolvo : je t’absous, je t’absolutise, je te détache de toute dette, dépendance, même de ton indépendance car te voici pris dans ma dépendance absolue. La tête me tourne, je chancelle, je tournoie, je chavire. Besoffen, plein, bourré : saufen est le boire des animaux, c’est le lapper, le sucer, se gorger de jus – Saft –, de Suppe, de soma ou nectar des dieux, et comme eux s’abreuver aux sources des cieux, aspirer, pomper la sève du monde. Suchen, être dans la Sucht, dans le besoin maladif – siech. Longue maladie de l’absolu, plein comme une outre et débordant, près de nous s’écroulant et s’écoulant, absolu soluble dans sa propre liqueur, dans sa liquidité – Flüssigkeit –, fluidité et fuite, dissolution permanente où tourbillonne et s’abandonne l’absolution de l’absolu. S’abandonne absolument, si près de nous que nous ne nous distinguons plus de lui, lui le distinct absolument. Nous-mêmes séparés de tout, hors du monde et de nous-mêmes, le cœur au bord des lèvres, le cœur et la pensée répandus, dissolus, absolument révolus. Immer schon perfekt, vollendet – bei uns wie ohne uns.
II KONZEPTIONEN DES DIONYSISCHEN
Karl Heinz Bohrer
Heißer und kalter Dionysos. Das Schillern einer Metapher Nietzsches This essay analyses the metamorphoses in Friedrich Nietzsche’s lifelong use of Dionysus as a metaphor. Oscillating from the very beginning ( Die Geburt der Tragödie, 1871) between an ecstatic and a reflective mode, ‘Dionysus’ initially served as sign for the artistic process (both of production and of reception). Later on, this original conception of a “hot Dionysus” was slightly modified into that of a “cold Dionysus”, in which the early aesthetics of “surface” (“Oberflächen”-Ästhetik) coalesces with the emphatic notion of “grand style” (“Großer Stil”). Despite this ‘sobering up’ in Nietzsche’s aesthetics, the core of the metaphor nevertheless remains the same; in other words, the difference between the “hot” and the “cold” Dionysus turns out to be a mere “difference of function” (“Funktionsdifferenz”).
Von folgender Annahme gehe ich aus: Die von Giorgio Colli erläuterte Verwandlung des Dionysos-Namens aus einem Kunstsymbol in die Metapher für eine philosophische Idee heißt nicht,1 daß das Zeichen für ein philosophisches Projekt (“Ewige Wiederkehr”) das Symbol des ästhetischen Ereignisses ausgetrieben hätte. Vielmehr ist sowohl die Emphatik als auch die Ambivalenz des ästhetischen Zeichens dem Namen “Dionysos” und seinen dionysischen Eigenschaften auch nach der Tragödienschrift erhalten geblieben. Es gibt zwar Dionysos I und Dionysos II, aber trotz der Verwandlung bleiben sie im Kern die gleichen. Nietzsche hat den Begriff des Dionysos oder des Dionysischen nach der Tragödienschrift 15 Jahre lang nicht mehr benutzt. ‘Nicht erwähnt’ wäre angesichts des wissenschaftlichen Debakels, das er provozierte, vielleicht angemessener. Weder in der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, 1874 fast noch eine Hommage an Richard Wagner, dessen Musik dem Autor von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik die Wiedergeburt des Dionysischen ja bedeutet hatte, noch in den Aphorismen Menschliches, Allzumenschliches (1878/1880), noch in der Prosa der Morgenröthe (1881) oder der Fröhlichen Wissenschaft (1882) taucht der Name des Dionysos auf. Erst in Jenseits von Gut und Böse und im Versuch einer Selbstkritik, beide 1886 erschienen, kommt Nietzsche plötzlich auf den Urbegriff seiner frühen Ästhetik bzw. ästhetischen Metaphysik mit Emphase zu sprechen. Er nennt ihn nun den Repräsentanten seiner neuen Philosophie enthusiastischer Affirmation des Lebens. Das Mißverständnis, 1 Giorgio Colli: Nachwort. In: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1999. Bd. 5. S. 413–421. Hier: S. 416.
20 das der Name einst in der gelehrten Öffentlichkeit ausgelöst hatte, sollte nunmehr, so in der Selbstkritik, einer tieferen Erhellung zugeführt werden. Diese ist aber nicht – wie Jenseits von Gut und Böse zeigt – eindeutig, sondern zweideutig, das heißt sie ist nicht eigentlich philosophisch, sondern ästhetisch, auch wenn Dionysos sogar als Philosoph bezeichnet wird. Denn die Qualifikationen, in denen er nunmehr verstanden ist – sie heißen ‘heimlich’, ‘neu’, ‘fremd’, ‘wunderlich’, ‘unheimlich’2 –, gehören nicht eigentlich zu einem theoretischen, sondern zu einem imaginativen Vokabular, dem das dionysische Erziehungsprogramm entspricht, die Menschen “stärker, böser, tiefer; auch schöner” zu machen.3 Neben der zugespitzten ästhetischen Valenz des Namens ‘Dionysos’ in Jenseits von Gut und Böse und im Versuch einer Selbstkritik sind für die ästhetiktheoretische Signifikanz vor allem die beiden Texte, die die achtziger Jahre eröffnen und schließen, Menschliches, Allzumenschliches und Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem (1888), relevant, auch wenn dort der Begriff ‘Dionysos’ nicht unmittelbar selbst auftaucht. Diese Texte erneuern zum einen den emphatischinnovatorischen Gestus – die Idee von der Absolutheit der Kunst betreffend. Zum anderen wird die ästhetiktheoretische Valenz des Namens im Zusammenhang der hinzugewonnenen Kunsttermini “Oberfläche” und “Schein” geprägt. Dieser Zuspitzung im ästhetischen Begriff entspricht auch eine in kulturkritischer Hinsicht. Auf eine Pointe gebracht: Nietzsche hat eineinhalb Jahrzehnte nicht von Dionysos gesprochen, aber immer an ihn gedacht. Er hat den Eklat, den sein frühes Tragödien-Pathos für die akademische Karriere gehabt hat, in die Ironie einer lebensphilosophischen Kategorie verwandelt, ohne sich von der Tragödie zu verabschieden, auch wenn er nicht mehr von der griechischen Tragödie spricht, sondern von einem zeitgenössischen “Verhängnis”, das im Unterschied zu Richard Wagners Oper essentiell tragisch ist.
Ein Dionysos der Tragödie und ein tragischer Dionysos Bevor wir sehen, wie Nietzsche in seinem Versuch einer Selbstkritik den Namen des Dionysos aus den Trümmern der Tragödientheorie – Trümmer jedenfalls als gescheiterter Versuch einer tragistischen Salvierung der deutschen Kultur – rettet, ist daran zu erinnern, daß schon der ursprüngliche Name Dionysos komplex, ja widersprüchlich war. Er changierte in einer Spannung zwischen dem ekstatischen Modus des Individuationsverlustes einerseits und einem reflexiven Modus der Individuation andererseits.4 Dionysos 2 Vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 5. S. 9–243. Hier: S. 238. 3 Ebd. S. 239. 4 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Versuch einer Selbstkritik (1871/1886). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 1. S. 9–156. Hier: S. 28 und S. 33.
21 bildet nicht bloß eine Opposition zu Apollon, sondern er bildet in sich selbst das, was diese Opposition bedeutet, schon ab: Für den ekstatischen Modus, das ist die Wahrnehmung des dionysischen Phänomens als Natur, gilt die rhetorische Bedingung der “Plötzlichkeit” und des “Grausens”. Für den reflexiven Modus des Dionysischen gilt zwar auch noch der “Schrecken”, aber gleichzeitig das sentimentalische Moment, nämlich der kaum versteckte Rekurs auf Schillers Unterscheidung zwischen naiver und sentimentalischer Naturbeziehung.5 Kommt der ekstatische Zustand zustande durch den Verlust des selbstreflexiven Bewußtseins, durch eine unio mystica mit der Natur, so der reflexive Zustand umgekehrt durch das Bewußtsein, gerade unter der Bedingung der Individuation, mit dem Verlust der Natur leben zu müssen: Dionysos einmal als der Plötzliche, der Unbewußt-Naive, und einmal als der Reflexiv-Bewußte, der Sentimentalische, der sogar in der Maske von Hamlet und mit dessen Blick in das Entsetzliche und Absurde des Daseins auftritt.6 Ekstatischer Naturzustand oder reflexiver Naturverlust – es geht hier nicht um diese Widersprüche oder Verschiebungen des Arguments innerhalb der Tragödienschrift. Es geht um die frühe Komplexität des Dionysos-Zeichens, das auch von einer widersprüchlichen Zerstückelungsmetapher verdeckt wird. Zum einen ist von der “Zerreissung des principii individuationis” und zum anderen von der “Zerstückelung in Individuen” die Rede.7 Die fast gleiche Metapher für zwei entgegengesetzte Auflösungsvorgänge: einmal die Vereinigung mit der Transsubjektivität, ein andermal gerade deren Gegenteil, der Verlust dieser Transsubjektivität. Vor allem kann man sehen, wie die spätere kalte Fassung des Dionysischen schon in einer Hälfte der frühen Dionysos-Maske vorbereitet ist; andererseits, wie die wirkungsästhetischen neuen Qualitäten der dionysischen Symbolik der Evokation als “etwas Neues und Unerhörtes”, “Nieempfundenes” in der Tragödienschrift gleich oder analog sind.8 Die Trümmer der Tragödienschrift sind also die Bausteine für das erneuerte dionysische Zeichen. Das wird auch evident, wenn man gegenüber der Ankündigung einer kulturrevolutionär gedachten Wiederherstellung der griechischen Tragödie – denn das ist ja der Kern des ursprünglichen Projekts, das daran scheitert – das melancholische Bewußtsein einer nachhegelschen Verlustansage der Kunst erkennt, die die ursprüngliche Theorie der Tragödie auch als Abschiedsklage lesen läßt: Der Satz vom “sehnende[n] Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust”, wie es über die reflexive Alternative zum dionysischekstatischen Zustand in der Tragödienschrift heißt,9 nimmt das Spätzeitbewußtsein 5
Vgl. ebd. S. 33. Vgl. ebd. S. 57. 7 Ebd. S. 33. 8 Ebd. 9 Ebd. 6
22 der Ästhetik des allegorischen Scheins von Menschliches, Allzumenschliches vorweg. Nietzsches Sprung in die dionysische Entgrenzung ist paradox: Sie hat die moderne Bedingung des begrenzten Subjekts nicht vergessen! Deshalb ist sie auch Klage um etwas Verlorengegangenes, nicht bloß Jubel über etwas Wiedergefundenes. Das Wiedergefundene ist immer schon verloren gegangen. Wie tritt nun aber das Dionysische oder Dionysos tatsächlich als tragische Ästhetik wieder auf, nachdem ihrem ursprünglichen Medium, Richard Wagners Musik, ursprünglich als “Isoldes metaphysischer Schwanengesang” gehuldigt,10 ironisch der Laufpaß gegeben worden war?11 Die attische Tragödie, die das Entsetzliche darstellt, soll also nicht mehr rekonstruiert werden. Wohl aber ihr tragisches Bewußtsein. Und dieses umso mehr, als der neue dionysische Pessimismus die freudige Akzeptanz des Schreckens impliziert. Das ist die Quintessenz des Versuchs einer Selbstkritik. Dionysos löst sich einerseits aus der dialektischen Umarmung mit Apollon, nimmt aber selbst die apollinische Qualität der Souveränität der Form an, so wie Apollon wiederum die dionysische Qualität des Rausches.12 Die Zweideutigkeit der Begriffsbildung ist der seit 1878 entwickelten neuen Gewichtung von Kunst und Denken geschuldet, die dem Denken den Vorrang gibt, den Rausch und die Intuition als ästhetischen Urgrund sogar prohibiert, ohne daß Nietzsche allerdings diese Inversion früherer Prioritäten konsequent durchhalten würde.13 Die Überholung des Tragödienprojekts in kulturrevolutionärer Absicht durch eine tragische Ästhetik heißt, daß ersteres nicht bloß stilistisch kritisiert wird als etwas, wie es in der Selbstkritik heißt, “unter der Kapuze des Gelehrten” Daherkommendes, als “dialektische Unlustigkeit”, als “schlechte[] Manieren des Wagnerianers”,14 sondern daß nunmehr alle Kant und Schopenhauer geschuldeten metaphysischen Begriffe durch vier poetologische Zentralmetaphern ersetzt werden, auf die Nietzsche, so behauptet es der Versuch einer Selbstkritik, immer schon aus gewesen ist. Diese Metaphern heißen: “Schmerz”, “Melancholie”, “Wahnsinn”, “Schönheit”.15 Es handelt sich bei diesen Kategorien also um solche, die entweder dem ästhetischen Bewußtsein oder der Erscheinungsform des dionysischen Kunstwerks selbst gelten. Dabei ist die Transformation vom subjektiven zum
10
Ebd. S. 141. Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 6. S. 9–53. Hier: S. 16f. 12 Vgl. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (1888). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 6. S. 55–161. Hier: S. 117. 13 Vgl. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band (1878). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 2. S. 9–366. Hier: S. 146 und S. 149. 14 Nietzsche (wie Anm. 4). S. 14f. 15 Ebd. S. 15f. 11
23 objektiven Moment des Dionysischen ausgedrückt: vom Schmerz über die Melancholie und den Wahnsinn zur Schönheit. Der Transformationsprozeß also von einem Zustand, dessen Beschreibung als wahnsinnig oder schmerzlich man noch als Zugeständnis an den objektiven Faktor verstehen kann, aber dessen Schönheit darauf hinweist, daß es nicht bei der Expressivität von Innerlichkeit bleibt. ‘Schön’ meint hier nicht harmonisch-reizvoll im idealistischen oder hedonistischen Sinne. ‘Schön’ meint formstark. Es wird aber auch klar, daß weder der subjektive noch der objektive Zustand des Schönen von einem Ich-Begriff kontrolliert werden. Schmerz, Wahnsinn und Melancholie – die Nietzsche historisch als die verschwiegene Voraussetzung der griechischen Kultur erkennt – sind auch als Voraussetzungen einer zukünftigen modernen Kultur in Anspruch genommen. Die Schönheit triumphiert, indem sie jene Zustände sublimiert – oder mit einem berühmten Aphorismus aus Menschliches. Allzumenschliches II über den “Großen Stil” formuliert: “Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt”.16 Auf diesen Satz ist zurückzukommen. Man erinnert sich daran, daß in der Tragödienschrift der dionysische Affekt des Rausches in Verbindung mit dem apollinischen Affekt des Träumens eine Erlösungsfunktion verfolgt: Obwohl schon dort die aristotelische moralischmedizinische Funktionalisierung der Tragödie als ästhetisch irrelevant gekennzeichnet wird, geht es dennoch um eine heilende Wirkung: die Heilung von der Wahrnehmung des Entsetzens des Daseins. Der aporetische Satz vom “ästhetischen Phänomen”, als das die Welt gerechtfertigt werden könne, war in der Tragödienschrift eben nicht ästhetizistisch, sondern metaphysisch begründet. Das verschiebt sich jetzt. Die Funktionalisierung als Heilung spielt nunmehr im Versuch einer Selbstkritik keine Rolle mehr: Der dionysische Wahnsinn ist jetzt nicht mehr als Abwehrbewegung gedacht, sondern ausschließlich als Epiphanie eines aktiven Vermögens zur Kunst – eine Epiphanie, die allerdings in der Tragödienschrift vorbereitet ist. Dieses aktive Vermögen ist – obwohl der Name Dionysos nicht fällt – erhellend schon am Ende der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft charakterisiert worden. Es darf als ästhetiktheoretisches Formular der sich entwickelnden Dionysos-Lehre gelesen werden. Ihre Kategorien sind: Oberfläche, Schein, Formen, Kunst – als Verbergung der Tiefe. Die Bedingung ihrer Anwendung: von der “Spitze des gegenwärtigen Gedankens” aus zu blicken.17
16 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band (1879/1880). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 2. S. 367–704. Hier: S. 596. 17 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (1882/1887). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 3. S. 343–651. Hier: S. 352.
24 Der Blick in die Tiefe, der der Anbetung des Scheins und der Oberfläche vorausgeht, ist hier nicht mehr der metaphysische, Schopenhauers Ontologie umkehrende Blick, sondern es ist der Blick nach dem endgültigen Destruierungsversuch der idealistischen Philosophie: daß an ihre Stelle, an die Stelle ihrer Werturteile, ihre eigene Entwertung getreten ist – das ist die neue Tiefe, die Nietzsche erkenntniskritisch in Anspruch nimmt. Und diese Pointe ist im Wort von der “Spitze des gegenwärtigen Gedankens” noch einmal verschärft: Denn wenn man Hegels Diktum vom Überholtwerden der Kunst durch den Geist auf Nietzsches Diktum bezieht und dabei Hegels leitende Begriffe vor Augen hat, nämlich das Nachlassen des Scheins der Kunst gegenüber der Höhe des gegenwärtigen Geistes in seinem Prozeß hin zum absoluten Geist,18 dann wird Nietzsches ganz gegensätzliche Proklamation des ästhetischen Scheins bei ähnlicher Begrifflichkeit noch erkennbarer. Bei ihm strahlt dieser Schein gerade umso stärker, je höher die Spitze des Gedankens ist, von der aus er wahrgenommen wird. Insofern hat die Inanspruchnahme der griechischen Priorität des Scheins – in der Tragödienschrift war das noch der Illusion schaffende Schein des Apollon – nunmehr zwei neue Qualitäten: erstens den Charakter einer absolut autonomen, nicht mehr korrespondierenden Kunstaura; zweitens den Charakter einer aktuellen, nicht mehr historischen Ursache. Auch hier ist zu betonen, daß beide Qualitäten, das absolut Autonome und das absolut Aktuelle, in der Tragödienschrift angelegt sind. Aber ihre Begrifflichkeiten bleiben dort widersprüchlich. Ist Dionysos allein verantwortlich für den Ereignischarakter des Kunstwerks und Apollon ausschließlich für seine formale Artikulation? Das bleibt in der Tragödienschrift widersprüchlich, nicht endgültig geklärt. Nun ist es geklärt. Die Evokation des Dionysischen im Versuch einer Selbstkritik identifiziert den “Willen zum Tragischen” mit der ästhetischen Kapazität selbst, die eine physiologische, die Kapazität zur Lust ist. Anders ausgedrückt: Der dionysische Pessimismus umarmt im Unterschied zum romantischen Pessimismus das Leben.19 Nietzsches kritischer Rückblick auf sein Frühwerk ist eine Reformulierung dessen, was er als seine dionysische Substanz ansieht. Analytisch betrachtet gehören dazu drei zentrale Motive: Zunächst radikalisiert ist der Grundgedanke, daß nicht die Moral, sondern die Kunst das Leiden am Dasein reguliert. Das Dasein kann nicht mehr von Kants “logischem Jenseits”, nicht mehr von einem transzendentalen moralischen Reich aus relativiert werden. Dionysos gegen den Idealismus zu berufen, hieß erkenntniskritisch: den synthetischen Urteilen a priori als einer Selbsttäuschung 18
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (1832). Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. S. 24 (Werke 13). 19 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 4). S. 16.
25 des Philosophen aufzukündigen.20 Der Selbstwiderspruch, daß Dionysos wiederum als regulative Idee funktionieren könnte, wird, so möchte ich zeigen, durch seine strikt poetologische Anwendung vermieden. Sodann: Die Kritik des Idealismus geschieht nicht vornehmlich aus dem Grunde, daß sein Apriori in einer falschen Logik begründet scheint.21 Sie geschieht vielmehr wegen einer der neuen Intuitionssprache sich aufdrängenden Evidenz, daß alles, was da ist, unableitbar da ist, wechselt, wieder da ist. Im Unterschied zur Tragödienschrift, in der die ästhetische Rechtfertigung der Welt noch immer innerhalb einer traditionellen Terminologie von Subjekt- und Objekt-Differenz verbleibt, wird der berühmte Satz über das Dasein als ästhetisches Phänomen nunmehr in einer dezisionistischen Gleichung erklärt: Leben ist Schein, es gibt kein Jenseits des ästhetischen Scheins. Deshalb ist Dasein ein Phänomen, und als Phänomen ist es ästhetisch. Schließlich: Es bedarf dann keiner Abgrenzung mehr gegenüber anderen Philosophien: “Wer das Wort ‘Dionysisch’ nicht nur begreift, sondern sich in dem Wort ‘dionysisch’ begreift,” – so Nietzsche im Kommentar zur Geburt der Tragödie innerhalb von Ecce Homo – “hat keine Widerlegung Platos oder des Christenthums oder Schopenhauers nöthig – er riecht die Verwesung…”.22 Damit komme ich zur Funktionsdifferenz zwischen der ursprünglichen und der neuen Bedeutung des Dionysos-Zeichens: daß es weder weiterhin die Wagnersche Musik erläutert, noch zur Ausstattung der Idee von einer deutschen Kulturrevolution benutzt wird. Aber wie man sieht: Es ist eine Funktionsdifferenz. Man kann nicht sagen, ein völlig neuer Dionysos trete auf. Indem Nietzsche nunmehr an die Stelle der Idee einer romantischen Musik das Kriterium einer dionysischen stellt, die keine Wagnersche mehr sein kann, ist das Projekt einer kulturkritischen Veränderung, ist die Utopie einer erzieherischen Wiederherstellung der Tragödie als kollektiver Norm endgültig aufgegeben! An die Stelle der kulturrevolutionär vorgetragenen Idee des Tragischen tritt eine avantgardistische, die nur noch den Happy Fews, den sogenannten “Freien Geistern” zugemutet wird,23 auf deren politische Implikation und Konsequenz hier nicht einzugehen ist. Wenn wir einmal von allen anderen Komponenten des komplexen Begriffs ‘Dionysos’ absehen und uns nur auf seinen ästhetischen Kategorie-Charakter beziehen, dann ergibt sich als die entscheidende Differenz zwischen dem 20 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 2). S. 24. Außerdem: Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 3. S. 9–331. Hier: S. 14. 21 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 2). S. 24. 22 Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist (1888). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 6. S. 255–374. Hier: S. 312. 23 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 13). S. 15–17 (3.).
26 Dionysos der Tragödienschrift und dem Dionysos der Schriften danach die folgende: Das dionysische Phänomen wird in der Tragödienschrift als produktions- und rezeptionsästhetischer Vorgang dargestellt, das heißt in Hinsicht auf den emotionell-kognitiven Modus des Wahrnehmenden einerseits (principium individuationis, Grausen) und des Künstlers andererseits (Archilochos). Die Kritik der Tragödienschrift und die ihr benachbarten Schriften der achtziger Jahre betrachten das Dionysische hingegen unter einer das Kunstwerk selbst betreffenden Perspektive, wobei die Idee des dionysisch-tragischen Kunstwerks als “Oberflächen”-Ästhetik mit dem emphatischen Begriff des “Großen Stils” verschmilzt.
Die ästhetische Valenz von Dionysos II Sie ist begründet vor allem in zwei Schriften, den kunstreflexiven Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches und der Streitschrift Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. In letzterem taucht der Begriff des Dionysischen nicht auf. Wohl aber ist im Kommentar von Ecce Homo zu Der Fall Wagner die “Flöte des Dionysos” als Alternative zur Wagnerschen Musik benannt.24 Aber auch ohne solche Identifizierung ist die Charakterisierung der Bizetschen Musik als eines neuen, eben dionysischen Gegenprogramms zur Wagnerschen Musik erkennbar. Zu den aufschlußreichsten Wörtern der als “Meine Ästhetik” bezeichneten Charakterisierungen gehören: “leicht”, mit Referenz auf die “Götter”, und ebenso die Adjektive: “böse, raffinirt, fatalistisch”.25 Genauso lauten die Qualitäten des späteren Dionysos, wenn von ihm in der Nachlaßschrift als “Dionysos – Diabolus”,26 als “Betrüger […] Vernichter […] Schöpfer” gesprochen wird,27 von seiner “tausendfältigste[n] Verschlagenheit”,28 er aber gleichzeitig als Repräsentant des “großen Stils”, als “geheimnißreiche[s] Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten […] Daseins-Verklärung”29 gilt. Die Chiffre Dionysos bezeichnet, das hatte Colli hervorgehoben, nicht mehr das Orgiastische, sondern das Maßstabhafte.30 Zwei Charakterisierungen sind in der Wagner-Schrift für die neugefaßte dionysisch-tragische Ästhetik vor allem aufschlußreich, weil sich hier noch die alten Kategorien der Tragödienschrift erkennen lassen. Die erste Charakterisierung: “Diese Kunst ist heiter; aber nicht von einer französischen oder 24
Nietzsche (wie Anm. 22). S. 357. Nietzsche (wie Anm. 11). S. 13. 26 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 11. S. 472f. (34 [155]). Hier: S. 473. 27 Ebd. S. 504 (34 [248]). 28 Ebd. S. 630 (40 [5]). 29 Ebd. S. 681 (41 [7]). 30 Vgl. ebd. 25
27 deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängniss über sich. Ihr Glück ist kurz, plötzlich, ohne Pardon”.31 Diese Definition hat ihre Parallelstelle in Jenseits von Gut und Böse, wo es von einem neuen “tempo [der] Freigeisterei” heißt, sie atme “trockne feine Luft” und trage die “ernsteste Angelegenheit in einem unbändigen Allegrissimo” vor.32 Man kann das auch einen neuen ironischen Stil nennen. Das ist also keine musikalisch relevante Charakteristik. Hätte Nietzsche vorausgesehen, daß Bizets Melodien bald jedes bourgeoise Wunschkonzert zum Höhepunkt bringen würden, während Wagners Ring die avancierteste Musikästhetik des 20. Jahrhunderts beeinflußte, hätte er den Begriff “Heiterkeit” mit etwas mehr begrifflicher, zumindest ästhetiktheoretischer Genauigkeit ausgestattet. Heiterkeit ist das Ethos der dionysischen Akzeptanz des tragischen Fatums, als dessen Metapher Nietzsche das Schicksal Carmens wählte. Es ist hier der Anlaß, im Rückblick auf die ursprüngliche Tragödientheorie festzuhalten, daß Nietzsche eigentlich nie wirklich erklärt hat, wie der Modus der “Heiterkeit” – nennen wir ihn den ästhetischen – zustande kommt. Gewiß, als ‘Werde-Enthusiasmus’: so schon der Hinweis in der Tragödienschrift auf die Verwandlung des Urschmerzes zum ästhetischen Phänomen und so schon dort der Hinweis auf die “griechische Heiterkeit”.33 Das blieb letztlich aber noch immer eine metaphysische, keine ästhetische Erklärung. Man erinnere sich daran, daß der Begriff “Heiterkeit”, vor allem die Heiterkeit des eigenen Todes, dem Vokabular der antiken Philosophie und in deren Nachfolge der pietistischen Seelenkunde entstammt,34 und daß dieses Vokabular kein ästhetisches Bewußtsein wiedergibt. Irritierend ist auch, daß der Heiterkeitsbegriff einen reflexiven Ich-Begriff impliziert, der hier nicht gemeint ist. Heiterkeit wird hier als die objektive Qualität eines ästhetisch-imaginativen Zustandes, als die Ruhe im Schrecken verstanden.35 So können wir Nietzsches Diktum über Bizets Oper Carmen auf die aporetische Formel bringen: Diese Musik evoziert ästhetische Intensität. Intensität ist kein Gefühl. Sie ist die Abwesenheit jeder Versöhnungsidee. Nietzsche hat anläßlich seiner Ablehnung des Katharsis-Gedankens einmal pointiert, daß die tragische Form selbst ein “tonicum” sei, das uns als solches, also ohne Reinigungsakt, positiv errege, erhebe.36 Auch dieser Begriff enthält keine Erklärung, sondern bedürfte einer solchen. Aber wenn wir an Kants und Schillers Erklärung des Erhabenen als eines Reflexionsaktes unserer moralischen 31
Nietzsche (wie Anm. 11). S. 15. Nietzsche (wie Anm. 2). S. 47. 33 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 4). S. 65. 34 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München: Hanser 1987. S. 145f. 35 Nietzsche (wie Anm. 11). S. 15 und Nietzsche (wie Anm. 17). S. 350. 36 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887–1889. In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 13. S. 409–411 (15 [10]: “Was ist tragisch.”). Hier: S. 410. 32
28 Selbstevidenz denken, dann wissen wir zumindest eines: Dieser Erklärung ist jedenfalls Tür und Tor versperrt. Die Qualifikationen des Erregungsglücks als “kurz”, “plötzlich” und “ohne Pardon” sind immerhin Referenzen an die rhetorische Definition des schönen Schreckens, dessen Plötzlichkeit sowohl das ursprünglich dionysische Formular als auch den Geisteszustand des späteren “freien Geistes” charakterisiert.37 Dazu paßt die Wiederholung des Diktums aus der Tragödienschrift, daß es im Drama nicht um Handlung gehe, wie Wagner fälschlich glaube, sondern um Pathos, nicht um ein Tun, sondern um ein Ereignis.38 Die zweite Charakterisierung von Bizets Musik betont nun das neue reflexivästhetische, objektive Moment: “Wie die gelben Nachmittage ihres Glücks uns wohlthun! Wir blicken dabei hinaus: sahen wir je das Meer glätter? – Und wie uns der maurische Tanz beruhigend zuredet! Wie in seiner lasciven Schwermuth selbst unsre Unersättlichkeit einmal Sattheit lernt!”39 “Die gelben Nachmittage” stehen als Metapher für die Seinsstimmung intensiver Gegenwart. Der Zeitmodus der Plötzlichkeit ist überführt in intensive Präsenz. Damit ist die ursprüngliche Dionysos-Formel im Sinne einer modernen Ästhetik spezifiziert. Das bereits erwähnte Moment der Melancholie, Reflektion reiner unbewegter Zeitlichkeit, dessen allegorisches Bild das glatte Meer darstellt, zielt auf eine Kunst geronnenen Wissens, dargestellt in symbolischer Form. Mit Plötzlichkeit und Präsenz kehren unterschiedliche Grundinstinkte des nietzscheschen Tragödienverständnisses wieder, aber verwandelt: von der subjektiven Modus-Kategorie zum objektiven Zeichen des ästhetischen Charakters. Wenn wir vom Witz der nietzscheschen Sottisen und Ernsthaftigkeiten gegen Wagner abstrahieren und die schiere Essenz des Arguments nennen, dann behalten wir als negative und positive Kriterien zurück: Stil statt Überwältigt-Werden, Leidenschaft statt schöne Melodie, Vergnügen statt Idealismus. Man erkennt die Variationen der “Oberflächen”-Ästhetik. Sie ist schon als eine historisch und theoretisch elaborierte Doktrin in einem Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches I unter dem Titel “Die Revolution in der Poesie” definiert worden.40 Theoretisch liegt in ihm die Quintessenz des kalten Dionysos-Begriffs schon beschlossen. In ihm wendet sich Nietzsche gegen die zeitgenössische Tendenz zum Naturalismus. Vor allem der in Deutschland seit Lessing entwikkelte Affekt gegen die französische “Form” habe seine Valenz als notwendige Entfesselung von Regeln verloren und sei zu einem blinden “Sprung in den Naturalismus” geraten, der die Formlosigkeit zum Prinzip erhebe.41 Es geht 37
Vgl. Nietzsche (wie Anm. 13). S. 15–17 (3.). Vgl. Nietzsche (wie Anm. 11). S. 32. 39 Ebd. S. 15. 40 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 13). S. 180–184. 41 Ebd. S. 181. 38
29 dabei nicht gegen das sich ankündigende neue Roman-Genre des Naturalismus, das in der deutschen Literatur ohnehin wegen der idealistischen Tradition des Bildungsromans noch nicht wirklich entwickelt war. Es geht vielmehr gegen eine Art fahrlässiger Expressivität, ein emotionelles Sich-Gehen-Lassen, das Nietzsche als Signum des deutschen Literatur- und Kunstbetriebs wahrnahm. Das “griechische Maass” wird erinnert gegen Maßlosigkeit und ihren revolutionären Impuls.42 Die gegenrevolutionäre Antwort ist die neue Auffassung vom Schein. Es zeigt sich – und das ist die eigentliche Provokation dieser nietzscheschen Gegenrevolution – ein historisch reflektierendes Zurückgehen auf das neoklassizistische Paradigma Goethes, ein Rückgriff auf die “Tradition der Kunst”, auf die “stehen gebliebenen Trümmer[] und Säulengänge des Tempels”.43 Nietzsche versteht diesen sozusagen epigonalen Akt als den einzig möglichen in Anbetracht der erreichten Spätzeit der Kunst: Kunst ist Erinnerung an die Kunst, ja in der Empfindung früherer Zeiten, in der “Abendröthe der Kunst” – wie es in einem anderen Paragraphen der Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches heißt – werden wir ihr noch einmal umso intensiver gewahr.44 Aus dieser der Hegelschen Historisierung der Kunst entgegengesetzten Emphatisierung sind die ästhetischen Kategorien entwickelt, die eine symbolistisch-allegorische Kunsttheorie ausmachen. Die zentrale Passage lautet: Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinne wirkungslos gemacht.45
Man erkennt, inwiefern der antirealistische Grundimpuls, der schon in der Tragödienschrift auftaucht, nun ganz entscheidend wird: Schon in der Tragödienschrift ist der Begriff des ‘Natürlichen’ am Beispiel des griechischen Chores verbannt und durch Mythos und Kultus substituiert, wobei Schillers antirealistische Tragödientheorie noch durchscheint.46 Ebenso wurde in der Tragödienschrift von der Maske des individuellen tragischen Helden gesagt, sie sei ein Repräsentant des Dionysos, des eigentlichen Bühnenhelden.47 Ohne dies am durchgängigen Maskenmotiv der Tragödienschrift zu erhärten, zeigt sich schließlich, daß im antirealistischen Affront des Aphorismus “Die Revolution in der Poesie” die Ästhetik der idealischen Maske und der allegorischen Allgemeinheit eine 42
Vgl. ebd. S. 182. Ebd. S. 184. 44 Vgl. ebd. S. 186. 45 Ebd. S. 184. 46 Nietzsche (wie Anm. 4). S. 54f. 47 Ebd. S. 63. 43
30 Reformulierung des Mythos bewerkstelligt, nachdem die ursprüngliche Begründung durch Richard Wagners Musik nicht mehr gegeben ist. “Mythisch gemacht” heißt hier: einem ästhetischen Absolutismus zugeführt. Es zeigt sich auch, wie die Nachwirkung der Winckelmannschen Auffassung des Griechischen als “edle Einfalt und stille Größe”,48 die ja von der orgiastischen Fassung des Dionysischen in Frage gestellt war, wieder durchschlägt, was im Begriff vom “ganzen Olymp des Scheins”49 später erkennbar werden wird. Aber das im deutschen Klassizismus als idealistische Idee vom Griechischen als kultureller Norm Gedachte ist umfunktioniert zu einer Metapher für die ästhetische Norm. Endgültig revidiert ist also die Obsession einer wiederhergestellten griechischen Tragödie im Schatten der Hegelschen Aufklärung über deren endgültigen Vergangenheitscharakter. Im Einfall, das dionysische Ereignis als “Oberflächen”Ästhetik zu fassen, kombiniert Nietzsche seine radikale Aufklärungskritik mit einer aufgeklärten Ästhetik: Er transformiert die Idee des archaischen Mythos, das ist der frühe Dionysos, in einen ästhetischen, das ist der spätere Dionysos. Fortan fungierte das Allegorische, wie Nietzsche Schein und Oberfläche schließlich definierte, als mythische Kunstform: nicht mehr den Mythos unmittelbar produzieren, sondern mittelbar als abstrahierende Darstellungsform. Verschwunden ist also nicht nur der kulturrevolutionäre Habitus mit seinen nationalen Implikationen. An seine Stelle tritt das in symbolisierender Form sich ausdrückende tragische Bewußtsein. Insofern hat Nietzsche späteren Versuchen, eine radikale Kulturkritik wieder unter den Begriff der archaischen Tragödie zu stellen, einen Riegel vorgeschoben. Dieser Riegel ist allerdings von einigen modernen Autoren solcher Kulturkritik nicht bemerkt worden. Der frühe Michel Foucault hat bekanntlich 1961 seine am Wahnsinnsverbot der Vernunft orientierte Kritik emphatisch mit Nietzsches Kritik am Verlust der Tragödie erläutert.50 Er hat immer nur den wahnsinnigen Dionysos, nicht den schönen und weisen Dionysos gesehen. Mythoskonzepte spielten eine zentrale Rolle in der modernen Ästhetik: Von Friedrich Schlegel bis Louis Aragon ist die Neue Mythologie oder die mythologie moderne nur ein anderer Name für eine radikal autonome Kunst. Nietzsches Neufassung des Mythischen unter der Maske des Dionysos will dasselbe: nicht
48 Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755). In: Frühklassizismus: Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hg. von Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1995. S. 11–50. Hier: S. 30 (Bibliothek der Kunstliteratur 2). 49 Nietzsche (wie Anm. 17). S. 352. 50 Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. S. 9.
31 mehr Rekurs auf die Ursprünge – das gab es schon nicht mehr in Schlegels Neuer Mythologie51, geschweige denn ein Jahrhundert später in Aragons mythologie moderne52 –, sondern Statuierung des Ästhetischen als modernes Regulativ. Nietzsche nannte im Aphorismus “Die Revolution in der Poesie” das allegorische Verfahren ein “mythisch Machen”. Alles Individuelle verschwände und ein Über-Individuelles erschiene. “Mythisch machen” hieß also nicht, auf bestimmte archaische Mythologien zurückzugehen, sondern deren Erscheinungsgewalt zu wiederholen, als Kunst, die nur auf der Kunstmethode beruht. Das Dionysische kann jetzt endgültig nicht mehr mißverstanden werden als Feier des Archaischen oder Irrationalen, sondern als ein spezifisches Pathos der Form. Man versteht jetzt noch genauer den schon zitierten Satz: “Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt” (vgl. Anm. 16). Man erkennt, wie in dieser Definition die Symbole des Apollinischen und Dionysischen durchschimmern und man fast geneigt ist zu sagen, hier werde dem Apollinischen der Vorrang über das Dionysische gegeben. Aber es ist nicht Apollon, sondern Dionysos, der in einem Nachlaßtext aus dem Jahre 1885 als Repräsentant des “großen Stils” genannt ist.53 Wenn wir uns daran erinnern, daß die Begriffe der “Oberfläche”, des “heiteren Spiels” und des “schönen Scheins” als gegenromantische synonym werden mit dem des “Dionysischen”, dann wird sofort klar, wovon im Begriff des “großen Stils” auch die Rede ist: natürlich vom Erhabenen, dessen ästhetische Struktur bekanntlich gefaßt ist als eine vom Ungeheuren oder Schrecken gebrochene Schönheit. Nietzsche dreht die Pointe um: Das Ungeheure ist noch präsent, aber es tangiert nicht mehr die schöne Form als Symbolon oder Mythologicum. Es ist der vom Orgiastischen gelöste Stil des neuen Dionysos. Das ist gemeint. Nietzsche hat in zahlreichen Varianten an konkreten literarischen Beispielen, vornehmlich römischen Historikern und französischen Moralisten – also: “tragischen” Autoren, erläutert, wann großer Stil sich durchsetzt. Dieser Begriff läßt sich – so sahen wir – als rhetorische Konsequenz der “Oberflächen”-Ästhetik verstehen. Seine Erklärung als der Sieg des Schönen über das Ungeheure kann durch andere Charakterisierungen erläutert werden: “Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als ein Gedanke! Sondern der Zustand vor dem Gedanken, das Gedräng der noch nicht geborenen Gedanken”.54 Hier zeigt sich – setzen wir einmal das Wort “Gedanke” für
51
Vgl. Friedrich Schlegel: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München: Hanser 1971. S. 496. 52 Vgl. Louis Aragon: Pariser Landleben (1926). München: Rogner & Bernhard 1969. S. 7ff. 53 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 26). S. 683–686 (41 [9]). Hier: S. 685. 54 Nietzsche (wie Anm. 11). S. 24.
32 das “Ungeheure” –, wie die Theorie der Tragödie zu einer generellen Ästhetik abstrahiert worden ist: der Triumph der Form über den die Form gefährdenden Inhalt. Hinzugedacht werden muß: Dies geschieht immer, wenn der Inhalt, der Gehalt, der Gedanke konventionell ist – zum Beispiel geschichtsphilosophische Motive in einem künstlerischen Werk wie bei Richard Wagner. In einem geschichtsphilosophischen Werk selbst hingegen können sie großen Stil erzeugen. An anderer Stelle lautete dieses ästhetische Gesetz: Die Kunst des Stils bedeutet, einen “Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das tempo dieser Zeichen, mitzutheilen”.55 Der Stil ist gut, wenn er sich “über das tempo der Zeichen, über die Gebärden […] nicht vergreift”.56 Stil heißt danach: die Gebärde eines Verbergens hervorbringen. Das ist nur dann möglich, wenn es etwas Verbergenswertes gibt. Konkret-thematisch ist das der Tragödien-Schrecken. Abstrahiert man von ihm, ergibt sich das ästhetische Gesetz der Lakonie, für das Nietzsche das Paradigma des sophokleischen Stils genannt hat. Dionysos II transformiert also die Tragödientheorie in eine Lehre vom Stil. Stil verstanden als Pathos-Zeichen. Der allegorisch-dionysische Schein, die Gebärde der “Oberfläche”, das Pathos-Zeichen ist zweifellos eine noch immer historisch versetzte Aufklärungskritik, wie es die Tragödienschrift gewesen ist. Umso mehr, so scheint es, als Nietzsches älterer Zeitgenosse, Charles Baudelaire, Modernität gerade im Individualcharakter und im Lokalkolorit gefaßt hat.57 Aber das war nur die eine Seite der Medaille. Die andere zeigte den gleichen Verweis auf die allegorische Schönheit, die Nietzsche gefordert hat.58 Damit stand dieser in der zeitgenössischen deutschen Geisteswelt isoliert da. Er fand eigenhändig den Begriff einer neuen Kunstsprache, die dem Naturalismus der aufkommenden Epoche opponierte, aber den ästhetischen Absolutismus der Avantgarden vorbereitete – nicht diskursiv, nicht propagandistisch, sondern maskiert wie der neue Dionysos, der Ariadne in “smaragdener Schönheit”, das heißt in funkelnder, in rätselhafter Schönheit erschien.59 Der maskierte Dionysos ist auch ein anderes Wort für den Wechsel von der pathetischen Sprache der Abhandlungen zur ironischen Sprache der Aphorismen. In dieser Feststellung einer Stildifferenz, die zu Recht im Mittelpunkt 55
Nietzsche (wie Anm. 22). S. 304. Ebd. 57 Vgl. Charles Baudelaire: Le Peintre de la Vie moderne (1863). In: Baudelaire: Œuvres complètes. Hg. von Claude Pichois. Paris: Gallimard 1976. Bd. 2. S. 683–724. Hier: S. 695 (Bibliothèque de la Pléiade). 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Friedrich Nietzsche: Dionysos-Dithyramben (1888). In: Nietzsche (wie Anm. 1). Bd. 6. S. 375–411. Hier: S. 401. 56
33 der innovatorischen französischen Nietzscherezeption stand,60 läßt sich vielleicht am konkretesten von Dionysos I und Dionysos II sprechen, so wie es Nietzsche selbst im Versuch einer Selbstkritik getan hat. Aber er blieb immer der gleiche Dionysos, das heißt das Zeichen einer neuen Kunst: in der Tragödienschrift drapiert in traditioneller Bilderflut, die dem romantisch-klassischen Zeitalter entsprach. Nunmehr: ironisch und zweideutig. Man kann es auch komödiantisch nennen, wenn man damit nicht sagen will, daß nunmehr die Komödie der Tragödie als Kunstform folge. Wir sahen ja, daß Nietzsche Dionysos in einer Tragödie, nämlich Bizets Carmen, wieder auftreten sah – eben als Dionysos II.
60
Vgl. Nietzsche aus Frankreich. Essays von Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Pautrat. Hg. von Werner Hamacher. Frankfurt a. M.: Ullstein 1986. Claudio Magris geht dem Begriff “großer Stil” nicht ästhetiktheoretisch, sondern literaturgeschichtlich nach (vgl. Claudio Magris: Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur [1984]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987).
Dieter Mersch
Ästhetik des Rausches und der Differenz. Produktionsästhetik nach Nietzsche This essay investigates the notion of “Rausch” (inebriation) in Friedrich Nietzsche’s philosophy of art in order to adapt it to current debates on aesthetics. Since Nietzsche’s anti-romantic concept of “Rausch” favours difference, fracture, and rupture rather than any loss of rational consciousness, the aesthetic practice of art turns out to be a ‘practice of difference’(“Differenzpraxis”). Following Nietzsche’s aesthetics of production, which opts for “ek-stasis” in the sense of an ‘active passivity’, mediality emerges to be absolutely primordial, and hence the artist can merely act as an arranger of (medial) paradoxes.
I. Die Ästhetik des Rausches ist von Anfang an mit einer Ästhetik des Traums verquickt. Vor allem die Romantik hat diesem Zusammenhang ein künstlerisches Denkmal gesetzt, indem sie das Abgründige, den Schrecken und die Nacht ins Zentrum ihrer Produktionen rückte. Sie finden sich prominent in E.T.A. Hoffmanns Elixieren des Teufels ebenso wie in den Dichtungen Samuel Taylor Coleridges und John Keats’ oder den Bildern Johann Heinrich Füsslis und Francisco de Goyas. Im Begriffslosen, dem Dunklen und Unbestimmten erblickte die Romantik ihre eigentliche Quelle; dabei beschwor ihre Poetik eine Grenzerfahrung, die zugleich den Übertritt in eine andere Landschaft durch die Überschreitung rationaler Ordnungen wagte. “Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht”, schreibt Novalis in seinen Hymnen an die Nacht stellvertretend für viele andere: “daß aus alten Geschichten du himmelsöffnend entgegentrittst und den Schlüssel trägst zu den Wohnungen der Seligen”.1 Karl Heinz Bohrer hat diese romantische Ästhetik überhaupt mit Bezug auf das Undarstellbare und die Grenzen des Ästhetischen zu erhellen versucht, vor allem mit Blick auf die Evokation eines “absoluten Präsens”, das nur aporetisch zum Vorschein gebracht werden kann:2 als Gewahrung des Fremden oder
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Novalis: Hymnen an die Nacht (1799/1800). In: Novalis: Werke in einem Band. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München/Wien: Hanser 1981. S. 147–177. Hier: S. 153. 2 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen. München/Wien: Hanser 1998. S. 9–36. Vgl. auch Bohrer: Plötzlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. S. 43–85, sowie Bohrer: Das absolute Präsens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. S. 8–31.
36 Seltsamen beispielsweise in den Märchen von Ludwig Tieck, als Einbruch des Grundlosen und Unsinnigen in Achim von Arnims Majoratsherren oder als Erfahrung des Unheimlichen und Unverständlichen, wie sie Friedrich Schlegel in seinen Athenäums-Fragmenten und den späteren Gesprächen über die Poesie für das philosophische Denken geltend gemacht hat. Sämtlich gemahnen sie an eine “Ästhetik des Erhabenen”, die dem Ereignishaften folgt und mit jedem Maß und jeder Vorstellungskraft bricht. Folgerichtig weisen sie die Rhetoriken des Mimetischen und der Abbildlichkeit zurück: Caspar David Friedrichs Mönch am Meer (1808–1810) oder die den unkontrollierbaren Elementen ausgesetzten Schiffbrüchigen in Theodore Géricaults monumentalem Floß der Medusa (1818–1819) lassen jede Distanz zum Betrachter schwinden, um den Augenblick, die Gegenwart des Ereignisses selber darzubieten.3 Gleichzeitig bereiten sie die “Entdeckung des Unbewußten” vor, das den Vernunftglauben der Aufklärung endgültig verwirft und dessen Spur vom Mesmerismus über Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung bis zu Sigmund Freuds Traumdeutung führt.4 So waren die Pathologien des Unbewußten schon angekommen, lange bevor sie Freud systematisierte, vor allen im Medium der Künste und deren Gesänge an den “heiligen Wahnsinn” (Friedrich Hölderlin) und seiner Nähe zu den Mysterien der Religionen und ihrer Abkünfte, den ‘unheiligen’ Obskurantismen und Magien, die alle erdenklichen Reiche des Irrationalen und Phantasmatischen weckten.5 Es scheint, daß Friedrich Nietzsche sich in seiner Kunstphilosophie nur daran anschließen mußte, um das Ästhetische, wie Martin Heidegger pointiert, ganz aus dem “Rausch” zu verstehen.6 Damit verbunden sind zwei weitere Bestimmungen, die dem ästhetischen Offenbarungskult der Romantik gleichfalls zu entspringen scheinen: zum einen die Kunst als ausgezeichnete Gestalt des “Willens zur Macht” sowie zum zweiten die Kunst als ‘höchste’ Form der Wahrheit. Dennoch trägt Nietzsche in den Konnex der Begriffe eine Reihe charakteristischer Verschiebungen ein, die seine Kunsttheorie ins Antiromantische verrücken. Sie berühren insbesondere die Frage, was Nietzsche mit “Rausch” meinte und inwieweit sich Kunst in ihm – statt in der “Gestalt” oder dem “schönen Schein” – entfaltet. Dabei wird sich zeigen, daß der Schlüssel dieser Verschiebungen in der Trennung zwischen Rausch und Traum zu finden ist, wobei der erstere dem 3
Vgl. zum Floß der Medusa Dietmar Schings: Endspiel in schwerer See. In: Frankfurter Rundschau. 4. Januar 2003. S. 19. 4 Vgl. Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Zürich: Diogenes 1985. 5 Wie sehr dies auf konkrete Weise mit Drogenerfahrungen verbunden war, dazu Reiner Dieckhoff: Rausch und Realität. Literarische Avantgarde und Drogenkonsum von der Romantik bis zum Surrealismus. In: Rausch und Realität. Hg. von Gisela Völger und Karin von Welk. 3 Bde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981. Bd. 2. S. 692–736. 6 Vgl. Martin Heidegger: Nietzsche (1936–1946). 2 Bde. Pfullingen: Neske 1961. Bd. 1. S. 109ff.
37 Riß, der Differenzsetzung zugeordnet wird, während letzterer dem traditionellen Kunstverständnis bis zu seiner extremen Subjektivierung in der Romantik verhaftet bleibt. Der Riß und die Differenz aber eröffnen anderes, nämlich Kunst als eine Serie von Verfahrensweisen, die vor allem der Negation und den Figuren des Widerspruchs genügen, woran das Ästhetische sein Reflexionsprinzip findet. Nietzsche führt dies kaum aus, vielmehr deutet er es lediglich an. Gleichwohl besitzt seine Kunstphilosophie darin ihren antiromantischen Zug. Deren Aktualität besteht entsprechend in ihrem entschieden produktionsästhetischen Ansatz, der den rezeptionsästhetischen Engführungen gegenwärtiger Kunsttheorien, die Kunst allein den Erfahrungen zuzuschreiben scheinen, die sie auslöst, entgegenzusetzen wäre. Gegen ältere, der Hermeneutik entstammende Ansätze der Rezeption als Interpretation setzen so jüngere Rezeptionsästhetiken ausschließlich auf “Wirkungen”; doch erlaubt die Kunstphilosophie Nietzsches insofern eine Revision, als sie die “Exzentrik” des Rausches, die scheinbar ganz dem Effekt gehorcht, als “Ekstasis” versteht, die nicht im romantischen Sinne dem Künstler-Genie zuzuschreiben wäre, sondern den Lebenspraktiken der Künste selbst. Im folgenden werden ‘Rausch’ und ‘Differenz’ zusammengedacht und wird die ästhetische Praxis der Künste als eine Differenzpraxis ausgewiesen, die die Fraktur, die Spaltung und die Reflexion miteinander vereint. Der Sinn von ‘Rausch’ ist dann nicht länger einer des ‘Traums’ oder des ‘Unbewußten’ im Sinne eines Verlustes rationalen Bewußtseins, sondern im Gegenteil die ‘Destruktion’ von Gestalt und Identität, die auf die Erfahrung von “Ex-sistenz” selbst geht und entsprechend den Begriffen und ihren Bestimmungen noch vorausliegt oder diese nicht einmal benötigt.
II. Bekanntlich knüpft Nietzsche das Band zwischen Kunst und Rausch vor allem in seiner Richard Wagner gewidmeten Schrift Die Geburt der Tragödie von 1871.7 Sie wird dort, ebenso wie in den zeitgleich entstandenen Schriften Die dionysische Weltanschauung8 und Die Geburt des tragischen Gedankens,9 aus der “Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen” gefaßt. Sie bildete Nietzsches genuinen Einfall, den er in die Philologie wie in die Kunstphilosophie einführte, auch wenn der Gedanke bereits zuvor in der Luft zu liegen schien,10 7
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Versuch einer Selbstkritik (1871/1886). In: Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1999. Bd. 1. S. 9–156. Besonders S. 25–156. 8 Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung (1870). In: Nietzsche (wie Anm. 7). Bd. 1. S. 551–577. 9 Friedrich Nietzsche: Die Geburt des tragischen Gedankens (1870). In: Nietzsche (wie Anm. 7). Bd. 1. S. 579–599. 10 Heidegger erinnert vor allem an Jacob Burckhardt und Friedrich Hölderlin (vgl. Heidegger [wie Anm. 6]. S. 123f.).
38 doch bleibt fraglich, wie er zu verstehen ist. Zunächst als “Doppelquell”, als “Stilgegensätze”11 oder komplementäre, “ineinander gewobene” und “in ihren höchsten Zielen verschiedene” “Kunsttriebe”12 konzipiert, hält sich ihre ‘Leitmotivik’ trotz mehrfacher Umdeutungen im gesamten philosophischen Werk Nietzsches. Noch die Götzen-Dämmerung13 handelt von ihr genauso wie zahllose Stellen der Nachlaß-Schriften, besonders aus dem Umkreis des sogenannten Willens zur Macht, wobei die zunehmende Radikalisierung ihres Sinns auffällt. “Duplizität” bedeutet jedoch bereits im Kontext der Geburt der Tragödie Unterschiedliches. So spricht Nietzsche einerseits vom “ebenso dionysische[n] als apollinische[n] Kunstwerk der attischen Tragödie”, vom “gemeinsame[n] Ziel beider Triebe”14 oder auch von disparaten “Wege[n] zum Kunstschaffen”,15 andererseits von ihrem “Gegensatz”,16 ihren im “tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen” Positionen.17 Dabei verdankt sich ihre Opposition einer Anzahl begrifflicher Unterscheidungen, zu denen als Attribute des Apollinischen “Traum[]”, “Traumbild”18 sowie “Schein”19 und “Maske”20 gehören, während dem Dionysischen die Kennzeichen “Rausch[]”,21 “ekstatische” Feier und “Uebermaass”22 zukommen. Sie werden später gegeneinander aufgehoben und beide zu Unterarten derselben Exzentrik und desselben Exzesses erklärt: “Was bedeutet aber der von mir in die Ästhetik eingeführte Gegensatzbegriff apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen?”, fragt beispielsweise die Götzen-Dämmerung,23 wobei Nietzsche in Beantwortung der Frage keinen Zweifel daran läßt, daß der Rausch der “ästhetische Grundzustand” bedeutet und der Traum und das Imaginäre ihm nicht entgegenzusetzen sind, sondern sein Korrelat bilden, das die Kunsthaftigkeit der Kunst allererst definiert. Die Radikalisierung der Position korrespondiert mit der Überwindung der romantischen Kunstauffassung, wie sie zur Zeit von Die Geburt der Tragödie
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Nietzsche (wie Anm. 8). S. 553 resp. (wie Anm. 9). S. 581. Nietzsche (wie Anm. 7). S. 25, 38, 82, 103. 13 Vgl. z.B. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (1888). In: Nietzsche (wie Anm. 7). Bd. 6. S. 55–161. Hier: S. 117f. 14 Nietzsche (wie Anm. 7). S. 42. 15 Nietzsche (wie Anm. 8). S. 564. 16 Nietzsche (wie Anm. 7). S. 30. 17 Ebd. S. 103. 18 Ebd. S. 26f. 19 Ebd. S. 26f., 39. 20 Ebd. S. 65. 21 Ebd. S. 26 resp. (wie Anm. 8). S. 553. 22 Ebd. S. 40 resp. S. 565. 23 Nietzsche (wie Anm. 13). S. 117. 12
39 und der ehrfurchtsvollen Verneigung vor dem Werk Richard Wagners24 noch dominierte, auch wenn die Idee der Duplizität der Sache nach den späteren Streit unausweichlich machte, wie auch Heidegger zu Recht bemerkte.25 Denn der dort nahegelegte Antagonismus zwischen “Traum” und “Rausch” als der “Gegensatz” zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen bezeichnet im Tieferen die Differenz zwischen einer traditionellen, als Formästhetik verstandenen Ästhetik, woran, bei aller Entgrenzung, noch die romantische Kunst partizipierte, und einer neuen, erst noch zu entwickelnden Ästhetik des Schaffensprozesses und des schöpferischen Prinzips. Dies wird auch deutlich, wenn die Zuordnungen Apollons nebeneinander gestellt werden: Sein Ort, heißt es in der kleinen Schrift Die dionysische Weltanschauung, sei das traumhaft geschaute Leben, sein telos die Gestalt, das Bild, die Statue26 oder auch die “Plastik”, wie Die Geburt der Tragödie ergänzt, deren Gestaltung stets dem “schönen Schein”27 und ihrem “Gesetz”28 der “maassvolle[n] Begrenzung”29 gehorcht. Die Begriffe verweisen sämtlich auf das klassische, die Ästhetik seit Platon beherrschende Format der Mimesis, die ihre Erfüllung in der Identität von Form und Stoff findet und deren höchster Punkt die “Schönheit”30 ist. Sie verweisen ebenfalls auf die Kantische Lehre des Schönen, das nicht aus dem Stoff, der Materialität der Farbe oder Ähnlichem hervorgehen kann, sondern allein aus der Form, deren Beurteilung “als schön” notwendig ins Paradoxe mündet, weil das Urteil, das die Feststellung trifft, die Form “als Blöße” zugleich affirmieren und “als konkrete Gestalt”, als Bestimmung negieren muß.31 Demgegenüber beschreibt Nietzsche die dionysische Kunst, die er zunächst noch ganz Schopenhauerisch von der “unbildlichen Kunst der Musik”32 her erklärt, aus dem “Spiel mit dem Rausche”.33 Wesentliches Merkmal des Dionysos sei danach der Bruch mit dem “principium individuationis”, den Verkörperungen der Repräsentation,34 denn in ihm offenbare sich die rohe “Kunstgewalt der Natur”.35 Doch weit über Schopenhauer hinaus, der der Musik insofern einen
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Vgl. besonders Nietzsche (wie Anm. 7). S. 43ff., 49, 51. Heidegger (wie Anm. 6). S. 101ff. 26 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 8). S. 563. 27 Nietzsche (wie Anm. 7). S. 26. 28 Ebd. S. 40. 29 Ebd. S. 28. 30 Ebd. 31 Vgl. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (1978). Wien: Passagen 1992. Bes. S. 152ff. Ferner: Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. S. 115ff. 32 Nietzsche (wie Anm. 7). S. 25, auch S. 34, 43ff., 103. 33 Nietzsche (wie Anm. 8). S. 554f., 567 resp. (wie Anm. 9). S. 583. 34 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 8). S. 554f. 35 Ebd. S. 555. 25
40 Sonderstatus einräumte, als sie nichts darstelle, sondern den “Willen” selbst manifestiere, belegt Nietzsche die Erfahrung des Dionysischen mit der Kraft und dem Chaos, denen gleichermaßen das “Titanische” und “Barbarische”36 wie das “Grausen”37 und der “Schrecken”38 zugeordnet werden. Entsprechend bewirke es eine “Zerreissung”39 aller Bildungen und Orientierungen sowie die “Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins”40 und eröffne gerade dadurch ein “Nieempfundenes”, ein Anderes oder Neues, das den Riß der “Individuatio”, seine rückhaltlose Negation voraussetze.41 Das Entscheidende am Dionysischen sei folglich seine Negativität, wodurch der “Satz vom Grunde […] eine Ausnahme zu erleiden” scheine und der Mensch “plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre”42 werde und in die Nähe der “Wahrheit” der Natur und des “Lebens” gerate:43 Apollo steht vor mir als der verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysos der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt.44
Repräsentiert somit Apollon die Sprache der Form, deren überliefertes Prinzip die Identität oder deren romantische Kritik das Fragment ist, dessen Unabschließbarkeit gleichwohl an ihm festhält, weil das Siegel des “Maass[es]”, das Nietzsche ihm zuweist,45 selbst da noch gilt, wo nurmehr Brüchiges möglich erscheint, bedeutet Dionysos hingegen die Sprache der Differenz, die in der Negation gründet und sich einzig im Negativen ausbuchstabieren läßt. Deswegen verbindet eine Nachlaß-Notiz aus dem Jahre 1885 die Gottheit mit “Diabolus”:46 Das singulär dastehende Wort meint weniger die Verführung, als das Prinzip des Diabolischen als Negativum schlechthin.
III. Die Negativität erscheint hier insbesondere als notwendiges Moment von Kreativität. Nietzsche denkt das Schöpferische weniger aus der creatio, 36
Nietzsche (wie Anm. 7). S. 40; auch S. 71. Ebd. S. 28. 38 Ebd. S. 39. 39 Ebd. S. 33. 40 Ebd. S. 56. 41 Vgl. Nietzsche (wie Anm. 8). S. 577. 42 Nietzsche (wie Anm. 7). S. 28. 43 Ebd. S. 56. 44 Ebd. S. 103. 45 Ebd. S. 40. 46 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. In: Nietzsche (wie Anm. 7). Bd. 11. S. 472f. (34 [155]). Hier: S. 473. 37
41 als vielmehr aus dem Riß, der Differenz. Dazu paßt ebenso die von Nietzsche privilegierte Rhetorik des Schreckens, wie sie sich namentlich an die “Ästhetik des Sublimen” seit Edmund Burke anlehnt. Mehrfach spielt Nietzsche auf die Erfahrung des Erhabenen47 in Gestalt der “künstlerische[n] Bändigung des Entsetzlichen” an;48 im Augenblick des Dionysischen verblaßten die “Künste des ‘Scheins’ […] vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen”:49 “Der Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches […]: auf den unverhüllten und unverkümmert grossartigen Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung; hier war die Illusion der Cultur von dem Urbilde des Menschen weggewischt”, um zuletzt in die Abgründigkeit der Welt zu blicken: “Ekelgedanke über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins”.50 So gewahre sich ihm, wie Nietzsche weiter schreibt, die Sinnlosigkeit des Seins: “Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesammten Erscheinungswelt”.51 Was hier pathetisch in Begriffen einer höheren Wahrheit, die später selbst noch als Illusion entlarvt wird, ausgesprochen wird und einen weiteren Gegensatz, der das Denken Nietzsches durchzieht, anklingen läßt, nämlich den zwischen “Reflectiren” und “wahrer Erkenntniss”52 oder Vernunft und Leben, weist gleichwohl auf eine elementare “Differenzerfahrung”, die sich im Sinne des Erhabenheitsdiskurses als ein “Aufscheinen” von “Existenz” apostrophieren läßt.53 Das Dionysische ist der Moment jenes Risses, der im Wortsinne dem “Aufriß” von Präsenz gleichkommt, jener grundlegenden Erschütterung, um mit Heidegger zu sprechen, “daß Seiendes ist und nicht vielmehr nicht ist”.54 In immer neuen Wendungen und Formulierungen hat Nietzsche diesen außerordentlichen Moment ebenso festzuhalten versucht wie mystifiziert: “Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln”.55 Gleichzeitig spricht Nietzsche von der “Erlösung” in “mystische[r] 47
Vgl. etwa Nietzsche (wie Anm. 7). S. 57. Nietzsche (wie Anm. 8). S. 567. 49 Nietzsche (wie Anm. 7). S. 40f. 50 Ebd. S. 57. 51 Ebd. S. 58f. 52 Ebd. S. 57. 53 Vgl. Jean-François Lyotard: Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen (1991). München: Fink 1994 (Bild und Text), sowie Dieter Mersch: Das Entgegenkommende und das Verspätete. Zwei Weisen, das Ereignis zu denken: Derrida und Lyotard. In: Im Widerstreit der Diskurse. Hg. von Dietmar Köveker. Berlin: Wissenschaftsverlag 2004. S. 69–108. 54 Vgl. z.B. Martin Heidegger: Grundfragen der Philosophie (1937/1938). Frankfurt a.M.: Klostermann 1984. S. 2 (Gesamtausgabe 45). 55 Nietzsche (wie Anm. 7). S. 35. 48
42 Einheitserfahrung”56, vom “Wahrhaft-Seienden und Ur-Einen” und “wahren Blick in das Wesen der Dinge”,57 der der “entzückenden Vision” einer Entrückung bedarf.58 Nietzsche scheint folglich die Duplizität des Apollinischen und Dionysischen aus der Disparität zweier unterschiedlicher Ästhetik-Vorstellungen zu modellieren, wobei erstere dem Erbe der Tradition angehört, während das Dionysische, geboren aus der romantischen Überhöhung des “Erhabenen”, etwas ankündigt, was erst die avantgardistische Moderne aufnehmen sollte: eine “Ereignis-Ästhetik”, deren wesentlicher Kern die “Destruktion” ist, die das Positive der Form, des Mediums und der Darstellung, mithin die Elemente der klassischen Ästhetik voraussetzt, um sie zu brechen und in sie den Differenzpunkt ihrer Auflösung einzutragen. Gleichzeitig werden ihnen zwei entgegengesetzte Erkenntnisformen zugeordnet: das Gesetz der Selbstbeschränkung und Selbsterkenntnis, das den Künstler als Autor und Subjekt entwirft, welcher den Autoritäten seiner intentio, seiner Inspirationen und Empfindlichkeiten folgt, sowie die Erfahrung der Wunde, die Verletzung und das Unheile, die den Künstler als Ausnahmeerscheinung, als Stigmatisierten stilisieren, der – gemäß den Selbstbeschreibungen früher Avantgardisten wie Arthur Rimbaud, Lautréamont oder Antonin Artaud – versehen mit den Malen seines Opfers den Namen einer höheren ‘Wahrheit’ auszusprechen vermag. Scheint Nietzsche, zumindest zur Zeit der Abfassung von Die Geburt der Tragödie, den Radikalisierungen der Spätromantik noch erlegen zu sein und deren innere Linie fortzuschreiben, wurzelt die Gegenüberstellung von Apollinischem und Dionysischem bereits in einer tieferen Opposition, die auf die avantgardistischen ‘Destruktionen’ vorweist, die die künstlerische Praxis in ein anderes Terrain überführen. Nietzsche deutet diese Möglichkeit an, ohne sie auszuführen. Sein Verweis auf die dionysische Kraft der Negation lockert bestenfalls jene extreme romantische Fixierung auf das Künstlersubjekt und sein außerordentliches Genie, das Nietzsche zweifellos immer verklärt hat, indem sie insofern die Spaltung mitten durch die Seele führt. Gleichzeitig verwirft sie die ‘bisherigen’Ausdrucksmedien, um das freizusetzen, was keine Darstellung besitzt und keine Symbolisierung duldet. Denn das Ereignis, das ‘Daß’(quod) der “Ex-sistenz”, zu dem hin die Erfahrungen des Dionysischen zu öffnen scheinen, “gibt es” nur dort, wo die Sprache, das Bild und entsprechend die Formen der Repräsentation zerstört werden, wo mithin die “Differenz” das Mediale teilt, um durch es hindurch ein Anderes, Unsichtbares oder Undarstellbares zu zeigen. Die Unterscheidung, die auf diese Weise virulent wird, verläuft entsprechend zwischen dem Schein und der Erscheinung in der Bedeutung des ‘Was’, das seine Geltung und Bestimmung aus der Individuation bezieht, und der “Erscheinung 56
Ebd. S. 30. Ebd. S. 56. 58 Vgl. ebd. S. 38. 57
43 der Erscheinung” im Sinne des ‘Daß’ (quod), jener Ereignishaftigkeit einer Präsenz, die nie positiv “erscheint”, sondern immer nur negativ gefaßt werden kann.59 Das meint auch: Solange es die Kunst mit der Form, der Darstellung oder der techne– zu tun hat, bleibt sie an Medien gebunden und verfährt daher apollinisch; sobald sie aber diese umstürzt und überschreitet, kann Dionysisches als ihr heterogenes Moment auftauchen, wovor zugleich Begriff und Bestimmung versagen. Das Medium konstituiert, gestaltet und versinnlicht; seine Fraktur oder Brechung konfrontiert hingegen mit einer Lücke, einem “Durchriß”, wodurch die “Unfüglichkeit” einer “Ex-sistenz” im Sinne des “aus sich” Heraustretenden zum Vorschein gelangt. Wir haben es dann mit einer ‘anderen’ Gegenwart zu tun, nicht einer, deren Präsenz bereits im Zeichen oder seiner Auszeichnung, seiner Rahmung oder Inszenierung verbürgt ist und die Jacques Derrida unter das Signum der “Nachträglichkeit” und der unvermeidlichen Apräsenz gestellt hat,60 sondern einer, worin sich die Erfahrungen des Negativen und der Alterität kreuzen und die allein dort statthat, wo sich ein Widerspruch ereignet. Deswegen spricht Nietzsche auch von der “Sprengung” des principium individuationis sowie – in mißverständlicher Festhaltung an subjektphilosophischen Termini – von der “Steigerung des Subjectiven zu völliger Selbstvergessenheit”,61 dem, wie es in einer Nachlaß-Notiz aus dem Jahre 1869 heißt, “Ausser-sich-sein” einer “Ekstasis”.62 Evozierbar einzig jenseits des Medialen, erfordert es gleichwohl eine Medialität wie deren Zersetzung und Unterlaufung: Die Ereignisästhetik supponiert die Formästhetik ebenso sehr wie sie sie zerschlägt. Von einer “Steigerung des Subjectiven zu völliger Selbstvergessenheit” kann demnach sinnvoll nur gesprochen werden, wo die Subjektivität des Subjekts ebenso wie die Medialität des Mediums gleichermaßen gerettet wie erschüttert und transzendiert werden. Der Übergang von der Form- zur Ereignisästhetik impliziert so die Entsubjektivierung des Schaffensprozesses – “das Subjektive verschwindet ganz vor der hervorbrechenden Gewalt des Generell-Menschlichen, ja des Allgemein-Natürlichen”,63 heißt es in Die dionysische Weltanschauung: “Die Kunstgewalt der Natur, nicht mehr die eines Menschen, offenbart sich hier”.64 Nietzsche greift damit auf jenes Diktum vom “Tod des Autors” vor, das erst später durch die Theorien des Poststrukturalismus und der Intertextualität 59
Vgl. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink 2002. S. 355ff. 60 Jacques Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation (1966). In: Derrida: Die Schrift und die Differenz (1967). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972. S. 351–379. Besonders S. 373ff. 61 Nietzsche (wie Anm. 7). S. 29. 62 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1869–1874. In: Nietzsche (wie Anm. 7). Bd. 7. S. 9f. (1 [1]). Hier: S. 10. 63 Nietzsche (wie Anm. 8). S. 555. 64 Ebd.
44 seine eigentliche Erfüllung fand. Gleichzeitig hält er sich aber in einer systematischen Zweideutigkeit oder Unbestimmtheit, weil das Subjekt nur aufgrund der Subjektivität des “Lebens” und der Künstler lediglich als ein im Rausch Entmächtigter überwunden und “geheiligt” werden kann. Im Dionysischen zeichnet sich damit ein Vorschein ab, für den Nietzsche, der auf ihn zudachte, noch nicht reif war. Es fragt sich, was, wo das Subjekt fehlt, an seine Stelle treten kann – und ebenso, was Kunst und künstlerisches Verfahren, wo das Mediale durch seine Fraktur, seinen Riß gegangen ist, bedeuten können.
IV. Überall steuert Nietzsche auf etwas zu, was ihm im selben Augenblick wieder zu entgleiten droht; erst die spätere Radikalisierung wird die Befangenheit im Duplizitären lösen. “[I]ch hatte […] das wundervolle Phänomen des Dionysischen als der erste begriffen”, heißt es in Ecce homo;65 in seinem Erstlingswerk habe er in aller Heimlichkeit und Einsamkeit ein “Opfer” dargeboten, “denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals that”, fügt er in Jenseits von Gut und Böse hinzu.66 Dennoch hat Nietzsche Die Geburt der Tragödie selber als “romantisch” verworfen – nicht nur in der später hinzugefügten “Selbstkritik”, die vor allem den “Sprachkitsch” geißelt, vielmehr findet sich unter den Aufzeichnungen zwischen 1885 und 1886 unter dem Stichwort “Zur ‘Geburt der Tragödie’ ” die Bemerkung: “Ein Buch […] mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde. Zugleich ein Romantiker-Bekenntniß”.67 Es habe die Erlösung von Schein und Illusion als die klassischen Kunstziele durch das Werden gesucht, wobei die “Vernichtung auch des schönsten Scheins” den Gipfel des “dionysische[n] Glück[s]” bedeute.68 Ausdrücklich konstruiert hier Nietzsche einen Gegensatz zwischen romantischer Kunst und dionysischer,69 letztere versehen mit dem Flor des ebenso zerstörenden wie gebärenden, des gleichermaßen schaffenden wie vernichtenden Rausches, der die Ästhetik der Gestaltung und Darstellung wie des kreativen, in Imagination schwelgenden KünstlerSubjekts hinter sich läßt. Unabhängig vom darin sich selbst feiernden Pathos entzieht Nietzsche auf diese Weise die Kunst dem Künstler und denkt so auf ein Kunstverständnis zu, das des souveränen “Formwillens” so wenig bedarf wie der vorgreifenden Inspirationen eines aktiv Schaffenden: “Das Kunstwerk, 65 Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist (1888). In: Nietzsche (wie Anm. 7). Bd. 6. S. 255–374. Hier: S. 310f. 66 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886). In: Nietzsche (wie Anm. 7). Bd. 5. S. 9–243. Hier: S. 238. 67 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887. In: Nietzsche (wie Anm. 7). Bd. 12. S. 115f. (2 [110]). Hier: S. 115. 68 Ebd. S. 116. 69 Vgl. ebd. S. 117 (2 [111]).
45 wo es ohne Künstler erscheint, z.B. als Leib”, lautet ein Fragment des Nachlasses: “Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Was bedeutet das ‘Subjekt’ – ?”.70 Beide Bestimmungen gehören zusammen: das Dionysische als das Negative – und das Dionysische als die subjektlose Kunst, als eine, die sich vom autonomen und zugleich schöpferischen Subjekt befreit. Die Notizen fallen in etwa zusammen mit der Totalisierung des Rausches in der Götzen-Dämmerung. Hatte Die dionysische Weltanschauung noch vom “Spiel mit dem Rausch” gesprochen, heißt es nunmehr: “Damit es Kunst gibt, damit es irgend ein ästhetisches Tun und Schauen gibt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch”.71 Und das Wesentliche des Rausches sei die “Kraftsteigerung”,72 man könnte ergänzen, die “Kraft” im Sinne der “Überfülle des Lebens” selbst, die die Gestalt schöpft im Hinausgreifen über die Person. Der Rausch und das Dionysische avancieren jetzt zum Lebensprinzip als einem Lustprinzip der Kreativität. Kunst gründet in dieser Kreativität und nicht in der Gestalt (eidos) oder in der Darstellung, dem Ausdruck. Entsprechend ist die spätere Philosophie Nietzsches überhaupt durch eine Ausweitung des dionysischen Prinzips gekennzeichnet; Dionysos sei – so Nietzsche in einer NachlaßNotiz aus dem Jahre 1885 – “[d]er Philosoph als Künstler”.73 Heidegger hat seine Interpretation der Ästhetik Nietzsches daran geknüpft und die “Fülle” und “Kraftsteigerung” als “Wille zur Macht” und die Kunst als dessen “ausgezeichnete Gestalt” gedeutet.74 Offenbar sei der “ästhetische Zustand des Rausches” bei Nietzsche “das Gegenteil” von Kants “interesselosem Wohlgefallen” – und zwar in doppelter Weise: nämlich zum einen in Ansehung des ästhetischen Urteils, das die Kunsterfahrung an die Rezeptivität bindet, und zum anderen hinsichtlich der Passivität der Aufnahme, der “Freigabe” dessen, “was ist”.75 Demgegenüber verweise Nietzsches Rauschhaftigkeit der Kunst auf das “Gefühl”, den Leib. Rausch ist Intensität, Überschuß bzw. das, was Nietzsche immer wieder mit dem Ausdruck “Kraft” belegt und als das Schöpferische schlechthin bezeichnet hat. Nietzsches Kunstphilosophie ist darum anders als die Kantische weit von aller Rezeptionsästhetik entfernt; sie verfährt produktionsästhetisch, und zwar so, daß sie das Prinzip der Produktivität selbst zu ihrem Ausgangspunkt erhebt. Obgleich Nietzsche, trotz aller Entmächtigung und Entgrenzung, die Kunst weiterhin vom Künstler her denkt, tut er dies nicht vom Zentrum seiner Subjektivität her, sondern weit eher von der “Exzentrik” seiner außer-sich-seienden Positionalität im Augenblick der creatio, die 70
Ebd. S. 118f. (2 [114]). Nietzsche (wie Anm. 13). S. 116. 72 Ebd. 73 Nietzsche (wie Anm. 46). S. 489 (34 [201]). 74 Heidegger (wie Anm. 6). S. 109ff. 75 Ebd. S. 129. 71
46 Heidegger auch mit dem “Leiben” eines “Leibs” in Verbindung bringt.76 Ebenso wie Helmuth Plessner die Differenz zwischen “Körperhaben” und “Leibsein” zieht, unterscheidet Heidegger in bezug auf Nietzsches Rausch-Begriff zwischen “Rausch-haben” und “Rausch-sein”. Der Künstler als Schaffender ‘ist’ Rausch; er ist von ihm eingeholt, gleichsam umhüllt. Deswegen kann – nach den Plänen des “Willens zur Macht” – Nietzsche auch von der “Physiologie der Kunst” sprechen, die er selbst als “Natur-Kunst-Gewalt” bezeichnet.77 Die Produktivität des künstlerischen Schaffens ist danach kein Affekt, sondern eine nichtintentionale Dynamik; sie gemahnt weit eher an eine “Besessenheit”, d.h. an die Passivität einer Alterität.78 Nietzsche, wie Heidegger ebenfalls hervorhebt, fragt somit nicht nach dem Werk oder der Verbindung zwischen Werk und Autor, sondern primär nach dem Lebensvollzug des Schöpferischen, der Kreativität, deren Wirkungen sich in der Kunst und ihrer Intensität abzeichnen. Nietzsches produktionsästhetischer Zugriff reicht allerdings nur bis dorthin: Eine unbändige Kraft, die den künstlerischen Prozeß ebenso treibt, wie sie den geschaffenen Objekten selbst entspringt und sich ereignishaft überträgt. Das Ereignis meint dabei ein Doppeltes: Akt einer anderswo geschehenden Setzung, die umgekehrt Effekte zeitigt, die den Betrachter gleichermaßen “ent-setzen”, wie ihn an jenen ‘anderen’ Ort zu versetzen, an dem das Erscheinende seinem Schein entzogen bleibt, um es gleichsam mit dem ‘Schlag’ einer Gewalt zu empfangen. Was derart ausschließlich in Metaphern der “Macht” und des Irrationalen benannt wird, hat Heidegger indessen in seinem eigenen Zugang zur Kunst zu präzisieren versucht. Denn an zentraler Stelle in Der Ursprung des Kunstwerkes führt er das “Hervorragen” des Werkes auf das factum est seines eigensten Bestandes zurück.79 Kunst ergehe aus dem Moment eines Schocks, wobei Heidegger insbesondere vom “Stoß ins Un-geheure” spricht,80 der ins “Daß” aussetzt und dabei eine Umkehrung der Wahrnehmung in jene Aufmerksamkeit gewährt, die auf das achtet, was sonst unbemerkt bleibt: Erfahrung der Ungeheuerlichkeit der Ex-sistenz, als Einfachheit des “Da” oder als Verwirrung und Umsturz des “Geläufigen” oder Vertrauten, welcher ebensosehr einen Neubeginn induziert: “Immer, wenn Kunst geschieht, das heißt, wenn ein Anfang 76
Ebd. S. 119. Ebd. S. 120. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hinzugefügt, daß sich Nietzsche mit dem Ausdruck “Physiologie” zwar auf die Naturwissenschaften seiner Zeit bezieht, diesen aber eher metaphorisch verwendet. 78 Vgl. Dieter Mersch: Besessenheit. Zur Struktur des Verlangens. In: Große Gefühle. Ein Kaleidoskop. Hg. von Ottmar Ette und Gertrud Lehnert. Berlin: Kadmos 2007. S. 101–114. 79 Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes (1936/1956). Stuttgart: Reclam 1960. S. 73. 80 Ebd. S. 77. 77
47 ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an. […] Der Anfang enthält immer die unerschlossene Fülle des Ungeheuren”.81 Eben dies meint auch für Heidegger das Wort “Ur-Sprung”: Sprung in die Ereignung eines ebenso undenkbar wie unaussprechlich Anderen.
V. Die Differenz, der Bruch ist demnach das, was gleichermaßen von der künstlerischen Produktion ausgeht wie er durch sie geschieht. Nietzsches produktionsästhetisch begründeter Zusammenhang zwischen Kunst und Ereignung fußt auf dieser Gleichzeitigkeit von Differenzerfahrung und Differenzsetzung. Das Ereignis ist die Differenz, wie umgekehrt die Differenz durch die Instaurierung eines Risses im Künstler und seinem Medium vollzogen wird. Doch bleibt bei Nietzsche alles unbestimmt – weil, so der Kommentar Heideggers, bei ihm “[a]lles […] zur Kunst [gehört]. Die Kunst wäre dann nur ein Sammelwort, nicht der klare Name einer in sich gegründeten und ausgegrenzten Wirklichkeit”.82 Ersichtlich besteht das Problem darin, daß auf diese Weise die kreative Produktivität zwar beschworen, nicht aber verstanden wird; sie gleicht dem Leben, seiner Macht und leiblichen Präsenz. Ihr eignet folglich eine Mystifikation, die sie dem “Willen zur Macht” zuordnet und die dadurch nicht minder metaphysisch argumentiert als die Kunstauffassung, wogegen sie streitet – besonders die Kunstauffassungen Platons und Hegels. Dachte Hegel die Kunst vor allem aus der Darstellung, dem “sinnlichen Scheinen der Idee”, ordnete sie Platon der techne– als mimetische Praxis zu, die letztlich poietisch verfährt. Nietzsche totalisiert stattdessen die Fülle des Lebens und stilisiert sie zur künstlerischen Tat. Dagegen käme es auf die Rekonstruktion der jeweiligen Strategien artistischer Produktion an, d.h. auf jene Differenzfiguren, denen sie aufruhen, um das “Ereignis der Differenz” allererst statuieren zu können. Der Ausdruck ‘Strategie’ meint hier indessen keinen benennbaren intentionalen Akt, sondern die Modalität einer Praxis. Sie ist nicht an Subjekte gebunden, sondern an die medialen Praktiken des Experiments. Angezeigt ist damit eine Verschiebung, die das Konzept einer Produktionsästhetik mit Nietzsche über Nietzsche hinaus entwirft, die weder beim Imaginären oder den Inspirationen des Künstlers und seinen “Geniestreichen” beginnt, noch beim “Rausch” als einer ortlosen Besessenheit, sondern bei konkreten Verfahrensweisen, für die nicht wesentlich sind, wer oder was sie setzen, sondern daß sie gesetzt werden.83 Daß gesetzt wird im Sinne eines “Ereignisses der Setzung”, das gleichzeitig eine 81
Ebd. S. 88ff. Heidegger (wie Anm. 6). S. 143. 83 Vgl. auch Dieter Mersch: Medial Paradoxes. On Methods of Artistic Production. In: Critical Composition Today. Hg. von Claus-Steffen Mahnkopf. Hofheim: Wolke 2006. S. 62–74. 82
48 Singularität wie Irreversibilität einschließt, verweist auf das “Performative”.84 Für die Begründung einer produktionsästhetischen Kunsttheorie genügt es darum, anders als bei Nietzsche, statt beim Künstler und seiner Exzentrik, seiner “aktiven Passivität” anzusetzen, allein auf die Performativität der medialen Akte selber zu achten, die den künstlerischen Prozeß, seine Objekte und Manifestationen ebenso anleiten wie steuern. Unerheblich ist dabei, ob es sich um spontane Einfälle oder Interventionen, um Zitate oder Wiederholungen, um Figurationen oder Defigurationen handelt, vielmehr stehen ausschließlich die zur Geltung gebrachten Medien und deren Performanzen, ihr intermediales Zusammenspiel zur Debatte, durch deren Konfiguration und ihre Interferenzen, Friktionen und Widersprüche sich etwas ereignet, was zuvor nicht in ihnen lag und was es aus ihnen in anhaltender Suche, die eigentlich nicht weiß, was sie sucht, und die von ihrer Findung gleichermaßen überrascht wie überzeugt wird, erst hervorzulocken gilt. Der Prozeß ist mit Arbeit, mit Probe und Irrtum assoziiert; in ihm vollzieht sich ein ständiges Changieren zwischen Aspekten und Materialitäten, wobei das Schwierige und Unwägbare vor allem in der genuinen Aporie besteht, mittels Medien etwas hervorzubringen, was selbst undarstellbar bleibt. Kunst ist weder das Resultat eines außerordentlichen Überflusses noch einer beharrlichen Exposition von Effekten oder Aufführungen, vielmehr das Ergebnis von “Umwegen”, Zufällen und Paradoxien, aus deren Mitte allererst das entspringt, was als das “Ereignis eines Sichzeigens” im Sinne von phainestai und ekphanes angesprochen werden kann. Die Intuition Nietzsches bleibt dabei insofern richtungsweisend, als sie gegen die klassische Ästhetik der Gestaltung erneut der “Ek-stase” im Sinne eines Heraustretens, einer aktiven Passivität den unbedingten Vorrang erteilt – einer Ekstase, die freilich nicht auf den Künstler bezogen werden kann, sondern im Medialen und Performativen noch auszubuchstabieren wäre und die kraft intermedialer Klüfte und “Chiasmen” ein Differenzereignis statuiert, das sich expliziter “Ver-Gegenwärtigung” oder “Re-Präsentation” verweigert. Die mediale Ekstase liegt dabei in der Evokation eines Amedialen. Sie geschieht mittels Brüchen oder Widersprüchen, die die Eigenart besitzen, sich einzig indirekt zu manifestieren – in den Zwischenräumen der Szenen oder jenen Leerstellen und Abständen zwischen den Bildern, Worten und Tönen wie auch in Störungen und Dysfunktionalitäten, worin Medien ihr Eigenes enthüllen. Nietzsches “Rausch” wäre entsprechend hier zu suchen – in der Auflösung der Konturen durch die konträre Verwendung medialer Strategien, und zwar so, daß die ausgereizten und im Spiel befindlichen Praktiken gleichsam ihr Anderes, ihr Nichtmediatisierbares offenbaren. Mediale Paradoxa nehmen darin die Rolle ein, die einst der 84
Vgl. Dieter Mersch: Das Ereignis der Setzung. In: Performativität und Ereignis. Hg. von Erika Fischer-Lichte, Christian Horn und Matthias Warstat. Tübingen/Basel: Francke 2003. S. 41–56 (Theatralität 4).
49 Besessenheit zufiel. Sie können nicht entworfen, sondern nur erprobt und getestet werden. Zugleich handelt es sich um Operationen, die die Arbeit des Ästhetischen so wenden, daß systematische Instabilitäten entstehen und Verdrängtes oder Nichtreproduzierbares zum Vorschein gelangt. Die künstlerische Praxis hat an solcher Probe ihr Exerzitium, ihre reflexive Askesis. Was diese sein kann, erweist sich dabei weder als vorherbestimmt noch als antizipierbar – doch geht es stets um die negative Praxis eines Erscheinenlassens des Nichterscheinenden, um die Präsenz einer Nichtpräsenz. Nicht die Form, die Gestalt, das Spiel oder Ähnliches erscheinen maßgeblich, sondern der Spalt, der durch sie für ein anderes Erscheinen freigegeben wird. Mediale und intermediale Paradoxa bilden ihre bevorzugte Mittel. Sie bezeichnen keinen Selbstzweck, kein unverbindliches l’art pour l’art, an denen die Kunst ihr Lustprinzip findet, sondern sind Werkzeuge einer reflexiven Praxis, die anders nicht zu entdecken ist, die aber auf andere Weise auch nicht garantiert werden kann. Sie induziert, in ihrer ganzen Vorläufigkeit, ihrem experimentellen Status und ihrer Unbestimmtheit die Spezifik einer ästhetischen Reflexion, die im Singulären wurzelt und deren Wege Andeutungen und Weisungen gleichen. Der Künstler tritt hinter sie zurück; er versteht sich weniger als Arbeiter an Effekten, denn als Arrangeur des Widersprüchlichen und Unberechenbaren. Er fungiert, mit einem Wort, nicht länger als maître de plaisir, sondern als maître de paradoxe.
Peter Fuchs
Dionysos im System. Anmerkungen zu ‘trunkener’ Sozialität Arguing from the perspective of systems theory, this essay deals with the metaphor of drunkenness with respect to social systems. Since (social) systems are ‘mere’ autopoietic reproductions of differences, they are by necessity neither drunken nor sober. Hence, the social equivalent of ‘drunkenness’ has to be seen as a celebration of an informational indeterminacy, i.e. as a process in which communication has lost its informational quality in favour of a pure self-reference seemingly beyond contingency. In the last chapter of this essay that (dangerous) process is exemplified by Adolf Hitler’s ritualization of November 9 as the remembrance day of his attempted coup in 1923. Guter Geist ist trocken. Niklas Luhmann A drunken man’s words are a sober man’s thoughts. Sprichwort
Die Systemtheorie (zumindest in der Variante, die ich gemeinhin vertrete) hat mit der Trunkenheit, dem Rausch, den Weinnebeln und Schnapsschwaden, mit allem Beschwipsenden und Delirösen als Theorie wenig zu tun. Es dürfte schwer sein, sie dionysisch und in dieser Hinsicht hinreißend beseligend zu finden. Für sie scheint das Apollinische näher zu liegen, das nicht stammelt und nicht lallt und sich kein Ende der Entfremdung, keine Heilung des (europäischen) Menschen erhofft durch die Auswirkungen dionysischer Pharmaka und rauschbedingter Enthemmungspraktiken gleich welcher Art. Diese Theorie ist von serener (und souveräner) Aridität.1 Aber abgesehen von diesem Stil des Denkens sind ihre primären ‘Gegenstände’ Systeme, und wenn und insoweit Systeme als (autopoietische) Reproduktionen von Differenzen begriffen werden, sind sie alles andere als Orte, Räume, physische Kompaktheiten, Subjekte oder Objekte mit Eigenschaften – und aus diesem Grund nicht vergiftbar, absolut nicht berauschungsfähig und weder trunken noch nüchtern. Auf Anhieb scheint es evident, daß zumindest soziale Systeme, die keine Körper und kein Bewußtsein enthalten, Trunkenheit 1
Es ist mehr als bezeichnend, daß Luhmanns ‘Lebensmotto’ lautete: “Guter Geist ist trocken”. Aber auch hier findet sich wieder einmal die Luhmannsche désinvolture, seine Form der grazilen Frechheit, denn Geist, gar guter Geist, ist ein Wort, das für hochprozentige Getränke ebenfalls benutzt wird, so wie das Wort ‘trocken’ für herbe Weine reserviert ist, und so, wie man überhaupt sagt: in vino veritas – oder auch vom ‘Weingeist’ spricht. Daß im Asbach Uralt der Geist des Weines ist, das wird manch einer noch in den Ohren haben.
52 allenfalls zu thematisieren vermögen und niemals in wahnhafte Zustände verfallen, so sehr sie einem Beobachter mitunter erscheinen, als seien sie entfesselt und wie aus den Fugen, als seien sie fähig zu Ekstase, zu Verzückung, zu massenhaft exerzierter Hysterie wie etwa im Falle von Pop-Konzerten, Weltjugendtagen, Massenpaniken oder Kriegsbegeisterungen.2 Trunkenheit sozialer Systeme oder in sozialen Systemen, das kann nur eine Metapher sein oder auf alle Fälle eine schlechte Analogie, die psychosomatische Sonderzustände umstandslos auf Systeme überträgt, in denen keine Dinge, keine Körper, keine Psychen vorkommen, nichts, das man irgendwie als ‘trunken’ auffassen könnte. Oder doch? Immerhin läßt sich behaupten, daß keine Kultur der Welt (be)trunkenheitsfrei ausfällt – vom Gebrauch beliebiger Drogen über Tanz-Trancen und mystische Verzückungen bis hin zu den Zuständen in Fan-Kurven bei Fußballspielen oder propagandistischen Großinszenierungen. Das spricht wegen der ubiquitären Verbreitung des Phänomens prima vista für eine psychisch und sozial bediente Funktion, etwa der, daß alle Trunkenheiten die Möglichkeit der ‘Strukturflucht’ eröffnen: im Rahmen von Strukturen, die nicht selten eigens installiert sind, um solche befristeten Fluchten weitgehend zu tolerieren. Man hätte dann die Vorstellung vorübergehender Entlastungen, Enthemmungen, Befreiungen einer ansonsten gleichsam sozial eingezäunten oder abgesteckten Autopoiesis, die sich hin und wieder Bahn brechen müßte, und damit würde sich die Chance eröffnen, Trunkenheit als sozial fungierendes Entspannungsphänomen zu deuten, als eigentümliches Arrangieren von Desinhibierung in den sonst massiv inhibierend wirkenden Strukturen der sozialen Welt. Aber man hätte auch, wenn man so verfährt, ein im Prinzip sehr schlichtes, aus dem Alltag abgezogenes Bild: Trunkenheit und alle familienähnlichen, weniger pathosfähigen Begriffe würden nichts weiter bezeichnen als eine psychisch und sozial verfügbare Form der Enthemmung – ausgelöst wodurch auch immer. Wir wollen demgegenüber mehr Abstraktion aufbieten, um von diesem wenig instruktiven, eher beschreibenden Modus abzukommen, und deswegen intensiver die Frage stellen: Wofür könnte das Bild der Trunkenheit einstehen, wenn man von autopoietischen Sozialsystemen spricht?
2
Man kann sich weniger evident, aber in derselben Logik die Frage stellen, ob man denn im Unterschied dazu von betrunkenem Bewußtsein sprechen könnte, wenn man es als eine Zeichenspringprozession definiert und keinen Kern in es hineinmodelliert, der es repräsentiert, der also handeln, sprechen, dann auch lallen könnte (vgl. zu diesem Modell Peter Fuchs: Die Psyche. Studien zur Innenwelt der Außenwelt. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2005).
53 I. Autopoiesis ist in der Systemtheorie (und darin abweichend vom Ausgangsmodell der Biologie)3 der Ausdruck für eine ganz spezifische, an Sinnsysteme geknüpfte Temporalität. Autopoietische Maschinen sind Zeitmaschinen, für die gilt, daß sie nicht Ereignisse verknüpfen, die vorliegen und von außen bezogen werden könnten, und: daß die eigenverfertigten Ereignisse, mit deren Hilfe sie sich konstituieren, Verkettungs- bzw. Anschlußleistungen darstellen, Operationen von Bezugnahmen, die niemals an ihren Zeitstellen komplett erscheinen, sondern jeweils durch Anschlüsse, durch weitere Bezugnahmen komplettiert werden. Dabei ist die Komplettierung (darin täuscht das Wort) keine Vervollständigung einer dann ‘existierenden’ Einheit. Sie ist selbst auf anschließende Komplettierung angewiesen, so daß man (ein wenig paradoxal) von einem unaufhörlichen Aufschub von Vollständigkeit sprechen könnte, was unter anderem auch bedeutet, daß solche Systeme sich niemals perfekt beobachten und beschreiben können – weil sie sich durch die immer formgleiche Technik des Aufschubs bzw. der Nachträglichkeit inszenieren, die sich mit dem längst sattsam bekannten (Un-)Begriff der différance benennen ließe.4 Für autopoietische Systeme gibt es demnach auf der Ebene ihrer Operationen (eben dieser différance-basierten Verkettung) keine Identitäten, keine selbstidentischen Elemente.5 Und aus diesem Grunde enthalten sie auch
3
Vgl. zum Ausgangskontext: Francisco J. Varela, Humberto R. Maturana und Ricardo B. Uribe: Autopoiesis: The Organization of Living Systems. Its Characterization and a Model. In: Biosystems 5 (1974). S. 187–196; Autopoiesis. A Theory of Living Organization. Hg. von Milan Zeleny. New York/Oxford: North Holland 1981; Milan Zeleny und Norbert A. Pierre: Simulation of Self-Renewing Systems. In: Evolution and Consciousness. Human Systems in Transition. Hg. von Erich Jantsch und Conrad H. Waddington. Reading/London: Addison-Wesley 1976. S. 150–165; Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela: Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living. Boston/Dordrecht: Reidel 1980 (Boston Studies in the Philosophy of Science 42). Zur allmählichen Transmission der biologischen Autopoiesis-Kontexte in soziologische vgl. die Beiträge in: Autopoiesis, Communication, and Society. The Theory of Autopoietic Systems in the Social Sciences. Hg. von Frank Benseler u.a. Frankfurt a.M./New York: Campus 1980; Niklas Luhmann: Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung. In: Zeitschrift für Soziologie 11 (1982). S. 366–379. Zu einer systemtheoretisch grundlegenden Ausarbeitung vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. 4 Überraschend klar zur différance vgl. Jacques Derrida: Die différance (1968). In: Derrida: Randgänge der Philosophie (1972). Wien: Passagen 1988. S. 29–52. 5 Zeit ist eine “oscillation between states. The first state, or space, is measured by a distinction between states […]. If a distinction could be made, then it would create a space. […] Space is only an appearance. It is what would be if there could be a distinction. Similarly, when we get eventually to the creation of time, time is what there would
54 nicht Orte, Festigkeiten, Kerne, sie sind und inkorporieren nicht Subjekte.6 Dennoch ist es ersichtlich so, daß weder das Bewußtsein noch Sozialsysteme ‘führungsfrei’ operieren. Sie machen – jedenfalls meistens – einen geordneten, einen orientierten Eindruck. Sie realisieren nicht einfach nur arbiträre oder kontingente Ereigniszüge, sie sind offenkundig strukturiert, was in dieser Theorie bedeutet, daß sie irritabel sind. Die dieser Überlegung zugrundeliegende Idee ist, daß Strukturen begriffen werden können als Kombinationsspielräume für mögliche Ereignisse, die jeweils diskriminieren, was an Verhalten, Kommunikation, Kognition in etwa paßt und was sich nicht jenen Spielräumen einfügt. Und am Nichtpassen wird registriert, was hätte geschehen sollen, was (klassisch) zu erwarten war und nicht so geschehen ist.7 Aus der Störung, der Devianz wird die Struktur errechnet, und insofern läßt sich Struktur auch als Irritabilität definieren.8 Jede Störung könnte dann begriffen werden als eine structure-detecting operation und (älterem soziologischen Gedankengut folgend) in einem Zuge damit als structure-reinforcing operation: Das Beobachten der Abweichung bestätigt (konfirmiert) ein weiteres Mal
be if there could be an oscillation between states […]. The only change we can produce – when we have only two states – is the crossing from one to another”. Und: Kein ‘state’ liegt vor ohne Differenz: “Again, when you first construct time, all that you are defining is a state that, if it is one state, it is another. Just like a clock, if it is tick, therefore it is tock” (George Spencer-Brown: Selfreference, Distinctions, and Time. In: Teoria Sociologica 2–3 [1993/94]. S. 47–53. Hier: S. 51f.). 6 “Zunächst muß man sehen, daß es im Bewußtsein nichts gibt, das nicht Bewußtsein wäre. Es gibt keinen Inhalt des Bewußtseins; es gibt, was meiner Meinung nach der Irrtum Husserls ist, kein Subjekt hinter dem Bewußtsein oder als eine Transzendenz in der Immanenz […] es gibt allein und durchgängig Bewußtsein” (Jean-Paul Sartre: Bewußtsein und Selbsterkenntnis. Die Seinsdimension des Subjekts [1947]. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973. S. 34). Oder (mit deutlichem Rekurs auf Hegel): “Anders gesagt, die Seinsdimension jeder Tatsache des Bewußtseins ist Streitigmachen. Anders gesagt, Anwesenheit bei sich ist gleichzeitig in bestimmtem Maße Trennung von sich. Aber zur gleichen Zeit, in der diese Trennung von sich, wie die Einheit des Bewußtseins, absolut notwendig ist, weil wir nicht auf der Ebene des Subjekts und des Objekts sind […], zur gleichen Zeit ist diese Trennung Einheit. Anders gesagt, das Subjekt kann nicht es selbst sein […]. Wir müssen […] ein elastischeres Vokabular benutzen, da wir feststellen, daß das Bewußtsein gleichzeitig das ist, was es nicht ist, da es Glaube ist, indem es einfach Bewußtsein von Glaube ist, das heißt, daß es schon etwas anderes als ein Glaube ist – und daß es zur gleichen Zeit nicht ist, was es ist” (S. 43f.). 7 Das ‘Erwartungspferd’ wird also gleichsam von hinten aufgezäumt: Man erwartet nicht, daß man lebt; sollte man aber mit der Nachricht konfrontiert werden, daß dieses Leben nur noch sehr knapp bemessen ist, hat man Grund, die Erwartung, daß man lebt, an diesem Störungsfall zu rekonstruieren. 8 Im Englischen spricht man davon, daß der Fisch erst am Ufer bemerkt, daß er ins Wasser gehört. Berühmt natürlich ist auch, daß man dadurch überrascht werden kann, daß alle Leute Prosa sprechen (vgl. Moliére: Le Bourgeois Gentilhomme [1670]. II, 4).
55 die gerade durch Devianz aktualisierte Struktur.9 Es läßt sich leicht vorstellen, daß dieses Spiel zwischen Irritation, Bestätigung oder Abweichungsverstärkung (deviation-amplifying) sozusagen Alltagsgeschäft aller sozialen Systeme ist. Und so etwas wie ‘Trunkenheit’ bei den psychosomatischen Systemen ihrer Umwelt wäre: nur eine weitere, mehr oder minder gravierende Irritation, die sich das Sozialsystem in seine eigene Operativität (Kommunikation) hineinübersetzt.10 Damit wäre dann ‘Trunkenheit’ ein Phänomen struktureller Kopplung. Man müßte nicht sagen, daß das Sozialsystem einer Berauschung unterworfen wäre, sondern nur, daß es seine Strukturen einstellt auf vorübergehende (mitunter festlich-fevrile) Belastungen durch seine Umwelt. Die soziale Autopoiesis bliebe unberührt, denn sie kann (als Unkörper oder ‘Unjekt’) nicht stammeln, lallen, berauscht salbadern oder in trunkene Melancholie verfallen, da sie nicht einmal (mangels entsprechend eingerichteter Sinnesorgane) wahrnimmt, daß dies alles geschieht. Das einzige ‘Material’, das sie zur Verfügung hat, sind die Kommunikationen, die sie selbst herstellt, und keine Kommunikation der Welt (wenn es denn überhaupt singuläre Operationen gäbe) kann trunken sein. Will man dennoch ein Äquivalent für psychosomatische Trunkenheit in sozialen Systemen suchen, müßte man in einem ersten Schritt schärfer abstrahieren und die Form dessen bestimmen, was mit der Bezeichnung ‘Trunkenheit’ gesagt ist.
II. Eine Formbestimmung von irgend etwas erzwingt erst einmal den Blick auf die Unterscheidung, in deren Rahmen dieses ‘Etwas’ die eine oder andere Seite markiert, und zugleich: eine Analyse dessen, was durch diese Unterscheidung selbst ausgeschlossen wird, was also weder durch die eine noch die andere Seite der Unterscheidung markierbar wäre.11 Übersetzt auf unser Thema hieße dies, wir müßten sagen können, wodurch ‘Trunkenheit’ unterschieden ist und wovon sich diese Unterscheidung unterscheidet. Das Problem ist, daß ein Blick auf die etymologischen Wurzeln nicht sehr weit führt: Das Wort ‘trunken’
9 Oder wird in Sonderfällen als eine evolutionäre Mutante so begünstigt, daß neue Strukturen entstehen, die wiederum über Irritabilität definiert sind. Auch das ist ein alter soziologischer Gedanke, daß abweichendes Verhalten Strukturen einerseits festigt, andererseits aber selbst Motor struktureller Veränderung sein kann. 10 Die Ehefrau ist schmetterbetrunken, und wenn das öfter der Fall ist, wird das Intimsystem in vielen Hinsichten umdirigiert werden – bis hin zum Abbruch. 11 Daß wir uns hier (auch) am Indikationenkalkül von George Spencer-Brown: Laws of Form (1969). London: Allen and Unwin 1971 orientieren, ist unvermeidbar. Als Einführung dazu vgl. Tatjana Schönwälder, Katrin Wille und Thomas Hölscher: George Spencer-Brown. Eine Einführung in die “Laws of Form”. Wiesbaden: VS 2004.
56 bezieht sich tatsächlich auf ‘trinken’ (ahd. truncan) und ist ursprünglich das dazugehörige Partizip (Perfekt, Passiv), nimmt aber im Unterschied zu ‘getrunken’ bzw. ‘betrunken’ im Laufe der Zeit eine eher poetisch überhöhte Bedeutung an.12 Das ‘Rauschhafte’ bleibt erhalten, aber wird generalisiert auf vielfältige Verwendung hin: ‘Trunken’, das kann man sein vor Glück, im Angesicht der Schönheit, in und nach einer Erfahrung mit Gott etc. Es geht mithin um die Beschreibung psychischer Sonderzustände, die gerade nicht an Alkohol oder sonstige Drogen geknüpft sind, also eher um die Bezeichnung eines ‘als-ob’.13 Der Gegenbegriff wäre zwar auf Anhieb ‘Nüchternheit’ und trunken/nüchtern die vollständige Unterscheidung, aber das Wort ‘nüchtern’ kann nun auch nicht mehr bedeuten: frei von alkoholischer (oder vergleichbarer) Intoxination.14 Es bezeichnet statt dessen soviel wie das oben schon heranzitierte Apollinische, eine Art ‘trockene’ Beschwipsung,15 und ebendeshalb war es schon früh möglich, das ‘Trunkene’ nicht nur vom ‘Nüchternen’, sondern (überbietend) vom Heilig-Nüchternen zu unterscheiden, also die Form eines Oxymorons zu nutzen.16 Es läßt sich ahnen, daß ‘Trunkenheit’ in dieser Unterscheidung von trunken/nüchtern den Einheitsbegriff ‘Trunkenheit’ auf beiden Seiten der Unterscheidung wiedereintreten läßt (das ist die berühmtberüchtigte Form des re-entry), ein Umstand, der sich in einem weiteren Oxymoron verdichten läßt: trunkene Nüchternheit, nüchterne Trunkenheit.17
12
Das macht es im übrigen schwer, eine passende englische Übersetzung zu finden. Da wären etwa ‘drunken’, ‘inebriated’ oder ‘intoxicated’, aber in all diesen Wörtern spielt das Moment der Droge, das wir weiter unten ausschließen werden, noch mit. 13 Man sagt nicht: “Du bist ja trunken!”, wenn jemand etwas zuviel Alkohol konsumiert hat, sondern: “Du bist ja betrunken!” oder “besoffen” oder “zu” etc. Eine der Ausnahmen ist die Redewendung “Ich bin trunken von Wein”. Aber da spielt die alte königliche Sonderrolle des Weines mit. Bei Schnaps käme niemand so schnell auf diese Idee. 14 Es gefällt mir, obgleich da etymologische Unsicherheiten herrschen, daß ‘nüchtern’ auf ‘nocturnus’ zurückgeführt werden könnte, also im Felde der ‘Nächtlichkeit’ situiert ist. Was daran gefiele, ist, daß die Nüchternheit (als Gegenbegriff von Trunkenheit) selbst in das Spiel der dionysischen Metaphern gerät. 15 Und noch einmal: Ebendies wird ausgedrückt in Luhmanns Motto vom guten Geist und seiner Trockenheit. 16 Berühmt natürlich durch Hölderlins (erstmals innerhalb der Gruppe Nachtgesänge [!] publiziertes) Gedicht “Hälfte des Lebens” (1805): “Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See, / Ihr holden Schwäne, / Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser. // Weh mir, wo nehm’ ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen”. 17 Alltagssprachlich: Man ist nur dann trunken, wenn man nüchtern ist. Andernfalls ist man betrunken, bekifft etc.
57 Das macht es aus, daß die Unterscheidung eine seltsam ‘verschmierte’, eine eigentümlich oszillierende Differenz ist. Fragt man dann danach, wovon sich diese Distinktion ihrerseits spezifisch (durch Ausschluß) unterscheidet, bleibt nur: von allen Rauschzuständen, die durch Intoxination zustandekommen. Man hätte damit allerdings noch nicht geklärt, wodurch denn Trunkenheit (in diesem Verständnis) gekennzeichnet ist. Was ist denn (wenn wir zunächst in psychischer Systemreferenz fragen) los mit jemandem, der – unbetrunken – trunken, der – nüchtern – nichtnüchtern ist? Worauf beruht die Analogie zum Rausch der Intoxination?
III. Ce qui n’est pas ineffable n’a aucune importance. Paul Valéry: Mon Faust
Wenn wir – noch einmal im Blick auf das psychische System – die Frage diskutieren, was denn gewöhnliche Räusche seien, so interessiert uns weniger, welche chemo-elektrischen Prozesse auf der Ebene des neuronalen Systems stattfinden, wenn es durch Drogen ‘giftig’ wird. Im Zentrum des Interesses steht vielmehr die psychische und bewußte Autopoiesis, die – da auf einer anderen Emergenzebene situiert – nicht direkt intoxiniert werden kann, aber selbstverständlich im Zuge struktureller Kopplung mit dem neuronalen System beeinflußt oder ausgelenkt wird, wenn die chemo-elektrische Infrastruktur durch eine outer determination anders kalibriert ist als unter Nicht-Drogen-Einfluß. Die Möglichkeit der Auswirkung solcher infrastrukturellen Transformationen kann sich nur auf die autopoietische Zeitmaschine beziehen, die ihre Ereignisse durch Anschlüsse erzeugt, also im Modus des Nachtrags, des Supplements, der différance, und dabei angewiesen ist auf Strukturen, die, wie wir oben formuliert haben, sich realisieren in der Auswahl der Ereignisse, die zur Fortsetzung der Autopoiesis tauglich sind, und durch das Verwerfen dessen, was nicht paßt. Wir wollen sagen, daß dieses Management der Anschlußselektivität durch Drogen (oder einschlägige Psycho-Techniken) gestört werden kann. Vielleicht ist es so (aber das ist nicht mein Fachgebiet), daß das neuronale System nicht mehr punktgenau passende ‘Hirnereignisse’ zur Verfügung stellt, daß es nicht die ‘gewohnten’ neuronalen ‘Fakten’ bereitstellt, deren sinn-benutzende Interpretation in gewisser Weise die Psyche ist.18 Der neuronale ‘Unterbau’ 18
Vgl. Martin Carrier und Jürgen Mittelstraß: Geist, Gehirn, Verhalten. Das LeibSeele-Problem und die Philosophie der Psychologie. Berlin/New York: de Gruyter 1989. S. 238. Man könnte sich vorstellen, daß die Psyche in gewisser Weise aktiv Hirnereignisse scannt. Jedenfalls ist das so ähnlich schon (wenn auch in ungewöhnlicher Terminologie) vermutet worden: “Es wird vorgeschlagen, daß der selbstbewußte Geist aktiv damit beschäftigt ist, nach Hirnereignissen zu suchen, die gegenwärtig in
58 begänne zu rauschen,19 das psychische System würde in eine Erosion oder Verwaschung seiner Anschlußselektivität verfallen. Es würde temporal ‘straucheln’ oder ‘verstolpern’. Es wäre, wenn man eine Metapher aus der Musik aufgreift, nicht mehr ‘partiturfest’. Übersetzt man sich diese Metaphern in grundlegende Befunde der Systemtheorie, so würde das psychische System massive Probleme mit seinem Gedächtnis bekommen, wenn und insoweit darunter nicht ein Vorratskorb, ein Aufbewahrungsort für Vergangenes verstanden wird, wenn und insoweit also Gedächtnis definiert werden kann als Funktion des Vergessens.20 Anschlüsse müssen schließlich nicht laufend neu ermittelt werden. Man muß nicht immer wieder lernen, wie man Treppen hinaufsteigt, Fahrrad fährt oder spricht oder schreibt oder liest.21 Statt dessen werden erlernte ‘Schemata’ exekutiert, die problemlos zur Verfügung stehen und nicht eigens erinnert werden müssen, es sei denn in Krisenlagen, die zu Konsistenzprüfung (d.h. Erinnerung) nötigen. Jede psychische und soziale ‘Praxis’ ist eine Domäne des Vergessens.22 ‘Struktur’ ist wiederum nur ein anderer Ausdruck dafür, daß mögliche Anschlüsse schematisch ein-und zugeordnet werden und daß erst Störungen seinem Interesse liegen, die Operation der Aufmerksamkeit, doch er verkörpert auch das integrierende Agens, indem er die Einheit der bewußten Erfahrung aus all der Vielfalt der Hirnereignisse aufbaut” (Karl R. Popper und John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn. München/Zürich: Piper 1982. S. 449). 19 Es fügt sich wie von ungefähr, daß Rausch das Substantiv ist für ungestüme Trunkenheit, etymologisch für: sausen, schwirren, klappern, lärmen, brummen etc., und zugleich im ‘Rauschen’ der Lärm (noise) bezeichnet ist, dem Sinnsysteme ihre Eigenordnung ‘abgewinnen’: durch Selektivität. 20 Vgl. zum Hintergrund dieses Gedächtnisbegriffes Niklas Luhmann: Zeit und Gedächtnis. In: Soziale Systeme 2 (1996). S. 307–330; Dirk Baecker: Überlegungen zur Form des Gedächtnisses. In: Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Hg. von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. S. 337–359. Vgl. grundlegend: Heinz von Foerster: Das Gedächtnis. Eine quantenmechanische Untersuchung. Wien: Deuticke 1948; Heinz von Foerster: What is memory that it may have Hindsight and Foresight as well? In: The Future of the Brain Sciences. Hg. von Samuel Bogoch. New York: Plenum Press 1969. S. 19–64. Vgl. ferner Peter Fuchs: Wie lernen autopoietische Systeme und Wie ändert sich dieses Lernen, wenn sich die Zeiten ändern? In: Soziale Wirklichkeit. Jenaer Blätter für Sozialpsychologie und angrenzende Wissenschaften 1 (1997). S. 119–134. 21 Vgl. dazu, daß Sinn erscheint, wenn die Zeichen ‘transparent’ sind (ich lese nicht die Buchstaben), Maurice Merleau-Ponty: Die Prosa der Welt (1969). München: Fink 1993. S. 33f. 22 Vgl. Michael Polanyi: Implizites Wissen (1966). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985. S. 24f., wo das Vergessen als proximaler Term eines impliziten Wissens bestimmt wird. Man kann also Praxis als Gedächtnis (Funktion: Vergessen) und Theorie als Erinnern auffassen und daraus ableiten, daß beide in ein reziprok skeptisches Konkurrenzverhältnis geraten. Vgl. dazu Peter Fuchs: Die Skepsis der Systeme – Zur Unterscheidung von Theorie und Praxis. In: Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen. Hg. von Helga Gripp-Hagelstange. Konstanz: UVK 2000. S. 53–74
59 (Irritationen) dazu nötigen, Konsistenzprüfungen vorzunehmen, also: zu erinnern.23 Die Präsenz des Systems ist schematisierte Gegenwart, man könnte fast von einer ‘Hypertrophie des Gegenwärtigen’ reden.24 Der Rausch, der durch Intoxination entsteht, wäre demzufolge für die Autopoiesis des psychischen Systems eine ‘Gedächtnis- und also Schematisierungskatastrophe’, und unter Trunkenheit müßte man sich (da sie nicht durch Intoxination inszeniert wird)25 eine eigen-induzierte Katastrophe dieses Typs vorstellen, eine Art innerer Selbst-Überwältigung. Ein Verständnis für diesen erstaunlichen Vorgang kann man entwickeln, wenn man das psychische System als ein in gewisser Weise ‘gekammertes’26 System auffaßt, in der Sprache der Theorie als ein System, das Subdifferenzierungen ‘enthält’ oder toleriert.27 Der Grundgedanke ist, daß das psychische System primär als Organisation der Wahrnehmungsfunktion begriffen werden kann, in das sich (durch konditionierte Koproduktion mit sozialen Systemen) ein System, das wir üblicherweise ‘Bewußtsein’ nennen, einschreibt, das über Zeichen verfügt und deswegen als ein beobachtendes System erscheint, das, wenn es einmal in Betrieb ist, die nicht-sinnförmige ‘Proto-Wahrnehmung’ oder die raw feels (etwa bei Säuglingen) gleichsam im Nachgang in sinnförmige Wahrnehmung transformiert. Es kommt hier nicht auf die Details an. Entscheidend ist, daß das Bewußtsein als zeichenprozessierendes System extrem asketisch, extrem informationsraffend verfährt.28 Kein Zeichen deckt die Fülle der Wahrnehmung (wiederabgedruckt in: Fuchs: Theorie als Lehrgedicht. Systemtheoretische Essays I. Hg. von Marie-Christin Fuchs. Bielefeld: transcript 2004. S. 17–36). 23 Berühmt für eine Darstellung dessen, was geschieht, wenn diese Möglichkeit ausfällt, ist: Oliver Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (1985). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995. 24 Zu diesem Ausdruck, der dort allerdings anders kontextualisiert ist (es geht um vorbereitende Analysen zur divinatorischen Zeiterwirtschaftung), vgl. Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. S. 87ff. 25 Damit ist überhaupt nicht ausgeschlossen, daß es auch Eigen-Intoxinationen des neuronalen Systems gibt (etwa durch Endorphine), oder sogar, daß solche ‘Selbstbeschwipsungen’ so etwas wie meßbare Begleiterscheinungen psychischer Trunkenheit sind. 26 Ein Bild, das sich an Freud orientiert, aber so wenig wie bei ihm tatsächlich räumlich gemeint ist. 27 Vgl. Peter Fuchs: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins. Die Person, die Psyche, die Signatur. Bielefeld: transcript 2003 sowie Fuchs (wie Anm. 2). 28 Vgl. zu diesem Ausdruck Gotthard Günther: Bewußtsein als Informationsraffer. In: Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaften 10 (1969). S. 1–6. Daß dann sozusagen reziproke Raffinierungen des Bewußtseins und der Wahrnehmung ermöglicht werden, thematisiert Dirk Baecker: Kommunikation über Wahrnehmung. Thesenpapier zur Konferenz “Wahrnehmung und ästhetische Reflexion”. Berlin 28.–30. Oktober 1993. S. 3.
60 ab, es ist immer äußerst selektiv gegenüber deren Kompaktheit. Die These ist, daß das Bewußtsein Wahrnehmungen zeichenförmig schematisiert und genau dann überfordert ist, wenn sich Wahrnehmungszustände nicht oder nur ansatzweise und unscharf schematisieren lassen. Es nutzt deswegen sozial angelieferte Zusatzbezeichnungsleistungen für diese Überforderungen, also Bezeichnungen für das, was man klassisch ‘Gefühle’ nennt, Bezeichnungen, die dann ihrerseits die Welt dessen, was ‘gefühlt’ und dann kommuniziert werden kann, strikt sozial und kulturell selektiv stellen.29 Denkbar und kommunizierbar im Blick auf ‘Gefühl’ ist nur das, was sich bezeichnen läßt. Das gilt nicht minder für ‘überbordende’ Wahrnehmungen, für die geeignete (präzise) Schematisierungen nicht zur Verfügung stehen, sondern nur ‘Ballungen’, Globalausdrücke, die zugleich mitanzeigen, daß es um Wahrnehmungszustände geht, die weder kognitiv noch sozial anders als durch Verweis auf ein ‘Versagen des Schematischen’ gedacht und thematisiert werden können. Berühmt hier ist das Je-ne-sais-quoi, das für Unbegreifliches einsteht (und dies, daß es unbegreiflich ist, mitteilt), ebenso wie “Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…”, wie das ‘gewisse Etwas’ oder wie der charme secret oder wie das ‘Charisma’.30 Weitere Ausdrücke lassen sich anführen, die in die gleiche Kategorie fallen, etwa das ‘Numinose’, das ineffabile, das mysterium tremendum, der tremor (deima panikon), das ‘Grauen’ und viele andere.31 Theoretischer betrachtet: Das Bewußtsein setzt sozial konstituierte Zeichen für die durch Zeichen nicht mitteilbare Qualität von psychischen Sonderzuständen ein, die schematische Anschlüsse erschweren. Es artikuliert diese Erschwernis mit Zeichen für Unartikulierbares, und damit verfährt es auf raffinierte Weise erneut: schematisch. Das Schema trunken/nüchtern, wie wir es entwickelt haben, gehört in ebendiese Kategorie. Es benennt eine nicht-toxische Intoxination, die dann zustande kommt, wenn Wahrnehmungszustände nicht mehr tiefenscharf benennbar sind und so nur ein unbestimmbares und zutiefst unscharfes ‘Erleben’ von Anschlußverlusten bzw. Anschlußproblemen verbleibt, das genau dem gleicht, das sich einstellt, wenn ein psychisches System durch Intoxination seiner Infrastruktur im Blick auf Anschlußselektivität perturbiert 29
Zu anfänglichen Ausarbeitungen einer entsprechenden Gefühlstheorie vgl. Peter Fuchs: Wer hat wozu und wieso überhaupt Gefühle? In: Soziale Systeme 10 (2004). S. 89–110. 30 Erich Köhler: “Je ne sais quoi”. Ein Kapitel aus der Geschichte des Unbegreiflichen. In: Köhler: Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania (1966). München: Fink 1984. S. 230–286. 31 Vgl. etwa Walter F. Otto: Mythos und Welt. Stuttgart: Klett 1962. S. 5, 9 und 13ff. Auch ‘Genialität’ ist ein hierhin gehöriges Wort, früh definiert als Produzent des absolut Unerwarteten und Inkommensurablen. Das Werk eines Genies ist “une nouvelle combinaison, un rapport nouveau apperçu entre certain objets ou certaines idées” (Helvétius: De l’esprit [1758]. Paris: Durand 1759. S. 356).
61 wird. Die (in dieser Hinsicht hier nicht weiter analysierte) Bezeichnung ‘trunken’ ist dann üblicherweise und im Unterschied zu ‘betrunken’ positiv konnotiert: Man ist ‘wonnetrunken’, nicht ‘sorgetrunken’, und allenfalls in poetischen Spitzenlagen mag sich dann so etwas Expressives finden wie: trunken vom Tod.32 Entscheidend ist, daß es bei alledem um aus dem Ruder laufende Anschlußselektivität geht, psychisch gesehen: um das Erleben unterbrochener Eigenkontrolle, um Autonomieverlust im Blick auf die Autopoiesis solcher Systeme. Natürlich muß man fragen, ob es dazu ein soziales Äquivalent (oder gar mehrere) gibt.
IV. Soziale Systeme haben, wie oben angedeutet, nicht die Möglichkeit zur Wahrnehmung, sie leben nicht, sie atmen nicht, sie fühlen nicht. Sie sind, auch das haben wir schon gesagt, zeitbasierte Verkettungsmaschinen, autopoietische Systeme, die in dieser Operativität die gleiche Form realisieren wie psychische Systeme, aber (etwas locker formuliert) keine Chance haben zu ‘erlebender’ Sinnentnahme oder Sinnproduktion.33 Die Formgleichheit ermöglicht zwar konditionierte Koproduktion.34 Das Sozialsystem übernimmt 32 Nur ein Beispiel: Die zweite Strophe aus Georg Trakls Gedicht “Die Nacht” (1914): “Golden lodern die Feuer / Der Völker rings. / Über schwärzliche Klippen / Stürzt todestrunken / Die erglühende Windsbraut, / Die blaue Woge / Des Gletschers / Und es dröhnt / Gewaltig die Glocke im Tal: / Flammen, Flüche / Und die dunklen / Spiele der Wollust, / Stürmt den Himmel / Ein versteinertes Haupt”. 33 Ebendies macht es möglich und notwendig, die Sinnform einerseits phänomenologisch zu bestimmen (also vom Erleben her) und sie andererseits formal so zu rekonstruieren, daß nicht-erlebender Sinngebrauch wie in sozialen Systemen konzeptualisiert werden kann. 34 Ein Schlüsselbegriff für Spencer-Brown und mutatis mutandis für die neuere Systemtheorie: “Der gesamte Text der Laws kann auf ein Prinzip reduziert werden, welches wie folgt aufgezeichnet werden könnte. Kanon Null (Koproduktion): Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch gleich” (George Spencer-Brown: Laws of Form – Gesetze der Form [1969]. Lübeck: Bohmeier 1997. S. IX). Vgl. auch Spencer-Brown: A Lion’s Teeth – Löwenzähne (1971). Lübeck: Bohmeier 1995. S. 20: “How we, and all appearance that appears with us, appear to appear is by conditioned coproduction”. Daß das Eine ohne das Andere nicht zu haben ist, ist geläufiger Topos. Vgl. dazu unter dem Gesichtspunkt heterothetischen Denkens Heinrich Rickert: Das Eine, die Einheit und die Eins. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur II (1911/1912). S. 26–78. Hier: S. 36f. Eine schöne Formulierung desselben Sachverhaltes: “Das Auge ist schon in den Dingen, ist Teil des Bildes, es ist die Sichtbarkeit des Bildes… Das Auge ist nicht die Kamera, es ist die Leinwand”. So jedenfalls Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972–1990 (1990). Übers. von Gustav Roßler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. S. 82. Vgl. auch Peter Fuchs: Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewußtsein. In: Ver-Schiede der Kultur. Aufsätze zur Kippe kulturanthropologischen Nachdenkens. Hg. von der Arbeitsgruppe “menschen formen” am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Marburg: Tectum 2002. S. 150–175.
62 jedoch in dieser Koproduktion den bewußtlosen, den nicht wahrnehmenden, den a-psychischen Part.35 Deshalb kann sich ‘Trunkenheit’ in sozialen Systemen nicht beziehen auf psychische Zustände und deren Probleme, zu regulierten oder geordneten Anschlüssen zu kommen, sondern ausschließlich auf die elementare Einheit: Kommunikation. Die eben erwähnte Formgleichheit würde, ganz abstrakt genommen, bedeuten, daß auch soziale Systeme Anschlußprobleme haben können, nämlich das Problem unterbrochener Autonomie im Blick auf die ‘AnschlußErwirtschaftung’. Das kann – wie etwa in der romantischen Symphilosophie und Sympoesie, in dieser eigentümlich geselligen Art poetischen und intellektuellen Räsonierens – durchaus im Sinne von Überraschungsproduktion gewollt und inszeniert sein.36 Gleichsam ‘rahmenfest’ überkommene Kommunikationsstrukturen sollten durchkreuzt werden.37 Im Hintergrund stand, wie man im Blick auf die Romantik gesagt hat, eine Art ‘subjektivierter Occasionalismus’.38 Im gleichen Zusammenhang kann einem aber auch die Form der ‘Renku-Dichtung’ einfallen, einer Gedichtform, bei der mehrere 35 Was das dann bedeutet für die soziale Konstruktion des psychischen Antipoden, thematisiere ich in: Peter Fuchs: Das Maß aller Dinge. Zur Metaphysik des Menschen (in Vorbereitung). 36 Dazu, daß diese romantische Typik der Kommunikation in der Realität nicht so leicht in Betrieb zu halten war, vgl. Wolfgang Preisendanz: Zur Poetik der deutschen Romantik I: Die Abkehr vom Grundsatz der Naturnachahmung. In: Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive (1967). Hg. von Hans Steffen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970. S. 54–74. Hier: S. 64 (Kleine Reihe V&R 250). 37 Nicht nur für die Frühromantik (dort aber ganz bezeichnend) gilt, daß sich die enthusiastisch gestimmten ‘Intellektuellen’ in Kränzchen trafen, in denen die Ideen frei zirkulieren sollten. Vgl. dazu die Briefe von Dorothea von Schlegel an Friedrich Schleiermacher (28. Oktober 1799) und an Rahel Varnhagen von Ense (23. Januar 1800), auszugsweise abgedruckt in: Charakteristiken. Die Romantiker in Selbstzeugnissen und Äußerungen ihrer Zeitgenossen. Hg. von Paul Kluckhohn. Stuttgart: Reclam 1950. S. 47 (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen: Reihe Romantik 1). Von der Aufklärung indessen wurde der intellektuelle Enthusiasmus als ‘Tollheit’, als ‘Gemütsstörung’ beobachtet (vgl. etwa Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798/1800]. In: Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt: WBG 1964. Bd. 6. S. 494). Das Exklusiv-Esoterische solcher Gruppenbildungen ist oft betont worden (vgl. etwa Rudolf Stadelmann und Wolfram Fischer: Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes. Berlin: Duncker & Humblot 1955. S. 55). 38 Vgl. zu dieser nicht unstrittigen Formulierung Carl Schmitt: Romantik (1919). In: Begriffsbestimmung der Romantik. Hg. von Helmut Prang. Darmstadt: WBG 1968. S. 73–92. Hier: S. 89ff. (Wege der Forschung 150). Der zitierte Text entspricht dem Vorwort von Carl Schmitt: Politische Romantik. München/Leipzig: Duncker & Humblot 1919. Man kann hier auch die romantische Wirtschaftslehre zitieren, die die ceteris-paribus-Analyse durch die “Suche nach ‘cetera imparia’” ersetzt (vgl. Carl
63 Leute zusammen dichten und dabei jeweils unerwartete (dann wie von Zauberhand passende) Anschlüsse produzieren.39 Oder natürlich das System der (modernen) Kunst überhaupt, das sich auf die De-Routinisierung der Anschlußermittlung, auf Kontingenzsteigerung, auf die Inauguration von kommunikativ wirksamen Strukturbrüchen zu kaprizieren scheint.40 Faßt man die Frage fundamentaler an, dann ließe sich das Problem der DeRoutinisierung von Anschlüssen auf die Kommunikation selbst beziehen. Sie ist als elementare Einheit sozialer Systeme der ‘Zusammenzug’ dreier Selektionen: von Information, Mitteilung und Verstehen.41 In Kürze gesagt, ist die Selektion der Information die Auswahl dessen, worum es jeweils geht, wovon die Rede ist, oder – more theoretico – der Ausdruck für den fremdreferentiellen Aspekt der Kommunikation. Mitteilung bezeichnet dagegen die Selektion einer Mitteilungsform, also die Weise, wie das, worum es jeweils geht, geäußert wird, und Verstehen schließlich ist konzipiert als Beobachtung der Differenz zwischen diesen Selektionen, behandelt also die Mitteilung als eine Art Sonderinformation: Was bedeutet das, worum es geht, wenn es so gesagt wird, wie es gesagt wurde, für das, was dann folgen kann? Was macht das für einen Unterschied? Der theoretische Clou ist aber, daß diese Selektionen nicht in sozusagen tätige, diese Auswahl treffende Subjekte verlagert wird, sondern sich seriatim inszenieren auf der Ebene bewußtseinsfreier Autopoiesis, also auf der Ebene sozialer Systeme. Nicht: Jemand teilt etwas mit – sondern: eine Verlautbarung wird vom Sozialsystem durch Anschluß (!) als Mitteilung von etwas aufgefaßt (als utterance, Äußerung) und für Beobachter durch diesen Anschluß selektiv gestellt. Dabei ist ‘aufgefaßt’ jetzt nicht eine psychische Kategorie, sondern nichts weiter als der Ausdruck dafür, daß ein weiteres Ereignis folgte, das die Brinkmann: Romantische Gesellschaftslehre. In: Romantik. Ein Zyklus Tübinger Vorlesungen. Hg. von Theodor Steinbüchel. Tübingen/Stuttgart: Wunderlich 1948. S. 177–194. Hier: S. 194). 39 Die Form der Renku-Dichtung ist ebenfalls Sympoesie, eine ‘Leere’ zwischen den Anschlüssen, eine Form, durch die eine deutliche Differenz zwischen den Autoren und den Lesern aufgebaut wird. Vielleicht, weil es so schön ist, ein kleiner Ausschnitt: “Das steinerne Wasserbecken, moosbedeckt, daneben Blumen. / Morgendlicher Ärger verflüchtigt sich von selbst. / Bei einer Mahlzeit für zwei ganze Tage gegessen. / Auf der Insel Schneewind aus dem Norden. / Am Abend Aufstieg zum Bergtempel, um Lichter anzuzünden” (Bashô). Vgl. dazu auch Shizuteru Ueda: Vorüberlegungen zum Problem der All-Einheit im Zen-Buddhismus. In: All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West. Hg. von Dieter Henrich. Stuttgart: Klett-Cotta 1985. S. 136–150 (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung 14). 40 Was es aber mittlerweile seinerseits routiniert, also in hohem Maße erwartbar und damit anschlußfest tut. 41 Vgl. das Kapitel “Kommunikation und Handlung” in Luhmann 1984 (wie Anm. 3). S. 191–241.
64 Differenz von Information und Mitteilung berücksichtigte42 (wie es selbst von weiteren Ereignissen auf die gleiche Weise berücksichtigt wird), und es ist dieser Anschluß, der als ‘soziales Verstehen’ gilt. Und wieder ist einleuchtend, daß dieses Verstehen an eine Strukturalität geknüpft ist, durch die Folgeereignisse als passend zugeordnet werden.43 ‘Verstehen’ ist demnach die soziale Selektion, über die Kommunikation weitergeführt wird: Folgt kein weiteres Ereignis, das vorangegangene Ereignisse als Äußerungen (Mitteilungen von etwas) aufgreift, bricht Kommunikation ab,44 gleichgültig, was immer daran beteiligte Bewußtseine denken mögen. Für das hier verhandelte Thema heißt dies, daß der (sozusagen: logische) Ort für Anschlußprobleme ebenjene Selektion des ‘Verstehens’ ist, sei es dadurch, daß weitere Ereignisse nicht produziert werden können, sei es, daß übermächtige Kontingenz im Spiel ist, durch die sich Strukturen nicht typenfest aufrechterhalten lassen, so daß plötzlich unklar wird, wie an Folgeereignisse angeschlossen werden kann etc. Anders gesagt: Wir hätten es mit einem ‘verwirrten’ oder gar ‘versagenden’ sozialen Gedächtnis zu tun.45 Soziologisch ist dabei recht klar, daß soziale Systeme auf diese Gefahr strukturell reagieren, also, wenn man so sagen darf, Vorkehrungen treffen, die der Vergewisserung der Störungsfreiheit von Anschlüssen bzw. der Reparaturmöglichkeit aus dem Ruder laufender Kommunikation dienen.46 Wir müssen demnach von Fällen ausgehen, bei denen ‘Entstörungs’-Mechanismen nicht mehr funktionieren. 42
Auch ‘berücksichtigen’ ist keinesfalls psychisch gemeint, sondern nur in dem Sinne, daß das Folgeereignis, wenn es fällt, beobachtet werden kann (psychisch und durch weitere soziale Ereignisse) als eines, das, indem es fiel, an der einen oder anderen Seite (Information/Mitteilung) anschloß. 43 Wenn jemand sagt: “Du strahlst ja…”, dann sind ganz verschiedene ‘Einpassungs’Verläufe denkbar: “Na klar, ich liebe Dich doch!” Oder: “Ich glaube, der Geigerzähler ist nicht in Ordnung”. 44 Ein Abbruch, der auch gewollt und inszeniert werden kann (vgl. dazu Peter Fuchs: Das System “Terror”. Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne. Bielefeld: transcript 2004). 45 Man könnte sagen: Die davon betroffenen Systeme verlören ihre Einheit: “Persona dicitur ens, quod memoriam sui conservat”, formuliert Christian Wolff: Psychologia rationalis. Frankfurt/Leipzig: Rengeriana 1734. § 741. Entsprechend: Sie wären nicht mehr, was sie sind – ohne Gedächtnis. Und dasselbe gilt für soziale Systeme. 46 Diese Funktion (der Vergewisserung der Störungsfreiheit von Kommunikation) scheinen etwa die sogenannten ‘recognition points’ zu erfüllen. Vgl. dazu Gail A. Jefferson: A Case of Precision Timing in Ordinary Conversation: Overlapped Tagpositioned Adress Terms in Closing Sequences. In: Semiotica 9 (1973). S. 47–96; Jörg Bergmann: Frage und Paraphrase: Aspekte der redezuginternen und sequenziellen Organisation eines Äußerungsformats. In: Methoden der Analyse von face-to-faceSituationen. Hg. von Peter Winkler. Stuttgart: Metzler 1981. S. 128–142; Jörg Bergmann: Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Dialogforschung. Hg. von Peter Schröder und Hugo Steger. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1981. S. 9–51. Hier: S. 26f. (Sprache der Gegenwart 54).
65 Die Suche, die soziale Äquivalente psychischer Trunkenheit aufspüren soll, verfügt nach dem, was wir bis jetzt diskutiert haben, über folgende Heuristik: Gesucht werden Systeme (soziale Strukturen und Prozesse), bei denen das Anschlußmanagement problematisch und die Selektion des Verstehens zumindest erschwert, wenn nicht gänzlich blockiert ist. In leicht versetzter Terminologie könnte man auch sagen, es geht um massive Gedächtnisprobleme, mithin auch um die massive Störung (bzw. das anschließende Irritationsmanagement) kommunikativer Schematisierungsnotwendigkeiten. Zu erwarten wäre ferner, daß das, was wir als soziales Trunkenheitselement thematisieren wollen, so positiv konnotiert ist wie üblicherweise ‘trunken’ gegenüber ‘betrunken’. Der Punkt ist, um es noch einmal etwas vereinfacht zu sagen, daß wir nach sozialen Kontexten fahnden, die utterances produzieren, dies aber so, daß jede der dabei entstehenden Verlautbarungen die Selektion des Verstehens stört, also Unsicherheit im Blick darauf produziert, wie es jetzt (noch) weitergehen kann, was also die jeweilige Äußerung bedeutet. Das müßte dann nicht hin und wieder geschehen, sondern systemisch, also zumindest in Grenzen erwartbar und (trotz der Irritation des Verstehens) verkettungsfähig. Oder noch anders ausgedrückt: Jene Verlautbarungsereignisse mögen (irgendwann) Anschlüsse finden, aber der Anschluß im Moment gelingt gar nicht oder jedenfalls nicht einwandfrei oder überhaupt nur unter ganz besonderen Voraussetzungen – und dennoch: Ein solches Ereignis kann wahrgenommen, psychisch genossen und wiederholt gesucht werden. Ferner können sich soziale Kontexte ausdifferenzieren, die all dies erwartbar inszenieren.47 Zugleich müßte es sich um Abbreviaturen drehen, die als Ausdrücke für Wahrnehmungen fungieren, die zu kompakt sind, um anders als hoch verkürzt, anders als in der Form einer rigiden Informationsraffung zur Sprache (und hier: zur Kommunikation) kommen zu können. Vielleicht kann man unter Rückgriff auf eine sehr viel ältere Terminologie von Fällen einer communicatio confusa oder gar obscura reden.48 Darunter zu verstehen wäre Kommunikation, die auf der einen Seite keinen Zweifel daran läßt, daß es um Mitteilungen geht, auf der anderen Seite aber die Information, die mitgeteilt wird, in gewisser Weise abdunkelt, sei es durch Unklarheit im Blick auf das, wovon die Mitteilung überhaupt handelt, sei es dadurch, daß die Information zu vielfältig und vieldeutig ist, ein zu ausuferndes Geflecht von Sinnverweisungsvorschlägen offeriert und damit uneindeutig wird. Wir wollen für unsere Argumentationszwecke für Äußerungen dieses Typs das Wort 47
Eine Fallstudie, die ganz eigentümliche Äußerungen dieser Art im Kontext der Musik untersucht, ist etwa Peter Fuchs und Markus Heidingsfelder: MUSIC NO MUSIC MUSIC – Zur Unhörbarkeit von Pop. In: Soziale Systeme 10 (2004). S. 292–324. 48 Vgl. im Blick auf Kognition Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684). In: Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. von Hans Heinz Holz. Darmstadt: WBG 1985. S. 25–47 (Philosophische Schriften 1).
66 ‘Symbol’ einsetzen. Es soll uneindeutige (im Blick auf Sinnverweisungen polyvalente und mitunter äußerst ambiguose) Zeichen bezeichnen, die der Wahrnehmung ihrer psychischen Rezipienten kompakt-opake Objekte anbieten wie Brot, Wein, Wasser, Leben (im Kontext etwa der Religion) oder wie Fahnen, Nationalhymnen, Laola-Wellen etc. Polyseme, wenn man so will, die psychische Effekte auslösen und kommunikativ keine klaren Anschlüsse aussteuern, sich also auch nicht einfach negieren lassen.49
V. Das Fräulein stand am Meere Und seufzte lang und bang, Es rührte sie so sehre Der Sonnenuntergang. Mein Fräulein! sein Sie munter, Das ist ein altes Stück; Hier vorne geht sie unter Und kehrt von hinten zurück. Heinrich Heine
Weder Symbole noch Zeichen, Weder gesprochene, gelesene Sätze noch Bilder sind in der hier eingesetzten Theorie: Kommunikation. Denn diese Operation ist nichts weiter als die différance-technische Verkettung dessen, was symbolisiert, zeichenhaft bezeichnet, gesprochen, geschrieben, mimisch und gestisch vorgeführt oder gezeigt werden kann. Kommunikation erzeugt durch ihre temporale Konkatenation ‘Bezugnahmen’, indem sie (durch Anschluß und Nachtrag) Verlautbarungen beliebigen Typs als Äußerungen (utterances) behandelt, die von psychischen Systemen so aufgefaßt werden, als trügen sie an ihrer Zeitstelle so etwas wie Bedeutung oder Sinn, als seien sie Identitäten, die sich zitieren (wiederholen) ließen, Zeitfestigkeiten, die unabhängig von sonst laufenden Veränderungen wieder und wieder erreicht und aufgegriffen werden könnten. Das ist besonders dann der Fall, wenn Verlautbarungen die Form von ‘Quasi-Objekten’ annehmen.50 Wir wollen hier annehmen, daß solche Objekte
49
Typisch dafür ist, daß Symbole im Kontext der Nicht-Negierbarkeit, der inszenierten Negationsblockade auftreten, im Kontext also von Ritualen (vgl. Peter Fuchs: Gefährliche Modernität. Das zweite vatikanische Konzil und die Veränderung des Messeritus. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 44 [1992]. S. 1–11). 50 Vgl. etwa Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie (1991). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 71ff.
67 Verlautbarungen sind, also ersichtlich zum Zweck der Mitteilung angefertigt werden, dies jedoch so, daß diese Promulgationen oder Kundgaben gewissermaßen ‘stehenbleiben’ (Fahnen, Gedenkorte, Denkmale etc.) oder jedenfalls zu extensiver Wiederholung geeignet sind (Schlager, Pop-Inszenierungen, Gedenkfeiern etc.).51 Kommunikationstheoretisch gesehen wäre der daraus resultierende Effekt, daß in Anschlüssen zwar noch die Mitteilungsselektion bezeichnet werden kann, aber die Selektion der Information durch ihre Repetition nicht mehr informiert. Die Wiederholung von Information fügt nur die eine Information hinzu, daß sich nämlich die Information wiederholt (oder sie fixiert ist). Weihnachten ist: alle Jahre wieder. Bis auf die Randbedingungen einer sich verändernden Zeit ist es eine repetierte ‘Ähnlichkeit’. Die Konsequenz ist, daß die Selektion des sozialen Verstehens, in der die Differenz zwischen Information und Mitteilung operativ zur Fortsetzung der Kommunikation ausgenutzt wird, es mit einer extrem minimierten Differenz zu tun bekommt und aus diesem Grund nur noch die Mitteilung selbst als Abstoßpunkt für die Erwirtschaftung weiterer Ereignisse aufgreifen kann.52 Die Fremdreferenz (die Thematizität) der Kommunikation fällt aus, so daß die Fortführung der Autopoiesis nicht mehr über Informativität kalibriert ist, sondern allenfalls darüber, daß die ‘schiere’ Mitteilung erneut stattgefunden hat, die über nichts weiter informiert als nur über ihr Stattgefunden-Haben.53 Das heißt nicht, daß solche informationsverknappenden Wiederholungen keine Funktion hätten. Man sieht das schnell, wenn man sich des Umstandes erinnert, daß die überlieferte Rhetorik Wiederholungsfiguren verschiedenster Art (im Blick auf Position, Frequenz, Similarität und Extension)54 anbietet, die zwar auch eine textstabilisierende, integrative und mitunter amplifizierende Funktion haben, vor allem aber im Dienst einer Intensivierung stehen, die wesentlich drei Momente aufweist: die emotionale Affizierung,55 die ästhetische Befriedigung 51 Man könnte auch von einer gewissen Hysteresis sprechen, die im Kontext der Gedächtnistheorie eine Rolle spielt (vgl. Fuchs [wie Anm. 20]). 52 Vorsichtshalber sei darauf hingewiesen, daß wir hier auf der Ebene der sozialen und dann auch psychischen Autopoiesis diskutieren. Wenn man auf das Zentralmedium der Kommunikation achtet, nämlich Sprache, sieht man schnell, daß hier die Wiederholbarkeit der Zeichen Bedingung der Möglichkeit von Sprachgebrauch ist: von den Buchstaben über die Wörter bis hin zu den syntaktisch-grammatischen Strukturen. 53 Ich habe in diesem Zusammenhang gelegentlich von einem romantischen Displacement (im Blick auf Kunst oder Liebe) gesprochen – im Unterschied zum aufklärerischen Displacement (etwa Wissenschaft oder Technik) und zum nebulosen Displacement (etwa Psychoanalyse). Vgl. Peter Fuchs: Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 54 Für einen Überblick und für interessante Beispiele vgl. Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse. Hamburg: Buske 1985. S. 33ff. 55 “Manchmal wenn man einem Gespräch zuhört, das sehr wichtig ist für zwei Männer, für zwei Frauen, für zwei Männer und zwei Frauen, manchmal ist es dann eine wunderbare
68 (durch den Genuß des Wiedererkennens wie etwa in der Musik) und die “planvolle[] Einschläferung des Rezipienten”.56 Wenn wir das umsetzen auf soziale Systeme und auch dort von Figuren der Wiederholung sprechen, so würde die Kommunikation von Affekten, die sich ja, wie wir oben sahen, den asketischen (Zeichen-)Bewandtnissen des Bewußtseins verdankt, als eine Entsprechung zur rhetorischen Funktion von Wiederholungsfiguren gedeutet werden können. Immer dann, wenn utterances repetiert werden (oder auch sich immer nur aufs Neue ansteuern lassen wie im Falle von Symbolen), geht es nicht mehr um Fremdreferenz, sondern um Selbstreferenz, die für die Operation der Kommunikation in der Selektion der Mitteilung verwirklicht wird. Daß Kommunikation stattfindet, steht außer Frage, wenn angeschlossen wird, aber wenn der Anschluß über Dasselbe, das Gleiche, das Ähnliche läuft, wird Informativität, wird Fremdreferenz, wird Thematizität ausgedünnt, so daß es, wie man vielleicht sagen könnte, nur noch der ‘Eindruck’ von Kommunikation ist, der zentral zu sein scheint. In gewisser Weise wird informationelle Unbestimmtheit zelebriert: Es geht nicht um die Sache, sondern um den ‘Eigenwert’ von Kommunikation, die – in psychischer Systemreferenz – gelesen werden kann als Steigerung der communio, als Ausdruck für Unausdrückbares, als Gefühlsäquivalent und damit auch als Generator für psychosomatische Zustände, die sich in einem (auch körperlichen) Verhalten ausdrücken, das von ekstatisch zuckenden Körpern im Tanz über die Faszination am Marschieren bis hin zu geschwenkten Feuerzeugen bei Popkonzerten oder Papstbesuchen reicht, ein Verhalten, das seinerseits als ‘geballte’ utterances begriffen werden kann: durch Anschlüsse, die dieses Verhalten sozial verstehen durch (mitunter gesteigerte) Kopien eben des gleichen Verhaltens – unter der Bedingung extrem restringierter Informativität. Es liegt, wenn man nach Beispielen sucht, in der Tat nahe, an communioKonzepte57 zu denken, an die Konstruktion von Gemeinschaft im Sinne von Ferdinand Tönnies.58 Hier interessiert besonders der Fall, daß communio sozial Sache wie jeder ständig alles wiederholt, was sie sagen, und jedesmal in der Wiederholung hat das, was jeder sagt, mehr Bedeutung für jeden von ihnen, und so machen sie weiter und weiter und weiter und weiter mit der Wiederholung…” (Gertrude Stein: The Making of Americans [1925]. Zitiert nach: Künstlerpaare u.a.m. Hg. von Paolo Bianchi. Köln: Kunstforum international 1990. Bd. 2. S. 70–89. Hier: S. 85 [Kunstforum international 107]). 56 Plett (wie Anm. 54). S. 42. 57 Das Wort communio führt auf das altlateinische commoinis zurück, das ‘mitverpflichtet’, ‘mitleistend’ bedeutet (vgl. dazu Manfred Jourdan: Kommunikative Erziehungswissenschaft, kritisch gesehen. Bad Heilbronn: Klinkhardt 1976. S. 23). 58 Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887). Berlin: Curtius 1922. Hier kann man sicher auch an die
69 inszeniert wird, beispielsweise durch Symbole wie Flaggenhissen, durch gemeinsames Singen etwa der Nationalhymne, durch Parallelisierung der beteiligten Körperzustände (gemeinsames Aufstehen oder gar Hand-aufs-Herz-Legen beim Absingen der Hymne), ferner durch das synchrone Schwenken von Wunderkerzen, Lichtstäben und Feuerzeugen etc. Es ist offenkundig, daß solche Inszenierungen weitgehend informationsfrei fungieren, ja geradezu ein gebrochenes, ein allergisches Verhältnis zu Nachfragen unterhalten, die das jeweilige Geschehen kontingent setzen würden. Sie sind (nicht selten auf der Basis von Musik)59 ausgestattet mit allen Insignien von Reflexions- und Negationsblockaden, damit formverwandt der Kommunikation von Gefühlen schlechthin, deren Nichtbestreitbarkeit ein wesentliches Merkmal von Kontingenzabwehr in der Moderne zu sein scheint. Vor allem aber sind die Reflexions- und Negationsblockaden dieser communio-Inszenierungen eingeschränkt auf die Fremdreferenz. Diese Kompaktutterances beenden nicht Kommunikation, sie provozieren vielmehr eine Art Einscheren oder Vereinnahmung dessen, was ihnen folgen kann. Sie verhindern nicht Anschlüsse schlechthin, die sich in die Trance der Wiederholung einbetten, sondern nur, daß man genau wissen und erörtern könnte, worum es jeweils geht. Dies ist zwar in der Wiederholung und als Wiederholung klar, die
Lebensweltkonzepte denken, denen ebenfalls mehr oder minder okkulte communioIdeen zugrunde liegen. Vgl. für die ‘wärmende’ Metapher des Darins Hubert Hohl: Lebenswelt und Geschichte. Grundzüge der Spätphilosophie Edmund Husserls. Freiburg: Alber 1962. S. 25: Lebenswelt als das “Je-Worin aller sensitiven, volitiven und cognitiven Akte” und als “Boden jeglicher Erfahrung”. Es geht um die “Welt unseres Lebens” und dieses Leben als “unser natürliches Leben” (Kursivierungen PF). Damit wird communio in Termini der Gemeinschaft und der Natur ‘ausgeflaggt’. Dazu paßt, daß sich der Lebenswelt sogar heilende Kräfte zuschreiben lassen (vgl. dazu Werner Marx: Vernunft und Lebenswelt. Bemerkungen zu Husserls “Wissenschaft von der Lebenswelt”. In: Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze. Hans-Georg Gadamer zum 70. Geburtstag. Hg. von Rüdiger Bubner u.a. Tübingen: Mohr 1970. S. 217–231). 59 Dies wäre dann auch wohl begründbar (vgl. Peter Fuchs: Vom Zeitzauber der Musik. Eine Diskussionsanregung. In: Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Hg. von Dirk Baecker u.a. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. S. 214–237; Peter Fuchs: Die soziale Funktion der Musik. In: Gesellschaft und Musik. Wege zur Musiksoziologie. Festgabe für Robert H. Reichardt zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Lipp. Berlin: Duncker & Humblot 1992. S. 67–86 [Sociologia Internationalis: Beiheft 1]; Peter Fuchs: Musik und Systemtheorie – Ein Problemaufriß. In: Diskurse zur gegenwärtigen Musikkultur. 13 Beiträge vom 9. Internationalen Symposium für Musikwissenschaft in Gießen 1994. Hg. von Nina Polaschegg, Uwe Hager und Tobias Richtsteig. Regensburg: ConBrio 1996. S. 49–55 [Forum Musik Wissenschaft 3]; Fuchs und Heidingsfelder [wie Anm. 47]). Dazu, daß man schon früh die Gefahren dieser Körper-Geist-Seele-Affektion im Blick auf den Walzer gesehen hat, vgl. Salomo Jakob Wolf: Beweis dass das Walzen eine Hauptquelle der Schwäche des Körpers und des Geistes unserer Generation sey. Halle: Hendel 1797.
70 auf ein mitmachendes Repetieren setzt, nicht aber dann, wenn auf der Selektionsseite der Information angeschlossen werden soll, ein Vorgang, der für communio kontraindiziert wäre. Es versteht sich, daß dieser Vorgang ‘emphatischer’ (oder: ‘emphatisierender’ oder ‘enthusiastischer’)60 Kommunikation stark rituelle und mitunter auch mythologisierende Züge aufweist. Wir wollen das, was dabei herauskommt – in welcher Verkleidung auch immer – als das soziale Äquivalent für Trunkenheit auffassen. Dionysos tanzt im System, wenn es nicht mehr um Informationen geht. Wir können abschließend nur noch eine, allerdings instruktive Illustration geben.
VI. Adolf Hitler formulierte schon früh (Mitte 1933), daß der 30. Januar 1933 und die folgende Bündelung der Macht in seiner Partei als ‘nationale’ oder ‘nationalsozialistische’ Revolution zu begreifen sei.61 Aus Gründen, die sich hier nicht nachzeichnen lassen, wurde sowohl dieses Ereignis wie eine Reihe anderer (gedenkfähiger) Ereignisse in die Produktion des nationalsozialistischen Mythos und der damit verbundenen Rituale einbezogen, der 30. Januar ohnehin, der 24. Februar (Gedenken an die Verkündigung des Parteiprogramms von 1920), der Reichsparteitag (September) mit seinen spezifisch auf SA und SS bezogenen Appell-Programmpunkten, schließlich auch der 9. November (Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung). Gerade dieser letzte Gedenktag, der die Erinnerung an Hitlers Putschversuch und an die 16 gefallenen Putschisten wachhalten sollte, ist Kristallisationspunkt mythologisierender Rituale, die die Form, die wir oben entwickelt haben, sehr genau ausfüllen, nämlich die Form der Wiederholung (eines Ur-Ereignisses: immer wieder), die als Kompaktäußerung keine eigene Informativität aufweist. Wiederholt wurde zunächst auf feierliche, pathetisch eminent überhöhte Weise die Struktur des Originalereignisses selbst: der Marsch der ‘alten Kämpfer’ vom Bürgerbräukeller zur Feldherrnhalle.62 Der Zug fand in historischen Kostümen statt. Die ‘alten Kämpfer’ (die Überlebenden des Putsches) waren Mitglieder des sogenannten ‘Blutordens’, den Hitler gegründet hatte.
60 Ohne dies hier eigens diskutieren zu können, sei darauf verwiesen, daß wir mit dem Wort ‘Enthusiasmus’ auf dessen (Kantisch gesehene) Verbindung mit dem ‘Erhabenen’ (le sublime) anspielen (vgl. etwa Jean-François Lyotard: Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte [1986]. Hg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 1988). 61 Ich orientiere mich fortan ohne weitere Einzelnachweise an Klaus Vondung: Revolution als Ritual. Der Mythos des Nationalsozialismus. In: Revolution und Mythos. Hg. von Jan Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt a.M.: Fischer 1992. S. 206–218. 62 1935 wurde diese Überhöhung noch einmal überboten: Die 16 exhumierten Blutzeugen waren in der Feldherrnhalle aufgebahrt und wurden dann in den neuen Ehrentempel am Königsplatz transportiert. Wir berichten von dieser Veranstaltung.
71 Vor dieser Gruppe marschierte die Führungsgruppe, in der die ‘Blutfahne’ von 1923 getragen wurde. Hinter den ‘alten Kämpfern’ folgten die wichtigsten Personen der Partei. Die Marschstrecke selbst war eingefaßt mit 240 Pylonen, jede Pylone galt einem Namen der Blutopfer. Jedesmal, wenn der Zug eine Pylone erreichte, wurden die Namen der Gefallenen der Bewegung ausgerufen. Der Marsch selbst wurde via Lautsprecher (unentwegt) musikalisch begleitet durch das Kampflied der Bewegung: das Horst-Wessel-Lied. Vor der Feldherrnhalle wurden 16 Kanonenschüsse ausgelöst, die die tödlichen Schüsse vom 9. November symbolisierten.63 Hitler plazierte dann einen Kranz an der Gedenktafel, die Särge der Blutopfer wurden auf Lafetten geschoben unter den Klängen des Liedes vom ‘guten Kameraden’. Danach wurde das Deutschlandlied angestimmt, das auf dem Weg zum Königsplatz in ständiger Wiederholung immer lauter gesungen wurde, bis die Lafetten vor den beiden Ehrentempeln aufgestellt waren. Danach kam es zum sogenannten ‘letzten Appell’. Die Namen der Märtyrer wurden erneut verkündet. Anstelle der Opfer antwortete die HJ bei jedem Aufruf mit “Hier!”, wonach dann jeweils drei Salutschüsse abgefeuert wurden. Dann erneut das Horst-Wessel-Lied und das Verbringen der Särge in die Ehrentempel. Die Blutzeugen bezogen so eine ‘ewige Wache’. Am Ende erklang der Badenweiler-Marsch und dann wiederum und abschließend in größtmöglicher Lautstärke das Deutschlandlied. Der Gesamtvorgang war, wie man sagen könnte, von liturgischer Präzision, die Veranstaltung ein Weiheprozeß, eine Konsekrierung, in deren Verlauf die Feldherrnhalle (ihre Stufen) zum Altar transformiert wurden: Altar sind nun der Feldherrnhalle Stufen, Altar, der heimlich brennt von ihrer Glut, und was sie nicht mit ihren Fäusten schufen, errichtet steht es nun aus ihrem Blut.64
Die Feldherrnhalle wird locus numinosus, die Gefallenen sind Märtyrer, die Symbolik ist die einer quasi-göttlichen Offenbarung, geknüpft an die Insignien des ‘Reiches’. Die Feier ist die Inszenierung eines Mysteriums, über das man
63 Wobei in diese überhöhende Wiederholung die Substruktur der sich wiederholenden Kanonenschläge eingebaut ist. 64 Aus Herbert Böhmes “Kantate zum 9. November” (zitiert nach: Vondung [wie Anm. 61]. S. 211). Die Sakralisierung (identisch mit einem Negationsverbot) zeigt sich etwa auch in Gerhard Schumanns “Heldische[r] Feier”, einer chorischen Dichtung (vgl. ebd.): “Einer: / Und plötzlich steht uns über dem Gewimmel / Von Hast, Befehl und werkdurchtobtem Schwalle / Einsam und groß am aufgebrochenen Himmel / Das Bild der rot bestrahlten Feldherrnhalle. // Alle: / Wir baun des Reiches ewige Feldherrnhallen, / die Stufen in die Ewigkeit hinein, / Bis uns die Hämmer aus den Fäusten fallen. / Dann mauert uns in die Altäre ein”.
72 nur mit Symbolen sprechen kann.65 Es kann keine Einwände geben, weil die der Wahrnehmung angebotenen kompakt-opaken Verlautbarungen nicht informativ sind. Sie lassen nur (gleichsam nicht-nüchterne) Anschlüsse derselben Art zu. Wir wollen nicht verhehlen zu sagen, daß ‘Trunkenheit im Sozialsystem’, so begriffen, fatal zu sein scheint. Sie diszipliniert die psychischen Systeme in ihrer Umwelt auf Informationsarmut hin, insofern sie sich selbst nicht mehr an Informativität (Thematizität) aussteuert. Sie minimiert Negationsmöglichkeiten und kappt (im Zuge ihrer Funktionserfüllung) Reflexionschancen. Es mag sein, daß diese Form der Kommunikation ihrerseits prosperiert an der ‘wilden Kontingenz’ der Moderne. Hier soll genügen darauf hinzuweisen, daß dies nicht unproblematisch, vielleicht sogar gefährlich sein kann. Dionysos in Sozialsystemen – das könnte, wie zumindest unser Beispiel zeigt, verheerende Wirkungen zeitigen.
65 Das Ereignis selbst, man erinnert sich, war – für sich genommen – schlicht eine Banalität, ein Fiasko, ein Bubenstück, bestenfalls (wie Theodor Heuss formulierte) “ein Melodram, das die Zeitzeugen ausgepfiffen haben” (zitiert nach: Vondung [wie Anm. 61]. S. 211).
III ÄSTHETIKEN DES RAUSCHES
Wolfgang Proß
Masse und Rausch. William Hogarth und Charles Dickens* In his famous diptych Beer Street and Gin Lane (1751/59), William Hogarth had drawn a distinction between a form of drunkenness that is, in a manner of speaking, almost “sober” and sociable on the one hand, and the pernicious effects of the habit of intoxication on society on the other hand. When Hablot K. Browne took up Hogarth’s scenes in order to illustrate the culminating episodes of the “Gordon Riots” in Charles Dickens’s novel Barnaby Rudge (1840/41), he and his author Charles Dickens, however, operated a shift in their meaning: The orgy as the source of communitarian feeling and charismatic rule has lost its function in a modern world dominated – to use Max Weber’s phrase – by a “routinization” of social behaviour that denies its origin in a collective delirium. All attempts by a new prophet like Lord Gordon to restitute this charismatic base of society are doomed to failure. The essay explores the implications of this theme, which Dickens pursued further in his second historical novel A Tale of Two Cities (1859).
Zu den berühmtesten Kupferstichen von William Hogarth (1697–1764) zählen zwei Platten aus dem Jahr 1751, die unter dem Titel Beer Street und Gin Lane als Diptychon bekannt geworden sind, nicht zuletzt wegen ihrer sozialgeschichtlichen Bedeutung: Die Einschränkung und Überwachung des zur Volksseuche gewordenen Gin-Konsums durch die Behörden war noch im gleichen Jahr ein unmittelbares Resultat dieser Darstellungen, die ihm zudem das ‘harmlose’ Bier entgegenstellten, ja dieses sogar als Volksnahrungsmittel empfahlen. Auch Georg Christoph Lichtenberg hat in seinen Erklärungen der Hogarthischen Kupferstiche für den Göttinger Taschen Calender von 1795 beide Blätter unter diesem Gesichtspunkt behandelt, und ein anonymer Nachtrag zur zehnten Lieferung der Buchausgabe von 1808 hat diese Deutung noch verstärkt.1 In diesem Beitrag soll jedoch keineswegs die Interpretation der beiden Blätter unter sozialgeschichtlichem Aspekt fortgeführt werden;2 den Anlaß zu ihrer * Eine kritische Übersicht der Literatur zu Massenwahn und Massenpsychologie oder zur Funktion der Ekstase ist im Rahmen eines solchen Beitrags nicht möglich; allein die Erfassung der Spezialliteratur zu Elias Canetti oder der Studien zur Religionssoziologie Max Webers würden eigene Abhandlungen erfordern. Auch die Hogarth- und DickensLiteratur wird nur in vereinzelten Hinweisen erfaßt werden. 1 Vgl. hierzu Lichtenbergs Hogarth. Die Kalender-Erklärungen von Georg Christoph Lichtenberg mit den Nachstichen von Ernst Ludwig Riepenhausen zu den KupferstichTafeln von William Hogarth. Hg. von Wolfgang Promies. München/Wien: Hanser 1999. Lichtenbergs Text von 1795 ist abgedruckt auf S. 262–269, der anonyme Nachtrag der Buchausgabe von 1808 erscheint in den Anmerkungen, S. 350–352. Hier: S. 351f. 2 Eine ausführliche Darstellung enthält die kleine Monographie von Berthold Hinz: William Hogarth. Beer Street and Gin Lane. Lehrtafeln zur britischen Volkswohlfahrt. Frankfurt a.M.: Fischer 1984 (Reihe Kunststück).
76 Behandlung bieten vielmehr zwei Illustrationen von Hablot Knight Browne zu Charles Dickens’ Roman Barnaby Rudge (1840/41), die eine – freilich modifizierte – Reprise der Gin Lane und der Beer Street enthalten. Den Kern des ersten der beiden historischen Romane von Dickens bildet die Schilderung der gewaltsam niedergeschlagenen “Gordon Riots” von 1780, bei denen es um den von dem schottischen Lord George Gordon (1751–1793) demagogisch entfachten Widerstand der Bevölkerung gegen eine Milderung der anti-katholischen Gesetzgebung in England ging (Catholic Relief Act, erlassen 1778), der in einem Blutbad endete.3 Hier gibt es vor allem zwei Darstellungen, die Browne ikonographisch an diese Szenen Hogarths angelehnt hat. Die Beziehung von Dickens’ Illustrator – der unter dem Namen “Phiz” berühmt geworden ist – zu Hogarth ist bekannt; aber in diesem Fall ist die konkrete Abhängigkeit der Illustrationen zu den Szenen der “Gordon Riots” im Roman von den Blättern Hogarths noch nicht diskutiert worden.4 Es handelt sich damit nicht nur um eine Marginalie zu Dickens’ Barnaby Rudge, die an sich schon Beachtung verdiente, sondern – im Rahmen des Themas dieses Bandes – um eine Auslegung dieses Rückgriffs der Textillustration bei Dickens und “Phiz” auf den bedeutenden Vorgänger und seine weit verbreiteten Blätter. Die daraus resultierende Interpretation der Illustrationen Brownes als einer Art ‘Anti-Hogarth’ wird gestützt durch einen Blick auf den zweiten historischen Roman des Autors, A Tale of Two Cities (1859), der vor und während der Französischen Revolution spielt und in dem die Gestaltung des Themas des selbstzerstörerischen Rausches eines Volksaufstandes aus Barnaby Rudge fortgeführt wird. Aber bevor auf das hier zusammengestellte kleine Text- und Bildkorpus einzugehen ist, sind einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen über das Thema von “Masse und Rausch”, denn die Erklärungen und Deutungen, die dem Phänomen des Kollektivrausches aufgrund der politischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zuteil geworden sind, sind – etwa durch Freud (Massenpsychologie 3 1958 erschien erstmals die klassische Studie Hibberts zu diesem Thema, die seit 2004 in einem Neudruck vorliegt: Christopher Hibbert: King Mob: The Story of Lord George Gordon and the London Riots of 1780. Stroud Gloucestershire: Sutton Publishing Ltd. 2004 (Erstdruck: London: Longmans, Green & Co. 1958). Vgl. ferner: Nicholas Rogers: Crowd and People in the Gordon Riots. In: The Transformation of Political Culture: England and Germany in the Late Eighteenth Century. Hg. von Eckhart Hellmuth. Oxford: Oxford University Press 1990. S. 39–55. 4 Michael Steig: Dickens and Phiz. Bloomington/London: Indiana University Press 1978. Bei Steig nimmt die Diskussion von Barnaby Rudge nur wenig Raum ein (S. 57–60), im Gegensatz zum ersten der beiden Teile von Master Humphrey’s Clock, dem später ebenfalls separat erschienenen Roman The Old Curiosity Shop; Steigs Interesse konzentriert sich weitgehend auf den Einfluß von Hogarth auf die Zeichnung der Charaktere im Progress ihrer Geschichte.
77 und Ich-Analyse, 1921), Ortega y Gasset (La rebelión de las masas, 1929) oder Elias Canetti (Masse und Macht, 1960) – überwiegend negativ geprägt, sicher zu Recht in der Bewertung und als Reaktion auf totalitäre Systeme. Aber dies verdeckt einen wesentlichen Aspekt des Phänomens, der gerade auch heute in sicher nicht primär politischen Formen von Massenveranstaltungen hervortritt, sei es, daß sie bloßer Unterhaltung oder der Kundgebung von Gesinnungen dienen; ob Echternacher ‘Springprozession’, Love Parade, Lichterketten oder geistliche Massentreffen – sie unterscheiden sich in ihrem Charakter deshalb nicht, weil sie das Kennzeichen eines orgiastischen Gemeinschaftserlebnisses aufweisen, das jenseits aller konkret bekundeten Zielsetzungen wirksam ist: die Aufhebung des rational geordneten Alltags und der Distanzierung der Menschen voneinander. Nicht so sehr auf die oben genannten Autoren soll deshalb im folgenden vornehmlich Bezug genommen werden, sondern auf Max Webers Deutung der ursprünglichen religiös-gemeinschaftsstiftenden Erfahrung der Orgie und ihrer Inkompatibilität mit der im Prozeß der Rationalisierung entstandenen Alltagswelt, in die sie jedoch immer wieder einzubrechen vermag. Daß dies meist in destruktiver Weise geschieht, dafür gibt es Gründe, die Max Webers Theorie der Unvereinbarkeit von Ekstase und Alltag und ihre jüngste Diskussion durch den Philosophen Bruce Bégout ebenfalls zu erläutern vermögen.5
1. Ekstase, Alltagswelt und Vereinzelung: Max Weber und der “enterbte” Mensch der Moderne Die Darstellung machttrunkener Massen im Roman gilt eigentlich als Errungenschaft, welche erst der Literatur vor allem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verdanken ist, nicht zuletzt als Beitrag zur Psychologie der Masse in philosophischer und sozialpsychologischer Perspektive: Schriftsteller wie Hermann Broch, Elias Canetti und Heimito von Doderer oder Lion Feuchtwanger stehen hier ehrenvoll, als Vertreter einer zur soziologischen Anthropologie gewandelten Literatur, neben Wissenschaftlern vom Rang eines Sigmund Freud oder einer Hannah Arendt. Den genannten Schriftstellern voran ging jedoch Alfred Kubin mit seinem einzigen Roman Die andere Seite (1909), der in Wort und Bild die Menschheitsdämmerung des ersten Weltkriegs und den unvermeidlichen Zerfall der Bewußtseins- und Wertstrukturen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vorwegzunehmen schien, den dieser Krieg bei Siegern und Besiegten in Europa hervorbringen sollte. Kubin imaginiert 5 Vgl. hierzu die Studie von Bruce Bégout: La Découverte du quotidien. Paris: Éditions Allia 2005, der versucht, in kritischer Auseinandersetzung mit Max Weber und der von diesem angeregten wissenssoziologischen Diskussion (etwa bei Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann), aber auch mit Pierre Bourdieu, das Phänomen des Alltäglichen philosophisch zu erfassen (zu Bégouts Diskussion Webers vgl. S. 461–479).
78 den Zerfall seines Traumreiches jedoch in anderer Weise als seine Nachfolger, die von realen Massenerlebnissen ausgingen, wie etwa jenem berühmten Brand des Wiener Justizpalastes vom 15. Juli 1927, der für Canetti in Masse und Macht wie für Doderers Dämonen (1956) als Katalysator gedient hatte.6 Bei Kubin ist der Zerfall der Traumstadt Perle ein Vorgang ekstatischer Selbstzerstörung ihrer Bewohner, der sich anthropomorph bis in die belebte Natur und in die leblosen Artefakte der Zivilisation fortsetzt. Dabei bleibt die Rolle der Suggestion, die der omnipräsente, aber nicht faßbare Meister des Traumlandes Patera auf seine Untertanen ausübt, bewußt im Zwielicht; was hier fehlt, ist der für Elias Canetti so wichtige “Befehl”, der in der Massenbildung eine dominante Rolle spielt.7 Der faszinierende Text Kubins erlebte zwischen 1909 und 1928 zahlreiche Auflagen, verschwand dann aber aus dem literarischen Bewußtsein und wurde erst 1962 wieder entdeckt,8 und das hat wohl Gründe, die im Rückverweis auf symbolische Verfahren des 19. Jahrhunderts liegen, mit denen der Massenwahn des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts nicht adäquat erfaßbar schien. So zukunftsträchtig Kubins Roman als Zerfallsprognose der Kultur Europas gewesen sein mag, der Typus des Traummenschen, wie er hier in der Figur des Ich-Erzählers – Maler wie Kubin selbst – vorgeführt wird, verweist auf ein Problem, das prägnante historische Wurzeln hat: Es stellt sich für das moderne Individuum, das sich auf der einen Seite als Teil einer Gemeinschaft begreift, zum andern in seinem individuellen Glücksstreben von ihr getrennt ist, mit der Revolution in Frankreich von 1789, aber auch mit der ‘Machtergreifung’ von Bürokratien, die sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert vollzog. Zwar betont die Geschichtswissenschaft zu Recht die Genese von Bürokratien aus der Herrschaft des Absolutismus; aber solange sich dieser zugleich der Ideologie des Gottesgnadentums bediente, erschien dem Bürger der Staat zwar als Maschine, der jedoch die Geltung des Prinzips des Gemeingeistes nur beeinträchtigt, aber nicht eliminiert. Der Patriotismus des 18. Jahrhunderts 6
Vgl. hierzu Justizpalast in Flammen. Ein brennender Dornbusch. Das Werk von Manés Sperber, Heimito von Doderer und Elias Canetti angesichts des 15. Juli 1927. Hg. von Thomas Köhler und Christian Mertens. München: Oldenbourg Verlag 2005. Zum gesamten Komplex von Literatur und Massenwahntheorie vgl. auch Fransisco Budi Hardiman: Die Herrschaft der Gleichen. Masse und totalitäre Herrschaft. Eine kritische Überprüfung der Texte von Georg Simmel, Hermann Broch, Elias Canetti und Hannah Arendt. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2001 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 20: Philosophie 625). 7 Elias Canetti: Masse und Macht (1960). München: Hanser 1973 (Reihe Hanser 124/125); vgl. Bd. II. “Der Befehl”. S. 29–65. 8 Alfred Kubin: Die andere Seite. Phantastischer Roman (1909). Mit einem Nachwort von Horst Bienek. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1962. Ein Reprint der Originalausgabe mit allen Zeichnungen Kubins liegt seit 1990 in der edition spangenberg, München, vor.
79 bringt dies deutlich zum Ausdruck, der im aufgeklärten Herrscher vom Typus Friedrich II. oder Joseph II. die leibhafte Verkörperung dieses Gemeingeistes zu sehen bereit ist. Die mehr oder minder gewalttätige Eliminierung des charismatischen, von Gott eingesetzten Führers – die Hinrichtung des Königs am 21. Januar 1793 symbolisierte dies in voller Schärfe – überläßt das Volk einem Prozeß der radikalen Säkularisierung der Lebensführung, die der Empfindung einer Teilhabe an charismatischer, gemeinschaftsstiftender Herrschaft entbehrte und deshalb isolierte Individuen hinterließ, denen das Gefühl der sozialen Kohärenz abhanden zu kommen drohte.9 Der Kollaps der Revolution vom 8.–10. Thermidor des Jahres II (26.–28. Juli 1794) zeigte jedoch auch, daß diese Zäsur so einschneidend war, daß die Versuche der Wiederherstellung solcher Teilhabe vielfach nur die Illusion einer Kohärenz der Mitglieder der Gemeinschaft zu produzieren vermochten: Weder der Kult der Republik in der Revolution, noch die formale Restauration royalistischer Autorität, noch die Kompensation ihres Verlustes durch die Sakralisierung der Begriffe einer politisch verstandenen “Nation” – im Sinne des Contrat social Rousseaus – oder des “Volkes”, das als von einem gemeinsamen “Geist” zusammengehaltene sprachlich-kulturelle Einheit gesehen wurde, vermochten die entstandene Lücke in der Gestaltung des Lebenssinnes mehr als an der Oberfläche zu füllen. Ein sicherer Indikator für dieses Gefühl der Leere liegt darin, wie sehr gerade Versuche, eine Restitution der Gemeinschaftsstiftung durch die Kunst zu propagieren, in dieser Zeit florieren: im Ältesten Systemprogramm der jungen Tübinger Hegel, Hölderlin und Schelling (1796/97), in den Reden über die Religion Friedrich Schleiermachers (1799) sowie in den ohne diesen Kontext in ihrem Byzantinismus gegenüber dem preußischen Königshaus fast absurden Fragmenten des Novalis mit dem Titel Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798). Sichtbar wird dies besonders im 18. dieser Fragmente, in der These, der König – selbst ein höheres Wesen – assimiliere sich “die Masse” [sic!] seiner Untertanen: Jeder Staatsbürger ist Staatsbeamter. Seine Einkünfte hat er nur, als solcher. Man hat sehr unrecht, den König den ersten Beamten des Staats zu nennen. Der König ist kein Staatsbürger, mithin auch kein Staatsbeamter. Das ist eben das Unterscheidende der Monarchie, daß sie auf den [sic!] Glauben an einen höhergebornen Menschen, auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen, beruht. Unter meines Gleichen kann ich mir keinen Obern wählen; auf Einen, der mit mir in der gleichen Frage
9
Der von den Nationalsozialisten weitgehend aus dem Bewußtsein verdrängte junge Historiker Eckart Kehr (1902–1933) hat in seinen Arbeiten zur preußischen Sozialgeschichte diesen Aspekt besonders hervorgehoben; vgl. Eckart Kehr: Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. und eingel. von Hans-Ulrich Wehler. Mit einem Vorwort von Hans Herzfeld. Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1976.
80 befangen ist, nichts übertragen. Die Monarchie ist deswegen ächtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunct geknüpft ist; an ein Wesen, was zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört. Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch. Diese Dichtung drängt sich dem Menschen nothwendig auf. Sie befriedigt allein eine höhere Sehnsucht seiner Natur. Alle Menschen sollen thronfähig werden. Das Erziehungsmittel zu diesem fernen Ziel ist ein König. Er assimilirt sich allmählich die Masse seiner Untertanen. Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft?10
Um den Sinn des Ausdrucks zu erfassen, der König ‘assimiliere’ sich die Masse seiner Untertanen, sei an eines der Mémoires erinnert, die Diderot für die Zarin Katharina II. verfaßt hat; in dem De la capitale überschriebenen Text vergleicht er die verschiedenen Regierungsformen mit Hilfe des Bildes von Kugeln, die in der Monarchie zu einer Pyramide geschichtet sind, in der Demokratie aber auf gleicher Ebene liegen und sich dabei berühren, während sie unter einer Despotie auf ihr isoliert liegen. Diese Formen der Regierung sind unterschiedlich gefährdet: Die Bewegung der Basiskugeln, d.h. der Volksmasse, läßt die Monarchie kollabieren; die Überwindung der Isolation und der Zusammenschluß der Kugeln bedeutet das Ende des Despotismus, der Verlust des Kontaktes untereinander jedoch das Ende der Demokratie.11 Auch wenn der Text Diderots bis ins 20. Jahrhundert unbekannt war, konzentriert er doch bekannte Überlegungen zur Herrschaft, die nun Novalis durch ein illusionäres Bild der Monarchie zu ersetzen bemüht ist, das erneut einzig der Monarchie eine aktive Rolle im Zusammenhalt des Staates zuschreibt. Der Mensch zwischen der Revolution von 1789 und dem ersten Weltkrieg erfährt, angesichts solcher mehr ästhetischen als politischen Konzepte, die rationale Alltagswirklichkeit als dieser ursprünglichen Gemeinschaft entfremdet. Er ist seines Ursprungs in der charismatischen Gemeinschaft “enterbt” – “déshérité”, wie ihn Charles Baudelaire in seinem ersten von fünf dem Wein gewidmeten Gedichten der Fleurs du Mal nennt; aber der Rausch verspricht ihm eine temporäre Wiederherstellung eines Daseins “voller Licht und Brüderlichkeit”, welche dieser Alltag verdeckt. So evoziert L’Âme du vin [Die Seele des Weins] die Wohltat des Rausches als eine Ekstase, die den Menschen für den Alltag rüstet, indem sie ihn an den Ruhetagen mit Gottes charismatischer 10 Novalis: Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798). In: Novalis: Schriften. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart: Kohlhammer 1965. Bd. 2. S. 485–503. Hier: S. 489. 11 Denis Diderot: Mémoires pour Catherine II (1773). Hg. von Paul Vernière. Paris: Garnier 1966. S. 176. Zu Diderots Mémoires vgl. generell Wolfgang Proß: “Von Riga nach Paris und von Riga nach Petersburg” – Herders Reisejournal und Diderots Mémoires für Katharina II. In: Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion. Hg. von Conrad Wiedemann. Stuttgart: Metzler 1988. S. 361–374 (Germanistische SymposienBerichtsbände VIII).
81 Präsenz verbindet, welche die Gemeinschaft stiftet und ihren Fortbestand garantiert: Un soir, l’âme du vin chantait dans les bouteilles: “Homme, vers toi je pousse, ô cher déshérité, Sous ma prison de verre et mes cires vermeilles, Un chant plein de lumière et de fraternité! Je sais combien il faut, sur la colline en flamme, De peine, de sueur et de soleil cuisant Pour engendrer ma vie et pour me donner l’âme; Mais je ne serai point ingrat ni malfaisant, Car j’éprouve une joie immense quand je tombe Dans le gosier d’un homme usé par ses travaux, Et sa chaude poitrine est une douce tombe Où je me plais bien mieux que dans mes froids caveaux. Entends-tu retentir les refrains des dimanches Et l’espoir qui gazouille en mon sein palpitant? Les coudes sur la table et retroussant tes manches, Tu me glorifieras et tu seras content; J’allumerai les yeux de ta femme ravie; A ton fils je rendrai sa force et ses couleurs Et serai pour ce frêle athlète de la vie L’huile qui raffermit les muscles des lutteurs. En toi je tomberai, végétale ambroisie, Grain précieux jeté par l’éternel Semeur, Pour que de notre amour naisse la poésie Qui jaillira vers Dieu comme une rare fleur!”12 12
Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen (1861). Französisch / Deutsch. Übers. von Monika Fahrenbach-Wachendorff. Stuttgart: Reclam 2004. S. 218 (RUB 9973): “Am Abend hub die Seele des Weines an zu singen: / ‘Für dich, du teurer Mensch, enterbt und ausgestoßen, / Soll jetzt mein brüderliches, helles Lied erklingen, / Aus meinem Glasgefängnis, mit Siegellack verschlossen! // Ja, in der Glut der Hänge muß man viel verlangen / An Mühsal, Schweiß und sengendheißem Sonnenschein, / Damit ich werden kann und Lebensgeist empfangen; / Doch will ich niemand schaden und nicht schnöde sein, // Denn groß ist meine Freude, rinne ich herab / In eines Menschen Kehle, den harte Arbeit plagt; / Und seine warme Brust ist mir ein sanftes Grab, / Das mehr als meine kalten Keller mir behagt. // Hörst du den Kehrreim jedes Sonntags schwelgerisch, / Und wie die Hoffnung raunt im Pochen meiner Brust? / Die Ärmel hochgekrempelt, Ellbogen auf dem Tisch, / So rühmst du mich und findest deine Lust; // Im Auge deines Weibes zünd ich frohen Schein; / Und deinem Sohne geb ich Kraft und Farbe wieder, / Für diesen schwachen Lebenskämpfer will ich sein / Das Öl, das seine Muskeln strafft und seine Glieder. // Als pflanzliches Ambrosia sink ich in dich hinein, / Ein edles Korn, gesät von einem ewigen Sämann; / Als Frucht aus unsrer Liebe soll Poesie gedeihn, / Die sich als seltene Blume zu Gott erheben kann!’” (S. 219).
82 Der Genuß des Weins bedeutet hier nicht Ekstase im Sinn einer Befreiung von gefesselten bzw. unterdrückten Trieben wie bei einem Massenerlebnis, das auf der Suggestionskraft eines Führers, Propheten oder Zauberers beruht, also – in Freuds Worten – auf einer “Regression zu einer primitiven Seelentätigkeit, wie man sie der Urhorde zuschreiben möchte”.13 Was Baudelaire evoziert, ist vielmehr die Versöhnung des Menschen mit sich selbst in einem orgiastischen Erlebnis, Bewußtwerdung der Gemeinschaft mit den Mitmenschen und der Teilhabe an jenem Göttlichen, das im Alltag unsichtbar wird. Das Problem, um das es deshalb im folgenden gehen wird, ist entsprechend nicht dasjenige der Triebenthemmung im Rausch der kollektiven Erfahrung, sondern dasjenige des Kontrasts zwischen der Sehnsucht nach der Wiederkehr der ursprünglichen religiösen Erfahrung der Gemeinschaftsbildung im orgiastischen Rausch und seiner Bewährung bzw. Labilität in der von “Veralltäglichung” gekennzeichneten, rational geordneten Wirklichkeit. Unmittelbar nach Freuds Analyse des Massenwahns erschien 1922 Max Webers nachgelassenes Werk Wirtschaft und Gesellschaft, das nicht den Übervater der Urhorde ins Zentrum der Massenproblematik stellt, sondern die gesellschaftliche Differenzierung zwischen dem Priester bzw. Zauberer und dem Laien, die einen unumkehrbaren historischen Prozeß in Gang setzt: Der Zauberer ist der dauernd charismatisch qualifizierte Mensch im Gegensatz zum Alltagsmenschen, dem “Laien” im magischen Sinn des Begriffs. Er hat insbesondere die spezifisch das Charisma repräsentierende oder vermittelnde Zuständlichkeit: die Ekstase, als Objekt eines “Betriebs” in Pacht genommen. Dem Laien ist die Ekstase nur als Gelegenheitserscheinung zugänglich. Die soziale Form, in der dies geschieht, die Orgie, als die urwüchsige Form religiöser Vergemeinschaftung, im Gegensatz zum rationalen Zaubern, ist ein Gelegenheitshandeln gegenüber dem kontinuierlichen “Betrieb” des Zauberers, der für ihre Leitung unentbehrlich ist. Der Laie kennt die Ekstase nur als einen, gegenüber den Bedürfnissen des Alltagslebens notwendig nur gelegentlichen Rausch, zu dessen Erzeugung alle alkoholischen Getränke ebenso der Tabak und ähnliche Narkotika, die alle ursprünglich Orgienzwecken dienten, daneben vor allem die Musik, verwendet werden.14
Max Weber betont den Gelegenheitscharakter der rauschhaften Ekstase, die der breiten Menge zugestanden wird, gegenüber der Professionalisierung des Verwalters des Charisma, das Gemeinschaft stiftet, im “Zauberer” oder “Propheten”, der in seinem dauernden Besitz ist, aber den Kult in die profane 13
Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Die Zukunft einer Illusion (1921). Frankfurt a.M.: Fischer 1979. S. 62. 14 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922). Studienausgabe besorgt von Johannes Winckelmann. Tübingen: Mohr 1972. Vgl. hierzu: Zweiter Teil. Kapitel V: “Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung)”. § 1. “Die Entstehung der Religionen”. S. 246.
83 Form eines “vergesellschafteten Heilsbetriebs” überführt,15 um diese Erfahrung ritualisierbar und dauerhaft zu machen und sie damit in den Alltag der Gemeinschaft einbringen zu können. Die in ihren Ursprüngen notwendig labile charismatische Herrschaft ist nur zu sichern, wenn sie sich mit einer genuin fremden, ja sogar feindlichen Macht verbündet – der Tradition; sie wird, wie Weber sagt, unvermeidlich “Dogma, Lehre, Theorie oder Reglement oder Rechtssatzung oder Inhalt einer sich versteinernden Tradition”.16 Aber die mit der Trennung der Gemeinschaft in Priesterkaste und Laienstand verbundene Verweltlichung des Religiösen ist nicht unbedingt gesichert; sie kennt im Auftreten von Prophetenfiguren unter bestimmten Umständen immer wieder Momente, in denen sich Einzelne mit ihrem persönlichen Charisma diesem Prozeß der Verweltlichung und der damit verbundenen Erstarrung des Religiösen entgegenstellen.17 In einem solchen Moment treten einander demnach zwei Formen des gemeinschaftsstiftenden Charisma feindselig gegenüber: das “versachlichte” ursprüngliche Charisma, das der Aufrechterhaltung bestehender Ordnungen dient, und das “genuine Charisma, welches sich nicht auf gesatzte oder traditionelle Ordnung und nicht auf erworbene Rechte, sondern auf die Legitimation persönlichen Heldentums oder persönlicher Offenbarung beruft”.18 Den Moment eines solchen Zusammenstoßes der beiden Formen hat Dickens in seinem Roman Barnaby Rudge dargestellt, und es ist die Labilität der Botschaft des genuinen – und von Dickens durchaus mit einer gewissen Sympathie dargestellten – Charismatikers Lord Gordon, die die Niederlage des Volksaufstandes provoziert, weil Alltagsleben und etablierte Tradition dieses Charisma nicht mehr tolerieren. Aber hier ist noch eine weitere Bemerkung nötig, und sie betrifft William Hogarths Blätter bzw. die ihnen beigegebenen Bildunterschriften, die von James Townley, einem Freund des Künstlers, stammen und die den heiteren Rausch des Bierkonsums jenem giftigen der Gin Lane gegenüberstellen. Jenseits der unbezweifelten sozialgeschichtlichen Deutung der hier verkündeten Moral tritt in ihnen eben jenes Moment des Kontrasts zwischen dem Rausch des Gemeinschaftsgefühls hervor, der unschädlich sein kann, wenn er in der Beer Street im Rahmen einer Tradition und gesellschaftlichen Akzeptanz verläuft, und jenem Rausch, der in der Gin Lane durch den Zwang zur Wiederholung zur Sucht wird und deshalb die Bande der Gemeinschaft zerstört. 15
Ebd. § 4: “ ‘Prophet’ ”. S. 268f. Ebd. Zweiter Teil. Kapitel IX: “Soziologie der Herrschaft”. 5. Abschnitt. § 2: “Entstehung und Umbildung der charismatischen Autorität”. S. 661f. 17 Ebd. S. 268: “Wir wollen hier unter einem ‘Propheten’ verstehen einen rein persönlichen Charismaträger, der kraft seiner Mission eine religiöse Lehre oder einen göttlichen Befehl verkündet”. 18 Ebd. S. 679. 16
84 Die dritte Strophe des Bier-Couplets und die zweite des Gin-Textes Townleys scheinen diese Differenz scharf hervorzuheben: Genius of Health, thy grateful Taste Rivals the Cup of Jove, And warms each English generous Breast With Liberty and Love. (Beer Street) Virtue and Truth driv’n to Despair, It’s Rage compells to fly, But cherishes with hellish Care, Theft, Murder, Perjury. (Gin Lane)
Die Platitüde dieses Couplets zu Beer Street mit seiner Rhetorik kann aber nicht ganz vermeiden, daß dem Ruf nach Freiheit und Liebe selbst immer ein anarchisches Moment innewohnt, das den Gang des Alltags zum Stillstand bringt und deshalb die Harmlosigkeit dieser Form des Rausches dementiert. Hogarth zeigt dies in Beer Street mehrfach: die Sänftenträger, die ihre Last – jene vornehme Dame mit den absurd hochgeschlagenen Reifröcken – absetzen, um stattdessen ‘einen zu heben’, sind ebenso ambivalent wie der Lastträger, dessen Korb voller Makulatur in den lesbaren Titeln zeigt, daß hier der Geschäftsgang des Alltäglichen mehr als suspendiert wird; er wird geradezu überflüssig, denn zu den Büchern, die einem Koffermacher zur Verwendung geliefert werden sollen, zählt auch der “Band 9999” einer Sammlung Politicks.19 Dies ist nicht bloß Zeitsatire, sondern mehr: ein Stück Alltagsprotest gegen den Alltag, der auch den latenten Umsturz dieser Gewohnheiten herbeiführen könnte. Besonders wichtig erscheint hier noch ein weiteres Detail: Hogarth hat an Beer Street 1759 eine Überarbeitung vorgenommen,20 die eine Verstärkung dieser Tendenz produziert: Unter dem Schildermaler war der Schmied ursprünglich damit beschäftigt, einen französischen Postillon gleichsam brachial aus dieser Szene britischen Wohlbehagens zu entfernen; die Reminiszenz an die Kontrastierung der Nationalstereotypen England und Frankreich, schon so explizit in dem Gemälde und der Radierung von The Roast Beef of Old England (1748/49), und, nach der Frühfassung von Beer Street (1751), im Blätter-Diptychon The Invasion: France – England (1756) fortgeführt, ist deutlich. Die Überarbeitung von 1759 tilgt die Figur des Postillons, um dem Liebespaar im Vordergrund mehr Raum zu geben. Der Schmied aber erhält nun eine orgiastische Gestik: In der einen erhobenen Hand hält er den schäumenden Bierkrug, während die andere eine Hammelkeule schwenkt, als wäre sie das Champagnerglas von Mozarts Don Giovanni: “Viva la libertà!” Wir 19 20
Vgl. hierzu die Abbildungen bei Hinz (wie Anm. 2). S. 19–21, besonders die Abb. S. 20. Vgl. hierzu ebd. S. 18f.
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Abb. 1. William Hogarth: Beer Street (1751/59).
werden dieser Geste bei Hablot K. Browne in einer Umdeutung begegnen, die gerade dieses anarchische Moment dokumentiert. Lichtenberg jedenfalls sah diese Gestik der beiden Arme des Schmieds noch motiviert in einem “Grund von Gleichgewicht, ohne welches keine Seligkeit möglich ist”;21 denn die Pfeife des Schmieds erscheint in ihrer Perspektivierung als Balken einer Waage, an denen Bierkrug und Fleischstück sich einpendeln (Abb. 1 und 2). An die Möglichkeit solcher Balance als Resultat eines ‘sanften’ Rausches scheint Browne jedenfalls nicht mehr zu glauben. 21
Vgl. den Abdruck bei Promies (wie Anm. 1). S. 265.
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Abb. 2. William Hogarth: Gin Lane (1751).
2. Ein Anti-Hogarth: Hablot K. Brownes Illustration der “Gordon Riots” in Dickens’ Barnaby Rudge Es ist ein denkwürdiges Thema, das Dickens in seinem 1840/41 erschienenen Roman Barnaby Rudge aufgreifen sollte: die “Gordon Riots” von 1780 (2.–9. Juni 1780).22 Sie demonstrierten ein in England durchaus vorhandenes 22
Auch literarisch stellt das Thema und seine Ausführung durch Dickens eine Besonderheit dar; denn Massen im Roman erscheinen – etwa im historischen Roman Scotts – nur in einzelnen Repräsentanten. Interessant wäre deshalb hier ein Vergleich mit Alessandro Manzonis Behandlung der Mailänder Unruhen in den Hunger- und
87 Unruhepotential, das dem stereotypen Kontrast von englischer Freiheit und französischem Despotismus, wie ihn gerade Hogarth in seinen beiden Blättern The Invasion ausgedrückt hatte, widersprach. Die Regierungszeit König George III. (1760–1820) trat in ihre schwierige Phase ein, einmal durch das schlechte Management des Krieges gegen die nach Unabhängigkeit strebenden amerikanischen Kolonien (1775–1781), die von Frankreich unterstützt wurden; zum anderen durch das Ungeschick des Königs selbst in der Wahl seiner Minister und die zunehmend sichtbar werdende autokratische Tendenz im Gebaren des Monarchen, die nicht zuletzt auf eine StoffwechselErkrankung (Porphyrie) zurückzuführen ist und die sich später periodisch bis zum Wahnsinn steigern sollte; von 1811 bis zu seinem Tod 1820 war der König definitiv regierungsunfähig. Lord Gordons Attitüde war gerade von dem Kampf um die amerikanische Unabhängigkeit beeinflußt; in ihm verband sich ein vages Sendungsbewußtsein mit dem Gefühl, Anwalt eines unterdrückten Volkes zu sein. Der Erlaß des Catholic Relief Act von 1778 bündelte diese beiden Komponenten und verschaffte Gordon im Kampfruf No Popery! einen Kristallisationspunkt, jene fixe Idee, die ein charismatischer Führer braucht, um sich der Öffentlichkeit als Prophet zu präsentieren und um eine Anhängerschaft zu werben. Es handelte sich bei dieser Gesetzesänderung übrigens keineswegs um einen Akt der Toleranz von herrschender protestantischer Seite; vielmehr sollte die Milderung der gesetzlichen Restriktionen, die für Katholiken galten, dazu verhelfen, ein bisher nicht genutztes Potential an Männern für den Kriegseinsatz in Amerika verfügbar zu machen.23 Die Entwicklung des Aufstandes und die Rolle Gordons selbst nachzuzeichnen, ist hier nicht der Ort; wichtig ist jedoch die Charakteristik, die Dickens dieser Zeit später im Roman A Tale of Two Cities gegeben hat, dessen zeitlicher Ablauf (1775–1793) sich mit demjenigen von Barnaby Rudge überschneidet (1775–1780). Denn dieser Roman beginnt, in der Manier von Hogarths The Invasion, mit einer Konfrontation der beiden Länder und der Königspaare, die England und Frankreich regieren, Louis XVI. und Marie-Antoinette, George III. und Sophie Charlotte. Aber die Wertung ist nicht mehr diejenige Hogarths,
Pestjahren um 1630 in den Promessi Sposi von 1827, hier besonders in der Darstellung der aufständischen Masse in Kapitel 13 des Romans. Zu den Ereignissen des “Tages von San Martino” reflektiert Manzoni ausführlich über das Verhalten einer aufgewiegelten Masse, die bei ihm primär als unentschlossen oder indifferent dargestellt wird: Ihr Verhalten wird dem folgen, der sie am meisten überzeugt, und an sich steht sie dem Aufwiegler ebenso aufgeschlossen gegenüber wie dem, der die Ordnung wiederherstellen möchte. Eine Eigendynamik ihres Handelns wie bei Dickens gesteht Manzoni ihr nicht zu. 23 Ausführlich behandelt dies Hibbert (wie Anm. 3). S. 23–33.
88 sondern Gutes und Böses werden in der Epoche und in beiden Ländern als gleichzeitig vorhanden gezeigt: It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair, we had everything before us, we had nothing before us, we were all going direct to Heaven, we were all going direct the other way – in short, the period was so far like the present period, that some of its noisiest authorities insisted on its being received, for good or for evil, in the superlative degree of comparison only. There were a king with a large jaw and a queen with a plain face, on the throne of England; there were a king with a large jaw and a queen with a fair face, on the throne of France. In both countries it was clearer than crystal to the lords of the State preserves of loaves and fishes, that things in general were settled for ever.24
Bezeichnend für die kritische ökonomische Lage beider Staaten nach Dickens’ Auffassung ist seine Anspielung auf die Speisung der Fünftausend im MatthäusEvangelium aus fünf Broten und zwei Fischen: “In beiden Ländern war es den Herren der Staatsvorräte an Brotlaiben und Fischen klarer als Kristall, daß die Verhältnisse im allgemeinen auf ewige Zeiten geordnet waren”.25 Es hätte wohl – so der zynische Subtext – der Wunderkraft Christi bedurft, um die Situation der Krise zu bewältigen, in der Frankreich und England um diese Zeit stehen, und gerade deshalb ist dies die Stunde der Propheten und Anführer wie Lord Gordons und des Ehepaares Defarge. Aber es ist nicht das rein historische Interesse, das Dickens motiviert; wie eine Gesellschaft funktioniert und wie sie sich verändert, wird immer expliziter zum Thema seines Werkes, und damit nimmt es auch die Züge einer systematischen Gesellschaftskritik an, die über die Bloßstellung einzelner gesellschaftlicher Mißbräuche hinausgeht. Zeigt schon The Old Curiosity Shop (1841), der Zwillingsroman zu Barnaby Rudge, im Rahmen von Master Humphrey’s Clock die Veränderungen, die Industrialisierung und Verstädterung im Alltagsleben bewirken, so betrachtet er in diesem Roman die scheinbar weit zurückliegenden Ereignisse der “Riots” von 1780 als Ergebnis durchaus noch aktiver Formen gesellschaftlichen Handelns und Denkens, wie die eben zitierte Eingangspassage zu A Tale of Two Cities auch explizit formulieren sollte, und als warnendes Beispiel für die Zukunft. Vor Ignorance und Want, Unwissenheit und Mangel, warnt der Geist der gegenwärtigen Weihnachten im Third Stave des Christmas Carol (1843); aber von diesen beiden Gefährdungen betrachtet Dickens den Mangel an Bildung als bedrohlicher für die Zukunft einer Gesellschaft als den rein physischen Mangel an Lebensnotwendigem. Möglicherweise spielte bei der Wahl des Sujets – die schon durch einen Kontrakt vom Mai 1836 mit dem Verleger seiner 24
Charles Dickens: A Tale of Two Cities (1859). Hg. und eingel. von George Woodcock. Harmondsworth: Penguin Books 1974. S. 35. 25 Vgl. hierzu Mt 14,13–21.
89 Sketches by Boz dokumentiert ist, während die erste Nummer des Romans erst im Februar 1841 ausgeliefert werden sollte – im Bewußtsein von Dickens die Erinnerung an das Peterloo Massacre vom 16. August 1819 in Manchester noch eine Rolle, bei dem ein friedlicher Protest in einem Blutbad endete; und möglicherweise spielte auch das Erscheinen von Thomas Carlyles The French Revolution. A History von 1837 eine wichtige Rolle, der Dickens das Hintergrundwissen für A Tale of Two Cities von 1859 entnehmen sollte und deren Autor dieser Roman auch gewidmet ist. Das 68. Kapitel von Barnaby Rudge enthält eine der wichtigsten Schilderungen der “Gordon Riots”, hier die Niederbrennung einer Schnapsbrennerei (Langdale’s Distillery), deren Bestand der fanatisierte Mob plündert. Die Szene ist von Dickens nicht frei erfunden, sondern beruht auf den historischen Tatsachen.26 Barnaby, der geistig behinderte Held des Romans, entführt Hugh, den verwundeten Anführer des Aufruhrs, aus dem Zentrum des Tumults, gegen den bereits das Militär im Anrücken ist; und während die Aufständischen noch den Keller eines Weinhändlers plündern und sich der Alkohol in Strömen auf die Straßen ergießt, hat das Massaker bereits begonnen. Nochmals wendet sich Barnaby um, und ihm prägt sich ein – trotz seines schwachen Gedächtnisses unvergeßliches – Bild ein, das an die Szenerien der Hölle erinnert, wie sie ein Hieronymus Bosch mehrfach gemalt hat: The vintner’s house, with a half a dozen others near at hand, was one great, glowing blaze. All night, no one had essayed to quench the flames or stop their progress; but now a body of soldiers were actively engaged in pulling down two old wooden houses, which were every moment in danger of taking fire, and which could scarcely fail, if they were left to burn, to extend the conflagration immensely. The tumbling down of nodding walls and heavy blocks of wood, the hooting and the execrations of the crowd, the distant firing of other military detachments, the distracted looks and cries of those whose habitations were in danger, the hurrying to and fro of frightened people with their goods; the reflections in every quarter of the sky, of deep, red, soaring flames, as though the last day had come and the whole universe were burning; the dust, and smoke, and drift of fiery particles, scorching and kindling all it fell upon; the hot unwholesome vapour, the blight on everything; the stars, and moon, and very sky, obliterated; – made up such a sum of dreariness and ruin, that it seemed as if the face of Heaven were blotted out, and night, in its rest and quiet, and softened light, never could look upon the earth again. But there was a worse spectacle than this – worse by far than fire and smoke, or even the rabble’s unappeasable and maniac rage. The gutters of the street and every crack and fissure in the stones, ran with scorching spirit; which, being dammed up by busy hands, overflowed the road and pavement, and formed a great pool, in which the people dropped down dead by dozens. They lay in heaps all round this fearful pond, husbands and wives, fathers and sons, mothers and daughters, women with children in their arms and babies at their breasts, and drank until they died. While some stooped with their lips to the brink and never raised their heads again, 26
Vgl. erneut Hibbert (wie Anm. 3). S. 111–114.
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Abb. 3. Charles Dickens: Master Humphrey’s Clock. Bd. 2: Barnaby Rudge. London: Chapman and Hall 1841. S. 336. others sprang up from their fiery draught, and danced, half in a mad triumph, and half in the agony of suffocation, until they fell, and steeped their corpses in the liquor that had killed them. Nor was even this the worst or most appalling kind of death that happened on this fatal night. From the burning cellars, where they drank out of hats, pails, buckets, tubs, and shoes, some men were drawn, alive, but all alight from head to foot; who, in their unendurable anguish and suffering, making for anything that had the look of water, rolled, hissing, in this hideous lake, and splashed up liquid fire which lapped in all it met with as it ran along the surface, and neither spared the living nor the dead. On this last night of the great riots – for the last night it was – the wretched victims of a senseless outcry, became themselves the dust and ashes of the flames they had kindled, and strewed the public streets of London.27
Was Dickens hier Barnaby sehen läßt, ist in all dieser Brutalität keineswegs freie Erfindung, und Hablot K. Browne hat die Szene zu einer eindrucksvollen Illustration verdichtet, die nicht an Details interessiert ist, sondern nur die Coda dieser Schilderung beleuchtet: die “elenden Opfer einer sinnlosen Parole”, die nun selbst den Flammen zum Opfer fallen, die sie entfacht haben, und deren Asche nun die Straßen Londons bedeckt. Die Sinnlosigkeit der Parole No Popery! wird dabei besonders deutlich unterstrichen; die Mütze, welche die vor dem Faß kauernde Frau trägt, ist halb die Mitra des “Papismus”, gegen dessen befürchtete Einführung sich der Aufstand richtete und die hier zum Spott getragen wurde, und halb die Eselsmütze des “Dunce”, des völligen Toren (Abb. 3). Die Ikonographie Brownes ist zunächst in der Organisation der Szenerie der Gin Lane Hogarths verpflichtet, auch wenn sie das Geschehen und die 27
Charles Dickens: Master Humphrey’s Clock. Vol. II [Barnaby Rudge]. London: Chapman and Hall 1841. S. 335f.
91 episodische Vielfalt des Vorbildes konzentriert: Der Gegensatz zwischen den Häusern derer, die vom Gin-Konsum profitieren, und den Behausungen derer, die durch ihn ins Elend geraten, ist verschwunden, da nur noch Ruinen erkennbar sind. Der abgesetzte Vordergrund, über dem sich bei Hogarth die Treppe mit dem betrunkenen Weib und dem hinabstürzenden Kind erhebt, ist ebenfalls getilgt, dafür der kreisförmige leere Raum in den Vordergrund gezogen, um den sich bei Hogarth in einem Wirbel kleine Szenen der Gin-Exzesse abgespielt hatten. Von diesen prägte sich bei Hogarth besonders der irrsinnige Trinker der Gin Lane ein, der einen Säugling aufgespießt hat; und während er mit der rechten Hand den Spieß schwenkt, hebt er mit der linken einen Gegenstand in die Höhe, der bei genauerem Zusehen als Blasebalg erscheint – eine Travestie des Schmiedes aus der Beer Street mit seinem geschwungenen Hammelschlegel. Es ist aber diese Geste sowohl des Schmieds wie des Irren aus den beiden Blättern Hogarths, die Browne jetzt in seine Illustration zu dieser Dickens-Szene zentral – fast in der Bildmitte – plaziert, und damit beginnt eine kontaminierende Verwendung von Beer Street und Gin Lane sichtbar zu werden: Aus dem Schmied ist ein korpulentes betrunkenes Weib geworden, das in der rechten Hand einen Gegenstand schwenkt, der aus der Schilderung von Dickens nicht identifizierbar ist, ebensowenig wie dort eine solche Gestalt erscheint; aber als Zitat der Hogarth-Figur vor allem aus Beer Street gesehen, wird dieser Gegenstand in der Hand der Frau als Hammelschlegel erkennbar. Ihre linke Hand hält einen Fächer, kaum geeignet, jene Balance zu erzielen, die Lichtenberg an Hogarths Schmied wahrgenommen hatte – sie wird im nächsten Moment nach hinten überkippen. Zudem erscheint die gesamte Komposition der Figurengruppe rechts in Brownes Illustration von der Figurengruppe im Vordergrund der linken Bildhälfte von Hogarths Beer Street übernommen zu sein; gerade in dem halb sitzenden, halb liegenden Paar am rechten Bildrand – der Mann, der noch grölend die bereits katatonische Frau im Arm hält – ist das Zitat der Attitüde des Liebespaares bei Hogarth an dieser Stelle evident. In der linken Gruppe dagegen läßt sich eine variierende und um weitere Figuren ergänzte Reprise der Komposition der zentralen beiden Gestalten auf der Treppe der Gin Lane sehen: Die Figur auf dem umgestürzten Faß mit dem Rücken zum Beschauer, der gegenüber eine Frau mit der erwähnten spitzen Mütze gekauert hockt und neben der eine andere Frau bereits ins Koma zu sinken scheint, evoziert die Säuferin, der das Kind entfällt, und den skelettähnlichen Balladenverkäufer im Vordergrund der Gin Lane. Und trotz der Kontamination der beiden Hogarth-Blätter in der Illustration zu Kapitel 68 von Barnaby Rudge ist die Doppelstruktur von Beer Street und Gin Lane erhalten geblieben. Denn der Katastrophe des Aufstandes im Inferno der brennenden Spirituosen geht der Taumel der Revolte in Kapitel 66 voraus: Bevor das Haus des Besitzers der Brennerei und des Weinlagers in Flammen aufgeht, erhalten er und seine Gefährten Bericht über die Entwicklung der
92 Unruhen: von der Erstürmung von Newgate, dem Niederbrennen der Häuser verschiedener hochgestellter Personen und der ersten militärischen Attacke auf die Aufständischen, bei der es Tote gibt und die zu weiteren Brandstiftungen führt. Den Schlußteil dieses bei Dickens in indirekter Rede wiedergegebenen Berichts – also nicht in einer direkten Beschreibung – hat Browne ebenfalls illustriert, wohl gerade wegen der darin enthaltenen sparsamen, aber umso realistischeren Details: There being now a great many parties in the streets, each went to work according to its humour, and a dozen houses were quickly blazing […]. At one house near Moorfields, they found in one of the rooms some canary birds in cages, and these they cast into the fire alive. The poor little creatures screamed, it was said, like infants, when they were flung upon the blaze; and one man was so touched that he tried in vain to save them, which roused the indignation of the crowd, and nearly cost him his life. At this same house, one of the fellows who went through the rooms, breaking the furniture and helping to destroy the building, found a child’s doll – a poor toy – which he exhibited at the window to the mob below, as the image of some unholy saint which the late occupants had worshipped. While he was doing this, another man with an equally tender conscience (they had both been foremost in throwing down the canary birds for roasting alive), took his seat on the parapet of the house, and harangued the crowd from a pamphlet circulated by the Association, relative to the true principles of Christianity!28
Hier ist nun der ganze Irrsinn der “Gordon Riots” in einer konzentrierten Entladung zu sehen, bevor der Aufstand kollabiert: an den Details der beiden, lebendig in ihrem Käfig verbrannten Kanarienvögel, an der Kinderpuppe, die als Beweis des Götzendienstes der Katholiken dient, und schließlich an der Verkündigung der “wahren christlichen Prinzipien”, die den ekstatischen Taumel der Zerstörung begleitet. Die Botschaft Gordons, welche die Bewahrung und Erneuerung der Gemeinschaft als ihr Ziel verkündet hatte, endet in einem völligen Paroxysmus (Abb. 4). Beide Abbildungen Brownes bilden, wie Hogarths Beer Street und Gin Lane, ein Diptychon, allerdings in einem ganz anderen Sinn: Die Ekstase erscheint nicht mehr als der Gegensatz zwischen einem legitimen und einem schädlichen Rausch, von denen sich der eine in den Alltag integrieren läßt, den der andere bedroht. Sondern jeder Versuch, unter dem Einfluß einer charismatischen Führergestalt zu den Ursprüngen der Gemeinschaft zurückzufinden, erlebt zwei Stadien: erst die Ekstase der Befreiung von der traditionellen Ordnung durch Zerstörung, dann den Kollaps, der notwendig durch diese Verwüstung der geordneten Lebenswelt erfolgt, an die jede Gesellschaft letztlich gebunden bleibt. Hat dann jener Rausch, den Hogarth mit der Beer Street im Alltag zu 28
Ebd. S. 323f.
93
Abb. 4. Charles Dickens: Master Humphrey’s Clock. Bd. 2: Barnaby Rudge. London: Chapman and Hall 1841. S. 324.
verorten suchte, bei Dickens überhaupt keinen Platz? In Thomas Carlyles History of the French Revolution findet sich, anläßlich der Behandlung der Constituante, eine unversöhnliche Verspottung des Einflusses von Rousseaus Contrat social auf die Debatten um eine Neuordnung des öffentlichen Lebens und den Eid, den sogar der König auf die Verfassung leistet: “To such length had the Contrat social brought it, in believing hearts. […] If all men were such that a mere spoken or sworn Contract would bind them, all men were the true men, and Government a superfluity”.29 Und Carlyles Spott erhält eine melancholische Färbung, wenn er von der Illusion spricht, die sich hinter der Arbeit der Constituante verbirgt: “Sweetest days, when (astonishing to say) mortals have actually met together in communion and fellowship; and man, were it only once through long despicable centuries, is for moments verily the brother of man!”.30 Es ist präzise diese Illusion, die auch Dickens als solche in den “Gordon Riots” und der Französischen Revolution beschreibt. Es gibt zu Beginn von A Tale of Two Cities eine wunderbare Szene, welche die oben eingehend besprochene Darstellung der Plünderung und des Brandes der Destillerie aus Kapitel 68 von Barnaby Rudge variiert: Ein Weinfaß fällt beim Abladen vor dem Weinladen von Madame Defarge – der Nemesis der Familie 29
Thomas Carlyle: The French Revolution. A History. In three volumes. Vol. II: The Constitution. London: Chapman and Hall 1848. Book I. Chap. VII; vgl. Bd. II. S. 45. 30 Ebd. Book I. Chap. VIII; vgl. Bd. II. S. 52.
94 Evrémonde – auf die Straße im Faubourg Saint-Antoine. Die Menschen aus diesem Elendsquartier eilen herbei, um den Wein aus dem Straßenschmutz zu retten, ja sie lecken sogar das Holz des geborstenen Fasses ab, um sich nichts entgehen zu lassen. Es entsteht für kurze Zeit so etwas wie eine festliche Atmosphäre in dieser Wüste des Hungers und Elends: A shrill sound of laughter and of amused voices – voices of men, women, and children – resounded in the street while this wine game lasted. There was little roughness in the sport, and much playfulness. There was a special companionship in it, an observable inclination on the part of every one to join some other one, which led, especially among the luckier or lighter-hearted, to frolicsome embraces, drinking of healths, shaking of hands, and even joining of hands and dancing, a dozen together. When the wine was gone, and the places where it had been most abundant were raked into a gridiron-pattern by fingers, these demonstrations ceased, as suddenly as they had broken out. […] and a gloom gathered on the scene that appeared more natural to it than sunshine. The wine was red wine, and had stained the ground of the narrow street in the suburb of Saint Antoine, in Paris, where it was spilled. It had stained many hands, too, and many faces, and many naked feet, and many wooden shoes. […] Those who had been greedy with the staves of the cask, had acquired a tigerish smear about the mouth; and one tall joker so besmirched, his head more out of a long squalid bag of a nightcap than in it, scrawled upon a wall with his finger dipped in muddy wine-lees – BLOOD. The time was to come, when that wine too would be spilled on the street-stones, and when the stain of it would be red upon many there.31
Auch hier jenes Zwielicht einer momentan vom “wine game” ausgelösten Illusion einer charismatischen Gemeinschaft, die durch den Wein – wenig genug – zur Geltung kommt; aber schon ist diesem lichten Moment die Substitution durch Blut eingeschrieben, die später die Realisierung dieser Illusion beherrschen wird: Als “the day’s wine” bezeichnet Dickens die Verurteilten, die auf den Henkerskarren der Guillotine zugeführt werden. Gibt es demnach in der Welt der “Veralltäglichung” keinen anderen Raum für jene Ekstase des Gemeinschaftsgefühls als die Flucht in die selbstzerstörerische Illusion eines Neubeginns der Gesellschaft, und bleiben diese beiden Ideen wirklich die unversöhnlichen Gegner, als die sie Weber gesehen hatte?
3. Der Widerstand des Individuums gegen die “Veralltäglichung”: Ekstase ohne Prophetie In seiner Diskussion der Weberschen Darstellung des Konflikts zwischen den Formen des durch Tradition veralltäglichten Charisma und den Versuchen, sich dieser Erstarrung durch neue Prophetie zu widersetzen, hat der Kulturphilosoph Bruce Bégout jüngst versucht, einen neuen Akzent zu setzen, ohne Webers 31
Dickens (wie Anm. 24). S. 60.
95 These an sich in Frage zu stellen.32 Denn dieser hatte schon darauf hingewiesen, daß sich der Prozeß der “Veralltäglichung” nicht unwidersprochen vollzieht, und diese historische Aussage über den “typischen Konflikt von Amts- oder Erb- mit dem persönlichen Charisma”, der einmal am Anfang jeder Begründung von Tradition gestanden hat,33 überträgt nun Bégout in die Mikropraktiken des Alltagslebens des Individuums. Schließlich ist es so, daß zwar der Einzelne in einen vorgegebenen Rahmen von Traditionen und Ritualen eintritt und damit der außerordentliche Akt der Stiftung der Gemeinschaft, der er nun angehören soll, vor seiner eigenen Lebenszeit liegt und deshalb unerfahrbar bleibt; aber an sich ist dieses eigene Leben etwas, das selbst eine singuläre und außerordentliche Erfahrung darstellt. Die Anpassung der eigenen Singularität an die Gesellschaft erfordert eine Beschränkung der Handlungsvielfalt, die an sich dem Individuum zur Verfügung steht; es ist eher geneigt, sich dieser “Veralltäglichung” zu entziehen als sich ihr widerstandslos zu unterwerfen. So weit die Herrschaft der Tradition und Rationalität reicht, so deutlich steht ihr die autonome Tendenz des individuellen Handelns entgegen, auch wenn es klar ist, daß dieses Individuum ohne Vertrautheit mit der Alltagswelt nicht sein kann.34 Es bedarf der individuellen Zustimmung zu dieser Gemeinschaft, die dem Streben nach Autonomie ein Gegengewicht bietet und also nicht ein bloßer Akt der Unterwerfung ist. Bégout kehrt mit dieser Überlegung nicht mehr zu Webers Reflexion zurück, aber diese Möglichkeit besteht durchaus: Wie, wenn man der Auffassung vom typischen Kampf des etablierten Charisma mit dem persönlichen eines Erneuerers einen weiteren Typus hinzufügte, der für den kontinuierlichen Prozeß der “Veralltäglichung” gilt? Das Individuum überträgt seine ekstatische Idee von seinem autonomen Leben, das das Außerordentliche zuläßt, auf eine Gemeinschaft, die solches akzeptiert, obwohl es der in ihr herrschenden Tradition widerspricht. Diese Form der Gemeinschaftsstiftung zwischen dem Einzelnen und der bestehenden Gemeinschaft ist eine andere als die, die von einem Priester oder Propheten etabliert wird. Hier tritt das Individuum einer bereits etablierten Gemeinschaft bei, gleichsam als Prophet seiner selbst, der eines anderen Propheten nicht bedarf. Man erinnere sich nochmals der oben zitierten Formel von Novalis, der König ‘assimiliere’ sich seine Untertanen.35 Hier assimiliert sich das Individuum der Gesellschaft, im Vertrauen auf die Möglichkeit, seine Singularität mit den Regeln der Gemeinschaft harmonisieren zu können; aber dies geschieht keineswegs immer friedlich und ohne Konflikte. Den Gegensatz dazu bildet die Illusion 32
Vgl. Bégout (wie Anm. 5). Besonders S. 471–474. Weber (wie Anm. 14). Erster Teil. Kap. III: “Die Typen der Herrschaft. 5. Die Veralltäglichung des Charisma”. §§ 11, 12, 12a. Hier: S. 146. 34 Bégout (wie Anm. 5). S. 576f. 35 Vgl. oben Anm. 10. 33
96 eines völligen Neubeginns einer Gemeinschaft, die ein – meist falscher – Prophet (wie er in Lord Gordon hervorgetreten war) suggestiv zu wecken vermag. Dies verlangt aber gerade die Preisgabe der eigenen Individualität, die jene zu bewahren versucht, und verführt zu einer rauschhaften Aufhebung der von der Tradition gesetzten Grenzen, die in Selbstzerstörung umschlägt. Bei der Begegnung Barnabys mit Lord Gordon in Kapitel 57 von Barnaby Rudge kommen diese Momente bei Dickens zum Tragen: Barnaby ist als Wachposten mit seiner Fahne vor dem Hauptquartier der Rebellen aufgestellt, als der Lord und sein Diener John Grueby – der ihn später als einziger im Gefängnis nicht verlassen wird – vorbeireiten. Irritiert durch das innige Verhältnis Barnabys zu seinem sprechenden Raben Grip erkundigt sich der Lord bei John, der ihm loyal dient, obwohl er von der “Sache” seines Herrn nichts hält, nach dem Geisteszustand seines Fahnenträgers; als dieser Barnaby als wahnsinnig bezeichnet, beschuldigt ihn Lord Gordon, ein Spion seiner Gegner zu sein und entläßt ihn aus seinem Dienst. Denn John Gruebys Auskunft über Barnaby ist zugleich eine über ihn selbst; in ihr tritt ihm in unerträglicher Weise das Realitätsprinzip der Alltagswelt gegenüber, das sein Prophetentum anzweifelt. Der Text sei hier mit Auslassungen wiedergegeben: Lord George, biting his nails in a discomfited manner, regarded Barnaby for some time in silence; […]. “Have you ever seen this young man before?” his master asked, in a low voice. “Twice, my lord,” said John. “I saw him in the crowd last night and Saturday.” “Did – did it seem to you that his manner was at all wild, or strange?” Lord George demanded, faltering. “Mad,” said John, with emphatic brevity. “And why do you think him mad, sir?” said his master, speaking in a peevish tone. “Don’t use that word too freely. Why do you think him mad?” “My lord,” John Grueby answered, “look at his dress, look at his eyes, look at his restless way, hear him cry ‘No Popery!’ Mad, my lord.” “So because one man dresses unlike another,” returned his angry master, glancing at himself, “and happens to differ from other men in his carriage and manner, and to advocate a great cause which the corrupt and irreligious desert, he is to be accounted mad, is he?” “Stark, staring, raving, roaring mad, my lord,” returned the unmoved John. “Do you say this to my face?” cried his master, turning sharply upon him. “To any man, my lord, who asks me,” answered John. […] “You have said quite enough,” returned Lord George, motioning him to go back. “I desire to hear no more.” “If you’ll let me have another word, my lord,” returned John Grueby, “I’d give this silly fellow a caution not to stay here by himself. […] He had better get to a place of safety if he can, poor creature.” “You hear what this man says?” cried Lord George, addressing Barnaby, who had looked on and wondered while this dialogue passed. “He thinks you may be afraid to remain upon your post, and are kept here perhaps against your will. What do you say?” […]
97 “He’s a coward, Grip, a coward!” cried Barnaby, putting the raven on the ground, and shouldering his staff. “Let them come! Gordon for ever! Let them come!” “Ay!” said Lord George, “let them! Let us see who will venture to attack a power like ours; the solemn league of a whole people. This a madman! You have said well, very well. I am proud to be the leader of such men as you.” Barnaby’s heart swelled within his bosom as he heard these words. He took Lord George’s hand and carried it to his lips; patted his horse’s crest, as if the affection and admiration he had conceived for the man extended to the animal he rode; then unfurling his flag, and proudly waving it, resumed his pacing up and down. Lord George, with a kindling eye and glowing cheek, took off his hat, and flourishing it above his head, bade him exultingly Farewell! – then cantered off at a brisk pace; after glancing angrily round to see that his servant followed. […] Left to himself again with a still higher sense of the importance of his post, and stimulated to enthusiasm by the special notice and encouragement of his leader, Barnaby walked to and fro in a delicious trance rather than as a waking man. […] The day wore on; its heat was gently giving place to the cool of evening; a light wind sprung up, fanning his long hair, and making the banner rustle pleasantly above his head. There was a freedom and freshness in the sound and in the time, which chimed exactly with his mood. He was happier than ever.36
In der Konfrontation der drei Personen, des Lords, des Dieners und des Idioten, wird die beschriebene Typisierung explizit sichtbar: Lord Gordon sieht sich hier immer noch als Stifter einer neuen Gemeinschaft, während er mittlerweile nur Führer eines Mobs ist.37 Es ist ganz natürlich, daß er damit die Loyalität seines Dieners – und damit ein Gemeinschaftsgefühl, das sich eben in der Praxis bewährt – verkennt; so beantwortet er die Ablehnung der von ihm vertretenen “Sache” mit der Kündigung des Dienstverhältnisses. Und trotzdem wird ihm Grueby später, sobald der Lord wirklicher Hilfe bedarf, die Treue halten. Und Barnaby? Er ist das unschuldige Spiegelbild jenes Wahns des Lords, das alle positiven Seiten archaischer charismatischer Gemeinschaftsbildung zeigt, aber gleichzeitig demonstriert, daß ein Heraustreten aus der Bindung an den Alltag unmöglich ist – Barnaby ist dies gestattet, weil er nie in dieser Welt der Rationalität gelebt hat, aber nicht denjenigen, die der Lord in die Irre geführt hat. Zwar ist allen Menschen die Erinnerung an jenes rauschhafte Urerlebnis der Gemeinschaftsbildung eigen, aber es gibt eben die beiden Typen des Umgangs mit dieser Erbschaft, die über ihr Schicksal entscheiden. Dickens signalisiert die implizite Präsenz dieser Idee, indem er fast alle wichtigen Figuren sowohl in Barnaby Rudge – dort besonders variabel – als auch
36
Dickens (wie Anm. 27). S. 267–269. Hibbert (wie Anm. 3) weist auf die Transformation der Masse hin: Während die genuin an der “Sache” interessierten Teilnehmer sich entfernen oder sogar ihre Unterstützung der Protestant Association widerrufen, wird ihr Platz von Gesindel eingenommen, das den Aufruhr vorbereitet (vgl. S. 49). 37
98 in A Tale of Two Cities mit Konnotationen von Rausch und Ekstase verbindet; die Personen- und die Handlungskonstellation werden durchgehend davon geprägt – bis in die Wahl zentraler Szenerien wie der des Gasthauses The Maypole oder des Weinladens der Madame Defarge. Barnaby ist schwachsinnig, aber medial veranlagt: Schon äußerlich tritt er als schamanenhafte Figur auf, mit den Federn und Bändern, mit denen er seine Kleidung verziert; und seine Vertrautheit mit dem Raben Grip – “I am a devil!”, ist einer von dessen Lieblingssprüchen – hat Züge einer sinister-animistischen Fähigkeit. Barnaby spürt auch die Präsenz seines mörderischen Vaters bei dem Überfall auf Edward Chester, und aus seiner Abkunft von diesem mehrfachen Mörder erklärt sich sein Horror vor Blut. Hugh, der Bastard-Sohn von Lord Chester, ist gleichzeitig schlafsüchtig und gewalttätig, ein Trinker, und trotzdem ist er in den letzten Minuten seines Lebens “like a savage prophet whom the near approach of Death had filled with inspiration”.38 Der alte John Willet, der Besitzer des Maypole, ist der Hüter der Tradition, die er schon physisch verkörpert und die er trotz seiner Lethargie nachdrücklich gegenüber seinem Sohn durchsetzt, bis dieser vor dem Vater in den Krieg in Amerika flüchtet. Sein Symbol ist der blankgescheuerte Kessel im Kamin, in den er wie eine Pythia starrt, ohne etwas wahrzunehmen, was über seinen Horizont an Lebensgewohnheiten hinausgeht. Im Haus des Schmieds Gabriel Varden spielt sich der Lehrling Simon Tappertit als ‘Mini-Prophet’ auf, und Mrs. Varden wird die Partei Lord Gordons unterstützen, bestärkt von ihrer zickigen Gesellschafterin Miss Miggs, um damit ihrem Mann beständigen Verdruß zu bereiten. Gabriel Varden selbst ist der Antipode zu John Willet; sein Attribut ist der immer wieder gefüllte Bierkrug, der sogar einen Namen hat: Toby. Und “Toby” ist das Symbol für jene geglückte Bewältigung von Individualität und Gemeinschaft, im Kontrast zu dem Kessel John Willets. In A Tale of Two Cities sind Madame Defarge und ihr Mann Wein- wie Bluthändler; sie werden die Anführer bei der Vorbereitung des Aufstandes des Faubourg Saint-Antoine und bei der Erstürmung der Bastille werden. Diejenigen, die Madame Defarges Absicht, Charles Darnay und seine Familie auszurotten, vereiteln, sind ebenfalls durch die Disposition zu ekstatischen Zuständen gekennzeichnet: Sydney Carton ist trunksüchtig, und während er den Spion Barsad, der eigentlich der Bruder von Miss Pross ist, zwingt, seinem Plan zur Befreiung von Charles Darnay zuzustimmen, betrinkt er sich ebenfalls. Miss Pross selbst wird schon bei ihrem ersten Auftreten als ekstatische Mänade geschildert; und im vorletzten Kapitel konfrontiert sie sich mit Madame Defarge, um der von ihr so geliebten Lucie und ihrer Familie durch einen Zeitgewinn zum Gelingen der Flucht zu verhelfen. Im Zweikampf der beiden Frauen löst sich ein Schuß aus der Pistole, die Madame Defarge an ihrem Busen trägt, und tötet sie. 38
Dickens (wie Anm. 27). S. 391.
99 Diese für den Ausgang des Romans entscheidende Episode wird von Dickens stark symbolisch aufgeladen. Während Miss Pross noch versucht, die Tränen der Angst und Aufregung abzuwaschen und ihre Fassung wiederzugewinnen, bevor sie ihrer Gegnerin gegenübertritt, wird sie von Madame Defarge bereits überrascht; die Waschschüssel fällt und zerbricht, das Wasser fließt Madame Defarge vor die Füße: “The basin fell to the ground broken, and the water flowed to the feet of Madame Defarge. By strange stern ways, and through much staining blood, those feet had come to meet that water”.39 Das Wasser symbolisiert einen Akt der Reinigung vom Blutrausch, den Madame Defarge verkörpert. Aber auch in Barnaby Rudge gibt es eine solche positive Reinigung – ausgerechnet in der Schilderung der letzten Lebensjahre Lord Gordons, des Anstifters des ganzen Unheils, im Gefängnis: Many men with fewer sympathies for the distressed and needy, with less abilities and harder hearts, have made a shining figure and left a brilliant fame. He had his mourners. The prisoners bemoaned his loss, and missed him; for though his means were not large his charity was great, and in bestowing alms among them he considered the necessities of all alike, and knew no distinction of sect or creed. There are wise men in the highways of the world who may learn something, even from this poor crazy Lord who died in Newgate.40
Für Dickens gibt es eine Art stiller Ekstase, die viele andere seiner Figuren – Nellie in The Old Curiosity Shop bzw. Little Dorrit, Florence Dombey oder Esther Summerson in Bleak House (1852/53) – ebenfalls kennen: Es ist die Bewährung des Charisma der Gemeinschaft in der Alltagspraxis. Aber in Barnaby Rudge und The Tale of Two Cities erscheint sie im Zusammenhang mit ihren orgiastischen Begleiterscheinungen und schärfer konturiert von den Gefährdungen, denen sich die Individuen und ganze Gesellschaften im Umgang mit dieser Erbschaft ausgesetzt sehen.
39 40
Dickens (wie Anm. 24). S. 394. Dickens (wie Anm. 27). S. 416f.
Richard Klein
Rausch und Zeit in Wagners Ring This essay on Wagner’s Ring seeks to explore the notion of “Rausch” (inebriation) with respect to the entire Wagnerian tetralogy, thus relating it to the problem of time. Unlike Nietzsche and Adorno, who in their analyses of Wagner’s operas equate “Rausch” with illusion or ecstasy without thinking, it is argued here that “Rausch” emerges from a set of complex and excessive mental processes. In addition, “Rausch” in Wagner arises from the context of a “tragedy of forgetting”, which itself must not only be seen against the background of Siegfried’s manipulation by the ominous “Vergessenstrank” (potion of forgetfulness), but rather as a compensation for the blatant incapability, common to all characters in Wagner’s Ring, of mastering the matter of time and merging its various modes. In this sense, “Rausch” itself turns out to be not only a type of de-differentiation but also a result of incessantly renewed and transformed musical structures, commonly known as the “Leitmotif technique”.
Wirkungsgeschichtlich betrachtet ist das Thema “Rausch bei Wagner” ein alter Hut und zudem von “Rauschgift” unabtrennbar. Baudelaire, der wohl den Anfang mit ihm gemacht hat, drückt es noch vergleichsweise positiv aus, als er 1861 zum Lohengrin-Vorspiel schreibt: “Wenn man dieser glutvollen und despotischen Musik zuhört, scheint es zuweilen, als fände man, in den vom Traume dem Grund der Finsternis entrissenen Bildern, die schwindelnden Vorstellungen des Opiums wieder”.1 Bei Nietzsche dann findet sich Wagners Werk schon spürbar ambivalenter “als berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum”2 beschrieben; auch ist die Rede vom Komponisten als einem “Meister hypnotischer Griffe”,3 der mit denselben seine Höreropfer handlungsunfähig macht. Später wird Nietzsche von Robert Musil bemüht, um dessen Aversion gegen alles Spätromantische eine Sprache zu verleihen; ähnlich gibt Kurt Weill den Zweideutigkeiten des Jünger-Renegaten die Form eines bündigen apophantischen 1
Charles Baudelaire: Richard Wagner und der Tannhäuser in Paris (1861). In: Richard Wagner. Tannhäuser. Hg. von Dietrich Mack. Frankfurt a.M.: Insel 1979. S. 107–152. Hier: S. 116. 2 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Versuch einer Selbstkritik (1886). In: Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1999. Bd. 1. S. 9–22. Hier: S. 20. 3 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888). In: Nietzsche (wie Anm. 2). Bd. 6. S. 9–53. Hier: S. 23. Den Hypnosetopos hat Johanna Dombois minuziös analysiert; vgl. Johanna Dombois: Die “complicirte Ruhe”. Richard Wagner und der Schlaf. Kap. II.3. Diss. phil. TU Berlin, Publikation in Vorbereitung. Zwischen “Schlaf ” und “Rausch” bestehen Querverbindungen, die hier ausgeklammert bleiben müssen. Beide sind so etwas wie Rückseiten der Zeit.
102 Urteils: Wagner sei “einschläfernd oder berauschend wie Alkohol oder andere Rauschgifte”.4 Man könnte weiter Thomas Mann anführen, der besagte Denkfigur als eine der großen Herausforderungen seines Dichterlebens empfunden und auch ein wenig kultiviert hat.5 Ebenso pflegte bereits die Literatur des Fin de siècle den Vergleich unseres Gegenstands mit dem Rauschgift recht ausgiebig.6 Schließlich haben sich die zahllosen Wagnerkarikaturen, die ein ganz eigenes Genre bilden, mit oftmals drastischer Bosheit über eine Musik hergemacht, welche sich “von der Logik abwendet, im Dusel schwelgt”.7 Aber das Element der Wirkungsgeschichte ist nur das halbe Problem, stützt es sich doch allein auf sprachliche Zeugnisse von Hörern, Kritikern, Interpreten und poetischen Anverwandlern, ohne zu zeigen oder auch nur zu fragen, welcher Stellenwert dem “Rausch” im Werk Wagners zukommt, welche Voraussetzungen er hat, wie er motiviert ist und ob es sich um einen zufälligen Effekt handelt oder eine notwendige innere Struktur, um ein Symptom oder ein thematisches Moment – oder um beides. Stets noch wird dieser Aspekt behandelt, als sei er primär rezeptionsrelevant, das wirkungssüchtige, wenn nicht vulgäre Endprodukt einer ursprünglich hehren romantischen Idee vom Gesamtkunstwerk. Aufgabe wird darum im folgenden sein, einen Begriff des Rausches zu entwickeln, der dessen symptomatischen oder ideologischen Zug im Blick behält, aber noch mehr seine strukturelle und thematische Präsenz im Werk verdeutlicht. Entgegen dem ersten Anschein ist Rausch bei Wagner kein streng eingrenzbarer Phänomenbereich, sondern etwas, das das Ganze tangiert, aber mit einer Fülle verschiedenartigster Aspekte verklammert ist. Im ersten Abschnitt analysiere ich unter Bezugnahme auf Nietzsche und Adorno einzelne Momente des Rauschs. Als Kardinalproblem beider Autoren erweist sich die ‘aufklärerische’ Gleichsetzung von Rausch mit Regression, Illusion, Erkenntnishaß. Dagegen werden Gründe geltend gemacht, die für eine Form von Selbstbesinnung im, wenn nicht gar als Rausch sprechen. Der Gedanke leitet zum Thema der Zeit und des Zeitvergessens über, durch das der Hintergrund des Rauschmotivs erst verständlich wird, und zwar sowohl in bezug auf die szenische wie die musikalische Handlung. Wagners dramatische Akteure können die Zeit nicht bewältigen und sind darum anfällig für rauschhafte Momente; 4 Vgl. Robert Musil: Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983. Bd. 1. S. 30; Kurt Weill: Musik und musikalisches Theater. Gesammelte Schriften. Mit einer Auswahl von Gesprächen und Interviews. Hg. von Stephen Hinton u.a. Mainz: Schott 2000. S. 69. 5 Dazu jetzt: Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006. 6 Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin/New York: de Gruyter 1973. S. 328ff. 7 Wörterbuch der Unhöflichkeit. Richard Wagner im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Hg. von Wilhelm Tappert. München: dtv 1967. S. 39.
103 ähnlich organisiert sich die Musik durch assoziative, a-lineare Motivgewebe, die auf die Bindung an einen sinnlich homogenisierenden Orchesterklang angewiesen bleiben. Anhand ausgewählter Passagen aus Siegfried und Götterdämmerung versucht der zweite Abschnitt diese Thesen zu entfalten. Dabei zeigt sich zunächst, daß Zeit, analytisch gesehen, ein Junktim zwischen Text und Musik bildet. Die Beziehung der Personen untereinander, die im Text zum Ausdruck kommt, reflektiert unbewußt die Beziehung von Musik und Sprache im Werk insgesamt. Zweitens entfaltet die Leitmotivtechnik zunehmend die Differenz von zeitlichem Ereignis und zeitlicher Dimensionalität, was die naive Entgegensetzung von Vergessen und Erinnern ebenso auflöst wie die tradierten geschichtsphilosophischen Totalen auf die Tetralogie. Drittens zeigt die Götterdämmerung, daß die Erfahrung differenzierter Zeitstrukturen genuin rauschhafte Züge annehmen kann. Rausch ist nicht gleich Illusion, Regression oder Ekstase ohne Denken, er steckt gerade auch in komplexen Bewußtseinsvorgängen, die er wie mit einer fremden Schicht überlagert – Gedankenflucht inmitten von Reflexion.
I. Rausch Erst einmal meint Rausch allerdings tatsächlich nur Auflösung des Bewußtseins oder Bewußtseinsfeindschaft, Einzug reflexiver Distanz, Nivellierung von Grenzen und Unterschieden. Wer im Rausch ist, denkt nicht über das nach, was ihm widerfährt, sondern gibt sich diesem hin, aus Lust, Sehnsucht, innerer Leere oder um Schmerzen zu betäuben – oder aus all den Gründen gleichzeitig. In diesem Sinne hat man Wagner gerne als Überwältigungsästhetiker abgestempelt, der seine Hörer mittels starker klangsinnlicher Reize dazu zwingt, die Segel ihrer individuellen Autonomie zu streichen. Aber auch wenn es für eine solche Absicht vereinzelt Belege geben mag, macht sich diese populäre Identifikation doch einer empfindlichen Verkürzung schuldig.8 Angenommen, Rausch ist nicht nur ein bestimmter, auf den Hörer zugeschnittener Effekt, sondern Problem oder Gegenstand des Dramas selbst, dann muß ein Moment von Distanz an ihm beteiligt sein. Was szenisch wie musikalisch zur Darstellung kommt, kann sich nicht in Besinnungslosigkeit oder Regression erschöpfen, setzt seine bloße Thematisierung doch einen Freiraum voraus, der unterschieden ist von dem, was in ihm – als (vermeintlich) fiktive Präsenz – erscheint. Zwar 8 Das Thema bedürfte einer eigenen Analyse. Grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß sich Wagner der sinnlichen Macht seiner Musik voll bewußt war, diese aber durchaus nicht zum Fetisch erhob. In seinen Schriften wie in den mündlich überlieferten Äußerungen besteht er auf “Deutlichkeit” und Transparenz des musikalischen Vortrags. Rausch ist für ihn etwas, das verstanden werden muß und kann, keine Orgie des Diffusen. Heftiges findet sich allenfalls in dem einen oder anderen privaten Brief, z.B. an Mathilde Wesendonk.
104 mag der Vergessenstrank in der Götterdämmerung zunächst wie ein unsublimes, plumpes Theaterrequisit wirken, bei näherer Betrachtung aber veranschaulicht er ein Prinzip des Dramas, welches Bühne wie Orchestergraben gleichermaßen bestimmt, nämlich daß das Leiden an der Zeit dem Rausch vorausgeht, ja zu ihm nötigt. Man vergißt nicht, weil man im Rausch befangen ist, sondern man braucht den Rausch, weil die Fähigkeit, Zeit zu bewältigen, vorderhand geschwächt ist. Wagners dramatische Figuren, keineswegs Siegfried allein, scheitern generell an der Zeit und wollen oder müssen darum vergessen – sich nach einer Lust ohne Gedächtnis verzehren. Der Trank, jener Coup de theâtre, der scheinbar von aller bürgerlichen Verantwortung befreit, macht nur ausdrücklich, was sich an der musikalischen und unter der szenischen Basis in weitaus komplexerer Form abspielt, eine Tragödie der Erinnerung, des Zusammenbruchs von Zeitbezügen – in freilich sehr unterschiedlicher Gestalt. Interessant, wie die beiden wichtigsten Wagnerkritiker, Nietzsche und Adorno, mit der skizzierten Problematik umgehen. Im Unterschied zu anderen ist den beiden gleichermaßen klar, daß im Falle des Musikdramas Rausch mehr ist als ein auf das Publikum bezogener Effekt. Beide behandeln ihn als etwas, das zum Werk gehört und dessen musikalische und dramatische Form prägt. Allerdings reflektiert weder der eine noch der andere solche Werkbezüge zureichend begrifflich. Insbesondere das Verhältnis von Rausch als Symptom zu Rausch als Analyse (oder Darstellung) eines Symptoms bleibt ungeklärt; oft genug wird dieses wie jenes behandelt, obgleich es doch eindeutig ein anderes ist. Bei Nietzsche sticht die Diskrepanz zwischen seinen frühen und späten Wagnerschriften ins Auge.9 Stehen Rausch und Zerstreuung in der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung noch wie Leitfiguren feindlicher oder antagonistischer Kulturen entgegen,10 heißt es in Menschliches, Allzumenschliches, beide Pole müßten sich heute vermischen, vereinigen, wenn Kunst geschichtlich überleben wolle.11 Wo zuvor eine heilige Trunkenheit des Lebens gefeiert wurde, 9
Vgl. Richard Klein: Nietzsche. Philosoph der Musik. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 58 (2004): Nr. 667. S. 1020–1026. 10 Vgl. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth (1876). In: Nietzsche (wie Anm. 2). Bd. 1. S. 429–510. Z.B. S. 451ff. und S. 463. 11 “[…] auch die Künstler der grossen Kunst versprechen Erholung und Zerstreuung, auch sie wenden sich an den Ermüdeten, auch sie bitten ihn um die Abendstunden seines Arbeitstages, – ganz wie die unterhaltenden Künstler, welche zufrieden sind, gegen den schweren Ernst der Stirnen, das Versunkene der Augen einen Sieg errungen zu haben. Welches ist nun der Kunstgriff ihrer grösseren Genossen? Diese haben in ihren Büchsen die gewaltsamsten Erregungsmittel, bei denen selbst der Halbtodte noch zusammenschrecken muss; sie haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Thränenkrämpfe: mit diesen überwältigen sie den Ermüdeten und bringen ihn in eine übernächtige Ueberlebendigkeit, in ein Ausser-sich-sein des Entzückens und des Schreckens” (Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für
105 die mit den Trivialitäten moderner Kultur nichts gemein zu haben schien, hebt Nietzsche schon bald darauf hervor, wie fließend die Grenzen zwischen Kunst und Unterhaltung geworden seien, wie sehr jene genötigt werde, in einer Art Selbstvergröberung, auch Selbstverdeckung bei dieser heimisch zu werden und von ihrem direkten Zugriff auf Körper, Affekte und Sensationen zu lernen. Das Musikdrama geht über ein entspannendes Nervenspiel weit hinaus, aber es wäre vollends unrealisierbar geblieben, wenn es nicht auch physischen Begehrlichkeiten der Menge Rechnung getragen hätte, die, wie Nietzsche eigens hervorhebt, solche der “freien Zeit” Arbeitender darstellen. Rausch in der Freizeit jedoch steht nicht (mehr) für eine dionysische Lebensform, die sich temporär mit dem Sein wiedervereinigt, sondern für einen Kontrast zur Arbeitswelt, welcher latent deren Strukturen fortsetzt. Entsprechend zeigen sich Nietzsches frühe Texte primär am Weltgehalt einer Musik interessiert, die den Bannkreis klassischer Subjektivität überschreitet, indem sie deren Begehren universalisiert und auf nichtmenschliche Natur überträgt.12 Dagegen zielen die späten Schriften auf die Machart dieser Kunst, auf ihre Technik, das minuziös Geplante und Kalkulierte ihrer Reize und Stimulanzien. Im einen Fall ist Rausch identisch mit dem Gewahrwerden eines erschütternden Weltgrundes, im anderen mit der Kompensation von Lebensschwäche durch technische Selbsterregung bzw. mit einer Idee von Kunst, die durch solche Kompensation definiert ist. Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen? Ein solcher Zusammenhang besteht notwendig, da die frühen Thesen zu Wagner durch die späteren keineswegs widerlegt sind. Nietzsches Überlegungen zur Erotisierung der Natur und mehr noch die Idee des Mythos als der Gegenkraft zum modernen Historismus können nicht darum schon an Wert verlieren, weil über ihre technischen und ästhetischen Bedingungen nunmehr klarere Vorstellungen herrschen als vormals. Nur ist eine Diskussion dieses Problemstrangs, die ihren Namen verdiente, bis heute ausgeblieben. Zwar hat Nietzsche die Diskrepanz zwischen dem urromantischen Projekt und der antiromantischen Machart von Wagners Werk als erster in den Blick gerückt und damit die Bahn vorgezeichnet, auf der sich später Adorno und andere wie selbstverständlich bewegen konnten. Aber über den planen Gegensatz zwischen der Weltemphase der freie Geister. Zweiter Band [1886]. In: Nietzsche [wie Anm. 2]. Bd. 2. S. 367–704. Hier: S. 624 [Aph. 170: “Die Kunst in der Zeit der Arbeit”]). 12 “Von Wagner, dem Musiker, wäre im Allgemeinen zu sagen, dass er Allem in der Natur, was bis jetzt nicht reden wollte, eine Sprache gegeben hat; er glaubt nicht daran, dass es etwas Stummes geben müsse. Er taucht auch in Morgenröthe, Wald, Nebel, Kluft, Bergeshöhe, Nachtschauer, Mondesglanz hinein und merkt ihnen ein heimliches Begehren ab: sie wollen auch tönen. Wenn der Philosoph sagt, es ist Ein Wille, der in der belebten und unbelebten Natur nach Dasein dürstet, so fügt der Musiker hinzu: und dieser Wille will, auf allen Stufen, ein tönendes Dasein” (Nietzsche [wie Anm. 10]. S. 490f.).
106 frühen und der Theaterbeschimpfung der späten Schriften ist er nie wirklich hinausgekommen. Soweit die Wagnerkritik an ihn anschloß, und das tat sie ausgiebig, hat sie die Implikationen jenes Bruchs weitgehend unanalysiert gelassen. Mit der Folge, daß der Weltgehalt (Heidegger) der Wagnerschen Technik als Problem aus dem Blick geriet. Die Mache schien allein der Droge, will sagen: einem irrealen oder abstrakt innerlichen Zustand zu dienen. Weil der naive Idealismus, der auf ein “organisches”, in sinnlicher Anschauung anwesendes Ganzes setzte, nicht zu halten war, beschränkte man sich in defensiver Reaktionsbildung darauf zu fragen, wie dieses Ganze kalkuliert, hergestellt und arrangiert sei. Man interessierte sich weniger dafür, was es ist, als dafür, wie es funktioniert. Darin lag ein wichtiger entmythologisierender Schritt. Aber zugleich wurde so das Nichtgemachte an Wagners Musik, ihre phänomenale Aura voreilig unter Kategorien wie Verblendung, Fiktion, Trug und eben “Rausch” verbucht, ohne in ihrem eigenständigen, zumal klanglichen, klangräumlichen Charakter wahrgenommen zu werden. Natürlich waren die besagten Termini nicht rundherum falsch, wohl aber unfähig zu artikulieren, was das Reale ihres Gegenstandes sei. Sie machten den herausragenden Stellenwert von Technik im Musikdrama bewußt, hatten aber für die damit verbundenen neuen Grunderfahrungen der Komposition keinen Sinn. Bei Adorno wird die Sache sowohl komplizierter wie einfacher: komplizierter, weil neue Aspekte hinzutreten, deren Zusammenhang nicht auf der Hand liegt; aber auch einfacher, weil sich Adornos Zugriff als systematischer erweist als derjenige Nietzsches. Rausch tritt bei ihm in dreifacher Hinsicht auf: geschichtsphilosophisch als Verschränkung romantischer Kunstmetaphysik mit den Anfängen moderner Kulturindustrie; ästhetisch als Nivellierung der Autonomie der Künste; musikalisch als Vorrang des Klangs vor der Zeit.13 Der erste Punkt ist einfacher, als er sich anhört. Adorno meint nicht, daß als Traumfabrik des Bestehenden ende, was als Gegenwelt zur modernen Entfremdung begonnen habe. Für ihn sind beide Momente vielmehr je schon ineinander verwoben. Spätestens im Übergang zur kompositorischen und theatralen Praxis zeigt sich die Idee des Gesamtkunstwerks, die den modernen Trennungen und Abstraktionen doch eine “verzaubernde” sinnliche Totale entgegensetzen wollte, mit dem “Ursprung der Kulturindustrie” und d.h. mit “entzaubernder” differentialer Technik liiert.14 Bereits bei Nietzsche ist von der
13 Zu den Details vgl. Richard Klein: Der Kampf mit dem Höllenfürst, oder: Die vielen Gesichter des Versuch über Wagner. In: Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik. Hg. von Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 167–205. 14 Vgl. Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner (1939/1952). In: Adorno: Die musikalischen Monographien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. S. 7–148. Hier: S. 101ff. (Gesammelte Schriften 13).
107 “Anarchie der Atome” die Rede und vom technisch durchkalkulierten, aus zahllosen Facetten zusammengesetzten Faszinationsprodukt Musikdrama.15 Aber Nietzsche weicht dem Problem der Vermittlung von Detail und Totum aus; von seinen “organischen” Weltphantasien will er ebensowenig mehr wissen wie hinter die aktuelle Kritik des von Wagner Gemachten und Geschaffenen zurückfragen. Dagegen stellt Adorno diesen Zusammenhang eigens her, wenn er vom “Konflikt des romantischen und des positivistischen Elements”,16 der (vermeintlich) antimodernen Einheitssehnsucht und der Modernität ihrer künstlerischen Darstellungsmittel spricht. Zwar analysiert er keine Details, benennt jedoch die Richtung, die eine solche Analyse zu nehmen hätte. Weil das Gesamtkunstwerk sich nicht mehr als eine metaphysische Anschauung des schönen Wahren, welche die “Prosa der Verhältnisse” überbietet, vollenden kann, muß es zum Mittel des Rausches greifen, um sinnliche Totalität überhaupt erzeugen bzw. erregen zu können. Kulturindustrie ist der großen Kunst nicht nur von außen angetan, sondern geht wesentlich aus ihr selbst, d.h. aus ihrer obersten Idee hervor. Rausch ist für das Musikdrama nicht akzidentiell, sondern konstitutiv, keine Hilfshypothese, sondern ein realisierter Grundzug. Hier von Kulturindustrie zu reden, heißt nicht, Wagners Werk zu verkleinern oder zu trivialisieren. Bleibt doch der artistische Vorgriff auf moderne Massenkultur, der von ihm vollzogen wird, an die romantische Utopie einer Kunst, welche die moderne Systemdifferenzierung überwindet, rückgebunden. Nicht nur zerbricht, wo Kulturindustrielles ins Spiel kommt, die holistische Vision der “Neuen Mythologie” an der Eigenlogik funktionaler Teilgebiete, sondern umgekehrt lebt das Werk auch als Phantasmagorie von der Erinnerung an seinen ursprünglichen Anspruch. Dieser mag vielfältig verändert und gebrochen sein, aber er ist weder verschwunden noch bedeutungslos geworden. Rausch gehört bei Wagner beiden Polen an, er ist geradezu die Verbindung zwischen ihnen, keineswegs der Herold nur einer Seite.17 Der zweite Punkt ist Adornos Behauptung, daß Rausch im Musikdrama die Autonomie der Künste nivelliere. Das meint: Die Vereinigung von Musik, Sprache und Szene geht auf Kosten der historischen Ungleichzeitigkeit ihrer Materialien. Diese werden über den historischen Stand hinweg synchronisiert und quasi promiskuös ineinander verzogen. Weil in der modernen Gesellschaft jede Kunst gleichsam eine andere Welt, wenn nicht eine andere Zeit zur Darstellung bringt, kann sich der musikdramatische Stil keiner einzelnen von 15
Vgl. Nietzsche (wie Anm. 3). S. 27. Adorno (wie Anm. 14). S. 101. 17 Wagner, wie es Friedrich Kittler und Freunde taten, als Vorläufer von Rockmusik zu etikettieren, war vorübergehend hilfreich, weil so die massiv veränderte Proportion zwischen Notation und Klang im Musikdrama wie unter dem Vergrößerungsglas hervortreten konnte. Andererseits ist die Medienästhetik über diese eine Einsicht bis heute nicht hinausgekommen. Zur Kritik an Kittler vgl. Klein (wie Anm. 13). S. 199ff. 16
108 ihnen anvertrauen, sondern muß sie alle je ineinander überführen, um so etwas von jener Ganzheit zuwege zu bringen, die jedem einzelnen Medium abgeht. Das aber, meint Adorno, sei nur möglich, wenn sich Musik wie Sprache wie Szene einer reflexiven Instanz entzögen und archaisch gebärdeten: “Im Gesamtkunstwerk ist der Rausch unumgänglich als principium stilisationis: ein Augenblick der Selbstbesinnung des Kunstwerks würde genügen, den Schein seiner ideellen Einheit zu zersprengen”.18 Wir werden noch sehen, daß der zweite Teil des Zitats ein wenig vollmundig verfährt und das Selbstbesinnungspotential des Musikdramas charakteristisch verkennt. Der Rausch, den Adorno zu diagnostizieren glaubt, ist die Preisgabe der einen Autonomie an die andere und umgekehrt. Die Musik wird genötigt, auf Kosten ihrer originären Zeitkraft das Vergegenwärtigungsprinzip des Dramas zu übernehmen und alles Abstrakte der Sprache in den Schein restloser Aktualität zu überführen. Zugleich aber kehrt das Verleugnete von der anderen Seite her wieder. Die ding- und stückhaften, nicht aktualisierbaren Elemente der Sprache schlagen sich in einer Leitmotivik nieder, welche nie ganz jene Vergegenwärtigung zu leisten vermag, um die es Wagner zu tun ist und die sich am Ende sogar zu einer alternativen Macht gegenüber dem dramatischen Verlauf entwickelt. Leitmotivtechnik, eigentlich aus Präsenzsucht geboren, erscheint dann paradox als Rache der Sprache an der Musik, als die insistierende Wiederkehr des Abwesenden inmitten totaler Gegenwartsorientierung. Umgekehrt ist Sprache aber ebenso gezwungen, sich an diese illusionäre Präsenz der Musik anzupassen; schon Nietzsche spricht von Wagners Versen als von “Musikdunst”, und was ist Alliteration am Ende anderes als die magische Rückseite der Prosa. Nur werden solche Widersprüche, wie uns der Dialektiker mehrfach versichert, bei Wagner nicht reflexiv ausgetragen, sondern wie Gesten ekstatisch zusammengeworfen und vermischt. Zum Rausch wird solches Vermischen ohne Ansehen des je Eigenen dadurch, daß es den Wirkungszusammenhang des Ganzen konstituiert, d.h. weniger die Wirkung auf das Publikum im Saal als die Konstitution von Publikum im Werk. Keine Frage, daß Adornos Überlegung einen Punkt trifft. Mimikry der Medien untereinander gehört zur Definition des Musikdramas und macht es notwendig, Zeit und Präsenz neu zu denken. Unabhängig davon leidet diese Kritik an einer Schwäche: ihrem übersteigerten geschichtsphilosophischen Anspruch. Rausch und Vermischung der Medien werden vom Standpunkt der Autonomie der jeweiligen Einzelkunst diagnostiziert. Adorno spielt dann deren Gewinn- und Verlustbilanzen durch, um zu belegen, daß die Vermischung der Medien dem historischen Entwicklungsstand von Musik, Sprache und Szene nicht gerecht wird, zumindest nicht dem der beiden
18
Adorno (wie Anm. 14). S. 100.
109 letztgenannten.19 Aber über seinen eigenen Analysen zu Fortschritt und Regression versäumt er es durchgehend, sich der Gegenwart der Vermischung, d.h. der Gegenwart des Rausches, selbst zu stellen. Er zeigt plausibel, daß das Gesamtkunstwerk ein schlechtes Drama ist, eine schlechte Oper und eine schlechte Symphonie. Nur führt er so die eigene Kritik de facto auf Kriterien der klassischen Arbeitsteilungsästhetik zurück. Die Frage, welche Kategorien an deren Stelle treten könnten, wird nicht einmal gestellt. Weil Adorno der Möglichkeit eines alternativen, ‘nichtgeschichtsphilosophischen’ Zugangs zum Gegenstand nicht nachgeht, bleiben ihm begriffliche Mittel verschlossen, die dem medialen Zwischenbereich des Musikdramas angemessen wären. Der echauffierte Duktus, mit dem im obigen Zitat Rausch und Selbstbesinnung einander entgegengesetzt werden, verfehlt die Struktur des Musikdramas. So “lückenlos rauschhaft”, wie Adorno behauptet, kann es gar nicht zugehen, wenn doch Siegfried “in den hintersinnigen [!] Schwertliedern” um die “musikalische Doppelheit von Differential- und Integraltechnik”20 kreist und die Meistersinger mit ihrer fiktiven Harmonie von Technik und Natur, Esoterik und Volkstümlichkeit “das größte Zeugnis des Wagnerschen Bewußtseins von sich selber”21 darstellen. Woran Adorno begrifflich abgleitet, ist die Kommunikation zwischen Text und Musik, Sprache und Komposition. Zu sehr bleibt er der klassischen, d.h. monadologischen Vorstellung von der Autonomie der Künste verhaftet, als daß er das “principium stilisationis” des Musikdramas in seinem speziellen Ineinander von “Rausch” und “Rationalität”, von a-reflexiver Verschmelzung der Medien und intermedialer Reflexion solcher Verschmelzung theoretisch einholen könnte. Daß dieser Reflexionstypus supplementär oder additiv, nicht aber dialektisch vorgeht, daß er zum Kompositionsprozeß extern hinzutritt, statt aus diesem zu resultieren, ändert nichts daran, daß durch ihn Distanz, also Spielraum entsteht. Hier liegt die Grenze, über die Adorno nicht hinausgelangt. Ob in der Analyse der Instrumentation, der Motivik, des Mythos oder der theoretischen Schriften, stets stellt er den Rausch als ein hermetisch in sich geschlossenes Blendwerk, als Immanenz ohne mögliche Transzendenz dar. Reflexion kann er sich allein als Negation von Vermischung vorstellen, eine Selbstbesinnung, die vom Rausch ausgeht, ist ihm Anathema.
19
Daß die “Szene”, d.h. die “Regie”, damals von einem autonomen Selbstverständnis weitestgehend entfernt war, sei nur nebenbei erwähnt. Einem wie immer gearteten ‘Stand’ konnte Wagner gar nicht gerecht werden, weil eine entsprechende Praxis überhaupt noch nicht abzusehen war. Wie sehr er unter dem Pseudonaturalismus der Bühne seiner Zeit gelitten hat – ohne im Besitz der Mittel zu sein, diese verändern zu können –, ist bekannt. An solchen Details merkt man, wie historisch ungenau Adorno zuweilen argumentiert. 20 Theodor W. Adorno: Wagners Aktualität (1965). In: Adorno: Musikalische Schriften I-III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. S. 543–564. Hier: S. 555 (Gesammelte Schriften 16). 21 Adorno (wie Anm. 14). S. 38.
110 An anderer Stelle habe ich gezeigt, wie nahe die Geschichtsphilosophie des Kritikers an Wagners geschichtsphilosophischer Legitimation seines Werks angesiedelt ist.22 Eben darum hat Adorno auch so scharf gesehen, daß die musiktheatrale Praxis des Gesamtkunstwerks seiner spekulativen Konstruktion in wesentlichen Teilen zuwiderläuft. Letztere bleibt, kurz gesagt, ein diskursives Phantom ohne soziale Basis. An deren Stelle, virtuell an die Stelle der “befreiten Gesellschaft” tritt Wagners Versuch, das geschichtsphilosophisch unmögliche Ziel dennoch mit allen Mitteln der Egomanie des genialen Artisten zu erzwingen und als emphatische Gegenwart in Szene zu setzen. Das bringt, aus Adornos Sicht, nichts Geringeres als die Differenz von ästhetischer und sozialer Wirklichkeit zum Verschwinden. Der radikal ausstehende Sinn der Utopie kippt in rituellen Aktualismus um, in einen Tanz um das Goldene Kalb; an die Stelle der mißlungenen politischen Revolution tritt ein Kunstmythos von der Welt Anfang und Untergang, der erst durch aufwendige illusionstechnische Mittel Dasein gewinnt. Über diese Denkfigur ließe sich viel sagen. Auf einer zureichend hohen Abstraktionsebene mag sie ihr Recht sehr wohl haben. Ich bezweifle nur, ob sie mit einer immanenten Kritik der musikalischen und theatralen Tatbestände zu vermitteln ist, was Adorno zu leisten beansprucht, ohne es einzulösen. Nehmen wir die folgende, durchaus eindrucksvolle Passage: Die Ewigkeit der Wagnerschen Musik, gleich [!] der der Ringdichtung, ist die des Nichts-ist-geschehen; die einer Invarianz, die alle Geschichte mit der sprachlosen Natur dementiert. Die Rheintöchter, die zu Beginn mit dem Golde spielen und es am Ende zum Spielen zurückerhalten, sind der letzte Schluß von Wagners Weisheit und Musik. Nichts ändert sich; gerade die individuelle Dynamik stellt den amorphen Urzustand wieder her; die Entfesselung der Kräfte dient selber nur der Invarianz und damit der herrschenden Macht, wider welche sie zu Felde ziehen. Das wird von Wagners Formgesinnung eindringlicher vertreten als je von seinen philosophischen Meinungen.23
Adorno läßt sich hier vom Text der Dichtung, d.h. von dessen Anfang und Ende, ein Modell der Naturgeschichte vorgeben, das jeder theatralen Konkretion bar ist und zudem noch mit dem Sinn der musikalischen Form gleichgesetzt wird.24 Die Stelle dürfte exemplarisch sein für Schwierigkeiten, in die man durch zu weit getriebene Abstraktionen gerät. Denn: Ist Wagners Musik nicht schon in sich so sehr von temporaler Diskontinuität und Vielstelligkeit bestimmt, 22
Vgl. Richard Klein: Zwangsverwandtschaft. Über Nähe und Abstand Adornos zu Richard Wagner. In: Richard Wagner und seine Zeit. Hg. von Eckehard Kiem und Ludwig Holtmeier. Laaber: Laaber 2003. Teil I und II. 23 Adorno (wie Anm. 14). S. 37f. 24 Vgl. ebd. S. 120, wo es heißt, daß “die Texte mit der musikalischen Organisation eines Sinnes” seien.
111 daß Begriffe wie Anfang und Ende im emphatischen Sinne, Urzustand und Endziel an ihr abgleiten? Es ist unstrittig, daß Wagner im Horizont der Totale, des einen weltumspannenden Projekts denkt und dichtet. Hat er diesen Horizont aber kompositorisch wie theatral nicht längst zugunsten von Pluralisierung, Perspektivität und Differenz verlassen? Adornos These vom Verlust des zeitlichen Richtungssinns im Musikdrama ist eine bedeutsame Einsicht; aber die geschichtsphilosophische Überhöhung, die er ihr zumutet, beeinträchtigt seine Kritik im Detail schwer. Der Zusammenhang des Rausches mit dem Scheitern an der Zeit ist das eine, seine Verknüpfung mit Ursprungsmythos, Revolution und dem Ende der Geschichte das andere. Die mit dem Golde spielenden Rheintöchter mögen der letzte Schluß von Wagners Weisheit sein, sie sind nicht der letzte seiner Musik und seiner Dramaturgie. Versagen und Bahnbrechen liegen oft nahe beieinander. Zum Zeitproblem hat Adorno Einsichten ausgesprochen, die vor ihm, gewisse Blitze Nietzsches ausgenommen, schlicht keiner kannte. Er ist der erste, der dieses Thema als eines der Entropie im Fortschritt, der Verräumlichung im Progreß, der Rotation in der Entwicklung auf den Punkt bringt. Adorno beschreibt eine Musik, die in der Kleinform häufig ganz von Mobilität geprägt ist, dafür aber im Großen eine überwältigende Dynamik im Stillstand zu realisieren scheint; bei der die Grundsatzfrage, wie etwas in der Zeit weitergehen soll, mehr durch dynamische Gebärden, explosive Figurationen und Spannungsraffinement aller Art gelöst wird als durch großräumige oder gar zielgerichtete Entwicklungskonstruktionen. Bei Wagner tritt das Kontinuum als Ordnungsrahmen der Ereignisse, die sich ‘in’ ihm abspielen, zurück hinter einen mehrdimensionalen Komplex, in dem ein temporaler Richtungssinn entweder nicht mehr erkennbar ist oder sich, in den Grenzen des noch tonalen Materials, aufzulösen beginnt. Aber diese höchst innovative Erkenntnis wird von Adorno sogleich zweifach verformt: Einmal bindet er sie an ein von bestimmten Werken Beethovens abstrahiertes Zeitmodell, was die Formen der Wagnerschen Zeitverräumlichung zu Effekten einer “scheinhaften Entwicklung” mutieren läßt; sodann deutet er dieses Scheitern am Zeitprozeß als Signifikanz versäumter oder aufgegebener Revolution, als Ausdruck des “Gesamtbewußtsein[s] eines Bürgertums, das, indem es nichts mehr vor sich sieht, den Prozeß selber verleugnet und seine Utopie an der Zurücknahme der Zeit in den Raum hat”.25 Ich schlage vor, die Richtung der Reflexion umzukehren, d.h. Geschichtsphilosophie in den “Horizont der Zeit” zurückzunehmen, sie auf unsere endliche Erfahrungswelt herabzustimmen, statt sie die Felder der phänomenalen Zeitgestaltung abstrakt dominieren zu lassen. Natürlich sagt die Krise des klassischen Zeitbewußtseins etwas über die Subjekte aus, denen sie 25
Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik (1949). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. S. 173 (Gesammelte Schriften 12).
112 widerfährt und die sie vollziehen – und damit über “die reale Gesellschaft”, in der sich dies alles abspielt. Daß Wagners Musik keine innere Geschichte im strengen Sinne kennt, läßt sich, was immer Carl Dahlhaus schreiben mag, gattungstheoretisch, also mit der Formel “typisch Oper”, eben nicht entsorgen.26 Die Verschiebung des musikalischen Zeitproblems von einer linearen Entwicklung zu einer multiperspektivischen Dauer hat einen sozialen und politischen Index. Nur dürfte es, mit Verlaub, heute, wo sich uns zunehmend das Gewaltsame linker wie rechter Totaldeutungen des Ring aufdrängt, weiter führen, die Zeitgestalten, die sich bei Wagner vorfinden, erst einmal in ihrer Vielfalt zu analysieren, als ein weiteres Mal vorab das Licht der Erlösung auf sie scheinen zu lassen, ohne daß es sie je erreicht. Der dritte Punkt, der oben genannt wurde, Adornos Verständnis des Rauschs interpretierend, war der Vorrang des Klangs vor der Zeit. Schon bei Nietzsche findet sich der Satz: “Die Farbe des Klangs entscheidet hier; was erklingt, ist beinahe gleichgültig.” Wagner habe entdeckt, “welche Magie […] mit einer aufgelösten und gleichsam elementarisch gemachten Musik ausgeübt werden kann”.27 Adorno hat diesen Sachverhalt mit der ihm eigenen, etwas säuerlichen Genauigkeit so gefaßt: Die Emanzipation der Farbe […] steigert das illusionäre Moment, indem der Akzent vom Wesen, dem musikalischen Ereignis an sich, auf die Erscheinung, den Klang fällt. Neuerungen wie die Herstellung musikalischer Farbflächen konnten nur auf Kosten der zeitlichen Artikulation, nur zugunsten der blendenden Gegenwart gelingen, und die Aufweichung der konstruktiven Elemente […] kommt nicht zuletzt der illusionären Präsenz zugute.28
26
Vgl. Carl Dahlhaus: Soziologische Dechiffrierung von Musik. Zu Theodor W. Adornos Wagnerkritik (1970). In: Dahlhaus: 19. Jahrhundert IV. Richard Wagner – Texte zum Musiktheater. Laaber: Laaber 2004. S. 352–361. Hier: S. 360f. (Gesammelte Schriften 7). 27 Nietzsche (wie Anm. 3). S. 24 und S. 30. Der Begriff des Klangs ist durch Äquivokationen belastet, die man benennen muß, wenn man mit dieser Kategorie arbeiten will. Klang meint erstens, daß Musik in die Klasse der akustischen Phänomene gehört. Er meint zweitens den Parameter Instrumentation, der materiale Eigenschaften der Musik ins Spiel bringt, die im Medium der Notenschrift nicht repräsentierbar sind. Drittens geht es um einen historischen Vorgang, bei dem diese Materialität zu einem Prinzip der Gesamtform avanciert. Dabei werden Kategorien des musikalischen Satzes wie Harmonik, Melos, Polyphonie etc. durch Klangvorstellungen überprägt, die die sensuellen, farblichen, atmosphärischen Außenschichten des Materials zugleich differenzierend hervortreiben. Am Ende wird das Aposteriori akustischer Materialität zum Apriori der musikalischen Form. Nur in diesem dritten Sinne ist hier in bezug auf Wagner von Klang die Rede. Vgl. dazu die inspirierende Arbeit von Tobias Janz: Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners “Ring des Nibelungen”. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 28 Adorno (wie Anm. 14). S. 93.
113 Was beide Philosophen hier fast traumwandlerisch nachzeichnen, ist die Geburt einer Methodik des Rausches aus dem Geiste der klangmateriellen Darstellung. “Blendende Gegenwart”, “illusionäre Präsenz”, “elementarisch gemachte [!] Musik” sind nicht bloß familienähnliche Umschreibungen unseres Bezugspunktes, sondern zugleich Indikatoren dafür, daß sich der Rausch samt seiner Konkurrenz zur zeitlichen Struktur aus dem Kompositionsprozeß im ganzen heraus generiert. Klang ist bei Wagner dasjenige Element, das vermöge seiner sensuellen Emanzipation davon absieht, den Zeitverlauf als sinnvoll zu gestalten. Statt dem Entwicklungsgang eines subjektiven Prozesses überläßt er sich dem Grundgeschehen des Raumes, das subjektiver Souveränität sowohl vorausliegt wie sie mit Auflösung bedroht. Nur ist damit nicht die Lösung benannt, sondern das Problem. Die Kapitel IV–VI sind bei Adorno so angelegt, daß sie dem Klang (der Farbe, dem Orchester) die Kompensation defizitärer Zeitbehandlung a priori als Aufgabe zuweisen. Die motivische Auseinandersetzung mit der Zeit, die abbricht bzw. Entwicklung nur vorspiegelt, ist der erste Schritt der Argumentation, der Aufbau des Kontinuums der Klangfarben, welches in den Raum “regrediert”, der zweite. Beide Elemente sind nicht gleichwertig, sondern stillschweigend normativ gestaffelt: erst das subjektive Scheitern an zeitlicher Entwicklung, dann die Inthronisierung des Klangraums, die das Subjekt preisgibt. Das Fehlen einer inneren Historizität der Musik führt zum Rausch, es ist dessen Voraussetzung und er seine Konsequenz. Zwischen beiden Momenten stellt Adorno keine tragfähige Balance her. Phänomenal beschreibt er einen Vorrang des Klangs vor der Zeit, normativ geht er vom Primat der Zeit vor dem Klang aus. Nur von der Zeit her, so scheinhaft sie entfaltet sein mag, gilt ihm eine Transzendierung zum Scheinlosen als im Prinzip möglich, der Klang dagegen, wie sinnlich dominant er auch ist, bleibt eine Funktion des Zerfallens der Zeit. Die Orientierung an diesem Zeitbegriff hat die Reduktion des Klangraums auf Phantasmagorie festgelegt, bevor auch nur ein Takt analysiert ist. Am Ende vermag Adorno zwischen Gegenwart und Illusion bzw. Gegenwart und Rausch strenggenommen nicht mehr zu unterscheiden, was auch heißt, daß Rausch mit totaler Illusion gleichgesetzt bleibt.
II. Zeit Zeit ist ein zentrales Thema von Wagners Ring, im besonderen natürlich der Musik, aber auch von Dichtung und Handlung. Freilich – zunächst – in einem negativen Sinn: Dieses Werk stellt sich als Drama mangelnder oder mißlingender Zeitbewältigung, als Tragödie des Vergessens in vielerlei Gestalt dar.29 29 Vgl. Carl Dahlhaus: Entfremdung und Erinnerung. Zu Wagners Götterdämmerung (1984). In: Dahlhaus (wie Anm. 26). S. 486–492.
114 Weniger die Hagenintrige als solche, d.h. ihre perfide Abrichtung Siegfrieds durch den Vergessenstrank, ist dabei der primäre Gegenstand als jener Hintergrund, der das Ganze durchdringt: das disparate Nebeneinander musikalischer Zeitformen einerseits wie das Scheitern der dramatis personae beim Versuch, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Einheit zusammenzufügen, andererseits. Aber selbst wenn diese Tragik das Ganze prägt, ist sie doch im genauen Wortsinne gegen die Totalität des Ring geltend zu machen. Selbstredend lassen sich die vielen Gestalten des Zerfallens der Zeit nicht in einer Geschichte stillstellen und wie Teile eines Totums behandeln, das sie je schon überwölbt. Wagners Musik entfaltet ihr Zeitdrama an großen geschichtsphilosophischen Inhalten vorbei. Sie fördert Heterogenität, Vielfalt und Differenz noch dort zutage, wo Wagner ihr ideologischerweise abverlangt, sich als Metapher eines Sinnganzen zu präsentieren. Im Lichte solcher Tragik interpretiert gewinnen die Beziehungen nahezu des gesamten Figurenpersonals im Ring an Prägnanz. Dieser These möchte ich an einem exemplarischen Beispiel nachgehen. Die Liebe zwischen Brünnhilde und Siegfried definiert sich durch die Kollision von Sexualität und Zeit, d.h. von totaler Gegenwart und absoluter Erinnerung. Es ist diese Struktur, die die Tragik des Endes mitbedingt, nicht die Manipulation einer mythischen Lichtgestalt durch Methoden des Bösen wie Gehirnwäsche und Drogen. Weder der psychologische Blick auf die individuelle Person noch die Berufung auf Archetypen führen in der Sache weiter. Siegfrieds Gedächtnislosigkeit gehört ab ovo zu ihm, aber nicht als psychologisches Charaktermerkmal, sondern als seine spezielle Position im Gefüge der dramaturgischen Verhältnisse insgesamt. Gedächtnislosigkeit ist Siegfrieds ‘Natur’, das, was ihm als Lebensentwurf vorgegeben ist. Sie verurteilt ihn zu einem Tat- und Körpermenschendasein, welches ohne Bewußtsein seiner Herkunft atemlos in die Zukunft vorprescht und alles vergißt, um das eine zu tun. Allerdings bleiben die Extreme signifikant aufeinander angewiesen: Der blind agierende Anarchist ohne Gedächtnis ist die Kopfgeburt eines Gottes, der nichts ist als das Gedächtnis, welches ihm das Handeln verwehrt. Die Rede, die Brünnhilde an ihren Erwecker richtet, ist ganz im Geiste jenes Gottes, ihres Vaters Wotan, gehalten. Sie enthält eine Kaskade imaginärer Zuschreibungen an einen Mann, der ihren Atem, ihren Körper, nicht zuletzt die stimmphysiologischen Modalitäten ihres Sprechens wahrnimmt, aber nicht den Sinn ihrer Rede und die Geschichte, von der diese handelt. Für Siegfried gibt es keine Zeit, real sind nur Augenblick und Körper, weder Sprache noch symbolische Ordnung. Ausgerechnet in ihm sieht Brünnhilde Eigenschaften verkörpert, die ihrer Erinnerung entspringen. Er sei ein Gedanke, eine Idee, ein utopischer Weltzustand, aus einer fernen Vergangenheit kommend, in eine ferne Zukunft gehend. Sie spricht ihm alles nur Erdenkliche an Bedeutung zu, aber die Gegenwart, den gelebten Augenblick, die kontingente Sinnlichkeit ab.
115 Derart steht dann die Last ihres Gedächtnisses ohne Gegenwart gegen die Präsenz seiner Körperlichkeit ohne Geschichte. Eine Vermittlung beider kommt so wenig zustande wie zuvor ein Dialog zwischen Wotan und Erda. Zwar verführt die Grundfigur des Märchens, die hier mit hineinspielt (der Held besiegt den Drachen und kriegt die Prinzessin zur Frau), allemal zu einer gutgemeinten Deutung der Liebe unseres heroischen Paares. Wagners Größe bewährt sich indes darin, daß er das gute Ende untergründig als kommunikatives Desaster inszeniert. Mag die Musik, die strahlendste, die er je geschrieben hat, für Siegfried Partei ergreifen, so klingt in den Versen unüberhörbar an, was Brünnhilde in dieser Beziehung verliert. Von ihrem reflexiven Voraussetzungsreichtum bleibt allein das Pathos der eigenen Auserwähltheit zurück. Nicht nur gehen Körperlichkeit und Gedächtnis getrennte Wege, es ist Brünnhildes Liebe zu Siegfried selbst, die ihr Gedächtnis zerstört: In der Götterdämmerung verzaubert sich der Ring für sie in ein Liebespfand, das geradezu an die Stelle von Erinnerung tritt. Denn plötzlich gilt die Geschichte seines Verhängnisses, von der Wotan ihr einst erzählte, als null und nichtig. Aus dem Mechanismus des Fluchs macht die Verblendete eine umso irrealere Altlast, je drängender ihre Schwester Waltraute vor dessen Fortbestand warnt. “Dichtes Vergessen hat zwischen heut und gestern sich gesenkt”: Tannhäusers Beckett-Satz avant la lettre trifft auch hier ins Schwarze. Bei ihm zeigten die Worte den unüberbrückbaren Abgrund zwischen Venusberg und Wartburg an; die Rückkehr zu Elisabeth vermochte Tannhäuser ebensowenig als Rückkehr zu erfahren wie die Erinnerung an Venus in seinem Preislied auf diese wirklich aufgehoben war. Vordergründig ist Brünnhildes Situation eine ganz andere und doch derjenigen Tannhäusers darin vergleichbar, daß ihr die Zeit zu einer Last wird, unter der sie in die Knie geht. Indem ihre Liebe zu Siegfried selbst zur Erinnerung im Sinne eines seligen Nachhängens an Geschehenes schrumpft, vergißt oder nivelliert Brünnhilde deren eigene vertrackte Vergangenheit: sie, die im Gedenken an solche Komplikationen doch soeben noch aus ihrem Mythenschlaf erwacht war. Nicht nur der tumbe Held leidet an Amnesie. Die skizzierte Szene zwischen Siegfried und Brünnhilde ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Einmal im Hinblick auf das Scheitern der Akteure an der Zeit; sodann aber und mehr noch, weil ihre Verse reflektieren, was sich an der musikalischen Basis als Konflikt zwischen theatraler Präsenz und antitheatraler Zeit abspielt. Auf der einen Seite ist Wagner Siegfried, der darauf besteht, alles “Ferne” in “sinniger” Dramatik zu fundieren. Nichts zählt und nichts hat einen Wert, was nicht jetzt und hier da ist und erscheint. Was geschieht, muß als ein Gegenwärtiges darstellbar sein, es darf weder sprachlich noch musikalisch als Hintergrund, Verweisung oder Sentenz aus der musikalisch-szenischen Erscheinung herausfallen. Auf der anderen Seite ist Wagner Brünnhilde aber nicht minder. Die Geschichte des Ganzen ist von einer solchen Stoffülle, daß sie die Forderung nach sinnlicher Aktualität erst
116 einmal außer Kraft setzt. Nichts darf ‘einfach so’ passieren, jedes Ereignis, jede Unmittelbarkeit im Werk muß begründet sein: nihil est sine ratione. Wagners theatrale Obsession, jeden Abwesenheitswink der Sprache gleichsam von der Gegenwart der Musik schlucken zu lassen, trifft auf seinen ebenso ausgeprägten Hang zu einer antitheatralen Epik, welche die Präsenz des Geschehens mit einem Netzwerk komplexer Zeitbeziehungen überlagert. Entsprechend charakterisiert der besagte Dialog nicht bloß die tragische Beziehung zweier Heroen der Bühne, sondern, wie ich meine, auch die Grundstruktur des Musikdramas in sich. Nicht vertont die Musik einen Text, sondern der Text reflektiert umgekehrt die interne Verfassung der Musik. Aber die Brüche und Widersprüche der Zeit bleiben. Noch das theatrale Ende des Werks verfängt sich in ihnen, oder besser: Es stellt sie aus. “Starke Scheite” ist mehr als eine finale Zeremonie. Zwar kommt die Erkenntnis, daß am Ende nur die Erinnerungen bleiben, im Rahmen eines rauschhaften Rituals zum Ausdruck. Aber es findet kein Ausgleich der Zeitmodi statt, sondern eine Verschärfung ihrer Gegensätze. Erst diese innere Zerrissenheit verleiht dem Stück überhaupt jenes expressive Niveau, das es davor behütet, zur kultischen Witwenverbrennung zu degenerieren oder sich auf die Trauerretrospektive, gleichsam den Epilog nach dem Ende zu beschränken. Was im Sinne traditioneller dramatischer Finalität auf das ‘Andere’ zielt, ist der musikalischen Substanz nach Apotheose eines verbrauchten Materials. Wo sich auf der Bühne die überlebensgroße Tat zum (vermeintlich) Neuen breitmacht, läßt die Musik vorzugsweise Vergangenes episodisch abrollen, zerfasern. Ihre Kraft, Geschehenes als Geschichte eines Lebens zur Erscheinung zu bringen, scheint versiegt. Wie mit der Aura des ‘zum letzten Mal’, wie ersterbende Körper, die bald Dinge sein werden, erklingen die Motive. Natürlich ist es ein category mistake, hier den Maßstab einer motivisch-thematischen Arbeit anzulegen, die eine progressive Entwicklungsstruktur voraussetzt. Weniger, weil solche Kritik Kriterien des symphonischen Denkens naiv auf die Oper übertrüge, als weil ihr für das Vermögen von Wagners Musik, Formen zerfallender Zeit darzustellen, der Sinn fehlt. Der Einwand, antilineare Strukturen unterminierten die Utopie, übersieht, daß es im Ring um eine finale Geschichte – und sei es um eine des Scheiterns in toto – zuletzt eben nicht geht. Thema der Götterdämmerung ist nicht so sehr die oberste Katastrophe oder Erlösung, zu der am Ende alles magnetartig hinstrebte, als die Ohnmacht von Menschen angesichts der “Herrschaft der Zeit” (Theunissen), als ihre Schwäche, deren Modi zu einer Einheit zusammenzufügen. Das macht diese Musik in einem fast unvorstellbaren Maße perspektivisch, plural und kleinteilig und doch auf die Einheit eines Problems bezogen. Entsprechend liegt die Bedeutung der Leitmotivtechnik in der Erschließung und Darstellung zerfallender Zeit. Es ist noch unklar, was das heißt. Dieser Prozeß geht nicht durch einfache semantische Übertragung vonstatten, sondern nur über die formale Funktion der Motive, die ihrerseits große
117 kompositorische Flächen voraussetzt. Der Atomisierung des Materials entspricht die Monumentalität des Baus. Diese Erkenntnis ist in der Vergangenheit oft verstellt oder ignoriert worden, weil man den Unterschied zwischen Darstellung und Dargestelltem polemisch zu verwischen und die Leitmotivik auf eine funktionale Gedächtnishilfe für Vergeßliche zu reduzieren trachtete. Wagner, sagt Adorno einmal, rechne immer schon mit der Gedächtnisschwäche des Hörers, damit, daß dieser sich an nichts entsinne, als was ihm im Augenblick geboten werde. In einem vermittelten Sinne mag das richtig sein. Die Feststellung wird aber falsch, wenn sie Leitmotivtechnik direkt als Anpassung an “den Warencharakter” oder gar als dessen Abbildung fixiert. Die Darstellung einer Symptomatik zerfallender oder vergessener Zeit ist nicht schon diese Symptomatik selbst.30 Daß es zu solchen Verkürzungen kommen konnte, hängt mit einer systematischen Zweideutigkeit der Leitmotivik selbst zusammen. Generell sind die Leitmotive im Ring sowohl allegorisch fixierte Signale oder Fertigteile, welche sich nicht entwickeln lassen, als auch eine anonyme Materialmasse, die wie ein impressionistisches Komma ständig als Gegenstand von Verarbeitung, Verwertung und Transformation fungiert. Auf der einen Seite scheint platterdings der Text über ihr Auftauchen und Verschwinden zu gebieten. Eine gewisse technische Primitivität ist die Folge, aber ganz ohne Klischees und eingängige Oberflächenformeln hätte Wagner den Ring schwerlich schreiben können. Auf der anderen Seite liegt den Motiven eine radikale kompositorische Abstraktion zugrunde, die bis zur Isolierung musikalischer Parameter reicht und so eine Flexibilität und Manövrierfähigkeit von Strukturen freisetzt, welche die Leitmotivik schließlich zum Drama im Drama, zur akustischen Überwelt des Bühnengeschehens avancieren läßt. Bereits im Rheingold, z.B. in der Verwandlungsmusik zur 3. Szene, sind Spuren eines solchen parametrischen Umgangs mit Motiven deutlich auszumachen. Aber erst in der Götterdämmerung verfügt Wagner über diese Möglichkeiten so, daß sich die Differenzierungsdichte der musikalischen Zeitelemente gegen das Ganze, d.h. gegen das Drama als geschichtsphilosophisches System oder Programm kehren kann. Voraussetzung dafür ist eine musikalische Organisation, die neutrale qua motivlose Strukturen weitestgehend vermeidet. Deshalb herrscht in der Götterdämmerung ein Übermaß an musikalischen Ereignissen mit sinnverweisender Funktion. Häufig sind auf engstem Raum so viele und unterschiedliche Motive ineinander verwoben, daß der Prozeß entweder zu einem “Overkill” an 30 Im folgenden greife ich zurück auf analytische Partien meines Aufsatzes: Gebrochene Temporalität. Die Revolution der musikalischen Zeit im Ring des Nibelungen. In: Narben des Gesamtkunstwerks. Wagners “Ring des Nibelungen”. Hg. von Richard Klein. München: Fink 2001. Teil IV. Durch die veränderte Konstruktion ist der Stellenwert dieser Teile hier ein anderer als dort.
118 Sinnbezügen führt, der sich nicht mehr rezipieren läßt, oder umgekehrt in ein Bedeutungsopfer umschlägt, bei dem Verschiedenartiges sich in einer Manier annähert, die semantische wie morphologische Differenzen einzieht. Praktiziert wird ein ständiges Wechselspiel von Semantisierung und Entsemantisierung – unter dem Primat der Entsemantisierung. Das gilt nicht zuletzt für die Erzählungen. Wagner brauchte sie gewiß auch als “Kontrastfolie” (Dahlhaus) zum differentialen Zerfall. Daß sie mit Leitmotiven zuweilen regelrecht gespickt sind, kann indes nicht allein den Grund haben, daß in einer Welt der totalen Deformation nurmehr intakte Gestalten von früher präsentiert werden. Vielmehr lassen sich mit Hilfe des epischen Verfahrens Kombinatorik und Variantenreichtum soweit steigern, daß das Ganze als ‘der’Sinnzusammenhang des Dramas mit seiner eigenen Zersetzung oder Auflösung konfrontiert wird. Natürlich braucht Wagner angesichts von Klangdeformationen, stetigen Dissonanzzusätzen und einer Permanenz des Übergangs ein Gegengewicht, ein Moment des Ausgleichs, und man kann etwa sagen, daß Erzählungen dem insoweit Rechnung tragen, als sie auch diatonisches Material zitieren. Aber ihre Funktion geht keineswegs im Gegenhalt zum zeitlich Negativen auf. Vielmehr sind sie stets und wesentlich an der Subversion des Semantischen beteiligt. Im Detail mögen ihre Gestalten klare Konturen aufweisen, im ganzen aber scheinen die epischen Teile den Fortgang der Handlung wie in ein mysteriöses Kanalsystem hinunterzuziehen, so sehr arbeiten ihre Assoziationen und Korrespondenzen an der Zersetzung des Szenischen. Die Rede von der zweiten Autonomie der Musik in der Götterdämmerung zielt auf diese dekonstruktive Wendung gegen das Ganze des Dramas. Freilich gibt es sehr unterschiedliche Arten, das dekonstruktive Element in der Leitmotivtechnik einzusetzen. Einmal erwächst aus der Auflösung von Strukturen häufig eine Qualität der Musik, die scheinbar längst Bekanntes nur ungenau, flüchtig, entstellt, ‘vorbewußt’ sozusagen, zitiert und so das singuläre Element auf den ‘Raum’, aus dem es herkommt, verweisen läßt. Sodann ist eine Annäherung von Verschiedenartigem zu beobachten, in der sich tendenziell ein Motiv im andern erkennt, mit ihm verschmilzt und so seine Einmaligkeit verliert. Schließlich können innerhalb eines einzelmotivischen Feldes dessen Varianten so stark voneinander abweichen, daß sich der identifizierende Rückbezug auf einen stabilen Motivkern mit festen syntaktischen, diastematischen oder harmonischen Grundeigenschaften verbietet, von einem semantischen Fokus ganz zu schweigen. Es gibt auch die Gegentendenz: das allegorische Zitieren auf erweiterter Stufenleiter. In früheren Werken des Ring wirken solche Stellen vergleichsweise plakativ, weil die Motive noch fast wie Signale funktionieren, die auf ein Stichwort im Text hin erklingen (z.B. in Wotans großem Monolog im II. Akt der Walküre). Zwar gibt auch der Text der Götterdämmerung Anlaß für entsprechende Verlautbarungen. Indes setzt die Komplexität des musikalischen Satzes einen
119 Typus von Zeitdarstellung frei, der den Status des Allegorischen insgesamt verwandelt, hin zu einer Dichte in der Zerstreuung, einer Intensität in der Äußerlichkeit. Zu unterscheiden ist zwischen assoziativen Folgen, in denen sich z.B. Brünnhilde im I. Akt in Gedanken an Siegfried verliert, und isolierten Einbrüchen von Motiven ins musikalische Kontinuum, wie sie die Hagen-Alberich-Szene beherrschen. In beiden Fällen sind die ‘Bildchen’ in ein ‘Fadenwerk’ eingelassen, das sie übergreift und tendenziell ‘alles mit allem’ verbindet. Aber damit ist das Neue noch nicht zureichend bestimmt. Wenn Hagen singt “Ein Weib weiß ich, / das herrlichste der Welt”, erklingt dazu in Baßklarinette und Fagott ein Fragment des Walküren-Motivs, zudem vollführen Streicher, Flöte und dritte Klarinette eine bis zur Irrealität knappe Reminiszenz an den “Feuerzauber”. In ihrem instrumentalen und harmonischen Kolorit erscheinen die Motive nicht weniger gebrochen, d.h. zwischen Präsenz und Absenz projiziert, als in der späteren Szene – unmittelbar nach Einnahme des Vergessenstranks –, wo Siegfried “mit der heftigsten Anstrengung, um eine Erinnerung festzuhalten”, Gunthers Hinweise auf Brünnhilde wiederholt. Dieselbe Struktur ist nach der Katastrophe am Ende des I. Akts zu beobachten, wenn Brünnhildes “Blick bewußtlos die Augen Siegfrieds [streift]”. Als ob sie insgeheim wüßte, wer ihr in Wahrheit soeben Gewalt angetan hat, ertönen nacheinander im Orchester: eine sich expressiv aufschwingende Figur der Celli, die an Brünnhildes Erwachen im III. Akt des Siegfried gemahnt, das zweite der sogenannten Idyll-Motive im vierstimmigen Klarinettensatz und schließlich das Liebes-Motiv mit dem berühmten Doppelschlag. Alle Motive werden abrupt angerissen und ebenso schnell wieder abgebrochen, ihre Gegenwart erstirbt gleichsam auf der Stelle. Auch wenn es paradox klingt: Wir haben es hier mit einem Erinnern zu tun, das auf Vergessen beruht, dessen Voraussetzung Vergessen ist. Vexierartiges Schillern zwischen Kontur und Diffusion auf engstem Raum läßt an den Motiven einen Bedeutungsgehalt hervortreten, den es zuvor in der Musik nicht gegeben hat und der letztlich eine Vormacht der Dimensionalität von Zeit über einzelne zeitliche Momente zum Ausdruck bringt. Vergessen steht nicht nur für einen Fehlschlag des Erinnerns, sondern ebenso für dessen Grund. Damit kommt eine neue Wendung in unser Spiel hinein. Bisher haben wir so getan, als seien Vergessen und Erinnern Gegensätze und jenes ein bloß defizienter Modus von diesem. Der tragische Grundzug des Ring legt eine solche Naivität zunächst auch nahe. Wagner zeigt aber mehr noch, meine ich, wie Erinnerung erst auf dem Grunde von Vergessen möglich wird und Vergessen seinerseits Vergangenheit als Horizont oder Raum erschließt.31 Wenn dem 31
Hier liegen philosophische Probleme verborgen, die ich im Text nicht erläutern kann; vgl. Johann Kreuzer: “Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergißt”. Überlegungen zu einer Notiz Adornos. In: Kulturelles
120 Topos vom “wissenden Orchester” ein Recht zukommt, dann nicht auf der Ebene raunender Psychologie, sondern als Ausdifferenzierung eines Zusammenhangs, der die modale Verfassung der Zeit gegenüber Sukzession und Entwicklung freisetzt und so den idealistischen Zeitbegriff, welcher von der Einheit des Sukzessiven (Früher, Später) mit dem Modalen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) ausging, hinter sich läßt. Vorrang des Vergessens vor dem Erinnern bedeutet Vorrang der Zeit über das sich wissende, selbstreflexive Ich. Nimmt man diesen Gedanken ernst, muß man auch akzeptieren, daß das Kontinuum der Zeit als Medium einer Einheit, die sich in einem Entwicklungsgang erfüllt, gegenüber temporalen Figurationen zurücktritt, in denen Modi, d.h. Vergangenheit und Zukunft, Autonomie im synchronen Bereich gewinnen. Zerfall von Kontinuität kann dann zugleich Bildung eines Vergangenheitsraumes z.B. durch isolierte Zitation und Collagierung von Motiven bedeuten. Als selten eindrucksvolles Beispiel hierfür kann die Hagen-Alberich-Szene des II. Aktes der Götterdämmerung gelten. Beim ersten Hören wirkt sie wie eine Wiederholung von Altbekanntem, eine Rekapitulation pro memoria in schattenhaften Umrissen. Die Partie von Alberich ist ein Fiebertraum, Tempo und Tonfall seines Sprechens samt der orchestralen Kommentierung des von ihm beschworenen Urvergangenen gehorchen einer Logik der Überstürzung, die beschädigte und verfremdete Motive durch Collage miteinander verknüpft. Das tonale Gefüge ist bis zum Zerreißen gespannt, aber in dieser Instabilität noch tragfähig wie ein letzter Rest; unter anderen harmonischen Voraussetzungen hätten die Motive wohl kaum gleichzeitig erklingen können. Fragmentation im Sukzessiven und Verknüpfung im Synchronen greifen strukturbildend ineinander. Mehr noch als in anderen Teilen des Ring liegt die Eigenart der HagenAlberich-Szene in der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Stilschichten begründet. Zwischen chromatischen und diatonischen Materialien herrscht ein Verhältnis vor, das sowohl Entfremdung signalisiert wie Integration vornimmt. Vergleichsweise diskret fügen sich Ring-Motiv und fragmentiertes WalhallMotiv in die musikalische Textur ein (“der einst den Ring mir entriß” bzw. “in Angst ersieht er sein Ende”). Auffälliger schon, wie Wagner aus dem Ring-Motiv einen Bewegungsablauf mit diatonischen Terzen entwickelt (“jede Gewalt hat er gewonnen”), der dann spielend leicht in den Hornruf Siegfrieds übergeht. Vergessen: Medien – Rituale – Orte. Hg. von Günter Butzer und Manuela Günter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. S. 167–183. Entscheidend ist, daß Vergessen nicht dem reflektorischen, auf pikturale Reize reagierenden Charakter (im Sinne Benjamins) zugeordnet und der mémoire involontaire entgegengesetzt wird, sondern als Grundlage für beides dient: für die Sphäre der mémoire involontaire und für den reflektorischen Charakter, dessen jähes Erinnern selbst das Vergessen voraussetzt. Wagners dramatis personae gehören weitgehend dem zweiten Typus an, aber die ausdifferenzierte Leitmotivik läßt die Darstellung seines Assoziationismus in die zeitlicher Dimensionalität übergehen.
121 Anders das Verfahren, mit dem Schwert-Motiv, Speer-Motiv, Brünnhildes Liebes-Motiv und das Rheintöchter-Motiv in den musikalischen Satz einmontiert werden. Im Falle des letzteren bildet sich aus der urplötzlich schwelgenden Dreiklangsharmonik nicht etwa ein Klangfeld, sondern das Motiv bleibt als isolierte Reminiszenz stehen (“die in Wassers Tiefen / einst mich betört”). Darin liegt dezidierte Distanz gegenüber der aktuellen musikalischen Umgebung und die Verkörperung einer Ferne, welche in die Gegenwart als Fremdkörper hineinragt, aber so tatsächlich auch gegenwärtig ist. Hier nur von Enthistorisierung und Suspension des Zeitbewußtseins zu reden, wäre irreführend, weil es Wagners dimensionaler Eröffnung von Vergangenheit mittels Motivfragmentierung und Satzintegration nicht Rechnung trägt. Ein Zeitbegriff, der die Darstellung präreflexiver, modaler Schichten wieder in das Schema eines Entwicklungsgangs einträgt, ist fehl am Platz. Die beschriebene Collagierung der Motive in den Alberich-Partien dieser Szene hat eine Konsequenz für die temporale Charakteristik Hagens. Man könnte sagen: Sie schreibt sich in diese als eine Vergangenheit ein, die so wenig vergeht, daß sie Hagen vielmehr im Schlaf heimsucht. Hagen ist die Gedächtnisfigur schlechthin. Während Siegfried von seiner Herkunft nichts weiß, besteht Hagen nur aus einer solchen – von früh an darauf abgerichtet zu memorieren, was den Besitz der ewigen Macht näher bringen könnte. Er leidet an einer Vergangenheit, der er seit je ausgeliefert ist, er, der eigentlich Handelnde der Götterdämmerung. Des Vaters atemlose Motivkaskaden sind wie das dem Sohn aufdringlich verwehrte Vergessen der Vorzeit. Alberich ist Gedächtnis als Albtraum und Hagen das Paradox eines Erinnerungswesens, das sich gegen Erinnern sträubt. Beide stehen so sehr im Banne des Alten, daß die Zukunft, in der sich doch die Vision eigener Weltherrschaft erfüllen soll, wie mit einem Tabu belegt ist. Ihre Sucht nach dem Ring erscheint selbst als bloßes Synonym für Vergangenheitshörigkeit, nur daß Alberich noch an alte Werte wie Erbe und Treue glaubt, während Hagen um die Sinnlosigkeit des Projekts, das er vom Vater übernommen hat, weiß und es eben darum – Nihilist, der er ist – betreibt. Überraschenderweise geschieht in Siegfrieds Erzählung das genaue Gegenteil: statt einer Erinnerung, die zum Vergessen drängt, ein Vergessen, das in Erinnerung mündet. Das Besondere dieses Stücks liegt darin, daß es mit den beschriebenen Techniken der Fragmentierung, Auflösung und Reihung eine Lebensgeschichte buchstäblich kom-poniert, wie aus Teilen eines Puzzles – und Flächen – zusammensetzt. Diese Bastelbiographie läßt die einschlägigen Diskussionen um Siegfried als Naturwesen skurril aussehen. Zum einen schreibt die Erzählung ihren Erzähler in allerletzter Minute um und deutet ihn neu. Siegfried sagt hier zum ersten Mal von sich, daß er eine Geschichte hat, daß sein Leben mehr ist als ein Springen von Jetzt zu Jetzt, welches keine Spuren hinterläßt. In dem Moment, in dem er das ausspricht, muß er sterben. Zum anderen bringt Wagner den Ansatz eines historischen Selbstbewußtseins
122 musikalisch primär mit Mitteln des Negativen zum Ausdruck: Aufreihung von Episoden, Technik des motivischen Nebeneinander, flüchtige Zitation, Vermischung von Klangbildern der Simplizität mit deformierten Elementen. Der Anfang der Erzählung ist eine gewissermaßen zackige Variante von Mimes Retrospektive aus dem Rheingold (“Sorglose Schmiede, / schufen wir sonst wohl”). Sie übernimmt deren Zug zum Einfachen (periodische Anlage, konventionelle Kadenz, klischeehafte Punktierungssemantik), montiert aber in die strukturbildende rhythmische Grundbewegung quasi Fremdkörper ein: das Wurm-Motiv ganz beiläufig, Mimes “Starenlied” mit zwei Elementen und auf acht Takte ausgedehnt, die Schmiedeszene dann mit der Staccato-Figur der Streicher, dem Schwert-Motiv und dem übermäßigen Dreiklang des “Nothung”Rufes, wobei die C-Dur-Kadenz zwischen erstem und zweitem Element selbst mehr bereits einen Verfremdungseffekt markiert als eine formale Funktion; es folgen, in Klarinetten und Hörnern, Mimes Grübelterzen, bis ein von Tremoli umhülltes Wurm-Motiv in den Bässen mit angestückten Kadenzschlägen in dmoll den ersten Teil zum Abschluß bringt. Eine Fülle heterogener Ereignisse ist hier auf engstem Raum aneinandergereiht; daß sie gleichwohl als ein geschlossener Zusammenhang wahrgenommen wird, liegt außer in der flächigen harmonischen Organisation vor allem in Tempo und Rhythmus begründet. Deren Schwung treibt über die drastischen Differenzen der Einzelmomente hinweg. Als Ganzes hält der Abschnitt, ein Resumé des I. Aktes von Siegfried aus der Perspektive des Helden, eine labile Balance zwischen Bilderpotpourri und geschichtlichem Verlauf. Verglichen damit weisen die beiden anderen Teile einen dramatischen Zug auf. Wagner mischt hier dramatische und epische Momente im Lichte des Epischen, das seinerseits einer dramatischen Konsequenz zutreibt. Gegenstand der Erzählung sind nicht mehr unterschiedliche Ereignisse und Lebensphasen, die dann zu einer kontinuierlichen Folge zusammentreten, sondern herausragende Augenblicke, in denen die Erinnerung verweilt: Siegfrieds ‘Verstehen’ des Vogelgesangs und Brünnhildes Erweckung. Dabei bleibt die Differenz von Darstellung und Dargestelltem, von gegenwärtiger Erinnerung und vergangener Gegenwart, für beide Teile zentral, wenn auch auf verschiedene Weise. Das Vergangene ist in der Erinnerung gegenwärtig; es erscheint als integrierte Erfahrungsspur und bleibt doch in einen musikalischen Kontext entrückt, der zuvor nur in Form fragmentarischer Zitate die alten Motive präsentierte. Gleich zweifach wird die Differenz der Modi zu Beginn des zweiten Teils herausgehoben: einmal durch die rhetorische Figur des Textes (“Jetzt aber merkt / wohl auf die Mär: / Wunder muß ich euch melden”), sodann durch den übermäßigen Dreiklang b-d-fis. Letzterer ist sogar nach zwei ‘Richtungen’ aktiv: Zum einen gemahnt er an die Einsprengsel des “Nothung”-Rufes im ersten Teil, nur daß sich aus diesen Beiherzitaten nunmehr ein achttaktiges harmonisches Feld aufbaut; zum anderen gibt er dem Eintritt der Diatonik, des
123 Dominantseptakkords von E-Dur zu den Worten “was da die Vöglein sangen”, im vorhinein die Aura des Fernen, Nicht-mehr-Gegenwärtigen. Diese zeitliche Distanzierung wird dadurch verstärkt, daß Siegfried die Partie des Vögleins, wie Wagner selbst anmerkt, “mit ganz leichter Kopfstimme”, lies: mit dem Gestus der Ferne, des Es-war-einmal-und-ist-nicht-mehr, vorträgt und das einstmals so zauberische “Waldweben” der Streicher jetzt in einem dessen Atmosphäre gleichsam austrocknenden Staccato erfolgt. Daß die Distanz zur Vergangenheit im dritten Teil zunehmend – und seitens von Sprache, Musik wie von Regieanweisung – einem präsentischen Einbruch von Vergangenem weicht, setzt das Bewußtsein der Zeit nicht außer Kraft, sondern bestätigt es. Siegfrieds ‘Verzückung’ in der Wiederkehr der Erinnerung an Brünnhilde markiert keinen ‘Rückfall’, sondern im Gegenteil das Aufbrechen einer Freiheit, die ihm bis dato unerreichbar war. Was er im realen Zusammensein mit Brünnhilde nicht vermochte, dazu ist er jetzt, in der Erinnerung fähig. Siegfried kann erstmals “das Ferne sinnig erfassen”, er geht nicht mehr im Rausch des nur und allein Anwesenden auf, er kann vielmehr auf etwas zurückkommen, was und wo er strenggenommen noch nie war. Gleichsam weiß er nun um die symbolische Ordnung. Daß er zu der Musik stirbt, die einst Brünnhildes Erwachen zum Leben Ausdruck verliehen hat, ist darum mehr als nur ein weiterer “Liebestod”, finden hier doch die zuvor bei ihm so unüberbrückbar getrennten Wege von Glück und Zeit für einen kurzen, endlichen Augenblick zusammen. Es zählt zu Wagners genialsten Zügen, daß er den gedächtnislosen Tatmenschen via Erinnerungsarbeit in den Tod schickt und den diabolischen Meister des Gedächtnisses, Hagen, als jemanden zeigt, der eigentlich vergessen will.
III. Zeit als Rausch – Rausch gegen Zeit Langsam nimmt der Gedanke, daß die Darstellung komplexer Zeitverhältnisse selbst rauschhafte Züge haben kann, Gestalt an. Von Anfang an hatten wir mit ihm spekuliert, ohne es offen auszusprechen, setzten wir doch erst einmal bei einem Verhältnis zwischen Rausch und Zeitvergessenheit ein, bei dem diese zu jenem motiviert. Weil Zeit bei Wagner als eine solche Last erfahren wird, daß der Versuch, ihre Spannungen auszugleichen, stets von neuem ins Leere läuft, wird zunächst einmal ein Rausch erster Art notwendig: kein bloß illusionärer Ersatz, sondern eine Präsenz, die aus der Zeitfolge nicht ableitbar ist, der Primat des Klangraums vor dem musikalischen Diskurs. Leitmotivik entsteht erst auf der Grundlage einer umfassenden Verstofflichung des musikalischen Satzes, die das Fragmenthafte, ja Atomistische dieses Verfahrens durch integrative Klangbeziehungen auffängt. Der Tatbestand verweist auf Konstanten der dramatischen Handlung: Wagners Akteure scheitern an der Aufgabe, die Modi der Zeit zusammenzufügen. Wo sie gedächtnislos sind, können sie zwar
124 ‘Taten’ vollbringen, kommen aber mechanisch unter die Räder der alten Macht; wenn sie hingegen über Tradition und Vergangenheit wissend verfügen, bleibt ihnen, egal ob sie initiativ handeln oder ‘nur’ räsonnieren, Zukunft nicht minder verschlossen. Die Götterdämmerung ist eine Tragödie des Zeitvergessens nicht allein wegen Siegfried, sondern ebenso angesichts von Brünnhilde, Hagen und Alberich. Nun kommt es in der Musik zu einer Differenzierung, die über die Tragik des Ring-Dramas hinausführt. Gerade die Darstellung zwanghaften, reflektorischen Vergessens fördert Konstellationen zutage, die im Vergessen ein befreiendes Element sichtbar machen, das Erinnerung horizonthaft vorausliegt, d.h. sie ermöglicht, begründet. Leitmotivtechnik heißt im Kern nicht so sehr, auf vergangene Ereignisse und Daten anzuspielen, sondern Vergangenheit als Dimension oder Modus zu erschließen, sei es über die Assoziation von Ereignissen oder anderweitig. Manche Motivgebilde mögen bis zum Ende vielfältige semantische Aufgaben übernehmen, aber die Entfaltung dieser Technik zu einem strukturalistischen Supernetzgebilde, in dem sich virtuell alle Inhalte des Dramas verfangen können, geht notwendig mit dem Vorrang ihres bedeutungszersetzenden über den bedeutungsbildenden Aspekt einher. Erst diese Subversion von Sinnganzheit eröffnet den darstellerischen Zugang zur dimensionierten Zeit und damit zu einer Struktur, die den naiven Gegensatz von Vergessen und Erinnern aufhebt. Gerade in den Erzählungen geht es weniger darum, Vergangenes als solches zu zitieren, um alten Sinn festzuhalten, als vielmehr darum, einen Horizont zu schaffen, der das Vergangene zugleich interpretierbar macht und ihm Sinn entzieht, indem er es ständig in neue Kontexte stellt. Siegfrieds Erzählung ist gewiß ein Extremfall, weil sie theatral die Erfahrung eines Lebens zum Thema hat, die sie dann musikalisch mit den Mitteln des assoziativen, reflektorischen Verfahrens zusammenbastelt. Aber sie zeigt auch ein Allgemeines der Leitmotivtechnik an: nämlich daß diese Technik zunehmend die Differenz zwischen Vergangenem und Vergangenheit, zwischen dem atomistischen Einzelgestus und der grundierenden Dimension, aus dem er herkommt, gestaltet. Dem dient die morphologische Vielfalt der Motive vom allegorischen Plakat bis hin zur anonymen, auf Verschmelzung hin angelegten Materialkomplexion. Wagners Musik geht über das mythische Sujet hinaus. Das Sujet selbst, da hat Adorno recht, bleibt letztlich eine deterministische Totale, ein System des Schicksals, in dem alles nur so sein kann, wie es ist. Die Musik dagegen führt zu einer offenen Struktur, die sich nur vorübergehend und widerstrebend verfestigt und allein schon kraft ihres ständigen Perspektivenwechsels gar nicht anders kann, als sich dem ideologischen Inhalt auch zu verweigern, den sie zu tragen aufgerufen ist. Fast scheint es, als ob sich das Thema des Rausches verflüchtigt hätte. Kann man angesichts derart vieldimensionaler Strukturen überhaupt von Rausch
125 reden? Allein, die Frage wiederholt den Fehler Nietzsches und Adornos, die beide so tun, als sei Rausch identisch mit Entdifferenzierung, Autonomiefeindschaft sowie der Zerstörung des Diskursiven der Musik zugunsten einer hinreißenden klangsinnlichen Illusion. Sie können das nur, weil sie, aus ganz differenten Motiven, von Kriterien in puncto Diskurs und Klang ausgehen, die nachweislich nicht diejenigen des Wagnerschen Musikdramas sind. Alles hängt indes davon ab, ob man die differenzierenden und reflexiven Momente bei Wagner jenseits dieser Grund-Antithese wahrnimmt, d.h. sie in den medialen Mischformen dieses Werks aufsucht und nicht erneut in die Autonomie der einzelnen Künste als deren Defizite zurückprojiziert. So wenig wie Klang sich auf “illusionäre Präsenz” reduzieren läßt, so wenig ist Rausch mit komplexen Strukturen, die zunächst einmal nicht solche des sinnlichen Raffinements sind, unvereinbar. Natürlich haben wir mit ihm als hypertrophiertem orchestralen Gesamtklang auch in der Götterdämmerung ständig zu tun. Nicht minder eindringlich aber kommt er von der anderen Seite, dem leitmotivischen Maschinenraum, auf uns zu. Daß die Leitmotivtechnik sich im Verlaufe des Ring einen Freiraum gegenüber dem mythischen Zirkel dieses Werks erarbeitet, steht dazu nicht in Widerspruch. Im Gegenteil, gerade das unaufhaltsame und kaum vollständig zu erfassende Heranströmen von immer neu abgewandelten Gestalten gehört zu ihm. Die Überforderung durch das Neue, insbesondere durch immer neu differenzierte Beziehungen ist ein genuines Moment des Rausches. Manchmal wirkt die Götterdämmerung wie die Innenansicht nicht so sehr eines gedankenschweren Kopfes, wohl aber eines gedankenschweren Apparates, dessen Zentrum abhanden gekommen ist. Der technische Naturalismus, mit dem hier Bewußtseinsvorgänge dargestellt werden, sowohl in abbrevierter Form wie in relationaler Überfülle, ist auch darum so einzigartig, weil die tradierten aufklärerischen Schemata völlig an ihm versagen. Viel zu komplex und auch zu beweglich, um den tragischen Verblendungszusammenhang des Mythos einfach nachzuzeichnen, ist er auf der anderen Seite doch zu subjektfern, zu indifferent gegenüber dem, was gemeinhin menschlich genannt wird, als daß sich seine Differenzierungskapazität in den Dienst einer aufklärerischen Progression stellen ließe. Weit entfernt vom Kniefall vor dem Schicksal als solchem fällt die musikalische Erschließung der dimensionierten Zeit durch diesen Apparat aber genausowenig mit einem Sieg des emanzipatorischen Bewußtseins ineins. Es bleibt ein Helldunkel an Wagner, das sich nicht auflösen läßt, so als ob seine Musik wach wäre und im Halbschlaf läge, gleichzeitig reflektierte und träumte. Rausch ist der Name des Dunklen im Hellen, Opium der Form z.B. und auch Gedankenflucht mitten im Reflexiven. Was Distanz ihm gegenüber herstellt, führt auf erweiterter Stufe wieder in seine Nähe. Ob damit mehr bezeichnet ist als nur die Allegorie eines Sammeltitels für unterschiedliche Metaphern des Nebels und Zwielichts, muß aus gutem Grund offen bleiben.
IV EKSTASEN DES REDENS
Barbara Naumann
Emphase. Madame de Staëls Improvisation und die Trunkenheit der Rede Conversation is one of the poetical and cultural key concepts in the writings of Mme de Staël. Departing from the contemporary understanding of the term, she outlines the conversational act as an essentially transgressive praxis that surpasses a classical canon of social, aesthetic, and linguistic norms. Highlighting a broad variety of musical, sensual, and pre-semantic aspects of language, she insists on the informal dynamics of conversation. To a certain extent, Mme de Staël claims, all conversation is improvisation, and it is within improvisation that she locates (and welcomes) the trigger of unsuspected twists and turns, the spirited, the emphatic, and even drunken quality of verbal and non-verbal exchange. The paper discusses the development of this concept in Mme de Staël’s major novel, Corinne ou l’Italie. It argues that this novel is one of the first to delineate conversation as transference, shifting the focus of attention from the realm of intentionality to non-thematic qualities of communication.
Die emphatische Konversation Dans toutes les classes en France, on sent le besoin de causer: la parole n’y est pas seulement, comme ailleurs, un moyen de communiquer ses idées, ses sentiments et ses affaires, mais c’est un instrument dont on aime à jouer, et qui ranime les esprits comme la musique chez quelques peuples, et les liqueurs fortes chez quelques autres. In allen Volksklassen Frankreichs fühlt man das Bedürfnis zu schwatzen: die Rede ist hier nicht bloß, wie anderwärts, das Werkzeug zur Mitteilung von Ideen, Gefühlen, Angelegenheiten; sie ist zugleich ein Werkzeug, womit man spielt, und das die Lebensgeister ebenso auffrischt, wie die Musik bei den einen und die starken Getränke bei anderen Völkern.1
Das Plaudern, die Konversation, so lautet die hier wie an zahlreichen anderen Stellen ihres Werks geäußerte Überzeugung der Mme de Staël, überschreitet regelmäßig eine auf die Übermittlung von Gedanken und Gefühlen begrenzte Vorstellung von Kommunikation: “pas seulement […] un moyen de communiquer ses idées.” Dem Plaudern, “causer”, dem informellen, thematisch ungebundenen Gespräch scheinen de Staëls Auffassung nach ganz eigene, nämlich eigentümlich kreative Qualitäten zuzugehören. Wo Gedanken und Gefühle noch nicht zu Wort gekommen sind, setzt das Plaudern diese frei. Wo der Gedanke, als 1
Madame de Staël: De l’Allemagne (1810). 2 Bde. Hg. von Simone Balayé. Paris: Flammarion 1968. S. 101. Dt. Ausg.: Über Deutschland (1814). Hg. von Monika Bosse. Frankfurt a.M.: Insel 1985. S. 74.
130 reine Mitteilung nicht sagbar, aufgrund seiner Faktizität zu karg oder zu unangenehm, aufgrund seiner Form zu langweilig wäre, erlaubt das Plaudern durch seine ungerichtete, umwegige, freie Form gleichwohl die Übertragung der Gedanken. Das Denken, das derart zutage kommt, ist umständlich, es darf, ja soll umwegig sein und auf seine eigene Entstehung im schweifenden Gespräch vertrauen. Der Auffassung der Mme de Staël zufolge ist es die vornehmste Eigenschaft des Plauderns, Rede und Denken auf umwegige Weise auseinander hervorgehen zu lassen. Dieses im Plaudern entstehende Denken ist zunächst ein unfertiger, vor allem nicht-semantischer Redezusammenhang, dem keine Teleologie des Sinns vorausgeht.2 Zu den hoch geschätzten Eigenschaften der ungezwungenen Plauderei, die sie dem starken Likör, dem Tabak oder der Musik ähnlich macht, zählt vorzüglich die Fähigkeit zu berauschen. Das Gespräch wird von de Staël in erster Linie als ein Stimulans aufgefaßt, das den Körper und die Sinne affiziert. Nicht ist es die rationale Nüchternheit, die dem Denken als förderlich gilt, sondern der trunkene Gemütszustand. Und es ist nicht die verbale oder gar semantische Ebene der Sprache, die die förderlichste Form des ungezwungenen geselligen Redens erzeugt, sondern ihr stimulierendes, sinnlich wirkendes Vermögen. Ihr und nur ihr hat Mme de Staël den Namen “esprit” zugedacht. Welche berauschenden Potentiale in der Kraft des Gesprächs liegen, läßt sich der Eingangspassage des Kapitels “De l’esprit de conversation” (“Vom Geist der Unterhaltung”) entnehmen, das sich in De l’Allemagne findet. Nicht mit der Konversation selbst, sondern mit einem berauschenden Mittel als Surrogat des Gesprächs setzt die Schilderung ein: En Orient, quand on a rien à se dire, on fume du tabac de rose ensemble, et de temps en temps on se salue les bras croisés sur la poitrine pour se donner un témoignage d’amitié; mais dans l’Occident on a voulu se parler tout le jour, et le foyer de l’âme s’est souvent dissipé dans ces entretiens où l’amour-propre est sans cesse en mouvement pour faire effet tout de suite et selon le goût du moment et du cercle où l’on se trouve. Wenn man sich im Morgenlande einander nichts zu sagen hat, so raucht man Rosentabak zusammen und begrüßt sich von Zeit zu Zeit mit verschränkten Armen, um sich ein Freundschaftszeichen zu geben; im Abendlande hingegen hat man den 2 Der gleichen Überzeugung wie Mme de Staël ist Heinrich von Kleist, der in seinem berühmten Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (wahrscheinlich entstanden 1805/06) das Reden und Denken in eine – umwegige – Beziehung zueinander setzt. Auch er nimmt eine Körpererfahrung (“der Appetit kommt beim Essen”) zum Modell der Entwicklung des Denkens, das aus den Umwegen einer Plauderei entsteht: “Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen.” (Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. München: Hanser 1985. Bd. 2. S. 319–324. Hier: S. 319).
131 ganzen Tag miteinander reden wollen, und die Folge davon ist, daß der Herd der Seele sich in dieser Unterhaltung zerstreut, worin die Eigenliebe in unablässiger Bewegung ist, um sowohl nach dem Geschmack des Augenblicks als des Zirkels, in welchem man sich befindet, immer und auf der Stelle zu wirken.3
Wo man im Orient raucht, schweigt und höchstens zurückhaltend einmal grüßt, spricht man andernorts dem Likör zu, oder man hört Musik; in Frankreich hingegen spricht man den ganzen Tag. Tabak, Likör, Musik und Rede haben die eine Gemeinsamkeit, Rauschmittel, also aisthetisch wirksam zu sein. Als “parole”, als gesprochene Rede, ist die Sprache anderen Stimulantien ähnlich. Die Sinne reagieren auf sie wie auf Tabak, Alkohol und Musik, denn die Sprache selbst besitzt eine Sinnlichkeit, die jenseits des semantischen oder syntaktischen Sinnes liegt. Sprache ist unter anderem auch Klang, ihr kommen ganz unterschiedliche Ton- und Rhythmuseigenschaften zu; auch deshalb kann sie in ihrer Wirkungsweise der Musik ähneln. Mme de Staël scheint in ihren Einlassungen – vordergründig – allein kulturelle Differenzen zu konstatieren: die Sitten des Orients, des deutschen Nachbarlandes oder der französischen Landsleute. Tatsächlich aber schildert sie unterschiedliche Verfahren der Erzeugung eines aisthetischen “mouvement”, einer Bewegung der Sinne, die auf die gemeinschaftsstiftende Übertragung von klanglich-sinnlichen Sprachimpulsen zielt. Sie schildert den dynamischen und ökonomischen Aspekt der Geistgenese, den “esprit” und den rauschhaften Enthusiasmus des Gesprächs. In der rauschhaften Übertragung wird Gemeinsamkeit vernehmbar.4 Die Sprache des Gesprächs besitzt somit einen doppelten medialen Status: Sie ist eigenständiges Klangereignis und darin Übermittlung aisthetischer Qualitäten, und sie überträgt sich selbst als jene Sprache, die letztlich syntaktisch und semantisch funktioniert. Die Sprache der Konversation ist sowohl Überträgerin – Agentin der Redenden – als auch Übertragenes zugleich. Mme de Staël wird nicht müde darauf hinzuweisen, daß das, was sich überträgt, noch vor einer Differenzierung von Zeichen, Körper und Bedeutung liegt. Zum Medium wird die Rede in einem umfänglichen Sinne, nämlich als “Dazwischen”, als Trennendes und Vermittelndes zwischen den Gesprächsteilnehmern, die, noch immer vor allem Denken, das körperlich-sinnlich erfahrene Sprach- und Klangerlebnis der Rede miteinander teilen. Diese Mitteilung nimmt die Gesprächspartner auf vor-individueller und vor-subjektiver Ebene in Anspruch 3
De Staël (wie Anm. 1). S. 101 bzw. S. 73. In der Auffassung der Mme de Staël überträgt die Sprache diesen Rausch; sie entfaltet einen enthusiastischen Transport, indem sie die Gesprächsteilnehmer gewissermaßen durch sich selbst beseelt, enthusiasmiert. Dieses Sprachmodell zeigt Parallelen ebenso zur metaphysischen Vorstellung der religiösen Gemeinschaftsstiftung wie zur physiologischen einer infektiösen Krankheit. 4
132 und verleiht deren Rede die Trunkenheit, ihren “esprit”. Erst durch den Esprit, durch die Übertragungsfähigkeit der Sprache, die nicht semantisch, sondern phatisch wirkt und deshalb Emphase verkörpern kann, entwickeln sich kommunikative Soziabilität und geselliger Verkehr.5 Der Hinweis auf eine typische Körperhaltung der Orientalen beim Tabakgenuß, die verschränkten Arme (“bras croisés”), unterstreicht die anthropologische Dimension der de Staëlschen Gesprächsbegeisterung. Denn über den Körper, der in einen angenehm-angeregten Zustand versetzt ist, bleiben die verschiedenen Formen der Berauschung, seien sie sprachlicher oder anderer Herkunft, direkt aufeinander bezogen. Vom Körper rührt die aisthetische Praxis des Rausches. Auch wenn sich in der Präferenz der verschiedenen Stimulantien kulturelle Unterschiede manifestieren mögen: Stets geht es darum, das Gespräch, und sei es in der “orientalischen” Schwundstufe des nonverbalen Grußes, als ein aisthetisches Verfahren und nicht als Ausdruck eines geistigen Apriori zu verstehen. Der gestisch-sinnliche Zugang zur Konversation ist für Mme de Staël deshalb zunächst auch der entscheidende; er überlagert alle semantischen Aspekte, alles “Wissen” und selbst alle “Ideen”: Le genre de bien-être que fait éprouver une conversation animée ne consiste pas précisement dans le sujet de cette conversation; les idées ni les connaissances qu’on peut y développer n’en sont pas le principal intérêt; c’est une certaine manière d’agir les uns sur les autres, de se faire plaisir réciproquement et avec rapidité, de parler aussitôt qu’on pense, de jouir à l’instant de soi-même, d’être applaudi sans travail, de manifester son esprit dans toutes les nuances par l’accent, le geste, le regard, enfin de produire à volonté comme une sorte d’électricité qui fait jaillir des étincelles, soulage les uns de l’excès même de leur vivacité, et réveille les autres d’une apathie pénible. Die Art des Wohlbefindens, welche eine belebte Unterhaltung gewährt, besteht gerade nicht aus dem Gegenstande dieser Unterhaltung; nicht die Ideen und die Kenntnisse, die man darin entwickeln kann, bilden das Haupt-Interesse. Dies geht hervor aus einer gewissen Manier, aufeinander zu wirken, sich gegenseitig und rasch Vergnügen zu machen, so schnell zu sprechen wie man denkt, sich selbst mit Wohlgefallen zu empfinden, Beifall ohne Anstrengung zu ernten, seinen Verstand in allen Abstufungen durch Ton, Gebärde und Blick zu offenbaren, und, nach Belieben, eine Art von Elektrizität hervorzubringen, deren sprühende Funken die Lebhaftigkeit der einen mäßigt und die unangenehme Apathie der andern verbannt.6
5 Dem in der Konversationsliteratur entwickelten Zusammenhang von Geselligkeit und Gesellschaft, auf den Mme de Staël zurückgreifen konnte, widmet Benedetta Craveri ein Kapitel ihrer grundlegenden Studie zur Konversationstradition in Frankreich, das die Konversation bei Montesquieu und am Versailler Hof untersucht (vgl. das Kapitel “L’esprit de societé” in: Benedetta Craveri: L’âge de la conversation. Paris: Gallimard 2002 [zuerst als La civiltà della conversazione. Milano: Adelphi 2001]). S. 340–388. 6 De Staël (wie Anm. 1). S. 101f. bzw. S. 74.
133 Sprachakzent, Gesten, Blicke, Intonation, Lebhaftigkeit, Geschwindigkeit der Rede; Ausdrucksnuancen anstatt Aussagen: alle diese gestisch-sinnlichen Momente versammelt diese Passage als die wichtigsten Träger des Redens. Kommen diese Momente auf eine bestimmte Weise zusammen, dann entsteht ein generelles körperliches Wohlgefühl (“bien-être”). Der aisthetische Genuß fördert die miteinander geteilte Geselligkeit der Gesprächsteilnehmer. Einmal in Gang gesetzt, überträgt sich diese Dynamik qua Wohlgefühl auf die Sprachhandlungen im allgemeinen, das heißt auf die “Kon-Versation”, die ja im Wortsinne eine gemeinsame Bewegung des “Hin- und Herwendens” ist. Aus dieser Bewegung können “Funken” schlagen und den geselligen Zirkel geradezu elektrisieren (“des étincelles”, “une sorte d’électricité”).7 Die an dieser Stelle entwickelte Metaphorik der Elektrizität überschreibt und intensiviert die im Text bereits etablierte Metaphorik der sprachlichen und musikalischen Rauschmittel: Die Trunkenheit der Sprache soll zu leuchten beginnen. Der zeittypischen Faszination durch die Elektrizität scheint auch Mme de Staël erlegen zu sein. Bekannt und weithin bestaunt wurden vor allem die Galvanischen Experimente mit der sogenannten “animalischen Elektrizität”; wie diese, so galten auch die Experimente Johann Wilhelm Ritters in Jena den Zeitgenossen als Beweis einer direkten gegenseitigen Übertragbarkeit physikalischer und emotionaler Energien.8 Des weiteren unterstreicht die “elektrische” Dimension des Gesprächs einen konzeptionellen Aspekt der de Staëlschen Konversationskunst: Es geht um die Übertragung von Geste und Klang in einen Energiefluß, der in transsubjektiven Verständigungsformen mündet. Intensität und nicht vorgängige “Ideen”, Emphase und nicht “Wissen”, Esprit, Begeisterung, körperhafter Rausch werden als die Bedingungen des lebendigen Geistes genannt. Die Gesprächskunst besteht aus Sprachhandlungen, für die die Trennung von Zeichen, Körper und Bedeutung noch nicht stattgefunden hat. Sie basiert auf Energieflüssen oder -sprüngen von Körper zu 7 Die Metaphorik der Elektrizität, der Ladung und Entladung als Ausdruck von Liebesspannungen oder anderen starken zwischenmenschlichen Bindungen oder Auseinandersetzungen, ist in der Literatur um 1800 bereits etabliert und geht vor allem auf die Rezeption der Galvanischen Experimente und deren Weiterentwicklung durch Johann Wilhelm Ritter in Jena zurück. An der zitierten Textstelle zeigt sich die Rezeption dieser naturphilosophisch und anthropologisch interessierten Naturwissenschaft durch Mme de Staël. Vor allem bei E.T.A. Hoffmann und Novalis, auch bei Friedrich Schlegel, Brentano, Kleist und anderen finden sich zahlreiche Hinweise auf Elektrizitäts- und Magnetismusexperimente (von Galvani, Ritter, Mesmer, Chladni u.a.). Auf ihren Deutschlandreisen und durch die Vermittlung August Wilhelm Schlegels hatte Mme de Staël unter anderem Einblicke in diesen Aspekt der deutschen Literatur gewonnen. 8 Vgl. z.B. Elektrizität in der Geistesgeschichte. Hg. von Klaus Plitzner und Mary Ann Hellrigel. Bassum: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 1998.
134 Körper, ausgelöst durch den quasi-musikalischen Klang der Sprache. Ihre Erfahrungskomplemente sind Lebhaftigkeit (“vivacité”, “conversation animée”), Begeisterung und Rausch. Das kulturelle Ordnungsmuster, das De l’Allemagne entwirft, privilegiert durchgehend solche Kulturen, die in irgendeiner Weise Bezüge zum französischen Ideal der Konversation erkennen lassen. Alle anderen Formen des Austauschs, der Wissensvermittlung, der Gefühlsdarstellung etc. erscheinen gegenüber den Sprach-Strömen der Konversation defizitär. Aber auch jene anderen Kulturen wie etwa die orientalischen, die sich mit Surrogatformen des Gesprächs behelfen, bleiben aus der Perspektive der Mme de Staël dem Konversationsparadigma verhaftet, und dies selbst dort, wo nicht gesprochen wird. Die Orientalen nehmen kulturelle Umcodierungen des Gesprächs vor, indem sie gewissermaßen den Akzent innerhalb des Übertragungsdreiecks von Konversation, Rausch und Geselligkeit auf den “stillen” Rausch des Tabaks verschieben. Deutschland ist für Mme de Staël das Reich der stillen Brüter, besonders auffällig war ihr die “Schweigsamkeit der hohen Naturen”.9 Beredt ist deren Schweigen, nicht deren Rede. Mme de Staël scheint hier eine Ökonomie des Gesprächs zu entwerfen, die auf einen Ausgleich der energetischen Momente zielt. Fehlt es nämlich an einem Element (der Rede), muß ein anderes (das Schweigen) kompensierend dafür eintreten. Im Orient fällt die Aufgabe der Stimulation dem Tabak zu; in anderen Ländern übernimmt sie der Alkohol, in Frankreich jedoch ist es einzig die Konversation, die die Energieübertragung zu leisten vermag.10 Trunken und körpernah kommuniziert wird auch woanders und mit anderen Mitteln; in Frankreich ist in diesem Sinne allein die Rede beredt. Das Gespräch vermag die aisthetische Seite der Sprache ebenso zu aktualisieren wie ihre zeichenhafte; beide können aus einander erwachsen. Der Begriff des Geistes als “esprit” trägt bei Mme de Staël diese Doppelsignatur: Er meint Begeisterung, Emphase, Intensität, und zugleich Vergeistigung als Semantisierung des aisthetischen Moments. “Esprit” entsteht in einem Übertragungs- und Übersetzungsprozeß von Energien. Hier wird bereits eine Vorstellung sichtbar, die Nietzsche später als Denken am Leitfaden des Leibes bezeichnen sollte.
9
De Staël (wie Anm. 1). S. 189: “[…] la timidité, le malheur, le dédain ou l’ennui en sont souvent la cause.” Dt. Ausg. (wie Anm. 1). S. 164f. 10 Als eine Dichtung aus dem Geist der ‘trockenen Trunkenheit’, die der Tabakgenuß induziert, untersucht Simon Zumsteg Werke des Autors Hermann Burger im Aufsatz “Schallen und Rauchen”; vgl. zum gleichen Motiv auch den Beitrag von Dirk Niefanger (beide in diesem Band). Zur medialen Funktion der Körperströme vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999.
135 Die Äußerungen der Mme de Staël über die Konversation münden in eine Theorie der Emphase. Emphase gerät zum Ausgangs- wie Zielpunkt einer Bewegung, die sowohl das Gespräch als auch die Schrift betrifft. Unübersehbar übernimmt diese Theorie Elemente einer Schrift-Kritik der platonischen Tradition, der zufolge die Schwächung der lebendigen Kräfte des Geistes durch die Schrift zu befürchten sei. Jedoch verfolgt Mme de Staël die Entgegensetzung von Schrift und Rede nicht, sondern begreift diese Elemente vor einem gemeinsamen Horizont, dem der Emphase. Die Emphase ermöglicht den Übertragungsprozeß als einen Übergang zwischen beiden Sphären bzw. medialen Formen. In dieser Hinsicht aufschlußreich sind einige Passagen von De l’Allemagne, die die besondere Rolle von Schrift und Buch bei den Deutschen thematisieren: La première condition pour écrire, c’est une manière de sentir vive et forte. Les personnes qui étudient dans les autres ce qu’elles doivent éprouver, et ce qu’il leur est permis de dire, littérairement parlant, n’existent pas. […] En France, on ne lit guère un ouvrage que pour en parler; en Allemagne, où l’on vit presque seul, l’on veut que l’ouvrage même tienne compagnie […]. Die erste Bedingung des Schreibens ist, stark und lebhaft zu empfinden. Wer bei einem andern studieren muß, was er versuchen dürfe und was ihm zu sagen erlaubt sei, der existiert, literarisch betrachtet, gar nicht. […] In Frankreich liest man selten ein Buch aus anderm Grunde, als um darüber zu sprechen; in Deutschland, wo man fast einsam lebt, will man, daß das Werk Gesellschaft leiste […].11
Die Überlegungen der Mme de Staël sind bekanntlich durchgängig in ein bipolares kulturelles Ordnungsschema eingetragen, das die eigene, die französische Kultur in allen Belangen anderen Kulturen gegenüberstellt. Auch wenn sie diesem Schema folgend den Gebrauch von Stimulantien im Orient als Äquivalent zum Gebrauch des Buches in Deutschland und zum Gebrauch des Gesprächs in Frankreich auffaßt, insistiert die Autorin auf eine übergreifende Beziehung zwischen Schrift und Gespräch. Tabak, Likör, Brief, Buch und Gespräch können insofern als Metaphern füreinander einstehen, als sie über aisthetische Aspekte miteinander verbunden sind. Durch die Emphase nämlich werden Buch und Gespräch, Tabak und Gespräch, Schrift und Rede in ein Verhältnis der gegenseitigen Übertragung gesetzt. Begeisterung, Emphase, “esprit” – diese und ähnliche Begriffe nennen Varianten ein- und derselben Funktion: Sie sind transmediale Medien, die überall walten und insofern von der Entgegensetzung von Schrift und Rede nicht tangiert sind. Hinsichtlich einzelner Medien besteht für die Emphase kein Differenzierungsbedarf. Es ist die Emphase, die differentielle Verfahren wie die der Übertragung und Übersetzung aktualisiert, sie soll den “Funken” überspringen lassen und Verbindungen stiften. Mit anderen Worten: Ihre wichtigste Funktion ist die der Übertragung selbst. 11
De Staël (wie Anm. 1). S. 160 bzw. S. 136f.
136 Die Insistenz auf die emphatische und rauschhafte Seite der Rede möchte verdeutlichen, daß die Konversation als aisthetisches Ereignis aufgefaßt werden kann, als ein Ereignis zudem, das poietisch wirksam ist, insofern es das Denken selbst aus sich hervorgehen läßt – und nicht nur auf Denkinhalte außerhalb seiner selbst referiert oder diese repräsentiert. Hier zeigt sich eine vielleicht überraschende Parallele der de Staëlschen Konzeption zu modernen Ausprägungen der Sprach- und Übersetzungstheorie, die den Gesichtspunkt der innersprachlichen Übertragung – und nicht den eines vorgängigen Sinns – in den Vordergrund rücken. Es ist vor allem Friedrich Nietzsche, der in der Tragödienschrift von 1871 und den Aufsätzen und Notizen aus ihrem zeitlichen Umfeld den sinnlich-musikalischen Reiz zur Grundlage der Sprache und der Phantasietätigkeit zugleich erhebt. Er folgt, ähnlich wie Mme de Staël, der These, daß Sprache erst aus dem musikalischen Reiz, aus der sinnlichen Stimulation durch den Klang möglich sei und deshalb Dichtung “[n]icht aus Begriffen” rühre.12 Während allerdings Mme de Staël den Prozeß des Übergangs vom musikalischen, a-semantischen Reiz in die semantische Ebene der Sprache, in ihre zweite, grammatikalische Ordnung, nicht weiter differenziert, sondern diese Übergänglichkeit als Funktion des “esprit” kennzeichnet, faßt Nietzsche diese Übergänge in einer Theorie der Übertragung von physiologischem Reiz zur Sprache, und er kommt zu der Einsicht: “Das Dichten selbst [ist] nur eine Reizung und Leitung der Phantasie. […] So lebt der Mythus fort, indem der Dichter seinen Traum überträgt. Alle Kunstgesetze beziehn sich auf das Übertragen”.13 In der dichterischen Sprache lassen sich also der Ansicht des jungen Nietzsche nach die aisthetischen und phantasmatischen, die musikalischen und die traumbezogenen Momente in ihrem dynamischen Bezug vernehmen. Insofern Mme de Staël in den Prozeß der Übertragung aisthetisch-musikalische Momente wie Klang, Rhythmus und die theatralische Geste einbezieht – “l’accent, le geste, le regard” –, bricht auch sie schon mit einer lange etablierten Sprachauffassung: Was man in der Performanz der Sprache als Konversation – oder, wie man unten noch sehen wird, als Improvisation – zu hören und sehen bekommt, läßt nämlich keinen direkten Rückschluß mehr zu auf ein anderes, auf ein zugrundeliegendes oder vorgängiges Motiv als einer “Idee”. Mme de Staëls Privilegierung der Emphase, der berauschenden Gesprächswendungen, die der enthusiasmierenden Sprache Raum und Zeit geben, verabschiedet die Distinktion von außersprachlichem Vorgang und sprachlichem Zeichen zugunsten eines erweiterten, aisthetisch-poietischen Zeichenbegriffs. Das Gespräch ist insofern – zumindest in Frankreich – ein absolutes Ereignis; es leistet die 12 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1869–1874. In: Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1999. Bd. 7. S. 395 (16 [6]). 13 Ebd.
137 Übertragungsbewegung von Klang, Körper und Sprache und stiftet einen sozialen Zusammenhang. Das Gespräch ist, in den Worten der Mme de Staël, ein Instrument, auf dem man spielt, bis es eine Begeisterung erzeugt, die eine ganz eigene Sprache spricht.
Die Improvisation In ihren kulturkritischen und dichtungstheoretischen Schriften läßt Madame de Staël erkennen, in welchem Maße die gelungene Konversation von der emphatischen Stimmung der Gesprächsteilnehmer abhängt. Es stellt keineswegs eine Übertreibung dar, die Emphase als transmediales Medium zu begreifen. Für Madame de Staël ist sie das Medium des Mediums schlechthin. Nonverbale Sprache, Musik und gesprochene Rede müssen an ihr teilhaben, um die Kommunikation gelingen zu lassen. Körperliches Wohlgefühl und intellektuelle Beweglichkeit geraten durch die begeisterte Rede in ein Verhältnis gegenseitiger Übertragung: Der Körper denkt mit, und das Denken kommt nur über die Sinne zu seinem Sinn. Das Gespräch vermag nicht nur all dies zu leisten, sondern es ist, zumindest in Frankreich, der privilegierte Raum solcher geistig-körperlicher Transformation. Der Rausch oder die Trunkenheit, die Germaine de Staël meint, überträgt körperliches Geschehen in geistiges und umgekehrt, und zwar auf dem Weg eines “Kontinuums der Verwandlung”. Der Roman Corinne ou l’Italie14 aus dem Jahr 1807, entstanden aus den Eindrücken einer Italienreise und der Liebesbeziehung zu dem Diplomaten Pierre de Souza-Holstein, ist von Mme de Staël vordergründig als Liebes- und Reiseroman konzipiert. Tatsächlich läßt der Text jenes weite ethnographische, kulturkritische und kunsttheoretische Interesse der Verfasserin erkennen, das den wenig später geschriebenen Text De l’Allemagne prägt. Vor allem aber entwirft der Roman in nicht wenigen Passagen einen Zusammenhang von Kunst, Performanz und Ausdruck, der durchgängig durch die Theorie der sprachlichen Emphase und des Enthusiasmus bestimmt ist. Das dezidierte Interesse an Vorgängen der Übertragung und des Übersprungs nimmt in vielen Passagen die kurze Zeit später formulierten konversationstheoretischen Ausführungen in De l’Allemagne vorweg. Titelheldin des Romans ist die Vortragskünstlerin Corinne, die mit ihrem improvisierten Gesang das Publikum fesselt. Auch in diesem Text werden vornehmlich musikalisch-klangliche, aisthetische und somit phatische Aspekte des Vortrags dafür verantwortlich gemacht, die enthusiasmierende Wirkung, hier insbesondere der italienischen Sprache, auf Sängerin und Hörer auszuüben: 14
Mme de Staël: Corinne ou l’Italie (1807). Hg. von Simone Balayé. Paris: Gallimard 1985. Dt. Ausg.: Corinna oder Italien (1807). Aus dem Franz. übers. von Dorothea Schlegel. Überarb. und mit einem Nachwort von Arno Kappler. München: dtv 1985.
138 […] mais quand ces paroles italiennes, brillantes comme un jour de fête, retentissantes comme les instruments de victoire que l’on a comparés à l’écarlate parmi les couleurs; quand ces paroles, encore toutes empreintes des joies […] sont prononcées par une voix émue, leur éclat adouci, leur force concentrée, fait éprouver un attendrissement aussi vif imprévu. Aber wenn die italienischen Worte, glänzend wie ein festlicher Tag, widerhallend wie eine triumphierende Musik, die man mit dem Scharlach unter den Farben verglichen hat, noch ganz voll von der Freude […] von einer gefühlvollen Stimme ausgesprochen werden, so erregt ihr gemildeter Glanz, ihre gemäßigte Kraft, eine ebenso innige als unerwartete Rührung.15
Solche und zahlreiche ähnliche Elogen auf die Sinnlichkeit der italienischen Sprache finden sich im Roman vor allem im Kontext einer heute fast in Vergessenheit geratenen Kunstform: der Improvisation. Corinne ist eine Virtuosin auf diesem Gebiet; sie ist eine “improvisatrice”, deren außergewöhnliche Begabung darin besteht, vor Publikum über spontan zugerufene Sujets in der Manier antiker Sänger lange Gedichte aus dem Stegreif zu singen und sich dabei mit der Lyra zu begleiten. Als eine Synthese aus Musik, Gesang und szenischer Darstellung bildet die Kunst der Improvisation das Modell eines artistischen Prozesses, in dem Emphase ad hoc ohne regelstrenge Vorbilder erzeugt wird. Ähnlich wie bei der geistvollen Konversation entwickelt sich die Sprachemphase für die Improvisatorin Corinne als ein auto-affektiver und auto-poietischer Prozeß. Die Improvisatorin vermag sich selbst durch den Sprachklang zu stimulieren und in einen enthusiasmierten Zustand zu versetzen, der sie durch die gesamte Improvisation trägt. Nicht müde wird der Roman, auf den Wohlklang der Verse Corinnes hinzuweisen, die eine berauschende, verführerische Wirkung – vor allem auf die männlichen Zuhörer Oswald und Comte d’Erfeuil – ausüben. Wie in Lyrik und Gesang, so vermag auch die gesprochene Prosa des Italienischen aufgrund der Musikalität der Sprache, die sich dem Körper der Sprechenden mitteilt, ihren Zauber zu entfalten. Corinne selbst macht diese Entdeckung anläßlich einer Venedigreise. Dort bemerkt sie am Schiavonikai versammelte Erzähler, die das Volk mit Episoden aus den Werken Tassos und Ariosts unterhalten. Ihre lauten Stimmen (“voix hautes”) und die ausgeprägte Körpersprache machen die Erzähler zu “grands gesticulateurs” in der römischen Tradition: Stimme und Gestik “tient à leur disposition vive, brillante et poétique”.16 Die Zuhörer sind von dem sprachlich-gestischen, narrativ-performativen Ereignis so gefesselt (“captivé”), als seien sie vom Wein berauscht. Die von sich selbst berauschten Erzähler verhalten sich, so bemerkt Corinne, wie einst Sappho gegenüber Bacchantin, als sie jener zurief: “Bacchante, qui n’est pas ivre, que me veux-tu?”17 15
Ebd. S. 67 bzw. S. 41. Ebd. S. 425. 17 Ebd. 16
139 Im hier geschilderten Erzählvorgang zeigt sich die entscheidende Rolle der Stimme im performativen Prozeß. In der Stimme findet der ganze sprechende Körper einen medialen Ausdruck, und zugleich ist sie die akustische Trägerin der Sprache. Die Stimme knüpft die Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Sinn des Gesprochenen und “verkörpert” im Wortsinne die Untrennbarkeit von Körper, Zeichen und Bedeutung.18 Der Roman setzt auf der Ebene der Schrift eine Markierung dieser körperlichen Spur der Stimme, indem er die Trunkenheit der Sappho in Erinnerung bringt, jener antiken Sängerin, die hier zugleich als eine Allegorisierung der Sängerin Corinne erscheint. Italien gilt gemeinhin als das Land, in dem die Improvisationskunst des 18. und frühen 19. Jahrhunderts am weitesten entwickelt war. Die publikumsstarken Auftritte der Improvisatoren wie z.B. des berühmten Tommaso Sgricci fanden die Aufmerksamkeit zahlreicher Italienreisender. Nur wenige literarische Zeugnisse dieser performativen Kunstform sind allerdings so ausführlich und prägnant, so handlungsrelevant gesetzt wie die der Corinne. In der europäischen Literatur vor allem des 19. Jahrhunderts reagierten sowohl Lyriker als auch Romanciers auf die Improvisationskunst. Die englischen Romantiker Byron, Wordsworth, Percy B. Shelley und dessen Frau Mary Wollstonecraft griffen die Improvisation in ihren Gedichten und Romanen auf. Sie erscheint dort als eine Kunst der “extempore effusion”, des spontanen Verströmens (Wordsworth, Extempore Effusion Upon the Death of James Hogg) oder des belebenden Strahls, des “revivifying ray” (Byron, Childe Harold’s Pilgrimage).19 So verschieden koloriert und kontextualisiert diese poetologischen Konzepte auch sein mögen, sie stimmen doch darin überein, das “mouvement” der Sprachschöpfung als eine Bewegung der Sinne zu kennzeichnen. Mme de Staël beschreibt diesen Übertragungsvorgang unter anderem mit dem Bild der spontanen Elektrisierung, wohingegen die zitierten englischen Romantiker auf Metaphern des Strömens und Strahlens zurückgreifen und die allmähliche, kontinuierliche Entfaltung von dichterischer Kreativität betonen. Zweifellos hat der Roman der Mme de Staël als eines der frühesten literarischen Beispiele der Improvisation insbesondere im Hinblick auf ein synästhetisches Modell
18 Zur doppelten Funktion der Stimme als “Soma und Semantik”, als “Aisthesis und Logos” zugleich, vgl. Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Hg. von Doris Kolesch und Sibylle Krämer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 12. 19 Die Geschichte und Rezeption der Improvisation und deren intertextuelle Spuren vor allem in der englischen Romantik kommentiert ausführlich: Angela Esterhammer: Spontaneous Overflows and Revivifying Rays: Romanticism and the Discourse of Improvisation (The 2004 Garnett Sedgwick Memorial Lecture). Vancouver: Ronsdale Press 2004. Die Zitate von Wordsworth dort S. 18, von Byron dort S. 27.
140 spontaner, schöpferischer Dichtung geradezu modellbildend auf die nachfolgende Autorengeneration gewirkt.20
Literarische Improvisationen der Improvisation Mme de Staël war den Zeitgenossen bekannt als Person, deren Selbststilisierung als sprachmächtige, einfallsreiche und spontane Salondame, als Gesprächspartnerin und Autorin auch im persönlichen Verkehr stets im Vordergrund stand. In der Figur der Sängerin Corinne wollten viele Zeitgenossen aufgrund physiognomischer Übereinstimmungen zwischen der Titelfigur und der Verfasserin, aufgrund der von Corinne vertretenen emphatischen Kunsttheorien, aber auch aufgrund von Handlungsdetails wie der unglücklichen Liebesbeziehung ein geschöntes Selbstporträt der Mme de Staël erkennen. August Wilhelm Schlegel, der während der Zeit der Niederschrift von Corinne Hauslehrer der Mme de Staël und Reisebegleiter war, erläutert in seiner Rezension des Romans die typisch italienische Improvisationstradition und weist darauf hin, daß der Figur der Corinne die “berühmte Improvisatrice Corilla” zugrundeliege, außer dem Kapitolsgesang ihr aber kein “historischer Zug […] entlehnt”21 sei. Dieser Hinweis wäre für eine Poetik der Improvisation als einer Kunst der Übertragung vielleicht nicht zentral, kann aber insofern von Interesse sein, als hier ein Licht auf eine andere Seite der Übertragungsdynamik fällt, nämlich auf intertextuelle Bezüge.22 In der Literatur des 19. Jahrhunderts tauchen nicht selten Figuren auf, die Mischfiguren aus 20
Mme de Staëls Ausführungen über die italienische Improvisationskunst beziehen sich auf verschiedene Quellen. Auf ihrer großen Italienreise (1804/05) hatte sie häufiger Gelegenheit zur Beobachtung von improvisierenden Dichtern. In Mailand lernte sie z.B. den Dichter Vicenzo Monti kennen, der nach der Krönung Napoleons zum König von Italien im Jahre 1805 zu dessen Historiograph und Hofdichter ernannt wurde. Er verfaßte zahlreiche Fest- und Gelegenheitsgedichte zur Verherrlichung der Napoleonischen Siege. Baron von Bonstetten hatte Mme de Staël von Corilla Olimpica erzählt, einer auf dem Kapitol gekrönten Dichterin. Zu Mme de Staëls Kontakten mit Improvisatoren vgl. das Vorwort von Simone Balayé zu de Staël (wie Anm. 14). S. 16f., sowie die Studie von Esterhammer (wie Anm. 19). 21 August Wilhelm Schlegel: Corinne ou l’Italie, par Madame de Staël-Holstein. In: Schlegel: Kritische Schriften. Hg. von Emil Staiger. Zürich/Stuttgart: Artemis 1962. S. 326–341. Hier: S. 329f. Dort auch folgendes Kompliment an die Autorin: “Wer will mit der edlen Verfasserin darüber rechten, daß sie das Geschöpf ihrer Phantasie mit Vorzügen ausstattet, die sie selbst besitzt? […] Corinnas Entwickelung zu einer so herrlichen Blüte [ist] befriedigend erklärt” (S. 328). 22 Unter den zahlreichen rezeptionsästhetischen Studien zu de Staël sei hier auf eine jüngere Publikation verwiesen, die die Verzweigungen der Corinne-Figur in der Literatur vornehmlich aus feministischer Perspektive verfolgt: The Novel’s Seductions. Staël’s Corinne in Critical Inquiry. Hg. von Karyna Szmurlo. Lewisburg PA: Bucknell University Press 1999, bes. den Artikel von Madelyn Gutwirth: Seeing Corinne Afresh. S. 26–33.
141 Person und Persona, nämlich aus Germaine de Staël und Corinne sind. Zuweilen wird ihre Begabung für Dichtung und Gesang auf das andere Geschlecht übertragen.23 Der dänische Autor Hans Christian Andersen beispielsweise hat in seinem 1835 veröffentlichten Roman Der Improvisator 24 das Improvisationstalent dem Ich-Erzähler Antonio überantwortet und in der Figur der Signora Santa, einer allzu leidenschaftlichen, korpulenten und nicht mehr ganz jungen Zuhörerin, ein physiognomisches und mentales Porträt der Mme de Staël gezeichnet. Zahlreiche Elemente des Romans wie nicht zuletzt der Plot, der einen tragischen Liebeskonflikt auf dem Wege eines Reiseromans entwickelt, wie die Schauplätze und selbst die thematischen Gegenstände von Antonios Improvisationen (“italienische Literatur”) übernehmen Vorgaben der Corinne. Ein deutlicher Unterschied findet sich jedoch im Hinblick darauf, was die Improvisationsakte jeweils motiviert. Bei Andersen fällt die Motivation weniger komplex und noch weniger sprach- und kunsttheoretisch aus. Andersens Hauptfigur Antonio ist “schon immer”, auch als Kind, ein Genie; er muß im Verlauf des Romans nur als solches von seinen Mitmenschen entdeckt werden. Und er ist immer schon inspiriert, wenn er einen Gesang beginnt: “Ich fing an zu improvisieren, eine heilige Flamme loderte in mir”.25 Für Andersen hat die Inspiration den Charakter eines Pfingstwunders. Diese kunstreligiöse Wendung ist jedoch um die Dimension des sprachlichen Übertragungsprozesses verkürzt, die gerade die Raffinesse der Mme de Staëlschen Emphase- und Enthusiasmustheorie ausmacht. Wenn Antonio singt, ist er selbst- und sprachvergessen und versunken in seine Fähigkeit zu singen: “Daß ich improvisierte, daß Domenika es meisterhaft fand, versteht sich von selbst, aber was 23
Dieser Art der “Verführung des Romans” sind vor allem Autorinnen gefolgt, wie der Band von Karyna Szmurlo (Anm. 22) ausführlich dokumentiert. Doch war die Wirkung der trunken-emphatischen Inszenierung des Gesangs keineswegs auf das weibliche Geschlecht beschränkt. 24 Hans Christian Andersen: Der Improvisator. Aus dem Dänischen übers. von Edmund Lobedanz. Stuttgart/Berlin/Leipzig: Union Deutsche Verlagsgesellschaft o.J. [1835]. Dies ist einer der wenigen Texte, die die Improvisation im Titel tragen. Andersen, der selbst zunächst Opernsänger werden wollte, sah in der Kunst des Improvisators den Übergang vom Sänger-Dichter zum Schriftsteller – und damit eine Figur, die seiner eigenen Entwicklung als Künstler entsprach. Insofern entstellt der Roman Andersens Aspekte der Corinne, indem er Antonio zur Hauptfigur macht, und zugleich verkörpert diese Figur ein autobiographisch grundiertes Wunschphantasma, das der imaginären Rolle der Corinne für Mme de Staël auf verblüffende Weise ähnelt. 25 Die Inspiration selbst ist für Andersen eine Stimmung, abhängig von Ort, Zeit und Gefühl; sie ist dem Genie eigen, wird aber nicht auf den Übertragungsprozeß der Sprache bezogen. Insofern entwickelt der Roman Andersens keine sprachliche Dynamik der Übertragung und in diesem Sinne keine Mediologie, sondern er gehorcht einem klassischen Modell der Repräsentation, das von vorsprachlichen, schon gewußten oder gefühlten ‘Inhalten’ ausgeht und über diese Aussagen zu machen sucht, sie aber nicht im Raum der Sprache und Schrift entwickelt.
142 ich sagte und wie, ist mir entfallen […]”.26 Andersen situiert die Kunst der Improvisation in der Nähe der Schwärmerei und adaptiert kunstreligiöse Überlegungen deutscher Frühromantiker,27 die der Ich-Erzähler als Inhalt seiner eigenen Kunstansichten referiert. Ihm geht es vornehmlich um die Feststellung und begriffliche Benennung des Ingeniums, nicht aber um dessen poetischsprachliche Entwicklung und Übertragung. Antonios Improvisationen werden nur genannt, nicht beschrieben und noch weniger wiedergegeben; sie gewinnen keine sprachlich-performative Prägnanz und erscheinen letztlich als vollkommen nüchtern betrachteter “Gegenstand”. Sie sind vielleicht das theoretische Faszinosum, mit Sicherheit aber der narrative Schwachpunkt dieses sentimentalen, epigonalen Romans.
Emotion und “mouvement” der Improvisation Anders entwirft Mme de Staël die Improvisationsszenen in Corinne. Vor allem fokussiert der Roman eine Reihe von “effets”, deren Resultat, aber auch Auslöser, die Improvisation auf der Bühne darstellt. Im Zentrum der Handlung steht neben der Titelfigur ein englischer Adliger, Lord Oswald Nelvil, der Italien bereist und sich dort in die Improvisatorin Corinne verliebt. Die wechselhafte, tragisch endende Liebesgeschichte bildet den Plot des Romans, in den drei große Improvisations-Auftritte Corinnes eingeflochten sind. Oswald begegnet Corinne zum ersten Mal bei ihrem Auftritt auf dem römischen Kapitol. Er wohnt als geneigter Zuhörer einer performativen Darbietung bei, die ihn als synästhetisches Phänomen beeindruckt und ihm die Künstlerin überaus anziehend erscheinen läßt.28 Allein schon diese Konstruktion einer durch den improvisierten Gesang entzündeten Leidenschaft bietet der Verfasserin die Möglichkeit, die emotional wirkende Kraft des Gesangs auf ein – männliches – Publikum zu loben. Dieses ist nicht nur Beobachter der performativen Handlung, sondern deren Ziel und wird, wenn die Improvisation glückt, emotional involviert in das Geschehen: “Oswald fut profondément touché […] mais plus il était troublé, moins il pouvait exprimer ce qu’il épouvait”.29 Die tiefe Rührung, verbunden mit Oswalds Befangenheit Corinne gegenüber, führt ihn nun zu einer Art von Sprachlosigkeit, die er gegenüber Corinne im Laufe 26
Andersen (wie Anm. 24). S. 47. Allzu deutlich geben sich Versatzstücke der Ästhetik des jungen Tieck und Wackenroder zu erkennen, überblendet mit Anspielungen auf deren Kunstverständnis, wie sie in Mme de Staëls Roman auftauchen. Dem wäre in einem anderen Kontext im einzelnen nachzugehen. 28 In vielem zeigt die Darbietung Corinnes mit ihrer Mischung aus verschiedenen Kunstformen und Medien (Stimme, Deklamation, Gesang, Instrumentalbegleitung) als synästhetisches Phänomen Ähnlichkeiten mit einer modernen Performance. 29 De Staël (wie Anm. 14). S. 81. 27
143 der Zeit nur mühsam verlieren wird. Wie hier, so befindet sich Oswalds Persönlichkeit gegenüber der wort- und tonmächtigen Sängerin Corinne im ganzen Roman in einer asymmetrischen Position. Auch Corinnes Rede und Gesang sind nicht auf einen direkten dialogischen Austausch gerichtet. Sie sind vielmehr monologisch, prosodisch und zielen auf starke emotionale Wirkung. Auf der Ebene des Plots wird durch die beeindruckende Improvisation der Corinne das Liebesband zu Oswald geknüpft. Der Roman nimmt diese in Reise-Episoden gestaltete, unglückliche Geschichte zweier einander fremd bleibender Charaktere jedoch vor allem zum Anlaß, um den Blick auf anderes, womöglich Wichtigeres zu lenken: Die Erzählung entfaltet in digressiven Einflechtungen eine veritable Kultur-, Kunst- und Literaturgeschichte Italiens und entwickelt am Beispiel der Improvisation eine Poetik der musikalischen Sprachemphase, die auch ihren Ausführungen zur Konversation in De l’Allemagne zugrundeliegt. Bei der Improvisation ist die Künstlerin vor allem auf ihr Sensorium für die musikalischen, klanglichen und rhythmischen Eigenschaften der italienischen Sprache angewiesen: Ce talent d’improviser, reprit Corinne, n’est pas plus extraordinaire dans les langues du midi, que l’éloquence de la tribune, ou la vivacité brillante de la conversation dans les autres langues. […] Ce n’est pas uniquement à la douceur de l’italien, mais bien plutôt à la vibration forte et prononcée de ses syllabes sonores qu’il faut attribuer à l’empire de la poésie parmi nous. “Das Talent zum Improvisieren”, erwiderte Corinna, “ist in den südlichen Sprachen etwas ebenso Natürliches, wie die parlamentarische Beredsamkeit oder die glänzende Lebhaftigkeit des gesellschaftlichen Gesprächs es in den andern Sprachen sein mag. […] Es ist nicht einzig und allein die Weichheit des Italienischen, sondern noch weit mehr der kraftvolle und deutlich ausgeprägte Schwung der tonreichen Silben, aus dem man die Gewalt der Poesie bei uns erklären sollte. […]”30
Mit der Tonschwingung der Silben eröffnet sich das Reich der Poesie. Hier ist eine Parallele zum Bild des elektrischen Stroms unübersehbar, das Mme de Staël als Modell der Inspiration und Emphase in De l’Allemagne zeichnen wird. Der Strom der elektrischen und akustischen Schwingungen31 steht für den Dichtungsvorgang ein und läßt die Improvisation als einen Vorgang erscheinen, dessen bezwingende Energie aus den musikalischen Qualitäten der Sprache rührt. Nicht zufällig hat die erste Übersetzerin des Romans, Dorothea Schlegel, für das “empire de la poésie” den Ausdruck “Gewalt der Poesie” 30
Ebd. S. 82f. bzw. S. 56. Hier sei nur an die enorme Faszinationskraft der Untersuchungen Chladnis zur Schwingungslehre der Töne erinnert. Chladni schien es gelungen zu sein, in seinen “Klangfiguren” die Töne zu einer bildlichen Darstellung ihrer selbst gebracht zu haben (vgl. dazu Ernst Florens Friedrich Chladni: Die Akustik. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1802). 31
144 gewählt.32 Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß der aisthetischmusikalischen Seite der Sprache die Kraft zur Überwältigung nicht fremd ist. Corinne akzentuiert den Vorgang jedoch anders; sie läßt sich von den sonoren Eigenschaften des Italienischen eher führen, oder besser: verführen (“séduire”) als überwältigen, wenn sie improvisiert. Die Sprache besitzt für sie einen “charme musical”, der lustvoll auf die Sinne (“plaisir”) wirkt: L’italien a un charme musical qui fait trouver du plaisir dans le son des mots presque indépendamment des idées; ces mots d’ailleurs ont presque tous quelque chose de pittoresque, ils peignent ce qu’ils expriment. […] Il est donc plus aisée en italie que partout ailleurs de séduire avec des paroles sans profondeur dans les pensées, et sans nouveauté dans les images. La poésie, comme tous les beaux arts, captive autant les sensations que l’intelligence. Das Italienische hat einen musikalischen Reiz, der bewirkt, daß man ein Vergnügen an dem Klang der Worte selbst (fast unabhängig von dem Inhalt) findet. Diese Worte haben außerdem fast alle etwas Malerisches, sie stellen wirklich dar, was sie bedeuten. […] Daher ist es in Italien leichter als irgendwo sonst, mit bloßen Worten zu verführen, ohne Tiefe der Gedanken und ohne Neuheit der Bilder. Die Poesie, wie alle schönen Künste, fesselt die Sinne nicht minder als den Verstand.33
Nicht Semantik und Syntax, und auch keine vorgängige “Idee” führen die improvisierte Dichtung herbei, sondern der musikalische Zauber. Indem sie klingt, “malt” die Sprache auch. Sie spricht mehrere Sinne, Auge und Ohr, zugleich an und aktualisiert eine polymediale Übertragungsbewegung. In dieser aisthetischen Vielfalt bestehe geradezu die “Zauberkraft” der (italienischen) 32 De Staël (wie Anm. 14 [dt. Ausg.]). S. 56. Heinrich von Kleists in dieser Hinsicht einschlägige Erzählung Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik erschien 1810 in den Berliner Abendblättern, die umfangreichere zweite Fassung in Kleists Erzählungen von 1811 (vgl. Kleist [wie Anm. 2]. Bd. 2. S. 216–228). Auch diese Erzählung ist ein Hinweis darauf, wie intensiv die Diskussionen von Strategien der sinnlichen Überwältigung durch die Kunst, von der Trunkenheit bis zur Gewalt, in der zeitgenössischen Literatur geführt wurden. Zentriert sind diese Diskussionen um die Frage nach der Beziehung zwischen Körper (Oralität), Klang bzw. Ton und Zeichen, wobei dem vor-semantischen Klangereignis die Gewaltsamkeit eignet. Die Spur dieser Metaphorik führt um 1800 über Autoren wie Tieck und Wackenroder, den jungen Friedrich Schlegel, Novalis, Kleist und vor allem über das Werk E.T.A. Hoffmanns bis hin zu Schopenhauer und Nietzsche. Sie alle entwickeln mit unterschiedlicher Akzentuierung eine emphatisch-aisthetische Poetik, die sich, wie bei Mme de Staël, vor allem an der Musikalität von Sprache und Dichtung entzündet. Mme de Staël besaß u.a. durch die Vermittlung August Wilhelm Schlegels genaue Kenntnisse der deutschen Romantik. Grundlegende Texte dazu sind versammelt in: Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Texte zur musikalischen Poetik um 1800. Hg. von Barbara Naumann. Stuttgart: Metzler 1994. Zur Entwicklung des Gewaltparadigmas der Musik vgl. auch Nicola Gess: Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800. Freiburg i.Br./Berlin: Rombach 2006 (Berliner Kulturwissenschaft 1). 33 De Staël (wie Anm. 14). S. 83 bzw. S. 56f.
145 Sprache, die für Corinne “notre langue enchanteresse” ist: “Elle peut pour ainsi dire préluder au hasard, et donner encore un vif plaisir seulement par le charme du rhythme et de l’harmonie”.34 Deutlicher könnte kaum gesagt werden, daß im Drama der Improvisation Verführung und Lust die Hauptrollen spielen. Während Corinne improvisiert und die Zuhörer ihr folgen, reagieren beide, Sängerin und Publikum, auf jene noch undifferenzierte Einheit von Körper, Zeichen und Bedeutung mit “Lust”. In Umkehrung der klassizistischen Ästhetik, die Idee und Form des Kunstwerks trennt, entwirft Mme de Staël eine Poetik, die das Agens der Dichtung in die aktuelle Bewegung der Sprache verlegt.35 Corinne verdeutlicht ihren Bewunderern Oswald und Comte d’Erfeuil, was in ihr beim Singen und Dichten vorgeht, durch eine zirkuläre Theorie der Inspiration, die an zentraler Stelle die ‘Lust am Text’ zum Inhalt hat.36 Die Zeitlichkeit der Bühnen-‘Performance’, der spontanen Improvisation, ist identisch mit der Zeitlichkeit der Inspiration und dem körperlichen, stimmlichen Ausdruck. Sobald Corinne als Improvisatorin dichtet oder singt, tritt sie in ein auto-rekursives Verhältnis ein. Diese Zirkulation des improvisierten Vortrags, der sich nicht buchstäblich, wohl aber performativ um sie dreht, erlaubt ihr, sogar die monologische Bühnensituation als eine lebendige Konversation zu empfinden. Die Künstlerin hört ihre eigene Stimme und läßt sich davon – und nicht von einem irgendwie gearteten “sujet” – affizieren: “[…] je dirai que l’improvisation est pour moi comme une conversation animée. Je ne me laisse point astreindre à tel ou tel sujet, je m’abandonne à l’impression
34
Ebd. Doch auch die anthropologisch motivierte Hypothese, daß eine Bewegung, ein “movere”, mithin ein “psycho-physischer Erfahrungsmodus” der Dichtung wie ihrer Wirkung zugrunde liege, nimmt in klassizistischen Ästhetiken des 18. Jahrhunderts breiten Raum ein, und zwar vor dem Hintergrund einer Theorie der Erregung der Affekte (vgl. dazu Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München: Fink 2002. Hier: S. 13). 36 Marc Fumaroli zitiert den berühmten Begriff Roland Barthes’, die “Lust am Text” (le plaisir du texte), im Zusammenhang mit seiner These, daß Mme de Staël die französische Konversation als eine Kunst der “artistes de l’oral” auffasse (Marc Fumaroli: Trois institutions littéraires. Paris: Gallimard 1986. S. 131). Diese Oralität dominiere auch den Bezug zu Buch und Schrift: “Le plaisir de l’écoute, dans une societé de gourmets de la parole, prime pour eux sur le ‘plaisir du texte’” (S. 132). Es ist demgegenüber festzuhalten, daß die Oralität für de Staël nicht eine separate Institution ist, sondern im Vorgang der Übertragung auch als Schrift erscheinen kann. Sie erweitert damit die aufgeklärte Konzeption des Dialogs um die Emphase der Sprachmusik. Zur Faszinationskraft des als Schrift inszenierten, fingierten Dialogs im “Zeitalter im Zeichen des Dialogs”, der Aufklärung, vgl. Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame d’Epinay und Voltaire. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002 (zur Schrift vgl. bes. S. 28–48, zum Plaudern und zur Geschwätzigkeit das Kapitel über Diderot, S. 111ff.). 35
146 que produit sur moi l’interêt de ceux qui m’écoutent”.37 Die Improvisation folgt keinen Themen, sondern der Dynamik des Interesses, das die Vortragende und das Publikum aneinander finden. Die “conversation animée” und die monologische Improvisation können von Corinne identifiziert werden, weil beide den performativen Prozeß der sprachlichen Übertragung betreffen. Diese Selbstentzündung in der und durch die Sprache nennt Mme de Staël “enthousiasme”.38 Beide Formen, Improvisation und Konversation, gleichen sich also hinsichtlich ihrer performativen Funktion und überkreuzen sich gewissermaßen in der Künstlerin. Oswalds Frage, ob sie denn eher einer Dichtung den Vorzug gebe, die eine Frucht der Gedanken sei, oder einer solchen, die aus augenblicklicher Begeisterung entstehe, verfehlt daher die Pointe von Corinnes Vortragskunst. Wesentlich ist dieser Kunst der zirkuläre Übergang zwischen Klängen, Rhythmen, Sprachen, Gattungen und Gedanken: […] souvent il m’arrive de quitter le rhythme de la poésie et d’exprimer ma pensée en prose; quelquefois je cite les plus beaux vers des diverses langues qui me sont connues. Ils sont à moi, ces vers divins, dont mon âme s’est pénétrée. […] Enfin, je me sens poète, non pas seulement quand un heureux choix de rimes ou de syllabes harmonieuses, quand une heureuse réunion d’images éblouit les auditeurs, mais quand mon âme s’élève […]. Dann widerfährt es mir oft, daß ich den Rhythmus der Poesie verlasse und meinen Gedanken in Prosa ausdrücke; bisweilen pflege ich dann die schönsten Verse aus den Sprachen, die mir bekannt sind, anzuführen. Sie gehören mir, diese göttlichen Verse, von denen meine Seele durchdrungen ist. […] Um es mit einemmal ganz zu sagen, ich fühle mich als Dichterin nicht bloß, wenn eine glückliche Wahl von Reimen oder harmonischen Silben, wenn eine glückliche Zusammenstellung von Bildern die Zuhörer blendet, sondern dann, wenn meine Seele sich erhebt […].39
Auffällig an dieser Passage wie an vielen anderen des Romans ist die quasiheroische Selbstinszenierung der Autorschaft am Beispiel einer Figur, die sich als genialische, freie, höchst anerkannte und dennoch melancholisch-bescheidene Künstlerin in Szene setzt.40 In dieser Selbststilisierung kommt eine hypertrophe 37
De Staël (wie Anm. 14). S. 84f. Ebd. passim, z.B. im Schlußgesang der Corinne, S. 582. 39 Ebd. S. 85 bzw. S. 58f. 40 Simone Balayé weist auf die Rezeption des Romans als eines Schlüsselromans hin, eine Lesart, die Corinne umstandslos als “Mme de Staël idéalisée” auffaßt (ebd. [Vorwort] S. 18). Schon die Zeitgenossen konnten jedenfalls nicht umhin, diese biographische Lesart in den Vordergrund zu rücken und die mehr oder weniger unverstellten Selbst-Heroisierungen der Mme de Staël als solche wahrzunehmen. Biographisch gelesen, verleihen sie dem Roman allerdings zuweilen einen peinlichen Ton. Andererseits stellen sie ein Wagnis im Hinblick auf den Ausdruck weiblichen Selbstbewußtseins dar. Sowohl für das Konzept der ‘freien’ Autorschaft für Frauen, für die Möglichkeit artistischer Selbstdarstellung als auch generell für die Forderung nach einer ungebundenen Lebensweise – darauf verweist die breite feministische Rezeption nicht nur in Frankreich – hat der Roman bis in unsere Zeit modellbildend gewirkt. 38
147 Variante der frühromantischen Dichterkonzeption zum Tragen, die Vorstellung nämlich, die Künstlerin könne ihr artistisches Universum gänzlich aus der Emphase ihrer sich “erhebenden Seele” schöpfen. Mit solchen Aussagen sucht sich Mme de Staël im Kontext der romantischen Kunsttheorie zu situieren, der zufolge die Dichtung fähig ist, die Welt zu poetisieren und in der Dichtung ganz neu zu komponieren.41 Im hier diskutierten Zusammenhang ist jedoch vor allem ein anderer Aspekt von Interesse, der den medialen Prozeß der Sprache und seine Darstellung als Roman betrifft. Die Improvisation wird hier von Corinne als im doppelten Sinne performativ gekennzeichnet: als Kunstform einer Bühneninszenierung und als gestische und akustische Darstellung einer quasi-musikalischen Form. Die Sprache spricht und singt gleichsam durch die Improvisatorin hindurch. Corinne wird zum unbestimmten Medium dieses Strömens. Sie ist in diesen emphatischen Momenten “fortgerissen” (“entraînée”) vom Strom ihrer Rede, der sich seinerseits überträgt auf die enthusiasmierten Zuhörer, seien diese nun das große römische oder neapolitanische Publikum oder die beiden intimeren Verehrer Comte d’Erfeuil und Oswald. Ersterer fühlt sich durch Corinnes Ausführungen über die Improvisation als Konversation in einen anderen Zustand versetzt, “dans un véritable enchantement” – auch, oder gerade weil, er gar nicht richtig verstanden hat, worum es Corinne geht.42 Die beiden anderen großen Improvisationsszenen des Romans, die Corinne bei einem Auftritt bei Neapel zeigen oder sie kurz vor ihrem Tod einen letzten “Schwanengesang” intonieren lassen,43 beschreiben ebenfalls die übermächtige, verzaubernde, berauschende Wirkung, die die Improvisation auf die Improvisatorin und die Zuhörer gleichermaßen ausübt. Der Gesang der Corinne bewegt sich innerhalb eines Kreislaufs von Übertragungen. Der Roman beschreibt zwar die erwähnten lyrisch-gesanglichen Improvisationsszenen und deren berauschende Wirkung, und er läßt Corinne eine entsprechende Theorie der Performanz entwickeln. Aber er offeriert keine lyrischgesanglichen Passagen; dem verzauberten, berauschten Zustand der verliebten Zuhörer entspricht kein stilistisch veränderter Sprachduktus. Dort, wo die Entdifferenzierung von Zeichen, Körper und Bedeutung aufgegeben werden 41
Damit ist vor allem die deutsche frühromantische Theoriebildung gemeint, die u.a. in den Athenäums-Fragmenten von Friedrich Schlegel und Novalis sowie in mehreren grundlegenden Aufsätzen Friedrich Schlegels eine prominente Darstellung gefunden hat. Aufschlußreich in dieser Hinsicht sind Passagen über die Romantiker und Goethe in de Staël (wie Anm. 1), etwa Bd. 1. S. 211ff. (“De la poésie classique et de la poésie romantique”), sowie de Staël: De la littérature, considerée dans ses rapports avec les institutions sociales (1804). Hg. von Axel Blaeschke. Paris: Classiques Garnier 1998. Zur Romantheorie vgl. bes. S. 148ff. (“L’esprit général de la littérature chez les modernes”). 42 De Staël (wie Anm. 14). S. 86. 43 Ebd. S. 349ff. und S. 582ff.
148 muß, nämlich in der Schrift, befindet sich der Roman im Widerspruch zu den Thesen der philosophierenden Romanheldin. Bereits einer der ersten Rezensenten des Romans, der äußerst geneigte Leser August Wilhelm Schlegel, reagierte auf diesen Umstand mit einer Apologie, die bei allem Wohlwollen eine gewisse kritische Süffisanz nicht verbergen kann: Dem Leser wird nicht zugemutet, Corinnas Gabe zu improvisieren auf Glauben anzunehmen; es werden glänzende Proben davon mitgeteilt. Nicht in Versen: der Geist der beiden Sprachen ist allzu verschieden und die französische Gebundenheit am wenigsten geeignet, der italienischen Poesie eine freie lyrische Ergießung nachzutönen. Aber die kurzen fliegenden Sätze in strophischen Abteilungen, die Farbenglut der Ausdrücke und Bilder, die kühnen Übergänge bringen ganz die Täuschung hervor, als ob alles einem improvisierten Original nachgebildet wäre.44
Schlegel versucht, den Stil des Romans als gelungene Mimesis – er erwähnt die “Täuschung” und das Nachbilden – zu verteidigen. Nicht ganz adäquat steht deshalb sein Hinweis, “[n]ur in Deutschland hat es neuerdings wieder verlauten wollen, daß ein Roman poetisch und insbesondre romantisch sein müsse”,45 den offensichtlichen Anstrengungen des Romans gegenüber, wenigstens in Teilen in diese “deutsche” Richtung zu gehen, wenn auch die ausführlichen kunst- und kulturhistorischen Passagen eher dem konzeptionellen Wissenstransfer und nicht der poetischen Entwicklung des Gedankens Tribut zollen. Windschief steht Schlegels Argument aber auch gegenüber den ihm sehr wohl bekannten Fassungen des romantischen Romans in Deutschland, denen zufolge der Roman ein Pluriversum von Gattungen und Darstellungsweisen sein solle. Der Hybridisierung der Gattung entspricht im übrigen der Roman der Mme de Staël in vielerlei Hinsicht. Deshalb ist die oben zitierte Behauptung der Corinne, sie sei auch dann Dichterin, wenn sie nicht reime (“Enfin, je me sens poète, non pas seulement quand un heureux choix de rimes ou de syllabes harmonieuses […] s’élève”), Hinweis genug auf das Wissen der Verfasserin um die Diskrepanz zwischen einer emphatischen, vom “esprit” des Gesprächs geleiteten Sprache und dem im Roman realisierten dozierenden Stil. Schon in der Überleitung zur ersten Improvisation auf dem Kapitol wird diese Diskrepanz explizit: “En se sentant animée par l’amour de son pays, elle se fit entendre dans des vers pleins de charmes, dont la prose ne peut donner qu’une idée bien imparfaite”.46 Der Roman Corinne erscheint ausgespannt zwischen den Polen des absoluten Ereignisses der Sprache, in dem die Distinktion von außersprachlichem Vorgang und sprachlichem Zeichen zugunsten eines erweiterten, aisthetisch-poietischen Zeichenbegriffs aufgegeben ist, und der sprachlichen Präsentation dieses 44
Schlegel (wie Anm. 21). S. 329. Ebd. S. 334. 46 De Staël (wie Anm. 14). S. 59. 45
149 Ereignisses in einem poetologischen, theoretischen Diskurs, der die performative Sprachemphase regelmäßig verfehlt. Es ist kein Zufall, daß der Romanschluß mit dem letzten, dem sogenannten “Schwanengesang” Corinnes, diesen Konflikt noch einmal steigert, soll doch hier ein Höhe- und Schlußpunkt der Improvisationskunst gefeiert werden. Corinne, schon vom Tode gezeichnet, singt ein letztes Mal vor großem Publikum und vor ihrem einstigen Geliebten Oswald.47 Noch einmal wird das Lied des sprachlichen Rauschs und des auto-poietischen Affekts gesungen, und dies umso emphatischer und pathetischer, als alle Aussagen der Corinne mit dem Vorzeichen des “grand mystère de la mort” versehen sind: Quelle confiance m’inspirait jadis la nature et la vie! Je croyais que tous les malheurs venaient de ne pas assez penser, de ne pas assez sentir, et que déjà sur la terre on pouvait goûter d’avance la félicité céleste qui n’est que la durée dans l’enthousiasme, et la constance dans l’amour. Welches Zutrauen flößten die Natur und das Leben mir früher ein! Alles Unglück, glaubte ich, komme von zu wenigem Denken, von zu wenigem Fühlen, und man könne schon auf Erden einen Vorgeschmack der himmlischen Seligkeit haben, der nur in der Dauer der Begeisterung, in der Beständigkeit der Liebe bestehe.48
Die Improvisatorin sucht in diesen Zeilen die Summe ihres Lebens zu ziehen – und ballt, in der Tat, sämtliche Begriffe noch einmal zusammen, die im Roman als Leitbegriffe der Kunst- und Dichtungstheorie gedient hatten: Natur und Kunst, Inspiration und dauerhafter Enthusiasmus, Denken und Fühlen, himmlisches Glück und Beständigkeit in der Liebe. Statt einer poetischen Steigerung aber “hört” das Publikum diese letzte Aufwallung als – Addition. Hier wird alles noch einmal aufgeboten und aufgehäuft, was an artistischen Konzepten der Emphase im Roman aufgetaucht ist. Mit diesem Übermaß an 47
Sie hatte Oswald ‘entsagt’, als sie feststellen mußte, daß sein Glück mit ihrer Schwester Lucile Erfüllung gefunden hatte. Die Entsagung ist nicht nur Verzicht, sondern auch eine Machtgeste. Sie ist nämlich verbunden mit dem Anspruch, selbst nach ihrem Tode noch Kontrolle über Oswald auszuüben: “Si je devais vivre, je n’en [der Entsagung] serais pas capable; mais puisque je dois bientôt mourir, mon seul désir personnel est encore qu’Oswald retrouve dans vous [Lucile] et dans sa fille quelques traces de mon influence, et que jamais du moins il ne puisse avoir une jouissance de sentiment sans se rappeler Corinne.” (Ebd. S. 579) Die extrem pathetischen und deshalb zuweilen unfreiwillig komischen Schlußszenen des Romans sind in der Tat, was die Ambivalenz von Sentimentalität und Auftrumpfung angeht, kaum zu überbieten. Corinne läßt den einstigen Geliebten Oswald als ein schwächliches Objekt ihrer bis über den Tod hinaus reichenden Verfügungsmacht erscheinen; noch im Verzicht wird so ein Triumph der Weiblichkeit garantiert. Der männlichen Hauptfigur wird jedenfalls das verweigert, was Corinne für sie doch explizit herstellen will: Glück und Freiheit. Wenn man so will, ein letzter performativer Widerspruch des Textes. 48 Ebd. S. 582 bzw. S. 515.
150 emphatischen Begriffen wirft die Sängerin bei ihrem letzten Auftritt regelrecht um sich. Gemeint ist dieses Übermaß als Ausdruck der “exaltation” angesichts des Todes: Non, je ne me repens point de cette exaltation généreuse, non, ce n’est pas point elle qui m’a fait verser des pleurs dont la poussière qui m’attend est arrosée. J’aurais rempli ma destinée, j’aurais été digne des bienfaits du ciel, si j’avais consacré ma lyre retentissante à célébrer la bonté divine manifestée par l’univers. Nein, ich bereue nicht diese edle Schwärmerei; nein, nicht sie preßt mir die Tränen aus, die den Staub befeuchten, der mich erwartet. Ich hätte meine Bestimmung erfüllt, ich wäre der Wohltaten des Himmels würdig gewesen, wenn ich meine tönende Leier nur der Feier der göttlichen Güte, die im Weltall sich offenbart, gewidmet hätte.49
Die Schlußpassagen des Romans lassen es zu, von einem Sprachrausch zu sprechen, allerdings in einem anderen Sinne als dem der de Staëlschen Theorie einer inspirierten Konversation. Corinne führt kein inneres Gespräch und noch weniger eines mit einem Gegenüber, sie lauscht nicht auf die “syllabes sonores” der Sprache, sondern deliriert solipsistisch in der Fülle synkretistischer Kunstund Schicksalsbegriffe.50 Die zugleich hypertrophen und unterdeterminierten Gesangsszenen erscheinen inadäquat gegenüber dem, was Corinne in zahlreichen Konversationen der Sprache abzulauschen gemeint hatte. Die Form des Romans ist geprägt durch einen Widerstand gegen jene Sprache, die er in seinen theoretisierenden Passagen feiert. Dieser Widerstand betrifft jene gesanglich-lyrische, musikalische Sprache, um die es Corinne geht, und er betrifft deshalb auch die Theorie der Performanz, die Corinne ihren Zuhörern gegenüber entwickelt. Denn wo der Text das Lob der Verssprache inszeniert, findet sich allein ein prosaisches Surrogat. Vielleicht hoffte ja die Verfasserin auf Leserinnen und Leser, die selbst mit Hilfe der Inspiration, von der im Roman so viel die Rede ist, in der Lage wären, den Roman wie in einem Gespräch weiterzuentwickeln. Es war Novalis, der bereits in den 1790er Jahren vom Leser gefordert hatte, er solle wie ein zweiter Autor fungieren: “Der Leser sezt den Accent, willkürlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will. Es giebt kein allgemein geltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn. Lesen ist eine freye Operation”.51 Der Text mag also ein Angebot zur individuellen Akzentuierung sein, zur freien 49
Ebd. Diese Art des Überschwangs wird sprichwörtlich und umgangssprachlich bezeichnet mit dem drastischen Diktum “jemanden besoffen reden”. Hier scheint sich die Verfasserin selbst in die Trunkenheit ihres Überschwangs hineingeschrieben zu haben. 51 Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von HansJoachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. München: Hanser 1978. S. 399. 50
151 Operation – und dies meint auch: zur Improvisation. In jedem Fall müssen Leser der Corinne improvisatorische Fähigkeit besitzen, um den sprachlichen Widerstand des Romans zu kompensieren. Man bedarf der Übertragung des Romans in eine andere, imaginierte Sprache, um den begrifflich beschriebenen, theoretisch entwickelten, doch musikalisch vorenthaltenen Sprachvorgang nachvollziehen zu können. Leserin und Leser müssen zu Improvisatoren des Textes werden. Ob Mme de Staël wohl damit gerechnet hatte, ein zu solcher “freye[n] Operation” fähiges Publikum zu finden? Wohl eher nicht, vielleicht hätte sie es sogar fürchten müssen. Das Romanende bietet durchaus keine inspirierte improvisatorische Trunkenheit, sondern eine bleischwere Mythisierung der weiblichen Hauptfigur, deren vornehmste Kunst nun nicht mehr der Gesang ist, sondern das Leiden: “[…] de toutes les facultés de l’âme que je tiens de la nature, celle de souffrir est la seule que j’aie exercé tout entière”.52 Mit diesen Sätzen zerstört Corinne zuletzt die poetische Emphase, die sie der Improvisationskunst zugesprochen hatte. Die Trunkenheit der Sprache ist der Todessehnsucht gewichen. Insofern verbleibt der Text des Romans bis zur letzten Zeile vor dem eigentlichen Text der Improvisation, er bleibt Text vor dem Text, ein Prätext. Vielleicht ließe sich ja von anderen trefflich darüber reden: “En France, on ne lit guère un ouvrage que pour en parler.” – “In Frankreich liest man selten ein Buch aus anderm Grund, als um darüber zu sprechen”.53 Anläßlich der Corinne kann also die Konversation wieder von neuem beginnen.
52 53
De Staël (wie Anm. 14). S. 584. De Staël (wie Anm. 1). S. 160 bzw. S. 137.
Magnus Wieland
Teuflische Trinker: Satan, Sokrates, Sechsflaschenmann This essay explores the associations between drunkenness and the diabolic, using the example of the devilish drinker as a literary figure. Against the background of Michel Serres’ parasitology, this connection is established via the phenomenon of disturbance. Contrary to its common negative connotations, the notion of disturbance is here considered as an inevitable medial factor as well as a specific constituent of literature. Satan est un alcoolique… Satan est parent de Dionysos. Michel Onfray Looked around and I heard the sound Of have one more my friend Drinking with the devil. Rainbow
1. Alkohol – ein diabolisches Destillat Gaston Bachelard hat auf die Bedeutung des Punsches für die Literatur der deutschen Romantik, insbesondere für E.T.A. Hoffmann, hingewiesen, auf seine spezifische Funktion, Traumbilder und Phantasmagorien durch den inflammablen Gehalt des Alkohols in der Einbildungskraft zu entzünden.1 Mit diesem Mittel wird die Entscheidung, was von den phantastischen Geschehnissen einem Spuk und was dem Rausch zuzuschreiben sei, in ambivalenter Schwebe gehalten. Das gilt auch für Wilhelm Hauffs Phantasien im Bremer Ratskeller, mit dem Unterschied, daß es dort der Wein ist, der eine ähnliche Unsicherheit über den ‘Wirklichkeitsgrad’ des Erzählten evoziert. Der Protagonist und Ich-Erzähler läßt sich am 1. September über Nacht in den Raum des Bremer Ratskellers einschließen, wo ein ungeheures Weinfaß, die sogenannte Rose, lagert, um sich nach dem Ritual seines Großvaters (in der Art eines durch Alkohol stimulierten Madeleine-Effekts) in die Vergangenheit zurück zu trinken.2 Die Warnung des Ratsdieners, daß an diesem Abend, dem Jahrestag der Rose, ein großer Spuk stattfinden werde, schlägt er in den Wind und gibt sich trinkend der Erinnerung hin. Doch wie mit jedem Becher die Weingeister allmählich in seinen Kopf – in 1
Vgl. Gaston Bachelard: Psychoanalyse des Feuers (1949). Übers. von Simon Werle. München/Wien: Hanser 1985. S. 113. 2 Zur Variante eines tabaccistischen Madeleine-Effekts bei Hermann Burger vgl. den Beitrag von Simon Zumsteg in diesem Band.
154 das “Wirtshaus zur Zirbeldrüse” – steigen, wird um ihn herum auch ein Geisterspuk fröhlich zechender Gesellen wach.3 Die Wirkung des Spirituösen geht einher mit der Erscheinung des Spiritistischen. Eingebettet in dieses gespenstische Trinkgelage ist als Binnenerzählung indes eine Geschichte, die anzeigt, welcher Geist den Alkohol tatsächlich beherrscht. Diese Geschichte handelt vom Reitknecht Balthasar Ohnegrund, der nicht ohne Grund so heißt, denn wie sein Name bereits andeutet, ist Ohnegrund ein ‘Faß ohne Boden’, kann er doch – um einen weiteren einschlägigen Phraseologismus zu gebrauchen – saufen ‘wie ein Loch’. Wegen dieser Fähigkeit wird er im Dreißigjährigen Krieg vom schwedischen König als Gesandter in Bremen eingesetzt, da zu jener Zeit die deutsche Sitte berüchtigt war, Verhandlungen bei ausgiebigen Zechgelagen abzuhalten.4 Begleitet von seinem Hauptmann Gutkunst, der sich ebenfalls recht gut auf diese ars bibendi versteht, treten beide an den deutschen Verhandlungstisch, unter den sie in der Folge auch prompt sämtliche Ratsherren trinken – mit der Ausnahme eines eigentümlichen Senators, trank dieser doch “zweimal soviel als beide, so daß ihnen ganz unheimlich wurde”, denn soviel er auch trinkt, er bleibt “so verständig wie zuvor”.5 Die Unheimlichkeit einer schier übermenschlichen Trinkstärke ist auch ein zentrales Motiv bei Friedrich Dürrenmatt, der das Ende seines Kriminalromans Der Richter und sein Henker im kulinarisch-juristischen Doppelsinn von Gericht kulminieren läßt.6 Bei einer Henkersmahlzeit macht der todkranke Kommissar Bärlach mit einer ungeheuerlichen Appetitattacke seinem korrupten Kollegen Tschanz den Prozeß: “Tschanz sah voll Entsetzen nach diesem unheimlichen Schauspiel, das der Todkranke bot”, indem er – “gierig die Speisen dieser Welt in sich hineinschlingend” – auch ein machtvolles Trinkgebaren vorlegt: “Dann 3 Vgl. Wilhelm Hauff: Phantasien im Bremer Ratskeller (1826). In: Hauff: Werke. Auf Grund der von Max Drescher besorgten Ausgabe neu hg. von Gisela Spiekerkötter. München: Bong 1961. Bd. 3. S. 476–524. Hier: S. 492. 4 Davon berichtet Johann Wilhelm Petersen in seiner Geschichte der deutschen National-Neigung zum Trunke (1782). Dortmund: Harenberg 1979. S. 9 (Die bibliophilen Taschenbücher 138): “Bündnisse, Geschlechterverbindungen, Verträge und dergleichen Verhandlungen wurden bei Trinkgelagen vorgenommen”. Vor allem das rituelle Zutrinken dauerte fort, das sowohl als Akt der Freundschaft wie der Ehre aufgefaßt wurde: “Nach teutscher Sitte war es eine Geziemlichkeit, den Gästen sogleich Gelegenheit zu verschaffen, ihre Trinkkraft zu zeigen, oder einen freundlichen Wettstreit [im Trinken] anzustellen” (ebd. S. 26). 5 Hauff (wie Anm. 3). S. 506. 6 Dasselbe Motiv findet sich auch in Dürrenmatts Erzählung Die Panne, wo von vier Pensionären, die einen entsprechend unheimlichen “Riesenappetit” und einen “Riesendurst” aufweisen, ebenfalls im doppelten Sinne ‘Gericht gehalten’ wird (vgl. Friedrich Dürrenmatt: Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte [1955]. In: Dürrenmatt: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Zürich: Diogenes 1996. Bd. 5. S. 267–326. Hier: S. 304).
155 griff er nach dem Glas Champagner und leerte es in einem Zug”.7 Er bietet so, während er maßlos essend und trinkend seinen Kollegen überführt, “das Bild einer übermenschlichen Überlegenheit”,8 dessen entsetzliche Komponente mit der Charakterisierung Bärlachs als “Dämon” oder, noch stärker, als “teuflischer Esser” eingeholt wird.9 Was so bei Dürrenmatt dem metaphorischen Vergleich mit dem Teufel dient, wird in Hauffs romantischer Novelle noch im Wortsinn aufgelöst. Die übernatürliche Trinkstärke des Senators begleitet nämlich ein paranormales Phänomen: “In seinem Kopf steckte ein kleiner silberner Hahn wie an einem Faß; da drehte er den Zapfen um, und ein bläulicher Dunst strömte hervor, so daß ihm der Weingeist keine Beschwerden machte in der Hirnkammer”.10 Es ist klar (und die Erzählung verhehlt dies auch keineswegs), daß hinter diesem unheimlichen Kerl mit dem “Spiritusableiter” der Leibhaftige selber steckt.11 Durch die teuflische Methode der Alkoholdestillation figuriert Satan als unbändiger Trinker, der jeden mit vergleichbarer Trinkkraft in Verruf bringt, gleichfalls mit höllischen Mächten im Bunde zu stehen.12 Nicht von ungefähr besitzt der Alkohol eine Affinität zum teuflischen Element par excellence: zum Feuer.13 Doch wie geht das zusammen: der Teufel und die Trunkenheit, das Diabolische und das Dionysische? Diese Gemeinschaft ist nicht ganz selbstverständlich. Immerhin hat Jochen Hörisch daran erinnert, daß (zumindest im JohannesEvangelium) ein typologischer Bezug von Dionysos auf Christus besteht und daß die Eucharistie-Feier eine gewisse Verwandtschaft mit den eleusinischen Mysterien des Dionysos-Kultes aufweist.14 Der Wein respektive der Weinstock,
7
Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Ein Kriminalroman (1950). In: Dürrenmatt (wie Anm. 6). Bd. 4. S. 9–117. Hier: S. 110f. 8 Ebd. S. 112. 9 Ebd. S. 110 resp. S. 111. 10 Hauff (wie Anm. 3). S. 507. 11 Ebd. S. 508. 12 Nach Kurt Kusenberg ist eine diabolisch verliehene Trinkkraft ein Topos der Weltliteratur: “Die Welt der erfundenen Geschichten bringt den Teufel und den Wein oft zusammen: sie berichtet von unmäßigen Trinkern, die um des Weins willen ihre Seele dem Teufel verpfänden” (Kurt Kusenberg: Der ehrbare Trinker. Eine bacchische Anthologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965. S. 85). Diese Wendung nimmt auch die Erzählung von Hauff: Reitknecht Ohnegrund verkauft für ein ewiges Trinkvergnügen seine Seele an Satan. 13 Vgl. dazu Bachelard (wie Anm. 1). S. 111–129. 14 Vgl. das Kapitel “Im Zeichen des Weinstocks: Dionysos und Christus” in: Jochen Hörisch: Brot und Wein. Poesie des Abendmahls. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. S. 57–70. Hier: S. 59. Ebenso Werner Hofmann: Vom Trinken und Ertrinken. Eine Einführung. In: Wasser & Wein. Zwei Dinge des Lebens. Aus der Sicht der Kunst von der Antike bis heute. Hg. von Werner Hofmann. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1995. S. 11–39. Hier: S. 35.
156 die Rebe, verweisen in ihrem Symbolwert als Zeichen des Lebens, der Fruchtbarkeit und der Auferstehung somit auf einen soteriologischen Bereich, der das genaue Gegenteil einer diabolischen Störkraft bezeichnet.15 Neben dieser positiv besetzten christlichen Symbolik des Weins ist hingegen vor allem seine rauschhafte Wirkung (gerade von Seiten der Kirche) verteufelt worden.16 Von Luther ist angesichts der Trinkfreudigkeit seines Volkes der Ausspruch bekannt: “Unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein, und muß Sauff heißen, daß er so durstig und hellig ist, der mit so großem Sauffen Weins und Biers nicht kann gekühlet werden”.17 Wie bei Hauff und Dürrenmatt steht auch hier das übermäßige Trinken unter dem Signum des Diabolischen. Es ist deshalb mitnichten ein Zufall, daß die geläufige Ikonographie des Teufels satyrhafte Züge aufweist: eine Bocksgestalt mit Hörnern und Ziegenfuß. Die Satyrn zählen zu den ständigen Begleitern des Dionysos und sind aufgrund ihres zügellosen und triebhaften Wesens als ikonographische Vorbilder für die Darstellung des christlichen Teufels gewählt worden.18 Denn die Bocksgestalt verkörpert die animalischen Triebe, an die nicht nur der Teufel appelliert, sondern die eben auch der Gott des Weins erweckt und freilegt. Es führt somit nicht bloß eine typologische Linie von Dionysos zu Christus, sondern ikonographisch auch eine zu seinem direkten Widersacher, dem Teufel. Von dieser kulturhistorischen Perspektive soll im folgenden jedoch etwas abstrahiert und stattdessen eine poetologische Richtung in diesem Komplex eingeschlagen werden, indem die dionysisch-diabolische Konvergenz im Prinzip
15
Vgl. Dorothea Forstner: Die Welt der christlichen Symbole. Innsbruck/Wien/München: Tyrolia 1982. S. 174–176. 16 Zu den Predigten und Maßnahmen wider den “Sauffteufel” vgl. Hasso Spode: Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland. Opladen: Leske ⫹ Budrich 1993. S. 63 und S. 68ff. Vgl. auch das Kapitel “Der Teufel im Wein” in: Kusenberg (wie Anm. 12). S. 77–86, das ein Zitat aus Shakespeares Othello zum Motto hat: “Jedes Glas zu viel ist verflucht, und sein Inhalt ein Teufel!” (II, 3). 17 Luther im Kommentar zum 101. Psalm, zitiert nach Kusenberg (wie Anm. 12). S. 92. 18 Zu dieser ikonographischen Übertragung vgl. Luther Link: Der Teufel. Eine Maske ohne Gesicht. München: Fink 1997. S. 53–55 sowie Isabel Grübel: Die Hierarchie der Teufel. Studien zum christlichen Teufelsbild und zur Allegorisierung des Bösen in Theologie, Literatur und Kunst zwischen Frühmittelalter und Gegenreformation. München: tuduv 1991. S. 125f. (Kulturgeschichtliche Forschungen 13): “Zur Entwicklung der bocksgestaltigen Teufelsfigur trug nicht zuletzt die Rezeption der antiken Satyrgestalt bei, die, wie andere mythologische Figuren auch, dem teuflischen Bereich zugerechnet wurden. Die Satyrn gehörten zum Gefolge des Gottes Dionysius, sie waren mischgestaltig – häufig mit Bocksfell, -hufen, Pferdeohren und -schwanz – und verkörperten Lüsternheit und ungehemmte Sexualität”. Entsprechend konstatiert auch Friedrich Nietzsche im Nachlaß-Fragment 34 [155]: “Dionysos – Diabolus” (Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. In: Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1999. Bd. 11. S. 473).
157 der Abweichung gesucht wird. Als Ausgangspunkt und Leitfaden dient dabei Michel Serres’ Theorie des Parasiten, die ein Konzept an die Hand gibt, das diese Phänomene zu verbinden erlaubt. Für den vorliegenden Fall besteht die Applikation konkret darin, den Teufel, die Trunkenheit sowie das textuelle Verfahren der Digression unter dem Schirm des parasitären Prinzips der Störung zusammenzuführen. Störung meint in einem nachrichtentechnischen Verständnis, worauf Serres seine Darstellung gründet, die Kontamination von Informationen durch Rauschen und Nebengeräusche in den Übertragungskanälen.19 Dieses technische Rauschen steht – wie jede andere Emission von Rauschen und Lärm auch – nicht nur in einer etymologischen Beziehung zum Rausch als Zustand der Trunkenheit,20 sondern auch in einer semantischen: “Denn wie das Rauschen laboriert auch der Rausch an den Schwierigkeiten seiner Kommunizierbarkeit bzw. Diskursivierung”.21 Beide dergestalt verwandten Phänomene – das Rauschen als Lärm und der Rausch als Folge des Trinkens – treffen an jenem sozialen Ort aufeinander, den Serres zum Motiv seines Buches gewählt hat: dem Gastmahl, Symposion, Zechgelage.22 Zwar bildet ein solches Symposion den sozialen Rahmen für Gespräche und Reden, diese laufen aber stets Gefahr, durch das geräuschvolle Umfeld oder die berauschten Sprecher beeinträchtigt zu werden.23 Unter diesen Prämissen soll ein zunächst vielleicht kontraintuitives Verständnis entwickelt werden, welches das Moment des Rausche(n)s gerade nicht als vermeidbare Störung begreift, sondern ihm vielmehr eine mediale Notwendigkeit und damit auch ein konstitutives semantisches Potential zuspricht. Nicht zuletzt steht dafür die Figur des höllischen Zechers, der trotz des regen Konsums alkoholisch-berauschender Substanzen am Ende doch ganz “verständig” bleibt. 19 Vgl. Michel Serres: Der Parasit (1980). Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. S. 20. 20 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig: Hirzel 1854–1960. Bd. 14 (1893). Sp. 303: “die übertragung des wortes in den heutigen sinn [von trunkenheit] ist eine äuszerung des trinkerwitzes, der die zahllosen abstufenden bezeichnungen für zustände der trunkenheit im deutschen geschaffen hat, sei es, dasz sie an das rauschen im kopfe anknüpft, das sich in gewissen vorgerückten stunden einzustellen pflegt, oder an die geräuschvolle lustigkeit der zecher”. 21 Andreas Hiepko und Katja Stopka: Einleitung. In: Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Hg. von Andreas Hiepko und Katja Stopka. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. S. 9–18. Hier: S. 17. 22 Diese Wahl kommt nicht von ungefähr, sondern erklärt sich durch den Wortsinn von Parasit, das im Griechischen ursprünglich so viel wie Mit-Esser bedeutete (vgl. Serres [wie Anm. 19]. S. 17). 23 So schreibt etwa Erasmus im Dialog über den deutschen Gasthof: “Es ist erstaunlich, was bei dem Essen für ein Lärm und Stimmengewirr herrscht, wenn erst einmal alle angefangen haben, vom Trinken warm zu werden” (zitiert nach: Spode [wie Anm. 16]. S. 61).
158 2. Sokratische (Ver-)Störung Das Bild, das Platon in seinen Dialogen von Sokrates zeichnet, ist ein höchst ambivalentes. Gernot Böhme hat in dieser Hinsicht und in systematischer Abgrenzung von jeglichen Versuchen einer Historisierung den Typ Sokrates als atopos beschrieben: “Atopia […], das ist das Anstößige, Absurde, das nicht Hergehörige”.24 Diese befremdliche und undefinierbare Seite von Sokrates ist vermutlich ein Grund dafür, weshalb Sokrates – ganz ähnlich wie Dionysos auch – sowohl mit christlichen als auch mit dämonischen Zügen versehen worden ist. Besonders das Daimonion von Sokrates, eine Art innere, leitende Stimme,25 erregte den Unmut der Kirchenväter, die in den Anfängen der christlichen PlatonRezeption den Daimon nicht als göttliches Wesen, sondern – im Wortsinn – als bösartigen Dämon verstanden haben, was mitunter bis zum Vergleich des Daimonion mit einer satanischen Kraft führte.26 Jedenfalls besitzt die Figur des Sokrates neben ihrem humanistischen Vorzeigecharakter auch eine verstörende Seite, die besonders in Platons Dialog Symposion zur Geltung kommt, zumal er, wie Sarah Kofman erwägt, am meisten dazu beigetragen hat, à faire de Socrate une figure démoniaque plus encore que démonique, atopique: la figure d’un être déroutant et bizarre, qui n’est jamais là où on croit qu’il se trouve, se comporte toujours autrement que prévu; hors genre, hors catégorie, éminemment paradoxal, é/norme, monstrueux, excessif, et par là même hors concurrence et rivalité.27
Kofman nimmt die von Böhme akzentuierte Atopie von Sokrates beim Wort als Ortslosigkeit, die in deplaziertem Benehmen sowie in plötzlichem Auf- und Abtreten zum Ausdruck kommt. Im Symposion wird letzteres gleich zweimal 24
Gernot Böhme: Der Typ Sokrates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. S. 19. Vgl. ebd. S. 157–168, wo eine Stelle aus der Apologie (312c–d) diskutiert wird. 26 So beispielsweise bei Tertullian und ferner auch bei Laktanz, Minucius Felix und Cyprian (vgl. Ilona Opelt: Das Bild des Sokrates in der christlichen lateinischen Literatur. In: Platonismus und Christentum. Festschrift für Heinrich Dörrie. Hg. von Horst-Dieter Blume und Friedhelm Mann. Münster/Westfalen: Aschendorfsche Verlagsbuchhandlung 1983. S. 192–207. Hier: S. 194 und S. 197 [Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsbd. 10]): “Das Daimonion des Sokrates blieb für die Christen skandalös und unannehmbar. Mit Formulierungen, die denen des Minucius Felix sehr ähnlich sind, greift Cyprian dieses an als Beispiel für die Herrschaft der bösen Geister, spiritus maligni”. Zum Sokratischen Daimon als begriffliche Herkunft für teuflische Dämonen vgl. auch Link (wie Anm. 18). S. 24. 27 Sarah Kofman: Socrate(s). Paris: Editions Galilée 1989. S. 34. Platons Symposion habe also am meisten dazu beigetragen, “aus Sokrates eine dämonenhafte, mehr als nur dämonische Figur zu machen, eine atopische: die Figur eines verwirrenden und bizarren Wesens, das niemals dort ist, wo man es anzutreffen glaubt, das sich stets anders aufführt, als vorgesehen ist; außerhalb von Art und Kategorie, zutiefst paradox, außer/ordentlich, monstruös, exzessiv, und dabei fern von jeglicher Konkurrenz und Rivalität” (Übersetzung MW). 25
159 akut: einmal zu Beginn, als Aristodemos dem Gastgeber Agathon beim Eintreten in sein Haus auf die Frage, wo Sokrates sei, verblüfft antwortet: “Hinter mir ging er eben herein, und ich wundere mich selbst, wo er wohl sein mag” (175a).28 Sokrates scheint verschwunden, wird aber gleich darauf völlig unerwartet im Vorhof des Nachbarn wieder entdeckt, von wo er sich eine geraume Zeit lang nicht herlocken läßt – die Rufe seiner Freunde bleiben vergeblich. Die zweite Stelle, die die Unberechenbarkeit von Sokrates aufzeigt, findet sich gegen Ende des Symposions, als Alkibiades in die Runde sprengt, dabei Sokrates zuerst übersieht, ihn schließlich aber mit einem nicht geringen Erschrecken wahrnimmt: “Du Sokrates, liegst du mir auch hier schon wieder auf der Lauer, wie du mir immer pflegst plötzlich zu erscheinen, wo ich am wenigsten glaube, daß du sein wirst?” (213b–c). Das Plötzliche, das Unerwartete in der Erscheinung des Sokrates, worin Kofman dessen dämonenhafte Komponente erblickt, ist hingegen auch als “das eigentlich dionysische Attribut der Überraschung” identifiziert worden.29 Beide Momente – das dämonische wie das dionysische – fallen zusammen in der Figur des Sokrates im Symposion – diesem eigentümlichen Dialog, worin der Diskurs über die Liebe eingerahmt, wenn nicht überblendet wird von einem rauschhaften Zechgelage, worauf der Titel Symposion ja auch referiert. Symposien – bevor damit nüchterne akademische Veranstaltungen bezeichnet wurden – nannte man die antiken Trinkgelage, bei denen das gesellige Zechen mit dem mitunter philosophischen Gespräch einherging, wo, anders formuliert, der physische Durst mit dem Durst nach Erkenntnis verbunden war.30 Denn das Symposion ist jener Ort, an dem das Trinken und die damit einhergehende Berauschung nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern einen höheren, sozialen, kolloquialen, wenn nicht sogar epistemologischen Sinn erhalten. Der Austausch von Ideen und Gedanken veredelt das Zechen gerade so, wie dieses umgekehrt die Redseligkeit der Runde befördert. Der Mund erfüllt somit die doppelte orale Funktion des Sprechens und des Trinkens.31 Dabei entsprach es 28 Zitiert wird nach der Schleiermacher-Übersetzung von Platon: Werke in acht Bänden. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt: WBG 1990. Hier: Bd. 3. 29 Vgl. Knut Eming: Wahnsinniger Rausch. Platon über Manie und Eros. In: Rausch. Hg. von Helmuth Kiesel. Berlin/Heidelberg: Springer 1999. S. 189–236. Hier: S. 202 (Heidelberger Jahrbücher 43). Auch Pan, der satyr- respektive bocksgestaltige Waldgott, pflegte durch plötzliche Auftritte den Hirten einen – sprichwörtlich gewordenen – panischen Schrecken einzujagen (vgl. Grübel [wie Anm. 18]. S. 126). 30 Einen breiten Überblick zur antiken Symposionskultur, wie sie aus damaligen Vasenbildern rekonstruierbar ist, gibt Alfred Schäfer: Unterhaltung beim griechischen Symposion. Darbietungen, Spiele und Wettkämpfe von homerischer bis in spätklassische Zeit. Mainz: Von Zabern 1997. 31 Vgl. Bachelard (wie Anm. 1). S. 116: “Der Alkohol ist unverkennbar ein Sprachfaktor. Er erweitert den Wortschatz und setzt die Syntax frei”.
160 der damaligen Konvention, daß die Teilnehmer eines Symposions im Vorfeld über dessen Gestaltung und Leitung befanden32 und daß der vereinbarte Leiter, der sogenannte magister bibendi, in der Regel das Recht besaß, nicht nur das Thema und den Verlauf des Gesprächs, sondern auch die gehörige Trinkmenge festzulegen.33 In Platons Symposion erklären sich die Teilnehmer jedoch damit einverstanden, für einmal auf diesen Trinkzwang zu verzichten, weil alle bei der Zecherei am vorangegangenen Abend “etwas stark benetzt worden” (176b) waren – wobei die darauf folgende Absichtserklärung verrät, daß gewöhnlich ein kalkuliert gesteigertes Rauscherlebnis durchaus mit zum Zweck eines Symposions gehörte: “Hierauf also wären alle übereingekommen, es bei ihrem diesmaligen Zusammensein nicht auf den Rausch anzulegen, sondern nur so zu trinken zum Vergnügen” (176e). Diesem vergnüglichen Vorhaben setzt der Jungsporn Alkibiades indes ein Ende, als er bereits merklich angetrunken in die Runde platzt und die Leitung des Trinkgelages an sich reißt, indem er durch den Demonstrationsakt seiner Trinkstärke das gebührende Maß für alle bestimmen will. Er greift zu diesem Zweck nach der nächsten “Kühlschale”: Er sah nämlich eine, die ihre guten acht Mäßchen hielt. Diese habe er füllen lassen und zuerst selbst ausgetrunken, dann aber geheißen, sie dem Sokrates vollzuschenken, und dabei gesagt: Gegen den Sokrates, ihr Männer, hilft mir das Kunststück nichts; denn wie viel einer nur will, trinkt er aus und wird deshalb doch nicht berauscht (214a).34
Diese Stelle begründete Sokrates’ Reputation als Zecher mit einer ungewöhnlichen Trinkkapazität. Sokrates figuriert folglich nicht nur als Prototyp des Weltweisen und Gelehrten, sondern zugleich erscheint er auch als Inkorporation eines teuflischen Trinkers, dem der Alkohol nichts anhaben kann. Dieses Bild findet Bestätigung am Ende des Symposions, wo Sokrates mit Agathon und Aristophanes im Morgengrauen noch “aus einem großen Becher rechtsherum” trinkt und “mit ihnen Gespräche” führt (223c), während die übrigen alle schon längst ihren Rausch ausschlafen. Auf dieses paradoxe Phänomen einer Unabläßigkeit im Trinken bei gleichzeitig bewahrter Nüchternheit und Eloquenz kommt Alkibiades mit einem Vergleich zu sprechen, welcher in der humanistischen Tradierung zum Topos avancierte. Die Rede ist vom Vergleich von Sokrates mit einem Silen. 32
Vgl. Eming (wie Anm. 29). S. 203. Vgl. Karl Geschwantler: Dionysischer Kreis und antike Geselligkeit. In: Hofmann (wie Anm. 14). S. 57–65. Hier: S. 57. In Platons Nomoi (636e–650b) werden die Anlage und der Zweck solcher Trinkgelage eingehend erörtert (vgl. Platon [wie Anm. 28]. Bd. 8/1. S. 39–75). 34 Acht Maß entsprachen nach der damaligen Mengeneinheit etwas mehr als zwei Litern (vgl. den Herausgeberkommentar in Platon [wie Anm. 28]. Bd. 3. S. 359). 33
161 Der Silen ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, die neben den Satyrn zur Gefolgschaft des Weingottes Dionysos gehört. Ikonographisch wird der Silen oft mit dickem Bauch, wulstigen Lippen und einer stumpfen, knolligen Nase dargestellt, was zum klassischen Abbild einer jeden Trinkerphysiognomie wurde. Denn der Silen verkörpert “als passionierter Säufer die Lehre von der Wahrheit des Weines”.35 Besonders das sogenannte Rhinophym, eine angeblich durch hohen Alkoholkonsum verdickte oder verwachsene Nase, gilt als Anzeichen für Maßlosigkeit und Ausschweifung.36 Kaum zufällig besitzt auch der Hauffsche Reitknecht Ohnegrund eine “große, kupferrote Nase”.37 Der Silen ist von seiner körperlichen Erscheinung her also ein Ausbund an Häßlichkeit und daher Inbegriff eines “trinkgierigen und zügellosen” Wesens.38 Nach dessen Gestalt sind in der Antike auch Gefäße oder Skulpturen gefertigt worden, die geöffnet das inwendige Bildnis einer Gottheit enthielten. Die häßliche Gestalt dieses Artefakts verbarg also einen göttlichen Kern. Eben darauf spielt Alkibiades an, wenn er den Sokrates “recht silenenhaft” nennt, zumal auch ihm Häßlichkeit und ein frivoles Dasein nachgesagt wurden.39 Mehr noch: Auch Sokrates ist wie der Silen Träger einer “extrem knolligen, kurzen und tiefen Sattelnase”.40 Doch in Analogie zu den erwähnten Skulpturen weist Alkibiades darauf hin, was die häßliche Hülle von Sokrates verbirgt: [D]aß er in allem unwissend ist und nichts weiß, wie er sich ja immer anstellt; ist nun das nicht recht silenenhaftig? Gewiß sehr. Denn das hat er nur so äußerlich umgetan, eben wie jene getriebenen Silenen, inwendig aber, wenn man ihn auftut, was meint ihr wohl, ihr Männer und Trinkgenossen, wie vieler Weisheit und Besonnenheit er voll ist? (216d).
Neben der vorgeblichen Unwissenheit ist folglich die vermeintliche Trunkenheit, die silenische Manier, ein weiteres Strategem der sokratischen Ironie, welche die Leute erst einmal irritieren oder gar täuschen soll. Nachdem Alkibiades seine Rede beendet hat, greift Sokrates just diesen Vergleich aber 35
Horst Bredekamp: Grillenfänge von Michelangelo bis Goethe. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 22 (1989). S. 169–180. Hier: S. 171. 36 Andrea Schütte: Nasus, i (m.) – die Nase. Exkurs zur Selbstmodellierung des Gelehrten im Bild. In: Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005. S. 129–153. Hier: S. 146, wo in der Anmerkung nochmals betont wird, daß es sich beim Rhinophym um kein medizinisch erwiesenes Symptom von Alkoholismus handelt, sondern dasselbe mehr ikonographisch begründet ist. 37 Hauff (wie Anm. 3). S. 503. 38 Paul Zanker: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst. München: Beck 1995. S. 44. 39 Vgl. Eming (wie Anm. 29). S. 210. 40 Zanker (wie Anm. 38). S. 42. Zu Sokrates’ Nase vgl. auch Schütte (wie Anm. 36). S. 139f.
162 auf, um bei seinem Lobredner ebenfalls eine entsprechend silenische Irreführung zu konstatieren: “Nüchtern scheinst du mir noch ganz zu sein, Alkibiades, […] dieses dein silenisches und satirisches Schauspiel ist gar wohl verstanden worden” (222c–d). Alkibiades gleicht selber einem Silen, insofern er seine wahre Absicht hinter einer Schmeichelrede versteckt, die nur dazu dienen soll, seiner selbstsüchtigen Liebe Ausdruck zu verleihen, mit der er Agathon und Sokrates beide für sich gewinnen will, indem er sie voneinander trennt. Sokrates mahnt deshalb den Agathon: “Gib acht, daß niemand mich und dich entzweien kann [diabalei]” (222d). Alkibiades fällt damit strukturell in die Position von Sokrates – und zwar nicht nur, weil er mit ihm offenbar die Art eines Silens teilt, sondern weil es zuvor, wie gezeigt, Sokrates war, der urplötzlich zwischen Agathon und Alkibiades auftauchte und letzteren dabei erschreckte. Auf der griechischen Vokabel für ‘entzweien’, ‘trennen’, ‘auseinander werfen’, ‘dazwischen treten’ (diaballein) insistiert nun Michel Serres, um seine Theorie des Parasiten (am Beispiel exakt dieser Stelle bei Platon) in ein diabolisches Prinzip münden zu lassen.41 Der Teufel ist wie der Parasit einer, der aufstört, Unruhe und Verwirrung stiftet, denn wer wie ein para-sitos an etwas partizipiert, greift notwendig auch dia-bolisch darin ein. Dia-Bolos bedeutet übertragen so viel wie ‘Dazwischen-Tretender’, und Serres verwendet den Ausdruck ganz allgemein für jede Form einer äußeren, störenden Intervention, die entsprechend als dia-bolisch verstanden wird.42 In diesem Sinne fungiert auch Sokrates tatsächlich als ein solcher Diabolos, zumal es eine spezifische Eigenart von ihm ist, durch hartnäckige Interrogationen seine Gesprächspartner aufzustören und in Verwirrung zu stürzen. Die Ähnlichkeit mit den Silenen macht Alkibiades aus diesem Grund nicht nur für die Person des Sokrates, sondern insbesondere auch für seine Reden geltend: “Denn wenn einer des Sokrates Reden anhören will, so werden sie ihm anfangs ganz lächerlich vorkommen, in solche Worte und Redensarten sind sie äußerlich eingehüllt, wie in das Fell eines frechen Satyrs” (221d). Im Dialog Theaitetos (155c–d) wird explizit auf dieses verstörende rhetorische Potential von Sokrates’ Reden Bezug genommen und das dadurch bewirkte Gefühl der Verwirrung mit einem physischen Schwindel gleichgesetzt, der aber zum “Anfang der Philosophie” erklärt wird.43 Mit anderen Worten: Diese Sequenz aus dem Theaitetos postuliert nichts anderes als die Emergenz von philosophischem Sinn, von Erkenntnis und Verständnis aus dem diffusen Zustand der Sinnesverwirrung, der als Schwindel zudem an der 41
Vgl. Serres (wie Anm. 19). S. 398: “Das ist der Teufels; nein, nein, ich habe ihn nicht erwartet. Nun, da er da ist, endet dieses Buch wie gebannt. […] Mahl, Gastmahl, Festmahl des Teufels”. 42 Vgl. ebd. S. 384. Vgl. dazu Kurt Röttgers: Teufel und Engel. Bielefeld: transcript 2005. S. 8 und S. 37 (Bibliothek dialektischer Grundbegriffe 16). 43 Platon (wie Anm. 28). Bd. 6. S. 43f.
163 Schwelle zum Rausch steht.44 Exakt diese Denkfigur liegt verschiedentlich modifiziert auch Serres’ Parasitologie zugrunde, die vom nachrichtentechnischen Modell des Rauschens als medial bedingter, jedoch ständig die Störungsfreiheit bedrohender Hintergrundbedingung bei der Übertragung von Information ausgeht: “Das Hintergrundsrauschen ist der Grund des Seins, das Parasitentum ist der Grund der Beziehung. Das Hintergrundsrauschen ist der Grundraum, der Parasit der Grund des Kanals, der durch diesen Raum führt”.45 Als parasitär in diesem technischen Sinne haben also die Kontaminationen durch das Rauschen im Nachrichtenkanal zu gelten. Übertragen auf die Situation des Symposions bedeutet dies: Die rauschhafte Atmosphäre begünstigt die Ungezwungenheit in der Rede genau so, wie sie eben, wenn Lärm und Rausch überhand nehmen, die Verständigkeit derselben auch wieder beeinträchtigen kann. “Der Sieg gehört den Kräften des Lärms, der Sieg gehört den Parasiten, allen Parasiten. All denen, die fortan maßlos Wein trinken werden”, kommentiert Serres die Stelle im Symposion, wobei er damit implizit eine Verbindung zwischen dem lärmenden Geräusch und dem alkoholischen Rausch herstellt.46 Eine negative Konnotation besitzt diese Feststellung dabei genau so wenig wie die Etablierung eines diabolischen Prinzips. Denn wie Serres zu Beginn seines Buches anmerkt: Das Buch der Abweichungen, des Rauschens und der Unordnung wäre nur für den das Buch des Bösen, der einen Gott verteidigte, welcher durch den Kalkül der Urheber einer unabänderlich zuverlässigen Welt wäre. Doch ist dem nicht so. Die Abweichung gehört zur Sache selbst, und vielleicht bringt sie diese erst hervor. Vielleicht ist der Wurzelgrund der Dinge gerade das, was der klassische Rationalismus in die Hölle verbannte. Am Anfang ist das Rauschen.47
Serres nimmt folglich eine Umwertung der Störung vor, die unter dem informationstheoretischen Kalkül der Rauschunterdrückung einer negativen Beurteilung unterworfen ist,48 und schreibt der Störung stattdessen nicht nur eine konstitutive, sondern auch eine eminent produktive, dynamisierende Funktion in einem gegebenen System zu.49 Daß Serres in seiner Darstellung 44
Zum Schwindel als Konstituens philosophischer Wahrheit vgl. Rolf-Peter Janz, Fabian Stoermer und Andreas Hiepko: Einleitung: Schwindel zwischen Taumel und Täuschung. In: Schwindelerfahrungen. Zur kulturhistorischen Diagnose eines vieldeutigen Symptoms. Hg. von Rolf-Peter Janz, Fabian Stoermer und Andreas Hiepko. Amsterdam/New York: Rodopi 2003. S. 7–45. Hier: S. 16 und 22ff. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 70). 45 Serres (wie Anm. 19). S. 83. 46 Ebd. S. 386. 47 Ebd. S. 28. 48 Vgl. Hiepko und Stopka (wie Anm. 21). S. 10. 49 Auf sehr anschauliche Weise zeigt dies am Beispiel von Bergson, Freud, Kierkegaard und Benjamin auch Samuel Weber: Medium als Störung. Theater und Sprache bei Kierkegaard und Benjamin. In: Modern Language Notes 120 (2005). S. 590–603. Besonders S. 594.
164 dabei hauptsächlich von literarischen Beispielen ausgeht, ist kein Zufall, zumal gerade die Literatur gemeinhin als bevorzugter Ort gilt, worin das Rauschen in seiner Positivität eine ästhetische Aufwertung erfährt.50 Exemplarisch soll dies das nächste Kapitel an Jean Pauls Erzählung Dr. Katzenbergers Badereise aufzeigen.
3. Dionysos-Digressionen Das Prinzip der Störung, der Unterbrechung ist ein wesentliches formales Merkmal der digressiven Erzählweise Jean Pauls. Denn anders als bei Laurence Sterne – ein für Jean Paul maßgeblicher literarischer Vorläufer –, der im Tristram Shandy die Digression sozusagen perpetuierlich vorantreibt, zeichnen sich die Texte Jean Pauls durch einen Wechsel von narrativen und digressiven Passagen aus, die einander wechselseitig unterbrechen.51 Hinzu kommt das gleichermaßen autoreflexive wie ironische Spiel Jean Pauls, jeweils auf das Störpotential solch abschweifender Einschübe und Exkurse hinzuweisen respektive die Störung zu thematisieren. In einem dieser Metakommentare kommt Jean Paul denn auch explizit auf deren diabolischen Charakter zu sprechen, wenn er, nachdem ihn eine Serie von Vergleichen vom Gang der Erzählung abgebracht hat, entschuldigend anfügt: “Der Teufel der Gleichnisse besitzt mich einmal wieder”.52 Der Teufel selbst wird hier also für die Abschweifung verantwortlich gemacht, was nun sowohl metaphorisch wie auch im wörtlichen Sinne von diabolos zu verstehen ist. Der eine Abweichung vom Erzählgang provozierende Vergleich ist insofern diabolisch, als er dessen Kontinuität (entsprechend der wörtlichen Bedeutung von diaballein) aufsprengt und auseinander reißt. Folgt man in dieser Angelegenheit Serres weiter, dann ist auch hier übergeordnet eine parasitäre Praktik am Werk: “Zwischen Wort und Sache bewirkt irgendein Parasit, daß man abschweift”.53 Dieses Prinzip der Störung als Abschweifung ist auch in Jean Pauls später Erzählung Dr. Katzenbergers Badereise präsent, obschon dort die Digressionen als eigenständige “Werkchen” dezidierter vom Text der Erzählung abgegrenzt sind. Dennoch treten sie, indem sie ein gutes Drittel des Gesamtumfangs ausmachen, in deutliche Konkurrenz zur ‘eigentlichen’ Geschichte, so daß man sagen kann: Der digressive Grundzug bleibt bestehen.54 Zudem wird die 50
Vgl. Hiepko und Stopka (wie Anm. 21). S. 13. Vgl. Timothy Joseph Casey: Digression for Future Instalments. Some Reflections on Jean Paul’s Epic Outlook. In: The Modern Language Review 85 (1990). S. 866–878. Hier: S. 866. 52 Jean Paul: Der Jubelsenior. Ein Appendix (1797). In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller. Darmstadt: WBG 2000. Abt. I. Bd. 4. S. 409–559. Hier: S. 474. 53 Serres (wie Anm. 19). S. 48. 54 Daß “das formale Prinzip” in Dr. Katzenbergers Badereise, “wie nicht übersehen werden kann, die Digression” ist und daß – mehr noch – trotz der Auftrennung in 51
165 Trennung nicht überall mit derselben Akribie aufrechterhalten, wenn es Jean Paul etwa “nach vielen Jahren wieder” reizt, mitten in einem Kapitel “ein Extrablättchen” anzubringen.55 Worauf es bei der Erzählung in diesem Kontext jedoch ankommt, ist der Umstand, daß darin eine digressive Redeweise in einen Bezug zur Trunkenheit gestellt und die Reflexion darüber in den Mund des Protagonisten Katzenberger gelegt wird, der wie Sokrates als Typus des teuflischen Trinkers auftritt. Nicht umsonst weist deshalb auch die Physiognomie Katzenbergers eine “grobe knollige kurze Fuhrmanns-Nase” auf.56 Jean Pauls Konzeption des Dr. Katzenberger folgt der Figur des “heiteren Arztes”, einer Mischung aus der karnevalistischen Lachkultur des Mittelalters und der kynischen Philosophie des Diogenes, die sich beide durch eine komische Reduktion auf das Materielle auszeichnen, welche ebenfalls ein beliebtes Mittel der Jean Paulschen Satire respektive seines Humors darstellt.57 Im Falle von Dr. Katzenbergers Badereise dienen dazu die Tabubereiche der Arzneikunde, denn wie Jean Paul in der Vorrede selber erwägt, “verlange, verstatte, verziere” “das Komische jene Annäherung an die Zensur-Freiheiten der Arzneikunde”.58 Konkret realisiert sich diese Forderung in Katzenbergers Vorliebe für alle nur denkbaren körperlichen Dysfunktionen einschließlich seiner Passion für Mißgeburten. Doch Katzenberger ist nicht bloß eine komische Figur, er besitzt auch eine diabolische Seite.59 Tatsächlich wird Katzenberger am Ende der erzählende und exkursorische Passagen “die Kohärenz des Werkes digressiv” ist, zeigt Uwe Japp: Die narrative Instanz des Humoristen in Dr. Katzenbergers Badereise. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 35/36 (2001). S. 293–304. 55 Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen (1809/1822). In: Jean Paul (wie Anm. 52). Abt. I. Bd. 6. S. 77–363. Hier: S. 214. 56 Ebd. S. 301. Auch sonst steht Katzenberger entfernt noch in der symposialen Tradition von Sokrates, wenn er seine “Mittagstischreden” bei “einem Glas Wein” zu halten pflegt (ebd. S. 200). Zur Tradition des aus der antiken Symposionsliteratur stammenden Tischgesprächs und seiner “Verbindung zwischen dem weisen und freien Wort und dem Essen und dem Wein” vgl. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1940/1965). Hg. von Renate Lachmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. S. 164. 57 Vgl. dazu Maximilian Bergengruen: Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie. Hamburg: Meiner 2003. S. 22 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 26) sowie noch spezifischer Bergengruen: Mißgeburten. Vivisektionen des Humors in Jean Pauls Dr. Katzenbergers Badereise. In: Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Helm und Karin Stukenbrock. Wiesbaden: Steiner 2003. S. 271–291. Besonders S. 272. 58 Jean Paul (wie Anm. 55). S. 83. 59 Was sich jedoch nicht auszuschließen braucht, denn das Humoristische fällt durchaus in den Kompetenzbereich des Teufels (vgl. etwa Röttgers [wie Anm. 42]. S. 7). Jean Paul erwägt in der Vorschule der Ästhetik selbst, daß er sich den Teufel “leicht als den größten Humoristen und whimsical man gedenken” kann, verwirft diese Idee aber wieder, da sie “zu unästhetisch” sei (Jean Paul: Vorschule der Ästhetik [1804/1813]. In: Jean Paul [wie Anm. 52]. Abt. I. Bd. 5. S. 7–456. Hier: S. 130). Vgl. dazu Wulf Köpke: Die Moreske einer
166 Erzählung als veritabler Abkömmling des Teufels enttarnt: “Katzenberger stellte in dieser Walpurgisnacht voll Zauberinnen schöner als sein Urbild (der Teufel) den umtanzten Brocken-Helden dar”.60 Seine Person ist denn auch nicht frei von einer gewissen Boshaftigkeit oder zumindest Malefizienz, die sich mit seinem derben Humor vermischt. Besonders deutlich zeigt sich dieser Charakterzug in einer von der Forschung bislang noch kaum beachteten Trinkszene der Erzählung. Katzenberger unternimmt seine Badereise vornehmlich deshalb, um am Kurort Maulbronn mit dem dort ansäßigen Badearzt Strykius abzurechnen, den er als anonymen Rezensenten seiner anatomischen Schriften über Mißgeburten in Verdacht hat. Katzenbergers Plan ist es primär, den Badearzt durch Prügel zum Widerruf seiner kritischen Rezension zu zwingen. Doch vor Ort spielt ihm die Gelegenheit ein nicht minder probates Mittel in die Hand. Er läßt nach dem Abendessen “viel Achtundvierziger” auftischen und vollbringt “vor der Welt das Wunderwerk, daß er den Brunnenarzt mitzutrinken” bewegt.61 Unter dem Vorwand eines Selbstversuchs über die Auswirkungen der Trunkenheit beabsichtigt Katzenberger die Veranstaltung eines kleinen Besäufnisses: “Hinein will ich damit, mit dem Weine nämlich”, sagte der Doktor und eröffnete ihm [Strykius] ganz frei, er sei gesonnen, sich gegenwärtig vor seinen Augen zu betrinken, um den Effekt mit wissenschaftlichen Augen zu beobachten und jede Tatsache rein ausgespelzt zurückzulegen für die Wissenschaft.62
In dieser Täuschungsabsicht bittet Katzenberger seinen Kontrahenten um Mithilfe, der “von seiner Seite mehr die nüchternen Beobachtungen” anstellen soll, weshalb Katzenberger auch ausdrücklich von ihm verlangt, “langsamer als [er] zu trinken”.63 Strykius willigt in das Angebot ein, weniger aus fachlichem Interesse, sondern weil er darin seinerseits die Gelegenheit erblickt, “aus den geleerten Flaschen schöne Hoffnung Katzenbergischer Ehrlichkeit zu schöpfen” und auf diesem Weg hinter die geheimen Absichten des Doktors zu gelangen.64
Moreske oder Die dunkle Seite des Humors. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 26/27 (1992). S. 108–119. Dieser theoretische Vermerk deckt sich jedoch nicht immer mit Jean Pauls Praxis. In seiner satirischen Frühschrift Auswahl aus des Teufels Papieren (1789) läßt Jean Paul den Beelzebub als Humoristen und karnevalistischen Spaßmacher auftreten (vgl. dazu das Kapitel “Teuflische Methoden” in Bergengruen [wie Anm. 57]. S. 25–29). Auch später ist diese Kombination von Komik und Diabolik noch anzutreffen, etwa wenn Giannozzo im Namen des Teufels eine satirische Vorrede für das Brockenbuch verfaßt (vgl. Jean Paul: Komischer Anhang zum Titan [1800/1801]. In: Jean Paul [wie Anm. 52]. Abt. I. Bd. 3. S. 831–1010. Hier: S. 962–965). 60 Jean Paul (wie Anm. 55). S. 308. 61 Ebd. S. 291. 62 Ebd. S. 292. 63 Ebd. 64 Ebd. S. 293.
167 Obschon Strykius “durch Meid-Künste” sich in diesem verkappten Duell seinen Vorteil verschaffen will, hat er die Rechnung ohne Katzenberger gemacht, der zwar tüchtig seine Flaschen leert, dabei aber “mit Anschein genug zu Werke” geht, das heißt, den allmählich Betrunkenen nur vorspielt.65 Denn Katzenberger bleibt gegenüber der erwarteten Wirkung des Weins immun, weil er “sich längst als einen ehemaligen (wie Pitt in London) sogenannten SechsFlaschen-Mann”66 kennt – will heißen: Katzenberger besticht durch eine außergewöhnliche Trinkstärke, so daß das scheinbare Trinkduell nach etlichen Flaschen Wein damit endet, daß Katzenberger seinem Kontrahenten bekennt: “Ich bin noch nüchterner als du Saufaus”.67 Auf diese Weise gelingt dem Doktor der Triumph über seinen Gegenspieler, der sich aus seiner Lage – das ist die Schlußpointe – nur noch dadurch befreien kann, daß er zur Versöhnung dem Sechsflaschenmann Katzenberger für dessen anatomisches MißgeburtenKabinett eine “Sechsfingerhand” anbietet.68 Nicht zufällig werden an dieser Stelle mit den beiden auffälligen Komposita “Sechsfingerhand” und “Sechs-Flaschen-Mann” die Bereiche des deformierten Körpers und des exzessiven Trinkens semantisch einander angeglichen, zumal beide im Rahmen einer “Ästhetik der Abweichung” stehen, als deren poetologische Chiffre die Mißgeburt bereits schon in einen Bezug zum digressiven Schreibstil Jean Pauls gebracht wurde.69 Dieselbe Beobachtung läßt sich in 65
Ebd. S. 296 und S. 293. Ebd. S. 293. Die Redewendung vom Sechsflaschenmann geht, wie Jean Paul korrekt angibt, auf den damaligen Premierminister von England, William Pitt den Jüngeren, zurück. Im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts begründete die Anzahl der getrunkenen Flaschen Portwein den Ruhm eines Trinkers. Sich den Titel eines Dreiflaschenmannes zu erwerben, galt bereits als beachtlich. Pitt aber, dessen notorisches Trinkverhalten sich in zahlreichen Anekdoten niedergeschlagen hat, stand sogar im Ruf, ein Sechsflaschenmann zu sein (vgl. Roderick Phillips: Die große Geschichte des Weins. Frankfurt a.M./New York: Campus 2003. S. 178). Um die Leistung etwas zu relativieren, konzediert Phillips, daß der Portwein im 18. Jahrhundert einen geringeren Alkoholgehalt aufwies und der Flascheninhalt auch weniger als die heute üblichen 0,75 Liter betrug. In Deutschland muß zu dieser Zeit ein ähnliches Zählverfahren existiert haben, denn es kursierte die Redensart “Er trinkt wie der Fünfbouteillenmann”, die angeblich auf folgender Anekdote beruht: “In Bischofsgatz nämlich, wo im Wirtshause sein Bildniß aufgehängt ist, starb 1801 in seinem zweiundneunzigsten Lebensjahre der sogenannte Fünfbouteillenmann, der seit zwanzig Jahren täglich das Haus besuchte und niemals aus demselben fortging, ohne fünf Flaschen getrunken zu haben” (Herman Schrader: Das Trinken in mehr als fünfhundert Gleichnissen und Redensarten. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung aus der Methyologie. Berlin: Lüstenöder 1890. S. 46). 67 Jean Paul (wie Anm. 55). S. 299. 68 Ebd. S. 302. 69 Vgl. Gerd Held: Menstruum universalis oder das flüchtige Salz des Komischen. Zur Auflösung der Form bei Jean Paul. In: Das Paradoxe. Literatur zwischen Logik und Rhetorik. Festschrift für Ralph-Rainer Wuthenow. Hg. von Carolina Romahn und Gerold Schipper-Hönicke. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. S. 35–47. Hier: S. 44. 66
168 Dr. Katzenbergers Badereise indes auch für den Komplex der Trunkenheit anstellen – ausgehend von der eben besprochenen Trinkszene. Obschon dort Katzenberger wacker seine Flaschen leert, erweist er sich weniger als “Vollzapf ” denn als “Trunk-Sprecher”.70 Das bedeutet, daß sich der Doktor nicht durch Wein, sondern mehr “durch Reden betrank”.71 Wie bei Sokrates resultiert der Anschein der Trunkenheit nicht aus dem Weinkonsum, sondern ist rhetorisch bedingt durch eine verworrene Redeweise. Am Ende eines längeren Exkurses kommt Katzenberger in einer autologischen Sequenz selber auf diesen Zusammenhang zwischen Sprechen und Trinken zu reden: “Doch ich kehre zu meinem Satze zurück – beiläufig ein ganz gutes Zeichen, denn Trunkne können, wie Verrückte, nie dieselbe Sache unverändert wiederholen und stehen hier tief unter Autoren und Advokaten”.72 Wiederholung meint hier, wie aus dem Kontext hervorgeht, die Rückkehr zu einem zuvor verlassenen Gesprächsgegenstand. Als Ausweis der Nüchternheit disqualifiziert sie damit das Abweichen, das Abschweifen von der Materie als Anzeichen der Trunkenheit. Diese Bemerkung fällt dabei nicht ohne versteckte Ironie, zumal sie Katzenberger in seiner Rolle als Trunkener äußert und sich daher augenscheinlich widerspricht. Doch auch auf metapoetischer Ebene ist in diesem Passus eine ironische Volte verborgen, wenn nämlich den Autoren sinngemäß die Tendenz zu einem unbehinderten Fortgang der Rede attestiert wird,73 was freilich mit Jean Pauls digressiver Praktik nachgerade konfligiert. Anders schreibt deshalb Jean Paul in seiner satirischen Frühschrift Über die Schriftstellerei den Autoren ein mäandrierendes Vermögen zur Assoziation und dieses entsprechend der “Schöpferkraft des Weins” zu: Aus allen Winkeln des Gehirns kriechen verborgene Einfälle hervor, jede Ähnlichkeit, jede Stammutter einer Familie von Metaphern, samlet ihre unähnlichen
Gemäß Katzenbergers Apologie der Mißgeburt lehrt diese “uns am ersten die organischen Baugesetze eben durch ihre Abweichungen gotischer Bauart” (Jean Paul [wie Anm. 55]. S. 128). Entsprechend kann die Mißgeburt als Metapher für die Jean Paulsche Textarchitektur namhaft gemacht werden, da diese sich der klassischen Vorstellung des Werks von einem “in sich geschlossenen Organismus” nachgerade widersetzt (vgl. Christian Helmreich: “Einschiebeessen in meinen biographischen petits soupers”. Jean Pauls Exkurse und ihre handschriftlichen Vorformen. In: Schrift- und Schreibspiele. Jean Pauls Arbeit am Text. Hg. von Geneviève Espagne und Christian Helmreich. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. S. 99–122. Hier: S. 109). 70 Jean Paul (wie Anm. 55). S. 294 und S. 296. 71 Ebd. S. 296. 72 Ebd. S. 294. 73 Zumal die Unveränderbarkeit in der Wiederholung akzentuiert und damit das dem Akt der Wiederholung inhärente Moment der Abweichung, ihr “Zauderrhythmus”, unterschlagen wird (vgl. dazu Elisabeth Strowick: Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud. Stuttgart/Weimar: Metzler 1999. S. 486).
169 Kinder um sich, und gleich einer wandernden Mäusefamilie, hängt sich ein Bild an den Schwanz des andern.74
Gewissermaßen wird der gemeinen Vorstellung von der inspirierenden Wirkung des Weins hiermit ein leicht anderer Dreh verliehen, indem weniger Gewicht auf das ekstatische Moment im Rausch – auf die Entrückung und die Flucht in einen anderen Zustand – gelegt wird, als vielmehr auf die Genese eines Rattenschwanzes an Ideen und Einfällen. Wenn Friedrich Theodor Vischer schreibt, “daß Dithyramben fast eine Einladung zur Trunkenheit und jeder Art von Exzeß repräsentieren”,75 dann gilt das hier in modifizierter Weise auch für die Digression, insofern sie das prosaische Analogon zu jener lyrischen Form der Trunkenheit darstellt. Wie die Prosa aber in der Regel nüchterner als die Lyrik ausfällt, so liegt bei der digressiven Trunkenheit das Gewicht vielleicht weniger auf dem Exzeß oder der Ekstase. Vielmehr treten hier alle Voraussetzungen für den Exkurs in Kraft.76 Denn der Schwanz steht bei Jean Paul sinnbildlich für die Abschweifungen, die durch ein solch assoziierendes Verfahren bewerkstelligt werden; der Schwanz ist das Symbol der Digression schlechthin.77 Gerade in Hinblick auf Jean Pauls Vorliebe für dergestalt digressive Auswüchse und Exkurse, die einhergeht mit einer “Unlust zu fabulieren”,78 tritt die Ironie der obigen Aussage in Dr. Katzenbergers Badereise deutlich zu Tage. Umso mehr, wenn der Autor zu Beginn dieser Erzählung die digressive 74 Jean Paul: Über die Schriftstellerei. Ein Opusculum posthumum (1783–1784). In: Jean Paul (wie Anm. 52). Abt. II. Bd. 1. S. 372–425. Hier: S. 381. 75 Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer (1879). In: Vischer: Dichterische Werke. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1917. Bd. 2. S. 360. Vgl. auch aus den Adagien des Erasmus: “Non est dithyrambus si bibat aquam” (zitiert nach: John Lewis: Notions changeantes de Dionysos chez Rabelais. In: Rabelais-Dionysos. Vin, Carnaval, Ivresse. Hg. von Michel Bideaux. Gemenos: Editions Jeanne Laffitte 1997. S. 145–151. Hier: S. 148). 76 So hat in Quintilians Institutio oratoria der Terminus excessus in der Tat noch die Bedeutung von Exkurs und Abschweifung (vgl. Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München: Fink 2000. S. 37 [Figuren 8]). 77 Vgl. Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin/New York: de Gruyter 2003. S. 310 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22). Für den Roman Hoppelpoppel oder das Herz, den das Brüder- und Autorenpaar Walt und Vult in Jean Pauls Roman Flegeljahre gemeinsam schreibt, ist Vult, der sich – nota bene – gerne dem Wein hingibt, für die Digression zuständig, die er “Schwanzstern” nennt (Jean Paul: Flegeljahre. Eine Biographie [1803–1805]. In: Jean Paul [wie Anm. 52]. Abt. I. Bd. 2. S. 577–1088. Hier: S. 691). 78 Kurt Wölfel: Die Unlust zu fabulieren. Über Jean Pauls Romanfabel, besonders im Titan. In: Wölfel: Jean Paul-Studien. Hg. von Bernhard Buschendorf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. S. 51–71.
170 Problematik zur Diskussion bringt – und zwar (wie könnte es anders sein?) in einer Digression. Bevor die Badereise überhaupt ihren rechten Anfang nehmen kann, steuert der Erzähler bereits vom Weg ab, nur um mit der Unterscheidung zweier Lesergruppen exakt auf diesen Umstand hinzuweisen:79 Die eine Gruppe ist jene seiner wahren Leser, welche getreulich und mit Genuß allen Digressionen, “den längsten verzögerlichen Einreden und Vexierzügen”, folgen, während die andere Gruppe die sogenannten “Kehraus-Leser” bilden, nur an der schnellstmöglichen Erfüllung der Geschichte interessiert sind und deshalb alle Kapitel samt Abschweifungen überschlagen, um direkt beim letzten anzulangen.80 Im Gegensatz zu jenen, die “alles” lesen, haben diese am Ende gar “nichts” gelesen. Ein nüchterner, teleologischer Sinn verhindert so einen Zugewinn, einen Mehrwert an Erkenntnis. Von solchen Lesern sagt Jean Paul weiter, daß sie “nur so lange bei philosophierenden und scherzenden Autoren bleiben, als das Erzählen dauert, wie die Nordamerikaner nur so lange dem Predigen der Heidenbekehrer zuhorchen, als sie Branntwein bekommen”.81 Im Hintergrund dieser Bemerkung steht die Horazische Forderung nach prodesse et delectare, die hier von Jean Paul in einen eigenwilligen Vergleich gebracht wird, demzufolge man die “Kehraus-Leser” in einen rauschhaften Zustand versetzen soll, um sie zum Lesen der vom reinen plot der Erzählung ins Philosophische abschweifenden Passagen zu animieren. Somit wird auch hier eine Form der Berauschung als mediale Voraussetzung für die Empfänglichkeit philosophischer Inhalte propagiert. Wem nicht-narrative Passagen zu mühsam sind, wer sich dadurch im Lesefluß gestört fühlt, den soll deren Einkleidung in eine spannende Erzählung locken oder eben gar berauschen – mit der Gefahr allerdings, daß der tiefere Sinn dabei überlesen oder nicht aufgenommen wird. Auch hier trifft man folglich wieder auf die Ambivalenz des Faktors Rausch, wobei
79 Da es sich um die Erzählung einer Reise handelt, folgt die Digression der verbreiteten Metaphorik einer “Abschweifung vom Weg” (vgl. Michael von Poser: Der abschweifende Erzähler. Rhetorische Tradition und deutscher Roman im achtzehnten Jahrhundert. Bad Homburg/Berlin/Zürich: Gehlen 1969. S. 138–140 [Respublica Literaria 5]). Das Abweichen von der geraden Strecke wiederum ist auch ein Charakteristikum des Trunkenen und dessen schwankendem Gang – wobei das Torkeln, wie aus einer Briefstelle Jean Pauls hervorgeht, nicht als negative Eigenart des Trunkenen erscheint, sondern vielmehr in einen Kontext der Inspiration gestellt wird. Im Brief vom 15. März 1803 an seinen Intimus Emanuel schreibt Jean Paul: “Was Trunkenheit ist – die nämlich den Geist lähmt, anstat beflügelt – denn was anderes und besseres ist, wenn ein Man abends blos im Zikzak heimgehen mus – kenn’ ich nicht” (zitiert nach: “Bier, Bier, Bier, wie es auch komme”. Jean Paul und das Bier. Eine Dokumentation zusammengestellt und mit einem biographischen Essay versehen von Wolfgang Hörner. Hannover: Wehrhahn 2001. S. 41). 80 Jean Paul (wie Anm. 55). S. 104f. 81 Ebd. S. 105.
171 an dieser Stelle noch eine weitere Ambivalenz augenfällig wird: Es ist nämlich keineswegs klar prädeterminiert, was als Rauschen und was als Information zu gelten hat, ob philosophische oder reflexive Passagen als störende Abweichung von der Erzählung erscheinen oder diese sich störend vor jene schiebt: “Im System tauschen Rauschen und Nachrichten ihre Rollen je nach der Stellung des Beobachters und nach den Handlungen des Akteurs”.82 Die Angelegenheit ist insofern eine relative; sie macht aber auch klar: “[D]as Paar Rauschen-Nachricht gehört zum System”, das eine ist ohne das andere nicht zu haben, und vielleicht hört man “die Botschaft auch nur, weil das Rauschen seinen Lärm verbreitet”.83 Mit Vorteil wird man deshalb das Rauschen als Systemnotwendigkeit betrachten, statt zu versuchen, es auszuschließen. Der Literatur kommt dabei allgemein der Wert zu, offen mit dem Rauschen als semantischem Einbruch oder Überschuß an Sinn zu operieren. Jean Paul im Speziellen erreicht eine solche produktive Integration der Störung durch die Komposition (oder besser: Kontamination) heterogener Textstücke, Diskurse und Stillagen.84 Dieses Verfahren hat Jean Paul in einer Notiz aus dem Jahre 1794 mit folgendem Vergleich benannt: “Meine Schreiberei [gleicht] dem Porter; alle Biersorten vereinigt, die man sonst getrennt bekam”.85 Das durch die polyphone Vermengung von Diskursen erzeugte semantische Rauschen wird damit ein weiteres Mal in eine methyologische Metapher gebracht. Inszenierungen des Autors beim Trinken, wie die nachfolgende, sind deshalb nicht zwingend wörtlich aufzufassen,86 sondern können auch als Textmetaphern gelesen werden, welche den alkoholischen Rausch auf das semantische Rauschen der Literatur übertragen. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in der metonymischen Kontiguität der Wein- mit der Tintenflasche: “Ich habe daher gar eine Flasche Burgunder aufgesiegelt und neben die Dintenflasche gestellt, um erstlich durch mein größeres Feuer in diesem Kapitel die Natur- und Kunstrichter auf meine Seite zu bringen […] – und um zweitens überhaupt den Wein zu trinken”.87
82
Serres (wie Anm. 19). S. 102. Ebd. S. 104 und S. 108. 84 Ausführlich zu dieser diskontinuierlichen Werkkonzeption vgl. Christian Helmreich: Jean Paul & Le métier littéraire. Théorie et pratique du roman à la fin du XVIIIe siècle allemand. Tusson/Charente: Du Lérot 1999. S. 243–277. 85 Jean Paul: Ideen-Gewimmel. Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß. Hg. von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel. Frankfurt a.M.: Eichborn 1996. S. 26. 86 Selbst wenn bekannt ist, daß der reale Autor Jean Paul beim Schreiben die stimulierende Wirkung des Alkohols als “Gaumen- und Gehirnkitzel” in Anspruch nahm und diesen als Schreibhilfe entsprechend inszenierte (vgl. dazu Andreas Erb: Schreib-Arbeit. Jean Pauls Erzählen als Inszenierung ‘freier’ Autorschaft. Wiesbaden: DUV 1996. S. 183–193). 87 Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung (1795/1798). In: Jean Paul (wie Anm. 52). Abt. I. Bd. 1. S. 471–1236. Hier: S. 1060. 83
172 4. (L)ivre Abschließend sei die verhandelte Problematik nochmals ganz kurz an einem weiteren Beispiel bei Rabelais aufgezeigt, der mit seiner Roman-Pentalogie Gargantua und Pantagruel dem Trinkteufel zu epischer Größe verholfen hat. Der Name Pantagruel, der nach Rabelais’ Etymologie so viel wie “ganz durstig” bedeutet,88 entstammt einer mittelalterlichen Diablerie, worin ein Teufel den Schlafenden Salz in den offenen Mund streut, um ihnen höllisch Durst zu machen.89 Das Trinken bildet denn auch von Anbeginn an ein zentrales Motiv der Geschichte. Bereits in der Vorrede wird – unter Aufnahme des platonischen Topos vom Silen90 – mit dem Buch gleichsam auch eine eigene Trinkrunde, ein Symposion, im Kreise der Leserschaft eröffnet: Erlauchte Zecher und ihr, vielgeliebte Lustseuchlinge – denn euch, und keinem andern sonst, sind meine Bücher zugeeignet –, in dem Gespräch Platons, Das Gastmahl zubenannt, sagt Alkibiades zum Lobe seines Lehrmeisters Sokrates, der unbestritten aller Weisen Fürst war, unter andern Reden, er habe den Silenen ähnlich gesehen.91
Doch nicht nur der Leser wird in dieser Vorrede als Zecher apostrophiert, auch der Schreiber selbst präsentiert sich “als guter Saufkumpan und Zechgenosse” und gibt – gefolgt von einer Apologie des Weins – vor, das Buch jeweils während dem “Essen und Trinken” geschrieben zu haben, weil dies “die rechte Stunde” für “tiefsinnige Wahrheiten” sei.92 Freilich ist diese Aussage so wenig wie bei Jean Paul beim Wort zu nehmen,93 sondern auch hier steht der Rausch
88
François Rabelais: Gargantua und Pantagruel (1532–1552/1564). Übers. von Walter Widmer und Karl August Horst. München: Winkler 1968. Bd. 1. S. 319: “Denn panta heißt auf griechisch so viel wie ganz, und gruel bedeutet in hagarenischer Sprache so viel wie durstig.” 89 Vgl. Bachtin (wie Anm. 56). S. 367, wo darauf hingewiesen wird, daß im Volksmund Pantagruel deshalb auch eine Bezeichnung für die Heiserkeit nach übermäßigem Saufen war. 90 Zur humanistischen Tradierung dieses Topos vgl. Jörn Erslev Andersen: Busts of Silenus. Tradition and Modernity in Rabelais and Jacobsen. In: Reinventions of the Novel. Histories and Aesthetics of a Protean Genre. Hg. von Karen-Margrethe Simonsen u.a. Amsterdam/New York: Rodopi 2004. S. 19–31. Besonders S. 24 (Textxet. Studies in Comparative Literature 40). 91 Rabelais (wie Anm. 88). S. 9. 92 Ebd. S. 13 und S. 12. 93 Allein schon deshalb nicht, weil die Worte der fingierten Autorinstanz Alcofribas Nasier (eine Anagrammbildung aus François Rabelais) in den Mund gelegt werden. Zur Differenz zwischen dem realen Autor Rabelais und seinem fingierten Double sowie zum symposialen Charakter dieser Vorrede und ihren Allusionen auf Platon vgl. François Rigolot: “Service divin, service du vin”: L’équivoque dionysiaque. In: Bideaux (wie Anm. 75). S. 15–28. Hier: S. 15 und S. 26ff.
173 sinnbildlich für das semantische Rauschen des Textes, aus dem es erst einen verständigen Sinn herauszufiltern gilt. Genau diesen Rat erteilt nämlich – in einer Applikation des Silen-Topos auf den Text – die Vorrede selber: Der Leser soll “in einem höheren Sinn auslegen”, was er auch “bloß scherzweise und aus Übermut gesagt glaubet”, und nicht den gesamten Inhalt zu “lauter Narrenwerk” und “eitel übermütigen Schnurrpfeifereien” erklären.94 Solche Narreteien wie die vordergründige Zelebrierung des Trinkens und der Trunkenheit führen zum Anschein eines “seemlingy drunken text”,95 der damit gleichsam die Modalität des Rausche(n)s als mediale Hintergrundbedingung beim Sinnbildungsprozeß ins Bewußtsein ruft. Schließlich steckt, sofern man Marshall McLuhans These folgen will, hinter Rabelais’ Eloge auf den Wein nichts anderes als die Inauguration der neuen Medientechnik Buchdruck, zumal die Druckerpressen vormals mitunter aus Bestandteilen von Weinpressen montiert worden waren.96 Es verwundert daher wenig, daß sich im Französischen ivre nicht nur auf livre reimt, sondern gar als buchstäbliches Binnenelement darin enthalten ist. Als solches besitzt es eine ebensowohl bedeutungskonstitutive Funktion für das ganze Wort, wie es andererseits dessen Semantik aufstören und ins Rauschen bringen kann.
94
Rabelais (wie Anm. 88). S. 11 und S. 10. Andersen (wie Anm. 90). S. 23. 96 Vgl. Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters (1962). Übers. von Max Nänny. Bonn/Paris/Reading: Addison-Wesley 1995. S. 189f. 95
Eckhard Schumacher
Die Kunst der Trunkenheit. Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie This article focuses on a crucial moment in Franz Kafka’s story Ein Bericht für eine Akademie (1917), in which an ape falls into the state of drunkenness, breaks into human speech, and thus enters the human community. This strange episode, retrospectively told by the former ape, should be read not only as a satire on human nature. Within a single performative act, marked by the unstable state of drunkenness, it also juxtaposes the achievement of human speech, the mode of imitation, and the state of being an artist, thereby undermining some of the cultural dichotomies that constitute the dividing lines between nature and culture, animal and human being, as well as imitation and creativity. Thus, what at first sight seems to be an illustration of the origin of art and culture becomes readable as a cultural legend which, as an undecidable text, has to be read again and again.
Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie, 1917 in der Zeitschrift Der Jude als eine von Zwei Tiergeschichten veröffentlicht,1 gehört nicht zu den Texten, die sich der Auslegung versperren. Der Bericht des “gewesenen Affen” Rotpeter, der für eine nicht näher benannte Akademie seinen Übergang in die “Menschenwelt” rekonstruiert,2 ist, um nur einige Beispiele für einflußreiche Deutungen anzuführen, als Satire auf die Assimilation gelesen worden, als Bericht über den Verfall der Kulturmenschheit, als Problematisierung des Zivilisationsprozesses im Anschluß an Nietzsche und Freud, als Infragestellung des Begriffs der Freiheit, als Lebensrettungsgeschichte, als Künstlerparabel, als Geschichte eines Lernprozesses, als eine Geschichte, die auf ebenso grundlegende wie abgründige Weise die Frage nach dem Ursprung der Kultur und damit zugleich die Frage nach dem “Denken von Ursprung”, der “Herstellung von Individualität” und der “Funktion des kulturellen Gedächtnisses bei der Verknüpfung von Ursprungsdenken und Konzeptualisierung von Individualität in der Gesellschaft” aufwirft.3 Im folgenden soll nicht versucht werden, diesen Lesarten eine weitere hinzuzufügen. Es soll vielmehr nur ein Aspekt 1
Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie. In: Der Jude. Eine Monatsschrift. 2. Jg. (1917/18). S. 559–565. Der Text wird im folgenden nach der Fassung der Kritischen Ausgabe zitiert, die sich auf die Wiederveröffentlichung des Textes in dem 1920 publizierten Band Ein Landarzt stützt: Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt a.M.: Fischer 2002. S. 299–313. 2 Ebd. S. 300. 3 Gerhard Neumann: “Ein Bericht für eine Akademie”. Kafkas Theorie vom Ursprung der Kultur. In: Franz Kafka “Ein Landarzt”. Interpretationen. Hg. von Elmar Locher
176 hervorgehoben werden, in dem einige der vorliegenden Deutungsvorschläge und einige der Irritationen, die der Bericht auslösen kann, auf bemerkenswerte Weise aufeinandertreffen, der in seiner Komplexität aber gleichwohl – vielleicht gerade weil er an exponierter Stelle steht – gelegentlich übersehen wird. Der Übergang vom Affen zum Menschen, dargestellt nicht nur als möglicher “Ausweg” für den gefangenen Affen,4 sondern auch als Problematisierung der Differenz von Natur und Kultur, erscheint im nachträglichen Bericht als Ergebnis eines ausdauernden Unterrichts, in dessen Verlauf der Affe lernt, seinen “Lehrer”, einen dem Alkoholkonsum zugeneigten Zwischendeckpassagier, den er vom Käfig aus beobachtet, bis ins Detail nachzuahmen. “Es war so leicht, die Leute nachzuahmen”, rekonstruiert Rotpeter seine ersten Lernerfolge, die “meiste Mühe”, so die Einschränkung, bereitete ihm die “Schnapsflasche”. Aufgrund der spezifischen Konstellation auf dem “Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers”,5 mit dem der an der Goldküste gefangene Affe nach Hamburg gebracht wird, steht eben diese jedoch im Zentrum des Lernprozesses: Der Geruch peinigte mich; ich zwang mich mit allen Kräften; aber es vergingen Wochen, ehe ich mich überwand. Diese inneren Kämpfe nahmen die Leute merkwürdigerweise ernster als irgend etwas sonst an mir. Ich unterscheide die Leute auch in meiner Erinnerung nicht, aber da war einer, der kam immer wieder, allein oder mit Kameraden, bei Tag, bei Nacht, zu den verschiedensten Stunden; stellte sich mit der Flasche vor mich hin und gab mir Unterricht. Er begriff mich nicht, er wollte das Rätsel meines Seins lösen. Er entkorkte langsam die Flasche und blickte mich dann an, um zu prüfen, ob ich verstanden habe; ich gestehe, ich sah ihm immer mit wilder, mit überstürzter Aufmerksamkeit zu; einen solchen Menschenschüler findet kein Menschenlehrer auf dem ganzen Erdenrund; nachdem die Flasche entkorkt war, hob er sie zum Mund; ich mit meinen Blicken ihm nach bis in die Gurgel; er nickt, zufrieden mit mir, und setzt die Flasche an die Lippen; ich, entzückt von allmählicher Erkenntnis, kratze mich quietschend der Länge und Breite nach, wo es sich trifft; er freut sich, setzt die Flasche an und macht einen Schluck; ich, ungeduldig und verzweifelt, ihm nachzueifern, verunreinige mich in meinem Käfig, was wieder ihm große Genugtuung macht; und nun weit die Flasche von sich streckend und im Schwung sie wieder hinaufführend, trinkt er sie, übertrieben lehrhaft zurückgebeugt, mit einem Zuge leer. Ich, ermattet von allzugroßem Verlangen, kann nicht mehr folgen und hänge schwach am Gitter, während er den theoretischen Unterricht damit beendet, daß er sich den Bauch streicht und grinst.6
und Isolde Schiffermüller. Bozen: Edition Sturzflüge/Studien Verlag 2004. S. 275–293. Hier: S. 275. Eine kurze Skizze der Forschungsgeschichte, in der auch auf die hier zuvor stichpunktartig angeführten Lektüren von Max Brod, Heinz Politzer, Walter Sokel, Wilhelm Emrich, Günter Wöllner und Gerhard Neumann eingegangen wird, findet sich in Hans-Gerd Koch: “Ein Bericht für eine Akademie”. In: Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Hg. von Michael Müller. Stuttgart: Reclam 2003. S. 173–196. 4 Kafka (wie Anm. 1). S. 311. 5 Ebd. S. 308 und S. 302. 6 Ebd. S. 308f.
177 Die an den “theoretischen Unterricht” anschließende “praktische Übung”, für die Rotpeter, “entzückt von allmählicher Erkenntnis” und gekennzeichnet durch “allzugroße[s] Verlangen” und “überstürzte Aufmerksamkeit”, eine leere Flasche nutzt, führt nicht direkt zum erwünschten Ziel. Auch wenn das Heben der Flasche “vom Original schon kaum zu unterscheiden” ist, veranlaßt ihr Geruch ihn zunächst noch, sie “mit Abscheu, mit Abscheu” auf den Boden zu werfen. Der Sprung in die “Menschengemeinschaft”, vollzogen und markiert durch das Ausbrechen in “Menschenlaut”,7 gelingt erst in dem Moment, in dem der Affe das Trinkverhalten seines “Lehrers” nicht mehr nur mit einer leeren Flasche nachahmt, sondern sich durch das Leeren einer vollen Schnapsflasche in den Zustand der Trunkenheit versetzt und so, eher versehentlich denn vorsätzlich, den Modus der Nachahmung überschreitet: Was für ein Sieg dann allerdings für ihn wie für mich, als ich eines Abends vor großem Zuschauerkreis – vielleicht war ein Fest, ein Grammophon spielte, ein Offizier erging sich zwischen den Leuten – als ich an diesem Abend, gerade unbeachtet, eine vor meinem Käfig versehentlich stehen gelassene Schnapsflasche ergriff, unter steigender Aufmerksamkeit der Gesellschaft sie schulgerecht entkorkte, an den Mund setzte und ohne Zögern, ohne Mundverziehen, als Trinker vom Fach, mit rund gewälzten Augen, schwappender Kehle, wirklich und wahrhaftig leer trank; nicht mehr als Verzweifelter, sondern als Künstler die Flasche hinwarf; zwar vergaß den Bauch zu streichen; dafür aber, weil ich nicht anders konnte, weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten, kurz und gut “Hallo!” ausrief, in Menschenlaut ausbrach, mit diesem Ruf in die Menschengemeinschaft sprang und ihr Echo: “Hört nur, er spricht!” wie einen Kuß auf meinem ganzen schweißtriefenden Körper fühlte.8
Gerhard Neumann hat unterstrichen, wie hier der “Augenblick des Ursprungs von Kultur” als ein performativer Akt inszeniert wird, dessen Genese Rotpeter nacherzählt, um auf diese Weise “gewissermaßen rekursiv das unbegreifliche wie unerklärliche performative Ereignis seiner eigenen Menschwerdung” zu legitimieren.9 Rotpeter erschafft dieses Ereignis “allererst in einem Akt nachträglicher ‘Lesung’”, der Ursprung von Kultur, hier spezifiziert als Sprung in die Menschengemeinschaft, erscheint, wie Neumann schreibt, als “kulturelle Legende”.10 Als “gewesener Affe” weist Rotpeter selbst gleich zu Beginn seines Berichts sowohl auf die Notwendigkeit als auch auf den prekären Status einer solchen nachträglichen Konstruktion hin. Er betont, er könne das “damals affenmäßig Gefühlte heute nur mit Menschenworten nachzeichnen” und schon deshalb die “alte Affenwahrheit nicht mehr erreichen”, zudem hätten sich, berichtet Rotpeter, durch seinen Abstand vom “Affentum” und den bewußten “Verzicht auf jeden Eigensinn” seine “Erinnerungen” an den eigenen “Ursprung” 7
Ebd. S. 309f. Ebd. S. 310f. 9 Neumann (wie Anm. 3). S. 279f. 10 Ebd. 8
178 derart verschlossen, daß er für den von der Akademie erwünschten Bericht über sein “äffisches Vorleben” nunmehr auf “fremde Berichte angewiesen” sei.11 Mit diesem Hinweis wird nicht nur im Bericht dessen Form legitimiert, er lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf eines der Konstruktionsprinzipien des Textes, markiert eine Spur für die Lektüre von Kafkas Geschichte. Was auf den ersten Blick wie ein merkwürdiger, vergleichsweise unwahrscheinlicher Einzelfall erscheint, der im zitierten Akt eines durch den Zustand der Trunkenheit initiierten und durch die Performanz der Sprache vollzogenen Sprungs in die Menschengemeinschaft seinen Kulminationspunkt erreicht, erweist sich bei genauerer Lektüre als eine komplexe Verdichtung zeitgenössischer Diskurse und traditionsreicher Topoi. Die kulturelle Legende, die der Bericht präsentiert, verdankt sich auch insofern der Lektüre fremder Berichte, als Kafka sie zum Gegenstand einer Geschichte macht, indem er aktuelle und historische Diskussionen aufnimmt und in einen neuen Text überführt, in dem die Grenzen zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung ebenso brüchig erscheinen wie die zwischen Tier und Mensch. Wie sich dieser Text über die Verarbeitung von fremden Berichten konstituiert, die auch jene Passagen kennzeichnet, in denen Rotpeter versucht, auf seine “allmählich” einsetzende “eigene Erinnerung” zurückzugreifen,12 soll im folgenden im Blick auf die zitierten Passagen – und dabei auch im Blick auf die mit ihnen aufgeworfene Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen Trunkenheit und Sprache – verdeutlicht werden. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, daß Kafka für seine Geschichte Ein Bericht für eine Akademie auf eine Reihe von unterschiedlichen Quellen zurückgegriffen hat. Verweise auf literarische Bezugstexte wie E.T.A. Hoffmanns Nachricht von einem gebildeten jungen Mann (1814) und Wilhelm Hauffs Erzählung Der Affe als Mensch (1830) finden sich ebenso wie Spuren philosophischer und anthropologischer Debatten; Kafka nutzt Nachschlagewerke und populärwissenschaftliche Darstellungen, etwa Brehms Thierleben und Carl Hagenbecks Von Tieren und Menschen, ebenso wie tagesaktuelle Zeitungsartikel über Tierdressuren und Varietés.13 So ist es Anfang des 20. Jahrhunders schon insofern keineswegs ungewöhnlich, die Frage nach der Grenzziehung zwischen Mensch und Tier im Blick auf den Affen zu problematisieren, als dressierte, vermeintlich vermenschlichte Affen nicht nur eine große Attraktion auf den 11
Kafka (wie Anm. 1). S. 303 und S. 301. Ebd. S. 302. 13 Vgl. Patrick Bridgwater: Rotpeters Ahnherren, oder: Der gelehrte Affe in der deutschen Dichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982). S. 447–462; Hartmut Binder: Rotpeters Ahnen: “Ein Bericht für eine Akademie”. In: Binder: Kafka. Der Schaffensprozeß. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. S. 271–305; Walter Bauer-Wabnegg: Monster und Maschinen, Artisten und Technik in Franz Kafkas Werk. In: Franz Kafka: Schriftverkehr. Hg. von Wolf Kittler und Gerhard Neumann. Freiburg i.Br.: Rombach 1990. S. 316–383 (zu Ein Bericht für eine Akademie vgl. besonders S. 350–368). 12
179 Varietébühnen sind,14 sondern auch zu einem beliebten Gegenstand der Trivialliteratur und der Berichterstattung in Zeitungen und illustrierten Zeitschriften werden. Kafka verwendet Versatzstücke aus diesen Quellen für die Konstruktion der “kulturellen Legende” seines Berichts,15 indem er sie mit der traditionellen, auch in der Literaturgeschichte vielfach belegten Situierung des Affen im Verhältnis von Tier und Mensch kurzschließt. Im Unterschied zum Hund, der traditionell als “untrüglicher Legitimator menschlicher Identität”, als “Bewahrheiter des menschlichen Selbst” figuriert, stellt der Affe die Grenze, über die sich der Mensch als Mensch konstituiert, prinzipiell in Frage: “Der Affe ist der Inszenator menschlicher Identitätsdiffusion, der Figurant der Ununterscheidbarkeit von Maske und Spiegel, Beglaubigung und Dissimulation”.16 Die im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vielfach verbreiteten Darstellungen des Affen als Symbol für den Teufel, als Projektionsfläche für menschliche Laster und Sünden oder als Zerrbild des Künstlers können diese Lesart ebenso bestätigen wie das Motiv des gelehrten Affen, das sich bis in die Antike zurückverfolgen läßt.17 In seiner Thematisierung des Prinzips der Nachahmung adressiert Kafka diese Tradition jedoch nicht nur als historisch abgelagerten, leicht verfügbaren Topos. Durch die Konzentration auf das Differenzkriterium der Sprache, das als Ausdruck menschlichen Bewußtseins begriffen wird und so nicht nur zur Markierung der Grenze zwischen Tier und Mensch, sondern auch zur Unterscheidung von reproduzierender Nachahmung und produktiver Reflexion genutzt wird, verweist er zugleich auf Diskussionen, die schon um 1800 virulent waren,18 aber Ende des 19., Anfang 14
Kafka hat vermutlich im September 1910 eine Vorstellung Hagenbecks in Prag besucht, bei der unter anderem Dressurkunststücke des Menschenaffen Lord Robinson zu sehen waren, laut Prager Tagblatt “ein würdiger Nachfolger Konsul Peters”, eines dressierten Menschenaffen, der einige Jahre zuvor in Prag zu sehen gewesen war (vgl. Binder [wie Anm. 13]. S. 293ff.); auf Konsul Peter könnte das im Bericht erwähnte “unlängst krepierte, hie und da bekannte, dressierte Affentier Peter” verweisen (vgl. Kafka [wie Anm. 1]. S. 301). 15 Walter Bauer-Wabnegg hat gezeigt, daß der Artikel Consul, der viel Bewunderte. Aus dem Tagebuch eines Künstlers, erschienen am 1.4.1917 in der Jugendbeilage des Prager Tagblatts, einer der Texte ist, die Kafka in seiner Erzählung verarbeitet; vgl. Bauer-Wabnegg (wie Anm. 13). S. 354ff.; weitere Hinweise finden sich in Binder (wie Anm. 13). S. 293–305. 16 Gerhard Neumann: Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996). S. 87–122. Hier: S. 99 und S. 109. 17 Die Relativität der Relationierung und damit das Problem der Unterscheidung von Mensch und Affe führt schon Heraklit vor Augen: “Der schönste Affe ist scheußlich im Vergleich zum Menschen. / Der weiseste Mensch erscheint neben Gott wie ein Affe an Weisheit, Schönheit und in allem sonst” (Heraklit: Fragmente. Griech. und dt. Hg. von Bruno Snell. Zürich: Artemis & Winkler 1995. S. 27). 18 Vgl. dazu Bridgwater (wie Anm. 13). S. 449f.
180 des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Evolutionstheorie erneut die wissenschaftlichen Debatten prägen konnten. “Wenn ein anthropomorpher Affe leidenschaftslos seinen eigenen Zustand beurtheilen könnte, so würde er zugeben”, vermutet Charles Darwin in einer beinahe an Kafkas Text erinnernden Reflexion, daß ihm die “Idee, bestimmte Gedanken durch bestimmte Laute auszudrücken, niemals in den Sinn gekommen sei”.19 Für Darwin ist die bewußte Verwendung von Verbalsprache ein klares Kriterium der Differenz zwischen Affe und Mensch. Wenn er jedoch betont, daß die “Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Thieren” dennoch “sicher nur eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art” sei,20 zeichnet sich die Richtung, in die sich einige der an Darwin anschließenden Theoretiker in der Folgezeit bewegen, bereits ab. So betont etwa Ernst Haeckel in seinem 1899 erschienenen Buch Die Welträtsel, das Kafka ebenso kannte wie die Thesen Darwins, daß die “Lautsprache der Affen, physiologisch verglichen, als Vorstufe zu der artikulierten menschlichen Sprache erscheint”, und weist zudem darauf hin, daß die “Sprache des Menschen nur dem Grade der Entwicklung nach, nicht dem Wesen und der Art nach von derjenigen der höheren Tiere verschieden” sei.21 Wenn Haeckel annimmt, es müsse zwischen Affe und Mensch ein Zwischenwesen, einen noch sprachlosen Affenmenschen gegeben haben,22 kann er sich ebenso auf neuere Untersuchungen aus der Sprachwissenschaft,23 der Psychologie und der Verhaltensforschung stützen wie jene Forscher, die nachzuweisen versuchen, daß Menschenaffen die menschliche Sprache erlernen können. In seinen Beiträgen zur Tierseelenkunde, 1912 unter dem Titel Denkende Tiere veröffentlicht, berichtet Karl Krall von einer Reihe von Versuchsanordnungen, in denen diese Annahme – und mit ihr die Frage nach der “Umwandlung der höheren Affen in Menschen” – experimentell überprüft werden sollte.24 Krall schreibt, daß “die Ähnlichkeit der Bauart und der Verrichtungen beim Affen […] eine so große” ist, daß er nicht daran zweifle, 19
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Bd. 1. Übers. von J. Victor Carus. Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung 1875. S. 162f. 20 Ebd. S. 163. 21 Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien. In: Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Bd. 3. Hg. von Heinrich Schmidt-Jena. Leipzig/Berlin: Kröner/Henschel o.J. S. 58 und S. 135. 22 Der “sprachlose Affenmensch”, benannt “Pithecanthropus alalus”, erscheint bei Haeckel als letzte Stufe vor dem “sprechenden Menschen” (ebd. S. 91). 23 Zur Problematisierung des Differenzkriteriums Sprache um 1900 in den Studien von Ernst Haeckel, Hermann Steinthal und anderen vgl. Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Übers. von Davide Giurato. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 24 Karl Krall: Denkende Tiere. Beiträge zur Tierseelenkunde auf Grund eigener Versuche. Leipzig: Engelmann 1912.
181 daß man dieses Tier durch große Übung dahin bringen könnte, zu sprechen und dann die Sprache zu verstehen. Das würde dann kein wilder Mensch und kein mißglückter Mensch sein, sondern das wäre ein vollkommener Mensch, ein kleiner Stadtmensch, der soviel Material oder soviel Muskulatur besäße wie wir selbst, um zu denken und aus seiner Erziehung Vorteile zu ziehen.25
Auch wenn seine Experimente die These, Affen könnten die menschliche Sprache durch “große Übung” erlernen und verstehen, letztlich ebenso wenig überzeugend bestätigen können wie die Bemühungen anderer Forscher, läßt Krall sie stehen: “Sollte es durchaus unmöglich sein, dieses Tier eine Sprache zu lehren? Ich glaube nicht”.26 Kafka nimmt, zumindest implizit, diese Debatten auf, indem er den Übergang zur Sprache, den er als entscheidenden Moment des Eindringens in die Menschenwelt darstellt, im Rückblick des gewesenen, nunmehr sprechenden Affen als einen Prozeß der Akkulturation entfaltet, der das Prinzip der Nachahmung mit den Verfahren der genauen Beobachtung und des “rücksichtslosen” Lernens verknüpft.27 Durch “große Übung” im Sinne Kralls erlernt Rotpeter das, was sich seinem Bericht zufolge als “Anfangsgründe des menschlichen Verhaltens” darstellt,28 das Spucken, das Rauchen und schließlich, mit Mühe, das Trinken aus der Schnapsflasche. Die Stationen dieses Lernprozesses, vorbestimmt durch die Nachahmung der unmittelbaren Umwelt auf dem Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers, sein Hinweis, er hätte “den Unterschied zwischen der leeren und der gestopften Pfeife” lange nicht verstanden, und die Annahme, die Trinkrituale der Zwischendeckpassagiere seien ein an ihn adressierter “theoretischer Unterricht”,29 legen allerdings nahe, daß seine Bemühungen zunächst kaum über eine äußerliche Form der Nachahmung hinausreichen. Die erwähnten Etappen der Erfolgsgeschichte markieren – ironisch oder nicht – nur insofern die ersten Schritte auf dem Weg in die Menschengemeinschaft, als sie zugleich die Differenz zwischen Tier und Mensch als Differenz von Lernen und Verstehen bzw. von Nachahmen und
25
Ebd. S. 226. Ebd. S. 224. Krall verweist u.a. auf die Arbeit von “Professor Witmer”, der an der psychologischen Klinik in Philadelphia “mit der Erziehung eines jungen Schimpansen namens Peter” beschäftigt sei, und auf die Versuche von Richard Lynch Garner, der nach seinen Studien zur Sprache der Affen sich auch bemüht habe, “ihnen die menschliche Sprache beizubringen” (ebd. S. 228ff.; vgl. R[ichard] L[ynch] Garner: Die Sprache der Affen. Übers. von William Marshall. Leipzig: H. Seemann Nachf. 1900). 27 Kafka (wie Anm. 1). S. 308 und S. 311. 28 Ritchie Robertson: Kafka. Judentum Gesellschaft Literatur. Übers. von Josef Billen. Stuttgart: Metzler 1988. S. 222. 29 Kafka (wie Anm. 1). S. 308f. 26
182 Nachdenken hervorheben und den Affen in jene Tradition einschreiben, in der er als “Zeichen mißlingender Imitatio” figuriert.30 So erscheint es im gegebenen Zusammenhang nur konsequent, daß der Kampf gegen die “Affennatur”, der sich retrospektiv als zielgerichtete Suche nach einem “Ausweg” darstellt,31 zwar mit der Strategie der Nachahmung operiert, aber erst in dem Moment gelingt, in dem der Modus der Nachahmung überschritten wird. Der Sprung in die Menschengemeinschaft vollzieht sich dabei jedoch nicht als eine bewußte Überwindung der Nachahmung “ohne Beurtheilungskraft”, für die der Affe als Figur steht,32 und die Sprache erscheint auch nicht, wie in den skizzierten Diskussionen um 1900 üblich, als jener Ausdruck von Bewußtsein, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Der Affe bricht vielmehr in dem Moment in “Menschenlaut” aus, in dem das, was gegebenenfalls als Bewußtsein zu begreifen wäre, aussetzt. Die menschliche Sprache, hier identifiziert und repräsentiert durch den Ausruf “Hallo!”,33 erscheint nur insofern als Konsequenz von Nachahmung und Übung, als Rotpeter eine für ihn nicht vorhersehbare und nicht mehr kontrollierbare Folge der Nachahmung am eigenen Leib erfährt. Er wird, als gelehriger Schüler theoretisch längst ein “Trinker vom Fach”, aber praktisch gleichwohl noch weitgehend unerfahren, von seinem ersten Alkoholrausch überwältigt und beginnt in eben diesem Moment zu sprechen – “weil ich nicht anders konnte, weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten”.34 Die Komik, die diese Szene bestimmt, beschränkt sich nicht darauf, daß sich Rotpeters Eintritt in die “Menschengemeinschaft” letztlich nicht dem theoretischen Unterricht und der praktischen Übung, sondern seinem ersten 30
Vgl. dazu, im Rückgriff auf Ernst Robert Curtius, Gerhard Neumann: “Ein Bericht für eine Akademie”. Erwägungen zum “Mimesis”-Charakter Kafkascher Texte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975). S. 166–183. Hier: S. 172. 31 Kafka (wie Anm. 1). S. 311. 32 “Person, welche ohne Beurtheilungskraft nachahmet”, lautet bei Adelung eine der figürlichen Bedeutungen unter dem Stichwort ‘Der Affe’ (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Erster Theil, von A-E. Leipzig: Breitkopf und Compagnie 1793. S. 173). 33 Ausgehend von der Beobachtung, daß sich der Ausruf “Hallo!” im Bericht vor dem Hintergrund eines spielenden “Grammophons” vollzieht (ebd. S. 310), lassen sich gerade im Blick auf die Frage nach Form und Funktion der Nachahmung weitere mögliche Kontexte entdecken, die Kafka für seinen Text genutzt hat: “Hulloo!” lautete das erste Wort, das Edison 1877 seinen Phonographen wiedergeben ließ (vgl. dazu Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986. S. 37ff. und S. 383f.). 1878 stellte Edison den Phonographen der Pariser Akademie der Wissenschaften vor und ließ dafür den Apparat eine Rede halten, die mit folgender Grußformel begann: “Der Phonograph begrüßt die Herren Mitglieder der Akademie der Wissenschaften” (vgl. dazu Bauer-Wabnegg [wie Anm. 13]. S. 364ff.). 34 Kafka (wie Anm. 1). S. 311.
183 Rausch und damit dem Zustand der Trunkenheit verdankt. Denn Kafka ironisiert hier nicht nur die Bemühungen jener Forscher, die glauben, Affen könnten durch Übung lernen, die menschliche Sprache zu sprechen und zu verstehen, um so aus ihrer Erziehung Vorteile zu ziehen. Mit dem Motiv der Trunkenheit adressiert er zugleich auch weitere Kontexte, überlagert die Szene durch andere Bilder und Referentialisierungsangebote, die nicht zuletzt auch die Frage der Grenzziehung zwischen Tier und Mensch nochmals neu aufwerfen. So wie das Bild des Affen als Symbolisierung des Prinzips unreflektierter Nachahmung in einer langen Tradition steht, läßt sich auch schnell eine Reihe von Belegen finden, in denen der Affe als Sinnbild für Trunkenheit figuriert. Davon zeugen nicht nur zahlreiche trinkende und betrunkene Affen in Kunst und Literatur, sei es in der flämischen Malerei bei David Teniers d.J. oder in Wilhelm Buschs Bilderbogen Der Affe und der Schusterjunge,35 sondern auch die seit dem frühen 19. Jahrhundert gebräuchliche Redensart ‘einen Affen sitzen haben’ und die Tatsache, daß das Wort ‘Affe’ in vielen Sprachen sowohl das Tier als auch, umgangssprachlich, den Rausch bezeichnet. Nicht in jedem Fall ist dabei eindeutig auszumachen, ob sich die Verbindung von Rausch und Affe allein der Übertragung von vermeintlich menschlich-zivilisierten Eigenheiten und Zuständen auf das Tier verdankt oder ob der Affe gerade deshalb herangezogen wird, weil er auch selbst – gleichsam von Natur aus – dem Alkohol nicht abgeneigt erscheint. Auch einige der Bücher, die das Bild des trinkenden Affen in der Zeit um 1900 weitreichend popularisiert haben, werfen die Frage auf, ob der Genuß von Alkohol und der Zustand der Trunkenheit möglicherweise eher verbindende Merkmale der Ähnlichkeit denn Markierungen von Differenz zwischen Affen und Menschen sein könnten. So finden sich in Brehms Thierleben und in Hagenbecks Von Tieren und Menschen, die beide deutliche Spuren in Kafkas Geschichte hinterlassen haben, ebenso ausführliche Einlassungen auf die Trinkgewohnheiten von Menschenaffen wie in den von Alfred Edmund Brehms Bruder Reinhold zusammen mit Th. F. Zimmermann veröffentlichten Bildern und Skizzen aus der Thierwelt im Zoologischen Garten zu Hamburg. “In ganz Afrika gilt es als bekannte Sache, daß die Paviane leidenschaftlich gern geistige Getränke zu sich nehmen und in ihnen sich leicht berauschen. Man setzt ihnen also einfach Töpfe mit derartigen Flüssigkeiten vor, und wenn hernach die Affen vollkommen trunken geworden sind, bemächtigt man sich ihrer”, erläutert Brehms Thierleben eine im 19. Jahrhundert gängige Methode, Paviane zu fangen.36 Aus dieser Perspektive erscheint es, zumindest im gegebenen 35
Wilhelm Busch: Der Affe und der Schusterjunge. München: Braun und Schneider 1870 (Münchener Bilderbogen 367). 36 Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs. Erster Band. Erste Abtheilung: Säugethiere. Erster Band: Affen und Halbaffen, Flatterthiere, Raubthiere. Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage. Kolorirte Ausgabe. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts 1883. S. 147.
184 Zusammenhang, durchaus fraglich, inwiefern der von Rotpeter gewählte Ausweg tatsächlich ein Ausweg ist. In den verschiedenen Schilderungen von alkoholaffinen Menschenaffen, die Brehms Thierleben präsentiert, ist jedoch keineswegs immer eindeutig zu entscheiden, wer sich im jeweiligen Fall wem anpaßt. “Getränke theilten sie mit den Menschen, Branntwein und Wein mundeten ihnen vortrefflich. Während der Ueberfahrt wußten sie dem Schiffjungen durch Zeichen ihre Wünsche auszudrücken”, übernimmt Reinhold Brehm eine weitere jener Schilderungen aus Brehms Thierleben, die Kafka vermutlich nicht unbekannt waren.37 Die Skizze eines Schimpansen, die den Text illustriert und als einzige
Abb. 1. Der Schimpanse (Pseudanthropos Troglodytes). In: Brehm und Zimmermann (wie Anm. 37). S. 120. 37
Dr. Brehm [⫽ Reinhold Brehm] und Th. F. Zimmermann: Bilder und Skizzen aus der Thierwelt im Zoologischen Garten zu Hamburg. Hamburg: Lührsen 1865. S. 121. Die gleiche Beschreibung findet sich – ohne Zimmermanns Skizze – auch in Brehms Thierleben (wie Anm. 36). S. 72.
185 Skizze eines Schimpansen eben diesen allgemeingültig repräsentiert, nimmt diese Gewohnheit auf und zeichnet das Bild des trinkenden Pseudanthropos Troglodytes “n[ach] d[em] Leben” (Abb. 1). Gut vierzig Jahre später berichtet auch Carl Hagenbeck in Von Tieren und Menschen im Kapitel “Menschenaffen” ausführlich über deren Trinkgewohnheiten und nutzt als Illustration ebenfalls das Bild eines trinkenden Affen,38 nun jedoch im Medium der Photographie:
Abb. 2. Diogenes. In: Hagenbeck (wie Anm. 38). S. 425.
38
Carl Hagenbeck: Menschenaffen. In: Hagenbeck: Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen. Mit 47 ganzseitigen Illustrationen und 101 Abbildungen im Text. Berlin: Vita Deutsches Verlagshaus 1908. S. 422–437.
186 Schon die angeführten Bilder und Schilderungen legen die Annahme nahe, daß Kafka die Bücher von Brehm und Hagenbeck für seine Geschichte Ein Bericht für eine Akademie genutzt hat.39 Auf welche Weise Kafka dabei vorgefundene Konstellationen nicht nur übernimmt und ausbuchstabiert, sondern gelegentlich auch umkehrt, verschiebt oder auf andere Weise in neue Zusammenhänge überführt, läßt sich besonders deutlich an einer Passage aus Brehms Thierleben erkennen, die sich mit einem Orang-Utan namens Bobi befaßt. Mit der Bemerkung: “Geistige Getränke liebte er sehr und erhielt deshalb mittags stets sein Glas Wein”, wird Bobi in die offensichtlich lange Reihe jener Menschenaffen eingefügt, die schon auf der Überfahrt durch eine ausgeprägte Vorliebe für Alkohol auffallen.40 Aber auch wenn sich Bobi in dieser und weiteren Hinsichten deutlich von Kafkas Rotpeter unterscheidet, ist angesichts der folgenden Schilderung kaum zu übersehen, daß Kafka sie in seiner Geschichte verarbeitet: Leider machte ein unangenehmer Zufall dem Leben des schönen Thieres ein Ende, noch ehe es Deutschland erreichte. Bobi hatte von seiner Lagerstätte aus den Kellner des Schiffes beobachtet, während dieser Rumflaschen umpackte, und dabei bemerkt, daß der Mann einige Flaschen bis auf weiteres liegen ließ. Es war zu der Zeit, als er sich schon um zwei Uhr nachmittags zu Bette legte. In der Nacht vernahm sein Herr ein Geräusch in der Kajüte, als wenn Jemand mit Flaschen klappere, und sah beim Schimmer der auf dem Tische brennenden Nachtlampe wirklich eine Gestalt an dem Weinlager beschäftigt. Zu seinem Erstaunen entdeckte er in dieser seinen Orang-Utan. Bobi hatte eine bereits fast ganz geleerte Rumflasche vor dem Munde. Vor ihm lagen sämmtliche leere Flaschen behutsam in Stroh gewickelt, die endlich gefundene volle hatte er auf geschickte Weise entkorkt und seinem Verlangen nach geistigen Getränken völlig Genüge leisten können. Etwa zehn Minuten nach diesem Vorgange wurde Bobi plötzlich lebendig. Er sprang auf Stühle und Tische, machte die lächerlichsten Bewegungen und geberdete sich mit steigender Lebhaftigkeit, wie ein betrunkener und zuletzt wie ein wahnsinniger Mensch. Es war unmöglich, ihn zu bändigen. Sein Zustand hielt ungefähr eine Viertelstunde an, dann fiel er zu Boden; es trat ihm Schaum vor den Mund, und er lag steif und regungslos. Nach einigen Stunden kam er wieder zu sich, fiel aber in ein heftiges Nervenfieber, welches seinem Leben ein Ziel setzen sollte.41
Wie im Fall von Rotpeter gelangt auch Bobi durch einen Zufall, dessen Zufälligkeit durch die explizit hervorgehobene genaue Beobachtung auf Seiten des Affen jedoch zugleich in Frage gestellt wird, an eine Schnapsflasche, die er “auf geschickte Weise entkorkt” und “fast ganz” leert. Der auf diese Weise herbeigeführte Zustand der Trunkenheit treibt auch Bobi an und läßt ihn Sprünge 39
Vgl. dazu u.a. Binder (wie Anm. 13). S. 295ff. und Paul Heller: Franz Kafka. Wissenschaft und Wissenschaftskritik. Tübingen: Stauffenburg 1989. S. 112–116. 40 Brehms Thierleben (wie Anm. 36). S. 92. 41 Ebd. S. 92f.
187 vollziehen, jedoch mit anderen Folgen. Während der Rausch bei Bobi in kurzer Zeit, wie es bei Brehm heißt, seinem Leben ein Ziel setzt, markiert er in Kafkas Erzählung den erfolgreichen Übergang in die Menschenwelt, einen neuen Anfang, durch den sich der gesuchte Ausweg eröffnet. Die Trunkenheit, die den Affen Bobi für kurze Zeit wie einen Menschen erscheinen läßt, wenn auch wie einen betrunkenen und zuletzt wahnsinnigen Menschen, dann aber sogleich sein Ende bedeutet, figuriert bei Kafka gleich auf mehrfache Weise als ein Anfang, der sich auch als ein Ursprung von Kultur lesen läßt: Sie ermöglicht, folgt man dem Text, nicht nur den Sprung in die Menschengemeinschaft, sondern markiert zugleich den Übergang vom nachahmenden Affen zum inspirierten Künstler. Auch wenn Kafka das Konzept des Künstlers nur beiläufig einzuführen scheint, eröffnet es gerade im Blick auf die Thematisierung von Trunkenheit und Nachahmung weitreichende Bezüge, die der Text nicht nur über indirekte Anspielungen adressiert, sondern explizit ausspielt, indem er sie beim Wort nimmt. Wenn Rotpeter die geleerte Flasche “als Künstler” hinwirft,42 tut er dies als technisch versierter wie auch als buchstäblich inspirierter “Trinker vom Fach” – der ‘gelungene Wurf’ verweist nicht nur auf die Kunstfertigkeit des Künstlers, sondern bezeichnet seit dem 18. Jahrhundert auch den “dichterischen schaffensvorgang”, die künstlerische Produktion “im banne schöpferischer inspiration”.43 Fast beiläufig koppelt Kafka den Vorgang des Schnapstrinkens so mit Vorstellungen künstlerischer Kreativität, die im gegebenen Zusammenhang einmal mehr die Möglichkeit der Grenzziehung zwischen Tier und Mensch in Frage stellen und den Text zugleich für die Ende des 19. Jahrhunderts verhandelten Verknüpfungen zwischen Genie, Inspiration und Wahnsinn öffnen, in denen – wie etwa bei Schopenhauer und Nietzsche44 – die Unterscheidung von Nüchternheit und Trunkenheit eine ähnlich wichtige Rolle spielt wie die Opposition von mechanischer Nachahmung und schöpferischer Originalität. Indem Kafka das Konzept der Inspiration insofern beim Wort nimmt, als er dem Schnaps, der Rotpeter die Sinne rauschen läßt, die Qualität eines kreativitätsauslösenden Spiritus zuschreibt, konterkariert er jedoch nicht nur die scheinbar geistlosen Trinkrituale auf dem Zwischendeck; “als Künstler” eröffnet sich dem Affen zugleich ein weiterer Ausweg. Der “Ausbruch aus der Kreatürlichkeit der Kreatur in die Kreativität der Kunst”, den Rotpeter hier vollzieht,45 erscheint indes keineswegs 42
Kafka (wie Anm. 1). S. 310. Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig: Hirzel 1854–1960. Bd. 30 (1960). Sp. 2141 und Sp. 2150. 44 Vgl. dazu Thomas Göller: Unsagbares und literarische Sprachwerdung. Franz Kafkas “Ein Bericht für eine Akademie” als poetischer Text und poetologische Textreflexion. In: Göller: Sprache, Literatur, kultureller Kontext. Studien zur Kulturwissenschaft und Literaturästhetik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. S. 36–86. 45 Ebd. S. 55. 43
188 ungebrochen. Zum einen markieren, wie im Fall von Brehms Orang-Utan Bobi, die “rund gewälzten Augen” und die rauschenden Sinne Rotpeters zugleich die Nähe von Trunkenheit und Wahnsinn, zum anderen fällt es schwer, Kafkas Annäherung an das, was Nietzsche das “Wesen des Dionysischen” nennt,46 nicht auch als ironisch-parodistische Verzerrung zu lesen. Das “Wesen des Dionysischen” erscheint bei Nietzsche als ein Zustand der “Verzauberung”, der uns “am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht” werde, etwa durch den “Einfluss des narkotischen Getränkes”. Unter dem “Zauber des Dionysischen”, schreibt Nietzsche weiter, “schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen”.47 So verliert die Grenze zwischen Mensch und Tier ebenso ihre Konturen wie die zwischen Natur und Kultur. Während die “dionysische Trunkenheit” einen Zustand schafft, in dem “jetzt die Thiere reden”, hat der Mensch, der sich singend und tanzend “als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit” äußert, “das Gehen und das Sprechen verlernt” und agiert nicht mehr als “Künstler”, sondern – “etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung” – ist selbst “Kunstwerk geworden”.48 Auch wenn es bloß bedingt gelingt, aus dem Bericht für eine Akademie jene Form einer “Inspirationspoetik” herauszulesen, die Kafka selbst zugeschrieben wurde,49 macht es nur wenig Mühe, Spuren von Nietzsches Auslassungen über die dionysische Trunkenheit in Kafkas Bericht zu identifizieren. Bei aller Nähe ist aber der Abstand zwischen Kafka und Nietzsche kaum zu übersehen: Das “Trinken vom Fach” ist, selbst wenn es für Momente so erscheinen mag, kein dionysisches Saufen,50 und Rotpeters trunkener Ausruf “Hallo!” ist kaum als das zu qualifizieren, was Nietzsche als “dionysischen Dithyrambus” beschreibt.51 Dennoch kann der Vergleich die Aufmerksamkeit auf einen wichtigen Aspekt lenken, den man leicht übersieht, versteht man die Anspielungen auf Nietzsche bei Kafka als bloße Parodie. Wie bei Nietzsche verschwimmen auch bei Kafka die Grenzen der kulturell verbürgten Dichotomien, mit denen der Mensch die Grenzen zwischen Natur und Kultur oder zwischen Tier und 46
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Versuch einer Selbstkritik (1871/1886). In: Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1999. Bd. 1. S. 9–156. Hier: S. 28. 47 Ebd. S. 29. 48 Ebd. S. 30ff. 49 Vgl. dazu Walter Sokel: Zur Sprachauffassung und Poetik Franz Kafkas. In: Franz Kafka. Themen und Probleme. Hg. von Claude David. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980. S. 26–47. 50 Vgl. dazu auch Detlef Kremer: Kafka. Die Erotik des Schreibens. Schreiben als Lebensentzug. Frankfurt a.M.: Athenäum 1989. S. 52. 51 Nietzsche (wie Anm. 46). S. 33; vgl. dazu Göller (wie Anm. 44). S. 56.
189 Mensch zu fixieren versucht. Kafka verstärkt diese Unterminierung von kulturellen Dichotomien nicht zuletzt dadurch, daß er unterschiedliche Diskurse und Lesarten so ineinander fügt, daß sich Interferenzen ergeben, die sich eindeutigen Lesarten nahezu systematisch entziehen. Im instabilen Zustand der Trunkenheit, den Kafka nicht symbolisch auflädt, sondern als unhintergehbares performatives Moment im Text produktiv macht, treffen diese Lesarten auf irritierende Weise aufeinander. Das Terrain, von dem aus Rotpeter der Sprung in die Menschengemeinschaft gelingt, erscheint ebenso ungesichert wie jener Ausweg, der sich im Sinn einer kulturellen Legende nachträglich als erfülltes Versprechen lesen läßt.52 Ob die menschliche Sprache als Ausdruck von Bewußtsein ein verläßliches Kriterium der Grenze zwischen Tier und Mensch darstellen kann, erscheint dabei ebenso fraglich wie die Möglichkeit, in diesem Zusammenhang den Ursprung und den Ort der Kunst zu bestimmen – aus der Perspektive des Künstlers erscheint sie gleichermaßen als Ergebnis eines Lernprozesses, als Effekt von Inspiration und als Abfallprodukt der Trunkenheit. Genau diese Unentscheidbarkeit stellt der Text aus. Der “gewesene Affe”, der als Kunstwerk und als Künstler, “die Weinflasche auf dem Tisch”,53 wie ein Vertreter jener Menschenaffen erscheint, mit denen Brehm und Hagenbeck ihre Darstellungen illustrieren, präsentiert das Projekt einer Ethnologie einer Kultur, die einerseits merkwürdig vertraut wirkt, andererseits unendlich fremd erscheint und selbst in der weitreichenden Annäherung – Rotpeter weist darauf hin, er habe mit dem Führer der Jagdexpedition, die ihn gefangen hat, “seither schon manche gute Flasche Rotwein geleert”54 – fremd bleibt:
52 “Niemand versprach mir, daß, wenn ich so wie sie werden würde, das Gitter aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben. Löst man aber die Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich auch die Versprechungen genau dort, wo man sie früher vergeblich gesucht hat” (Kafka [wie Anm. 1]. S. 307). 53 Ebd. S. 313. 54 Ebd. S. 301.
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Abb. 3. Kellner, zahlen! In: Hagenbeck (wie Anm. 38). S. 426.
V LIEBESTRUNKENHEITEN
Mireille Schnyder
Die Angst vor der Ernüchterung. Liebestrunkenheit zwischen Magie und Rhetorik in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône In this essay the problem of integrating the ecstatic moment of love into a social discourse and, more importantly, of transforming it into a narrative is paradigmatically exemplified by the paradox of the ‘fulfilled courtly love’ (‘erfüllte Hohe Minne’) between Gawein and Amurfina in Heinrich’s von dem Türlin courtly epic Diu Crône. The narrative representation reflects upon this problem by placing it within the divergent contexts of a magical love potion and a sober drunkenness generated by signs. Tristran muose sunder sînen danc staete sîn der küneginne, wan in daz poisûn dar zuo twanc mêre danne diu kraft der minne. Des sol mir diu guote sagen danc, wizzen, daz ich sölhen tranc nie genam und ich sî doch minne baz danne er, und mac daz sîn. wol getâne, valsches âne, lâ mich wesen dîn unde wis dû mîn.
Tristan mußte unfreiwillig seiner Königin treu sein, denn ihn zwang das Gift dazu mehr als die Macht der Minne. Deshalb soll mir die Gute dankbar sein und wissen, daß ich nie einen solchen Trank zu mir nahm und ich sie doch liebe, mehr als jener, wenn das möglich ist. Schöne, Reine, laß mich dein sein und sei du mein.1
Das Liebesbegehren zielt auf den einen Moment der Erlösung im sexuellen Akt, als Erfüllung, als Stillstand und kleine Ewigkeit, in der sich Liebe, Tod und Wahnsinn, als Verschmelzung mit dem Du, Verlust des im Weltzusammenhang verorteten Ichs und Zerstörung der rationalen Sinnfügungen, übereinanderlegen. Die Ekstase, auch die sexuelle, kennt die Zeit nicht, ist selber aber zeitlich. Sie ist ein Zustand, der aus einem Kontext der Ordnungen und Wertungen, der Strukturiertheit und Erzählbarkeit heraustritt, den Augenblick ins Immer überhöht, im Horizont der Zeitlichkeit aber auch die Grenze als Abgrenzung, den Rahmen als Heraushebung braucht. Die grenzenlose Ekstase gibt es nicht. Und doch ist genau sie das, was im Liebesdiskurs seit jeher als Utopie gesucht und immer wieder behauptet wird. Die Liebesrhetorik ist in ihrer höchsten Emphase eine Rhetorik der Augenblicksverstetigung, einer Zeitaufhebung im Sinne einer Inklusion der Zeit in den einen, gegenwärtigen Augenblick. Immer 1
Heinrich von Veldeke (MF 58,35). In: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgabe von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus. Bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Stuttgart: Hirzel 1988. S. 108.
194 neu wird mit den Mitteln der Beteuerung und der ritualisierten Aussage die Fragilität dieser als Ende der Zeit (Tod), als Fülle der Zeit (Verschmelzung mit dem Du) und Auflösung der Zeit (Wahnsinn) erlebten ‘Ewigkeit’ zu überspielen und verdecken versucht. In der Literatur des Mittelalters wird dieses Grundproblem weltlicher Liebe immer wieder reflektiert. Dabei sind es die im oben zitierten Lied von Heinrich von Veldeke gegeneinander geführten Felder, auf denen diese Thematik behandelt wird: die Minne-Magie, die rhetorisch beteuerte Minne, das ritualisiertfloskelhafte Minne-Versprechen.2 Das Konzept der Hohen Minne, wie es weite Teile der höfischen Literatur des Mittelalters bestimmt, sieht als Kern der Liebe das Begehren, das sich über die Imagination des erfüllenden Augenblicks konstituiert. Dabei ergibt sich das grundlegende Problem, daß das in diesem Konzept gesetzte imaginäre Erfüllungsziel da, wo es sich ereignet, nicht nur die Hohe Minne zerstört oder zumindest bedroht, sondern mit ihr die ganze (höfische) Welt. Denn wenn dieser imaginierte Punkt, als Endpunkt eines erotischen Denkens, zum erlebten Augenblick und damit zum Anfang eines Handelns wird, löst sich nicht nur die Begehrensspannung auf, sondern die Implosion sämtlicher Ordnungsstrukturen in diesem ekstatischen Erlebnis wird als Bedrohung, zumindest als Gefährdung aller die Gesellschaft stabilisierenden Strukturen und Ordnungen gesehen. Denn es sind die grundlegenden Voraussetzungen einer gesicherten Weltwahrnehmung, die in diesem Moment negiert werden: Zeit-, Raum- und Selbstbewußtsein gehen verloren. Damit hat dieser Augenblick die Potenz einer Zerstörung der kulturellen, sozial und religiös codierten Welt. Es gilt also, Modelle der gesellschaftlich-kulturellen Verortung und Domestizierung dieser Sprengmomente zu entwickeln. Ein guter Teil der höfischen Literatur versucht nichts anderes, als dieses Problem narrativ zu bewältigen.3 Im späthöfischen Artusroman Diu Crône von Heinrich von dem Türlin wird diese Thematik in einer Deutlichkeit und reflektierten Raffinesse ausgeführt, die hier nun genauer in den Blick genommen werden soll.4 Dabei interessiert 2 Zur Ehefloskel vgl. Friedrich Ohly: Du bist mein, ich bin dein. Du in mir, ich in dir. Ich du, du ich. In: Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Werner Schröder. Hg. von Ernst-Joachim Schmidt. Berlin: E. Schmidt 1974. S. 371–415. 3 Als prominenteste Beispiele seien nur die Artusromane Hartmanns von Aue sowie der Tristan Gottfrieds von Straßburg genannt: Hartmann von Aue: Iwein. Hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann. Neu bearb. von Ludwig Wolff. Berlin: de Gruyter 1968; Hartmann von Aue: Erec. Hg. von Albert Leitzmann und Ludwig Wolff. Bes. von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen: Niemeyer 1985; Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach der Ausgabe von Reinhold Bechstein hg. von Peter Ganz. 2 Bde. Wiesbaden: Brockhaus 1978 (Deutsche Klassiker des Mittelalters NF 4). 4 Heinrîch von dem Türlîn: Diu Crône. Hg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart: Litterarischer Verein 1852 (Bibliothek des litterarischen Vereins Stuttgart 27). Amsterdam: Rodopi 1966.
195 der äußerst komplexe, intertextuell vernetzte und verdichtete Roman nicht als ganzer, sondern nur das ‘ekstatische’ Zwischenspiel, in dem der Held Gawein mitten aus seinen âventiure-Aufgaben gerissen wird, um eine 15-tägige Minneverschlingung mit der schönen Amurfina zu erfahren (V. 7660–9091).5 Es ist eine Szene, die in jeder Beziehung als Ekstase gesehen werden kann, indem der Ort aus dem räumlichen Kontext der Artuswelt herausfällt, die Zeit von Gawein nicht mehr wahrgenommen wird und er seine Identität so verliert, daß er nicht mehr weiß, wer er ist. Gleichzeitig ist die dann doch begrenzte Dauer von 15 Tagen klar begründet in dem Versuch Amurfinas, den ekstatischen Liebesmoment, der als Kulminationspunkt des gegenseitigen Begehrens gezeigt ist, auf Dauer zu setzen, in dieses punctum des Ereignisses staete (Beständigkeit) und damit auch triuwe (Treue) zu bringen. Dies aber sind die im höfischen Diskurs institutionalisierten Tugenden im Kampf mit der Veränderlichkeit und Zeitlichkeit der Welt, die sozialen und affektiven Tugenden des Feudalsystems, über die sich dessen Ordnungsmacht festigt. Eine kurze Zusammenfassung des Plots soll in die Analyse einführen: Gawein, der vorbildlichste Artusritter und notorische Frauenheld, ist eben dabei, einen Burgherrn von den unrechtmäßigen Ansprüchen eines Riesen zu befreien und gleichzeitig mit der Tochter des Hauses anzubändeln, als er durch die schöne Botin einer fremden Herrin um Hilfe in einem Rechtsstreit gebeten wird. Die Schönheit der Botin sowie die Beschreibung ihrer Herrin bewirken, daß er auf der Stelle dem Hilferuf folgt und so in die abgelegene und unzugängliche Burg von Amurfina geführt wird.6 Hier muß er sich etwas gedulden, bis er endlich die Hausherrin zu sehen bekommt. Diese empfängt ihn auf einem kostbaren Bett sitzend und begrüßt ihn mit einem Kuß. Nach gemeinsamem Gespräch und Essen zieht sich das Gesinde zurück. Als Gawein nun aber Amurfina umarmen will, fällt ein magisches Schwert herunter und schließt sich so eng um seinen Leib, daß er zu sterben meint. Erst als Gawein die staete und triuwe seiner Liebe beteuert, läßt die Schwertumklammerung nach, und er kann sich mit Amurfina vereinigen. Nach dem Akt reicht ihm diese einen Schlaftrunk, der bewirkt, daß er jede Erinnerung verliert und meint, schon lange mit ihr verheiratet zu sein. Schließlich, nach 15 Tagen, will Amurfina ihren zum Minnesklaven gewordenen Geliebten ihrem Gesinde als großartigsten Ritter 5
Für eine Interpretation der Szene im Blick auf die Gesamtstruktur und den Roman als einen ‘Gesellschaftsroman’, bei dem es um die schwierige Neukonzeption einer Einbindung des Artusritters in gesellschaftliche (familiäre) Strukturen geht, vgl. Alfred Ebenbauer: Gawein als Gatte. In: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Hg. von Peter Krämer und Alexander Cella. Wien: Halosar 1981. S. 33–66 (Wiener Arbeiten zur germanistischen Altertumskunde und Philologie 16). 6 Der Zugang der Burg führt nach unwegsamem Waldgelände durch ein sich wundersam vor den Füßen der Begleiterin teilendes Gewässer (V. 8010–8024). Die Topographie der Burg stellt sie und ihre Bewohner in die Tradition der Feenwelt.
196 präsentieren. Dafür holt sie eine goldene Schüssel hervor, auf der die Niederlage ihres Vaters im Kampf mit Gawein dargestellt ist. Im Blick auf diese Schüssel kommt Gawein langsam wieder zu sich und erinnert sich seiner Identität. Damit aber hat auch sein Aufenthalt bei Amurfina ein Ende, er zieht weg, um weiterzukämpfen, wo er aufgehört hatte.
Begehren im Zeichen: Rhetoriken der Repräsentation Amurfina läßt Gawein durch eine Botin aus seiner noch nicht ganz vollendeten âventiure reißen und zieht ihn mit Drohen und Fordern vom anderen, auf seine Hilfe angewiesenen Hof ab. Sie will ihn, braucht ihn und bedroht die Konkurrenz entsprechend mit Brandschatzung und Tod. Die Botin, die diese eindeutigen Worte überbringt, ist in einer feenhaften Schönheit vorgestellt, deren Anblick selbst Engel bestricken würde (V. 7704–7772). So ist es nicht die Drohung, die Gawein auf der Stelle “minneclîchen âne drô” (“in Liebe ohne Drohung” [V. 7832]) der Forderung nachkommen läßt, sondern sein Herz und sein Begehren treiben ihn dazu: “Sîn herze truoc in und sîn gir / Ze der reise, daz geloubet mir” (V. 7851f.). Es ist nicht die Geste der kriegerischen Gewalt, sondern das über die Repräsentantin der ihn verlangenden Frau sowie deren Reden von ihrer Herrin geweckte Liebesbegehren, das ihn motiviert.7 Dieser Prozeß der indirekten Begehrensstimulierung wird im Erzählerkommentar mit dem Abrichten des Jagdfalken verglichen, dem ein Lockvogel so oft vorgeführt wird, daß er dann im Augenblick, wo ihm das Wild auf dem Feld vor Augen kommt, sofort zuschlägt (V. 8079–8098). Die im Zeichen gründende Sehnsuchts- und Begehrensspannung auf beiden Seiten8 spitzt sich zu, als Gawein auf der Burg von Amurfina ankommt, die in ihrer Unzugänglichkeit als abgeschlossene Welt gezeichnet ist. Hier wird er bestens versorgt, so daß ihm nichts fehlt, “außer, daß er die schöne Jungfrau, die Königin Amurfina, immer noch nicht gesehen hatte” (“niwan, daz er die schœnen meit, / die künegîn Amurfinâ / dennoch niht het gesehen dâ” [V. 8055ff.]). Dies ist sein “ungemach” (V. 8058), und er bittet die ganze Nacht immer wieder neu um eine Begegnung mit der, die doch nach ihm verlangt hat. Es geht darum, das bisher im Zeichenhaften, im Modus der Repräsentation vorgestellte Ziel des Begehrens zu sehen.9 In einem längeren Kommentar bezeichnet der Erzähler diesen Wunsch von Gawein und das schnelle Zusammenkommen der zwei einander Unbekannten 7
Die Parallelisierung mit dem Herzen in V. 7850 weist diese “gir” eindeutig als MinneBegehren aus. 8 Auch Amurfina kennt Gawein nur über die Vermittlung der Erzählungen ihres Vaters (V. 7949–7955). 9 Diese Augengier wird im Text durch die Häufung des Verbs “sehen” verdeutlicht (V. 8057, 8060, 8064, 8065).
197 als Werk der Minne (V. 8071–8078). Dieser Exkurs des Erzählers dient nicht nur dazu, das Verlangen Gaweins, Amurfina zu sehen, als eindeutig sexuelles Begehren zu codieren, sondern auch dazu, dieses Begehren als eine Schwächung Gaweins durch die Weltenherrscherin Frau Minne zu zeigen (V. 8099–8115). Denn über die Verwunderung des Erzählers, daß die beiden, die sich noch nie gesehen und angefaßt hatten, sich so schnell finden, wird die sich in der Repräsentation, dem Zeichenhaften entzündende Imagination als Machtinstrument der Minne vorgeführt. Damit ist ein Anfang des Selbstverlusts, wie er sich im Augenblick der Erfüllung ereignet, schon in der darauf hinzielenden Spannung angelegt. Und gleichzeitig wird deutlich gemacht, daß dieses Begehren ein gegenseitiges ist und sowohl Gawein wie Amurfina Minnegefangene sind: “Sie gert sîn und er ir; / Heil volget glîcher gîr / Ir iegelîchez was gevangen” (“Sie begehrt ihn und er sie; Glück folgt auf gegenseitiges Begehren, sie beide waren gefangen” [V. 8116ff.]).10
Kuß: Rhetoriken der Vermittlung Als Gawein dann endlich zu Amurfina geführt wird, kommt dieses als Leiden gezeichnete Begehren im Willkommenskuß zur Beruhigung. Dieser Kuß wird nun aber nicht in seiner Wirkung auf Gawein beschrieben, sondern in seiner affektiv nachhaltigen Beeinflussung des Erzählers, als dieser in seiner französischen Vorlage davon las, und wird so zu einem Leseerlebnis: und gap im einen solchen gruoz, dâ von mîn herze lange muoz entzündet und gesêret wesen; als ich ez en franzois hân gelesen, sie kust in an der stunde.
und sie gab ihm einen solchen Gruß, daß mein Herz davon noch lange entzündet und verwundet sein muß, nachdem ich es auf französisch gelesen hatte: sie küßte ihn sofort. (V. 8143–8147)
Der Moment des Kusses ist aus dem Narrativ ausgeschlossen und fällt aus dem Kontext der Erzählung vollkommen heraus. Die alle Ordnungs- und Deutungsstrukturen sprengende Intensität des Ereignisses ist nur in der mimetischen Rezeption seiner medialen Vermitteltheit faßbar und benennbar. Der ekstatische Augenblick wird so in das literarische Zeichen- und Kommunikationssystem übertragen und damit zu literarischem Handeln. Was für Gawein zu einer Beruhigung seines Leidens führt, hat er doch “an ihr das gefunden, was die Kranken heilt” (“Und hât an ir ervunden, / Waz siechen tuot gesunden” [V. 8153f.]), weckt in der Codierung im literarischen Diskurs neues, brennendes und schmerzendes Begehren. Tritt der ekstatische Moment für den Protagonisten gerade aus der Welt der Repräsentationen und deren Begehrensspannungen 10
Zu dieser klaren Gegenseitigkeit vgl. auch V. 8163f.
198 heraus, wird er durch die mediale Vermittlung wieder als imaginiertes, aber absentes Objekt in das Begehren (des Lesers) zurückgeholt.
Begehren in der Präsenz: Rhetoriken der Verzögerung Während die Dienerschaft sich um das Essen kümmert, bleiben die zwei Liebenden allein auf dem Bett zurück. Im Erzählerkommentar wird immer wieder betont, daß diese exklusive und intensive Zweisamkeit das Werk der Minne sei. Denn daß Amurfina diese intime Situation zuläßt, ist allein Frau Minne zu verdanken, die ihr alles Schamgefühl aus dem Herzen geschnitten hat (V. 8330f.). Die Szene, in der die beiden von Frau Minne besiegt in vollkommener Übereinstimmung von Wollen und Wünschen sich gegenübersitzen, fällt aus sämtlichen sozialen Zusammenhängen und Sinnmustern heraus.11 In dieser Situation der exklusiven und entsozialisierten Nähe, der sichtbaren Präsenz der Körper, baut sich zwischen Gawein und Amurfina ein neues Begehren auf, das auf physische Erfüllung der symbolisch im Gespräch und im Herztausch schon vollzogenen Vereinigung zielt. Im Moment aber, wo das Wollen ins Werk gesetzt werden könnte, wird nun das Abendessen aufgetragen. Das führt zu einer von Gawein im Stillen beklagten Verzögerung. Diese kleine Retardatio ermöglicht es aber, die für diesen letzten Kreis der Annäherung entscheidenden Momente in einem die Situation ausdeutenden Erzählerkommentar zu fassen. Darin werden die für die Ekstase konstitutiven Elemente sichtbar, die im aus jedem Narrativ herausfallenden ekstatischen Augenblick nicht mehr benannt werden könnten. Dazu gehören die Verschmelzung von Du und Ich, wie sie im Herztausch (V. 8400–8404) und der Einswerdung (V. 8422–8425) symbolisch benannt ist, und der Verlust des Verstandes als Folge der absoluten Unterwerfung unter die Macht der Minne (V. 8430–8438), was auch über den Topos der Minnetoren, in deren Reihe sich Gawein einfügt, verdeutlicht wird (V. 8439–8466). Nachdem diese erste Unterbrechung durch das konventionelle Ritual des Abendessens beendet ist, der Schlaftrunk hereingebracht wurde und die Bediensteten sich zurückgezogen haben, bleiben Gawein und Amurfina nur noch unter der Obhut von Frau Minne zurück. Nichts steht mehr der Vereinigung 11
Die Personifizierung des sexuellen Begehrens als ‘Frau Minne’ ermöglicht es dem Erzähler, die Situation explizit als Situation sexuellen Begehrens deutlich zu machen. Rüdiger Schnell nennt dieses Verfahren des Erzählers “ironisch, ja parodistisch” mit dem Ziel, die Protagonisten “von jeglicher Schuld und Verantwortung frei” zu sprechen und das “allzu Menschliche sexuellen Begehrens zu verhüllen” (Rüdiger Schnell: Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern/München: Francke 1985. S. 409 [Bibliotheca Germanica 27]). Ich denke, es geht gerade nicht um das Verhüllen, sondern um das Ausstellen des sexuellen Aspekts über das rhetorische Mittel der Personifikation.
199 entgegen, vor allem da auch das grundlegende gesellschaftliche Hindernis, die “huote” – das heißt der öffentliche Blick auf die Ehre einer Frau, die Aufsicht –, nicht zu bestehen scheint und die internalisierte “huote”, die Scham, von Frau Minne schon frühzeitig aus dem Herzen entfernt wurde. Der Augenblick der Erfüllung scheint gekommen – doch da stellt der Erzähler die rhetorische Frage nach eben diesem öffentlichen Blick und holt damit den bis dahin erfolgreich ausgeschlossenen gesellschaftlichen Aspekt in diese Szene herein. Unter diesem Aspekt darf und kann sich das bevorstehende Ereignis aber gerade nicht vollziehen: “Nun sagt, war die Aufsicht (huote) schwach, die Überwachung der zwei?” (“Nu, sprechent, was die huote swach, / Diu ir zweier huote?” [V. 8492f.]). Der Erzähler weist darauf ausführlich auf die wunderbare Vorrichtung hin, die Amurfinas Bett bewacht: Jeder Liebhaber, dessen Begehren nicht durch staete und triuwe getragen ist, wird im Moment des Übergriffs von einem Schwert gefesselt, das über dem Bett hängt. Damit installiert sich über dem von Frau Minne beherrschten Paar eine Instanz, die in Konkurrenz zu Frau Minne gezeigt wird, indem sie das von ihr geleitete Begehren kontrolliert und je nachdem unterbindet (V. 8536). Gleichzeitig ist diese Instanz, im Text als “huote” bezeichnet, lesbar als die in einen zauberhaften Mechanismus übersetzte Macht der Gesellschaft und ihrer Normen.12 Gawein und Amurfina, beide von Frau Minne geschunden und entzündet, so daß sie einhellig nur eine Sache wollen, beide auf Erlösung ihres Leidens drängend, werden im Moment, in dem Gawein Amurfina anfaßt, durch das Schwert getrennt, das sich Gawein um den Leib schlingt und ihn an den Rand des Todes bringt. Seine einzige Überlebenschance besteht darin, Amurfina aufrichtig und “mit staete” zu lieben (V. 8595f.).
Beteuerte Ekstase: Rhetoriken der Domestizierung In der Umklammerung der gesellschaftlichen Ansprüche, über die eine Legalisierung und Sozialisierung des ekstatischen Ereignisses erfolgen soll, hat Gawein nun das Problem, wie er seine staete und triuwe beweisen kann (“wie solte er daz bescheinen?” [V. 8597]). Das erstaunt. Denn wenn die Zaubervorrichtung dieses Bettes sein Begehren als nicht ganz von staete getragenes zu diagnostizieren vermag, warum sollte sie dann nicht auch eine eventuelle neue Gesinnung erkennen? Doch offensichtlich geht es darum, den Beweis der Aufrichtigkeit kommunikativ zu erbringen und damit 12
Matthias Meyer spricht davon, daß die “huote” “hier von einer gesellschaftlichen Institution in einen magischen Moralautomaten verwandelt” werde (Matthias Meyer: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter 1994. S. 86 [GRM-Beiheft 12]).
200 öffentlich wahrnehmbar zu machen. So wird die Tugendprobe zu einer Rhetorikprüfung.13 Im Rekurs auf traditionelle Sterbemetaphorik trennt sich Gawein von seiner Seele (“Sêle, nû var hin…”), die er zu Amurfina schickt, damit sie ewig ihr angehören und für ihn Beständigkeit schwören soll (V. 8600–8606). Die Beteuerungsrhetorik gipfelt in einer Formulierung, die das topische Eheversprechen anklingen läßt (V. 8605), so daß diese Beteuerung zur Verlobung wird. Damit wird über die floskelhaft formalisierte und ritualisierte Liebesrhetorik das Minnebegehren performativ wirksam in den höfischen Gesellschaftsdiskurs eingebunden.14 Gawein kommt augenblicklich frei, und der Vereinigung der beiden steht nichts mehr im Wege: “Ihre Liebe wurde ihm nicht versagt, als er sie mit Treue begehrte, so daß weder sie selber noch das Schwert ihn daran hinderte” (“Ir minne wart im niht verzigen, / Als er ir mit triuwen gert / Daz sie enweder, noch daz swert / In dar an verirte” [V. 8628–8631]). Der angestrebte Moment der Ekstase, auf den hin die verschiedenen Begehrensspannungen zielten, wird hier zu einem Moment des Versprechens und der Einlösung einer Minnebindung als höfisch codierter Verpflichtungsleistung. Und so wird Gawein, der chevalier errant, zum Hausherrn: “Jetzt ist Gawein zum Hausherrn geworden, der vorher weit durch die Lande zog, auf der Suche nach Gefecht und Kampf ” (“Nu ist Gawein ze wirte / Worden, der ê wîten / Nâch vehten und nâch strîten / Daz lant suocht mit vreise” [V. 8632–8635]).
Verstetigte Ekstase: Magie Damit könnte die Geschichte ein Ende haben. Doch nach dem Beischlaf wird nun ein Schlaftrunk gereicht, den die Dienerin auf Bitte Amurfinas hereingebracht hatte. Dieses “posûn”, dieser Zaubertrank, hat die Kraft, daß wer von ihm trinkt, lieben, sterben oder wahnsinnig werden muß. Dies aber sind die Elemente, die den ekstatischen Liebesaugenblick ausmachen. Über den Zaubertrank soll also die durch das huote-Schwert in die institutionalisierte und gesellschaftlich gebilligte Minne gebrochene Ekstase wiederhergestellt werden. Die soziale und moralische Verpflichtung, wie sie in den Begriffen staete und triuwe gefaßt ist, bindet das ekstatische Liebesereignis in einen gesellschaftlichen und rechtlichen Kontext zurück. Gleichzeitig wird der aus der Zeit fallende Moment über diese Tugenden, die nur als Bewährungen in der 13
Zum Motiv des magischen Schwerts als Tugendprobe vgl. Christine Zach: Die Erzählmotive der ‘Crône’ Heinrichs von dem Türlin und ihre altfranzösischen Quellen. Passau: Wiss.-Verl. Rothe 1990. S. 133f. (Passauer Schriften zu Sprache und Literatur 5). 14 In dieser Loslösung der Seele vom Körper zur spirituellen Vereinigung mit der Geliebten kann man auch Anklänge an das mystische Ekstaseerleben und dessen Rhetorik sehen, was hier nun aber nicht weiter verfolgt werden soll.
201 Zeit denkbar sind, in eine zeitliche Dauer übersetzt. Mit dem Zaubertrank nun, der nicht nur das Wissen um sich selbst, den Namen, vergessen läßt, sondern auch alle Erinnerung tilgt, wird der gegenwärtige Zustand in die Vergangenheit verlängert und damit neben dem Selbstverlust auch der ekstatische Zeitverlust imitiert: Das Jetzt dehnt sich in die Zeit, und dadurch löst sich diese im Jetzt auf. Gawein meint, schon seit langem Amurfinas Gatte zu sein. Die Selbstwahrnehmung funktioniert nur noch im Spiegel des Du und in dessen sozialem Kontext. So geht es Gawein nicht mehr um den gesellschaftlichen Ruhm des Ritters (prîs), sondern wichtig ist ihm allein die Niederlage auf dem engen Feld der Minne, wo sich die Gegner mit gesenkten Waffen begegnen (V. 8795–8831). Und so, wie ihn die Entourage von Amurfina als ihren Herrn grüßt und entsprechend “von der Serren” nennt, glaubt er, auch diese zu kennen und sie schon früher gesehen zu haben (V. 8708–8727). Es ist ein Wahn (wân), in den er verfällt und in dem er die durch ritualisierte kommunikative Handlungen sich konstituierende Scheinidentität für Wirklichkeit hält. Mit dem Zaubertrank wird der ekstatische Wahnsinn mit Zeit- und Ich-Verlust durch den künstlich-magischen Wahnsinn mit auf Dauer gesetzter Gegenwart und falschem Ich ersetzt, die Liebestrunkenheit im Augenblick der Lust wird zur Liebesphantasie (wân) im trunkenen (drogierten) Zustand. Deutlich wird, daß dieser Zaubertrank nicht Minne stiftet, sondern daß durch seine Wirkung die Paradoxie eines auf Dauer gestellten ekstatischen Zustands erreicht werden soll. Über den Trank soll in eine durch triuwe, staete und Versprechen institutionalisierte Minne das ekstatische Moment mit Zeit- und Selbstverlust sowie entkontextualisierter Ausschließlichkeit der Du-Beziehung hereingeholt werden. Und so kommt es zu dieser paradoxen Figur des beständigen, treuen Liebenden, der mit den Zeichen der Ekstase ausgestattet ist. Daß Amurfina nach den Beteuerungen Gaweins, triuwe und staete zu sein, noch die Magie bemüht, ist Ausdruck ihrer Angst vor einer Ernüchterung in dieser sozialisierten und in den Kontext von Zeitdenken hereingeholten Minne. Damit verbindet sie sich sehr direkt mit anderen Frauen des höfischen Romans, die zu nicht ganz lauteren Mitteln greifen, um ihren Geliebten von der Außenwelt abzuschotten und die Zweisamkeit auf Dauer zu stellen.15 Hier bricht das kulturelle grundsätzliche Problem der Einbindung einer ekstatisch aufgeladenen Minne in eine sich über Verpflichtungen und Ordnungen konstituierende Gesellschaft auf, die die Sprengkraft dieser Entgrenzungsmomente in irgendeiner Art bannen muß. 15
Vgl. u.a. Enite und die Frau von Mabonagrin im Erec Hartmanns von Aue (wie Anm. 3) und die Königin von Plûrîs in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet (Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Hg. von Karl August Hahn. Mit einem Nachwort von Frederick Norman. Berlin: de Gruyter 1965).
202 Ende der Ekstase: Rhetoriken der Erinnerung Amurfina, die anders als Gawein nicht aus ihrer Geschichte herausgefallen ist, will ihren gezähmten Ekstatiker nun noch adäquat, das heißt der höfisch-ritterlichen Rang- und Werteordnung gemäß, in dieser ihrer eigenen Geschichte verorten. Dafür muß sie ihren Bettgenossen als den einzig in Frage kommenden Landesherrn, den besten aller Ritter und würdigsten Nachfolger ihres Vaters ausweisen. Dies aber geht nur im Rückgriff auf seine Vergangenheit. Sie erzählt nun aber nicht einfach Gaweins Geschichte, sondern rekurriert nur auf die entscheidende Szene, in der seine Überlegenheit über ihren Vater im Kampf und somit sein Herrschaftsanspruch deutlich werden. Es ist die Szene, die der frühere Herrscher als memento mori oder Negativexempel (unbilde) in einer goldenen Schale in Wort und Bild darstellen ließ, um sich täglich an diesen einen Augenblick der Niederlage und des nahen Todes zu erinnern. Während sie die Schale herumzeigt und allen die Überlegenheit dieses Siegers vor Augen steht, identifiziert sie ihren Geliebten mit dem dargestellten Sieger und nennt seinen Namen, worauf er einstimmig als rechtmäßiger Herrscher akklamiert wird. Damit hat Gawein in der dynastischen Geschichte des Landes seinen Platz gefunden.16 Als die am Tisch herumgereichte Schale zu Gawein kommt, schaut er sie sich auch an. Was die Schrift meint, versteht er nicht genau, doch die Bilder begreift er, kann schließlich seinen Namen lesen und beginnt sich langsam, über die Ahnung, daß es den hier dargestellten Sieger wirklich gab, daß er ihn näher kennt, daß er vielleicht sein Freund war, bis hin zu der Frage, ob er es eventuell selber ist, in die Erinnerung und damit in die eigene Geschichte hineinzufinden. Anders als Amurfina, die diese Szene in die Geschichte ihres Vaters einbaute, um so die Herrschaftsgeschichte des Landes in einer ehrenvollen Art weitererzählen zu können, muß Gawein zuerst langsam in die Zeichen hineinfinden, damit aber auch in ein Verständnis von Präsenz und Absenz. Die in der Gegenwart verdichtete Zeit, wie sie ihn der Zaubertrank als ewig gleichbleibende Situation, als Unveränderlichkeit wahrnehmen ließ, muß er als Moment einer Geschichte erkennen und das in der fremden Geschichte (des Vaters) vorgestellte Bild als erlebtes Geschehen seiner eigenen Geschichte, als Erinnerungsbild fassen. Kurz: Er muß in seinen Ruhm hineinfinden und diesen als den seinen erkennen. Und so wird er aus seiner abgeschlossenen, nur über Amurfinas Spiegel definierten Welt- und Selbstwahrnehmung herausgerissen und in seine öffentliche Identität zurückgeholt. Entsprechend 16
Vgl. zur machtlegitimierenden Instrumentalisierung dieser Darstellung durch Amurfina auch: Heiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin/New York: de Gruyter 2003. S. 276f. und S. 299f. (Trends in Medieval Philology 3).
203 bleibt es nicht bei dem einen Erinnerungsbild, sondern er findet in seine Geschichte, indem er sich – auch in Vorwegnahme später erzählter Episoden – an alle seine Heldentaten erinnert, so daß ein kleines Gesamtbild des Artushelden entsteht.17 Damit wird die Minnevergessenheit bei Amurfina nicht nur zu einer Auszeit des intradiegetischen Helden, sondern auch des Romanhelden der Artusliteratur. Die Rückbesinnung des Protagonisten auf sein Ich ist auch ein Zurückkommen des Helden in seinen Stoff und damit in die Erzählung Heinrichs von dem Türlin. In dem Moment, in dem Gawein in seiner erinnernden Selbstfindung nun die Szene rekapituliert, aus der er von Amurfinas Botin abberufen wurde, findet er wieder in die Handlung zurück, denn er will wissen, wie das ausgegangen ist: “das begehr ich zu wissen” (“des muoz mich verlangen” [V. 9054]). Da, wo seine Erinnerung im Jetzt, das heißt dem Augenblick vor seiner Ekstase angekommen ist, greift er das Messer vor ihm und sticht es sich durch die Hand (V. 9058–9062). Damit holt er seinen in der “wân”-Gegenwart der Minnewelt verlorenen Körper über den selbst zugefügten Schmerz wieder in den eigenen Willen und die eigene Geschichte zurück. Daraufhin springt er auf, verlangt nach seiner Rüstung, verabschiedet sich freundlich (“mit vriuntlîher minne” [V. 9088]) mit einem Kuß von Amurfina und verläßt den Hof.
Bezeichnete Ekstase: Rhetoriken der Bannung Amurfina gibt Gawein zum Abschied Schwert und Schild mit. Auf dem Schild ist ein goldenes Schloß auf blauem Grund zu sehen. Dieses Zeichen soll darauf hinweisen, “daß Frau Minne ihm die Sinne ganz in seinem Körper verschlossen hat, um nur einer Frau zu dienen und keiner andern” (“Dâ bî man wizzen solde, / Daz im het vrou Minne / Beslozzen sîne sinne / Gar in sînem lîbe, / Ze dienen einem wîbe / Und anders deheiner / Mit niht, wann ir einer” [V. 9105–9111]). Die Minnebindung, die anfangs auf ekstatische Einheit zielte, dann über Zauberschwert und Zaubertrank zur in die Dauer gebrochenen Ekstase wurde, wird nun da, wo Gawein wieder in die Gesellschaft und Öffentlichkeit hinaustritt, zum im Zeichen bedeuteten Geheimnis. Das den Ritter definierende und im öffentlichen Blick distinguierende Zeichen ist Hinweis auf die gelungene Differenzierung einer äußeren und inneren (Erlebens-)Welt. Erst mit dieser Grenze wird es möglich, den ekstatischen Augenblick in ein Gesellschaftssystem einzugliedern, ohne daß dessen Ordnung grundlegend gefährdet ist. Über die Struktur des Zeichens kann das ekstatische Moment in einen öffentlichen 17
Zu dieser uneinheitlich diskutierten Figur des Hysteron proteron vgl. die Angaben bei Gudrun Felder: Kommentar zur ‘Crône’ Heinrichs von dem Türlin. Berlin/New York: de Gruyter 2006. S. 180f. und S. 247 und die dort verzeichnete Forschungsliteratur.
204 Diskurs eingeschlossen werden. Die Ekstase, die selber gerade keine Zeichen kennt, wird im Zeichen gebannt.
Schluß In dieser kleinen Episode zeigt sich paradigmatisch die Schwierigkeit, den ekstatischen Moment in ein Narrativ zu übersetzen, das entgrenzende Erleben in ein kulturelles Ordnungsmuster einzufügen und das aus den sozialen Zusammenhängen gerade ausscherende, eine asoziale Geschlossenheit installierende Liebesgeschehen in ein gesellschaftliches System einzubinden. Das Konzept der Hohen Minne, wie es im höfischen Kommunikationsraum etabliert ist, kann den Moment der Ekstase nur als imaginäres Absentes denken, wenn es sich selber nicht aus dem Kommunikationszusammenhang, damit aus dem höfischen Kulturzusammenhang herausheben will. Die Schwierigkeit, die ekstatische Liebesvereinigung doch in den Gesellschaftsdiskurs einzuschließen, wird am Beispiel von Gaweins Erlebnis mit der sich erfüllenden “Hohen Minne” (Amurfina) vorgeführt.18 Das magische Mittel, über das das ekstatische Erlebnis auf Dauer gestellt werden soll, funktioniert nur über die Negation von Geschichte und Kontext in der Erschaffung einer “wân”-Welt. Gelungen ist die Einbindung des Geschehens erst da, wo es, zum Zeichen verdichtet, zur Auszeichnung wird und Hinweis auf ein Geheimnis ist, das gerade nicht öffentlich sein soll. Es ist das permanent Abwesende in der höfischen Präsenz, bezeichnet und auszeichnend, aber ausgeschlossen in einen fremden, nicht öffentlich zugänglichen Raum. Mit dieser Grenzziehung und Grenzbestimmung über das Zeichen ist die Ekstase im öffentlichen Diskurs erst denkbar. Über das Zeichen wird die nüchterne Trunkenheit möglich, die diskursivierte und diskursivierbare Ekstase.
18 Der Name der Burgherrin läßt sich direkt mit amor fine/fin amors und damit dem provenzalischen Ideal der Hohen Minne zusammenbringen (vgl. dazu ebd. S. 217).
Sonja Osterwalder
“Alcohol is like love”. Chandler, Marlowe und The Long Good-bye While in many of Raymond Chandler’s novels alcohol can be seen as fulfilling the functions of “hospitality, manipulation, and self-medication” (Rita Elizabeth Rippetoe), this formula does not apply to The Long Good-bye (1953). Here it determines the narrative as well as the relationships between the characters. By exposing three great drinkers, the text aims to make tangible a concept of inebriation that finally dissolves into the analogy that “alcohol is like love”. The essay goes on to consider the drinker Chandler himself as a subject matter. Thus one of the topics at stake is the old question of the relationship between a text and its author. This essay argues for a specific kind of ‘return of the author’ by revisiting Sigmund Freud’s attempt in Der Dichter und das Phantasieren (1907/08) to conceive the autobiographical reference as an eldritch impact of the fantastic life.
“He drank himself to death”1 Als Raymond Chandler Anfang der fünfziger Jahre seinen längsten, schönsten und wehmütigsten Roman schrieb, tat er dies, so heißt es, stocknüchtern.2 Er hatte sich einen strikten Arbeitsplan zurechtgelegt, den er auch einhielt: Vormittags schrieb er am Roman mit dem Titel Summer in Idle Valley, nachmittags versuchte er mit seiner Privatsekretärin, Administratives zu erledigen; in den freien Stunden kümmerte er sich um seine Frau Cissy, die, fast zwanzig Jahre älter als er, an einem schweren Lungenleiden erkrankt war. Er schlief zumeist auf einer Couch in der Nähe von Cissys Schlafzimmer, damit er sie hörte und sofort zur Stelle sein konnte, wenn sie in der Nacht Hilfe brauchte. Aus demselben Grund wohl, so die spekulative Wahrheit des Biographen, trank Chandler nicht während der fast vier Jahre, die er an dem schließlich unter dem Titel The Long Good-bye veröffentlichten Roman arbeitete, in dem König Alkohol wild das Zepter schwingt.3 Im November 1953 erscheint The Long Good-bye in Großbritannien, zwei Monate später in den USA; im Dezember 1954 stirbt Cissy. Chandler versetzt sich daraufhin in einen tagelangen Vollrausch und ist zu betrunken, um am Begräbnis seiner Frau 1 Chandlers Ende aus der Sicht von Toby Widdicombe: A Reader’s Guide to Raymond Chandler. Westport/London: Greenwood Press 2001. S. 7. 2 Die Chronologie der beschriebenen Ereignisse folgt Frank MacShane: Raymond Chandler. Eine Biographie. Übers. von Christa Hitz u.a. Zürich: Diogenes 1984. S. 306ff. sowie Tom Hiney: Raymond Chandler. A Biography. New York: Atlantic Monthly Press 1997. S. 198ff. 3 Der Biograph hier: Hiney (wie Anm. 2). S. 206.
206 teilzunehmen. Mit dem Glas in der Hand arbeitet er in den nächsten Jahren fleißig und erfolgreich dem Tod entgegen. Den letzten vollendeten Roman Playback schreibt er mehr oder minder im Suff. Und obwohl Playback als sein mit Abstand schlechtestes Buch gilt, muß nicht zwingend der Alkohol für den Rückgang an Qualität verantwortlich sein. Eine solche Lesart zeugt zwar von hübschen ethischen Maßstäben, aber nach The Long Good-bye und Chandlers Bestreben, den einsamen Schnüffler Marlowe mit einer Milliardärstochter zu verheiraten, hätte im Urteil der Kritik wohl jeder Roman scheitern müssen. Was dieses letzte Buch Chandlers, vom etwas dünnen Plot einmal abgesehen, von seinen Vorgängern vor allem unterscheidet, ist die Stimmung, die den Roman durchzieht. Sie läßt sich beschreiben als eine gelangweilt misanthropische. Weht einem in Little Sister ein verhaltener Zorn entgegen, in The Long Good-bye aber dunkelblaue Melancholie, so findet man in Playback auf jeder Seite nur lustlose Verachtung. Daß Marlowe am Ende zu seiner Herzensdame findet, ist, auf der bloßen Ebene des Plots und der Stimmung gelesen, einer der prächtigsten deorum ex machina der Literatur.4 Bringt man jedoch die Biographie als Kulisse des Schreibens mit ins Spiel, so kann man darin den rührenden Wunsch erkennen, Marlowe mit der Liebe zu versöhnen, während sich das Leben seines Erfinders ohne happy end im Alkoholnebel verliert.5 Von dieser Stelle aus ist es weniger als ein Katzensprung zu Freuds Der Dichter und das Phantasieren und der darin ausgesprochenen Annahme, daß der Autor in seinen Fiktionen die eigenen unbefriedigten Wünsche darstellt und in der Handlung zur Erfüllung bringt. Trotz des komplexen Zusammenspiels der drei verschiedenen Zeitebenen, die – ähnlich dem Träumen – Richtung und Inhalt der literarischen Produktion bestimmen, mutet das Freudsche Konzept etwas simpel an, denn den Helden einer Ichoder, wie Freud schreibt, “egozentrischen Erzählung”6 als schmeichelhafte Wunschphantasie des Autoren-Ichs zu fassen, ist als Ausbeute der Interpretationsarbeit ein ziemlich trockener Knochen. In der Tat wird Philip
4
Mit dem Telefonanruf von Linda Loring aus Paris nähert sich Chandler bis auf wenige Millimeter dem Kitsch: “Hold me close in your arms. I don’t want to own you. Nobody ever will. I just want to love you.” – “I’ll be there. I always am.” – “Hold me in your arms” (Raymond Chandler: Playback [1958]. Harmondsworth: Penguin Books 1976. S. 158). 5 Nach dem Tod von Cissy entwickelte Chandler eine Schwäche für romantische Heiratsanträge. Zu den Auserwählten gehörten unter anderen Jean Fracasse, Natasha Spender, Louise Loughner und Helga Greene (vgl. Widdicombe [wie Anm. 1]. S. 7). 6 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1907/1908). In: Freud: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt a.M.: Fischer 1975. Bd. 10. S. 169–179. Hier: S. 176.
207 Marlowe gern als idealisiertes Chandler-Ich betrachtet, und ein Ideal, zumal das des unkorrumpierbaren Wahrheitssuchers, verkörpert er auf jeden Fall.7 “He must be”, so Chandler in der lobesvollen Charakterisierung seines Helden, “a man of honour, by instinct, by inevitability, without thought of it, and certainly without saying it”.8 Auf den zweiten Blick ist Freuds Text aber immer noch einer der interessantesten Versuche, Autor und Text zueinander in Beziehung zu setzen, weil er auf das innere Leben abzielt und nicht auf äußere Ereignisse und weil damit das Autobiographische (und also das Verhältnis zwischen Autor und Text) immer schon als etwas Phantastisches und Phantasmatisches definiert ist. Der Schatten des Ichs, der auf den Text fällt, hat nichts gemein mit der faktenfrohen Vita des Autors, sondern einzig mit der gespenstischen Biographie des phantastischen Lebens zu tun. Eines der Paradigmen der Psychoanalyse ist das Interesse für das Detail, das Nebensächliche ebenso wie für die Äußerungen des Wiederholten und Obsessiven, und das Beharren darauf, daß in beiden Extremen Verweise auf Bedeutung zu finden sind. Diese Extremformen der Darstellung wären dann, auf dem Feld des Textes, zu lesen als die Spuren der phantastischen Biographie. Allerdings müßte man im Verhältnis Autor-Text eine Einbahnstraße sehen, was bedeutet, daß, wer es unternimmt, vom Text auf den Autor rückzuschließen, eine verbotene Einfahrt passiert. Oder, wie Susan Sontag es ausdrückt: “Man kann das eigene Leben verwenden, aber nur ein wenig und von einem seitlichen Winkel aus”.9 Diesen seitlichen Winkel wieder geradezubiegen und das Leben im Profil mit dem äußeren engzuschließen, hieße jedoch, einen Anlauf zu nehmen für die halsbrecherische Exegese des Lebens. Chandler jedenfalls ging Hand in Hand mit dem Alkohol durchs Leben, doch welche Bedeutung die Flasche für sein Leben und Schreiben besaß, ist weder am Leben noch am Schreiben abzulesen. Biographen aber besitzen einen steilen Hang zur eindeutigen Interpretation sogenannter Fakten, und wie weit entfernt biographische Wahrheiten – einmal aus der Luft gegriffen – voneinander zu liegen kommen, zeigt eine berühmte Episode mit ihren unterschiedlichen Auslegungen.
7 Vgl. hierzu Hiney (wie Anm. 2). S. 102f., der die Beziehung zwischen Marlowe und Chandler als eine reziproke faßt: “If it was the Raymond Chandler side of Philip Marlowe that made the detective so much more three-dimensional than other pulp heroes, then it was equally Marlowe who brought out the best in Chandler”. 8 Raymond Chandler: The Simple Art of Murder. In: Chandler: Pearls Are a Nuisance (1964). Harmondsworth: Penguin Books 1977. S. 181–199. Hier: S. 198. 9 Susan Sontag: Worauf es ankommt (2001). In: Sontag: Worauf es ankommt. Essays. Übers. von Jörg Trobitius. München/Wien: Hanser 2005. S. 23–48. Hier: S. 45.
208 “He swilled his bourbon” Mitte der 40er Jahre arbeitete Chandler in Hollywood für Paramount. Er hatte den Filmstudios für teures Geld ein Prosaskript über die Rückkehr eines traumatisierten Soldaten verkauft, das er nun unter dem Titel The Blue Dahlia zum Drehbuch umschrieb. Weil der große Star von Paramount, Alan Ladd, ein zweites Mal in die US-Army einberufen wurde, drängte die Zeit. Insgesamt standen für die Produktion nur zwölf Wochen zur Verfügung, sodaß die Dreharbeiten begannen, ehe das Skript fertiggestellt war. Chandler schrieb unter enormem Zeitdruck, und als die Zensurstelle der Marine kurzfristig den Ausgang des Plots ablehnte, sah er sich gezwungen, in der kurzen Zeit auch noch einen neuen Schluß herbeizuzaubern. Und hier nimmt die berühmte Episode ihren Ausgang: Um Chandler die rechtzeitige Fertigstellung des Drehbuchs schmackhafter zu machen, winken die Studioboße mit einer Belohnung von 5000$. Auf dieses großzügige Bonus-Angebot antwortet Chandler beleidigt mit einer handfesten Schreibblockade. Er spricht beim Produzenten John Houseman vor und erklärt ihm, er sehe sich außerstande, das Drehbuch zu beenden, es sei denn, man erlaube ihm, in alkoholisiertem Zustand zu Hause zu schreiben. Um seine Gesundheit mit dieser strategischen Trunkenheit allerdings nicht über die Maßen zu beeinträchtigen, müße ihm Paramount Betreuung rund um die Uhr garantieren. Houseman willigt ein. Daraufhin läßt sich Chandler nach Hause fahren, beginnt sich in einen Dämmerzustand zu trinken und beendet tatsächlich das Drehbuch innerhalb weniger Tage. Zur von den Studios finanzierten Betreuung, die seine Trunkenheit begleitete, gehörten unter anderem zwei Limousinen mit Chauffeur, die Tag und Nacht bereitstanden, insgesamt sechs Sekretärinnen, die abwechslungsweise rund um die Uhr für Diktate und andere Erledigungen zuständig waren; und nicht zuletzt ein Arzt und zwei Krankenschwestern, die dem Alkoholisierten, dessen Magen keine feste Nahrung mehr vertrug, hochdosierte Vitaminspritzen verabreichten.10 Der erste Chandler-Biograph Frank MacShane sieht in diesem Schreiben mit dem Glas in der Hand den ehrlichen Kampf eines Mannes gegen die Uhr und die schnöde Geldpolitik Hollywoods. Mit den Aussagen von Beteiligten, die MacShane zu Wort kommen läßt, wird das Bild eines Ehrenmannes gezeichnet, der die Aussicht auf eine 5000$-Prämie als unmoralisches Angebot, ja als Bestechung empfindet und seine Verletztheit mit Alkohol zu betäuben sucht, um überhaupt noch schreiben zu können. Chandler sei zu der Zeit trocken gewesen und habe für Paramount heldenhaft seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt. Daß diese Dauertrunkenheit einzig eine Folge der erlittenen Schmach und der 10 Zur Chronologie der Ereignisse vgl. MacShane (wie Anm. 2). S. 181–187 sowie Hiney (wie Anm. 2). S. 153–159.
209 Griff zur Scotch-Flasche eine den kaltherzigen Umständen angemessene Medizin für aufgerauhte Nerven war – auf eine solche Lesart läßt MacShane nicht den Schatten eines Zweifels fallen.11 Anders interpretiert Tom Hiney die Episode, und zwar indem er einen Artikel des berühmten Billy Wilder-Biographen Maurice Zolotow ins Spiel bringt. Dieser schrieb 1978 für die Zeitschrift Action einen Beitrag mit dem süffisanten Titel “Through a Shot Glass Darkly: How Raymond Chandler Screwed Hollywood”.12 Darin applaudiert er Chandler für dessen ebenso kühne wie brillante Gaunerei. Denn, so Zolotow, was sich Chandler mit seinem Forderungskatalog an Paramount erfüllt habe, sei nichts weniger als die Traumjob-Beschreibung eines Alkoholikers. Flankiert von verständigen Krankenschwestern, umschwirrt von Sekretärinnen, mit startbereiten Limousinen vor dem Haus, die jederzeit zum nächsten Drugstore oder Spirituosenladen aufbrechen konnten, schaffte sich Chandler traumhafte und dazu noch von oberster Stelle abgesegnete Rahmenbedingungen für das Frönen seiner Sucht: “He swilled his bourbon. He passed out. He awakened. He took a shot. He dictated a few speeches. He passed out again”.13 Chandler habe seit längerem stark getrunken und sei kaum mehr in der Lage gewesen, morgens in seinem Büro bei Paramount zu erscheinen. Weil das Studio jedoch keine Heimarbeit erlaubte, mußte er in einer zynischen Umkehrung der tatsächlichen Umstände die Legende vom geheilten Trinker stricken, der in diesem besonderen Ausnahmefall und einzig um der Sache willen seine Gesundheit dem Alkoholnebel aussetzte.14 Nach Hiney jedoch übersieht Zolotow in seiner Version, daß Chandler seinen Alkoholismus stets verleugnete – auch vor sich selber. Addiert man die Selbstverleugnung hinzu, so wird aus der Blue Dahlia-Episode der ebenso verzweifelte wie kreative Versuch, die brüchige Fassade zu wahren und die eigene verhaßte Sucht im Kleide aufopfernden Heldentums zu lieben.15
11 Vgl. MacShane (wie Anm. 2). S. 183. Zu Wort kommen läßt MacShane vor allem den Produzenten John Houseman. Housemans in Prosa verfaßte Version ist vollständig abgedruckt in: Raymond Chandler. A Documentary Volume. Hg. von Robert F. Moss. Detroit u.a.: Gale Group 2002. S. 127–140 (Dictionary of Literary Biography 254). 12 Maurice Zolotow: Through a Shot Glass Darkly: How Raymond Chandler Screwed Hollywood. In: Action (Januar/Februar 1978). S. 52–57. 13 Ebd. Zitiert nach: Hiney (wie Anm. 2). S. 157. 14 Vgl. Hiney (wie Anm. 2). S. 153–158. 15 Vgl. ebd. S. 158: “The fact was that Chandler frequently resorted to fantasy when making excuses for his alcoholism, or for other truths he wanted to forget. Later in his life, he would sometimes claim that he had been mugged as an excuse for arriving late and dishevelled; moreover, he was often already drunk when he made up such stories. He had been certainly started binge drinking before The Blue Dahlia, but his refusal to admit this may have been for reasons more complicated than a simple ploy to enable him to work from home”.
210 “Getting her drunk for my own sordid purposes” Anders als MacShane nimmt Hiney an, daß Chandler während seiner Arbeit an The Blue Dahlia von Beginn weg getrunken hat. Als starke Stütze dieser These nennt er die häufigen Erwähnungen von Alkohol in der ersten Fassung des Skripts. Diese Fassung wurde von Paramount mit zahlreichen Anstreichungen zurückgegeben, die fast ausschließlich die exzessive Beschreibung von Cocktails und Drinks betrafen.16 Tatsächlich aber, so will es zumindest die Legende, hat Chandler seine Romane zumeist nüchtern geschrieben – und doch feiert der Alkohol in diesen ebenso großzügig bemessene Auftritte. Mit dem Konzept der phantastischen Biographie im Rücken muß man nicht, wie Hiney es tut, die Verbindung zwischen Biographie und Text auf genaueste Entsprechungen zwischen Erfahrung und Beschreibung herunterbrechen, sondern kann den biographischen Niederschlag als obsessive Beschäftigung mit dem Ungeheuer Alkohol fassen. In diesem besessenen Interesse, das sich auf der Ebene der Figuren, der Beziehungen sowie der Ermittlungsmethoden Ausdruck verschafft, sitzt – ähnlich wie der kleine Mann im Ohr – ein Teil der Chandlerschen Phantasie und wiederholt immerzu das magische Wort “Alkohol”.17 Die häufige Erwähnung von Alkohol ist aber auch der unmittelbaren gesellschaftspolitischen Situation geschuldet. Als Chandler 1933 mit Kurzgeschichten im Black Mask Magazine zum ersten Mal als Schriftsteller an die Öffentlichkeit tritt, liegt die Prohibition in den letzten Zügen. Das 1919 als Ergänzung zur US-Verfassung erlassene Gesetz, das Herstellung, Verkauf und Transport berauschender Getränke verbot, führte nicht nur zu einer Explosion von Schwarzmarkt und Korruption sowie der mit dem Namen Al Capones verknüpften Blütezeit der amerikanischen Mafia,18 sondern auch zur Kreation des hard-boiled detectives, der – schlagkräftig und unbestechlich – die strahlende Kehrseite der Prohibition verkörpert. Im ersten Marlowe-Roman The Big Sleep (1939) verschwindet der ehemalige Schnapsschmuggler Rusty Regan spurlos; dieses Verschwinden kann man durchaus allegorisch lesen: Das Schnapsschmuggeln ist, im wahrsten Sinne des Wortes, über-flüßig geworden, 16
Vgl. ebd. S. 157. Die Auswirkungen dieses obsessiven Flüsterns, das zuweilen auch “Tabak” murmelt, reicht bis ins kleinste Detail einer Personenbeschreibung: “She was wearing a tobacco brown suit with a high-necked white sweater inside it. Her hair by daylight was pure auburn and on it she wore a hat with a crown the size of a whisky glass” (Raymond Chandler: Farewell, My Lovely [1940]. Harmondsworth: Penguin Books 1975. S. 78 [Kursivierung SO]). 18 Vgl. dazu John Dickie: Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia (2004). Übers. von Sebastian Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2006. S. 264ff. Der Grund für die Einführung der Prohibition lag weniger in einem Extrem philanthropischer Aufklärung begründet, als vielmehr in der Absicht, das Bierbrauerei-Monopol deutschstämmiger Einwanderer zu zerstören. 17
211 der Alkoholkonsum wird, vom kriminellen Ruch befreit, zur sozialen Konvention. Rita Elizabeth Rippetoe hat in ihrer Studie Booze and the Private Eye herausgearbeitet, in welchen Situationen und zu welchem Zweck Alkohol bei Chandler Erwähnung findet. Das von ihr ausgemachte Dreigestirn “hospitality, manipulation, and self-medication”19 faßt in der Tat die zentralen Funktionen auf der Ebene der Handlung zusammen. Hinzuzufügen wäre noch die erzähltechnische Funktion des Alkohols, die in den Momenten der ‘Gastfreundschaft’, beim Mixen des Drinks, beim Nippen am Glas ähnlich wie das Anzünden einer Zigarette zur Schaffung von Atmosphäre und Verlangsamung der Handlung führt.20 Vielleicht ist es dennoch nicht ganz unangebracht, Rippetoes Kategorien zu modifizieren. “Hospitality” wäre dann der Gebrauch von Alkohol innerhalb gesellschaftlicher und geschäftlicher Konventionen. Dazu gehören Cocktailparties und vor allem Besprechungen mit Klienten, die häufig von Drinks begleitet werden. Dabei wird das Verhältnis zu und der Umgang mit Alkohol stets konsequent für die Charakterzeichnung der Figuren verwendet. Am Anfang von The Big Sleep besucht Marlowe seinen Auftraggeber, General Sternwood. Dieser, durch Alter und Krankheit zur Abstinenz gezwungen, bietet Marlowe eingangs des Gesprächs einen Brandy an. Traurig, in längst vergangene Zeiten blickend, fügt er hinzu: “I used to like mine with champagne as cold as Valley Forge and about a third of a glass of brandy beneath it”.21 Mit dieser Geste des wohlmeinenden Gastgebers wird Sternwood zum Sympathieträger erkoren, und seine positive Einstellung zum blauen Dunst schmückt als zusätzlicher Orden seine Brust: “‘You may smoke, sir. I like the smell of tobacco’. I lit the cigarette and blew a lungful at him and he sniffed at it like a terrier at a rat-hole”.22 Der Genuß von Alkohol wie auch von Zigaretten ist bei Chandler stets ein Indikator für Umgangsformen und Charakterstärke einer Figur. Als leibhaftiges Gegenteil zu General Sternwood präsentiert sich Mrs. Murdock zu Beginn von The High Window: “She had a lot of face and chin. She had pewter-coloured hair set in a ruthless permanent, a hard beak and large moist eyes with the sympathetic expression of wet 19 Rita Elizabeth Rippetoe: Booze and the Private Eye. Alcohol in the Hard-Boiled Novel. Jefferson/London: McFarland & Co. 2004. S. 68. 20 Vgl. Widdicombe (wie Anm. 1). S. 29: “And what point is Chandler trying to make with all this alcohol and nightlife? […] In part, he’s giving his fiction a chance to slow down a little, to take a breath in its picaresque wandering around southern California”. 21 Raymond Chandler: The Big Sleep (1939). Harmondsworth: Penguin Books 1976. S. 14. 22 Ebd. 23 Raymond Chandler: The High Window (1942). Harmondsworth: Penguin Books 1977. S. 10.
212 stones”.23 Bereits die Physiognomie läßt zu recht vermuten, daß es mit den Gastgeberpflichten hier nicht zum Besten bestellt ist: Während Mrs. Murdock, aus medizinischen Gründen, ununterbrochen Portwein trinkt, bleibt Marlowe der obligate Drink verwehrt. Mit noch größerer Antipathie werden von Chandler einzig puritanische Abstinenzler belegt. Die zweite Kategorie Rippetoes, Alkohol als Mittel der Manipulation, beschreibt den strategischen Einsatz des braunen Goldes, am häufigsten in Form von Whisky. Es gehört zu den detektivischen Ermittlungsmethoden, für die Informationsbeschaffung zuweilen nicht den Revolver, sondern die Flasche zu zücken. Wenn sich ein Säufergesicht an der Tür zeigt, wird der Flachmann strategisch zum Vorschein gebracht und gezielt eingesetzt: “I poured her a slug that would have made me float over a wall. She reached for it hungrily and put it down her throat like an aspirin tablet and looked at the bottle”.24 Weil Marlowe über “einen moralischen Standard, der dem der Artusrunde Konkurrenz machen könnte”,25 verfügt, führt der taktische Gebrauch von Alkohol zu schlechtem Gewissen und Selbstvorwürfen.26 Doch ebenso wie der Trinker aus Sucht zur Flasche greift, greift der Detektiv immer wieder zur Flasche, um die Zungen zu lösen – und die nötige hypnotische Wirkung zu entfachen, die erst die Atmosphäre für Bekenntnisse schafft. Neben der detektivischen gibt es auch eine kriminelle Strategie, die auf der Basis von Alkohol operiert. In Farewell, My Lovely zwingen Marlowe korrupte Polizisten, Whisky zu trinken, um ihn dann wegen Alkohol am Steuer zu verhaften; oder er wird, wieder von einem korrupten Polizisten, bewußtlos geschlagen und mit Gin übergossen, um als vermeintlich stark alkoholisierter Mörder zu erwachen. Rippetoes dritte Kategorie, die Selbstmedikation, ist vielleicht die interessanteste. Diese etwas euphemistisch anmutende Wendung erinnert stark an Chandlers ‘organisierte’ Dauertrunkenheit, die den Schmerz der Kränkung lindern (5000$) und die Nerven beruhigen sollte. Zuweilen zielt die Selbstmedikation auf die betäubende Wirkung von Alkohol im Falle eines Schockerlebnisses. Ebenso häufig aber meint sie den Konsum hochprozentiger Drinks, um aktives Vergessen in die Wege zu leiten. Die feuchte Beschwörung des Vergessens gelingt jedoch nicht immer, im Gegenteil. Als Marlowe das tödliche Verschwinden des ehemaligen Schmugglers Regan aufgeklärt hat,
24
Chandler (wie Anm. 17). S. 28. Kathleen Gregory Klein und Joseph Keller: Der deduktive Detektivroman: Ein Genre, das sich selbst zerstört. In: Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte. Hg. von Jochen Vogt. München: UTB 1998. S. 428–443. Hier: S. 437. 26 Vgl. Chandler (wie Anm. 17). S. 32: “I liked getting her drunk for my own sordid purposes. I was a swell guy”. 25
213 trifft er im Alkoholnebel nur auf Erinnerungen an die Frau, die er zu vergessen hofft: “On the way downtown I stopped at a bar and had a couple of double Scotches. They didn’t do me any good. All they did was make me think of Silver-Wig, and I never saw her again”.27
The Long Good-bye The Long Good-bye ist Chandlers sechster Marlowe-Roman. Wenn The Big Sleep die geradlinigste Handlung aufweist und die Kunst des ökonomischen Erzählens vorführt, dann ist The Long Good-bye der Roman der großen Umwege, der Verdoppelungen und Kreisbewegungen. Aus diesem Grund gibt es das ganz zentrale Thema nicht und auch nicht den ganz konkreten Fall, der sich am Ende mit der Ermittlung des Täters auflöst. Hat das Wort ‘privat’ in der Berufsbezeichnung tatsächlich eine bestimmte Bedeutung, und Marlowe besteht darauf,28 dann wendet sich diese Bedeutung in The Long Good-bye gegen den Privatdetektiv selbst: Marlowe gibt hier sein sexuelles Debut, irrt sich, wo er nur kann, und begegnet an allen Ecken und Enden seinen eigenen Ängsten.29 In der Verfilmung des Romans haben Robert Altman und die Drehbuchautorin Leigh Brackett Marlowe als Verlierer gezeichnet.30 Indem Altman Marlowe, gespielt von Elliot Gould, am Ende den verräterischen Freund Terry Lennox erschießen läßt, legt er alles Gewicht der Geschichte auf das Thema der Freundschaft. Altman steht mit einer solchen Interpretation nicht allein. Preis und Enttäuschung einer Freundschaft haben viele Exegeten als eigentliches Thema des Romans ausgemacht. Man kann ihn auch, ähnlich wie Farewell, My Lovely, als ein in dunklen Farben gehaltenes Sittengemälde des Justiz- und Polizeiapparats lesen und nicht zuletzt – und hier liegt für viele das Angebot einer autobiographischen Lesart begründet – als einen Roman über das Schreiben selbst. Das penetranteste Thema aber ist der Alkohol in all seinen Ausformungen und Varianten.31 Über weite Strecken bestimmt das hochprozentige Naß die 27
Chandler (wie Anm. 21). S. 220. Ebd. S. 110: “I have a licence to operate as a private detective. I suppose that word ‘private’ has some meaning”. 29 Vgl. Steven Weisenburger: Order, Error, and the Novels of Raymond Chandler. In: The Detective in American Fiction, Film, and Television. Hg. von Jerome H. Delamater und Ruth Prigozy. Westport/London: Greenwood Press 1998. S. 13–26. Hier: S. 23. 30 Vgl. Robert Altman zitiert nach: Al Clark: Raymond Chandler in Hollywood. Los Angeles: Silman-James Press 1996. S. 173: “I see Marlowe the way Chandler saw him […] a loser. But a real loser, not the fake winner that Chandler made out of him. A loser all the way”. 31 Etwas spezifischer faßt Rippetoe die Thematik des Romans: “Yet, The Long Goodbye is not so much simply about drinking as it is about alcoholism” (Rippetoe [wie Anm. 19]. S. 77). 28
214 Beziehungen, es knüpft sie, strukturiert sie und kompliziert sie. Marlowe wird durch die Handlung von zwei Trinkern begleitet, deren Schicksal für ihn zur Herzensangelegenheit in jedem Sinne wird. An die beiden Trinkerfiguren sind wiederum zwei Handlungsstränge geknüpft, die zum einen durch den Detektiv, zum anderen durch zwei Frauen miteinander verbunden sind. Man sieht bereits an diesen kurzen Bemerkungen, wie sehr der Roman mit der Logik von Verdoppelungen arbeitet und damit auf der Ebene der Figurenkonstellation den Zustand der Trunkenheit, die Unschärfe des Sehens, die wundersame Vermehrung der Umrisse, imitiert.32 Doch nicht nur die exponierten Hauptfiguren folgen dem Diktat des Alkohols, auch die Hintergrundszenerie ist von allzu vielen Drinks und deren Auswirkungen getränkt. Es sind Details, kleine Szenen am Rande, wie das betrunkene Torkeln und Taumeln, der gierige Griff nach der Flasche und das heulende Elend, das folgt, wenn alle Gläser leer sind, die die Atmosphäre des Romans weiter verdichten und das Panorama liefern, in dessen Vordergrund mit viel Gin, Scotch und Bourbon die große Tragödie spielt. Als Marlowe den Verleger Howard Spencer in einer Bar zu einer Besprechung trifft, wird seine Aufmerksamkeit immer wieder von einer traurigen Gestalt am Tresen angezogen: There was a sad fellow over on a bar stool talking to the bartender, who was polishing a glass and listening with that plastic smile people wear when they are trying not to scream. The customer was middle-aged, handsomely dressed, and drunk. He wanted to talk and he couldn’t have stopped even if he hadn’t really wanted to talk. He was polite and friendly and when I heard him he didn’t seem to slur his words much, but you knew that he got up on the bottle and only let go of it when he fell asleep at night.33
Trinker, wohin auch Marlowes müde Augen schweifen. Da wird er vom sehr bürgerlichen Mr. Edelweiss beauftragt, dessen durstige und herumstreunende Frau zurückzuholen (“She drank, she played around” [133]); als er nach der Untersuchungshaft dem Oberstaatsanwalt vorgeführt wird, weht ihm ein “roher Whiskygeruch” (52) entgegen; und sogar in seiner spartanisch eingerichteten Gefängniszelle sinniert der Detektiv über den benachbarten Trinkerblock, in dessen Zellen Stuhl und Pritsche fehlen: “You lie on the concrete floor. You sit on the toilet and vomit in your own lap” (45). Dies ist, wie gesagt, nur das Bühnenbild, vor dem drei große Trinker die Gläser heben: Der eine Trinker feiert am Anfang und am Ende der Geschichte seine großen Auftritte, dem zweiten gehört die Mitte des Romans, aus dem Munde des dritten vernimmt man die Erzählung. 32
Vgl. Weisenburger (wie Anm. 29). S. 22, wo von einer “logic of doubles” die Rede ist. Raymond Chandler: The Long Good-bye (1953). Harmondsworth: Penguin Books 1976. S. 76. Alle folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe. 33
215 “I liked him better drunk” Der Roman eröffnet mit einer sanften Liebeserklärung an einen Betrunkenen: The first time I laid eyes on Terry Lennox he was drunk in a Rolls-Royce Silver Wraith outside the terrace of The Dancers. The parking lot attendant had brought the car out and he was still holding the door open because Terry Lennox’s left foot was still dangling outside, as if he had forgotten he had one. He had a young-looking face but his hair was bone white. You could tell by his eyes that he was plastered to the hairline, but otherwise he looked like any other nice young guy in a dinner jacket who had been spending too much money in a joint that exists for that purpose and for no other (5).
Als dessen Begleiterin Lennox aus dem Auto wirft, nimmt sich Marlowe in seiner ganzen Ritterlichkeit des Betrunkenen an, er bettet ihn in sein Auto, fährt ihn zu sich nach Hause, kocht Kaffee und chauffiert den Unbekannten schließlich zu dessen eigenem Heim. Einige Zeit später kommt es erneut zu einer zufälligen Begegnung: Wieder kümmert sich der Privatdetektiv rührend um den Betrunkenen, wieder bleibt die Ursache für Marlowes Zuneigung im Dunkeln. Nachdem Lennox zum zweiten Mal (!) die reiche Sylvia Potter geheiratet hat, entspinnt sich zwischen den beiden Männern eine schweigsame Freundschaft – man trifft sich ab und an in der immer gleichen Bar, um gemeinsam Gimlets, einen Mix aus Gin und Limettensaft, zu trinken. Eines Nachts taucht Lennox in Marlowes Wohnung auf mit der Bitte, ihn zum Flughafen von Tijuana zu fahren; Sylvia ist ermordet worden und Lennox auf der Flucht. Später wird Marlowe die Nachricht erhalten, Lennox habe sich in Mexiko das Leben genommen. Das ist der eine Handlungsbogen, an dessen Ende Lennox, wieder fürchterlich lebendig, in Marlowes Büro spazieren wird. Daß die Hilfsbereitschaft Marlowes weniger seiner Ritterlichkeit geschuldet ist, als vielmehr der Anziehung, die Lennox auf ihn ausübt, wurde häufig kommentiert. Man sah darin eine unausgesprochene homosexuelle Neigung des Detektivs. Chandler selbst hat eine solche Lesart brüsk verworfen; gewisse Textzeilen jedoch wie auch die Logik der Beziehung zwischen den beiden Männern betteln geradezu um eine solche Interpretation. Wie nicht anders zu erwarten, ist in den biographischen Arbeiten über Chandler das Gerücht, der Autor selbst sei homosexuell gewesen, ein häufiger Gast, dem jedoch, mit dem Verweis auf zahlreiche außereheliche Affären, rasch die Tür gewiesen wird.34 Wenn man, weil es um ‘Wahrheiten’ geht, weder den Autor noch den Protagonisten auf die Couch betten möchte, um ihrem geheimen, unsichtbaren Leben zu lauschen; wenn man auch nicht dem Autor als Exegeten seiner eigenen Texte Folge leisten möchte, dann bleibt einzig der Text, und die außertextuelle Welt stürzt zwischen den Zeilen hinab ins Nichts. 34
Vgl. MacShane (wie Anm. 2). S. 331.
216 “I’m supposed to be tough”, berichtet Marlowe, “but there was something about the guy that got to me. I didn’t know what it was unless it was the white hair and the scarred face and the clear voice and the politeness” (9). Von diesen Attraktionsmomenten ist es die Höflichkeit, die es dem Detektiv am meisten angetan hat. Als “polite as hell” (9), verteufelt höflich, wird Lennox’ Benehmen beschrieben, und das sowohl in nüchternem wie in betrunkenem Zustand. Man könnte versucht sein zu denken, daß diese Konstanz im Verhalten Person und Persönlichkeit faßbar macht – doch das ist, wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird, gerade nicht der Fall. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen dem betrunkenen und dem nüchternen Lennox, der die Beständigkeit bricht: Die Nüchternheit löst paradoxerweise seine Zunge; bei nur ein, zwei Drinks neigt er zu Vertraulichkeiten: “You talk too damn much”, empört sich Marlowe, “and it’s too damn much about you” (23). Die Redseligkeit ergießt sich, mit etwas Selbstmitleid versehen, vor allem über das Thema Frauen. Sylvia, Lennox’ Gattin, ist schön, reich und das, was man im Englischen als tramp bezeichnet. In dieser zum zweiten Mal geschlossenen Ehe besetzt Lennox die Rolle des duldsamen Gefährten, der den Ahnungslosen spielt, wenn Sylvia die Nächte mit wechselnden Liebhabern im Gästehaus verbringt. Von diesem männlichen Elend, das Lennox’ Anziehungskraft abschwächt, möchte Marlowe nichts wissen: “Your coffee’s getting cold” (28), unterbricht der Detektiv den jammernden Freund lakonisch und verdeckt mit diesem Satz die Angst über den Verlust des idealen Bildes nur halb. Nicht nur aus diesem Grund zieht Marlowe den betrunkenen Lennox vor, seine Präferenz fußt nicht nur auf Nächsten-, sondern auch auf Eigenliebe: “I liked him better drunk, down and out, hungry and beaten and proud. Or did I? Maybe I just liked being top man” (20). Nach seiner Heirat trinkt sich Lennox nicht mehr in die Nähe der Bewußtlosigkeit, sondern maßvoll nie mehr über den Durst hinaus. Diese seltsame Wandlung bleibt für Marlowe unverständlich, Heirat und Nüchternheit finden seinen Gefallen nicht, sodaß nur eine enttäuschende Erklärung übrig bleibt: “Perhaps you were never really drunk” (18). Wer von einem Tag auf den anderen von der Alkoholsucht geheilt ist, kann kein richtiger Trinker gewesen sein. Dieser banale Verdacht wird sich am Ende als entscheidend herausstellen. Lennox selbst verfolgt für seinen plötzlichen Abschied vom Laster einen anderen Erklärungsansatz: “Alcohol is like love”, verkündet er. “The first kiss is magic, the second is intimate, the third is routine. After that you take the girl’s clothes off ” (21). Anders formuliert: Das wiederholte Betrunkensein langweilt ihn – wie die ewig neuen alten Repetitionen der Liebe. Am Ende des Romans kommt es zu einem kurzen Wiedersehen zwischen Marlowe und Lennox, bei welchem der Detektiv seinen Freund als “moralischen Defaitisten” (319) beschimpft, weil er sich unter Gangstern ebenso zuhause fühle wie unter ehrlichen Menschen. Dieses ungemütliche Ende einer
217 Freundschaft haben Kritiker allerdings eher als mit Lennox’ verkommenen ethischen Maßstäben mit der Art und Weise seines Auftretens als mexikanischer Schönling in Verbindung gebracht. Denn Marlowes Augen erkennen am Ende in Lennox, stark parfümiert, gut betucht, einen Homosexuellen. Im Text allerdings gibt es eine lange Spur, die immer wieder, wie der Zeiger eines Kompasses, auf das moralische Versagen des Freundes hinweist. Ein Requisit von Lennox’ fingiertem Selbstmord ist ein Abschiedsbrief an den Detektiv, dem 5000$ beigelegt sind. Man kann darauf wetten, daß es sich dabei um ganz ähnliche 5000$ handelt wie die Chandler einst für die pünktliche Beendigung des Blue Dahlia-Skripts in Aussicht gestellten. Die Funktion des großen Geldbetrages bleibt unklar. Für die Fahrt nach Tijuana und die daraus entstandenen Unannehmlichkeiten, die er unter der Kategorie ‘Freundschaftsdienst’ abbuchte, wurde Marlowe bereits gegen seinen Willen reichlich entlöhnt; der Extrasumme haftet also dieselbe nettgemeinte Übertreibung an, die das Ehrgefühl des Begünstigten verletzen muß: im Falle Chandlers, weil er sie vielleicht als Mißtrauen gegenüber seinen künstlerischen Fähigkeiten interpretierte, im Falle Marlowes, weil er darin eine Art Schweigegeld sieht und im Schweigegeld letztlich den Verrat der Freundschaft. So verweigert Marlowe seinem eleganten Freund am Ende nicht nur, mit ihm den rituellen Gimlet zu trinken, sondern ebenso das Lebewohl: “I said it to you, when it meant something. I said it when it was sad and lonely and final” (319).
“Any idea why he drinks?” Im Mittelpunkt des zweiten Erzählstrangs steht Roger Wade, ein erfolgreicher Autor historischer Romane. Der Detektiv wird von dessen Frau Eileen beauftragt, durch seine Anwesenheit im Hause dafür zu sorgen, daß der alkoholkranke Schriftsteller sein Buch zu Ende schreibt und während seiner Trinkeskapaden nicht gewalttätig wird. Trotz oder, fatalistisch gelesen, gerade wegen Marlowes Aufsicht wird Wade später den Tod finden, ermordet von seiner Ehefrau, die auch Sylvia Lennox getötet hat und zudem Terrys Ex-Gattin ist. Marlowe schlüpft also in die Rolle einer handgreiflichen Krankenschwester, um sich um einen Schriftsteller zu kümmern, der sich mit Fleiß in tiefste Trunkenheit versetzt – ein Szenario, das vertraut anmutet. In seinem alkoholischen Eifer ahmt Wade sein großes Vorbild nach, das gleichsam auch der verehrte Übervater Chandlers ist: F. Scott Fitzgerald. Von Fitzgerald, einem chronischen Säufer, ist bekannt, daß er nach seiner Trockenlegung sein inneres Gleichgewicht verloren hat und Bekanntschaft mit dem Wahnsinn schloß.35 Und so ist die Warnung, 35
Vgl. Aaron Latham: Crazy Sundays. F. Scott Fitzgerald in Hollywood. New York: Viking Press 1971. S. 5. Dort verkündet Anita Loos, eine enge Bekannte Fitzgeralds, die er in seiner ihm unerträglichen Nüchternheit umzubringen drohte, tapfer: “It convinced me that you should never sober up a chronic drunk”.
218 einen Alkoholiker nicht vom Trinken abzubringen, ein Leitmotiv, das den Roman durchzieht. Der Detektiv geht im Falle Wades aber nicht nur einer pflegerischen Aufgabe nach, sondern auch der psychologischen Frage nach dem Grund der Trinkerei. Wade selbst wehrt die Frage nach dem Warum ironisch ab, indem er sich über die Psychologisierungs-Bereitschaft seiner Umgebung lustig macht: Every damn one of them knows I’m an alcoholic. So they wonder what I’m running away from. Some Freudian bastard36 has made that a commonplace. Every ten-year-old knows it by now. If I had a ten-year-old kid, which God forbid, the brat would be asking me, “What are you running away from when you get drunk, daddy?” (148).
In einem Gespräch mit Wades Frau unternimmt Marlowe eine solche psychologische Deutung: “He needs a psychiatrist, Mrs Wade”, sagt er und fügt hinzu: “If you want an amateur opinion, here it is. He thinks he has a secret buried in his mind and he can’t get at it. It may be a guilty secret about himself, it may be about someone else” (155). Tatsächlich kreist Wades Trinken um das, was man einen traumatischen Kern nennt, ein verdrängtes Erlebnis, mit gewaltigen Gefühlen belegt, das die Erinnerung nicht mehr (re)produzieren kann. Weil Wade einzig weiß, daß er dieses Erlebnis im Zustand der Trunkenheit hatte, geht er den gewohnten Weg des Trinkers ins nebulöse Vergessen, doch mit der dem Weg genau entgegengesetzten Absicht, nämlich durch das Schaffen des betrunkenen Zustands zur verwehrten Erinnerung zu gelangen. Trinken wird so zur Reise in die Vergangenheit, dem Alkohol kommt im wahrsten Sinne eine konservierende Funktion zu: “Well”, sagt Wade und zeigt auf eine Whiskyflasche, “here in the bottle is my memory” (210). Das paradoxe Unternehmen, im Vergessen die Erinnerung zu suchen, führt schließlich nicht nur zum leichten Schlaf des Vergessens, sondern direkt in die kühle Umarmung des Todes, da Wades Frau den Vollrausch ihres Gatten ausnützt, um den Wehrlosen zu erschießen. Der Mord wird als Selbstmord getarnt, doch derselbe Alkohol, der den Mord ermöglicht hat, verrät die Täterin, da der Alkoholspiegel in Wades Blut derart hoch war, daß ein Suizid als Todesursache ausscheidet. Neben der Verknüpfung mit Erinnern und Vergessen geht in der Figur Roger Wades der Alkohol auch eine Verbindung mit dem Schreiben ein. Trinken und 36 Mit dem “Freudian bastard” dürfte wohl Erich Fromm gemeint sein, der pathologisches Verhalten mit der Flucht vor Pflicht und Gemeinschaft erklärt. Andere Lesarten identifizieren ihn mit Ross Macdonald, Chandlers härtestem Konkurrenten innerhalb der hard-boiled detective school, der in seinen Romanen die Psychoanalyse Frommschen Einschlags zur Hauptermittlungsmethode erhebt. In seinem Roman The Chill (1965) wiederum wählt Macdonald, ob mit Bedacht oder nicht, zum tragischen Protagonisten einen College-Professor mit englischen Manieren, der in einer unglücklichen Ehe mit einer um zwanzig Jahre älteren Frau gefangen ist.
219 Schreiben werden dort zu Geschwistern, wo Wade versucht, hinter sein eigenes Geheimnis zu kommen. Zwar war er stets ein starker Trinker, doch hat der Alkohol keinen Einfluß auf sein literarisches Schaffen ausgeübt. Seit jenem verdrängten Erlebnis aber folgen Wades Texte großen kreisförmigen Umwegen, wilden Assoziationsketten, die – um nicht an einem toten Punkt zu einem Ende zu kommen – sich zu immer neuen Schlaufen drehen. “He wrote and wrote and wrote”, stellt ein feinfühliger Kommissar nach Wades Tod fest. “Drunk or sober he hit that typewriter. Some of it is wild. Some of it kind of funny, and some of it is sad. The guy had something on his mind. He wrote all around it but he never quite touched it” (235). Will man dieses Schreibkonzept verallgemeinern, so muß man behaupten, daß Schreiben letztlich stets um einen traumatischen Kern herum geschieht. Es ist ein Kreisen um Bedeutung, das das, was gesagt werden soll, nie trifft. Dem Leser bliebe in einem solchen Verständnis der Text-Genese die Rolle des feinfühligen Polizisten, der die Art und Weise des Schreibens, den Stil, beschreibbar macht, sich zur Deutung jedoch außerstande sieht und sich stattdessen über die Psyche des Autors hermacht, um sich damit in der von Wade verlachten Rolle des Freudian bastard wiederzufinden. Anders als Lennox ist Roger Wade eindeutig als Alkoholiker ausgewiesen. Marlowe selbst unterscheidet scharf zwischen krankhaftem und gelegentlichem Alkoholkonsum. Die Differenz, die er ins Feld führt, scheint einleuchtend: “A man who drinks too much on occasion is still the same man as he was sober. An alcoholic, a real alcoholic, is not the same man at all. You can’t predict anything about him for sure except that he will be someone you never met before” (154 [Kursivierung SO]). Allerdings erweisen sich sowohl die säuberliche Trennung als auch die an sie geknüpften Profile im Laufe des Romans als unbrauchbar. Auf Wade mit seinen Wutanfällen trifft die Charakterisierung des Alkoholikers zu, auf Lennox mit seinen stets guten Manieren die des Gelegenheitstrinkers. Am Ende des Romans zeigt sich aber gerade Lennox als der Jemand, den Marlowe niemals zuvor getroffen hat.
“Alcohol is like love” Der dritte Trinker im Bunde ist Marlowe selbst. Und obwohl er sich mit Bedacht als Gelegenheitstrinker präsentiert (“I finished the drink and went to bed” [232]), zeigt diese Fassade in The Long Good-bye große Risse und läßt dahinter den Alkoholiker sichtbar werden. Als alkoholkrank gibt sich Marlowe nicht nur zu erkennen, indem er sich in einer denkwürdigen Szene mit Scotch in die Bewußtlosigkeit befördert, sondern vor allem durch sein umfangreiches Expertenwissen, das die eigene Erfahrung zusammengetragen hat. Dieser eigene Erfahrungsschatz erklärt einen Teil der Anhänglichkeit an Terry Lennox: Marlowe fühlt sich als dessen Mentor und begegnet in der Trunkenheit des Jüngeren seinem vergangenen Ich. Auch aus diesem Grund vielleicht zieht er
220 den betrunkenen dem nüchternen, auskunftsfreudigen Lennox vor. Ironischerweise wirft der Detektiv in der Begegnung mit seinem alkoholischen Freund auch einen Blick in seine nahe Zukunft; denn etwas mehr als einen Roman später wird Marlowe bereits mit Linda Loring, Sylvias Schwester und Lennox’ Schwägerin, verheiratet sein und dessen unglückliche Rolle als reicher, verwöhnter Ehemann neu interpretieren. Seine zukünftige Gattin lernt Marlowe ausgerechnet bei einem Glas Gimlet kennen und zwar bei Victor’s, seinem Stammlokal aus der Zeit mit Lennox. Die erste Begegnung mit Linda Loring ist keine hinreißende, aber als entscheidend stellt sich nicht das Gespräch zwischen den beiden heraus, sondern die Tatsache, daß beide den gleichen Drink trinken: “The woman in black watched me. Then she lifted her own glass towards me. We both drank. Then I knew hers was the same drink” (137). Bittere Gimlets verbinden, aber das Band der Liebe knüpfen schließlich zwei Flaschen Champagner. Marlowes sexuelles Debut gerät zur kleinen Groteske, in der die Champagnerflaschen die Hauptrolle spielen. Zwar beschwört Linda Loring die stimulierende Wirkung von Alkohol (“But liquor is an aphrodisiac – up to a point” [305]), doch ersetzt im Liebesgeflüster der Champagner den sexuellen Akt fast zur Gänze: “I want my champagne” (306), heißt es hier, “You still want some champagne?”, tönt es von dort, und immer wieder: “I want some champagne” (307). Was das ungleiche Paar verbindet, ist weniger die gegenseitige Liebe als die gemeinsame Liebe zum Alkohol. Die weitaus größere Versuchung als die weiblichen Lockungen stellt für Marlowe in The Long Good-bye der Alkohol dar. Immer wieder flüstert ihn der Geist aus der Flasche an, doch der Detektiv bleibt standhaft und läßt es bei ein, zwei Drinks bewenden. Als er endlich doch der Versuchung erliegt, hält das Schicksal einen Auftrag für ihn bereit: “If it hadn’t been for Mr Howard Spencer at the Ritz-Beverly I would have killed a bottle and nocked myself out” (74). Das Treffen mit dem Verleger wird Marlowe die Zuständigkeit für den Alkoholiker Wade bescheren, der fortan als eine Art Memento der eigenen Schwäche fungiert. Als aber Mrs. Wade Marlowe mit ihrer vergangenen großen Liebe verwechselt und zum tête-à-tête einlädt, rettet sich der Detektiv aus dem drohenden Fehltritt in die Trunkenheit: “I went down the stairs fast and crossed into the study and grabbed the bottle of Scotch and tilted it. When I couldn’t swallow any more I leaned against the wall and panted and let the stuff burn in me until the fumes reached my brain” (180). Man kann Ursache und Wirkung aber auch anders verknüpfen; in einer solchen Lesart bietet Mrs. Wade dem durstigen Marlowe endlich den lang ersehnten Anlaß, seinen müden Kopf in den Alkoholnebel zu tauchen. Weil auf den Rausch die Ernüchterung folgen muß, ist The Long Good-bye zu großen Teilen auch ein Desillusionsroman. Das Thema der Enttäuschung wird bereits auf den ersten Seiten eingeführt, als der Mentor Marlowe seinen
221 Schützling Lennox auf die entzauberte Welt ohne Alkohol vorbereitet. Es brauche, so Marlowe, drei Jahre, um mit dem Trinken aufzuhören: “Usually it does. It’s a different world. You have to get used to a paler set of colours, a quieter lot of sounds. You have to allow for relapses. All the people you used to know well will get to be just a little strange. You won’t even like most of them, and they won’t like you too well” (12). Von dieser Ernüchterung betroffen ist am Ende aber nicht der Angesprochene, sondern der Sprecher selbst. Marlowes Welt ist fahler, ärmer und Lennox für ihn zum Fremden geworden. Seine Ernüchterung ist die eines Trinkers, verschränkt sich aber mit der eines Liebenden. Lennox’ eingängige Gleichung “alcohol is like love” findet erst in der Schlußszene des Romans ihre Wahrheit, als der Detektiv beschließt, ob seiner Enttäuschung Lennox die Freundschaft aufzukünden. So groß aber kann keine Enttäuschung sein, daß die anderen Gefühle dahinter zur Gänze verschwinden. Deshalb lauscht Marlowe den sich entfernenden Schritten seines Freundes auch dann noch nach, als diese längst verhallt sind: “What for? Did I want him to stop suddenly and turn and come back and talk me out of the way I felt?” (320). Sobria ebrietas, nüchterne Trunkenheit, nennt Roland Barthes den Entschluß des Liebenden, das geliebte Objekt nicht mehr haben zu wollen. Kein Rückfall mehr. Wenig Heilung. Nur ein Entschluß: “Ich halte mich zurück, Sie zu lieben”.37
37
Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe (1977). Übers. von Hans-Horst Henschen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. S. 123.
VI POETIKEN DER TROCKENEN TRUNKENHEIT
Dirk Niefanger
In “Plutons Hof-Capelle”. Tabakrausch in Sigmund von Birkens Die Truckene Trunkenheit (1658) This essay deals with Sigmund von Birken’s treatise on dry drunkenness (Die Truckene Trunkenheit, 1658) against the background of both the cultural history of tobacco and the contemporary medical paradigm of humoralism. Despite all warnings about its health impacts, Birken considers tobacco smoking as a means of poetic inspiration, particularly in combination with other toxic substances such as alcohol. Den allerwichtigsten gedancken gibt man beim pfeifgen audienz.1
Sigmund von Birkens Schrift Die Truckene Trunkenheit gehört zweifellos zu den rhetorisch ausgefeiltesten und ästhetisch ambitioniertesten Schriften über den Tabakkonsum und seine Folgen, die in deutscher Sprache erschienen sind. Der Rauchgenuß, seit dem 17. Jahrhundert als ein poetisches Hilfsmittel gesehen, wird hier lustvoll in einem sprachlichen Kunstwerk ausgeschrieben. Ob der Text insofern als Warnung vor dem Rauchen intendiert war, kann insbesondere wegen seiner brillanten Form bezweifelt werden. Ja, diese läßt sich gar als Beleg für die Inspirationskraft des Tabakrausches verstehen. Also: “Viel Rauch um nichts”?2 Nein, gerade die rhetorisch brillante Verarbeitung und ‘Verdichtung’ zeitgenössischer Vorstellungen vom Tabakkonsum machen Birkens Schrift zu einem bemerkenswerten kulturgeschichtlichen Dokument über die Beurteilung und Beschreibungsmöglichkeit des Rausches im 17. Jahrhundert. Inwiefern Birkens Text also tatsächlich eine scharfe Polemik gegen das Rauchen oder – im Gegenteil – eine etwas eigenartige Programmschrift für das Rauchen war, ist wohl selbst den Zeitgenossen nicht ganz deutlich gewesen. Zwar bleibt letztlich Spekulation, ob der Autor bei der Abfassung seiner Satire selbst anständig gequalmt hat, doch erscheint gerade dies angesichts einiger unten genannten Quellenhinweise nicht ganz unwahrscheinlich. So erbrachte das satirische Bändchen für den Autor sogar eine Tabak-Leibrente des Nürnberger Händlers Johann Nicolaus Lay, obwohl es teils sehr herbe Spitzen 1
Anonymus: Laudatur ab his, culpatur ab illis. Ruhm des Tobacks. In: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. Hg. von Albrecht Schöne. München: Beck 1988. S. 987f. Hier: S. 988 (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse 3). 2 Sprichwörtlich nach Much ado about nothing (1599) – Viel Lärm um nichts (1825/33), Tiecks Variation einer Shakespeare-Komödie, und dem deutschen Filmtitel von Up in smoke (1978).
226 gegen den blauen Dunst und seine gesundheitsschädlichen Folgen enthält. Durch Birkens Schwester Eva Maria Höschel hatte der fränkische Kaufmann ein Exemplar der Schrift bekommen; Lay bedankt sich, indem er eine Probe seines besten Knoblauchsländer Tabaks3 zum Dichter nach Bayreuth schickt: Sonsten sende hiermit eine Klein Prob, von Veinem Tubackh, welchen mein hochgeEhrter Herr nach belieben gebrauchen kan, und so er demselben annehmlich, mir nur melden, wan nichts mehr vorhanden, werde den Herren schon mit mehrerm versehen…4
Tatsächlich war offenbar nicht nur Birken, sondern auch der Verfasser des lateinischen Prätextes Satyra Contra Abusum Tabaci, der Jesuit Jacob Balde, ein passionierter Raucher,5 der einige Zeit vor der Satire eine lobende Ode über den Tabak und seine Konsumenten verfaßt hatte: Fabula de herba tabaco.6 Aber auch die rhetorisch brillante Tabak-Satire Baldes hat keine eindeutige Zielrichtung. Sie wird heute sogar als witzige dichterische Reaktion “auf Bemühungen des Kurfürsten Ferdinand Maria” gewertet, in Bayern “den Tabakkonsum gesetzlich zu verbieten”.7 Bei Birken verteilen sich implizites Lob, quasi-wissenschaftliche Darstellung und scharfe Satire relativ deutlich auf die einzelnen Teile seines Textensembles. Denn sein Buch stellt kein einheitliches Traktat wie Baldes Text dar, sondern ein Textensemble. Es besteht aus einer Vorrede, einem Titelbild und der dazugehörigen Erklärung des Kupfer-Titels, der deutlich erweiterten und recht freien Übertragung von Baldes Schrift, einem Abschlußgedicht am Ende der Übertragung und einem längeren Diskurs Von den Nahmen, Ankunfft, Natur, Krafft und Würkung des Krauts Tabak. Am Ende des Ensembles findet sich ein Lobgesang des Tabaks.
3
Das Nürnberger Umland gehörte schon im 17. Jahrhundert zu den großen und wichtigen Tabakanbaugebieten in Deutschland (vgl. Paul Jacob Marpergers […] Vollständigen Küch⫽und Keller⫽Dictionarium […]. Hamburg: Benjamin Schiller 1716. S. 1140). Birkens Schrift erschien 1658 in Nürnbergs wichtigstem Verlag, bei Michael Endter (vgl. Sigmund von Birken: Die Truckene Trunkenheit. Mit Jakob Baldes “Satyrica Contra Abusum Tabaci”. Hg. von Karl Pörnbacher. München: Kösel 1967. S. 202). 4 Johann Nicolaus Lay an Sigmund von Birken, 10.12. 1658. Zit. nach Pörnbacher: Nachwort. In: Birken (wie Anm. 3). S. 221. Pörnbachers instruktives Nachwort und sein Kommentar (S. 205–271) bieten einen guten Überblick zum kulturellen Kontext, zu Birkens Schrift und Baldes Vorlage. 5 Vgl. Pörnbacher (wie Anm. 4). S. 217f. 6 Jacob Balde: Fabula de herba tabaco. In: Sylvarum libri VII. München: Leyserus 1643. Teil VII. S. 6. 7 Figura Mundi. Bilder von Gott und der Welt in den Dichtungen Jacob Baldes (1604–1668). Eine Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek München (6.-21.4. 2004) und der Stadt Neuburg an der Donau (25.4.-13.6. 2004). Katalog von Günter Hess u.a. München: Bayerische Staatsbibliothek 2004. S. 42.
227
Abb. 1. Kupfer-Titel Die Truckene Trunckenheit. In: Birken (wie Anm. 3). S. 201.
228 Während vor allem die Balde-Übertragung die polemischen Passagen enthält, aber durchaus implizite Reize für den (zukünftigen) Raucher setzt, begnügt sich der Diskurs mit einer recht sachlichen und gelehrten Darstellung, die aber einen möglichen Nutzen des Krauts immer wieder herausstellt. Das Gedicht, Rollenlyrik aus der Perspektive der Tabakpflanze, klagt den richtigen, nämlich vor allem medizinischen Gebrauch des Tabaks ein. Um Birkens Beschreibung und Bewertung des Tabakrauschs verstehen zu können, müssen einige kulturgeschichtliche Hintergründe8 des damals noch recht neuen Tabakkonsums ins Gedächtnis gerufen werden.
1. Zur Kulturgeschichte des Tabaks im 17. Jahrhundert Tabak gehört zu den Nachtschattengewächsen; seine Herkunft ist das tropische bzw. subtropische Amerika; die Wirkung beruht auf dem Alkaloid Nikotin. Meistens verwendet man den Virginia-Tabak (Nicotiana tabacum), der etwa drei Meter hoch wächst und lanzettförmige, zugespitzte Blätter ausbildet, die im getrockneten und gepreßten Zustand fermentiert, aromatisiert, zugeschnitten und schließlich auf unterschiedliche Weise zu sich genommen werden können. Das Nikotin wirkt sich – anders etwa als Koffein – lähmend auf das Nervensystem aus; man kann es toxikologisch sogar als Nervengift bezeichnen; aber genau diese Wirkung – in Maßen erzeugt und durch Übung weitestgehend kontrolliert – macht in der Geschichte des Tabakkonsums das Rauchen offenbar zum attraktiven Genuß. Die Abhängigkeit vom Nikotin und die konkreten drastischen Gesundheitsschäden (Krebs usw.) werden – trotz erstaunlicher Warnungen etwa schon bei Birken9 – wohl erst relativ spät gesehen.
8 Vgl. hierzu ausführlicher: Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel (1980). Frankfurt a.M.: Fischer 1990. S. 108–158; Pörnbacher (wie Anm. 4); Egon Caesar Conte Corti: Die trockene Trunkenheit. Ursprung, Kampf und Triumph des Rauchens. Leipzig: Insel 1930; Elisabeth Walther: Kulturhistorisch-ethnologischer Abriß über den Gebrauch von Tabak. In: Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. Hg. von Gisela Völger und Karin von Welck. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982. Bd. 1. S. 374–386; Tabakfragen. Rauchen aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Hg. von Thomas Hengartner und Christoph Maria Merki. Zürich: Chronos 1996; Gunther Hirschfelder: Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700–1850). Vergleichende Studien zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel. Die Region Manchester. Köln u.a.: Böhlau 2003. S. 279–293. – Zum Kontext: Gunther Hirschfelder: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt a.M. u.a.: Campus 2001; Steffen Martus: “vnd wann wir vns begossen, da ist die zunge loß”. Die Aufrichtigkeit des Weins im 17. Jahrhundert. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. von Claudia Benthien und Steffen Martus. Tübingen: Niemeyer 2006. S. 231–264. 9 So warnt Birken zum Beispiel schwangere Frauen vor dem Tabakgenuß und dem Passivrauchen; vgl. Birken (wie Anm. 3). S. 10f. und S. 61f.
229 In Europa wurde der Tabak von Christoph Kolumbus und seiner Crew eingeführt, die dessen Konsum bei Indianern bemerkt hatten; im Norden Amerikas wurde er geraucht, im Süden eher geschnupft und gekaut. Seit dem 16. Jahrhundert hat sich in Spanien zuerst der Bauern-Tabak (Nicotiana rustica) als eine Art Zier- und Arzneipflanze verbreitet.10 1560 kamen Tabaksamen durch den Französischen Gesandten in Lissabon Jean Nicot de Villemain nach Paris. Von ihm leitet sich übrigens der Name ‘Nikotin’ ab; er ist ab 1570 gebräuchlich. Am französischen Hof kommt in den folgenden Jahren das Tabakschnupfen in Mode. Etwa zur gleichen Zeit wurden erste Tabakpflanzen als Medizin auch nach Mitteleuropa gebracht; der Memminger Arzt Johann Funck scheint hier ein Mittler gewesen zu sein. Unterschiedliche Schriften weisen die vorgeblich heilsame Wirkung des Krauts nach, etwa die Schrift Von dem gar heilsamen Wundtkraut, Nicotina, die 1616 in Zürich erscheint.11 Im späten 16. Jahrhundert verbreitet sich der Tabakgenuß in ganz Europa: erst in Spanien und Portugal, dann in Frankreich und vor allem auch in England. Ein legendärer Raucher war hier Sir Walter Raleigh, der noch auf dem Schafott im Tower eine Pfeife im Mund gehabt haben soll. Eine andere Anekdote berichtet, daß ein Diener versucht habe, den rauchenden Raleigh mit einem Guß Wasser zu löschen, da er ein inneres Feuer vermutete.12 Seit der Tabak nicht mehr nur als Arznei, sondern vor allem als Genußmittel aufgefaßt wurde, mehrten sich kritische Stimmen in Traktaten wie A CounterBlaste to Tabacco (1604) aus der Feder des englischen Königs James I.13 und in diversen Flugblättern.14 In unterschiedlichen Gebieten war das Rauchen im 17. Jahrhundert schlicht verboten: So wurde es 1661 in Bern dem Ehebruch gleichgestellt und noch 1691 in Lüneburg mit Gefängnis und Auspeitschung bestraft.15 Pörnbacher zitiert als ersten deutschen Beleg für das Genußrauchen in deutschen Ländern einen Franziskanermönch aus Aachen, der 1587 nach Köln berichtet habe: “Die Soldatt außen spanischen lant stoltzyren allhiero umher und fressen feuer zambt deme rauch und daß domp folk obwundert sich schier”.16 Im Dreißigjährigen Krieg verbreitet sich das Rauchen durch Söldner 10
Die erste Abbildung einer Tabakpflanze findet sich in: Nicolás Monardes: Historia Medicinal de las cosas que se traen de nuestras Indias Occidentales que sirven en Medicina. Sevilla: Hernando Diaz 1565. 11 Vgl. Pörnbacher (wie Anm. 4). S. 206. 12 Eine später angefertigte Illustration zur Anekdote findet sich bei Schivelbusch (wie Anm. 8). S. 114. 13 Vgl. Pörnbacher (wie Anm. 4). S. 207. 14 Vgl. Schivelbusch (wie Anm. 8). S. 110f. 15 Vgl. Peter Lahnstein: Das Leben im Barock. Zeugnisse und Berichte 1640–1740. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1974. S. 81. 16 Zit. nach Pörnbacher (wie Anm. 4). S. 209.
230 und Hilfstruppen dann endgültig in Mitteleuropa. Als verbreitete, mehrfach übersetzte Lobschrift auf den Tabak erschien 1622 in Leiden Johannes Neanders Tabacologia,17 in der neben der Geschichte des Tabaks auch Hinweise zur medizinischen Nützlichkeit der Pflanze gegeben werden. 1716 kann Paul Jacob Marperger schon in seinem Vollständigen Küch⫽und Keller⫽Dictionarium feststellen, daß der Tabak “ein nunmehro fast in allen Welt⫽Theilen bekanntes Kraut” sei, “welches dem Vulcano von einigen Leuten zum Zeit⫽Vertreib/ von anderen aber der Gesundheit wegen aufgeopfert wird”.18 In der Regel verwenden die Autoren des 17. Jahrhunderts – wie zum Beispiel Birken und Balde – das Verb ‘trinken’, um den Tabakkonsum zu kennzeichnen. Die Vokabel ‘rauchen’ setzt sich erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts durch. Im Tabak sieht man eine Analogie zum Alkohol; wie dieser wird das stimulierende Mittel getrunken. Analog zum Trinken hat das Rauchen erst auf den Geübten eine mehr oder weniger lustvolle Wirkung. Am Anfang verursacht es in der Regel Schwindelgefühle, Übelkeit und Schweißausbrüche. Diese Reaktionen werden bei Birken und seinen Zeitgenossen immer wieder beschrieben. Wenn Birken den Tabakrausch im Titel seines Werks als “truckene Trunkenheit”19 bezeichnet, bezieht er sich auf den medizinischen Diskurs seiner Zeit. Das Adjektiv ‘trocken’ verbindet den Tabakgenuß mit der anderen neuen Genußform der Frühen Neuzeit, mit dem Kaffee. Von beiden Mitteln nahm man gemäß der Humoralphysiologie an, daß sie relevant für den Haushalt der Körpersäfte – Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle – seien, die im Körper des Menschen wirken sollen. Ihnen sind bestimmte Eigenschaften, Affekte, Elemente, Nahrungsmittel, Jahreszeiten oder Geschmackstendenzen zugeordnet. Der Tabakrauch trockne “insbesondere einen Körpersaft aus, den Schleim”.20 Dem Schleim (lat. mucus, gr. phlegma) werden die Eigenschaften ‘naß’ und ‘kalt’ zugeordnet, gegen die das Rauchen – als trockene Hitze – eingesetzt werden kann. Innerhalb der frühneuzeitlichen Temperamentenlehre21 wird der ‘Schleim’ dem Phlegmatiker, also dem ruhigen, passiven, langsamen, schwerfälligen Menschentypus zugeordnet. Das Rauchen kann – im Sinne der Humorallehre – daher beim Phlegmatiker zur Eukrasie, zum Ausgleich der Säfte führen, beim ausgeglichenen Menschen zur stärkeren Aktivität, ja 17
Vgl. Johannes Neander: Tabacologia: Hoc est tabaci, seu nicotianae descriptio medico-chirurgico-pharmaceutica vel ejus praeparatio et usus in omnibus ferme corporis humani incomodis (1622). Leiden: Elzevir 1626. 18 Marperger (wie Anm. 3). S. 1139. 19 Birken (wie Anm. 3). Titel. 20 Schivelbusch (wie Anm. 8). S. 109. Vgl. Lahnstein (wie Anm. 15). S. 80f. 21 Als Überblick vgl. Frederica La Manna u.a.: Temperamente. In: Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Hg. von Bettina von Jagow und Florian Steger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. Sp. 769–774 (mit einschlägigen Literaturangaben).
231 Kühnheit.22 “[S]chädlich und tödlich” kann das Rauchen – so ganz deutlich Birken – für den Choleriker werden “und denen so hitziger Natur sind”, weil die “wenige Feuchte” bei diesen Menschen “vollends erschöpffet und aufgezehret” wird.23 Analoges gilt für die Jugend, da diese – “ohnedas hitzig”24 – mehr Feuchtigkeit braucht als das Alter. Für Birken sind also die humoralen Aspekte des Tabakgenusses maßgebend. Schivelbusch zitiert eine zeitgenössische Flugschrift, in der das Rauchen als humoralmedizinische Therapie gegen Phlegmatismus propagiert wird: Dieses Tobacktrinken […] führet auch den Schleim und die phlegmatische Feuchtigkeit aus; ist gut für die Wassersucht, welches daraus zu schließen weil dieser Rauch die Feuchtigkeit ausführet und den Leib dünn und mager macht; dieser Rauch durch die Tabakpfeifen empfangen, ist eine gewisse und treffliche Arznei wider das Keuchen und kurzen Atem, für die Lungensucht und alten Husten, auch wider alle zähe, dicke phlegmatische Flüsse und Feuchtigkeiten.25
In diesem Sinne argumentiert Birken, wenn er bemerkt, “daß dieser Rauch, wann er mit maß gebraucht wird, nit schädlich sey den Phlegmaticis”.26 Denn dem Tabakrauch wird eine schleimlösende Funktion zugeschrieben; die Schädigung der Lunge durch Ablagerungen des Teers und anderer Stoffe wurde im 17. Jahrhundert, wenn diese Flugschrift als repräsentativ angesehen werden kann, wohl noch nicht bemerkt. Doch immerhin macht Birken – ebenfalls im Sinne der Humorallehre argumentierend – auf Atembeschwerden aufmerksam, die durch das Rauchen erzeugt werden können: “Der Tabakrauch, so die Feuchtigkeiten des Leibs an sich zu ziehen pfleget, hat die Lufftlöcher ihrer Nasen verschleimet: Daher sie so schwerlich Lufft ziehet, gleich als wann sie selber eine verstopffte Pipe wäre”.27 Die Indifferenz in der Beurteilung des Tabaks zeigt sich in der Darstellung seiner unterschiedlichen Wirkungen, die sowohl als medizinische Vorteile wie Wundheilung oder Betäubung als auch, besonders bei übermäßigem Genuß, als unübersehbare Nachteile wie Appetitlosigkeit, Trägheit, Atemlosigkeit oder Hautveränderung gewertet werden können.
2. Tabakrausch in Birkens Truckene Trunkenheit Unklar bleibt auch die Einschätzung des Rausches, den der Tabakgenuß erzeugt. Er kann zwar nicht ganz von den längerfristigen Wirkungen isoliert 22
Vgl. sinngemäß auch Birken (wie Anm. 3). S. 138. Ebd. S. 129. 24 Ebd. S. 130. 25 Schivelbusch (wie Anm. 8). S. 109. 26 Birken (wie Anm. 3). S. 138. 27 Ebd. S. 43. 23
232 gesehen werden, ihm widmet Birken aber dennoch eine eigene, recht unabhängige Einschätzung. Zu unterscheiden ist hier die Darstellung der “truckene[n] Trunkenheit”28 im satirischen Haupttext von der im gelehrten Diskurs Von den Nahmen, Ankunfft, Natur, Krafft und Würkung des Krauts Tabak, der im Anschluß abgedruckt ist und anders als die Balde-Übertragung wesentlich von Birkens eigener Hand stammt. Gleich zu Beginn der Satire zeigt sich der Tabakrausch als Zustand, der dadurch gekennzeichnet ist, daß bei ihm die Vernunft ausgeschaltet und die Umgebung ausgegrenzt wird. Auch wenn man die Raucher auf die negativen Wirkungen des Tabakgenusses anspricht, “hören sie nicht auf, zu blasen. Diese stinkende Wollustbegierde, ist bey ihnen in Platz der Vernunfft getretten.” An die Stelle der Ratio tritt ein heftiges Rasen: “es muß geblasen, es muß geraset seyn”.29 Der Tabakrausch bewirkt schließlich die Umkehrung der Vernunft, der Empfindungen und der Verhaltensweisen: Er erzeugt eine verkehrte Welt, die Birken satirisch als verkehrteste aller denkbaren Welten, als Hölle auf Erden beschreibt. Ein Nichtraucher, der in eine “Holländische Tabakkeller-Klufft” hinabsteigt, wird in einen “schwartzen stinkenden Rauch-Nebel” geraten: “Er wird ihm einbilden, als sähe er Plutons, des Höllen-Gottes, Hof-Capelle”.30 Der Nichtraucher “wird gläuben, er sey nun nicht mehr auf der Reise zur Höllen, sondern er sey allbereit mitten in der Hölle”.31 Birkens Argumentation basiert – ganz ‘barock’32 – auf einer doppelten Vorstellung zweier Reiche: Diesseits und Jenseits sowie Himmel und Hölle als unterschiedliche Repräsentationsformen richtiger, gottgewollter Ordnung und falscher, gottferner Unordnung. Gemäß der barocken Vorstellung, daß sich extrem Kritikwürdiges in der Umkehrung der christlichen Ordnung zeigt und daß die ‘verkehrte Welt’33 Ausdruck größtmöglicher Gottesferne ist, erzeugt der ‘unchristliche’Tabakrausch eine solche Umwertung aller Werte. Er präsentiert sich daher als lustvoll erfahrenes Leid, vertauscht Schmerz und Wohlergehen und erzeugt in der Plage den Genuß: Bei den Rauchern “muß der Durst, der an sich selber eine Plage ist, mit einer andern Plage gelöscht werden. Die armen Gecken weinen; und lieben doch, was sie machet weinen.” Die Tabaksüchtigen wünschen, so Birken, “stündlich […] gestrafft zu seyn, und [suchen] in der Pein eine Labung […]. Es ist ihnen wohl, wann ihnen übel ist;
28
Ebd. Titel. Ebd. S. 11. 30 Ebd. S. 14. 31 Ebd. S. 15. 32 Vgl. Dirk Niefanger: Barock. Stuttgart u.a.: Metzler 2006. S. 5f. und S. 45–63. 33 Vgl. etwa Friedrich von Logaus Epigramme Verkehrte Welt, Verkehrungen und Verkehrte Sitten. In: Sinngedichte. Hg. von Ernst-Peter Wieckenberg. Stuttgart: Reclam 1984. S. 57 (I, 5, 39). S. 106 (II, 5, 52) und S. 130 (II, ZG, 80). 29
233 und es erfreuet sie, krank zu seyn”.34 Der Tabakrausch erhält den Status einer künstlich erzeugten Krankheit, die, anders als ein tatsächliches Unwohlsein, Genuß erzeugt. Diese Krankheit hat ihre Schrecken verloren. Durch diese dialektische Argumentation wird zwar der Tabakrausch vordergründig als etwas vollkommen Abwegiges und Verdammenswürdiges dargestellt, gleichzeitig steigert dieses Fremdartige des Rausches zweifellos aber dessen Attraktivität. Auch diese wird – und dies macht die scharfe Satire zu einem ambivalent lesbaren Text – mit dem Vokabular barocker Philosophie plausibilisiert: Den Tabaktrinker vergleicht die Satire schließlich nämlich mit den “alten unempfindlichen Stoiken, die keinen Schmertzen gefühlt”.35 Höher kann man ein Genußmittel im 17. Jahrhundert kaum adeln. Der Neostoizismus, seit Lipsius zu einer Art Staatsphilosophie aufgestiegen,36 propagiert die Beständigkeit als Mittel, mit dem Ungemach und der Anfechtung der Welt zurechtzukommen. Genau das erlaubt – auf künstlichem Weg – der Tabakgenuß. Birken sieht letztlich, formuliert man es radikal, in der Gleichgültigkeit, die der Tabakrausch erzeugt, eine zeitlich begrenzte Fähigkeit zur constantia. Das Problem dieses künstlichen constantia-Rausches ist aber, daß er süchtig macht: “[S]ie können nicht ümhin, sie müssen ein paar Pipchen zur Gesundheit trinken, und soviel Unheils hinweg schmäuchen”.37 Die Abhängigkeit vom Nikotin bewirkt eine stetige Verfestigung des verkehrten Weltbildes, eine zunehmende Abkehr von der göttlichen Ordnung; die künstlich erzeugte constantia erweist sich als zeitlich begrenzter Schein. Weniger dialektisch argumentiert Birken im Diskurs Von den Nahmen, Ankunfft, Natur, Krafft und Würkung des Krauts Tabak. Hier führt Birken die Voraussetzungen eines Rausches geradezu als Argument wider die Tabakgegner an: Andre, wollen diß Kraut gar verdammen, weil dessen Rauch trunken mache. Aber, sie übereilen sich etwas mit ihrem Urtheil. Diese Trunkenheit ereignet sich gar nit bey denjenigen, die dieses Rauchs gewohnt sind. Zudem pflegt sie auch bald wieder zuverschwinden, (wie sie dann vergänglicher Rauch ist) und solange nicht den Kopf zu beschweren, als die Wein- oder Bier-Füllerey.38
Auch im gelehrten Diskurs räumt Birken also die Fähigkeit des Tabaks ein, trunken zu machen; er verweist aber erstens auf die Tatsache, daß der geübte 34
Birken (wie Anm. 3). S. 15. Ebd. 36 Vgl. Justus Lipsius: De Constantia – Von der Bestendigkeit. Übers. von Andreas Viritius. Faksimiledruck der Ausgabe von 1601. Hg. von Leonard Forster. Stuttgart: Metzler 1965. 37 Birken (wie Anm. 3). S. 16f. 38 Ebd. S. 122f. 35
234
Abb. 2. Pieter Claesz (1597/98–1661): Stilleben mit Bierkrug, Pfeife und Kartenspiel (1636). Foundation Thyssen-Bornemisza. Lugano-Castagnola. Raucher von diesen Folgen verschont bleibe, und erinnert zweitens daran, daß der Tabakrausch viel kürzer ist als der Alkoholrausch. Aus dem satirischen Teil weiß der Leser noch, daß vor allem die Kombination von Alkohol und Nikotin Rauschzustände auslösen kann: Die “Bierkanne”, heißt es dort, sei “die Gemahlin des Tabaks”.39 Trotz der Sympathie und Nähe der beiden Rauschmittel differenziert Birken also deren Wirkung. Die ergänzende Wirkung von Tabak und Bier besingen auch die beiden letzten Strophen von Johann Christian Günthers Studentenlied (1718).40 Diese Kombination scheint im 17. Jahrhundert, wie unter anderem das Stilleben mit Bierkrug, Pfeife und Kartenspiel (1636) des Niederländers Pieter Claesz zeigt, geradezu ikonographisch zu sein (Abb. 2). Die kalten gelblich-braunen Farben des Stillebens, der ‘trockene’Tabak, das ‘bittere’ Bier und die veraschte Glut im abgebildeten Tonkrug verweisen auf die oben erwähnte Humoralphysiologie; das Gemälde entfaltet Akzidenzien des Cholerikers (Glut/Feuer, zerbrochener Tonkrug, umgeworfenes Glas, umgeworfene Tabakdose), der jugendlichen Kühnheit (Spielkarten, Fidibus)
39
Ebd. S. 20. Johann Christian Günther: Studentenlied (1718). In: Das Zeitalter des Barock (wie Anm. 1). S. 987f. 40
235 und der gelben Galle (Tabak, Bier). Selbst die aufliegende Pique-Aß-Karte des französischen Blattes könnte als Hinweis auf den evozierten Bedeutungszusammenhang der Viersäftelehre gelesen werden. Zurück zu Birkens Tabak-Diskurs: Dieser unterscheidet nicht nur zwischen dem länger anhaltenden Alkohol-Rausch und der kürzeren Nikotin-Wirkung, er hebt vor allem auf die Menge der zugeführten Rauschmittel ab: So ist auch ein anders die Füllerey, ein anders die Trunkenheit: jene, ist dieser ihre Ubermaß. Eine mäßige Trunkenheit machet das Hertz frölich, dergleichen auch diese ist: aber die Füllerey beschweret das Haupt und den ganzen Leib, und macht zu allen Dingen unlustig.41
Gegen mäßigen Nikotingenuß eines geübten42 und älteren Rauchers, der keinen Hang zum Choleriker hat, wäre also nichts einzuwenden. Nur “[a]lle Ubermaß, ist der Natur zuwider”.43 Aus diesem allen aber ist nicht zu folgern, als sey der Tabakrauch gänzlich zuverwerffen. Dann wie der Apostel saget, der Mißbrauch hebt nit auf den guten Gebrauch eines Dings. […] Was kan dann nun auch der Tabak und dessen Rauch davor, daß man sich damit krank und zu todt schmäuchet, da Gott diß Kraut zu einer herrlichen Arzney aus der Erden hat wachsen lassen?44
Den Begriff “Arzney” verwendet Birken hier umfassender als heute üblich; er meint damit nicht nur ein Mittel, das gegen Krankheiten45 eingesetzt wird, sondern auch eines, das vor diesen schützt. Denn die meisten medizinischen Maßnahmen im Krankheitsfalle waren in der Frühen Neuzeit eher nutzlos;46 wichtiger war deshalb die medizinische Prophylaxe (“Medicina hygiastica”47). Hier hatte der Tabakgenuß aus frühneuzeitlicher Sicht – mit seiner Schleim beseitigenden Wirkung bei eher phlegmatischen Menschen – durchaus seinen Wert. Aber auch im nicht-medizinischen Bereich werden dem Tabakgenuß, ja der truckenen Trunkenheit Funktionen zugeschrieben.
41
Birken (wie Anm. 3). S. 123. Vgl. ebd. S. 142. 43 Ebd. S. 129. 44 Ebd. S. 138. 45 Zum frühneuzeitlichen Krankheitsverständnis vgl. Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit. Köln u.a.: Böhlau 2003; Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München u.a.: Artemis & Winkler 1991; Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hg. von Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann. Tübingen: Niemeyer 1992. 46 Vgl. Stolberg (wie Anm. 45). S. 89. 47 Johann Sigismund Elsholtz: Diaeteticon (1682). Hg. von Manfred Lemmer. Reprint. Leipzig: Edition Leipzig 1984. Unpag.: Bl. Ar. 42
236 3. Poetik des Rausches So taucht der Tabakrausch sogar als poetisches Hilfsmittel in den spätbarocken Poetiken vereinzelt auf. Dies mag insofern erstaunen, als die Inspiration nicht gerade zur barocken Regelpoetik zu passen scheint.48 Aber gerade in Erdmann Neumeisters berühmter Poetik der galanten Poesie, die Christian Friedrich Hunold (d.i. Menantes) 1707 mit einer ausführlichen Vorrede herausgibt, heißt es unter den Punkten VII bis IX der “Vorbereitung”: VII. Zwar auch der vollkommenste Poet wird empfinden, daß der Genius Poeticus offtmahls eigensinnig, und nicht gleich parat ist, wenn er uns im Versmachen aufwarten soll: VIII. Inzwischen gibt es doch Mittel, womit man ihn caressiren, und zu unsern Diensten auffmuntern kann. IX. Die meisten möchten den Wein vor das beste ausgeben. Wie ihn etliche gar der Poeten ihren Caball nennen, worauf sie ihre Sinnen am fertigsten tummeln könnten. Ich weiß, welche sich mit dem Brantweine herum tummeln. So muß auch der Toback eine Poetische Bachmatte abgeben, zumahl, wenn er mit gutem Biere, Theé, Coffeé etc. gesattelt wird.49
Auffällig ist hier die Präferenz einer Kombination der Rauschmittel, insbesondere von gutem Bier und Tabak. Erklärungsbedürftig ist wohl die “poetische Bachmatte”, die der “Toback” – nach Neumeister – abzugeben habe. Das Verb ‘satteln’ weist auf eine Bedeutung und Gebräuchlichkeit des Nomens, die noch im Grimmschen Wörterbuch zu finden ist. Es übersetzt die Bachmatte als “ein groszes tartarisches [sic!] pferd, russ. bachmat, poln. bachmat”.50 Assoziiert wird der Tabak bei Neumeister also mit dem Orient bzw. mit den Weiten Rußlands. Dem fremden Tabak müssen einerseits wie den wilden tatarischen Pferden Zügel angelegt werden, damit er seine Wirkung entfaltet, andererseits müssen ihm quasi die Sporen gegeben werden; dies bewirkt die Kombination mit Alkohol. Dann freilich erzielt der ‘Tabaktrinker’ einen überraschenden Gewinn. Wenn Birken davon spricht, daß etliche “von den alten und neuen Poeten […] der Wein auf den Pegasus gesetzet” habe, die sogenannten “Rauch-Poeten”
48 Neuere Studien bemühen sich hier um eine andere Einschätzung; vgl. Dietmar Till: Affirmation und Subversion. Zum Verhältnis von ‘rhetorischen’ und ‘platonischen’ Elementen in der frühneuzeitlichen Poetik. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 4 (2000): H. 3. S. 181–210; Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen: Niemeyer 2004. S. 269f. 49 Erdmann Neumeister: Über galante Poesie (1707). In: Der galante Stil. 1680–1730. Hg. von Conrad Wiedemann. Tübingen: Niemeyer 1969. S. 28f. 50 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch (1854–1960). München: dtv 1999. Bd. 1 (1854). Sp. 1062.
237 aber “ein Wind aus der Tabakspipe in den Sattel wehen und heben”51 müsse, so stellt er damit auf eine Analogie der inspiratorischen Rauschmittel ab, die letztlich auch deren Kombinierbarkeit nahelegt. Möglicherweise kannte Neumeister sogar Birkens Tabakschrift. Auch Birken betont somit, bei aller Kritik, die Inspirationskraft des Tabaks: Gleich zu Beginn berichtet seine Satire, Tabakraucher würden “von allerley Fantaseyen, und seltsamen Einfällen beunruhigt”.52 Diese ungewöhnliche Anregung der Phantasie begründet das Schlußgedicht – wohl satirisch – mit der Herkunft der Pflanze: Diß Kraut, weil es von wilden Leuten kömmt, pflegt voll und toll und wilde Leut zu machen. Es wundert mich, wann dich es wunder nimmt. Gleich-närrisch auch sind andere Wollust-Sachen, die sich in uns und uns durch sich entzünden, bald wie der Rauch vergehen und verschwinden.53
Das Gedicht verbindet im letzten Vers der Strophe den Rauch kausal mit der Anregung der Phantasie, die hier allerdings negativ konnotiert ist. Der Rauch mache wild und ‘närrisch’, doch halte diese Wirkung nicht dauerhaft an. Wie der Rauch verfliegt auch die inspirative Wirkung. Es kommt also darauf an, den trockenen Rausch zu bändigen, ihn – wie die tatarische Bachmatte – in den Dienst zu nehmen. Der angehängte gelehrte Diskurs versucht diesen Zusammenhang auf der Basis der Humoralphysiologie zu erklären: Im Rauch stecke eine “Gewürzhafftige Krafft, welche dem Gehirne, Hertzen und Magen angenehm ist”. Sie erfahre man nicht nur körperlich, etwa als schleimlösenden Wirkstoff, sondern dieser müsse auch als “ein geistiges” Mittel verstanden werden, “welches durch die feurige und lufftige Matery (dergleichen der Rauch und Geruch ist) genehret wird”.54 Um die Wirkung zu kontrollieren, sei Erfahrung notwendig, und der Konsument solle, wie oben ausgeführt, im Sinne der barocken Anthropologie unbedingt Maß halten. Zwei Berufsgruppen, so Birken, nutzen die inspirative Qualität des Tabakrausches besonders: “Poeten und Soldaten”.55 Soldaten vertreiben sich mit ihm die Langeweile und Tristesse des Krieges; Poeten suchen in ihm nach poetischer Anregung und behaupten sogar, im Tabakrausch stecke ein göttlicher
51
Birken (wie Anm. 3). S. 64. Ebd. S. 16. 53 Ebd. S. 155. 54 Ebd. S. 118. Zur vergleichbaren “Poesie des Weins” vgl. Martus (wie Anm. 8). S. 253ff. 55 Birken (wie Anm. 3). S. 63. 52
238 Furor: Denn sie “scheuen sich nicht zu sagen, wie daß in diesem Kraut etwas Göttlichs, und die Quintessentz des Wassers aus dem Musen-Brunnen, verborgen sey”.56 Der Tabak rege, so legt es Birkens Referat nahe, den poeta vates an – der rauchende Dichter erscheint sich “nicht nur [als] ein Poet, sondern gar [als] ein Profet”.57 Daraus läßt sich zumindest schließen, daß Birken der inspirative Anteil dichterischer Produktion nicht fremd ist; es belegt jedenfalls deutlich einen poetologischen Diskurs jenseits gelehrter Regelpoetik im 17. Jahrhundert.58 Entsprechend mag man auch die folgende Passage aus Birkens Satire lesen: Daher dann, welcher den Rauch desselben an sich ziehe, von stundan gantz voller Geist und Feuers werde. Da beginne die Poesy-Ader zufliessen, und die Verse sich herbeyzudrängen […]. Also sagen sie, und betheuren, daß sie solches aus der Erfahrung reden.59
Birkens Analogieschluß bezieht auch hier die Humorallehre ein: Der Tabak wirkt auf den Geist befeuernd, weil seine Konsistenz aus geistiger und feuriger Materie besteht. Die Poesie ‘fließt’, verflüssigt sich, wie der Schleim des Phlegmatikers. Den Tabakrausch denkt Birken auch im Bereich des Poetischen als purgierende Kraft, die die Verse dazu bringt, aus dem Geist zu drängen. Wie in ‘traditionellen’ Poetiken der Frühen Neuzeit holt sich Birken in seiner Tabakspoetik die Autorität von den ‘Alten’, erfahrenen Poeten. Sie bezeugen die inspirative Kraft des Tabaks, wie sie Birkens Satire als rhetorisch ausgefeilte und überaus einfallsreiche Schrift über den Tabak auf ihre Weise belegt. Da kein Tabakkonsum in der Antike überliefert ist, fallen im PoesieKapitel der Tabakschrift zumindest die Namen der einschlägigen mythologischen Figuren wie “Orfeus” oder “Apollo”.60 Im Diskurs Von den Nahmen, Ankunfft, Natur, Krafft und Würkung des Krauts Tabak zitiert Birken ergänzend das gelehrte, vor allem medizinische Schrifttum seiner Zeit. Im Zusammenhang verwandter Rauschmittel erwähnt er hier auch zwei Berichte über den Opiumkonsum in Asien.61
4. Fazit Trotz oder gerade wegen der letztlich unklaren Position Birkens zum Tabakrausch lassen sich interessante kulturgeschichtliche Momente aus dem Textensemble Die Truckene Trunkenheit herauslesen. Der Tabakkonsum erscheint nicht an sich schlecht oder verwerflich, sondern wird unterschiedlich perspektiviert: 56
Ebd. S. 64. Ebd. S. 64f. 58 Vgl. Wesche (wie Anm. 48). S. 269f. 59 Birken (wie Anm. 3). S. 64. 60 Ebd. 61 Vgl. ebd. S. 124f. 57
239 mal gelehrt, mal satirisch, mal moralisch, mal rhetorisch oder poetisch. Dabei schließen sich die Beschreibungsintentionen keineswegs aus, denn gerade das rhetorische Interesse an einer ‘gelungenen’ Inszenierung der Tabaksatire bestimmt oft genug zusätzlich die Performanz des Textes. Im Bereich der Medizin, der Prophylaxe, insbesondere für phlegmatische Menschen, aber auch als Inspirationsmittel für Poeten entfaltet der Tabak – so Birken – eine nutzbare und wünschbare Wirkung. Als Grundlage dieser Beurteilung erweist sich die gängige Humoralphysiologie. Der Rückgriff auf diese zentrale Körperlehre des 17. Jahrhunderts überrascht freilich nicht. Ebenfalls nicht verwunderlich ist, daß Birken das rechte Maß beim Konsum herausstellt. Dies entspricht barockem Ordnungsdenken und auch andernorts anzutreffenden Normvorstellungen. Bemerkenswert sind zweifelsfrei aber die Warnung vor Schädigungen durch das Passivrauchen und die Hinweise auf die sensible soziale Umgebung. Rauchen sieht Birken durchaus als eine Belästigung des Umfelds, mit dem der Raucher abwägend umgehen muß, ein durchaus moderner Ansatz.
Simon Zumsteg
Schallen und Rauchen. Zur poetologischen Funktion der ‘trockenen Trunkenheit’ in Hermann Burgers Brenner-Romanen This essay discusses the interferences between writing and smoking in Hermann Burger’s Brenner novels (1989/1992) by investigating the poetological function of the so-called ‘trockene Trunkenheit’(dry drunkenness), a state evoked by the consumption of tobacco. Even though in these novels this state is exposed as a precondition for the narrator’s inspiration, his literary productivity is owed to a sober-minded absorption and transformation of pre-texts rather than a nicotine-induced inebriation. Rauchen gehört zu den Lebensgenüssen, dies dürfte feststehen; doch will dieser Genuß durch tägliches Fleißigsein und ordnungsmäßige Berufstätigkeit verdient sein. Robert Walser: Der Tabak
Auf dem Umschlag von Hermann Burgers Roman Brunsleben (1989) sind vier Cigarren zu sehen, von denen nur jene ganz links bereits in Brand gesteckt ist. Diese Umschlaggestaltung (von Hermann Michels) verweist auf Burgers ursprüngliches Vorhaben, eine Tetralogie über das Leben der Figur Hermann Arbogast Brenner, den Abkömmling einer Tabak-Dynastie aus dem Schweizerischen Kanton Aargau, zu schreiben. Dazu kam es nicht mehr. Burger nahm sich am 28. Februar 1989 – einen Tag vor dem Erscheinen von Brunsleben – das Leben. Zwar wird die Absichtlichkeit seines Freitodes wohl für immer Gegenstand von Spekulationen bleiben: “Ob er an jenem Tag im dunklen Monat Februar”, schreibt sein langjähriger Freund und Förderer Marcel Reich-Ranicki, “als er zuviel getrunken und nicht wenige Schlaftabletten genommen hatte, wirklich sterben wollte, werden wir nie erfahren”.1 Fakt aber sind die Konsequenzen von Burgers frühem Tod für sein Brenner-Projekt: Der Nachwelt geblieben sind von der geplanten Tetralogie ‘lediglich’ der erste Band sowie das vom Schweizerischen Literaturarchiv 1992 postum veröffentlichte, sieben Kapitel umfassende Fragment des zweiten Bandes Menzenmang, an dem Burger noch bis zu seinem Tod gearbeitet hat – gleichsam als ‘Aschensignale’ jenes Autors, der 1967 mit dem Gedichtband Rauchsignale erstmals die literarische Bühne betreten hatte. Um diese letzten Werke Burgers soll es hier gehen, wobei das Interesse einem bestimmten Aspekt der überdeterminierten Metaphorik des Rauchens, die darin entfaltet wird, gilt: dem Aspekt des tabakinduzierten Rausches und seiner poetologischen Funktion nämlich. 1 Marcel Reich-Ranicki: Hermann Burgers gesammelte Leiden. Sein letztes Buch “Brunsleben”. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 19. Oktober 1989.
242 Was der Protagonist und Erzähler Hermann Arbogast Brenner, der als Gesellschafter und Konversationspartner von Jérôme von Castelmur-Bondo auf Schloß Brunsleben lebt, aufzeichnen will, sind seine Kindheitserinnerungen. Diese Aufzeichnung unterbricht der verhinderte Tabakkaufmann jedoch immer wieder; sei es mit Exkursen zur Tabakhistorie, oder sei es mit jenen Gesprächen über Literatur, die er mit seinen (hochgebildeten) Freunden führt. Dargelegt wird das Ganze – analog zur obligaten Stückzahl einer Cigarrenkiste – in 25 Kapiteln, die (fast) alle eine Cigarrensorte zum Untertitel haben.2 Dies hat seine Bewandtnis jedoch nicht nur in einer formalen Spielerei, sondern auch darin, daß gemäß der textimmanent exponierten Poetologie das Rauchen als inspirans fungieren soll. Erst im Zustand der “trockenen Trunkenheit”, der durch den Genuß der im jeweiligen Untertitel firmierenden Cigarre evoziert wird, könne er, wie Brenner wiederholt versichert, überhaupt erinnern und schreiben. Es scheint also, als wäre dieser spezifische Rausch conditio sine qua non für seine schriftstellerische Tätigkeit. Zugleich aber – und darum die Zweifel an Brenners Versicherung – bediente sich Burger in seinen letzten Werken noch einmal jenes integrativen Montage- und Collageverfahrens, das ihn berühmt gemacht hat. Auch bei den Brenner-Romanen handelt es sich um immens intertextuelle Arrangements, ja um (wie Wendelin Schmidt-Dengler es in seiner Rezension von Menzenmang treffend nennt) “eine wahre Intertextualitätsorgie”.3 Es ist darin folglich noch ein anderes orgiastisches Moment präsent. Wer aus produktionsästhetischer Perspektive nach dem Zusammenhang von Schallen (das hier – um der Allusion auf Fausts Kredo willen – als Bezeichnung für den Akt literarischer Produktion, d.h. für das Schreiben, zum Einsatz kommt) und Rauchen in den Brenner-Romanen fragt, muß somit zweimal hinschauen, um der in diesen Texten tatsächlich vorliegenden Dialektik von Rausch und Kalkül im kreativen Prozeß auf die Schliche zu kommen. ‘Zweimal hinschauen’, das meint hier aber nicht etwa, im Sinne einer trunkenen Symptomatik doppelt zu sehen. Es meint vielmehr, sich – ganz nüchtern – eines Verfahrens zu bedienen, das Sarah Kofman “doppelte Lektüre” nennt und sowohl berücksichtigt, was der Text sagt, als auch, was der Text wirklich tut.4 Zunächst jedoch bedarf die zur Debatte stehende Begriffskombination ‘trockene Trunkenheit’ einer
2
Daß auch das Fragment Menzenmang letztlich 25 Kapitel umfassen sollte, geht aus Burgers handschriftlichem Plan der “Kapitelüberschriften” zum zweiten Band hervor, wo überdies drei “Zusatzkap[itel]” vermerkt sind (abgedruckt in: Hermann Burger. Genf: Slatkine 2007. S. 88 [Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 23]). 3 Wendelin Schmidt-Dengler: Trockene Trunkenheit. In: Falter 40 (1992). S. 17f. Hier: S. 17. 4 Vgl. Sarah Kofman: Die doppelte Lektüre. In: Kofman: Die Kindheit der Kunst. Eine Interpretation der Freudschen Ästhetik (1985). Übers. von Heinz Jatho. München: Fink 1993. S. 13–42. Hier: S. 40.
243 Einschätzung: einerseits und kurz, was ihre Entstehung und Karriere, andererseits und ausführlicher, was ihre konkrete Verwendung in den Brenner-Romanen betrifft.
Trockene Trunkenheit Als der Tabak nach seiner Einführung durch Christoph Kolumbus, der bei den Indianern dessen regen Genuß beobachtet und das Kraut in der Folge importiert hatte, im 16. und 17. Jahrhundert sukzessive den europäischen Kontinent eroberte, fehlte der deutschen Sprache noch ein Begriff für das, was man seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ‘rauchen’5 nennt. Davor behalf man sich, um das Novum sprachlich in den Griff zu kriegen, mit einer Analogie, die auch in außereuropäischen und vor allem asiatischen Sprachen belegt ist: Man nannte “das einschlürfen des tabakrauchs tabak trinken”.6 Diese Analogie ist jedoch nicht bloß besagter Benennungsnot geschuldet, sondern auch in einer pharmakologischen Wirkungsweise des Tabaks begründet. Das darin enthaltene Alkaloid Nikotin – benannt nach Jean Nicot (1530–1600), der die Tabakstaude um die Mitte des 16. Jahrhunderts als Medizinalpflanze nach Frankreich brachte – zeitigt durchaus ähnliche Wirkungen wie der Alkohol: Dem Neueinsteiger beschert, was für den Gewöhnten zum Genuß wird, noch Schwindelgefühle, Übelkeit und Schweißausbrüche.7 So viel zum zweiten Glied der Kombination, jetzt zum ersten, dem Attribut ‘trocken’. Verankert ist dieses in den medizinischen Auffassungen des 17. Jahrhunderts, d.h. in der die damalige ärztliche Praxis bestimmenden Humorallehre, die auf dem antiken Schema der vier Körpersäfte und Temperamente basiert. Dem Tabak wird eine trocknend-entschleimende Wirkung zugeschrieben, was ihn im Rahmen der Humoralpathologie insbesondere für die Phlegmatiker (die gemäß dieser Lehre die Eigenschaften kalt und feucht haben) zum Heilmittel machen soll.8 Dies ist der Hintergrund, auf dem die (scheinbar oxymorale) Wendung ‘trockene Trunkenheit’ entstanden ist. Ihren Durchbruch verdankt sie dem Barockdichter Sigmund von Birken, der seiner (sehr freien) Übersetzung von Jacob Baldes Satyra Contra Abusum Tabaci (1657) den Titel Die Truckene Trunkenheit (1658)
5 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig: Hirzel 1854–1960. Bd. 14 (1893). Sp. 244. 6 Vgl. ebd. Bd. 22 (1952). Sp. 583. Vgl. dazu auch Wolfgang Schivelbusch: Die trokkene Trunkenheit des Tabaks. In: Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel (1980). Frankfurt a.M.: Fischer 1990. S. 108–158. Hier: S. 108f. 7 Vgl. Schivelbusch (wie Anm. 6). S. 109. 8 Vgl. ebd. S. 55f. resp. S. 109f. Es wird sich im weiteren Verlauf dieser Studie noch zeigen, daß das Nikotin paradoxerweise auch für den (die Eigenschaften kalt und trocken aufweisenden) Melancholiker als Arznei in Frage kommt (vgl. Anm. 43f.).
244 gegeben hat.9 Endgültig Berühmtheit erlangt hat sie dann im 20. Jahrhundert durch Egon Caesar Conte Corti, der Birkens Titel für seine Geschichte des Rauchens übernommen hat.10 Nun zu Burger. Auch Hermann Arbogast Brenner reflektiert den geschilderten sprachhistorischen Werdegang, wenn er seine Nacherzählung der Geschichte des Familienunternehmens mit dem Hinweis beginnt, daß die Bezeichnung “Brennerei” (für die Tabakfabrik) ein Kosename sei, “der sich vom ursprünglichen Tabaktrinken herleitet”,11 oder die Etymologie von ‘rauchen’ in bewährter Burger-Manier gleich selbst liefert (vgl. BB 59).12 Doch wie verhält es sich in seinem “Kindheitsund Stumpenroman” (BB 8), den Brenner “in seiner Spätzeit auf Brunsleben” (BB 173) niederschreibt, mit der trockenen Trunkenheit? Sie hat in Brenners Erinnerungsprojekt eine zentrale Funktion.13
9
Sigmund von Birken: Die Truckene Trunkenheit. Mit Jakob Baldes “Satyrica Contra Abusum Tabaci”. Hg. von Karl Pörnbacher. München: Kösel 1967. Das semantische Spektrum von “truckne trunckenheit” umfaßt bei Birken jedoch – anders als es die Definition im Grimmschen Wörterbuch will – weit mehr als “die leidenschaft des tabakrauchens” (Grimm [wie Anm. 5]. Bd. 22 [1952]. Sp. 1399). Vgl. dazu den Beitrag von Dirk Niefanger in diesem Band, wo auch fündig wird, wer eine ausführlichere Diskussion des Tabaks im Kontext der frühneuzeitlichen Humorallehre wünscht (vgl. das 1. Kapitel “Zur Kulturgeschichte des Tabaks im 17. Jahrhundert”). 10 Vgl. Egon Caesar Conte Corti: “Die trockene Trunkenheit”. Ursprung, Kampf und Triumph des Rauchens. Leipzig: Insel 1930. Corti allerdings macht – wie so viele noch nach ihm – keinen Unterschied zwischen Baldes neulateinischem Originaltext und Birkens Übersetzung (vgl. S. 120f.). Vgl. dazu Stefan Neumann: Des Lebens bestes Teil. Geschichte und Phänotyp des Tabakmotivs in der deutschsprachigen Literatur. Trier: WVT 1998. S. 47f. (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 39). 11 Hermann Burger: Brenner I: Brunsleben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. S. 9 (Nachweise fortan mit der Sigle BB direkt im Text). 12 Diese Eigenart, wiederholt Etymologien zum Thema zu machen, ist – “[i]m Zweifelsfall hilft immer die Etymologie weiter” (Hermann Burger: Tractatus logicosuicidalis. Über die Selbsttötung. Frankfurt a.M.: Fischer 1988. S. 20 [§ 6]) – charakteristisch für Burger und wird im Zusammenhang von “Schall und Rauch” noch von Bedeutung sein (vgl. Anm. 79 und 90). 13 Weshalb die Kursivierung? Weil für Brenner auch andere “Erinnerungsträger” (BB 34) eine wichtige Rolle spielen. Das gilt für Spielzeug, wie zum Beispiel das Modellauto Schuco-Examico (vgl. BB 28–32) oder den “Anker-Steinbaukasten Imperator” (vgl. BB 156ff.), genauso wie für Kinderbücher (vgl. z.B. BB 238ff.). Ebenfalls von Bedeutung für die Evokation der Erinnerung sind neben diesen “Spielzeugen der Zeit” (BB 34) zudem wiederholt die Photographien im Familienalbum (vgl. z.B. BB 92ff.), das Brenner immer dann konsultiert, wenn er es “genau haben” (BB 234) muß, oder bestimmte Wörter alias “Ursilben” wie (das kinderhaft verkürzte Wort für ‘rauchen’) “äuke” (BB 59), denn – wie Brenner die johanneische Tradition umwertend meint – “[d]a sind im Anfang und waren immer die Wörter” (BB 90). Zur Diversität der Erinnerungshilfen vgl. auch Patrick Heller: Genußraucher der Kindheit: Hermann Burger, “Brenner”. In: Heller: “Ich bin der, der das schreibt”. Gestaltete Mittelbarkeit in fünf Romanen der deutschen
245 Ausgelöst durch den Genuß erlesener Cigarren eröffnet der Zustand der trokkenen Trunkenheit laut Brenner allererst den Zugang zu seiner Vergangenheit. Brenner wäre aber keine typische Burger-Figur, wenn er seine Mnemonik nicht mit Rekurs auf einen Prätext entwickeln würde. Dieser Prätext ist Du côté de chez Swann (1913), d.h. der erste Teil von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu. So spricht Brenner in Analogie zur berühmten Szene bei Proust vom “Madeleine-Effekt des Tabaks” (BB 47) und bittet – weil er als “der Unbelesensten einer” (BB 15)14 von “der ‘Recherche’ keinen Buchstaben” (BB 16) und “den Madeleine-Effekt nur vom Hörensagen” (BB 51) kenne – einen seiner gebildeten Gesprächspartner, den Musiker Edmond de Mog,15 ihm diese “Kernszene” zu schildern, um zu “verifizieren, ob sich das Prinzip auf die Nicotiana tabacum übertragen lasse” (BB 51). De Mog läßt sich nicht zweimal bitten und schildert ausführlich den einschlägigen Passus aus dem ersten Kapitel von Du côté de chez Swann (vgl. BB 51–53): wie Marcel zur Einsicht gelangt, daß die (verlorene) Zeit in Combray nicht “durch intellektuelles Erinnern” (mémoire de l’intelligence) ins Gedächtnis gerufen werden kann, weil das “bewußte Erinnern” (mémoire volontaire) das Wesen der Vergangenheit nicht erfaßt;16 wie er alsdann den “Zufall” (hasard) zum Zeremonienmeister
Schweiz 1988–1993. Bern u.a.: Lang 2002. S. 95–135. Hier: S. 112f. (Europäische Hochschulschriften: Reihe I: 1827). 14 Brenner betont regelmäßig seine angebliche Ungebildetheit und bezeichnet sich wiederholt als “Schreib-Dilettant” (BB 59; vgl. z.B. auch: BB 101, 203, 326). Damit entsteht der Eindruck, als schrieben an Brunsleben “zwei Autoren. Neben dem expliziten und wenig begabten Autor Brenner steht ein weiterer Autor, der dem Text implizit ist und über literarische Mittel verfügen kann, die dem expliziten nicht im Traum einfallen würden. Dem impliziten Autor gelingt die Kunst, diese Mittel zweckmässig und zielsicher einzusetzen, nur dem expliziten bleibt sie versagt” (Peter Stocker: Hermann Burgers “échec ultime”? Nachtrag zu “Brunsleben” [1989]. In: Schweizer Monatshefte [für Politik, Wirtschaft, Kultur] 72 [1992]. S. 151–157. Hier: S. 156). Auf diese Einschätzung Stockers ist zurückzukommen (vgl. Anm. 56 und 75). 15 Weil Burger das Figurenarsenal der Brenner-Romane zum größten Teil aus der Fiktionalisierung realer Personen aus seinem Umfeld speiste (zur Entschlüsselung der “Vorbilder der Figuren” vgl. Monika Großpietsch: Zwischen Arena und Totenacker. Kunst und Selbstverlust im Leben und Werk Hermann Burgers. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994. S. 234 [Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 6]), sei hier, ohne in die Falle der Identifikation von literarischer und außersprachlicher Welt zu tappen, wenigstens darauf verwiesen, daß – so wie sich hinter Jéroˆme von Castelmur-Bondo der Schweizer Historiker Hans Rudolf von Salis (1901–1996) verbirgt – Edmond de Mog der Schweizer Komponist, Maler und Publizist Peter Mieg (1906–1990) Pate gestanden hat. 16 Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit I: In Swanns Welt. Übers. von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. S. 62 resp. – “natürlich müßte man sich an das französische Original halten” (BB 14), lautet Jéroˆme von Castelmur-Bondos philologischer Ratschlag – Marcel Proust: À la recherche du temps
246 im Reich der Erinnerung erklärt und diesen Zufall just in dem Moment erlebt, als er – wie einst als Kind – den Geschmack eines in Lindenblütentee aufgeweichten Sandtörtchens auf der Zunge spürt;17 und wie er schließlich fasziniert von diesem magischen Zustand, in dem ihm die Vergangenheit epiphanieartig präsent und er durchströmt von einem “unerhörte[n] Glücksgefühl” (plaisir délicieux) ist, dieses Erlebnis noch einmal heraufbeschwören will, um im wiederholten Experiment zuletzt zu merken, daß sich die Gnade der mémoire involontaire nur einstellt, wenn er seinem Geist die nötige Zerstreuung (distraction) nicht vorenthält.18 Erst so präpariert, spürt er etwas in sich zittern; ihm ist, als verschiebe sich in ihm etwas, als lichte sich in ihm aus großer Tiefe ein Anker. Noch empfindet er dabei Widerstand und hört “das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume”.19 Endlich verschwindet aber auch dieser Widerstand, und “mit einem Male” (tout d’un coup) ist die Erinnerung da.20 Erklärt wird dies von Proust damit, daß – und nun läßt Burger de Mog gar wörtlich zitieren (vgl. BB 53) – nach dem Tod der Lebewesen und der Zerstörung der Dinge allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack [l’odeur et la saveur] noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen [werden].21
Jetzt hat Brenner genug gehört und will sogleich zur angekündigten Verifikation schreiten. Diese muß er allerdings in de Mogs Garten in Angriff nehmen, weil der Komponist als militanter Nichtraucher – “wass, e söttige schtinkprügel i perdu I: Du côté de chez Swann (1913). Hg. von Antoine Compagnon. Paris: Gallimard 1988. S. 43. Daß Burgers ‘Quelle’ die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens war, bestätigt ein Blick in seinen Nachlaß. In der Vorfassung von Brunsleben lautet die Formulierung von Brenners Bitte an de Mog (vgl. BB 51) noch: “Da ich zwar vom Madeleine-Effekt wusste, die ‘Recherche’ aber weder im Original noch in der Uebersetzung von Eva Rechel-Mertens kannte, bat ich Edmond de Mog, wenn es ihn nicht zu sehr ermüde, mir diese Kernszene kurz zu schildern, um verifizieren zu können, ob sich das Prinzip auf meine Tabakblätter übertragen lasse” (Hermann Burger: Kindheit im Stumpenland. S. 28. In: Schweizerisches Literaturarchiv. Nachlaß Burger. Schachtel A 29. A-01-14a: Brenner I – Brunsleben. 1989: Materialien. Frühfassung und Vorfassung: Kindheit im Stumpenland [fortan zitiert als: SLA. Nachlaß Burger. Schachtelnummer. Signatur: Inhaltsangabe]). 17 Vgl. Proust (wie Anm. 16). S. 62f. resp. S. 44. 18 Vgl. ebd. S. 65 resp. S. 45. 19 Vgl. ebd. Im französischen Original lautet diese Passage: “[J]e sens tressaillir en moi quelque chose qui se déplace, voudrait s’élever, quelque chose qu’on aurait désancré, à une grande profondeur; […] j’éprouve la résistance et j’entends la rumeur des distances traversées” (S. 45). 20 Vgl. ebd. S. 65f. resp. S. 45f. 21 Ebd. S. 66f. resp. S. 46.
247 mim huus, völlig gschtobe” (BB 54) – in seinem Haus absolut keine Cigarren duldet und das Rauchen darum nur in seinem Pavillon erlaubt.22 Und tatsächlich: Kaum hat Brenner dort seine San Luis Rey entflammt, erlebt er “schon nach den ersten paar Zügen […] haargenau dasselbe wie Proust” (BB 57). Auch bei Brenner lichtet sich ein Anker, nur ist es im Unterschied zu Proust eben nicht eine in Tee aufgeweichte Madeleine, sondern eine Cigarre, die als Katalysator der mémoire involontaire dient:23 [D]as Aroma, für das im wesentlichen die ätherischen Öle des Vuelta-Sandblattes verantwortlich zeichnen, geht sofort eine Fusion ein mit den in der Grünau meines Innersten gelagerten Kindheitseindrücken, was oder wer genau, um bei der Terminologie meiner Vorfahren zu bleiben, heiratet? Auf der Ebene der Cigarre, in diesem Fall einer Puro, die drei anatomischen Elemente Einlage, Umblatt und Deckblatt […]. […] Was oder wer heiratet auf der Ebene meiner Kindheitsperspektive? Auch drei Komponenten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (BB 57f.).
Oder wie Brenner den “Madeleine-Effekt des Tabaks” schon vor de Mogs Ausführungen zu Proust beschreibt: “[S]obald ich einen Wynentaler-Stumpen anzünde, steigen Bilder in mir hoch, die ich längst verschollen glaubte, und erst beim Pneuma des Puro höre, rieche, schmecke ich alles” (BB 47).24 Damit 22
De Mogs Gesinnung ist damit jener von Goethe weit ähnlicher als die von CastelmurBondo, als dessen “eckermännischen Untermieter” (BB 12) Brenner sich bezeichnet und der mit seiner Pfeife die gemeinsamen “vorabendlichen Tabakskollegien” (BB 10) bestreitet. Goethe nämlich war strikter Gegner des Rauchens: “Rauchen”, meinte er zum Beispiel zu Karl Ludwig von Knebel, “macht dumm; es macht unfähig zum Denken und Dichten. […] Die Raucher verpesten die Luft weit und breit und ersticken jeden honneten Menschen, der nicht zu seiner Verteidigung zu rauchen vermag” (Johann Wolfgang von Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hg. von Ernst Beutler. Zürich: Artemis 1949. Bd. 22 [Goethes Gespräche. Erster Teil]. S. 518f.). Zum Niederschlag von Goethes Aversion gegen das Rauchen in dessen Werken vgl. Corti (wie Anm. 10). S. 236–243. 23 Vgl. Irmgard Wirtz: Rauchen und Literatur: Hermann Burgers Rauchzeichen. In: Tabakfragen. Rauchen aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Hg. von Thomas Hengartner und Christoph Maria Merki. Zürich: Chronos 1996. S. 165–182, die darauf hinweist, daß Burger “das weibliche durch ein männliches Stimulans”, d.h. “die muschelförmige Madeleine” durch “die phallische Cigarre” ersetzt (S. 166). In ihrem Anhang gibt Wirtz zudem die sich im SLA (Nachlaß Burger. A 29. A-01-14a: Brenner I – Brunsleben. 1989: Materialien. Frühfassung und Vorfassung: Kindheit im Stumpenland) befindende “Tabakbibliothek” Burgers, d.h. ein Verzeichnis von Fachliteratur, die er bei der Arbeit an den Brenner-Romanen zusammengestellt und zum Teil darin verarbeitet hat, wieder (vgl. S. 181f.). 24 Dieses Potential des Tabaks ist auch im Namen seines kubanischen Anbaugebietes angelegt: “Vuelta Abajo” (vgl. z.B. BB 56f.) bedeutet übersetzt soviel wie ‘Rückkehr nach unten’ – eine Pointe, die auch in einem Text aus Burgers “Tabakbibliothek” zur Sprache kommt (vgl. Guillermo Cabrera Infante: Rauchzeichen [1985]. Übers. von Joachim Kalka. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. S. 40).
248 diese Analogie aber funktionieren kann, muß freilich noch etwas anderes gegeben sein – und zwar eine olfaktorische Erfahrung mit dem blauen Dunst in der Kindheit, die jener von Marcel mit dem Sandtörtchen entspricht. Daß Brenner als Sproß einer Cigarren-Dynastie in der Tat über eine solche verfügt, wird nicht weiter erstaunen: Wenn ich nun über die ätherischen Öle der San Luis Rey so entlegene Ereignisse glasklar zu sehen vermag […], dann wahrscheinlich dessentwegen, weil ich, lange bevor die ersten Bilder einsetzen, zu Hause in Menzenmang, im Büro meines Vaters, auf dem Teppich herumrobbend, etwas roch, den feurigen Hauch oder Odem, der das Universum zusammenhält (BB 59).
Ja, mehr noch. Brenner hat nicht nur schon “als kleiner Stumpen” (BB 23), d.h. als Kleinkind, den Cigarrenrauch des Vaters gerochen, sondern nach eigener Auskunft auch selbst bereits früh mit dem Rauchen begonnen: “[K]urz, ich rauche, seit ich fünf bin, in Menzenmang kein Kunststück, wo die Schätze so offen herumliegen” (BB 91). Damit kann – wenngleich der Begriff der trockenen Trunkenheit noch gar nicht gefallen ist – eine erste rauschhafte Wirkung des blauen Dunstes benannt werden. Die Wiederholung einer frühkindlichen olfaktorischen25 respektive gustatorischen Wahrnehmung führt dazu, daß die Zeit aus ihren Fugen und Brenner – wie Prousts Marcel – in einen entrückten Zustand der Realpräsenz zu geraten scheint. In einer Art hieros gamos geben sich die drei Zeitmodi “Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft” (BB 58) das Jawort. Die (zeitlichen) Distanzen sind überwunden (traversées), die Differenz von Einst und Jetzt ist zugunsten einer immanenten Ewigkeit aufgehoben.26 In diesen quasi-mystischen Augenblicken (im Sinne eines ekstatischen Heraustretens aus der Zeit als Sukzession) kann der dem Werden und also Vergehen entflohene Brenner mit seiner Leitanapher, die im Text in den Momenten der sich einstellenden Erinnerung immer wieder auftaucht, ausrufen: “Da ist […]” (vgl. z.B. BB 98f.). Die Bilder, die er “längst verschollen glaubte” (BB 47), sind wieder da. Auch Brenner ist durchströmt 25 Prousts Beobachtung, daß Düfte besonders geeignet sind, die Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen, wurde mittlerweile von den Neurowissenschaften experimentell bestätigt (vgl. Günther Ohloff: Düfte. Signale der Gefühlswelt. Zürich: Helvetica Chimica Acta 2004. S. 195, der Burgers Wendung “Madeleine-Effekt” übernimmt [vgl. S. 196–208] und auch dessen Übertragung auf den Duft des Tabaks naturwissenschaftliche Plausibilität attestiert [vgl. S. 203f.]). 26 Auf diese Weise charakterisiert auch Jacques Derrida, was er (in seiner BaudelaireAnalyse) “Poetik des Tabaks” nennt: “Die starke oder milde Droge […] ist das Heil gegen die Zeit. […] Die Trunkenheit gibt Zeit, aber indem sie uns des ‘Heils gegen die Zeit’ versichert. Zeit-geben liefe demnach darauf hinaus, sie zu annulieren. Die gegebene Zeit ist eine zurückgenommene / wiederaufgenommene Zeit [temps repris]” (Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben I [1991]. Übers. von Andreas Knop und Michael Wetzel. München: Fink 1993. S. 97–142. Hier: S. 138f.).
249 vom “unerhörten Glücksgefühl” (BB 51) einer absoluten Selbstidentität.27 Diese Erfahrung jenseits der Zeitbedingtheit umschreibt Proust in einem berühmten Brief, in dem er seine Theorie der mémoire involontaire erläutert, selbst mit der Metapher des Rausches: “[M]ais que nous sentions une odeur ancienne soudain nous sommes enivrés!”28 Daß dieser Rausch indessen nicht willentlich herbeigeführt werden kann, betont – ganz gemäß Prousts Auffassung von der mémoire involontaire29 – auch Brenner in seinem Lob auf das “Medium der Cigarre”: Sie ist launisch, je nachdem wie sie brennt, je nach Feuchtigkeitsgehalt und Dauer der Lagerruhe versenkt sie uns tiefer oder weniger tief in jene Schächte, die das Aroma einem Ariadnefaden gleich erschließt. Der Raucher kann nicht befehlen: sei Erinnerung, stell dich ein, frühes Bild. Er muß eine unendliche Geduld entwickeln (BB 259).
Mit anderen Worten: Das Rauchen ist zwar nicht hinreichende, wohl aber notwendige Bedingung für das Wiederfinden der verlorenen Zeit.30 In diesem Sinne sagt Brenner denn auch “nicht, ich habe heute drei Seiten geschrieben und dabei eine Dannemann Brasil geraucht, umgekehrt wird ein Schuh draus” (BB 319). Das heißt: Es verhält sich gerade umgekehrt. Brenner raucht eine 27
Vgl. dazu auch Wirtz (wie Anm. 23). S. 167. Marcel Proust: À René Blum [Le 5, 6 ou le 7 novembre 1913]. In: Proust: Lettres (1879–1922). Hg. von Françoise Leriche. Paris: Plon 2004. S. 636f. Hier: S. 636 (Kursivierung SZ). Auch hier muß man sich “an das französische Original halten” (BB 14), zumal im französischen Begriff ivresse noch das Lateinische ebrietas anklingt. Für eine deutsche Übersetzung vgl. Marcel Proust: Briefe zum Werk. Hg. und übers. von Wolfgang A. Peters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964. S. 279–283. Hier: S. 281: “[K]aum aber nehmen wir einen Duft von früher wahr, wie sind wir dann plötzlich berauscht!” Zum Rausch solcher Augenblicke vgl. auch Bruno Hillebrand: Marcel Proust. Die wiedergefundene Zeit. In: Hillebrand: Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit – von Goethe bis heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. S. 102–116. Hier: S. 113 (Kleine Reihe V&R 4011). 29 Vgl. dazu (neben dem gerade erwähnten Brief an René Blum) auch Marcel Proust: A la recherche du temps perdu [interview avec Élie-Joseph Bois] (1913). In: Proust: Textes retrouvés. Recueillis et présentés par Philip Kolb avec une bibliographie des publications de Proust (1892–1971). Paris: Gallimard 1971. S. 285–291. Hier: S. 289, wo Proust hervorhebt, daß die “mémoire volontaire” die Vergangenheit male wie die schlechten Maler ihre Bilder: “avec des couleurs sans vérité.” Allein die “souvenirs involontaires” hätten eine “griffe d’authenticité” und befreiten darum von der Kontingenz, indem sie uns – jenseits der Vergänglichkeit – die “essence extratemporelle” geben. 30 Die Analyse von Brenners Metaphern der Erinnerung würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, bedient er sich doch – wie hier mit dem “Ariadnefaden”, der im Labyrinth der Vergangenheit Orientierung bietet (vgl. Kirsten von Hagen: Ariadnefaden. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. von Nicolas Pethes und Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001. S. 55) – etlicher Klassiker aus dem Arsenal der Gedächtnismetaphorik. 28
250 Cigarre und schreibt dabei seine Erinnerungen nieder, ist doch das Rauchen “ein Privileg des Geistes und der Sinne”: Wer freiwillig darauf verzichtet, mit den Göttern über die göttlichen Düfte der Havanna-, Sumatra-, Java-, Domingo- und Brasil-Blätter Zwiesprache zu halten, hat auf das falsche Pferd gesetzt, auf ein Dasein ohne Mythen, auf eine Gesundheitsreligion ohne Pneuma (BB 320).
Das Rauchen wird also sakralisiert und im Bereich des “Kultischen” angesiedelt: Es “verbindet uns mit den Göttern” und “führt uns zu den ersten Spuren der Menschheit zurück” (BB 254). Der religiöse Begriff ‘Pneuma’, der schon im Zusammenhang mit dem “Madeleine-Effekt des Tabaks” auftauchte (vgl. BB 47), wird durchaus traditionell als “feurige[r] Hauch” (BB 254) bezeichnet, aber – “das Reich der Cigarre ist von dieser Welt” (BB 325) – immanent gewendet und prinzipiell der Inspiration gleichgesetzt: So geht Brenner zum Beispiel “inspiriert vom Pneuma der Cohiba” (BB 8) zu Werke, wird “vom Pneuma [s]einer Romeo hinabgetragen” (BB 169) oder seine Erinnerung wird gefördert “durch das Pneuma eines Wuhrmann B” (BB 27).31 Neben der “ureigene[n] Perspektive” (BB 303) auf seine individuelle Vergangenheit ermöglicht das Rauchen Brenner somit auch den Zugang zu einem (ahistorischen) Allgemeinen, das für ihn im Mythos zum Ausdruck kommt.32 Der Text schreibt folglich dem Cigarrenkonsum auf der Ebene der propositionalen Sprechakte die Funktion von Mnemosyne zu. Wie die Mutter der Musen den poeta vates versetzt der Genuß von Cigarren den verhinderten Tabakkaufmann – zumindest de potentia, denn der Raucher kann ja nicht befehlen (vgl. BB 259) – in den suprarationalen Zustand der (überpersönlichen) Erinnerung und Inspiration.33 Einen Zustand, der eben mit jenem der trockenen Trunkenheit identifiziert wird, weshalb diese nun endlich ihrer Definition bedarf. 31
Brenners Verständnis von ‘Pneuma’ als “Prinzip der Inspiration” deckt sich damit mit Burgers Ausführungen in seiner Dissertation (vgl. Hermann Burger: Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache [1973]. Frankfurt a.M.: Fischer 1989. S. 128f.), wo ein diesbezüglich einschlägiger Lexikonartikel referiert wird (vgl. Franz Mussner: Pneuma. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. von Josef Höfer und Karl Rahner. Freiburg: Herder 1957–1968. Bd. 8 [1963]. Sp. 568–576). 32 Brenner vertritt – auch darin mit Burgers Ausführungen in seiner Dissertation übereinstimmend (vgl. Burger [wie Anm. 31]. S. 39) – expressis verbis einen Jungianischen Mythosbegriff, wenn er zum Beispiel in seinem Traum von der “Nabelfrau” (vgl. BB 308f.) den “Archetypus der Matrone” (BB 319) und also eine Invariante des kollektiven Unbewußten erblickt. 33 Vgl. Eike Barmeyer: Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie. München: Fink 1968. S. 13 (Humanistische Bibliothek. Reihe I: Abhandlungen 2): “In der Inspiration ist der Inspirierte einem überpersönlichen Anspruch ausgesetzt. Dieser Anspruch gilt als grundlegend, unableitbar, autonom, d.h., er steht über oder vor den Entfaltungsmustern der Ratio.”
251 Das passive Moment der trockenen Trunkenheit betont auch Brenner, indem er sie als “Leidenschaft” (BB 323) bezeichnet, um sie in der Folge als “Rausch der Erregung und Besänftigung, der sich so erinnerungsschwer vom Abdriften in die Alkoholtaubheit und Heroinhalluzination unterscheidet” (BB 324), zu definieren. Die Grundfunktion des Rauchens wird damit ganz konventionell beschrieben: Es bewirkt – anders als Alkohol und Rauschgift – zugleich “Beruhigung und Konzentration”.34 Die Cigarre “hilft uns […], unsere zerstreuten Gedanken zu sammeln” (BB 294), und seine “leeren Cigarrenschachteln” erinnern Brenner dementsprechend “an viele Stunden der gesammelten Aufmerksamkeit” (BB 296).35 Das Rauchen liefert insofern die Voraussetzung für die poetische Produktion, d.h. jenen Mix von Konzentration und Distraktion, der (auch) laut Proust basal für das Einsetzen des Erinnerungsprozesses ist. Allerdings meint der Rausch der trockenen Trunkenheit hier nun noch etwas anderes als den mnemotechnischen Effekt im olfaktorischen und gustatorischen Gedächtnis. Es sind die Wirkungen des Alkaloids Nikotin auf das vegetative Nervensystem, die Brenner beschreibt, wenn er sich zum Beispiel durch den Genuß einer Romeo y Julieta Churchill “in den eigentümlichen Schwebezustand zwischen Verflüchtigung und Verfestigung der Gedanken, in jene zunächst noch harmlose Entrückung, welche Rauschgiftsüchtige mehr und mehr vom Leben abhält” (BB 254), versetzt oder “in den Schlieren der Montecristo Nr. 2 […] mit dem nussigen Aroma Bilder über Bilder” (BB 98) aufsteigen sieht. Doppelt gelesen jedoch ergibt sich ein Effekt, der diese Proklamierung trunkenen Schreibens gerade unterminiert. Brenner teilt nämlich die von ihm selbstironisch an den Pranger gestellte “Unsitte vieler Neutöner […], auf Anführungszeichen zu verzichten” (BB 101),36 steht doch in Georg Böses Buch Im blauen Dunst zu lesen: Mag der moderne Mensch, wenn er halbvergessen dem blauen Dunst nachsinnt, vom Kultischen auch kaum mehr angerührt sein, noch immer gerät er in einen seltsamen Schwebezustand zwischen Verflüchtigung und Verfestigung seiner Gedanken, in jene harmlose Andeutung von Entrückung, die – verderblich gesteigert – den leiden-
34
Vgl. Schivelbusch (wie Anm. 6). S. 122. In seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung bezeichnet Burger das Schreiben selbst als “gesammelte Aufmerksamkeit” (vgl. Hermann Burger: Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetik-Vorlesung. Frankfurt a.M.: Fischer 1986. S. 99). 36 Selbstironisch (auch) deshalb, weil Brenner hier die Erzählweise eines “skurillen Schweizers namens Gruber” (BB 100) geißelt, der eine “Geschichte, die von einem Erdbeben in Süddeutschland ausgeht” (BB 101), geschrieben hat. Damit bezieht er sich auf die Erzählung Zentgraf im Gebirg oder das Erdbeben zu Soglio, die ein gewisser – in ‘Gruber’ anagrammatisch verklausulierter – Burger verfaßt hat (vgl. Hermann Burger: Zentgraf im Gebirg oder das Erdbeben zu Soglio. Kurzgefaßte Schadenmeldung an den Schweizerischen Erdbebendienst. In: Burger: Diabelli. Erzählungen. Frankfurt a.M.: Fischer 1979. S. 87–105). 35
252 schaftlichen Opiumraucher allmählich vom Leben abzieht und nicht selten zum Ruin führt.37
Während also auf propositionaler Ebene ein Schreiben in Trunkenheit behauptet wird, tut der Text etwas anderes. Nicht das Rauchen ist Motor dieser Rede, sondern der Text wird gespiesen aus der (unmarkierten) Wiedergabe eines Prätextes, der sich zwar nicht in Burgers “Tabakbibliothek” (vgl. Anm. 23) findet, von Brenner aber an anderer Stelle – “hier zitiere ich Böse, ‘Im blauen Dunst’ ”38 – selbst genannt wird. Dieser performative Widerspruch zwischen Sagen und Tun liegt auch vor, wenn Brenner “das abhebende Stimulans der Nicotiana tabacum […], das Schwebende der Bilder und Gedanken” (BM 50) folgendermaßen zum Ausdruck bringt: Er raucht, “um [s]ich von Pegasus in den Tabakwolken beflügeln zu lassen” (BM 100), oder empfängt ein “anschauliche[s] Bild, das sich wie die Pegasusumrisse aus dem stahlblauen Dunst der oblongen, an Körper fast unübertrefflichen Montecristo No. I löst” (BM 70). Diese Sätze wurden indes ebenfalls weniger auf dem Rücken von Pegasus, der laut dem Mythos auf dem Musenberg Helikon durch seinen Hufschlag die Quellen Hippukrene entstehen ließ und darum in neuzeitlicher Vorstellung zum Dichterroß avancierte, als am Schreibtisch durch Exzerpierung aus Böses Kapitel “Pegasus in Tabakwolken” generiert.39 Und Böse bleibt auch die Grundlage von Brenners Erklärung dafür, warum der Tabak überhaupt diese Wirkungen zeitigen kann. Eine Erklärung, die – und damit schließt sich der Kreis zum eingangs erwähnten medizinhistorischen Diskurs – mit Blick auf die Botanik erfolgt. Die Tabakpflanze gehört, wie Brenner (insgeheim wieder Böse referierend) selbst ausführt (vgl. BB 196), zur Familie der Nachtschattengewächse (lat. solanaceae).40 Darum ist sie so attraktiv im Rahmen von Brenners Schreibprojekt: “[D]ie Botaniker [zählen] die Nicotiana tabacum zu den Solnazeen [sic!], zu den trostspendenden Pflanzen” (BB 255), und Trost (lat. 37 Georg Böse: Im blauen Dunst. Eine Kulturgeschichte des Rauchens. Stuttgart: DVA 1957. S. 14f. (Kursivierung SZ). Bei Böse findet sich auch die Beschreibung der “Wirkung des Tabakgenusses” als “einzigartige Mischung von Besänftigung und Anregung, von Ablenkung und Konzentration” (S. 25), die Brenner in seiner Definition der trockenen Trunkenheit (vgl. BB 323) geringfügig modifiziert. 38 Hermann Burger: Brenner II: Menzenmang. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. S. 100 (Nachweise fortan mit der Sigle BM direkt im Text). 39 Vgl. Böse (wie Anm. 37). S. 190–206. Schon Sigmund von Birken spricht davon, daß die sogenannten “Rauch-Poeten” – während “[e]tliche von den alten und neuen Poeten […] der Wein auf den Pegasus gesetzet” habe – “ein Wind aus der Tabakspipe in den Sattel wehen und heben” müsse (vgl. Birken [wie Anm. 9]. S. 64). Vgl. dazu auch jene Gedichtsammlung, auf die sich Böse bezieht: Pegasus in Tabakwolken. Deutsche Rauchergedichte vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gegenwart. Hg. von Viktor Wendel. Leipzig: Hiersemann 1934. 40 Vgl. dazu Böse (wie Anm. 37). S. 21–25.
253 solamen) braucht der mit zunehmender Romandauer (wieder) in die Depression abgleitende Brenner vermehrt.41 Er überläßt sich “den Solnazeen [sic!], den troststiftenden Pneumaspendern” (BB 324), zumal es auch in diesen dunklen Zeiten allein noch die Cigarre [ist], der ein gewisser Trost abzugewinnen ist, natürlich nicht im Sinne des vollumfänglichen Genußrauchens, die Havanna oder Brenner Habasuma erfüllt dann mehr die Funktion eines Kardiographen oder Atmungs-Messers, solange sich die Schlieren kräuseln, sind wir noch da (BB 288).
Der Cigarre, die letztlich – fumo ergo sum – gar zum Existenzbeweis mutiert, wird in den Brenner-Romanen somit auch die Qualität einer Arznei zugewiesen. Und da der Tabak einst als Allheilmittel galt, eignet er sich nicht bloß für die Phlegmatiker zur Kur, sondern eben auch für einen “geborenen Schwarzgalligen” (BM 22) wie Brenner (vgl. Anm. 8). Dies erwähnt schon Robert Burton in The Anatomy of Melancholy (1621): “Tabacco, divine, rare, superexcellent tabacco, which goes far beyond all the panaceas, potable gold, and philosopher’s stones, a sovereign remedy to all diseases”.42 In diesem Sinne erblickt Brenner “im Tabak ein Heilkraut gegen die Erdbebengefahr in Gemüt und Gehirn” (BB 292) und widmet – weil “es der größte Unsinn aller Zeiten ist, in den Spitälern das Rauchen zu verbieten” (BB 255) – diesem Thema in Menzenmang mit “Das Wunderkraut als Arznei” (BM 91–103) ein ganzes Kapitel.43 Auch dieses Kapitel aber besteht im wesentlichen aus der Aufbereitung der entsprechenden Passage aus Böses Kulturgeschichte des Rauchens.44
41
Vgl. dazu auch Wirtz (wie Anm. 23). S. 173–176. Robert Burton: The Anatomy of Melancholy (1621). Hg. von Holbrook Jackson. New York: nyrb 2001. S. 228. 43 Da sich Brenner nicht nur als “Schwarzgalligen” beschreibt, sondern auch – mit medizinischem Fachvokabular, das sich auf der Höhe seiner Zeit befindet – als endogen Depressiven (vgl. v.a. BM 16–23), sei hier überdies erwähnt, daß für die von Brenner behauptete Nikotinmedikation dasselbe gilt wie für Prousts Theorie vom olfaktorischen Gedächtnis (vgl. Anm. 25): Die Neurowissenschaften haben dies mittlerweile bestätigt (vgl. Khatija N. Paperwalla, Tomer T. Levin, Joseph Weiner und Stephen M. Saravay: Smoking and Depression. In: The Medical Clinics of North America 88 [2004]. S. 1483–1494). 44 Das gilt besonders für den Vortrag, den Brenner auf Einladung von Professor Ennetbürgin im Spital Baden hält (vgl. BM 100–103) und in dem auch er den Tabak “als Panacee” (BM 102) bezeichnet: Referiert wird darin Böse (wie Anm. 37). S. 26–34. Hermann Burger machte in seinem letzten Brief an seinen Freund Anton Krättli, der ihm als ‘Vorbild’ zur Romanfigur des Literaturkritikers Adam Nautilus Rauch diente, übrigens selbst die Aussage, “Hermann Arbogast Brenner sei letztlich gerade von jenen Freunden fasziniert, bei denen die ‘humores’ im Gleichgewicht seien” (Anton Krättli: Annäherung an eine Kunstfigur. In: Salü, Hermann. In memoriam Hermann Burger. Hg. von Klaus Isele. Eggingen: Edition Isele 1991. S. 57–65. Hier: S. 64). 42
254 Zwischenzeitlich läßt sich also festhalten: Die Bedeutung des Tabaks und seiner Wirkungen erfährt im Verlauf der Brenner-Romane eine Amplifikation, die mit dem (gesundheitlichen) Werdegang des Erzählers korrespondiert. Eingeführt als Analogon zur Proustschen Madeleine, gewinnt für den von der Depression heimgesuchten Protagonisten zunehmend dessen Funktion als Heilmittel an Gewicht. Doch auch diesbezüglich erfolgt die Schilderung über den Rekurs auf Prätexte – und zwar nicht bloß auf solche aus dem Ressort der Sachliteratur. Vielmehr übernimmt der Tabak struktural die Position von “Digitalis, Bärlapp und Katzenpfötchen” (BM 97) und also die Funktion jener Arzneien aus der Naturheilkunde, mit denen in Fontanes Roman Der Stechlin die ‘alte Hexe’ Buschen die geschwollenen Füße von Dubslav von Stechlin behandelt.45 Zugleich weist Brenner, der seine Tabakblätter im “Stechlinschen Geist” (BB 44, 292, 323) der Geselligkeit und Gelassenheit verfaßt und dessen Text von etlichen Allusionen auf Fontanes Altersroman durchzogen ist,46 aber auf die Ambivalenz des Tabaks hin: “[D]ies Zwittrige lag ja in der Nicotiana tabacum selbst, sie war Gabe ebenso wie Gift, förderte die luftigsten Gebilde der Phantasie nicht minder als das Karzinom” (BM 113). Auch dieses Hermaphroditische jedoch wird unter Berufung auf einen Prätext benannt: “Ja, das war die alte paracelsische Frage, die auch für mein Tabakerbe und für meinen Nikotinkonsum galt: von welcher Dosis an ist eine Gabe der Natur toxisch[?]” (BM 81). “Alle Dinge”, heißt es bei Paracelsus, “sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die dosis machts, daß ein Ding kein Gift ist”,47 und gerade als “Berufsraucher” ist Brenner diese “paracelsische Weisheit nicht unvertraut […], daß jede Gabe der Natur, auch die Nicotiana tabacum, in Überdosis schädlich ist” (BM 98), weshalb er – Bezug nehmend auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ‘Gift’, das sich von ‘geben’ herleitet48 – auch von der “‘gift’ des Tabaks” (BB 149) spricht. Kurz: Der Tabak ist ein pharmakon, denn
45 Vgl. Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman (1898). Kritische Ausgabe. Hg. von Peter Staengle und Roland Reuß. Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1998. S. 316, 319, 331–334, 356, 359, 361f. Brenner kommt wiederholt auf Digitalis, Bärlapp und Katzenpfötchen zu sprechen (vgl. BM 45, 47, 80, 98). 46 Allem voran gilt dies im vorliegenden Zusammenhang für das Wort “kapital”, das in den Brenner-Romanen leitmotivisch auftritt (vgl. BB 57, 122, 161, 198, 323) und von Dubslav von Stechlin geäußert wird, nachdem sein Diener Engelke ihm und Herrn von Gundermann “die kleine Kiste” gebracht hat: “Ah kapital. So ein paar Züge, das schlägt nieder, besser als Sodawasser” (Fontane [wie Anm. 45]. S. 35). Zum Tabakmotiv im Stechlin vgl. Neumann (wie Anm. 10). S. 162–168, wo aber besagte Szene keine Erwähnung findet und Burgers Brenner-Romane nur gestreift werden (vgl. S. 287). 47 Theophrast Paracelsus: Sieben Defensiones (1538). In: Paracelsus: Werke. Hg. von Will-Erich Peukert. Basel: Schwabe 1965–1968. Bd. 2 (1966). S. 497–531. Hier: S. 510. 48 Vgl. Grimm (wie Anm. 5). Bd. 7 (1949). Sp. 7423f. Und was Brenner dieses Gift vornehmlich auch geben soll, ist eben: Zeit (vgl. Anm. 26).
255 in diesem polysemen griechischen Begriff sind alle Bedeutungskomponenten angelegt, die Brenner ins Feld führt: Er ist Gift, Heil- und “Zaubermittel” (BM 101) zugleich.49 Die doppelte Lektüre hat jedoch gezeigt, daß der Rausch, den dieses pharmakon auslösen soll, nicht (alleiniges) inspirans von Brenners Schreiben ist. Paradoxer noch: Der Text tut gerade nicht, was er sagt. Wiederholt wird die illokutionäre Kraft der Sprechakte, die eine Textgenese in trockener Trunkenheit asserieren, durch den performativen Widerspruch subvertiert, daß sich diese Sprechakte selbst der Absorption und Transformation von Prätexten verdanken. Was sich als Produktion in einem Zustand der schwebenden Zeitenthobenheit, der Entrückung jenseits der Differenz ausgibt, ist in Tat und Wahrheit ein Verarbeitungsprozeß bestehender Textbestände. Inwiefern aber trotz (respektive gerade wegen) dieser nüchtern-bewußten Dimension von Brenners Schreibweise eine spezifische Art von “Pharmakopoiesis”50 vorliegt, soll nun noch gezeigt werden.
Burgers Pharmazie Es ist keineswegs so, daß Brenner, der immer wieder sein eigenes Schreibverfahren reflektiert und also poetologische Überlegungen anstellt, ein Geheimnis aus der Machart seines Textes machen würde. Vielmehr benennt er mit “Kennen, Können, Klittern” das, was er als “die drei Ks der Kunst” bezeichnet (vgl. BB 125), um in der Folge einzugestehen: “Und von den drei Ks des Kunstgewerbes ist mir das letzte das liebste: Klittern” (BB 268).51 Insofern gereicht ihm die Anatomie der Cigarre zur Metapher für die Konstitutionsweise
49
Vgl. Wilhelm Pape: Griechisch-Deutsches Handwörterbuch. Graz: Akademische Drucks- und Verlagsanstalt 1954. Bd. 2. S. 1256. 50 Vgl. Andreas Hiepko: Pharmakopoiesis. Trunkenheit, Drogen und Rausch in der Ästhetik unserer Vergangenheit. In: Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Hg. von Andreas Hiepko und Katja Stapko. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. S. 245–254. 51 Auch mit diesen “drei Ks der Kunst” legt Brenner indes ‘nur’ eine Modifikation antiker Dichtungstheorie vor, vertrat diese doch “die Überzeugung, daß Ursprung und Genese künstlerischer Werke sich vor allem der Trias von ingenium (als göttlicher Inspiration), ars (als handwerklicher Beherrschung von Kunstregeln) und doctrina (als gelehrtem Wissen) verdankten” (Günter Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne. Stuttgart: Metzler 1991. S. 4). Zudem scheint es nicht unplausibel, daß sich diese Transformation (von ingenium zu Können, doctrina zu Kennen und ars zu Klittern) zu zwei Dritteln einem Sachbuch verdankt, das auch in Burgers “Tabakbibliothek” (vgl. Wirtz [wie Anm. 23]. S. 182) vertreten ist: Das Taschenbuch des Zigarrenrauchers. Zigarrenrauchen mit Genuß. Wie man Kenner und Könner wird – vom richtigen Umgang mit der braunen Freundin. München: Heyne 1968. S. 73 (Praktische Reihe 4328).
256 seines Stumpenromans, den er “manufakturistisch” (BB 8) herstellt:52 “Grus nennt man das Tabakkleingut, das bei der Herstellung von Zigaretten und Stumpen anfällt”, und “Grus entsteht auch beim Beschreiben dieser Tabakblätter” (BB 257). Aus dem Studium, “was genau mit den Abfällen passiert, ergibt sich […] eine neue Technik für unser menzenmängliches Unternehmen, […] denn was dabei entsteht, ist eine Art Tutti-Frutti-Stumpen” (BB 258). Aufgrund dieser “neue[n] Technik” scheint es nicht unangebracht, im Falle von Brenners Produkt – per analogiam und cum grano salis – von ‘Tutti-Frutti-Literatur’ zu sprechen, mischt er doch darin im Rahmen seiner “Klitterungsmethode”53 eine Myriade von Prätexten zusammen.54 Aus produktionstheoretischer Perspektive ergeben sich daraus allerdings Fragen, die über die Feststellung, daß die Brenner-Romane Intertexte sind, hinausgehen: Warum ist Brenner das Klittern das liebste K, und wie genau funktioniert dieses Klittern? Wenn sich diese Textgenese durch die “Phasen der Recherche, Abkupferung und allmählichen Umformung sowie der Verquickung vorgefundener Materialien”55 auszeichnet, ist doch gerade von Interesse, warum und wie dieses Collagieren erfolgt respektive ob es bestimmten Regularitäten unterliegt. Die Antwort darauf ist im Umkreis einer Problematik zu suchen, die mit dem ersten K, dem Kennen, zusammenhängt und überdies enge Verbindungen zu einem vierten K unterhält, das Brenner in einem poetologischen Exkurs thematisiert: dem Kritisieren. In einem seiner Gespräche mit Adam Nautilus Rauch legt Brenner gegen dessen Ansichten zum Lesen ein Veto ein, indem er hervorhebt, daß ihm als Skribenten “das berüchtigte ‘Wie’ der Kritiker und Literaturkenner” nichts helfe, “denn wir, die Schreiber, haben das zu leisten, was ihnen unmöglich scheint, zwischen beiden steht eine undurchdringbare Wand, wenn auch eine Glaswand” (BB 192). Mit der Glaswand, die zwischen Kenner und Schriftsteller
52 In diesem Sinne läßt sich Brenner durchaus der “Kultur der Sekretäre” zuordnen (vgl. Sabine Mainberger: Schreibtischporträts. Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge. In: Europa: Kultur der Sekretäre. Hg. von Bernhard Siegert und Joseph Vogl. Zürich/Berlin: diaphanes 2003. S. 175–192. Hier: S. 185–187 und S. 192). 53 Großpietsch (wie Anm. 15). S. 233. 54 Nicht von ungefähr hat Marie-Luise Wünsche also den Begriff “Grus” ins Zentrum ihrer Analyse von Burgers Schreibverfahren gestellt und – dem “Kennen, Können, Klittern” je ein Kapitel widmend – ihre Arbeit entlang den “drei Ks der Kunst” gegliedert (vgl. Marie-Luise Wünsche: BriefCollagen und Dekonstruktionen. “Grus” – Das artistische Schreibverfahren Hermann Burgers. Bielefeld: Aisthesis 2000. S. 47–451). Zu Wünsches (profunder) Untersuchung, die im Zeitgeist des Dekonstruktivismus argumentiert, soll im folgenden noch ein dezidiert produktionsästhetisch orientierter Gegenvorschlag unterbreitet werden. 55 Wünsche (wie Anm. 54). S. 421.
257 bestehe, bringt Brenner eine Chiffre ins Spiel, die für Burger zeit seines Lebens im Zentrum seines Schreibens stand.56 Im gleichen Jahr, in dem er mit dem Gedichtband Rauchsignale die literarische Bühne betrat, erschien von ihm ein Aufsatz mit dem Titel “Schreiben Sie, trotz Germanistik?”. Darin bemüht der damalige Student der Germanistik bereits die Rede von der “Glaswand”57 und beschreibt die Gefahr, die für den angehenden Schriftsteller vom “Kennen” ausgeht, weil dieser “im Laufe eingehender Beschäftigung mit Literaturgeschichte und Dichtung zur Einsicht kommen müsse, alles Sagbare sei schon gesagt, sei endgültig, für alle Zeiten formuliert”.58 Der junge Autor könne sich der Paralyse seiner Kreativität durch das Traditionsbewußtsein daher nur entziehen, wenn er “in naiver Unbekümmertheit um Regeln und Vorbilder, in völliger Ignoranz aller Theorie und Ästhetik” zu Werke gehe: “Wichtig ist, daß es [das eigene Gebilde] entsteht, daß es nicht aus lauter Angst vor dem Vergleich erstickt”.59 Was Burger damit auf den Punkt bringt, ist genau jenes Phänomen, das Harold Bloom wenig später ins Zentrum seiner Theorie der “Einfluß-Angst” (anxiety of influence) gestellt hat.60 Gemäß Blooms Psychopoetik muß sich jeder Autor gegen die Tradition zur Wehr setzen, um sich selbst als Dichter behaupten zu können. Und dieser Machtkampf manifestiert sich im Text, den Bloom als intertextuelles Feld von Energien begreift, in bestimmten rhetorischen Tropen, die mit den psychischen Abwehrmechanismen des Dichters korrespondieren.61 Es ist diese unhintergehbare Nachträglichkeit, 56 Vgl. Großpietsch (wie Anm. 15). S. 119f., die darauf hinweist, daß Burger (auch) die Chiffre der Glaswand nicht selbst erfunden, sondern von seinem Mentor Karl Schmid (1907–1974) übernommen hat. Indem hier nun der empirische Autor Burger ins Spiel kommt, ist der neuralgische Punkt der Argumentation erreicht. Welcher Zusammenhang zwischen der Figur Brenner und Burger besteht und inwiefern der Text auch den Schluß auf den empirischen Autor zuläßt, wird in der Folge noch plausibilisiert (vgl. Anm. 75). 57 Vgl. Hermann Burger: Schreiben Sie, trotz Germanistik?. In: Zürcher Student. 4. Juli 1967. Wiederabgedruckt in und zitiert nach: Burger: Ein Mann aus Wörtern. Frankfurt a.M.: Fischer 1983. S. 242–247. Hier: S. 246. 58 Ebd. S. 242. Die Zentralität dieser Problematik betonte Burger auch noch gegen Ende seines Lebens. Rund ein Jahr vor seinem Tod schreibt er: “Wie sehr Hermann Burger, den habilitierten Germanisten, diese Thematik beschäftigte, zeigt schon der Studentenaufsatz ‘Schreiben Sie, trotz Germanistik?’” (Hermann Burger: Logik eines Selbstmörders. Eine Suizidographie [unveröffentlicht]. S. 24. In: SLA. Nachlaß Burger. A 61. A-06-02). 59 Burger (wie Anm. 57). S. 245. 60 Vgl. Harold Bloom: Einfluß-Angst. Eine Theorie der Dichtung (1973). Übers. von Angelika Schweikhart. Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Nexus 1995 (nexus 4). 61 Vgl. dazu Blooms “Topographie des Fehllesens” (map of misreading), die dieses endliche Set von intertextuellen Transformationen, die dem späteren Dichter zur Verfügung stehen und von Bloom “Rationes der Revision” genannt werden, auf einen Blick ersichtlich macht (vgl. Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens [1975].
258 die im Späterkommenden den lähmenden Eindruck entstehen lassen kann, es sei ihm nur noch “eine gut getarnte Nachahmung möglich, ein Eintopfgericht aus verschiedenen Anschauungen und Stilen, ein ästhetisch schillerndes Inzuchtgebilde oder aber der verzweifelte Rückzug ins Schweigen”.62 Den “Rückzug ins Schweigen” hat Burger indes nicht angetreten, sondern 1970 mit dem Band Bork sein Prosadebut folgen lassen, in dem unter anderem die Erzählung Der Büchernarr enthalten ist. Darin hat er nach eigener Auskunft seine “Germanistenproblematik verarbeitet, die Angst vor dem Lesen”.63 Der Büchernarr ist ein alter Leser, der den Büchern zurückzahlen will, was ihm deren Lektüre ‘angetan’ hat: “Die Bücher hatten mich aufgeschluckt. Ich hatte mich so tief in sie hineingelesen, daß ich nun in ihnen drin steckte”.64 Und seine Strategie gegen diese ‘Enteignung’ durch die Bücher ist, daß er in der Bibliothek über ihnen sitzt und schläft: “[I]ch schlafe den Rausch aus, den ich mir angelesen habe”.65 Burger jedoch hat im Gegensatz zu seiner Figur den angelesenen Rausch nicht etwa ausgeschlafen, sondern – “Andre verschlafen ihren Rausch, / Meiner steht auf dem Papiere”, heißt es in Goethes Zahmen Xenien (IV) – gleichsam ausgeschrieben. Diese Metapher vom Ausschreiben des Rausches als Akt der Produktion bedarf hier allerdings der Präzisierung: Weder ist das Schreiben als Tätigkeit in einem Zustand der absoluten Selbstidentität noch ist das Resultat dieses Schreibens, d.h. der Text, als Hypostase einer (hegelianischen) Synthese66 zu verstehen. Der wesentliche Unterschied zwischen Schreiber und Kritiker besteht laut Brenner nämlich gerade darin, daß der Kritiker in seinem “Zweikampf mit einem Buch” (BB 37, 192) eine Vermittlung zu leisten habe. Dieses Konzept
Übers. von Isabella Mayr. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. S. 111). Für eine kurze Diskussion (und Kritik) von Blooms Theorie, die eine (partielle) ‘Rückkehr des Autors’ impliziert, vgl. Simon Zumsteg: Playgiarism Rules. Hermann Burgers Poetologie. In: Schreibprozesse. Hg. von Thomas Fries, Peter Hughes und Tan Wälchli. München: Fink 2007 (im Druck). 62 Burger (wie Anm. 57). S. 242. 63 Burger (wie Anm. 35). S. 18. 64 Hermann Burger: Der Büchernarr. In: Burger: Bork. Prosastücke. Zürich/Stuttgart: Artemis 1970. S. 41–54. Hier: S. 50. 65 Ebd. S. 53. 66 Hegel selbst vollzieht die Identifizierung von Synthese (als Ganzes und also Wahres) und Trunkenheit in seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: “Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar auflöst, – ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe” (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1806/1807]. Hg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont. Hamburg: Meiner 1988. S. 35 [Philosophische Bibliothek 414]). Vgl. dazu Norbert Bolz: Der bacchantische Taumel. In: Essen und Trinken. Hg. von Hubert Christian Ehalt, Manfred Chobot und Rolf Schwendter. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1988. S. 121–126 (Kulturjahrbuch 7).
259 der vermittelnden Kritik stammt von Kleists Zeitgenossen und Freund Adam Heinrich Müller (1779–1829).67 In seinen Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1806/1807) schreibt er: “Eine wahre Rezension ist die Geschichte unsres Kampfes mit einem Buche, deren Resultat aber notwendig die Aufnahme dieses neuen Bürgers in dem Staate unsrer Literatur sein muß”.68 Dem Schriftsteller aber steht diese Möglichkeit der ‘Aufnahme’, der gelingenden Mediation gerade nicht zur Verfügung. Sein Ding ist vielmehr – wie im “Kampf Kleists mit Goethe” (BB 176)69 – der “Familienroman der Neurotiker”.70 Weil sein Agon von der grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet ist, daß er (wie das Kind die Eltern) seine Vorläufer sowohl bewundert als auch überwinden muß, kann das daraus resultierende “Muster der rettenden Versöhnung”71 nur negativ dialektischer Natur sein. Der Dichter konstituiert seine eigene ‘Identität’ performativ durch die simultane Absorption und Transformation der Prätexte, wobei eben – und darum die Anführungszeichen – diese ‘Identität’ nur entstehen kann, wenn zugleich auch eine Differenzierung gegenüber dem Vorläufer erfolgt.72 67
Vgl. Krättli (wie Anm. 44). S. 62f. Adam Heinrich Müller: Vermittelnde Kritik. Aus Vorlesungen und Aufsätzen. Hg. von Anton Krättli. Zürich/Stuttgart: Artemis 1968. S. 45–96. Hier: S. 60f. Was der Kritiker dieser Auffassung gemäß erreichen soll, ist Mediation (d.h. Synthese) und damit ein Zustand, der sich mit der Aufhebung der Differenz im Sinne des ‘bacchantischen Taumels’ vergleichen läßt, weist doch Müllers Begriff der Vermittlung – so Krättli in seiner Einleitung zu dessen Schriften – “voraus auf Hegel” (S. 19). 69 Die Rede von “Kleists Kampf mit Goethe”, den Brenner noch andernorts erwähnt (vgl. BB 36), geht zurück auf Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe. Heidelberg: Stiem 1974 (Poesie und Wissenschaft XXVII). Dieses erstaunliche Buch – Mommsens Prämisse lautet (durchaus analog zu Bloom, aber ohne dessen ein Jahr zuvor erschienene Theorie zur Kenntnis zu nehmen), daß Kleist “[i]n den entscheidenden Jahren seiner schöpferischen Tätigkeit […] Goethe als Hauptpartner beim agonalen Messen der Kräfte” betrachtete (S. 13) – hatte sich Burger während der Arbeit an den Brenner-Romanen von Anton Krättli ausgeliehen (vgl. Krättli [wie Anm. 44]. S. 64). 70 Vgl. Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker (1908). In: Freud: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt a.M.: Fischer 1975. Bd. 4. S. 221–226. Vgl. dazu Bloom (wie Anm. 60). S. 56–58 und Kofman (wie Anm. 4). S. 12. 71 Bloom (wie Anm. 60). S. 59. 72 Diese “rettende Versöhnung” ist also – zumal Bloom im englischen Original von “saving atonement” spricht (Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York: Oxford University Press 1973. S. 66) – auf keinen Fall hegelianisch zu verstehen: “The original wound in man cannot be healed, as it is in Hegel, by the same force that makes the wound” (Harold Bloom: Agon. Towards a Theory of Revisionism. Oxford/New York: Oxford University Press 1982. S. 117). Zum Unterschied zwischen Ambivalenz (Freud) und Dialektik (Hegel) vgl. auch Harold Bloom: Die heiligen Wahrheiten stürzen. Dichtung und Glaube von der Bibel bis zur Gegenwart (1989). Übers. von Angelika Schweikhart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. S. 152f. 68
260 Auch auf Brenners Prosa trifft damit zu, was die Schriftstellerfigur Bert May für ihre Erzählung über den Höllenfürsten Athanas Pochhammer in Anspruch nimmt. Auch sie steht “unter dem eisernen Gesetz der paradoxalen Selbstbehauptung” (BB 204).73 Wie Luzifer, der sich gegen den Schöpfer erhebt, um damit sein Selbst zu begründen, zieht Brenner gegen seine Vorläufer ins Feld,74 und er tut dies, indem er die Flucht nach vorne antritt: Was in seiner überbordenden Allusions- und Zitationspraxis manifest wird, ist die Introjektion der Tradition.75 Oder in Blooms Terminologie: Es liegt die revisionäre Ratio apophrades vor. Dieser Begriff – er stammt “von den athenischen schwarzen oder unglücklichen Tagen, an denen die Toten zurückkehren, um ihre Häuser wiederzubewohnen, in denen sie einmal gelebt haben”76 – steht für jenes Strategem der Späterkommenden, das den Eindruck erweckt, “daß die Tyrannei der Zeit fast umgekehrt ist”: “Die mächtigen Toten kehren wieder, aber sie kommen in unseren Farben und sprechen mit unseren Stimmen, zumindest teilweise, zumindest in Momenten, die dann unsere und nicht ihre Beständigkeit bezeugen”.77 Die literarische Produktion findet daher nicht in (trockener) Trunkenheit, in einem Zustand des temps repris (vgl. Anm. 26) statt, sondern – ‘Nachträglichkeit’ meint nichts anderes als “Furcht vor der Rache der Zeit”78 – in 73
Auch diese Passage über den Höllenfürsten Pochhammer verdankt sich nicht – wie im Text inszeniert (vgl. BB 203–206) – einem Gespräch, sondern der Verarbeitung eines Prätextes. Dieser Prätext, aus dem das Kapitel “Die Pochhammer-Papiere und die Geschichte von Luzifer” referiert wird, stammt vom mit Burger befreundeten Schweizer Schriftsteller Ernst Halter, dem ‘Vorbild’ von Bert May (vgl. Ernst Halter: Die silberne Nacht. Roman. Zürich/München: Artemis 1977. S. 145–173). 74 Für Bloom ist (Miltons) Satan der “Archetyp des modernen Dichters in seiner ganzen Stärke” (vgl. Bloom [wie Anm. 60]. S. 21–42. Hier: S. 21). Zu Satans Affinität zur Trunkenheit vgl. den Beitrag von Magnus Wieland in diesem Band. 75 Unter diesen Auspizien läßt sich die von Peter Stocker konstatierte Diskrepanz zwischen explizitem und implizitem Autor – ohne den empirischen Autor “mit dem einen noch mit dem anderen gleichzusetzen” (Stocker [wie Anm. 14]. S. 156) – ‘auflösen’: Es ist eben die Einfluß-Angst des empirischen Autors, die diesem Kunstgriff des Widerspruchs zwischen den Selbstbezichtigungen als “Schreib-Dilettant” und gleichzeitig praktizierter Könnerschaft (u.a.) zugrunde liegt. Zumindest hinsichtlich der ‘Selbstbegründung’ des “Dichter[s] als Dichter” (Bloom [wie Anm. 60]. S. 26) scheint die Konjektur von Brenner und Burger daher dennoch plausibel (vgl. Anm. 56). 76 Bloom (wie Anm. 60). S. 17f. Die apophrades ist in Blooms Theorie quasi die ultima ratio und bezeichnet jene kreative Revision, in der die Abwehrmechanismen Introjektion/Projektion mit der Trope der Metalepse korrespondieren und die sich in der Regel in Allusionen niederschlägt. 77 Ebd. S. 125. Durchaus analog spricht Volker Nölle – mit Rekurs auf die NarzißmusTheorie des Psychoanalytikers Heinz Kohut – diesbezüglich von “Einverleibung nach gescheiterter Aneignung” (Volker Nölle: “Die rissige Haut der Form”. Intertextualität und das ‘Schehrezad’-Axiom in Hermann Burgers Roman Brenner I und II. In: Poetica 26 [1994]. S. 180–204. Hier: S. 200). 78 Bloom (wie Anm. 61). S. 91.
261 einem Kampf gegen die Zeit, dem das Moment der Differenz inhärent ist. Wenngleich aber die Tyrannei der Zeit nur fast und scheinbar invertiert ist, so ist es doch just diese rhetorische Trickhandlung, die dem Spätgeborenen die Illusion seiner ‘Selbstbegründung’ als Dichter erlaubt. Während die Bedeutung von Brenners zweitem Vornamen Arbogast, d.h. “der vom Erbe Getrennte” (BB 38),79 also aufgrund der “Totalverkitschung des Elternhauses” (BB 241) auf seine familiäre Situation zutreffen mag, tut sie dies bezüglich seiner ‘Dichteridentität’ gerade nicht. Hier in Kraft ist vielmehr die Logik des “klassischen Zitat[s]”, mit dem Brenner – das “Goethe-Wort” fast korrekt wiedergebend – seinen Text aufmöbelt und damit zugleich eine Allegorie seines Schreibens liefert: “Was du ererbt von deinen Vätern [hast], / Erwirb es, um es zu besitzen” (BB 65).80 Um mit der erdrückenden Last des Erbes von den Vätern zurecht zu kommen, hat sich Brenner die Prätexte zu eigen gemacht. Die Tradition ist folglich Antidot gegen die Tradition.81 Sie ist Gift, Heil- und – Brenner vergleicht sein Schreiben wiederholt mit der Magie82 – 79
Vgl. auch Wilfried Seibicke: Historisches Deutsches Vornamenbuch. Berlin/New York: de Gruyter 1996. Bd. 1. S. 186. Diese (sekundäre) Motiviertheit der Namen ist – man lasse sich beispielsweise “Adam Nautilus Rauch” auf der Zunge zergehen – exemplarisch für die Brenner-Romane. Sie sind also keineswegs bloß “Schall und Rauch” – wie bei Goethe übrigens auch nicht (vgl. dazu generell: Leonard A. Willoughby: ‘Name ist Schall und Rauch…’ On the Significance of Names for Goethe. In: German Life & Letters XVI [1962/63]. S. 294–307 und in puncto ‘Heinrich’: Arnd Bohm: Naming Goethe’s Faust: A Matter of Significance. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 [2006]. S. 408–434). 80 Nicht umsonst waren diese berühmten Verse aus Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil (V. 682f.) auch ein Lieblingszitat Freuds (vgl. z.B. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916–1917]. In: Freud [wie Anm. 70]. Bd. 1. S. 347). Vgl. dazu Bloom 1989 (wie Anm. 72). S. 15 und Michel Schneider: “Tout est dit”. In: Schneider: Voleurs de mots. Essai sur le plagiat, la psychanalyse et la pensée. Paris: Gallimard 1985. S. 73–85. Hier: S. 73 (Connaissance de l’Inconscient 56). Diese Verse hat Burger übrigens schon im letzten Distichon seines Gedichtes Ruine Horen (invers) benutzt: “Was du ererbt von deinen Vätern, dachte ich oft schon, / lies es, lies es genau, aber vergiß es hernach!” (Hermann Burger: Kirchberger Idyllen. Frankfurt a.M.: Fischer 1980. S. 65). Für eine Interpretation dieses Distichons als Allegorie des Schreibens vgl. Zumsteg (wie Anm. 61). 81 Man wird einwenden wollen, daß im Rahmen von Blooms antithetischer Literaturkritik nicht erklärt werden kann, weshalb Burger oft auch ‘exotische’ Prätexte (wie z.B. die Tabaksachbücher) verarbeitet. Diese Eigenart von Burgers Schreiben kann jedoch als Epiphänomen seiner Einfluß-Angst gewertet werden. Sie entwickelte sich aus der Einsicht, die der gerade mal neunzehnjährige Burger schon in seinem allerersten Tagebucheintrag formuliert: “Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben bin ich mir bewusst, dass ich nicht Schöpfer sein soll, sondern Handwerker” (Hermann Burger: Tagebucheintrag vom 22. Oktober 1961. In: SLA. Nachlaß Burger. A 59. A-06-01a: Tagebücher I: von 1960–1981: 1. Wachstuchheft [1960–1961]). 82 Vgl. dazu z.B. die Stelle, aus der auch hervorgeht, warum ‘Cigarre’ hier konstant mit C geschrieben wird: “Und wenn ich sage, daß das Cimiterische, Cigarristische und
262 Zaubermittel zugleich. Auf einen Nenner gebracht: Die Tradition fungiert im kreativen Prozeß als pharmakon. Darum ist Brenner das Klittern das liebste K, denn es ist Burgers Pharmazie. ‘Medikation statt Mediation’ lautet seine Devise. Insofern also kann auch im Falle der Brenner-Romane von “Pharmakopoiesis” gesprochen werden, wobei die Wendung ‘Burgers Pharmazie’ abschließend eine Ausführung nötig macht, um allfälligen Mißverständnissen vorzubeugen. Laut Jacques Derrida – und auf seinen Titel La pharmacie de Platon spielt besagte Wendung ja an – kommt der Begriff pharmakon bei Platon systematisch als Bezeichnung für die strukturelle Nicht-Identität der Schrift, für “die différance der Differenz” zum Einsatz.83 Was Derrida in seiner Analyse aber zugunsten der “innere[n] und strukturelle[n] Notwendigkeit” explizit ausklammert, ist “das Problem der faktischen Genealogie”.84 Just diese ‘faktische Genealogie’ (von Burgers Texten) stand hier jedoch im Fokus des Interesses: Aus produktionstheoretischer Warte – und dies ist ganz im Sinne des pragmatischen Ansatzes von Blooms diachroner Rhetorik – diente der polyseme Begriff pharmakon zur Bezeichnung der ambivalenten Rolle, die die empirisch gegebene Tradition im kreativen Prozeß spielt.85 Darin besteht gerade der wesentliche Unterschied zu wirkungsästhetisch orientierten Burger-Lektüren. Mögen aus deren Perspektive Burgers Intertexte auch den Eindruck erwecken, als führten sie “zur Betäubung, zum Rausch und zur Trance, zum Taumel und letztendlich dazu, dass das Erzähler-Ich auch sich verliert”,86 so ergibt sich Circensische meine Existenz dominierten [vgl. BB 222], muß ich auch gleich das Prestidigitatorische und Illusionistische hinzuzählen, auf den Nenner der drei hohen Cs zu bringen mit dem Fachausdruck ‘Comedy Magic’” (BB 226). 83 Vgl. Jacques Derrida: Platons Pharmazie (1968). In: Derrida: Dissemination (1972). Hg. von Peter Engelmann. Übers. von Hans-Dieter Gondek. Wien: Passagen 1995. S. 69–190. Hier: S. 143. Vgl. auch Jacques Derrida: Die Rhetorik der Droge (1989). In: Derrida: Auslassungspunkte. Gespräche (1992). Hg. von Peter Engelmann. Übers. von Karin Schreiner und Dirk Weissmann, unter Mitarbeit von Kathrin Murr. Wien: Passagen 1998. S. 241–266. Hier: S. 246ff., wo die frühere Argumentation kurz zusammengefaßt und – “ganze Doktorarbeiten und sogar ganze Institute für (Allgemeine oder Vergleichende) Literaturwissenschaft müßte man dem […] Tabak in unseren Literaturen widmen” (S. 250) – auch auf die Bedeutung des Tabaks hingewiesen wird. 84 Vgl. Derrida 1968 (wie Anm. 83). S. 95. 85 Ähnlich argumentiert auch Albrecht Koschorke in seiner Derrida-Kritik, wenn er das Desiderat äußert, daß es nicht bloß die prinzipielle Dekonstruierbarkeit jeder Präsenz herauszuarbeiten gelte, sondern auch, “wie solche Phantasmata positiv funktionieren” (Albrecht Koschorke: Platon/Schrift/Derrida. In: Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft. DFG-Symposion 1995. Hg. von Gerhard Neumann. Stuttgart: Metzler 1997. S. 40–58. Hier: S. 57 [Germanistische Symposien-Berichtsbände 18]). 86 Erika Hammer: Erzähltext als “bleibendes Vergehen” im “akustischen Augenschein” – performative Ausdrucksmodi bei Hermann Burger. In: “Der Rest ist – Staunen”. Literatur und Performativität. Hg. von Erika Hammer und Edina M. Sándorfi. Wien: Praesens 2006. S. 290–317. Hier: S. 312 (Pécser Studien zur Germanistik 1).
263 produktionsästhetisch betrachtet genau der gegenteilige Befund. Daß Burger “fast pathologisch sprachtrunken”87 schreibt und so ein Szenario von Signifikanten, die ad infinitum auf Signifikanten verweisen, entwirft, hängt mit seinem Ringen um die eigene ‘Dichteridentität’ zusammen. Er verteidigt sich – “[e]rst wenn man darauf kommt, daß man unterworfen ist, kann man beginnen, sich zu entwerfen”88 – mit dieser (intertextuellen) Orgiastik literatursystemimmanent und erhält sich auf diese Weise die Illusion seines ‘Selbsts’ als Dichter.89 Er wird, was er ist, indem er sich schreibend gegen seine Spätheit wehrt.90 Burgers “produktive Reaktionen auf Lektüre”,91 im Rahmen welcher die Vorläufer zu einer “Art Schutzgötter”92 erhoben werden, sind Symptom seiner Einfluß-Angst. Damit ist auch das Versprechen des Gegenvorschlags zu Wünsches dekonstruktivistischer Lektüre eingelöst (vgl. Anm. 54). Für sie besteht die “entscheidende Differenz zu Prousts Projekt […] darin, daß im Verlauf von Burgers Roman dem Erinnern der Erinnernde entzogen wird”,93 daß also – wie so oft bei Burger – das Erzähler-Ich nurmehr “als Typograph, als Zeilensetzmaschine”94 amtet. Auf deskriptiver Ebene ist Wünsches Interpretation, Burgers strukturelles Thema sei die “clowneske Überschreibung der paradoxalen Grundverfassung poetischer 87
Heinz Peter Preußer: Artisten des Abgrunds. Schweizer Moralisten und der Wille zum Stil. Burger – Muschg – Dürrenmatt. In: Preußer: Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits der Apokalypse. Heidelberg: Winter 2003. S. 165–187. Hier: S. 187 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 193). 88 Vilém Flusser: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung (1989). Bernsheim/ Düsseldorf: Bollmann 1994. S. 22 (Schriften 3). 89 Dazu, daß die “Sprachenmischung” bei Burger nur scheinbar dem Eskamotieren des Autor-Subjekts dient, vgl. auch Monika Schmitz-Emans: Wort-Zaubereien bei Hermann Burger. Zur Artistik der Sprachenmischung in der Moderne. In: Literarische Polyphonien in der Schweiz / Polyphonies littéraires en Suisse. Hg. von Christa Baumberger, Sonja Kolberg und Arno Renken. Bern: Lang 2004. S. 41–70. Hier: S. 66–69 (Variations 6). 90 So, wie in den Brenner-Romanen die Namen ‘nur’ sekundär motiviert sind und insofern kein transzendentales Signifikat haben (vgl. Anm. 79), gestaltet sich auch Burgers Umgang mit der Tradition: Notwendig immer schon zu spät kommend, betätigt er sich auf dem Feld des (empirisch) vorgefundenen status quo der Sprache und Literarhistorie als bricoleur. “Schall und Rauch” wären seine Texte damit nur, wenn man der Sprache mit dem Anspruch auf eine außersprachliche Referenz begegnete – oder gar wie Goethes Faust (vgl. V. 3451–3458) auf ein transzendentes Signifikat (vgl. dazu Elizabeth M. Wilkinson: The Theological Basis of Faust’s Credo. In: German Life & Letters X [1957]. S. 229–239). Das zeigt sich auch in Brenners Umwertung der johanneischen Tradition (vgl. Anm. 13): Nicht der logos ist für ihn im Anfang, er trifft vielmehr immer schon auf – Plural! – “Wörter” (vgl. BB 90). 91 Krättli (wie Anm. 44). S. 60. 92 Elsbeth Pulver: Zigarrenduft, Gespräche, Rauchzeichen. “Brunsleben” – ein neuer Roman von Hermann Burger. In: Schweizer Monatshefte 69 (1989). S. 323–329. Hier: S. 328. 93 Wünsche (wie Anm. 54). S. 301. 94 Ebd. S. 217.
264 und poetologischer Selbstbegründungen”,95 somit zwar zu teilen, auf der Ebene der Erklärung für dieses Phänomen führt Blooms antithetische Literaturkritik indes weiter: Ausgehend von seiner Psychopoetik zeigt sich gerade, daß der Autor durch diese palimpsestuöse Praxis nicht etwa verschwindet, sondern sich performativ innerhalb der notwendigen Paradoxie von Subjektivität konstutitiert.96 Dies ist das Resultat der hier praktizierten “Pharmakokinetik” (BM 23, 24, 29), d.h. der Wissenschaft vom Verlauf, den das pharmakon Tradition in der Psyche des Dichters (Abwehrmechanismen) respektive im Organismus des Textes (rhetorische Tropen) bei Burger genommen hat.
Allen Trunkenrufen zum Trotz Aus der doppelten Lektüre der Brenner-Romane hat sich ergeben, daß die Textgenese nicht – wie die auf der Ebene der propositionalen Sprechakte exponierte Poetik des Rausches suggeriert – im Zustand trockener Trunkenheit, in dem die Zeit quasi annuliert ist, vor sich geht. Vielmehr sind diese Texte geprägt von einem performativen Widerspruch, der die Rede von der rauschhaften Inspiration subvertiert. Während Brenner – sein Projekt in nuce beschreibend97 – sagt, sein Beruf seien “Rausch und Gedächtnis […], das professionelle Rauchen und das Erinnern […] seiner tief in der Aargauer Brandenburgischen Mark verschollenen Kindheit”, und hinzu komme hierbei “der Geist der Konversation” (BM 114), tut der Text etwas anderes. Zwiesprache wird hier nicht durch das Medium der Cigarre mit den Göttern gehalten (vgl. BB 320), sondern am Schreibtisch mit Vorläufern respektive Prätexten. Prousts Du côté de chez Swann wird zum Beispiel genauso introjiziert und transformiert wie Fontanes Stechlin.98 Insofern bringt Brenner sein Unternehmen selbst am besten auf den Punkt, wenn er es “Inventarisierung der trockenen Trunkenheit” (BM 38) nennt. 95
Ebd. S. 427. Vgl. dazu auch Simon Zumsteg: Einschreibesysteme 1836/1980. Allegorien des Schreibens bei Eduard Mörike und Hermann Burger. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 (2006). S. 486–513. Hier: S. 508–513. 97 Noch einmal komprimiert versammelt finden sich alle Symptome trockener Trunkenheit auch in Brenners Schilderung seines letzten Abtauchens “in den untersten Keller seiner Kindheit” (vgl. BM 123f.). 98 Auf Fontanes Altersroman beziehen sich auch die Parallelisierung des Aargaus mit der Mark Brandenburg (vgl. BB 329) und das Ideal vom “Geist der Konversation”. Die Nachweise von Burgers ‘Quellen’ haben jedoch gezeigt, daß dem scheinbar mündlichen Austausch zwischen den Figuren zumeist (schriftliche) Texte zugrunde liegen. Dies ist ganz im Sinne von Burgers paradigmatischer Umwertung von Kleists Titel Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden (um 1805/1806) zu Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben (vgl. Burger [wie Anm. 35]. S. 13f.), wobei übrigens auch in Kleists Argumentation das agonale Moment im Dialog eine basale Rolle bei der Gedankengenese spielt (vgl. Blamberger [wie Anm. 51]. S. 14–16). 96
265 Der Terminus ‘Inventarisierung’ (Bestandesaufnahme) geht zurück auf das lateinische Verb invenire und hat damit die gleiche Wurzel wie die inventio, d.h. gemäß der klassischen Rhetorik: die erste, heuristische Phase in der Vorbereitung einer Rede. In dieser Phase kann der Redner, entsprechend der Semantik von invenire, die auch die Bedeutungen von ‘in Büchern geschrieben finden’ und ‘beim Lesen auf etwas stoßen’ umfaßt, auf bereits bestehende Topoi zurückgreifen.99 Und genau dies tat Burger. Er verarbeitete – weit mehr poeta doctus als poeta vates – in seinem Text, was er in Büchern zum Thema ‘trockene Trunkenheit’ geschrieben fand.100 Die poetologische Funktion der trockenen Trunkenheit ist daher nicht (so sehr) jene der suprarationalen Inspiration, als vielmehr jene der inventio. Aus produktionsästhetischer Perspektive, die den Propositionen nicht auf den Leim kriecht, sondern auf die illokutionäre Kraft dieser Sprechakte achtet, offenbart sich der Schreibprozeß allen Trunkenrufen zum Trotz zugleich und vor allem als kalkulierter Akt der Komposition – oder in Brenners Terminologie: als “Klittern” bestehender Literatur.101 Es handelt sich weniger um ein Schreiben in Trunkenheit, als um ein Schreiben über Trunkenheit. Aus diesem Grund hat sich letztlich auch nicht eigentlich der Tabak, sondern die Tradition als das in diesen Texten primär wirksame pharmakon entpuppt. In Burgers Umgang mit der Einfluß-Angst sind die Prätexte Gift und Heilmittel zugleich, und der topische Einsatz der trockenen Trunkenheit geriert sich deshalb letzten Endes auch als rhetorisches Ablenkungsmanöver, mit dem der Autor das Ausagieren seiner epigonalen Krise ironisch kaschiert. Koda: In Fontanes Stechlin unterläuft dem Fräulein Schmargendorf das Mißgeschick, den Namen ihres Begleiters Hauptmann von Czako mit jenem ihres einstigen Tanzpartners Baczko zu verwechseln. Der in bezug auf solche Dinge etwas kleinliche Woldemar von Stechlin meint deshalb, die “kleine 99
Vgl. Manfred Kienpointner: Inventio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Tübingen: Niemeyer 1992ff. Bd. 4 (1998). Sp. 561–587. 100 Darin ist Burger keineswegs einzigartig, ist doch der spielerische Umgang mit der Nachträglichkeit im Dichterideal des poeta doctus seit Catull das Leitmotiv: “Das ‘ludere’ ist die Weise, in der die Last der Tradition selbstbewußt und produktiv bewältigt werden kann” (Wilfried Barner: Poeta doctus. Über die Renaissance eines Dichterideals in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Hg. von Jürgen Brummack. Tübingen: Niemeyer 1981. S. 725–752. Hier: S. 743). Zu Burgers (respektive Brenners) Affinität zum Typus des poeta doctus vgl. auch Wünsche (wie Anm. 54). S. 17 und Wirtz (wie Anm. 23). S. 176–179. 101 Damit ist jedoch nur die in Burgers Texten vorherrschende Tendenz des spielerischen Umgangs mit den Prätexten bezeichnet. Das Rätsel seines “Könnens” hingegen bleibt – ingenium est ineffabile (vgl. Blamberger [wie Anm. 51]) – notwendig bestehen. Vgl. dazu auch Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte. Wiesbaden: Harrassowitz 2000. S. 33–67 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 35).
266 Rundliche” korrigieren zu müssen und bringt sie damit “in eine momentane Verlegenheit”, aus der ihr Czako aber selbst “mit großer Courtoisie” wieder heraushilft: “Czako, Baczko, Baczko, Czako – wie kann man davon so viel Aufhebens machen. Name, wie Sie wissen, ist Schall und Rauch, siehe Goethe, und Sie werden sich doch nicht in Widerspruch mit dem bringen wollen. Dazu reicht es denn doch am Ende nicht aus”.102 Burger indessen hat sich im Interesse seiner (illusionären) ‘Selbstbegründung’ als Dichter in Widerspruch mit dem und vielen anderen gebracht. Und daß es dazu, weil er zu seiner Verteidigung nicht ‘nur’ zu rauchen vermochte (vgl. Anm. 22), am Ende denn doch ausreichte, zeigt – “sich eines Apparates von [102] Fußnoten nicht entblödend” (BM 42) – die hier vorgelegte Extrapolation seiner poetologischen Pharmazie.
102
Vgl. Fontane (wie Anm. 45). S. 82f.
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Reinhard Jirgl Perspektiven, Lesarten, Kontexte Herausgegeben von David Clarke und Arne De Winde
Amsterdam/New York, NY, 2007 IV-278 pp. (German Monitor 65) Bound € 58 / US$ 78 ISBN-10: 9042021373 ISBN-13: 9789042021372
Diese Aufsatzsammlung mit Originalbeiträgen deutscher, britischer, belgischer und amerikanischer Germanistinnen und Germanisten ist das erste Buch zum literarischen Werk von Reinhard Jirgl, einem der eigensinnigsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Romane setzen sich mit den Schrecken der deutschen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert auseinander und malen ein ähnlich düsteres Bild der Bundesrepublik nach der Jahrtausendwende. Diese kritische Spurensuche schlägt sich auch in einer intensiven Arbeit an der Sprache nieder, die das Schriftbild zum zentralen Element des Leseerlebnisses macht. Die Beiträge in diesem Band behandeln wichtige Themen in Jirgls literarischen und essayistischen Texten und besprechen alle veröffentlichten Romane des Autors bis einschließlich ABTRÜNNIG (2005). Der Band enthält auch ein Gespräch mit Reinhard Jirgl und eine ausführliche Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. Diese Veröffentlichung in der Reihe German Monitor soll den Grundstein für die weitere Forschung zum Werk dieses Autors legen und auch für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler sowie Studierende von Interesse sein, die sich mit der deutschen Gegenwartsliteratur beschäftigen.
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[email protected]–www.rodopi.nl Amsterdam/New York, NY, 2007 XIII-215 pp. (The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 8) Paper € 46 / US$ 62 ISBN-13: 9789042021570
‘Immortal Austria’? Austrians in Exile in Britain Edited by Charmian Brinson, Richard Dove and Jennifer Taylor
Immortal Austria was the title of a theatrical pageant devised by Austrian refugees in wartime London, the name summarizing their collective memory of their homeland as a country of mountain scenery, historical grandeur and musical refinement. The reality of the country they had left, and the one to which some of them returned, was very different. This volume contains various studies of the representations of their homeland in the cultural production of Austrian exiles, including those projected by émigrés working in the British film industry, those portrayed in the historical novel and in the literary works of such notable authors as Stefan Zweig, Elias Canetti and Robert Neumann. It opens with a survey of the make-up of the Austrian exile community and concludes with a study of attitudes to returning exiles, as reflected in the post-war literary journals. The volume thus offers students and teachers a vital cultural link between the pre-1934 Austria of the First Republic and the post-1945 Austria of the Second.
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[email protected]–www.rodopi.nl Amsterdam/New York, NY, 2007 316 pp. (Consciousness, Literature and the Arts 5) Paper € 64 / US$ 86 ISBN-13: 9789042021594
The Image in French Philosophy Temenuga Trifonova
The Image in French Philosophy challenges dominant interpretations of Bergson, Sartre, Lyotard, Baudrillard and Deleuze by arguing that their philosophy was not a critique but a revival of metaphysics as a thinking pertaining to impersonal forces and distinguished by an aversion to subjectivity and an aversion of the philosophical gaze away from the discourse of vision, and thus away from the image. Insofar as the image was part of the discourse of subjectivity/ representation, getting rid of the subject involved smuggling the concept of the image out of the discourse of subjectivity/representation into a newly revived and ethically flavored metaphysical discourse—a metaphysics of immanence, which was more interested in consciousness rather than subjectivity, in the inhuman rather than the human, in the virtual rather than the real, in Time rather than temporalization, in Memory rather than memory-images, in Imagination rather than images, in sum, in impersonal forces, de-personalizing experiences, states of dis-embodiment characterized by the breaking down of sensory-motor schemata (Bergson’s pure memory, Sartre’s image-consciousness, Deleuze’s time-image) or, more generally, in that which remains beyond representation i.e. beyond subjectivity (Lyotard’s sublime, Baudrillard’s fatal object). The book would be of interest to scholars and students of philosophy, aesthetics, and film theory.
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[email protected]–www.rodopi.nl Amsterdam/New York, NY, 2007 V-290 pp. (On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom and Moral Imagination in the Baltics 9) Paper € 60 / US$ 81 ISBN: 9789042022256
Lithuania 1940 Revolution from Above Alfred Erich Senn
In June 1940, as Nazi troops marched into Paris, the Soviet Red Army marched into Lithuania, Latvia, and Estonia; seven weeks later, the USSR Supreme Soviet ratified the Soviet takeover of these states. For half a century, Soviet historians insisted that the three republics had voluntarily requested incorporation into the Soviet Union. Now it has become possible to examine the events of that tumultuous time more carefully. Alfred Erich Senn, the author of books on the formation of the Lithuanian state in 1918–1920 and on the reestablishment of that independence in 1988–1991, has produced a fascinating account of the Soviet takeover, juxtaposing a picture of the disintegration and collapse of the old regime with the Soviets’ imposition of a new order. Discussing the historiography and the living memory of the events, he uses the image of a “shell game” that focused attention on the work of a supposedly “noncommunist” government while in the hothouse conditions of military occupation Moscow undermined the state’s independent institutions and introduced a revolution from above.
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